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German Pages [401] Year 2014
© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559116 — ISBN E-Book: 9783647559117
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PIETISMUS UND NEUZEIT EIN JAHRBUCH ZUR GESCHICHTE DES NEUEREN PROTESTANTISMUS im Auftrag der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus Herausgegeben von Rudolf Dellsperger, Ulrich Gäbler, Manfred Jakubowski-Tiessen, Anne Lagny, Fred van Lieburg, Hans Schneider, Christian Soboth, Udo Sträter, Jonathan Strom und Johannes Wallmann Band 39 – 2013
VANDENHOECK & RUPRECHT
© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559116 — ISBN E-Book: 9783647559117
Geschäftsführender Herausgeber Prof. Dr. Udo Sträter, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, c/o Interdisziplinäres Zentrum für Pietismusforschung, Franckeplatz 1, Haus 24, D-06110 Halle a. d. Saale Redaktion PD Dr. Christian Soboth, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Interdisziplinäres Zentrum für Pietismusforschung, Franckeplatz 1, Haus 24, D-06110 Halle a. d. Saale Anschriften der Autorinnen und Autoren Dr. Kaspar Bütikofer, Hirschgartnerweg 21, CH-8057 Zürich • Dr. Dietrich Blaufuß, Schwalbenweg 21B, D-91056 Erlangen • Dr. Urban Claesson, Sekretariatet för teologi och ekumenik, forskningsenheten, Kyrkokansliet, Svenska kyrkan, S-75170 Uppsala • Prof. Dr. Ulrich Gäbler, Gatternweg 21, CH-4125 Riehen • Historische Kommission zur Erforschung des Pietismus, Vorsitzender Prof. Dr. Hans Otte, Landeskirchliches Archiv Hannover, Goethestraße 27, D-30169 Hannover • Prof. Dr. HansGeorg Kemper, Heinrich-Emerich Str. 43, D-88662 Überlingen • Prof. Dr. Hartmut Lehmann, Caprivistr. 6, D-24105 Kiel • Prof. Dr. Fred van Lieburg, Vrije Universiteit Amsterdam, Faculteit der Letteren, De Boelelaan 1105, NL-1081 HV Amsterdam • Dr. Marcel Nieden, Universität Duisburg-Essen / Campus Essen, Fakultät für Geisteswissenschaften – Institut für Evangelische Theologie, Universitätsstr. 12, D-45141 Essen • Dr. Klaus vom Orde, Spenerbriefedition der Sächsischen Akademie der Wissenschaften, c/o Interdisziplinäres Zentrum für Pietismusforschung der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Franckeplatz 1, Haus 24, D-06110 Halle a. d. Saale • Dr. Thea Olsthoorn, Zwanenveld 71-22, NL-6538 RG Nijmegen • Dr. Peggy Renger-Berka, Technische Universität Dresden, Institut für Evangelische Theologie, Sonderforschungsbereich 804 „Transzendenz und Gemeinsinn“, Zellescher Weg 17, D-01069 Dresden • Thomas Ruhland, M. A., Franckesche Stiftungen, Franckeplatz 1, Haus 1, D-06110 Halle a. d. Saale • Prof. Dr. Irmgard Scheitler, Universität Würzburg, Institut für deutsche Philologie / Neuere Abteilung, Am Hubland, D-97074 Würzburg • Prof. Dr. Bernd Schröder, Universität Göttingen, Theologische Fakultät, Platz der Göttinger Sieben 2, D-37073 Göttingen • Prof. Dr. Wolfgang Sommer, Sonnenstr. 45, D-91564 Neuendettelsau • PD Dr. Friedemann Stengel, Interdisziplinäres Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung der MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg, Franckeplatz 1, Haus 54, D-06110 Halle a. d. Saale • Prof. Dr. Jonathan Strom, Emory University, Candler School of Theology, 1531 Dickey Drive, USA-Atlanta, GA 30322 • Prof. Dr. Andreas Waczkat, Universität Göttingen, Musikwissenschaftliches Seminar, Kurze Geismarstraße 1, D-37073 Göttingen • Prof. Dr. Johannes Wallmann, Oranienburgerstr. 22, D-10178 Berlin
Mit 0 Abb. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-55911-6 ISBN 978-3-647-55911-7 (E-Book) © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz, Druck und Bindung: H Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
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Vorwort Es ist die traurige Pflicht der Herausgeber, zwei Todesfälle anzuzeigen. Im Alter von 85 Jahren verstarb am 5. Juli 2013 Professor Dr. Dr. h.c. mult. Paul Raabe in seiner Heimatstadt Wolfenbüttel. Der Name Paul Raabe ist unverbrüchlich mit drei kulturellen Leuchttürmen der Bundesrepublik, dem Literaturarchiv in Marbach am Neckar, der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel und den Franckeschen Stiftungen zu Halle, verbunden. Nach August Hermann Francke und dessen Urenkel August Hermann Niemeyer darf Paul Raabe zu Recht als der dritte (Wieder)Begründungsdirektor der Schulstadt in Glaucha vor Halle bezeichnet werden. Von 1992, dem Jahr der von Raabe gemeinsam mit Hans-Dietrich Genscher betriebenen Wiederherstellung der Stiftungen als Rechtsperson, bis zum Jahr 2000 war Raabe Direktor der Franckeschen Stiftungen. Sein Interesse und seine schier unerschöpfliche Energie galten der umfassenden – Architektur, Soziales, Kultur und Wissenschaft gleichermaßen umfangenden – Sanierung des historischen Gebäudeensembles. Viel ist über die Neu-Anfänge in Halle geschrieben worden. Unstrittig ist, dass Raabe unbeirrbar die Aufbauarbeit betrieben hat, auch wenn der bauliche Zustand der Stiftungen zu Beginn der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts in keiner Weise ahnen lassen konnte, was daraus werden würde und noch weiterhin wird. In jedweder Hinsicht hat Paul Raabe seine Zeichen gesetzt und Spuren hinterlassen: selbstverständlich als Organisator und Manager eines (wieder)erstehenden Unternehmens, aber selbstverständlich auch als Pietismusforscher und als Ausstellungsmacher, als Autor einer Bibliographie der gedruckten Werke August Hermann Franckes und als Initiator der Themenjahre Antworten aus der Provinz. Dass die Franckeschen Stiftungen, mit den reichen Beständen von Archiv und Bibliothek sowie der Kunst- und Naturalienkammer, im Jahr 2016 das Gütesiegel eines UNESCOWeltkulturerbes anstreben können, ist sicherlich in entscheidendem Maße ein Verdienst von Paul Raabe. Seine Vision eines Erziehung und Bildung, Kultur und Wissenschaft umschließenden Bildungskosmos’ verdankt sich dem Anliegen, den Bürgern wie damit der Stadt Halle ein wesentliches Stück ihrer Identität zurückzuerstatten. Darüber hinaus, und die Zahl interessierter Besucher von nah und fern, Touristen wie Wissenschaftler, bestätigt dies, ist es Paul Raabe gelungen, mit den Franckeschen Stiftungen einen weltläufigen und zukunftsfähigen Begegnungs- und Gesprächsraum wiederherzustellen. Paul Raabe war Ehrenbürger von Halle und von Wolfenbüttel, Träger des Großen Bundesverdienstkreuzes mit Stern und erhielt noch 2013 die Leibniz-Medaille der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Zahlreiche wei5 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559116 — ISBN E-Book: 9783647559117
tere nationale und internationale Auszeichnungen und Ehrungen wären zu nennen. Die Herausgeber werden Paul Raabe ein dankbares und ehrendes Andenken bewahren. Am 6. September 2013 verstarb völlig unerwartet Professor Dr. Christa Habrich im Alter von 73 Jahren. Noch wenige Tage zuvor hatte sie den IV. Internationalen Kongress für Pietismusforschung in Halle besucht, als Diskutandin wie als Mitglied der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus. Die gebürtige Gießenerin hatte in ihrer Heimatstadt 1971 eine Apotheke gegründet und diese bis 2010 geleitet. 1970 war sie nach dem Studium der Pharmazie, der Medizingeschichte und der Paläontologie mit einer Arbeit zur Apothekengeschichte Regensburgs promoviert worden und hatte sich 1982 mit den Untersuchungen zur pietistischen Medizin am Beispiel Johann Samuel Carls und seines Kreises an der Medizinischen Fakultät der LMU München habilitiert. In München unterrichtete sie fortan als apl. Professorin Geschichte der Medizin und der Pharmazie. In den folgenden Jahren hat Christa Habrich wesentlich die medizin- und pharmaziegeschichtliche Erforschung des Pietismus vorangetrieben, aber auch andere Felder bestellt: So hat sie 1992 auf der bayerischen Landesgartenschau einen barrierefreien Kräutergarten eingerichtet und im Fernsehen die Gartensendung „Queerbeet“ moderiert. 1973 war sie maßgeblich an der Gründung des Deutschen Anatomischen Museums in Ingolstadt beteiligt, das sie von 1983 bis 2008 als dessen ehrenamtliche Direktorin geleitet hat. Von 1990 bis 2004 wirkte sie als Präsidentin der „Association Européenne des Musées d’Histoire des Sciences Médicales“. 1999 wurde ihr das Verdienstkreuz 1. Klasse der Bundesrepublik Deutschland verliehen, 2004 der Bayerische Verdienstorden. Ihre Kenntnisse und ihr Wissen noch um die abgelegenste Quelle in diesem oder jenem Archiv waren ebenso beeindruckend wie ihre Fähigkeit zur Zusammenschau und zum Nachzeichnen medizin- oder pharmaziehistorischer Traditionslinien, dies stets mit Blick für konfessionelle und frömmigkeitliche Kontexte. Es war nicht nur eine intellektuelle Bereicherung, es war auch ein Vergnügen, mit ihr zusammenzuarbeiten und über Forschungsvorhaben zu sprechen. Auch ihr werden wir ein ehrendes und liebevolles Andenken bewahren. Aus Anlass des Beitrages von Johannes Wallmann aus dem vergangenen 38. Band, Zur Edition der Briefe Philipp Jakob Speners. Eine Dokumentation, beginnt dieser 39. Band von „Pietismus und Neuzeit“ mit Stellungnahmen von Seiten der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus und der Herausgeberschaft des Jahrbuches. Dietrich Blaufuß, mit seinem Hinweis, und Hartmut Lehmann, in einem Offenen Brief, äußern sich in eigener Sache. Inhaltlich bietet der Band die gewohnte Vielfalt. Zum Abdruck kommen vier Aufsätze, die aus Vorträgen hervorgegangen sind, die 2010 auf einer Tagung in Halle am IZP anlässlich des 250. Todestages von Nikolaus Ludwig von Zinzendorf gehalten wurden. Zur Sprache kommen bei Andreas Wacz6 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559116 — ISBN E-Book: 9783647559117
kat Ausprägungen und Funktionen von Musik anlässlich des Todes und Begräbnisses von Zinzendorf und bei Hans-Georg Kemper die literarischästhetische (Nach)Gestaltung Herrnhuts unter Zinzendorf und deren ‚bildende‘ Funktion in Goethes Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre. Thea Olsthoorn beleuchtet Kommunikationsprobleme bei der Herrnhuter Grönland- und Labradormission, Thomas Ruhland untersucht Zwistigkeiten und Konkurrenzen zwischen Halleschen Pietisten und Herrnhutern auf dem südindischen Missionsfeld. Kaspar Bütikofer greift in seinem Beitrag noch einmal die Frage nach den Anfängen des Zürcher Pietismus auf und rückt Michael Zingg (1599–1676) als einen Wegbereiter in den Blick. Jonathan Strom untersucht in einer umfangreichen Studie die Etablierung und Konsolidierung des Pietismus in Dargun im Lichte von Konversionsberichten und -erzählungen. Klaus vom Orde bringt einen bislang unveröffentlichten Traktat Speners von 1681, Von der Unwürdigen Communion, kritisch und kommentiert zum Abdruck. Friedemann Stengel skizziert unter den Stichworten Schrift, Ereignis, Kontingenz Geschichte und Geschichtlichkeit die Bibelhermeneutik im 18. Jahrhundert, insbesondere an den Beispielen der Berleburger und der Wertheimer Bibel, der Halleschen und der Württemberger hermeneutischen Schule sowie an Reimarus, Swedenborg und Kant: ein reiches Panorama von durchaus kontrovers-spannungsvollen Positionen. Johannes Wallmann skizziert und kommentiert eine handschriftliche Quelle aus dem Jahr 1785: den Lebenslauf des Feldpredigers und Zivilpfarrers Johann Hermann Blume. Schließlich erörtert Fred van Lieburg mit dem Däumeln und dem Nadeln buchbezogene Frömmigkeitspraktiken als Medien der „direkten Gotteserfahrung“ in der Frühen Neuzeit, u. a. im Pietismus. Rezensionen, Bibliografie und Register runden den Band ab. Für die Herausgeber: Udo Sträter
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Inhalt In eigener Sache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Eine Stellungnahme der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Eine Stellungnahme der Herausgeberschaft von Pietismus und Neuzeit .
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Ein Hinweis von Dietrich Blaufuß . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Beiträge Hartmut Lehmann: Anmerkungen zur Frage der Deutungshoheit in Sachen Pietismus. Offener Brief an Herrn Professor Dr. Dr. h. c. Johannes Wallmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Andreas Waczkat: „Ei wie so selig schläfest du“. Herrnhuter Musik und Erinnerungskultur nach Zinzendorfs Tod . . . . . . . . . . . . . . .
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Hans-Georg Kemper: Zinzendorf – klassisch. ‚Herrnhut‘ als ‚Lerngut‘ in Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Thea Olsthoorn: „Wir haben keine Ohren.“ Kommunikationsprobleme und Missionsverständnisse bei der Verbreitung und Rezeption des Christentums in Grönland und Labrador im 18. Jahrhundert . . . . .
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Thomas Ruhland: „Ein paar Jahr muß Tranquebar und Coromandel wol Serieus das Object seyn“ – Südasien als pietistisches Konkurrenzfeld
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Kaspar Bütikofer: Michael Zingg (1599–1676): Ein Wegbereiter des Zürcher Pietismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Jonathan Strom: Pietism and Conversion in Dargun . . . . . . . . . . 150 Klaus vom Orde: Ein unveröffentlichter Traktat Philipp Jakob Speners. Von der Unwürdigen Communion aus dem Jahr 1681 . . . . . . . . . . . 193 Friedemann Stengel: Schrift, Ereignis, Kontingenz. Zur Historizität der Bibelhermeneutik im 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . 241
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Johannes Wallmann: Theologiestudent, Kürassier, Waisenhauspräzeptor, Feldprediger und Zivilpfarrer. Der seltsame Lebenslauf des Johann Hermann Blume . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Fred van Lieburg: Direkte Gotteserfahrung. Pietismus und Bibliomantie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298
Rezensionen Heinrich Holze: Die Kirchen des Nordens in der Neuzeit (16. bis 20. Jahrhundert). Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2011 (Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen III/11): Urban Claesson . . 317 Opwekking van de natie. Het protestantse Réveil in Nederland. . . 319 Redactie: Fred van Lieburg. Hilversum: Verloren 2012: Ulrich Gäbler Johann Valentin Andreae: Schriften zur christlichen Reform. Bearb., übers. und komm. v. Frank Böhling. Stuttgart, Bad Cannstatt: Fromann und Holzboog 2010 (Johann Valentin Andreae. Gesammelte Schriften, 6): Marcel Nieden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 Thomas Illg: Ein anderer Mensch werden. Johann Arndts Verständnis der imitatio Christi als Anleitung zu einem wahren Christentum. Göttingen 2011 (Studien zur Kirchengeschichte Niedersachsens, 44): Wolfgang Sommer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Christine Reents u. Christoph Melchior: Die Geschichte der Kinderund Schulbibel. Evangelisch – katholisch – jüdisch. Göttingen: V & R . 328 unipress 2011 (Arbeiten zur Religionspädagogik, 48): Bernd Schröder Ulrike Wels: Gottfried Hoffmann (1658-1712). Eine Studie zum protestantischen Schultheater im Zeitalter des Pietismus. Würzburg: . 335 Königshausen & Neumann 2012 (Epistemata, 744): Irmtraut Scheitler Uwe Kaminsky: Innere Mission im Ausland. Der Aufbau religiöser und sozialer Infrastruktur am Beispiel der Kaiserswerther Diakonie (18511975). Stuttgart: Steiner Verl. 2010 (Missionsgeschichtliches Archiv, 15): Peggy Renger-Berka . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 Helmut Meyer u. Bernhard Schneider: Mission und Diakonie. Die Geschichte der Evangelischen Gesellschaft des Kantons Zürich. Zürich: Chronos Verl. 2011 (Mitteilungen der Antiquarischen Gesellschaft in Zürich, 78): Peggy Renger Berka . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346
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Secularisation in the Christian World. Essays in Honor of Hugh McLeod. Ed. by Callum Brown and Michael Snape. Farnham, England & Burlington, USA: Ashgate 2010: Hartmut Lehmann. . . . . . . . 348 Die neue Welt und der neue Pietismus. Angloamerikanische Einflüsse auf den deutschen Neupietismus. Hg. v. Frank Lüdke u. Norbert Schmidt. Berlin: LIT 2012 (Schriften der Evangelischen Hochschule Tabor, 3): Hartmut Lehmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 Gerhard Lindemann: Für Frömmigkeit in Freiheit. Die Geschichte der Evangelischen Allianz im Zeitalter des Liberalismus (1846-1879). Berlin: LIT 2011 (Theologie. Forschung und Wissenschaft, 24): Hartmut Lehmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 Baptismus. Geschichte und Gegenwart. Hg. v. Andrea Strübind u. Martin Rothkegel. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012: Hartmut Lehmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354
Bibliographie Christian Soboth und Hans Goldenbaum: Pietismus-Bibliographie
. . 359
Register Personen- und Ortsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387
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IN EIGENER SACHE Eine Stellungnahme der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus In der vorjährigen Ausgabe dieser Zeitschrift wurde ein Beitrag von Prof. Dr. Johannes Wallmann mit dem Titel Zur Edition der Briefe Jakob Philipp Speners veröffentlicht. Dieser Beitrag enthält leider einige sachliche Unschärfen und als diffamierend empfundene Äußerungen. Da die Zeitschrift „Pietismus und Neuzeit“ im Auftrag der Historischen Kommission zur Erforschung der Pietismus herausgegeben wird, sieht sich der Geschäftsführende und Planende Ausschuss (GA) zu folgender Stellungnahme, der sich die Historische Kommission mehrheitlich angeschlossen hat, veranlasst: „Der Geschäftsführende und Planende Ausschuss dankt den Herausgebern von ‚Pietismus und Neuzeit‘ sowie der Redaktion herzlich für die Arbeit, die das regelmäßige Erscheinen von PuN als einer renommierten wissenschaftlichen Zeitschrift ermöglicht. Umso mehr bedauert der GA, dass der Aufsatz Zur Edition der Briefe Philipp Jakob Speners in PuN 38, 2012, gedruckt wurde. Eine wissenschaftliche Zeitschrift wie PuN ist für die Aufnahme eines solchen autobiographisch angelegten Rückblicks mit subjektiven Werturteilen ungeeignet. Der GA bittet die Herausgeber von PuN, künftig sicher zu stellen, dass nur solche Beiträge aufgenommen werden, für die zwei verantwortliche Stellungsnahmen als peer review vorliegen.“
Eine Stellungnahme des Herausgeberschaft von „Pietismus und Neuzeit“ Der Herausgeberkreis des Jahrbuchs „Pietismus und Neuzeit“ begrüßt die obige Stellungnahme der Historischen Kommission. Er legt zudem Wert auf die Feststellung, dass der Widerspruch gegen den Beitrag von Prof. Dr. Johannes Wallmann aus seinen eigenen Reihen stammt. Der Aufsatz ist gedruckt worden, ohne dass der Herausgeberkreis von dessen Inhalt Kenntnis hatte. Die strikte Einhaltung des peer review-Verfahrens auch bei Beiträgen der Herausgeber entspricht den Maßnahmen, welche der Herausgeberkreis von sich aus zu ergreifen gewillt war.
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Ein Hinweis von Dietrich Blaufuß Eine Rückäußerung zu mich – D. B. – betreffenden Passagen in PuN 38, 2012, 10–58 kann unterbleiben. Die themenferne Tendenz des für PuN als nicht geeignet zu bewertenden Textes ist offenkundig, angesprochene Vorgänge sind unvollständig und damit falsch dargestellt sowie nicht frei von ehrenrühriger Unterstellung. Der unerklärliche, rätselhafte, schwer erträgliche Überschritt in Privat-Persönliches macht den Text inakzeptabel. Dietrich Blaufuß
Erlangen
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HARTMUT LEHMANN
Anmerkungen zur Frage der Deutungshoheit in Sachen Pietismus. Offener Brief an Herrn Professor Dr. Dr. h. c. Johannes Wallmann Kiel, im April 2013 Lieber Herr Wallmann – die beiden Artikel, die Sie in der letzten Nummer des Jahrbuchs „Pietismus und Neuzeit“ publizierten, haben mich irritiert. Zu Ihren Ausführungen „Zur Edition der Briefe Philipp Jakob Speners“ wäre viel zu sagen. Ich bin sicher, dass diejenigen, die Sie besonders scharf angegriffen und mit Ihren Ausführungen verletzt haben, dies auch zu geeigneter Zeit tun werden. Ich will mich hier nur zu den Punkten äussern, die mich persönlich betreffen. Sie zitieren in PuN 38 auf Seite 47 ausführlich aus einem Brief, den ich Ihnen 1992 aus Washington geschrieben habe, ohne mich vorher zu fragen, ob ich einer Veröffentlichung zustimmen würde. In meiner Profession, bei den Historikern, ist es jedenfalls üblich, dass aus persönlichen Dokumenten von Lebenden nicht ohne besondere Erlaubnis der Autoren zitiert werden darf. Sie schreiben zwar einleitend, auf Seite 11, „die Mehrzahl der Hauptgestalten“ Ihres Berichts sei „verstorben“. Die Mehrzahl, möchte ich anfügen, aber eben noch nicht alle. So frage ich mich, was Sie sich bei bei der Verwendung meines Briefs ohne meine Billigung gedacht haben. Ihren Artikel „Warnung vor einem Phantom“ leiten Sie mit einer Vorbemerkung ein, in der Sie mich mehrfach erwähnen. Dazu wäre eigentlich nichts zu sagen. Sie schreiben aber beispielsweise, die drei internationalen Pietismustagungen, die Herr Kollege van Lieburg in den Jahren 2004 bis 2006 organisierte, seien „unter maßgeblicher Mitwirkung Lehmanns“ durchgeführt worden (PuN 38, 241). Damit implizieren Sie, ich hätte erheblichen Einfluss auf die Thematik und den Ablauf dieser Tagungen genommen. Wenn ich den Duktus Ihrer Argumentation richtig verstehe, unterstellen Sie damit, ich hätte diese Tagungen zunächst angeregt und dann benützt, um meine besonderen, gegen Sie gerichteten Vorstellungen vom Pietismus zu propagieren. Diese Sicht, das muss ich betonen, ist nicht richtig. Richtig ist demgegenüber, dass Fred van Lieburg die Gelder für diese Tagungen eingeworben und diese Tagungen ohne mein Zutun gemeinsam mit Daniel Lindmark und Jonathan Strom organisiert hat. Als ich von dem Projekt hörte, habe ich, Jahr für Jahr, 14 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559116 — ISBN E-Book: 9783647559117
für jede dieser Tagungen ein Thema für einen Vortrag eingereicht. Diese Vorschläge wurden von den Organisatoren zu meiner Freude akzeptiert. Ich war auf den Tagungen wohl der älteste Teilnehmer, aber eben doch ein Redner und Diskussionsteilnehmer wie jeder andere. Aus Dordrecht musste ich wegen eines Trauerfalls im engsten Familienkreis im Übrigen schon nach dem ersten Tag abreisen, war also beim Hauptteil der Tagung gar nicht dabei. Etwas ausführlicher muss ich mich mit einem anderen Punkt in Ihrer Vorbemerkung beschäftigen. Nein, ich möchte nicht noch einmal ausführlich auf Ihre fortdauernde Polemik gegen die Konzeption der „Geschichte des Pietismus“ und speziell gegen den ersten und den dritten Band dieses Werks eingehen. Dazu habe ich das, was ich zu sagen habe, bereits an anderer Stelle gesagt und will mich hier nicht wiederholen, zumal auch Sie in Ihren Ausführungen zu dieser Frage nichts Neues bringen, sondern nur die Argumente wiederholen, die Sie schon oft vorgetragen haben. Es geht um einen anderen Punkt. Sie verweisen in dieser Vorbemerkung auf Fred van Lieburgs Bemerkung, ich hätte überzeugend dargelegt, dass die Unterscheidung zwischen einem Pietismus im engeren Sinne und einem Pietismus im weiteren Sinne eine „Subtilität“ sei, die der Forschung nicht weiter helfe, und schreiben, dieses sei „eine die Leser unseres Jahrbuches und auch die niederländische Kirchengeschichtswissenschaft in die Irre führende, falsche Behauptung“ (243). Eine gute Seite weiter wiederholen Sie diese Aussage noch einmal: „Durch die Behauptung, Hartmut Lehmann habe überzeugend gezeigt, dass diese Unterscheidung“ - eben zwischen Pietismus im engeren und weiteren Sinne - „eine Subtilität sei, die der Forschung nicht helfe, wird die Leserschaft unseres Jahrbuchs bei einer zentralen Frage der Pietismusforschung in die Irre geführt – ob aus Fahrlässigkeit oder mit Absicht, spielt hier keine Rolle“. Bei der Bemerkung von Fred van Lieburg handle es sich um eine „eklatante Fehlinformation“ (244). Diese Aussagen sind nicht ganz klar. Bitte korrigieren Sie mich, wenn ich Ihre Bemerkungen falsch verstehe. Sie sagen nämlich nicht ausdrücklich, wer die Leserschaft des Jahrbuchs „in die Irre“ geführt und eine „eklatante Fehlinformation“ in die Welt gesetzt hat: Herr Kollege van Lieburg oder ich. Da Sie sich ausdrücklich auf meine Kritik an Ihrer Pietismusdefinition beziehen, vermute ich aber, dass Sie in mir den Urheber der eklatanten Fehlinformation sehen. Herrn van Lieburg kritisieren Sie hingegen, weil er meine Sicht des Pietismus gutheißt. Ich hätte es begrüßt, wenn Sie nicht uns beide angegriffen, sondern sich direkt mit mir auseinandergesetzt und Herrn van Lieburg nicht in unsere Kontroverse über den Pietismusbegriff hinein gezogen hätten. Ich stimme Ihnen ausdrücklich zu, wenn Sie in der Vorbemerkung zu Ihrem zweiten Artikel in PuN 38 schreiben, „auch unter den Herausgebern dieses Jahrbuchs muss es verschiedene Auffassungen geben. Monopolstellungen wären nur schädlich [. . .] Doch der Streit muss fair geführt werden“ (243). Ich möchte Sie aber fragen, ob es sich, wenn ich Ihre These in Frage stelle, es sei sinnvoll, zwischen einem Pietismus im engeren Sinne und einem 15 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559116 — ISBN E-Book: 9783647559117
Pietismus im weiteren Sinne zu unterscheiden, nicht just um eine solche Meinungsverschiedenheit handelt, die es Ihrer Meinung nach zu tolerieren gilt, auch wenn ich inzwischen aus dem Kreis der Herausgeber von PuN ausgeschieden bin. Und wenn Fred van Lieburg als einer der neuen Mitherausgeber von PuN sich zustimmend zu meinen Ausführungen äussert, dann sollte es für Sie doch möglich sein, auch seine Ansicht zu tolerieren, anstatt diese mit unnötig scharfen Worten abzuwerten („in die Irre führende, falsche Behauptung“, „eklatante Fehlinformation“). Stellen Sie sich doch einmal vor, ein jüngerer Pietismusforscher würde sich in einer Publikation ausdrücklich zu Ihrer These vom engeren und weiteren Pietismus bekennen, und ich würde dann mit dem schweren verbalen Säbel dazwischenfahren und schreiben, dies sei eine „in die Irre führende, falsche Behauptung“, die der Pietismusforschung nicht weiter helfe, somit eine „eklatante Fehlinformation“. Zurecht wären Sie entsetzt, ebenso wie ich jetzt entsetzt bin über das, was Sie geschrieben haben. Ich muss Ihnen sagen, Sie widersprechen sich in diesem Punkt selbst und beanspruchen - „ob aus Fahrlässigkeit oder mit Absicht“ (Ihre Worte gegen Fred van Lieburg, 244) - in Sachen Pietismusdefinition die Deutungshoheit und damit eben jene Monopolstellung, die Sie im gleichen Artikel einige Sätze vorher abgelehnt haben. Wie mir scheint, wäre es Ihnen am liebsten, wenn die Akte Pietismusdefinition ein für alle Mal geschlossen bliebe und wenn alle Versuche, auf eine Revision Ihrer These vom engeren und weiteren Pietismus zu drängen, oder wenigstens eine Diskussion über eine Revision anzuregen, unterbleiben würden. Ich stimme Ihnen zu, wenn Sie die Frage der Pietismusdefinition als zentrale Frage der Pietismusforschung bezeichnen. Ich betrachte es aber nicht als Beitrag zu einer offenen und konstruktiven Diskussion, wenn Sie schreiben, Sie hielten „nichts von theoretischen Diskussionen über den Pietismusbegriff“ (242) und nichts davon, „neue oder veränderte Begriffe vorzuschlagen, weil dadurch die babylonische Sprachverwirrung der Wissenschaft nur vergrößert wird“ (245). Meinen Sie wirklich, es sei meine Absicht, bei jenen, die sich mit dem Pietismus beschäftigen, eine „babylonische Sprachverwirrung“ hervorzurufen? Zur Sache selbst hier nur noch einmal wenige Sätze. Seit Albrecht Ritschl vor 130 Jahren in seiner epochemachenden Darstellung die Herrnhuter unter das Dach des Pietismus genommen hat, ist die Gruppe, die Sie als Pietismus im engeren Sinne bezeichnen, durchaus heterogen. Halle und Herrnhut bekriegten sich an vielen Orten, im Baltikum ebenso wie am dänischen Hof in Kopenhagen und in den englischen Kolonien in Nordamerika. Angeführt von Bengel polemisierten die Württemberger, wo immer sie konnten, gegen die Herrnhuter. Zwischen dem quietistischen religiösen Lebensstil der Württemberger, der sich vor allem in Konventikeln abspielte, und dem aktivistischen Treiben von Halle, wo Konventikel überhaupt keine Rolle spielten, lagen Welten. So bleibt für den Pietismus im engeren Sinne eigentlich nur Spener, und selbst in Speners Lebensweg gab es, wie Sie besser als ich wissen, 16 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559116 — ISBN E-Book: 9783647559117
viele schwierige Phasen. In Frankfurt positionierte sich Johann Jakob Schütz gegen ihn, in seiner Dresdner Zeit war er weitgehend isoliert, während andernorts die Separatisten über die nahe Wiederkunft Christi spekulierten. Kurzum, es scheint mir durchaus problematisch, die von Ihnen als Pietismus im engeren Sinne bezeichneten Gruppierungen als auch nur einigermaßen homogen zu betrachten und mit einem einzigen Begriff, eben dem Begriff „Pietismus“, zu bezeichnen. Noch viel diffuser ist jede denkbare Definition eines Pietismus im weiteren Sinne (für den Sie das Adjektiv „pietistisch“ akzeptieren, nicht aber das Substantiv „Pietismus“). Wo beginnen? Bei Johann Arndt oder bei Comenius und Breckling? Wo enden? Bei der Christentumsgesellschaft, bei den Hahn’schen Brüdern und den Altpietistischen Gemeinschaften im Württemberg des 19. Jahrhunderts, oder beim Gnadauer Gemeinschaftsverband und bei der Ludwig-Hofacker-Gesellschaft im heutigen Württemberg? Dazu gibt es noch viele schwierige Abgrenzungen. Wie viel im Puritanismus der Jahrzehnte nach Cromwell war eigentlich „pietistisch“, kann man fragen, wie viel einige Jahrzehnte später im Methodismus, wie viel im Second Great Awakening in den USA im frühen 19. Jahrhundert? Sie selbst erinnern Fred van Lieburg daran, dass es „bei historischen Bewegungen wie in der Familie Verwandtschaften zweiten und dritten Grades“ gebe (243) - genau an dieser Stelle, lohnte es sich weiter zu bohren und weitere Fragen zu stellen und nach Ähnlichkeiten und Unterschieden von religiösen Erneuerungsbewegungen innerhalb des neuzeitlichen Christentums auch im vierten und fünften Glied zu suchen. Wenn man das tut, dann stößt man möglicherweise auf Querverbindungen und Netzwerke, die sich nicht mehr in den beiden von Ihnen konstruierten Schubladen mit den Begriffen „engerer“ und „weiterer“ Pietismus unterbringen lassen. Es ist mir durchaus bewusst, dass die Kirchenhistoriker einzelne religiöse Bewegungen seit langer Zeit mit einem klaren Etikett bezeichnen. Da folgt auf die Orthodoxie der Pietismus, dann die Aufklärung und die Erweckungsbewegung, und so weiter und so fort. Solche Etikettierungen mögen für Studierende in den Anfangssemestern als eine erste Orientierung sinnvoll sein. Nach der ersten Orientierung muss aber eine vertiefende Analyse kommen und danach der Versuch, den Dingen – hier also den religiösen Erneuerungsbewegungen der Neuzeit – auf den Grund zu gehen, das heisst, der Versuch, sie losgelöst von bisherigen Etikettierungen besser als bisher zu verstehen und einordnen zu können. Warum entstanden diese religiösen Bewegungen, wäre zu fragen, welche Trägerschichten können identifiziert werden, worin lag deren programmatische Attraktivität, wie weit reichte deren direkter und indirekter Einfluss, wann erlahmte ihre Kraft? Am Ende Ihres Berichts über die neuere Pietismusforschung in der Theologischen Rundschau (76, 2011, 320) schreiben Sie nicht ohne einen Unterton von Stolz, die „Unterscheidung zwischen Pietismus im engeren und Pietismus im weiteren Sinne“ habe sich, so das Resultat Ihrer Prüfung der neueren Pub17 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559116 — ISBN E-Book: 9783647559117
likationen, „nahezu uneinschränkt durchgesetzt“. Sie begrüßen dieses Ergebnis. Ich frage mich hingegen, ob dieses Ergebnis tatsächlich die derzeitige Pietismusforschung widerspiegelt, mehr: ob es für die Pietismusforscher ein Vorteil ist, wenn alle offenen Fragen anscheinend beantwortet sind. Denn nach wie vor bin ich der Meinung, dass von der Pietismusforschung noch große Probleme zu bewältigen sind und dass auch die Definitionsfrage zu diesen bislang nur unbefriedigend gelösten Problemen zählt. Ausdrücklich habe ich deshalb den Beitrag von Fred van Lieburg im vorletzten Band des Jahrbuchs begrüsst. Ich habe viel aus seinem Beitrag gelernt und wünschte mir, man könnte bald im Jahrbuch vergleichbare Beiträge beispielsweise über die Pietismusforschung in den skandinavischen Ländern oder in Großbritannien und den USA lesen. Es geht mir, lieber Herr Wallmann, nicht darum, „das letzte Wort“ (Ihre Formulierung, 241) zu behalten. Mir liegt daran, dass die nächste Generation der Pietismusforscher sich aufmacht und weitere, bisher unerkundete Aspekte in der Geschichte des Pietismus erforscht und bisher übersehene Materialien erschliesst. Das könnten beispielsweise Forschungen über die frühen Konventikel sein, um zu erfahren, was dort tatsächlich geredet wurde, oder Untersuchungen über pietistische Zirkel in der Zeit des Kirchenkampfs (etwa in einer pietistischen Hochburg wie Korntal), um herauszufinden, ob einige Pietisten damals in Hitler tatsächlich eine Figur aus der Apokalypse sahen. Ausdrücklich ermuntere ich außerdem Forscher der nächsten Generation, mit denen ich rede, den Blick über die „deutschen Dinge“ hinaus zu richten und sich mit den „Awakenings“ und den „Revivals“ zu beschäftigen sowie auch mit vergleichbaren Erneuerungsbewegungen in der katholischen Kirche und im Judentum. Da Sie selbst schon vor mehreren Jahrzehnten die nationale Engführung der deutschen Pietismusforschung kritisiert haben, würde ich mich freuen, wenn Sie mich bei diesen Bemühungen unterstützen und nicht das, was Ihnen auf den ersten Blick nicht ins Bild passt, als „in die Irre führende, falsche Behauptung“ und als „eklatante Fehlinformation“ (244) abqualifizieren würden. In diesem Sinne bin ich mit besten Grüßen Ihr Hartmut Lehmann
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ANDREAS WACZKAT
„Ei wie so selig schläfest du“. Herrnhuter Musik und Erinnerungskultur nach Zinzendorfs Tod Die Vorstellungen der barocken ars moriendi prägen auch noch das gesamte 18. Jahrhundert. Sanft und selig einzuschlafen wie Simeon, der – nach Lk 2,29–32 – im Greisenalter in Jesus den Messias erkennt und sich danach zum Sterben in Gnade bereit fühlt, ist das Ziel, das in zahlreichen Sterbebeschreibungen und Leichenpredigten genannt wird.1 Sich auf dieses Ziel vorzubereiten, ist Gegenstand der ars moriendi, wobei die Trauerzeremonien für die Hinterbliebenen in diesem Sinn Lehrstücke sind: Die Zeremonie macht das Ziel des Sterbens in Gnade erlebbar. Die Konstanz dieser Vorstellungen im gesamten 18. Jahrhundert lässt sich beispielhaft an den Trauermusiken erkennen, die während der Begräbniszeremonien aufgeführt worden sind. Vermutlich 1707 oder 1708 entstand für eine Beerdigung in Mühlhausen die Kantate Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit, der so genannte Actus Tragicus BWV 106 von Johann Sebastian Bach, dessen Text aus biblischen Dicta sowie einzelnen Choralzeilen von Martin Luther und Esaias Reusner kompiliert ist, darunter Luthers Nachdichtung des Canticum Simeonis Herr, nun lässest du deinen Diener im Frieden fahren.2 Und gegen Ende des 18. Jahrhunderts sind noch Trauermotetten auf biblische Texte von Johann Friedrich Doles bekannt,3 Bachs Nach-Nachfolger im Amt des Leipziger Thomaskantorats, die auf die Praxis hinweisen, dass die Beerdigung hochgestellter Persönlichkeiten der Stadt mit einer Trauermusik, die der Kantor mit dem Schulchor aufführte, begleitet wurde. Diese Trauermusiken sicherten nicht allein dem Kantor und den Schülern ein sicheres und nicht ganz 1 Franziska Seils: Begräbnisbräuche und Trauerzeremonien im Protestantismus des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Tod und Musik im 17. und 18. Jahrhundert. Hg. v. Günter Fleischhauer. Blankenburg 2001, 135–146, hier 135. 2 Hans-Joachim Schulze u. Christoph Wolff: Bach Compendium. Analytisch-bibliographisches Repertorium der Werke Johann Sebastian Bachs. Vokalwerke Teil III. Leipzig 1988, 897 f. u. 903–906, hier 897. 3 Andreas Glöckner: Art. „Doles, Johann Friedrich d. Ä.“. In: MGG2 Personenteil 5, 2001, 1200–1208, hier 1206. Einige von Doles’ Motetten sind in Abschriften als „Leichen Motette“ gekennzeichnet; vor allem aber ist die Kantate Jetzt geh ich aus als autographe Handschrift in der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin (Mus.ms.autogr. J. Fr. Doles 2) mit „Trauermusik“ überschrieben.
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kleines Zusatzeinkommen, es gab auch eine klare Korrespondenz zwischen der Wichtigkeit der Person und der Größe des Chores: Ratsherren etwa wurden mit der „ganzen Schule“ zu Grabe getragen, Angehörige der mittleren Verwaltungsebene jedoch nur mit der „halben Schule“, was dann auch nur die halben Kosten verursachte.4 Das Répertoire International des Sources Musicales5 verzeichnet allein rund 500 Handschriften mit Trauermusiken des 18. Jahrhunderts. Trauerzeremonien folgten vorgeschriebenen Handlungsmustern, wobei Philippe Ariès’ Geschichte des Todes6 zufolge seit dem späteren 17. Jahrhundert sich ein zunehmend extrovertiertes Verständnis des Todes Raum verschafft. Zu den Ritualen gehört jetzt das Tragen von Trauerkleidung, der Bau von Trauermonumenten und mehr. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts dann, so könnte man Ariès’ Darstellung erweitern, setzt eine dezidierte Memorialkultur ein, ein gezieltes Erinnern an Verstorbene, das nun in seinem Wesen performativ ist. Nicht das zeitlose Monument erinnert an einen Verstorbenen, sondern eine bestimmte Handlung, eine Gedächtnisfeier. Doch auch schon die Trauerzeremonien zeichnet ein performatives Element aus. Franziska Seils hat in einem Aufsatz über Begräbnisbräuche und Trauerzeremonien des 17. und 18. Jahrhunderts darauf hingewiesen, dass zumindest der höfische Mensch dieser Zeit die Welt mit dem Lebensgefühl des theatrum mundi deutet und auch das Sterben in dieses Konzept eingebunden ist, demzufolge das menschliche Leben eine Inszenierung Gottes ist, in der auch der Schluss einem ganz bestimmten Regelkanon folgt. Konsequent spricht Franziska Seils daher auch von dem ersten Akt der Handlung an dem Toten im Zusammenhang mit der Trauerzeremonie: der Konservierung, Herrichtung und Aufbahrung der Leiche.7 Höhepunkt der Handlung ist dann die Prozession vom Aufbahrungsort zur Kirche als dem eigentlichen Höhepunkt eines Begräbnisses, wobei gerade diese Prozession sehr viele feine Abstufungen des Protokolls kennt. Übersieht man nun die Berichte, die über die Trauerzeremonie anlässlich von Zinzendorfs Tod Auskunft geben, wird deutlich, dass auch hier die topischen Rituale hindurch scheinen. Zinzendorf starb am 9. Mai 1760 nach kurzer Krankheit; in der Nacht vor seinem Tod soll er zu dem bei ihm weilenden Johannes von Watteville gesprochen haben: „Ich bin fertig, ich bin in den Willen meines Herrn ganz ergeben, und er ist mit mir zufrieden.“8 Das Sterben im Sinne der ars moriendi vollzieht sich unter sozialer Kontrolle und Beob4 Wolfgang Reich: Die gedruckten deutschen Leichenpredigten des 17. Jahrhunderts als musikalische Quelle. Diss. Univ. Leipzig 1963, 72. 5 Für das Verzeichnis der musikalischen Handschriften vgl. fortlaufend http://opac.rism.info 6 Philippe Ariès: Geschichte des Todes. München 21980, 415 f. 7 Seils, Begräbnisbräuche [s. Anm. 1], 139. 8 Dietrich Meyer: Zinzendorf und die Herrnhuter Brüdergemeine. 1700–2000. Göttingen 2000, 62.
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achtung; man stirbt nicht einfach, sondern, so man die Chance dazu hat, verabschiedet sich von der Welt. Der Fortgang der Zeremonie nach Zinzendorfs Tod entspricht der Abfolge von Aufbahrung und Prozession. Die Aufbahrung dauerte acht Tage und verfolgte offenbar auch repräsentative Zwecke. Das Herrnhuter Diarium vermerkt dazu: Es verging keine Stunde, heute und die folgenden Tage über, in der sich nicht Gesellschafften von Geschwistern um den Sarg herum aufhielten, sungen, spielten, weinten und die Gemeinschafft mit Gottes oberer Gemein im Herzen unaussprechlich fühlten. Es war uns immer allen so, daß wenn uns auch unsere Geschäffte auf ein weilgen abrufften, wir nicht lange weg seyn konnten. Diese und die folgende Nächte bis zur Beerdigung wurde von den Arbeitern und bekanntesten Brüdern aus allen Chören bey der Leiche gewacht. Des Morgens fanden sich dann wieder die Schwestern ein, und so wechselten die Geschwister beständig, daß eine continuirliche Liturgie um den Sarg herum war.9
Eine kolorierte Tuschzeichnung von Albrecht Hieronymus Dietrich10 zeigt diese achttägige Aufbahrung fast präzise nach der Beschreibung des Diarium. Die „Gesellschaften von Geschwistern“ umfassen in diesem Fall lediglich neun Schwestern und sieben Brüder. Zwei der Schwestern werden mit Instrumenten dargestellt, sie sorgten offenbar für eine musikalische Umrahmung der Trauerfeier. Nimmt man diese beiden aus der Gesellschaft heraus, wird die Symbolik der Bildbotschaft möglicherweise noch etwas deutlicher, indem drei Mal die Zahl sieben eine so prominente Rolle spielt: Sieben Brüder sind zu sehen, sieben nicht-musizierende Schwestern und sieben Leuchter, auf denen je eine Vase steht. Welcher der zahlreichen biblischen Kontexte der Zahl sieben hier gemeint sein mag, lässt sich nicht mit Sicherheit erfassen, doch die floralen Elemente, die in der zweiten Mai-Woche an sich nicht ungewöhnlich sein müssen, lassen an die vollendete Schöpfung denken, den siebten Tag, den Tag der Ruhe. Die beiden musizierenden Schwestern werden mit Harfe und Cister dargestellt, zwei Instrumente, die wie auch andere Zupfinstrumente in zahlreichen Herrnhuter Bildquellen als weiblich konnotiert sind. Mit der Cister etwa wurde auch Zinzendorfs Tochter Benigna dargestellt.11 Ungewöhnlich ist die Darstellung beider Instrumente in einer Musiziergemeinschaft, denn die beiden Instrumente gehören unterschiedlichen Sphären an. Die Harfe ist eher der Kunstmusik zuzurechnen; im Archiv der Brüdergemeine finden sich 9
UA Herrnhut, Diarium der Gemeine Herrnhut vom 17. 05. 1760. Kolorierte Tuschezeichnung von Albrecht Hieronymus Dietrich: Trauerliturgie für Nikolaus Ludwig von Zinzendorf, UA Herrnhut BA 294. 11 Anonymes Ölbild der Henriette Benigna Justine von Zinzendorf, UA Herrnhut, BA 1099. Vgl. dazu auch Lanie Graf: John Frederick Hintz. Eighteenth-Century Moravian Instrument Maker, and the Use of the Cittern in Moravian Worship. In: Journal of Moravian History 5, 2008, 7–39. 10
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allein über 250 handschriftliche Quellen mit Musik für Harfe, zum weitaus überwiegenden Teil Chorsätze und kleinere Kantaten für eine Singstimme mit Harfenbegleitung. Die Cister hingegen ist ein volksmusikalisches Instrument, das zum Beispiel eingesetzt wird, um Liedgesang akkordisch zu begleiten. Die Musik ist nicht notiert. Im Herrnhuter Archiv finden sich keine musikalischen Quellen, die die Verwendung der Cister dokumentieren. Eine Schnittmenge bildet der Gesang. Die „continuirliche Liturgie“ wird musikalisch also im Wesentlichen aus geistlichen Liedern bestanden haben. In ihrer Untersuchung über die Liturgie in der Herrnhuter Brüdergemeine Zinzendorfs stellt Nicole Schatull die üblichen Formen der Herrnhuter Begräbnisrituale dar. Sie differenziert innerhalb des brüderischen Begräbnisrituals vier liturgisch begangene Abschnitte: 1. die Sterbebegleitung und das Sterben, 2. die Veröffentlichung des Sterbens, 3. die Bestattung, 4. das Totengedächtnis.12 Die im Fall Zinzendorfs dokumentierte Aufbahrung, die Teil des barokken Konzepts der ars moriendi ist, gehört demnach nicht zum brüderischen Begräbnisritual und macht die Ausnahmestellung Zinzendorfs deutlich. Der Aufbahrung voran geht die Veröffentlichung des Sterbens als ein eigener performativer Akt. Sobald der Tod eingetreten war, wurde die Gemeine in das Geschehen einbezogen, indem Bläser Johann Crügers Melodie – vermutlich als Choralsatz – des Liedes O Haupt voll Blut und Wunden intonierten. Nicole Schatull hat in ihrer Untersuchung der Liturgien ausgemacht, dass seit den späten 1750er-Jahren eine besondere Melodie hinzukam, aus der zu erkennen war, welchem Chor der Verstorbene angehört hatte. Zudem enthalten die Liturgienbücher von 1755 und 1757 ein liturgisches Formular für das Bläserspiel, aus dem Folgendes hervorgeht, dass auf die von den Bläsern gespielte Melodie O Haupt voll Blut und Wunden ein zwei- oder dreistrophiger Text gesungen wurde, dessen erste Strophe sich auf den Verstorbenen bezog, dessen Tod ausgerufen und als „Erblassen in Jesu Arm und Schoß“ bzw. als „Auffahren zur (oberen) Gemeine“ charakterisiert wurde. Die parallel zur ersten gestaltete zweite bzw. dritte Strophe bezog sich auf die Sänger selbst, die ihren zukünftigen eigenen Tod in sehr enger sprachlicher Nähe als „Erbleichen des Mundes“ und „(Auf-)Fahren zur Gemeine“ für „sich selbst denken“13 sollten. Diese zweite bzw. dritte Strophe des Bläserspiels, so analysiert Nicole Schatull treffend, war somit Vergegenwärtigung der eigenen Sterblichkeit angesichts des aktuellen Todesfalls.14 Entsprechend formuliert Nicole Schatull:
12
Nicole Schatull: Die Liturgie in der Herrnhuter Brüdergemeine Zinzendorfs. Tübingen 2005,
116. 13 Schatull, Liturgie [s. Anm. 12], 233: Formular für den Posaunenton aus dem Liturgienbüchlein 1755. Das Liturgienbüchlein lässt verschiedene Variationsmöglichkeiten zu. 14 Schatull, Liturgie [s. Anm. 12], 118.
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[Dieses Bläserspiel] diente zur Veröffentlichung der Todesbotschaft in der Gemeine. [. . .] Im Begräbnisritual [. . .] trugen Bläser den Tod gleichsam in den Alltag der Gemeine hinein. Sie unterbrachen den Alltag, indem sie zum Mitsingen aufforderten. Neben der Verkündigung der Todesbotschaft in der ersten Strophe war diese Unterbrechung des Alltags zugleich ein Innehalten im Gedenken an den eigenen Tod. Im Verlauf des Begräbnisrituals wurde das Spiel der Bläser zur Gelenkstelle zwischen dem Abschiednehmen vom Sterbenden im weitgehend geschlossenen Raum des Sterbezimmers und den öffentlichen Begräbnishandlungen am Toten.15
Ähnlich wie Franziska Seils es an ihren Beispielen beobachtet hat, spielte die eigentliche Trauerliturgie im Gemeinsaal auch nach Zinzendorfs Tod nur eine nebensächliche Rolle. So heißt es in einem Bericht: [Zinzendorf] starb an einem Tage, dessen Losung bei seiner Gemeine war: Er wird seine Ernte frölich einbringen mit Lob und Dank. Acht Tage darauf ward er unter einem Gefolge von 2100 Leichenbegleitern und 2000 Fremden in größter Ordnung und Stille mit Ehrerbietung beerdigt. Zwei und dreißig Prediger und Missionare, deren einige aus Holland, England, Irland, Nord-Amerika und Grönland in Herrnhut eben anwesend waren, trugen wechselnd den Sarg, unter Begleitung der ganzen Gemeine, mit Musik und Gesang, unter anderen des Liedes: Ei wie so selig schläfest du, Und träumest süßen Traum!16
Schon durch die schiere Größe des Gefolges rückt diese Prozession eng an das barocke Herrscherbegräbnis heran, Prozessionen gehörten jedoch grundsätzlich zu den liturgisch begangenen Abschnitten des brüderischen Begräbnisrituals. Nicole Schatull hat anhand von Herrnhuter Diarien von 1755 dargestellt, dass sich die Gemeine zur Bestattung auf dem Platz vor dem GemeinHaus oder im Gemein-Saal selbst versammelte: Nach einer kurzen Leichenrede des Liturgen mit einem Lebenslauf des Verstorbenen brachte man den Sarg in einer Prozession zum Gottesacker. Dabei gingen die Bläsergruppe, die fakultativ um andere Instrumente wie Streicher erweitert werden konnte, und die Kinder aus den pädagogischen Anstalten voran, es folgten der Liturg, die Träger mit dem Sarg und die engeren Verwandten, dann die Gemeine nach Chorzugehörigkeit geordnet. [. . .] Das Liturgienbüchlein von 1755 bietet dazu ein liturgisches Formular [. . .]. Demnach begann die Bestattungsliturgie mit einer Liedstrophe, in welcher der segensvolle Tod des Verstorbenen und sein Auffahren zur oberen Gemeine konstatiert wurde. Sie war eine inhaltliche Wiederholung des Posaunentons bei der Veröffentlichung des Todes.17
Da diese Liedstrophe in der liturgisch geprägten Form am engsten auf die Person des Verstorbenen bezogen war, liegt es nahe, deren Text gesondert hervorzuheben, wie es der Bericht über die Prozession nach Zinzendorfs Tod tut: „Ei wie so selig schläfest du, Und träumest süßen Traum!“ 15 16 17
Schatull, Liturgie [s. Anm. 12], 119. Johann Gottfried Herder: Zinzendorf. In: Adrastea 4, 1802, 91–100, hier 92. Schatull, Liturgie [s. Anm. 12], 120.
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Zur herrnhutischen Erinnerungskultur gehörte die Anfertigung einer Vita des Verstorbenen. Nicole Schatull sieht hierin den vierten und letzten liturgisch begangenen Abschnitt des brüderischen Begräbnisrituals.18 Diese Lebensläufe umfassten eingehende Schilderungen der Herkunft des Verstorbenen und seines Lebensweges. Das Verlesen dieser Lebensläufe, so berichtet Nicole Schatull in einem wohl durchaus repräsentativen Fall, wurde schließlich in den Wochen nach dem Tod im Rahmen von „Sabbats-Agapen, denen die Witwe beywohnte“, wiederholt.19 Im Falle Zinzendorfs greift freilich noch ein anderes Prinzip in Gestalt einer Gemeinmusik zur Gedächtnisfeier des Todestages des Grafen Zinzendorf. Es handelt sich dabei um eine Kantate, die am 9. Mai 1761 – also an Zinzendorfs erstem Todestag – vom Herrnhuter Collegium Musicum aufgeführt worden ist. Komponist ist Christian Friedrich Gregor, den Text, möglicherweise auch die Choralmelodien hat offenbar Johann Friedrich Franke geschrieben, der häufig im Kontext der Herrnhuter Musik dieser Zeit als Textdichter und Verfasser von Liedmelodien in Erscheinung tritt. Quellen der Jahre um 1760 vermerken im Titel sogar explizit: „die Melodie ist von Johann Friedrich Franke und die Harmonie von Christian Gregor“.20 Diese Gemeinmusik wird im Herrnhuter Diarium am 9. Mai 1761 beschrieben. Bei der Gedächtnisfeier für den Grafen Zinzendorf, nach der Rede des Bischofs Grassmann, „wurde vom Chor, worein auch das SingeChor der Knaben u. Mädgen unten auf dem Saal mit einstimmete, u. von der Gemeine wechselweise das gesungen, was von Br. Franke aufgesetzt worden. Es war kurz vor der Versammlung in den Chören gedruckt ausgeteilt worden, damit ein jedes desto genauer mit Herz u. Munde einstimmen könnte.“ Die Kantate umfasst nicht weniger als 28 Sätze, darunter 14 Choräle. Die Zahl von 28 Sätzen insgesamt ist ungewöhnlich hoch, der hohe Anteil von Chorälen dagegen typisch. Die anderen 14 Sätze setzen sich zusammen aus sieben Chor- und sieben Solosätzen. Dass die Symbolhaftigkeit der Zahl 7 hier erneut eine Rolle spielt, ist zwar nicht nachzuweisen, doch in hohem Maße wahrscheinlich: Schließlich sind auch die Zahlen 4 – für die vier Evangelisten21 – und 28 – 4 mal 7 und eine vollkommene Zahl – entsprechend besetzt. Die Partitur enthält zahlreiche Korrekturen und auch Vereinfachungen, sie scheint eher flüchtig entstanden zu sein, was erahnen lässt, dass die Musik zur Gedächtnisfeier wohl nicht sehr lange im Voraus geplant worden ist. Im Einzelnen besteht die Musik aus folgenden Sätzen: 18
Schatull, Liturgie [s. Anm. 12], 121. Schatull, Liturgie [s. Anm. 12], ebd. mit Anm. 168. Das Zitat stammt demnach aus dem Jüngerhausdiarium vom 25. 11. 1754. 20 UA Herrnhut, Mus. J. 190:3. 21 Angesichts des Anlasses könnte man auch an die vier letzten Dinge denken, doch scheint ein solches kategorial-eschatologisches Denken bei Zinzendorf keine zentrale Rolle mehr zu spielen. 19
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11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28.
Chor mit Sopran solo „Kyrie eleison unser Herr Jesu Christe“ Chor „O Herr welch Jahr und Tag“ Chor mit Sopran solo „Erneure was bei jedem Blick und Tritte“ Choral „Du ruftest ihn du selbst“ Chor mit Sopran solo „Da lässest du gern solchen Liebeszähren“ Choral „Und segne deiner Kreuzgemeine“ Sopran solo „So fasse auf was Seelen“ Choral „So wird hier und droben gehn“ Sopran solo „Solch’ Denkmal sieht man jedes ihm bereiten“ Choral „Die Sinnen gehen zu und denken“ Choral „Wünschen heut daß das Gebeine“ Sopran solo „Dein Friede welcher unser aller Schmerzen“ Choral „Weil dein Name auf uns taut“ Sopran solo „Lobt’s Werk das Werkzeug“ Choral „Es ist doch herzlich gut gemeint“ Sopran solo „Nimm dann dein Lob von Christen“ Choral „Heilig selig ist die Freundschaft“ Chor „Du stelletest des Brüder-Kirchleins Hürde“ Choral „Gedenk’n woll’n wir an deinen Tod“ Chor „Die Gnad’ und Weisheit wie sie aus dem wunden durchstochnen Herzen“ Choral „Ans Licht das uns den Weg weist“ Chor „So fand er Perl’n“ Choral „Im Herzen und im Angesicht so jesushaft zu werden“ Sopran solo „Das ihm ganz eigne Werk“ Choral „Jeder Ort soll so lang stehen“ Sopran solo „Wie können wir bei so unzähl’gen Proben“ Choral „Bis du kommen wirst blut’gen Kirchenfürst“ Choral „Wir werden uns in diesem Sinn“
Trauerkantaten in der Herrnhuter Musikpflege waren sowohl vor als auch nach 1760 keine Sonderfälle. Eines der frühesten Beispiele ist vermutlich die Cantata | Auf | Joh: Ehrenfried Böhmers Begräbniß | den 6 Jan. 1741, für die Zinzendorf selbst den Text gedichtet hat.22 Im Umfang bleiben diese Kantaten meist deutlich hinter der Gedächtnismusik für Zinzendorf zurück, bemerkenswert bleibt dennoch der Umstand, dass es eine Zahl von Schwestern und Brüdern gab, deren Begräbnisritual aus im Einzelnen nicht bekannten Gründen um solche musikalischen Anteile erweitert wurde. Eine Gedächtnismusik ist freilich nur in einem Fall bekannt: Für den 22. November 1763 komponierte Christian Friedrich Gregor eine viersätzige Trauerkantate Alles Fleisch
22
UA Herrnhut, Mus.A 5:23.
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ist wie Gras zu einer Gedächtnis-Predigt für den am 5. Oktober dieses Jahres in Dresden verstorbenen Kurfürsten August III.23 Es bietet sich an, ein stereotypes Schema zur Deutung dieser Befunde vorzuschlagen, das sich mit Befunden aus zeitgenössischen Kontexten stützen lässt. Anlassgebundene Trauermusik – also solche, die direkt während der Begräbnisfeier erklingt – gehört zum Kontext bürgerlichen Selbstverständnisses seit der Frühen Neuzeit. Sie dient der Vorstellung eines geordneten Sterbens im Sinne der ars moriendi. Musik zu Gedächtnisfeiern, also performativmusikalische Erinnerungskultur, gehört zum Kontext höfischer Repräsentation. Dezidierte Trauerkanaten für verstorbene Herrscher sind in dieser Zeit selten, Gedächtnismusiken hingegen häufig. Zinzendorf war in dieser Hinsicht ein Haupt seiner Gemeine, das von den Geschwistern mit einem höfischen Trauerzeremoniell geehrt wurde.
23 UA Herrnhut, Mus.B 40:502. Drei Kopien einzelner Sätze belegen, dass diese Musik auch im Zusammenhang anderer Trauerfeierlichkeiten verwandt worden ist.
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HANS-GEORG KEMPER
Zinzendorf – klassisch. ‚Herrnhut‘ als ‚Lerngut‘ in Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre I. Einleitung 1) Der „närrische Graf“ als Bildungs-Klassiker: Goethe hat dem Gründer der Herrnhuter Brüdergemeine in seinem Bildungsroman Wilhelm Meisters Lehrjahre (zuerst 1795/96) ein ungewöhnliches klassisches Denkmal gesetzt.1 Zunächst erstaunt es, dass dieser durchgängig fiktive Roman ausgerechnet den Grafen Zinzendorf, die Herrnhuter Brüdergemeine oder das Ebersdorfer Gesangbuch als historisch verifizierbare Konkretionen aus der Kulturge-
1 Goethes Roman wird hier (mit Seitenzahl im Text) nach folgender Ausgabe zitiert: Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. In: Ders.: Wilhelm Meisters theatralische Sendung. Wilhelm Meisters Lehrjahre. Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. Hg. v. Wilhelm Voßkamp u. Herbert Jaumann. Unter Mitwirkung v. Almut Vosskamp. Frankfurt/Main 1992, 355–992 (= Sämtl. Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. I. Abteilung: Sämtl. Werke Bd. 9). Der Text dieser Frankfurter Ausgabe folgt – leicht modernisiert – dem Erstdruck von 1795/96. Ergänzend dazu werden zur leichteren Auffindbarkeit der Stellen bei Benutzung anderer Ausgaben der jeweilige Band des Romans (mit römischer) und das Kapitel (mit arabischer Zahl) des Romans angegeben. Das sechste Buch enthält allerdings keine Kapitel-Einteilung. – Zur kaum überschaubaren Literatur über diesen Roman bis etwa 1990 verweise ich auf die Kommentare dieser Frankfurter sowie der Münchener Ausgabe (Anm. 4). Vgl. ferner den Forschungsbericht von Thorsten Valk: Melancholie im Werk Goethes. Genese – Symptomatik – Therapie. Tübingen 2002, 162 ff. Zur neueren Literatur vgl. ferner: Elke Dreisbach: Kommentierte Bibliographie zur Goethe-Literatur (Bibliographien, Periodika, Editionen, Nachschlagewerke; Forschungsliteratur zu Goethes erzählenden Werken). In: Johann Wolfgang Goethe. Romane und theoretische Schriften. Neue Wege der Forschung. Hg. v. Bernd Hamacher u. Rüdiger Nutt-Kofoth. Darmstadt 2007, 217–237, hier 228 ff. – Zum sechsten Buch des Romans, den Bekenntnissen einer schönen Seele, vgl. den partiellen Forschungsüberblick v. Hellmut Ammerlahn: Imagination und Wahrheit. Goethes Künstler-Bildungsroman ‚Wilhelm Meisters Lehrjahre‘. Struktur, Symbolik, Poetologie. Würzburg 2003, 211 ff. Vgl. ergänzend dazu und grundlegend für den vorliegenden Zusammenhang Separatisten, Pietisten, Herrnhuter. Goethe und die Stillen im Lande. Hg. v. Paul Raabe. Halle/Saale 1999, 17 ff., 47 ff., 76 ff. (zu Goethe und der Brüdergemeine), 95 ff. (zu Goethes Freundschaft mit Susanna Katharina von Klettenberg). Vgl. ferner Goethe und der Pietismus. Hg. v. Hans-Georg Kemper u. Hans Schneider. Tübingen 2001; Paul Raabe: Goethe und Zinzendorf. In: Neue Aspekte der Zinzendorf-Forschung. Hg. v. Martin Brecht u. Paul Peucker. Göttingen 2006, 229–238. – Der vorliegende Beitrag hebt Aspekte hervor, die bislang weitgehend unbeachtet blieben, und ergänzt das bei Kemper/Schneider (s. o.) entfaltete Spektrum der Begegnung Goethes mit dem Pietismus.
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schichte der frühen Neuzeit benennt. Diese Ehre widerfährt mit analoger Intensität vor allem Shakespeare und seinem Werk, und dies in den ersten fünf Büchern des Romans, der Wilhelms letztlich scheiterndes Engagement auf dem Theater thematisiert. Im Vergleich zu Shakespeares im Sturm und Drang entdecktem kulturgeschichtlichen Rang und damit zu seinem ‚bildenden‘ Wert in einem Roman, der Schillers Anspruch einer ‚ästhetischen Erziehung‘ einzulösen versucht,2 galt der vernunftfeindliche, aber phantasiefreudige und daher in seiner Gläubigkeit und in seinen Frömmigkeitsriten bizarr erscheinende Zinzendorf vielen seiner aufgeklärten Zeitgenossen – wie auch einige Romane der Aufklärung bezeugen3 – als „närrischer Graf“ und als Anführer einer bespöttelten „Sekte“. Ausgerechnet sein Wirken erscheint hier als repräsentatives Bildungsgut aus der vielgestaltigen Frömmigkeitsgeschichte des 18. Jahrhunderts. Dies geschieht zunächst im sechsten Buch, den Bekenntnissen einer schönen Seele.4 Diese erweisen sich als pietistische Zweckform der Autobiographie, die schon formal den individualistischen Bildungswert pietistischer Frömmigkeit annonciert. Mit diesen Bekenntnissen hat Goethe, wie er in seiner Autobiogra2 Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. In: Ders.: Erzählungen / Theoretische Schriften. Hg. v. Gerhard Fricke u. Herbert G. Göpfert. 5., durchges. Aufl., München 1975, 570–669 (= Sämtliche Werke Bd. V), hier 577: „Jeder individuelle Mensch, kann man sagen, trägt, der Anlage und Bestimmung nach, einen reinen idealischen Menschen in sich, mit dessen unveränderlicher Einheit in allen seinen Abwechselungen übereinzustimmen die große Aufgabe seines Daseins ist.“ – Dies bezeichnet, wie noch zu zeigen ist, auch ein Hauptziel des Bildungsweges der Hauptfiguren in Goethes Roman. – Zum nachhaltigen Einfluss Schillers auf die immer wieder stockende Genese des Romans vgl. Hans-Jürgen Schings: Einführung. In: Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Ein Roman. Hg. v. H.-J. S. München 1988, 613–643, hier 618 ff. (= Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe, 5). Vgl. dazu ferner ebd., 650 f. 3 Zur Rezeption Zinzendorfs in der empfindsamkeitskritischen Literatur vgl. Hans-Georg Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit, Bd. 6/I: Empfindsamkeit. Tübingen 1997, 54 ff. 4 Im Sinne der gängigen Lesart der Forschung, der Roman weise sich steigernde „Formen des ironischen Distanzierens im Erzählen“ auf, behauptet Voßkamp in seinem Kommentar, auch das sechste Buch werde in ironische Distanz gerückt: „Die Geschichte der weiblichen Selbstverwirklichung kann auch als kritisch-parodistische Charakterisierung des empfindsamen Pietismus gelesen werden.“ (Wilhelm Vosskamp, Kommentar, in: Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre [s. Anm. 1], 1226–1502, hier 1365 ff.) Sein Kommentar enthält aber keinerlei Hinweise für eine solche Lesart. Auch Goethe selbst, der die Bekenntnisse gegenüber Schiller als das „religiöse Buch meines Romans“ bezeichnet (zit. ebd., 1449), sowie Schiller und andere Rezipienten (wie Goethes begeisterte Mutter) bzw. die Romantiker haben das sechste Buch keineswegs ironisch verstanden. Im Gegenteil. Vielen Lesern des Romans galten die frommen Bekenntnisse einer schönen Seele als Fremdkörper in einem weltlichen Liebesroman, und die Verehrer der Klettenberg hielten die Platzierung ihrer Autobiographie in diesem Kontext für unsittlich und entwürdigend. So schreibt Schiller an Goethe (25. 07. 1796): „Neulich erfuhr ich, dass Stolberg, und wer sonst noch bei ihm war, den Meister feierlich verbrannt habe, bis auf das sechste Buch, welches er wie Arndts Paradiesgärtlein rettete und besonders binden ließ. Er hält es in allem Ernste für eine Anempfehlung der Herrnhuterei, und hat sich sehr daran erbaut.“ Sogar Goethes eigener Schwager Schlosser verfährt 1799 ebenso: „Ich kann noch nicht meinen Verdruß verbeißen, dass Goethe dieser reinen Seele einen
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phie anmerkt, der im Roman nur ‚Stiftsdame‘ genannten Jugendfreundin Susanna Katharina von Klettenberg ein Denkmal gesetzt.5 Sie „schien sich“ – so Goethe in Dichtung und Wahrheit – „mit einiger Selbstgefälligkeit in dem Bilde des Grafen Zinzendorf zu spiegeln, dessen Gesinnungen und Wirkungen Zeugnis einer höheren Geburt und eines vornehmeren Standes ablegten.“6 Und er erzählt, wie sie nun auch ihn selbst in diesem Sinne religiös zu bilden suchte. In der Tat spiegelt sich in den Bekenntnissen einer schönen Seele auch ein Teil von Goethes eigener religiöser Entwicklung,7 und der Roman bringt das ‚Bildungswerte‘ daran auf eine klassische Pointe. Zugleich dient das Manuskript zur Einführung jener Familie und ihrer romaninternen ‚Bildung‘, in die Wilhelm Meister durch Natalie schließlich einheiraten kann.8 Platz in seinem Bordell angewiesen hat, das nur zur Herberge dienen sollte für vagabundierendes Lumpengesindel.“ Beide Zitate in Hans-Jürgen Schings: Kommentar. In: Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre [s. Anm. 2], 711–856, hier 786. Weitere zeitgenössische Kommentare zum sechsten Buch ebd., 658 (von Wilhelm von Humboldt), 687 f. (von Friedrich Schlegel), 693 ff. (von Novalis). – Vgl. dazu auch Burkhard Dohm: Radikalpietistin und ‚schöne Seele‘: Susanna Katharina von Klettenberg. In: Goethe Pietismus [s. Anm. 1], 111–134, hier 134. Im übrigen ist der Kommentar von Reed bedenkenswert, den er einem ironischen Verständnis der freimaurerischen adligen Turmgesellschaft entgegenhält: „Es geht natürlich nicht an, Ironie als interpretatives Allheilmittel einzusetzen, das den Roman für Leser ‚retten‘ soll, die ihrerseits die epische Maschinerie des Turms und den Kompromiß mit dem Adel nicht ernst zu nehmen vermögen.“ Das gilt analog für die manchem heutigen Leser entfremdete Welt des Pietismus (Terence James Reed: Revolution und Rücknahme: ‚Wilhelm Meisters Lehrjahre‘ im Kontext der Französischen Revolution. In: Goethe Forschung [s. Anm. 1], 38–58, hier 52. Dennoch ließe sich von Ironie insofern sprechen, als der Erzähler in der Begegnung zwischen der Stiftsdame und dem Oheim verdeutlicht, in welchem Maße das neue klassische Konzept der Bildung und das damit verbundene Welt- und Menschenbild zumindest für Goethe, wie er auch in seiner Autobiographie erläutert, durch pietistischherrnhutische Positionen gerade mit ermöglicht und vorbereitet wurden. Vgl. dazu das Folgende. 5 Johann Wolfgang Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Hg. v. Klaus-Detlef Müller. Frankfurt/Main 1986, 369 f. (= J. W. G.: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. I. Abt. Sämtl. Werke, 14). 6 Goethe, Aus meinem Leben [s. Anm. 5], 370. 7 Vgl. dazu Buch XV von Dichtung und Wahrheit, vgl. ebd., 688 ff. 8 Eine detaillierte Analyse der strukturellen Verknüpfung des nur scheinbar als erratischer Block im Roman platzierten sechsten Buches bietet Ammerlahn, Imagination [s. Anm. 1], 211– 248. Wie die Überschrift dieses Kapitels „Spiegelungen in analoger Biographie: ‚Bekenntnisse einer schönen Seele‘“ bereits annonciert, arbeitet Ammerlahn zahlreiche Parallelen zwischen den Bildungsgängen Wilhelms und der Stiftsdame heraus. Zugrunde liegt dabei die These, dass sich der theatralisch-ästhetische Werdegang Wilhelms und die religiöse Entwicklung der schönen Seele gleichwertig miteinander vergleichen lassen. Dagegen geht die hier vorliegende Interpretation von der Idee der Steigerung aus: Die Bekenntnisse fungieren im Roman als entscheidendes Scharnier, in dem die ästhetischen, poetischen und religiösen Vorstellungen des Sturm und Drang, wie sie auch noch den Büchern I bis V zugrunde liegen und in Zinzendorfs religiösen Liedern im sechsten Buch erscheinen, durch die Begegnung der Stiftsdame mit dem Oheim zur ‚Kunstreligion‘ ‚geadelt‘ werden. Zum derzeit viel diskutierten Phänomen der Kunstreligion vgl. Bernd Auerochs: Was ist eigentlich Kunstreligion? Reflexionen zu einem Phantasma um 1800. In: Literatur und Theologie im 18. Jahrhundert. Konfrontationen – Kontroversen – Konkurrenzen. Hg. v. HansEdwin Friedrich [u. a.]. Berlin, New York, 2011, 323–335. – Dagegen behauptet Anton Reininger, wie ich einem kritischen Referat von Lothar Köhn (Germanistik 50, 2009, 290 f.) entnehme, die
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2) Kern-These und Aufbau: Der Roman destilliert, wie ich zeigen möchte, aus dem Herrnhutertum schrittweise nicht weniger als den Kern des klassischen Dichter-, Welt- und Menschenbildes. Zunächst geht es um eine Würdigung des Dichter-Genies im ‚Theaterroman‘ (II), dann um die Identitätsbildungsgeschichte der Stiftsdame von ihrer herrnhutischen, poesie-affinen Frömmigkeit zum Bildungs-Erlebnis einer Kunst-Religion im Schloss des Oheims (III), zugleich um die klassische Uminterpretation herrnhutischer Frömmigkeit durch den Oheim (IV), schließlich um die Nobilitierung Herrnhuts zu einer klassischen Idee (V). II. Zinzendorfs ‚inspirierendes‘ Erbe und die Poetik des Sturm und Drang 1) Kanzel-Frieden im Gesang: Der ‚Theaterroman‘, der Wilhelms Jugendbildung beschreibt, ruft literatur- und bildungsgeschichtlich einige Maximen der „Literaturrevolution“ aus der Jugendzeit Goethes in Erinnerung. So hebt Wilhelm (in einem Brief an seine erste Geliebte Mariane) die Dichotomie zwischen weltlichem und geistlichem Dichtertum auf und kann von daher auch die funktionale Rivalität der Institutionen Theater und Predigt annullieren: Mir glüht die ganze Seele bei dem Gedanken, endlich einmal aufzutreten und den Menschen in das Herz hinein zu reden, was sie sich so lange zu hören sehnen. [. . .] Das Theater hat oft einen Streit mit der Kanzel gehabt, sie sollten, dünkt mich, nicht mit einander hadern. Wie sehr wäre zu wünschen, daß an beiden Orten nur durch edle Menschen Gott und Natur verherrlicht würden! (I, 17; 418 f.)9
2) Stegreif-Dichtung und Lieder-Predigten: Die „glühende ganze Seele“, mit der Wilhelm sich seiner Liebe ebenso widmet wie seinem Theater, verweist auf das Phänomen der Inspiration, die – in der pietistischen Frömmigkeit neu belebt – zum Leitwort des genialen Dichterselbstverständnisses der Stürmer und Dränger wurde. Phantasie, Naivität, Spontaneität, Kreativität aus dem Stegreif und damit auch Originalität, die Wilhelm schon beim kindlichen Puppenspiel erprobt,10 sind weitere entscheidende Begriffe des neuen DichterBekenntnisse einer schönen Seele seien ein „Text zweiter Ordnung“ (Wilhelm Meister. Eine „schöne menschliche Natur“ oder ein „armer Hund“? Udine 2008, 214). 9 Vgl. dazu Hans-Georg Kemper: Literaturtheorie als Predigt im Sturm und Drang. In: Literatur und Theologie [s. Anm. 8], 243–260. 10 Gleich zu Beginn des Romans erzählt Wilhelm Mariane von seiner kindlichen Sozialisation zum Theater durch das Geschenk eines Puppenspiels, in dem er zunächst biblisch-alttestamentliche Stoffe spielen konnte. Mit glühender Einbildungskraft und Spontaneität aber verlegen sich die Kinder alsbald aufs unermüdliche Neu-Erfinden von Stoffen und Figuren: „Kinder wissen beim Spiele aus allem alles zu machen: ein Stab wird zur Flinte, ein Stückchen Holz zum Degen, jedes Bündelchen zur Puppe, und jeder Winkel zur Hütte. In diesem Sinne entwickelte sich unser Privattheater.“ (I, 8; 382) Diese Puppenspiel-Reminiszenz hat autobiographischen Charakter. Vgl. Goethe, Leben [s. Anm. 5], 56 ff.
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verständnisses aus dem ‚Sturm und Drang‘.11 Und gerade weil Wilhelm es hier seiner Kindheit zuweist, erblickt er darin eine unverfälschte Authentizität, die er sich auch bei seiner späteren Theaterarbeit zu bewahren sucht. Er trägt dort zu einer Atmosphäre bei, in der seine Schauspiel-Truppe auch außerhalb der Theateraufführungen auf Festen und Ausflügen zum eigenen Zeitvertreib Komödien und Gesänge extemporiert. Bei einer Kutschenfahrt etwa komponiert Wilhelm „aus dem Reichtum seines lebendigen Bildervorrats sogleich ein ganzes Schauspiel mit allen seinen Akten, Szenen, Charakteren und Verwicklungen. Man fand für gut, einige Arien und Gesänge einzuflechten; man dichtete sie und Philine, die in alles einging, paßte ihnen gleich bekannte Melodien an, und sang sie aus dem Stegreife.“ (II, 10; 477) Im Anschluss daran begegnet die Figur des Harfners, der seine Zuhörer durch ebensolche Liederfolgen begeistert und in die unterschiedlichsten Stimmungen versetzt (II, 11; 482 ff.). Der Erzähler selbst weist auf die Herkunft dieses Liedersingens hin: Wer einer Versammlung frommer Menschen, die sich, abgesondert von der Kirche, reiner, herzlicher und geistreicher zu erbauen glauben, beigewohnt hat, wird sich auch einen Begriff von der gegenwärtigen Szene machen können; er wird sich erinnern, wie der Liturg seinen Worten den Vers eines Gesanges anzupassen weiß, der die Seele dahin erhebt, wohin der Redner wünscht, daß sie ihren Flug nehmen möge, wie bald darauf ein anderer aus der Gemeinde, in einer andern Melodie, den Vers eines andern Liedes hinzufügt und an diesen wieder ein dritter einen dritten anknüpft, wodurch die verwandten Ideen der Lieder, aus denen sie entlehnt sind, zwar erregt werden, jede Stelle aber durch die neue Verbindung neu und individuell wird, als wenn sie in dem Augenblicke erfunden worden wäre; wodurch denn aus einem bekannten Kreise von Ideen, aus bekannten Liedern und Sprüchen für diese besondere Gesellschaft, für diesen Augenblick ein eigenes Ganze entsteht, durch dessen Genuß sie belebt, gestärkt und erquickt wird. (II, 13; 493)
Das las und liest sich wie eine Paraphrase von Zinzendorfs eigener Beschreibung der von ihm erfundenen Form der Liederpredigten,12 denen ja auch der junge Goethe in den frommen Versammlungen seines Elternhauses begegnet ist.13 Nach solcher leitmotivischen Vorbereitung verwundert es 11 Vgl. dazu Hans-Georg Kemper: „Göttergleich“. Zur Genese der Genie-Religion aus pietistischem und hermetischem ‚Geist‘. In: Goethe Pietismus [s. Anm. 1], 171–208; ders.: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 6/II: Sturm und Drang: Genie-Religion. Tübingen 2002, 172 ff., 182 ff., 226 ff. u. ö. Christian Soboth: Willkommen und Abschied: Der junge Goethe und der Pietismus. In: Goethe Pietismus [s. Anm. 1], 209–230. – Mit Recht verweist Schings auch auf den Inhalt aus der ‚Sturm und Drang‘-Zeit: „Das erste Buch wiederholt Werthers Schicksal en miniature.“ (Kommentar [s. Anm. 4], 636). 12 Vgl. dazu Kemper, Lyrik 6/I [s. Anm. 3], 35 f.; ders., Lyrik 6/II [s. Anm. 11], 44. 13 Vgl. Der junge Goethe. Neu bearbeitete Ausgabe in 5 Bänden. Hg. v. Hanna Fischer-Lamberg. Bd. I. Berlin, New York 1999, 263. „Herrnhutische Schriften“ des Grafen Zinzendorf befanden sich im übrigen auch in der Bibliothek von Goethes Vater; vgl. Schings, Kommentar [s. Anm. 4], 798.
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nicht, dass die Stiftsdame sich gerade durch die Lektüre des (auch in Goethes Elternhause benutzten) Ebersdorfer Gesangbuches (1742 ff.) mit seinem großen Bestand herrnhutischer Lieder14 zu Zinzendorf hingezogen fühlt. Während sie ihn auf Grund seiner Lehren zunächst „für einen gar zu argen Ketzer“ hält (VI, 768), findet sie zu ihrem Erstaunen wirklich Lieder darin, die, freilich unter sehr seltsamen Formen, auf dasjenige zu deuten schienen, was ich fühlte; die Originalität und Naivität der Ausdrücke zog mich an. Eigene Empfindungen schienen auf eine eigene Weise ausgedrückt; keine Schulterminologie erinnerte an etwas Steifes oder Gemeines. Ich ward überzeugt, die Leute fühlten, was ich fühlte, und ich fand mich nun sehr glücklich, ein solches Verschen ins Gedächtnis zu fassen und mich einige Tage damit zu tragen. (VI, 769)15
Noch in Dichtung und Wahrheit erblickte Goethe das „Magische“ der Brüdergemeine in ihrer Ferne von aller „Schulterminologie“ und Verkirchlichung. In ihrer kreativen Ursprünglichkeit erschien sie ihm wie eine Wiedergeburt der Urkirche und Zinzendorf als „frommer, vorzüglicher Mann“, unter dessen Leitung sie sich erneut über die Welt ausbreiten wolle, wobei „der Lehrer zugleich als Gebieter, der Vater zugleich als Richter dastand“.16 Im Roman wird dem Grafen analog als genialem inspirierten Dichter-Lehrer einer herzlich-spontanen religiösen Gefühls-Kultur Ehre erwiesen, und sein Erbe ist als Bildungsgut auch in Wilhelms enthusiastischem Verständnis vom Dichter bewahrt: „[. . .] mit leisen Übergängen stimmt seine Harfe zu Freude und Leid. Eingeboren auf den Grund seines Herzens wächst die schöne Blume der Weisheit hervor, [. . .] Und so ist der Dichter zugleich Lehrer, Wahrsager, Freund der Götter und der Menschen.“ (II, 2; 435)17 14 Vgl. dazu Wilhelm Bettermann: Kurze Mitteilungen. Das Ebersdorfer Gesangbuch. In: Zeitschrift für Brüdergeschichte X, 1916, 145–151. 15 Zu Zinzendorfs Liedproduktion vgl. Hans-Georg Kemper, Lyrik 6/I [s. Anm. 3], 31 ff., 38 ff.; Hans-Jürgen Schrader: Zinzendorf als Poet. In: Aspekte [s. Anm. 1], 134–162. Dietrich Meyers These, es könne „wohl keine Frage sein, dass Zinzendorfs Gegenwartsbedeutung am unmittelbarsten durch seine Lieder zu uns spricht“ (Zu Zinzendorfs Gegenwartsbedeutung. In: Ebd., 272– 280, hier 274), relativiert sich durch Schraders zutreffenden Nachweis, Zinzendorf müsse „als der zweifellos schon früh am radikalsten Zensurierte unter unseren bekannten Kirchenlieddichtern“ gelten (Schrader, Zinzendorf, ebd., 136). 16 Goethe, Leben [s. Anm. 5], 689 f. 17 In dem ‚Zinzendorf‘-Kapitel seines Spätwerkes Adrastea erweist auch Herder dem Wirken des Grafen seine Reverenz, wenn er auch die durch Spangenberg eingeleiteten Reformen in ruhigeres Fahrwasser billigt: „Wer mag indessen auch den hingeworfensten Liedern des Grafen eine Biegsamkeit der Sprache, einen Reichtum an kühnen Wendungen und Herzensausdrücken absprechen, der oft überrascht, oft betäubet. [. . .] Wenn Töne die unmittelbare Herzenssprache zu sein scheinen, wo Viele und Alle sich in Einer Harmonie schwingen und bewegen, so ist mit Recht der Gesang die Losung einer Gemeine, die ‚eine Sammlung von Seelen‘ sein soll; auch hat gewiß dies Mittel der Einigung viel, wo nicht das Meiste zu der Seligkeit beigetragen, die die Gemeine Frieden des Himmels nannte.“ (Johann Gottfried Herder: Zinzendorf. In: Ders., Adrastea (Auswahl). Hg. v. Günter Arnold. Frankfurt/Main 2000, 598–603, hier 603 (= Johann Gottfried Herder: Werke in 10 Bdn., Bd. 10).
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III. Von der sündlos-heiteren, poesie-affinen Frömmigkeit zur Kunst-Religion 1) Glaubens-Prüfung: Dass Gesänge und Lieder mit ihren poetischen Bildern besonders das Herz ergreifen, wusste Zinzendorf, für den Religion „Herz=Sache“ war, schon aus den Sing-Stunden in den Franckeschen Stiftungen,18 und dies erfährt auch – wie schon zitiert – die Stiftsdame. Sie zieht sich nach fehlgeschlagener Verlobung und Krankheit mehr und mehr aus den weltlichen Geschäften zurück und strebt eine immer innigere Gottesgemeinschaft an. Dabei durchläuft sie einen hindernisreichen geistlichen Bildungsweg, von dem hier nur weniges angedeutet werden kann.19 So ergibt sie sich beim Versuch, ihre Seele mit Gott zu vereinen, zunächst „völlig dem hallischen Bekehrungssystem, und mein ganzes Wesen wollte auf keine Wege hineinpassen“. (VI, 759; Analoges hatte Zinzendorf in Halle erlebt und sich bis 1734 von dort abgenabelt.) Der dortige „Lehrplan“ des von Höllenangst begleiteten Durchbruchs zur Gnade widerspricht ihrer Erfahrung, dass Gott sich im Gebet ohne alle Angst jederzeit finden lasse. Hier wendet sie den im Pietismus selbst reklamierten Anspruch, alles in Religionssachen „selbst zu prüfen und das Beste zu behalten“, gegen eine pietistische Gruppierung an, aber dann auch und erst recht gegenüber zentralen Dogmen und Glaubensartikeln der Kirche, deren Gottesdienste sie gleichwohl regelmäßig besucht (und besuchen muss). Wesentliche Voraussetzungen des Dogmenbestandes und Implikationen des protestantisch-forensischen Rechtfertigungs- und Erlösungsglaubens erkennt sie nicht an, weil sie deren Erfahrung nicht besitzt. So ist ihr eine Furcht vor der Hölle unbekannt, und sie besitzt wie manche „wiedergeborenen“ Pietisten von sich kein Sündenbewusstsein (VI, 759 ff.)20 – solche Lehren, bekennt sie, machten die Menschen nur 18 Vgl. zu diesen Hans-Georg Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Bd.V/1: Aufklärung und Pietismus. Tübingen 1991, 37 ff. 19 Vgl. in diesem Zusammenhang auch das Frömmigkeitsprofil der Klettenberg bei Dohm, Radikalpietistin [s. Anm. 4], der überzeugend ihr aus dem Pietismus, Spiritualismus und Herrnhutertum erwachsenes weibliches Selbstbewusstsein, ihre Betonung der magisch wirkenden Imagination und des dadurch vollzogenen sinnlichen Umgangs mit Christus im Kontext alchimistischer Vorstellungen von psychophysischer Verschmelzung herausarbeitet und diese Aspekte vergleichend in den ‚Bekenntnissen‘ des Romans untersucht. – Ich setze im Folgenden im Blick auf den Romanzusammenhang andere Akzente. 20 Ammerlahn unterstellt der Stiftsdame ein Bewusstsein von der „Sünde als Möglichkeit“ durch „Furcht“ und „Ahnung“ aus Sympathie mit Philo, um ihr einen „möglichen sündigen Zustand als innere Erfahrung“ zu attestieren, „wie Wilhelm sich geistig-emotional mit dem tragischen Schicksal von Hamlet identifizieren konnte“: Ammerlahn, Imagination [s. Anm. 1], 226. Er bezieht sich dabei auf folgende Aussage der ‚schönen Seele‘: „Hatte ich nun bisher die Wirklichkeit der Sünde in mir durch die Erfahrung nicht einmal auf das leiseste gewahr werden können; so war mir jetzt die Möglichkeit derselben in der Ahndung aufs schrecklichste deutlich geworden, und doch kannte ich das Übel nicht, ich fürchtete es nur; ich fühlte, dass ich schuldig sein könnte, und hatte mich nicht anzuklagen.“ (VI, 764). Diese Aussage bezeugt indes zugleich, dass die Stiftsdame für sich selbst kein Sündenbewusstsein im Zusammenhang mit der Erbsündenlehre hat, und
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„elend“ (VI, 760). Das – übrigens auch von Zinzendorf vertretene – grundlegende Dogma von der Erlösung durch den Glauben an den Gekreuzigten21 sagt ihrem Herzen – wie dem des jungen Goethe22 – nichts, bis sie einen mystischen „Zug“ Christi als eines Geliebten in ihrer Seele spürt. Das ist für sie „Glauben“, „daß mein Geist eine Fähigkeit sich aufzuschwingen erhalten habe“ (VI, 766). Fortan liebt sie die Einsamkeit mit dem „unsichtbaren Freund“. Nicht primär dass dieser für ihre Sünden auf Golgatha gestorben ist, ist für sie Erlösung, sondern dass sie mit ihm leben und ihn lieben darf: Damit vollzieht sie für sich die frömmigkeitsgeschichtlich entscheidende Folgerung aus der Erlösungslehre nach, die Zinzendorf vor allem in der Herrnhaager Zeit auch mit seiner Gemeine im lebendig-phantasievollen Umgang mit dem menschlichen Gottessohn in dankbarer, fröhlicher Gottseligkeit zu genießen und im Liedgut zum Ausdruck zu bringen versuchte.23 2) Liebe auf Distanz zu Zinzendorf: Da die Stiftsdame nicht mehr Dogmen, sondern individuelle, charismatische Vorbilder zu den Gefühlen ihrer Religiosität inspirieren, erwecken die Lieder auch ihr Interesse für den Begründer der Brüdergemeine und für seine Schriften, und nun hatte ich überflüssige Nahrung für meine Einbildungskraft. Ich machte große Fortschritte in der Zinzendorfischen Art zu denken und zu sprechen. Man
sie bestätigt ihr vorhergehendes Bekenntnis: „[D]as Ding, das man Sünde nennt, kannte ich noch gar nicht.“ (VI, 761) 21 Gleichwohl haben Zinzendorfs Kritiker ihm und seiner Theologie nicht zu Unrecht immer wieder mangelndes Sündenbewusstsein vorgeworfen. Vgl. dazu Martin Brecht: Zinzendorf in der Sicht seiner kirchlichen und theologischen Kritiker. In: Aspekte [s. Anm. 1], 207–228, hier 218, 223, 228. Vgl. dazu Dietrich Meyer: „Zinzendorf war der Meinung, daß es völlig falsch sei, dem Menschen erst einmal ein Bewußtsein seiner Sündigkeit zu vermitteln, sein Selbstbewußtsein zu brechen und die Buße als Voraussetzung seiner Bekehrung zu erwarten. Dieses Verfahren des hallischen Pietismus, das bei Kindern im Pädagogium zu funktionieren schien, hatte schon bei ihm selbst versagt. Er wollte gerade umgekehrt bei Christus einsetzen und dem Menschen schlicht die Geschichte der Passion Jesu erzählen und so von der Liebe Christi überzeugen. Erst da, wo ein Mensch die Liebe Christi erkennt und empfindet, wo er sie an sein Herz heranläßt, wird er ein Gespür für den eigenen Mangel an Liebe und Vertrauen entwickeln.“ (Zinzendorf [s. Anm. 15], 280 f. 22 Goethes Annäherungsversuche an die Brüdergemeine scheitert am Vorwurf der Herrnhuter, er sei ein Pelagianer (er leugne also die Erbsünde und den Charakter des Leides und Todes Christi als Folge der Sünde und gehe statt dessen von einer autonomen Freiheit des Menschen aus), und Goethe bekennt sich denn auch ausdrücklich zu einer sehr gemäßigten Variante der Erbsündenlehre, welche die göttlichen Kräfte im Menschen keineswegs leugnet, sondern aufzufinden und zu fördern strebt. Goethe, Leben [s. Anm. 5], 690 f. Und wiederum keineswegs zufällig beschreibt er dann sein Prometheus-Projekt, in dem sich der Dichter-‚Prometheus‘ pelagianisch im Aufstand gegen Gott – dessen Schöpfertum nachahmend – selbst zu vergotten strebt (ebd., 695 ff.). Vgl. dazu Anm. 40. 23 Vgl. dazu das Kapitel „Glauben als Herzenssache, als Liebhaben, Empfinden und Genießen“ in: Meyer, Zinzendorf [s. Anm. 15], 282 ff. – Von nun an findet die Stiftsdame folgerichtig auch keinen Gefallen mehr an den orthodoxen Gottesdiensten. „Diese Prediger stumpften sich die Zähne an den Schalen ab, indessen ich den Kern genoß.“ (VI, 414)
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glaube nicht, daß ich die Art und Weise des Grafen nicht auch gegenwärtig zu schätzen wisse; ich lasse ihm gern Gerechtigkeit widerfahren; er ist kein leerer Phantast; er spricht von großen Wahrheiten meist mit einem kühnen Fluge der Einbildungskraft, und die ihn geschmäht haben, wußten seine Eigenschaften weder zu schätzen noch zu unterscheiden. Ich gewann ihn unbeschreiblich lieb. Wäre ich mein eigner Herr gewesen, so hätte ich gewiß Vaterland und Freunde verlassen, wäre zu ihm gezogen; unfehlbar hätten wir uns verstanden, und schwerlich hätten wir uns lange vertragen. (VI, 769)24
Diese Liebeserklärung endet mit einem distanzierenden Reflex25 und verweist auf ihr durch Krankheit und häusliche Einschränkung mitbedingtes 24 Ähnliche Äußerungen finden sich auch in den Schriften und Briefen der Susanna von Klettenberg. Sie sprechen für Goethes genaue Kenntnis seiner Freundin, mit der er in seiner Frankfurter Krankheitsphase engen Umgang pflegte und auch alchimistisch experimentierte. Aber die Annahme, Goethe habe Notizen oder auch ein Tagebuch von ihr in Händen gehabt und stilistisch zu den Bekenntnissen einer schönen Seele umgearbeitet, ist unbewiesene Spekulation. Er selbst erklärt in Dichtung und Wahrheit, das sechste Buch sei „aus deren Unterhaltungen und Briefen“ „entstanden“ (Goethe, Leben [s. Anm. 5], 369 f.), und die erhaltenen Briefe der Klettenberg plausibilisieren dies. Vgl. zur Nähe von Stiftsdame und Klettenberg im Blick auf das soeben Zitierte etwa auch folgenden Brief der Klettenberg an den Herrnhuter Reiseprediger Schick sieben Jahre nach Zinzendorfs Tod, als ihr revidierte Schriften des Grafen in die Hände gelangen – als Zeugnis für den Kurs des neuen Gemeine-Leiters Spangenberg, die Herrnhuter rigoros zu konsolidieren, zu uniformieren, das Bild Zinzendorfs sogleich zu „rektifizieren“ und damit auch aller Originalität und Exzentrizität zu berauben: „Den seligen Grafen von Zinzendorf habe ich erst wie alle Kirchenleute gehasset, nach empfangener Gnade im Blute Jesu aber unbeschreiblich geliebet. Seine Schriften sind mir unschätzbar. Meinethalben brauchten sie nicht revidiert zu werden. Die ersteren sind mir noch fast lieber als die letzteren. Kommt auch etwas vor, das ungewöhnlich klingt, so weiß ich es wohl zu fassen. Seine Schriften sind rechtschaffenen Herzen nicht anstößig, die Bienen und keine Spinnen sind. Nicht ein Wort von ihm ist mir noch anstößig gewesen.“ (Zit. in: Hans-Christoph Hahn: Das Bild Zinzendorfs nach seinem Tode. In: Aspekte [s. Anm. 1], 256–271, hier 260) Weitere analoge Zitate in Schings, Kommentar [s. Anm. 4], 792 ff. Vgl. dazu auch die Ausgabe: Die schöne Seele. Bekenntnisse, Schriften und Briefe der Susanna Katharina von Klettenberg. Hg. v. Heinrich Funck. Leipzig 1912. Zinzendorf selbst hatte in zweifacher Hinsicht Toleranz praktiziert: gegenüber den einzelnen Konfessionen, die er im übergreifenden philadelphischen Modell seiner Brüdergemeine und in seiner Tropenlehre auf Christus zentrieren wollte, ohne die konfessionellen Unterschiede dabei einzuebnen, sowie in der Respektierung persönlicher Originalität. So betont etwa auch Oetinger: „Mir gefiel an dem Grafen, daß er jedem seine Begriffe hat stehen lassen und zufrieden war, wenn einer sich selbs consequent lebte.“ (Friedrich Christoph Oetinger: Genealogie der reellen Gedancken eines Gottes-Gelehrten. Eine Selbstbiographie. Hg. v. Dieter Ising. Leipzig 2010, 105. Dies und Zinzendorfs überkonfessionelle Toleranz zog auch die Klettenberg an. Zu seinem philadelphischen Kirchenverständnis vgl. auch Hans Schneider: „Philadelphische Brüder mit einem lutherischen Maul und mährischen Rock“. Zu Zinzendorfs Kirchenverständnis. In: Aspekte [s. Anm. 1], 11–36. 25 Darin spiegeln sich zeitgenössische Erfahrungen mit dem als charismatische Person faszinierenden, aber auch als unduldsam und herrschsüchtig geltenden regierenden Reichsgrafen. So erging es mehrfach auch dem berühmten, von der Klettenberg und Goethe geschätzten ‚Schwabenvater‘ Friedrich Christoph Oetinger, der an seinen Mentor Johann Albrecht Bengel schrieb: „Einen lieb haben wie ich den Grafen und doch so viel Ärgernisse: die Herrschsucht, die Zweideutigkeit etc. (wenngleich das Nebendinge sind) leiden, ist eine widerliche Pein.“ (Zit. in: Brecht, Zinzendorf [s. Anm. 21], 213. Zu Oetinger, einem Lieblingsautor auch der Klettenberg, vgl. (mit
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Streben nach Autonomie, das sie eine Zeitlang zu einer „herrnhuthischen Schwester auf meine eigene Hand“ (VI, 770) macht. Was sie dann von den herrnhutischen Versammlungen abschreckt, sind die Uninspiriertheit der Mitglieder, die den „Sinn der zarten Worte und Ausdrücke“ nicht „fühlen“ und nicht fassen können (VI, 772), sowie der von der Orthodoxie entfachte Streit um die Rechtgläubigkeit der herrnhutischen Lehren und die Verfolgung der „heimlichen Gemeinde“ (VI, 771). Solcher Wort-Streit schien ihr „verderblich“ (VI, 772). 3) Form und Maß gegen Stegreif und ungezügelte Phantasie: Doch damit endet nicht ihr Bildungsweg. Ihr Oheim, der Stiefbruder ihres verstorbenen Vaters, lädt sie zu den Hochzeitsfeierlichkeiten ihrer Schwester auf sein Schloss ein, und hier begegnet sie einem ganz auf diesseitige Tätigkeit gerichteten Lebensentwurf und einem auf strenger harmonischer Proportionalität beruhenden Kunstkonzept, das der Oheim von der Architektur der Wohnräume, Möbel und Gegenstände bis zu den streng komponierten Feierlichkeiten inszeniert. Er verkörpert, so Vosskamp, „das Bildungsideal der ‚Lehrjahre‘“,26 in seinen Charakter habe Goethe – so Schiller – am meisten „von seiner eigenen Natur gelegt“.27 An den Malereien und Skulpturen lehrt der Oheim die Stiftsdame, auch die Mechanik des Handwerklichen nicht zu verachten, um das Geniale umso mehr würdigen zu können, und er postuliert wie Schiller die harmonische Ausbildung von Moral und Sinnlichkeit, damit auch die regellose Phantasie gezügelt werde und niemand „in den Fall kommt, seine edlere Natur durch Vergnügen an geschmacklosen Tändeleien, wo nicht an was Schlimmerem herab zu würdigen“. (VI, 781) Bei diesen Worten fühlt die Stiftsdame verschämt, „daß unter den Liedern, die mich erbauet hatten, manches abgeschmackte mochte gewesen sein, und daß die Bildchen, die sich an meine geistlichen Ideen anschlossen, wohl schwerlich vor den Augen des Oheims würden Gnade gefunden haben“. (VI, 781) Schließlich erlebt sie bei Gesang und Musik den strengen klassischen Gegenentwurf zu aller phantasiereichnaiven geistlichen Stegreif-Dichtung durch einen eingeübten Chor reiner Menschenstimmen ohne Instrumentalbegleitung: Ich hatte bisher nur den frommen Gesang gekannt, in welchem gute Seelen oft mit heiserer Kehle, wie die Waldvögelein, Gott zu loben glauben, weil sie sich selbst eine angenehme Empfindung machen; [. . .] Nun vernahm ich eine Musik, aus dem tiefsten Sinne der trefflichsten menschlichen Naturen entsprungen, die durch bestimmte Lit.) neuerdings Reinhard Breymayer: Art. „Oetinger, Friedrich Christoph“. In: Killy Literaturlexikon. 2., völlig überarb. Aufl. Bd. 8. Berlin, New York 2010, 686 f. Bei einer erneuten Hinwendung zur Brüdergemeine erfährt auch die Stiftsdame die von den Frauen geforderte Subordination – hier gegenüber einem von Zinzendorf zum Bischof ernannten „Messerschmidt“ (VI, 787) – als abschreckend. Kurz danach lernt sie von einem Arzt, Gott – ganz außerhalb kirchlicher Subordination! – auch in der Natur zu verehren (VI, 788). 26 Vosskamp, Kommentar [s. Anm. 4], 1449. 27 Vosskamp, Kommentar [s. Anm. 4], 1468.
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und geübte Organe in harmonischer Einheit wieder zum tiefsten, besten Sinne des Menschen sprach und ihn wirklich in diesem Augenblicke seine Gottähnlichkeit lebhaft empfinden ließ. Alles waren lateinische, geistliche Gesänge, die sich, wie Juwelen, in dem goldnen Ringe einer gesitteten weltlichen Gesellschaft ausnahmen, und mich, ohne Anforderung einer so genannten Erbauung, auf das geistigste erhoben und glücklich machten. (VI, 783)
Hier widerfährt also der pietistischen Freundin herrnhutischer Lieder ein klassisches Bildungserlebnis, und zu ihrem Erstaunen erwirkt gerade die durchgebildete sinnliche Form des Gesanges ihr das geistigste Vergnügen. Hier kündigt sich die Überlegenheit des neuen, formbewussten Kunstverständnisses an und bestätigt sich Friedrich Schlegels Beobachtung, dass die Religion sich in diesem Roman „stufenweise zur Kunst vollendet“.28 Die Stiftsdame ehrt Zinzendorfs poesie-affine Religiosität und Fest-Kultur als Höhepunkt eines emanzipierten Gefühlschristentums, aber mit dem beglückend als religiös erfahrenen klassischen Kunst-Erlebnis weist sie dem herrnhutischen Gesang und implizit der daraus schöpfenden Sturm und DrangPoetik schließlich nur noch einen naiven, historisch überwundenen Bildungswert zu. 4) ‚Klassizität‘ der ‚Bekenntnisse‘: Anders steht es allerdings mit ihrem religiösen Autonomie-Ideal. Dieses transzendiert letztlich alle Kunst, gewinnt aber als exorbitantes anthropologisches Modell gerade dadurch auch wieder Bildungs-Wert. Denn am Schluss hat auch die Stiftsdame auf dem Wege autonomer religiöser Individualität, aber auch der Erfahrung eines klassischen Kunst-Konzepts ein Ziel klassischer ästhetischer Erziehung erreicht, wie es Schiller proklamiert29 und Goethes Iphigenie praktiziert30: „Ich erinnere mich kaum eines Gebotes, nichts erscheint mir in Gestalt eines Gesetzes, es ist ein Trieb der mich leitet und mich immer recht führet; ich folge mit Freiheit meinen Gesinnungen, und weiß so wenig von Einschränkung als von Reue.“ (VI, 793) So darf sie gegen Schillers Einspruch ‚schöne Seele‘ heißen – ein Begriff,
28
Friedrich Schlegel: Über Goethes Meister, 1798. In: Schings, Kommentar [s. Anm. 4], 688. Vgl. Friedrich Schiller: Über Anmut und Würde. In: Ders., Erzählungen / Theoretische Schriften [s. Anm. 2], 433–488, hier 468 f.: „Eine schöne Seele nennt man es, wenn sich das sittliche Gefühl aller Empfindungen des Menschen endlich bis zu dem Grad versichert hat, dass es dem Affekt die Leitung des Willens ohne Scheu überlassen darf und nie Gefahr läuft, mit den Entscheidungen desselben im Widerspruch zu stehen. Daher sind bei einer schönen Seele die einzelnen Handlungen eigentlich nicht sittlich, sondern der ganze Charakter ist es. [. . .] In einer schönen Seele ist es also, wo Sinnlichkeit und Vernunft, Pflicht und Neigung harmonieren, und Grazie ist ihr Ausdruck in der Erscheinung.“ 30 Vgl. dazu auch Bernhard Greiner: Weibliche Identität und ihre Medien. Zwei Entwürfe (‚Iphigenie auf Tauris‘, ‚Bekenntnisse einer schönen Seele‘). In: Jahrbuch der deutschen SchillerGesellschaft 35, 1991, 33–56; ders.: Dialogisches Wort als Medium autobiographischer Rede: Die ‚Bekenntnisse einer schönen Seele‘ im ‚Wilhelm Meister‘ und die Friederiken-Episode in ‚Dichtung und Wahrheit‘. In: Ders.: Eine Art Wahnsinn. Dichtung im Horizont Kants: Studien zu Goethe und Kleist. Berlin 1994, 56–73. 29
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der auch aus dem Pietismus und von Zinzendorf stammt31 –, wobei sie als Fromme zugleich erkennt, „wem ich dieses Glück schuldig bin und daß ich an diese Vorzüge nur mit Demut denken darf“. (VI, 793) Damit ist diese aus dem Herrnhutertum emanzipierte ‚schöne Seele‘ auch ein Bildungs-Angebot an ihre Familie, und sie betrachtet ihre Nichten und Neffen bereits unter dem Aspekt ihrer Ähnlichkeit (VI, 789).
IV. Gottebenbildlichkeit – Von der „imitatio Christi“ zur Selbstvervollkommnung 1) Nachahmung zum Ähnlichwerden: Mimesis, „imitatio“, Ähnlichkeit: diese Begriffe verweisen auf ein in der Kulturgeschichte des 18. Jahrhunderts von der aristotelischen ‚Mimesis‘-Poetik bis zum christlichen imitatio ChristiPostulat reichendes vieldiskutiertes Phänomen.32 In Wilhelm Meisters Lehrjahren werden diese Diskurse auf ein ästhetisch-anthropologisches Modell hin gebündelt, das die Art der Mimesis, mit dem inhaltlichen religiös-pädagogischen Konzept der ‚Nachahmung‘ im Sinne der imitatio Christi und der imitatio naturae in funktionale Übereinstimmung zu bringen und damit eine entscheidende kulturgeschichtliche Konfrontation der Frühen Neuzeit zu überwinden sucht. Auch bei diesem Bildungs-Anspruch des Romans spielt das Herrnhutertum eine zentrale Rolle. Natürlich geht es zunächst um die Formen darstellerischer Nachahmung 31 Schiller schreibt an Goethe (03. 07. 1796): „Es ist zu bewundern, wie schön und wahr die drei Charaktere der Stiftsdame, Nataliens und Theresens nuanciert sind. [. . .] aber eben darum, weil Natalie heilig und menschlich zugleich ist, so erscheint sie wie ein Engel, da die Stiftsdame nur eine Heilige, Therese nur eine vollkommene Irdische ist. [. . .] Ich wünschte, dass die Stiftsdame ihr [d. i. Natalie] das Prädikat einer schönen Seele nicht weggenommen hätte, denn nur Natalie ist eigentlich eine rein ästhetische Natur.“ (Zit. in: Vosskamp, Kommentar [s. Anm. 4], 1261) Dagegen „verirrte“ sich die Stiftsdame für ihn „zur Herrnhuterei“ (zit. ebd., 1271). Wenn Goethe der Stiftsdame gleichwohl den Ehrentitel belässt, signalisiert er damit, dass sich die klassische Idee der ‚schönen Seele‘ kulturgeschichtlich neben der plotinschen Tradition auch wesentlich aus pietistisch-herrnhutischer Frömmigkeit entwickeln konnte. Denn hier wurde „der Begriff der ‚schönen Seele‘ bei Zinzendorf wie auch im pietistischen Kreis um Klettenberg in prononcierter Weise zur Kennzeichnung der von Christus erwählten und gesalbten Braut verwendet“ (Dohm, Radikalpietistin [s. Anm. 4], 119). Zur weiteren Geschichte des Begriffs ‚schöne Seele‘ seit der Antike vgl. Schings, Kommentar [s. Anm. 4], 787 f. Trotz ihres religiösen Autonomiestrebens sucht die Stiftsdame auch nach Tätigkeit in der Welt, muss aber schließlich die Intoleranz des Oheims erleben, der ihre Nichten und Neffen von ihr fernhält, weil er – wie sie meint, zu Unrecht – in ihrer kontemplativen Frömmigkeit die Gefahr eines lebensfernen Vorbildes erblickt. 32 Vgl. dazu auch meine Habilitationsschrift: Gottebenbildlichkeit und Naturnachahmung. Problemgeschichtliche Studien zur deutschen Lyrik in Barock und Aufklärung. 2 Bde. Tübingen 1981. Das Bildungsziel der (letztlich unerreichbaren) Selbstvervollkommnung nennt mehrfach auch Vosskamp, Kommentar [s. Anm. 5], 1125, 1378 u. ö. – Zum vorwiegend biblischen Verständnis des imitatio-Begriffs vgl. neuerdings Joachim Ringleben: Mimesis und Agape. Imitatio Christi als die christliche Kunst der Liebe. In: Die Mimesis und ihre Künste. Hg. v. Gertrud Koch [u. a.]. München 2010, 77–90.
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auf dem Theater und deren Reflexion. Nachahmung erscheint aufklärerischer Philosophie gemäß als anthropologischer Trieb,33 wobei Wilhelm, von Shakespeare geradezu verzaubert (III, 9; 545 ff.), Hamlet gleich so sehr imitiert, dass er „glaubte nach und nach mit meinem Helden zu einer Person zu werden“. (IV, 3; 579) Häufige Wiederholung derselben Rolle vermag sogar auf den Habitus eines Schauspielers im „gemeinen Leben“ abzufärben (II, 7; 465). 2) Imitatio zur Vergöttlichung: Diese Beobachtung am Theaterbetrieb bestätigt zugleich die Wirksamkeit des religiösen Konzepts der imitatio Christi, wie sie seit Johann Arndt auch in der protestantischen Frömmigkeit Fuß gefasst und bei Zinzendorf durch den ständigen imaginativen Umgang mit dem Bräutigam und Herzens-Freund einen spektakulären Höhepunkt erreicht hatte.34 Die entscheidende Voraussetzung für diesen Herzens-Umgang ist für die Stiftsdame – das sei nochmals betont – nicht Christi Opfertod, sondern dessen Menschwerdung: Daß der Uranfängliche sich in die Tiefen, in denen wir stecken, die er durchschaut und umfaßt, einstmals als Bewohner begeben habe, durch unser Verhältnis von Stufe zu Stufe von der Empfängnis und Geburt bis zu dem Grabe, durchgegangen sei, daß er durch diesen sonderbaren Umweg wieder zu den lichten Höhen aufgestiegen, wo wir auch wohnen sollten, um glücklich zu sein: das ward mir, wie in einer dämmernden Ferne, offenbart. [. . .] Und eben darum ist er uns ähnlich geworden, weil wir sonst keinen Teil an ihm haben könnten. (VI, 765 f.)
Dieses als individuelle Erfahrung prätendierte Glaubens-Bekenntnis enthält die Summe christlich-hermetischen Strebens. Dass Christus sich uns ähnlich gemacht hat, damit wir ihm nachstreben, ihm ähnlich werden und so unsere Gottebenbildlichkeit verwirklichen können, war der Kerngedanke der Mystiker, christlichen Hermetiker, Spiritualisten und Pietisten von Johann Arndt über die Greiffenberg und Arnold – um nur sie zu nennen – bis hin zu Zin33 „Denn freilich regt sich in jedem Menschen ein gewisses unbestimmtes Verlangen, dasjenige was er sieht, nachzuahmen“ (II, 2; 434). Allgemeiner fasst diese Einsicht auch der vielfach rätselhafte ‚Lehrbrief‘, der Wilhelm in einer Feier der ‚Turm‘-Gesellschaft ausgehändigt wird: „Die Nachahmung ist uns angeboren, das Nachahmende wird nicht leicht erkannt.“ (VII, 9; 874) In der Münchner Ausgabe [s. Anm. 2] heißt es (wohl richtiger): „das Nachzuahmende wird nicht leicht erkannt“ (ebd., 497). 34 Das ganze Gemeindeleben besteht aus der kultisch durch Lieder und Feiern unterstützten imaginativen Vergegenwärtigung des „Bräutigams“. Sie soll nach Zinzendorfs Überzeugung zu einer Veränderung des Wesens der Herrnhuter führen, die zugleich ihren Habitus erfasst (analog zur Verähnlichung Wilhelms mit Hamlet). Die Herrnhuter tragen so immer deutlicher selbst die Züge des Heilands und sind, wie Zinzendorf in der achten Homilie über die Wundenlitanei ausführt, „so verändert und mit JEsu durchzogen [. . .], daß [. . .] unser Blik den Eindruk von seiner Irrdigkeit und Natürlichkeit immer mehr verliert, und die JEsushaftigkeit, die Lammhaftigkeit, die ganze Gemüths=Art des Bräutigams, unsre Augen, das ganze Antlitz, die Stirne, die Bakken, den Mund, die ganze Stellung und Signatur unserer Person einnimmt“ (Zit. in: Dohm, Radikalpietistin [s. Anm. 4], 118).
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zendorf,35 und dieser wurde eben auch deshalb zum inspirierten Dichter und geistlichen Festspiel-Leiter, weil er Versuchen, „Teil an ihm haben zu können“, sowie der Freude, dem Dank und dem Aufschwung der Gemeinde zum Geliebten sprachliche und musikalische Flügel verleihen wollte. Diese Lieder waren daher Sprache der Engel, der Gesang weit wesentlicher für den religiösen Kultus als das nur gesprochene – und erst recht das geschriebene – Wort.36 Diese Vorstellung eines Vergottungsprozesses konnte sich in Kernvorstellungen mit der nicht-christlichen Hermetik amalgamieren und anreichern. Denn diese glaubte an einen Gott, der die sichtbare Welt in Emanationen aus sich entlassen hatte und noch in medialen Kräften mit ihr verbunden war. Alles Irdische war Abbild und Spiegel des unsichtbaren vollkommenen Göttlichen, allem Irdischen war der Trieb zur Rückkehr ins Göttliche eingegeben. Die Ähnlichkeit war im doppelten hermetischen Spiegelgesetz ‚Wie oben, so unten‘ und ‚Wie innen, so außen‘ verbürgt. Die geheimen Wissenschaften Magie, Astrologie und Alchimie, die auch in Zinzendorfs Denken eine Rolle spielten,37 erforschten diese Kräfte und die Geheimnisse der als göttlich begriffenen Natur, um sie der nachahmenden Vervollkommnung des Menschen dienstbar zu machen.38 So ließ sich die Gottebenbildlichkeit auch als Natur-Nachahmung in diesem neuen religiösen Sinne erlangen: „sind wir bloß Zuschauer, sind wir nicht selbst Schauspieler, Mitwirker der Natur, und ihre Nachahmer?“ fragte auch Herder 1787 in seiner spinozistischen Schrift Gott. Einige Gespräche,39 die Goethe begeisterte.40 35 Vgl. dazu u. a. Hans-Georg Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 3: BarockMystik. Tübingen 1988. 36 Charakteristischerweise berichtet Oetinger in seiner Autobiographie: „Als ich in Herrnhut ankam, hörte ich die Leute reden, und nach geendigter Rede sprach ich: o ihr Lieben Leute, ich höre aus allem, daß ihr nicht auf h[eiliger] Schrift, sondern auf des Grafen Liedern bestehet.“ (Oetinger, Genealogie [s. Anm. 20], 104; vgl. dazu auch den Kommentar von Ising ebd., 104 f.) Zur identitätstiftenden Bedeutung der Lieder auch für die Gemeine vgl. Schrader, Zinzendorf [s. Anm. 15]. 37 Vgl. dazu das Zinzendorf-Kapitel in Burkhard Dohm: Poetische Alchimie. Öffnung zur Sinnlichkeit in der Hohelied- und Bibeldichtung von der protestantischen Barockmystik bis zum Pietismus. Tübingen 2000, 281–357. 38 Vgl. auch Dohms Zusammenfassung des Sachverhalts: „Im Sinne einer in der Naturmystik Oetingers begründeten ‚magischen Chemie‘ der Liebe dienen die Prozesse der Alchimie bei Oetinger wie bei Klettenberg der Hervorbringung des Göttlichen im Menschen wie in der Natur.“ (Dohm, Radikalpietistin [s. Anm. 4], 124) 39 Johann Gottfried Herder: Gott. Einige Gespräche. In: Ders.: Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum 1774–1787. Hg. v. Jürgen Brummack u. Martin Bollacher. Frankfurt/Main 1994, 679–794, hier 784. Vgl. zum pansophisch-hermetischen Gehalt dieser Schrift Hans-Georg Kemper: „Eins in All! Und all in Eins!“ ‚Christliche Hermetik‘ als trojanisches Pferd der Aufklärung. In: Aufklärung und Esoterik. Rezeption – Integration – Konfrontation. Hg. v. Monika Neugebauer-Wölk unter Mitarbeit v. Andre Rudolph. Tübingen 2008, 29–52, hier 46 ff. – Weitere Zitate aus Herders Schrift, die den zunehmend spinozistischen Standpunkt des Oheims illustrieren sollen, bietet Schings, Kommentar [s. Anm. 4], 800 ff. 40 Vgl. Schings, Kommentar [s. Anm. 4], 615. – Interessanter- und bedeutenderweise leitet
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3) Nachahmung des Schöpfers zur Schöpfung der eigenen Welt: Das führt zu einem Glanzpunkt des Romans. Der Oheim formuliert nämlich im Gespräch mit der Stiftsdame diese hochkomplexe Materie so, dass er aus der pietistischherrnhuterischen Umdeutung der forensischen protestantischen Rechtfertigungslehre – spinozistisch konsequent und repräsentativ für Goethes und Herders klassische Position – sein säkulares Verständnis vom autonomen, selbstgewissen, schöpferischen Menschen herleitet und so – das ist die ironisch-unironische Quintessenz – das Gold des klassischen Menschenbildes destilliert: Wenn wir uns, sagte er einmal, als möglich denken können, daß der Schöpfer der Welt selbst die Gestalt seiner Kreatur angenommen, und auf ihre Art und Weise sich
Goethe diese ‚nachahmende‘ Annäherung an Gott durch die Natur und damit den Vorrang der natürlichen vor der geoffenbarten Religion in seiner streng durchkomponierten Autobiographie schon mit Bezug auf seine erste kindliche Begegnung mit den Pietisten und Herrnhutern her, die „alle bloß die Absicht hatten, sich der Gottheit, besonders durch Christum, mehr zu nähern, als es ihnen unter der Form der öffentlichen Religion möglich zu sein schien“ (Goethe, Leben [s. Anm. 5], 50). Er selbst dagegen wählt im unmittelbaren Anschluss daran nicht den Erlöser, sondern den Schöpfer: „Der Knabe hatte sich überhaupt an den ersten Glaubensartikel gehalten. Der Gott, der mit der Natur in unmittelbarer Beziehung stehe, sie als sein Werk anerkenne und liebe, dieser schien ihm der eigentliche Gott, der ja wohl auch mit dem Menschen wie mit allem übrigen in ein genaueres Verhältnis treten könne, und für denselben eben so wie für die Bewegung der Sterne, für Tages- und Jahrszeiten, für Pflanzen und Tiere Sorgen trage.“ (Ebd., 51) Diesem Gott huldigt der Knabe mit einem natürlichen Gottesdienst bei Sonnenaufgang (ebd., 51 f.). Und nachdem sich Goethe zu der Überzeugung bekannt hat, dass „die natürliche Religion“ „früher in dem menschlichen Gemüte entsprungen“ sei als die geoffenbarte (ebd., 149) und dass sie „eigentlich keines Glaubens bedürfe“ („denn die Überzeugung, daß ein großes hervorbringendes, ordnendes und leitendes Wesen sich gleichsam hinter der Natur verberge, um sich uns faßlich zu machen, eine solche Überzeugung dringt sich einem Jeden auf“; ebd., 153, vgl. ebd., 300), schildert Goethe den ersten Teil seiner Beziehung zur Klettenberg und zwar unter der naturreligiösen Perspektive ihrer gemeinsamen pansophischen Studien und alchimistischen Experimente. Im Anschluss daran und an die Lektüre von Gottfried Arnolds Unpartheiischer Kirchen- und Ketzerhistorie (ebd., 382) entwickelt Goethe sodann die berühmten Grundzüge seiner eigenen ‚Privatreligion‘, die – stark von Jakob Böhme mitinspiriert – eindeutig kosmologisch akzentuiert sind. Goethe kommentiert seine schöpfungstheologische Uminterpretation der für die Orthodoxie zentralen Erlösungslehre selbst folgendermaßen: „Man sieht leicht, wie hier die Erlösung nicht allein von Ewigkeit her beschlossen, sondern als ewig notwendig gedacht wird, ja daß sie durch die ganze Zeit des Werdens und Seins sich immer wieder erneuern muß. Nichts ist in diesem Sinne natürlicher, als daß die Gottheit selbst die Gestalt des Menschen annimmt, die sie sich zu einer Hülle schon vorbereitet hatte, und daß sie die Schicksale desselben auf kurze Zeit teilt, um durch diese Verähnlichung das Erfreuliche zu erhöhen und das Schmerzliche zu mildern.“ (Ebd., 384 f.) Christi Menschwerdung ist hier die notwendige Bedingung zur neuerlichen Ermöglichung des Umschlags von der Schöpfungs-Kontraktion zur (liebenden) Expansion. Erst sehr viel später – im 15. und letzten Buch von Teil III – erzählt Goethe von Klettenbergs Nähe zu den Herrnhutern und von den eigenen Annäherungsversuchen an diese im Zusammenhang seiner Besuche in Marienborn (ebd., 688 ff.). Diese Annäherung scheitert am Pelagianismus-Vorwurf [vgl. Anm. 22]. Im Übrigen vgl. zum Zusammenhang Günter Niggl: Goethes Pietismus-Bild in ‚Dichtung und Wahrheit‘. In: Goethe Pietismus [s. Anm. 1], 257–268.
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eine Zeitlang auf der Welt befunden habe, so muß uns dieses Geschöpf schon unendlich vollkommen erscheinen, weil sich der Schöpfer so innig damit vereinigen konnte. Es muß also in dem Begriff des Menschen kein Widerspruch mit dem Begriff der Gottheit liegen, und wenn wir auch oft eine gewisse Unähnlichkeit und Entfernung von ihr empfinden, so ist es doch um desto mehr unsere Schuldigkeit, nicht immer wie der Advokat des bösen Geistes nur auf die Blößen und Schwächen unserer Natur zu sehen, sondern eher alle Vollkommenheiten aufzusuchen, wodurch wir die Ansprüche unserer Gottähnlichkeit bestätigen können. (VI, 776 f.)41
Daraus entwickelt er nun das klassische Menschenbild, das aus der Ähnlichkeit – um nicht zu sagen: der Gleichheit – von Gott und Mensch als Schöpfer erwächst und im schöpferischen, bildenden Künstler seine reinste Ausprägung findet:42 Des Menschen größtes Verdienst bleibt wohl, wenn er die Umstände so viel als möglich bestimmt und sich so wenig als möglich von ihnen bestimmen läßt. Das ganze Weltwesen liegt vor uns, wie ein großer Steinbruch vor dem Baumeister, der nur dann den Namen verdient, wenn er aus diesen zufälligen Naturmassen, ein in seinem Geiste entsprungenes Urbild mit der größten Ökonomie, Zweckmäßigkeit und Festigkeit zusammen stellt. Alles außer uns ist nur Element, ja ich darf wohl sagen, auch alles an uns; aber tief in uns liegt diese schöpferische Kraft, die das zu erschaffen vermag, was sein soll, und uns nicht ruhen und rasten läßt, bis wir es außer uns oder an uns, auf eine oder die andere Weise dargestellt haben. (VI, 777)
Der Nichte weist er von daher die sittliche Selbstformung in der moralischen Übereinstimmung mit Gott im Prozess der Verähnlichung mit ihm zu, sich selbst die schöpferische Formung des sinnlichen Menschen und seiner Umwelt. Trotz dieses Gegensatzes kommen sie in einem zentralen Punkt überein: Beide orientieren sich in ihrem Selbst- und Weltentwurf an einer Idee, die sie umzusetzen suchen. Bei der Stiftsdame ist es der sichere Instinkt, „daß meine Handlungen immer mehr der Idee ähnlich werden, die ich mir von der Vollkommenheit gemacht habe“ (VI, 792); die Idee ist also der Prozess der Angleichung an das Göttliche, das sie außerhalb der sinnlich erfassbaren Welt ansiedelt und ersehnt. Der Oheim verlegt die Idee des Göttlichen dagegen in die autonome „schöpferische Kraft“ im Inneren des Menschen selbst. Aber 41 Der Oheim scheint hier mit den Vorstellungen einer Vereinigung mit dem Schöpfer der Welt als Bedingung und Ermöglichung der menschlichen „Vollkommenheit“ auf das hohepriesterliche Gebet Jesu für seine Jünger und seine Gemeinde in Joh 17, 21 ff. anzuspielen und es umzuinterpretieren. Jesus sagt dort u. a.: „Und ich habe ihnen gegeben die Herrlichkeit, die du mir gegeben hast, dass sie eins seien, gleich wie wir eins sind, ich in ihnen und du in mir, auf dass sie vollkommen seien in eins und die Welt erkenne, dass du mich erkannt hast und liebest sie, gleichwie du mich liebst.“ (Joh 17, 22 f.) 42 Bei der gemeinsamen Betrachtung seiner Gemäldegalerie fordert der Oheim die Stiftsdame auf: „[G]önnen Sie nun auch dem Genius, der diese Werke hervorgebracht hat, einige Aufmerksamkeit. Gute Gemüter sehen so gerne den Finger Gottes in der Natur, warum sollte man nicht auch der Hand seines Nachahmers einige Betrachtung schenken.“ (VI, 780)
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ohne eine in sich oder außer sich angesiedelte Idee vermag der Mensch seinen Lebensweg nicht zur sinnlichen und moralischen Vollkommenheit hin zu formen.
V. Angleichungen – ‚Herrnhut‘ als Idee von Bildung und Tätigkeit 1) Formung eines „Steinbruchs“: Wilhelm Meisters Lehrjahre erweisen sich selbst als ein Kunstwerk, das sich vor allem in den ersten fünf Büchern sowohl für Wilhelm als auch für die Leser als eine Art „Steinbruch“ präsentiert, der aus Elementen des Liebes-, Reise-, Abenteuer- und Künstlerromans zusammengesetzt erscheint. Man ahnt, dass es Zusammenhänge zwischen den einzelnen Handlungen und Personen gibt, doch werden sie vom Erzähler durch bewusste Schnitte vorenthalten. Mit dem sechsten Buch beginnt sich dies zu ändern. Peu à peu werden Zusammenhänge und Geheimnisse entdeckt und in eine Ordnung gebracht. Im selben Maße, wie die Hauptakteure zu sich und ihrer naturgemäßen Bestimmung finden,43 findet auch das Romangeschehen seine nachvollziehbare und natürliche Ordnung, die auch inhaltlich als natürliche erscheint. Denn die wichtigsten Akteure, so stellt sich für Wilhelm nun heraus, sind miteinander verwandt: als Nichten und Neffen der Stiftsdame. Und bei ihnen gibt die Natur sogar schon physiognomisch die Ähnlichkeit vor – so sind sich die Stiftsdame und Natalie, wie ein Porträt erweist, zum Verwechseln ähnlich (vgl. VIII, 3; 897). Aber indem die Figuren zunehmend die Ideen finden und klären, die sie zu ihren Handlungen und Lebensentwürfen bewegen, wandelt sich die natürliche Verwandtschaft zur auf Sympathie gründender Wahl-Verwandtschaft und diese schließt weitere ‚ähnliche‘ Charaktere ein.44 43 Wilhelm, der nun „seine eigene Geschichte durchzudenken“ beginnt (VIII, 1; 884), erfährt, dass er von einer rätselhaften, scheinbar allwissenden, mit freimaurerischen Zügen ausgestatteten Turm-Gesellschaft eher im Hintergrund begleitet als direkt geleitet wurde; mit ihren willkürlich erscheinenden Aktionen und oft konträr anmutenden Erziehungspositionen ermöglichten die Mitglieder des ‚Turms‘ Wilhelm, den eigenen Weg zu klären, der eigenen Natur und ihren Neigungen auf die Spur zu kommen. Ihr Anführer, der Abbé, den der Oheim zugleich zum Erzieher der Nichten und Neffen der Stiftsdame beauftragt hat, vertrat eine Zeitlang, wie Natalie Wilhelm berichtet, die Maxime, Erziehung könne sich immer nur an die Neigungen anschließen, der für jeden Menschen richtige Weg müsse zugleich der seiner Natur gemäße sein (VIII, 3; 900). Um diesen zu erkennen, seien auch Irrtümer hilfreich, vor denen die Turm-Gesellschaft deshalb weder Wilhelm noch ihre anderen ‚Schutzbefohlenen‘ bewahrt. Und nun beginnt er, dieser Natur in und außer sich sympathetisch nachzustreben. 44 So wundert es nicht, dass Therese (vgl. ihr Glaubensbekenntnis: VII, 6; 837), die naturverbundene Freundin Nataliens, ihre Sympathie für Wilhelm damit erklärt, „daß er Dir, liebe Natalie, die ich so unendlich schätze und verehre, daß er Dir ähnlich ist. Ja er hat von Dir das edle Suchen und Streben nach dem Bessern, wodurch wir das Gute, das wir zu finden glauben, selbst hervorbringen“. (VIII, 4; 911) Vgl. auch Schings, Kommentar [s. Anm. 4], 635: „Eine Chemie der Übergänge, der Verknüpfungen, der Affinitäten und Kontraste wird sichtbar, die alle Figuren des
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Wilhelm findet an den Bekenntnissen der Stiftsdame seinen ersten „Lehrbrief“. Im Gespräch mit Natalie bekennt er, ihn beeindrucke „diese Selbstständigkeit ihrer Natur und die Unmöglichkeit, etwas in sich aufzunehmen, was mit der edlen, liebevollen Stimmung nicht harmonisch war“. (VIII, 3; 898) Natalie beglückwünscht ihn zu diesem Urteil, denn sie weiß: „[W]enn nun eine schöne Natur sich allzu zart, sich allzu gewissenhaft bildet, ja, wenn man will, sich überbildet, für diese scheint keine Duldung, keine Nachsicht in der Welt zu sein. Und doch sind die Menschen dieser Art, außer uns, was die Ideale im Innern sind, Vorbilder, nicht zum Nachahmen, sondern zum Nachstreben.“ (VII, 3; 898) Damit rückt Natalie die ‚Bekenntnisse‘ in die Nähe eines autobiographischen ‚Exempels‘ und damit einer im Pietismus besonders beliebten Gattung, in der sich der Nachweis des göttlichen Heilswirkens mit dem „Anreiz zum nachahmenden Verhalten“ verband.45 Gleichwohl wird durch Natalie das Erbe der Tante in seiner religiösen Radikalität relativiert („überbildet“) und doch in der Idee des Nachstrebens nach einem im Inneren angelegten Ideal im Sinne des Oheims als Vorbild akzeptiert.46 So entfaltet Goethe aus der erzählerischen Integration der pietistischen Exempel-Literatur die Idee der Selbstvervollkommnung zur ‚Gottähnlichkeit‘ im neuen ästhetischen Medium des Bildungsromans. 2) Schale und Kern des Herrnhutertums: Eine Episode mag abschließend nochmals illustrieren, in welcher Form dieser Roman das Erbe Zinzendorfs aufnimmt und dabei die Schale vom Kern trennt. Schon im Theaterroman erscheint die fiktive Figur eines Grafen, dessen fixe Idee es wird, standesgemäßer Nachfolger des historischen Grafen von Zinzendorf zu werden. Dieser fiktive Graf, der mit einer jüngeren – sich schuldbewusst in Wilhelm verliebenden – Schwester Nataliens verheiratet ist, erblickt sich durch einen inszenierten Schabernack im verkleideten Wilhelm selbst schaudernd als Doppelgänger, wird darüber melancholisch und beschließt, so wird erzählt, „mit seiner Gemahlin unter die Herrenhuter zu gehen, und den größten Teil seines Vermögens, da er keine Kinder hat, seinen Verwandten zu entziehen.“ (V,
Romans erfasst und zu Familien ordnet.“ Zu den Kontrasten, zu den ‚Nachtseiten‘ vieler Charaktere, vor allem zum „Panoptikum der Melancholie“, von der sich auch Wilhelm nur allmählich befreien kann, sowie zu dem schrecklichen Schicksal des dem Wahnsinn verfallenden Harfners vgl. Valk, Melancholie [s. Anm. 1], 162–230. 45 Vgl. Hans Schneider: Kommentar. In: Gottfried Arnold: Die Erste Liebe. Hg. v. dems. Leipzig 2002, 128–208, hier 129. Schneider verweist in diesem Zusammenhang mit Recht auf Hans-Jürgen Schrader: Nachwort des Herausgebers. In: Johann Henrich Reitz. Historie Der Wiedergebohrnen. Vollständige Ausgabe der Erstdrucke aller sieben Teile der pietistischen Sammelbiographie (1698–1745) mit einem werk-geschichtlichen Anhang. Hg. v. dems. I–IV. Tübingen 1982, hier Bd. IV, 127*-203*. 46 Schings bezeichnet Natalie als „‚Heilige‘ aus dem Geist Spinozas“ (Kommentar [s. Anm. 4], 642), und Novalis konstatiert im Allgemeinen Brouillon (1798): „Die individuelle Religion der Tante ist in Natalien zur wohltätigen, praktischen Weltreligion geworden.“ (Zit. ebd., 693)
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16, 718) Im achten Buch bestätigt Natalie diese Absicht ihrer Verwandten: Der Schwager hat nun keinen andern Sinn, als den abgeschiedenen Grafen in der Gemeinde zu ersetzen, durch Einsicht und Tätigkeit diese große Anstalt zu unterstützen und weiter aufzubauen. [. . .] man scheint ihn nach seinen Wünschen zu behandeln, und fast glaub ich, er wagt mit meiner armen Schwester eine Reise nach Amerika, um ja seinem Vorgänger recht ähnlich zu werden, und da er einmal schon beinah überzeugt ist, daß ihm nicht viel fehle ein Heiliger zu sein, so mag ihm der Wunsch manchmal vor der Seele schweben, wo möglich zuletzt auch noch als Märtyrer zu glänzen. (VIII, 3; 909)
Die Kritik Nataliens an dem Nacheifern des Amerika-Missionars Zinzendorf bestätigt sich zum Schluss. Hier unternimmt der fiktive Graf an Wilhelms krankem Söhnchen Felix durch Gebet und Handauflegung eine Wunderheilung, die sich aber für alle – außer für ihn – als Irrtum erweist (VIII, 10, 984, 986 f.).47 Solche Wundergeschichten werden mit der Idee wahnhaften Nacheiferns als Aberglaube ins Kuriositätenkabinett der Frömmigkeitsgeschichte verbannt. Doch Nachahmungseifer und Amerikapläne dieses Grafen bieten wiederum dem reformfreudigen Schwager Lothario die Gelegenheit, daraus den eigentlichen – originellen – herrnhutischen Funken zu schlagen. Lothario ist die „Hauptfigur“ der auf soziale Reformen bedachten adligen Turmgesellschaft,48 die als Goethes konservativ-utopische Antwort auf die Französische Revolution gedeutet wird.49 Und auch bei dieser zweiten Idee des Romans – der ‚Tätigkeit‘ nach der individuellen ‚Bildung‘ – kommt nun der adlige Missionar und Sozialreformer Zinzendorf ins Spiel. Lothario war selbst in Amerika, das sich damals analog zur Französischen Revolution mit der Idee einer Mission 50 für Unabhängigkeit und Menschenrechte verband. Doch erblickt er in 47 „[. . .] er sah ernst, ja feierlich aus, legte die Hände auf das Kind, blickte gen Himmel und blieb einige Augenblicke in dieser Stellung“ (VIII, 10, 984), und als ihm mitgeteilt wird, das Kind sei wieder gesund und habe zum Glück nicht die Giftflasche, sondern ein daneben stehendes Glas geleert, hält er dies für einen Irrtum und bleibt selbstgewiss davon überzeugt, „das Kind habe wirklich Gift genommen, er habe es aber durch sein Gebet und durch das Auflegen seiner Hände, wunderbar am Leben erhalten“. (VIII, 10, 986) 48 Vgl. Vosskamp, Kommentar [s. Anm. 4], 1375. 49 Vgl. ebd., 1375 ff. 50 Zinzendorfs Missions-Idee steht unausgesprochen Pate bei der Formulierung der internationalen Ausbreitungspläne der Turmgesellschaft, in die Jarno Wilhelm als ‚Missionar‘ einbinden möchte: „[A]us unserm alten Turm soll eine Sozietät ausgehen, die sich in alle Teile der Welt ausbreiten, in die man aus jedem Teile der Welt eintreten kann. [. . .] Ich gehe nun hinüber nach Amerika, um die guten Verhältnisse zu benutzen, die sich unser Freund [Lothario] bei seinem dortigen Aufenthalt gemacht hat. Der Abbé will nach Russland gehn, und Sie sollen die Wahl haben, wenn Sie sich uns anschließen wollen, ob Sie Lothario in Deutschland beistehn, oder mit mir gehen wollen.“ (VIII, 7; 944 f.) Und noch im Schlusskapitel des Romans kommt Zinzendorf (nicht zuletzt durch die kritische Einschränkung „ohne herrschen zu wollen“; vgl. Anm. 25) mit seinem Lebenswerk in Erinnerung und ist als Erbe in Lotharios Vorschlag an Wilhelm ‚aufgeho-
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dieser Reise den idealistisch-enthusiastischen „Hauptfehler gebildeter Menschen“, „dass sie alles an eine Idee, wenig oder nichts an einen Gegenstand wenden mögen. [. . .] In Amerika glaubte ich zu wirken, über dem Meere glaubte ich nützlich und notwendig zu sein“. Doch was er dort zu leisten wünschte, das wäre auch in der Heimat nötig und nützlich gewesen. Daher schreibt er an Jarno, ein weiteres Mitglied des ‚Turms‘: „Ich werde zurückkehren und [. . .] mitten unter den Meinigen sagen: Hier, oder nirgend ist Amerika!“ (VII, 3; 451) Zugleich aber beklagt sich Lothario darüber, dass sich im Alltag das Außerordentliche, also die leitende, formende und fordernde Idee verliere, die er hier mit dem Losungswort „Amerika“ bezeichnet. Jarnos Einwand, das Außerordentliche sei oft gerade das Törichte, bestätigt Lothario mit dem Verweis auf seinen Schwager, der „das Außerordentliche außer der Ordnung“ tue und sein Vermögen um seines Seelenheils willen der Brüdergemeine vermache, wo er doch schon mit kleineren Teilen seines Einkommens so viel glückliche Menschen machen und sich und ihnen einen Himmel auf Erden schaffen können. Diese Tage, ich gesteh es, schwebt mir der Graf immer vor Augen, und ich bin fest entschlossen, das aus Überzeugung zu tun, wozu ihn ein ängstlicher Wahn treibt; [. . .] hier, oder nirgend ist Herrnhut! (VII, 3, 452)
Herrnhut steht hier also als Losungswort für die Idee, etwas Außerordentliches in der gewohnten Ordnung und an ihr als Form, Kraft und Ziel zu wirken. In diesem Sinne wäre ‚Herrnhut‘ austauschbar mit ‚Amerika‘. ‚Herrnhut‘ umgreift aber zugleich als Idee die Polarität des Romans von individueller ‚Bildung‘ als Verwirklichung der Gottebenbildlichkeit und sozialer ‚Tätigkeit‘,51 um so „einen Himmel auf Erden“ zu „schaffen“. – Es muss folglich nicht Amerika sein, es reicht – „hier, oder nirgend“ – das Amerika-Zimmer in den Franckeschen Stiftungen zu Halle, damit ‚Herrnhut‘ sein kann. ben‘: „Lassen Sie uns, da wir einmal so wunderbar zusammen kommen, nicht ein gemeines Leben führen, lassen Sie uns zusammen auf eine würdige Weise tätig sein! Unglaublich ist es, was ein gebildeter Mensch für sich und andere tun kann, wenn er, ohne herrschen zu wollen, das Gemüt hat Vormund von Vielen zu sein, sie leitet dasjenige zur rechten Zeit zu tun, was sie doch alle gerne tun möchten, und sie zu ihren Zwecken führt, die sie meistenteils recht gut im Auge haben, und nur meist die Wege dazu verfehlen. Lassen Sie uns hierauf einen Bund schließen, es ist keine Schwärmerei, es ist eine Idee, die recht gut ausführbar ist, und die öfters, nur nicht immer mit klarem Bewußtsein, von guten Menschen ausgeführt wird.“ (VIII, 10; 990) Über Zinzendorfs Fähigkeit, „Bünde zu schliessen“, berichten die Biographen bereits aus seiner Zeit in Halle, wo er schon beim „ersten Versuch einer Gemeinschaft“ Freunde gewann, die ihm lebenslang die Treue hielten (vgl. Stefan Hirzel: Der Graf und die Brüder. Die Geschichte einer Gemeinschaft. 1. Aufl. (Neuausgabe) Stuttgart 1980, 30 f. u. ö.). 51 Dieses im Roman als kaum vermittelbare Spannung dargestellte Doppel-Ideal zwischen meditativer Stille (Stiftsdame) und sozialem Engagement (Turm-Gesellschaft) hat Goethe noch in seiner Autobiographie als doppelte Faszination des Herrnhutertums charakterisiert: „Die schöne Ruhe, wie sie wenigstens das Äußere bezeugte, war höchst einladend, indem von der andern Seite, durch den Missions-Beruf, alle Tatkraft die in dem Menschen liegt, in Anspruch genommen wurde.“ (Goethe, Leben [s. Anm. 5], 690).
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THEA OLSTHOORN
„Wir haben keine Ohren.“ Kommunikationsprobleme und Missionsverständnisse bei der Verbreitung und Rezeption des Christentums in Grönland und Labrador im 18. Jahrhundert1 Vermittler des Evangeliums, die Menschen indigener Kulturen den Inhalt der christlichen Lehre zu erklären suchten, stießen dabei von jeher auf nahezu unüberwindbare Schwierigkeiten. In seinem Werk Abhandlung über den Ursprung der Sprache bringt Johann Gottfried Herder die Problematik wie folgt auf den Punkt: „Alle Missionarien in allen Weltteilen klagen über die Schwürigkeit, christliche Begriffe den Wilden in ihren Sprachen mitzuteilen“.2 Herder setzt sich mit diesem Thema auseinander und führt außer den Berichten der Missionare noch die Erfahrungen der Wissenschaftler de la Condamine (in Peru bzw. am Amazonas) und Maupertuis (in Lappland) an. So hätten die Peruaner in ihrer Sprache keine Bezeichnung für abstrakte Ideen wie Zeit, Dauer, Wesen, Tugend und Freiheit, obwohl sie durch ihre Vernunft und ihr Verhalten zeigten, dass sie durchaus nach diesen Begriffen schließen bzw. handeln konnten. Solange die „Wilden“ sich aber die Idee nicht deutlich und zu Eigen gemacht hätten, hätten sie dafür kein Wort. Allein schon die Tatsache, dass der jüdisch-christliche Glaube auf der Heiligen Schrift basiert, die ihrerseits von einer abstrakten und symbolträchtigen Sprache geprägt ist, macht die Komplexität der Auslegung in einer interkulturellen Umgebung einsichtig. In diesem Aufsatz möchte ich der Frage nachgehen, wie sich die Herrnhuter Missionare in Grönland am Anfang ihrer Missionstätigkeit3 dieser Herausforderung stellten und wie ihre Bemühungen von den Inuit bewertet wurden.4 Wo sich der Vergleich mit ihren Amtsbrüdern in 1 Mein besonderer Dank gilt Prof. Dr. Jarich Oosten (Leiden) für seine hilfreichen Kommentare und seine Erläuterungen zu den kognitiven Kategorien der Inuit und ihrer Rezeption der Missionierung. Darüber hinaus möchte ich PD Dr. Christian Soboth und den Mitarbeitern des IZP in Halle und Dr. Rüdiger Kröger sowie den Mitarbeitern des Unitätsarchivs Herrnhut, insbesondere Herrn Olaf Nippe und Frau Katharina Dapar, für ihr Entgegenkommen und ihre freundlichen Bemühungen danken. 2 Johann Gottfried Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1772). Stuttgart 1969. 1. Tl., 3. Abs., 70. 3 1733 bis 1740. 4 Quellen: David Cranz: Historie von Grönland. (Barby 1765). ND 21770. In: Nikolaus Lud-
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Labrador zur Zeit der Rekognoszierungsreisen5 herstellen lässt oder gar aufdrängt, werde ich die einschlägigen Passagen aus den Tagebuch-Manuskripten von 1765 und 1770 zitieren.6 Anhand von Textausschnitten wollen wir die Entwicklung der Verkündigungspraxis verfolgen, bis sich die Methode der Herzenstheologie herausbildet. Wir werden prüfen, inwiefern der Unterricht bei den Inuit Anklang fand und wie sie auf die Worte der Brüder reagierten. Für das Verständnis der analysierenden Betrachtung sind zunächst ein paar ergänzende Informationen vonnöten: Nach einer Kurzfassung der Vorgeschichte der Mission, näheren Einzelheiten zu den Quellen und einem Überblick über die Herkunft der Inuit-Völker leitet eine vergleichende Darstellung der brüderischen Kompetenzen zum Hauptthema dieses Aufsatzes über. Darauf folgt ein kleiner Exkurs über das Lamm Gottes als Symbol für Christi Opfertod. Der letzte Paragraph fasst die wichtigsten Ergebnisse zusammen und schließt mit einem kurzen Ausblick auf die Missionierung in Nain, Labrador, ab.
1. Die Anfänge der Herrnhuter Mission in Grönland und Labrador Während seiner Schulzeit am Pädagogium Regium in Halle hatte Nikolaus Ludwig von Zinzendorf bereits den Wunsch, sich stärker für die Angelegenheit des Heilands zu engagieren und Menschen ihrem Erlöser zuzuführen. Die spannenden mündlichen Berichte der Indienmissionare Plütschau und Ziegenbalg, deren Bekanntschaft Zinzendorf in Halle machte, erweckten in ihm die Begeisterung für den Missionsgedanken. 1716 gründete er gemeinsam mit einigen Freunden, darunter von Söhlenthal und von Watteville, einen Bibelkreis und Bund zur Bekehrung der Heiden. Mit Friedrich von Watteville unterhielt er sich darüber, wie sich diese Idee in der Zukunft verwirklichen ließe, denn den jungen Männern war durchaus bewusst, dass sie als adlige Herren selbst andere Berufe ergreifen würden. Als Zinzendorf im Jahre 1731 zur Krönung von König Christian VI. nach Kopenhagen eingeladen wurde, hoffte er darauf, am dänischen Hof die vakante Position des Großkanzlers antreten zu können, zumal diese Stellung den Vorsitz im dänischen Missionskollegium mit einschließen konnte. Das Missionskollegium betreute als Konsistorialbehörde sowohl die Hallesche Indienmission als auch die Missionsarbeit in den nordischen Ländern und weiteren dänischen Territorien. Zinzendorf gedachte seinen Mähren durch dieses wig von Zinzendorf. Materialien und Dokumente. Hg. v. Erich Beyreuther [u. a.]. Reihe 2, Bde. 26.1 und 26.2. Hildesheim [u. a.] 1995; Der Weg des Matthäus Stach. Ein Lebensbild des ersten Grönland-Missionars der Brüdergemeine. Aus alten Briefen und Tagebuchblättern zusammengestellt. Hg. v. Karl Müller. Berlin 1926. 5 1752 bis 1770. 6 Unitätsarchiv Herrnhut (Im Folgenden: UA), R.15.K.a.5., Rekognoszierungsreisen nach Labrador 1752–1770.
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Amt den Zugang zu diesen Missionsgebieten zu ermöglichen. Obwohl er zu seiner großen Enttäuschung für den wichtigen Posten nicht ausgewählt wurde,7 verlief doch der Weg in die Mission über Dänemark, weil Zinzendorf in Kopenhagen den dänischen Grafen Laurwig kennen lernte, der selbst einen Besuch in Herrnhut plante und vorschlug, seinen getauften Kammermohr Anton dorthin vorauszuschicken. Mittlerweile waren die mährischen Begleiter Zinzendorfs in der Stadt auf zwei Grönländer gestoßen, die sie gleich an den Hof mitbrachten. Während Anton Zinzendorfs Gefolge über die Ausbeutung der Sklaven in Westindien aufklärte, brachte Zinzendorf in Erfahrung, dass die mühsame Missionsarbeit von Hans Egede8 demnächst beendet werden sollte. Nach seinem Eintreffen in Herrnhut schilderte Anton vor den versammelten Brüdern und Schwestern nochmals die bedauerlichen Umstände der Sklaven in seiner Heimat St. Thomas und betonte, wie sehr sich seine Landsleute danach sehnten, Jesus kennen zu lernen. Allerdings müssten die Brüder, die sich in den Missionsdienst nach Westindien begäben, selbst auch auf den Plantagen arbeiten, da sie nur auf diese Weise den Kontakt zu den Sklaven herstellen könnten. Durch Antons Bericht betroffen und über das Schicksal der grönländischen Inuit bekümmert, bekundeten viele Brüder ihre Bereitschaft, die Heiden in den dänischen Hoheitsgebieten im Evangelium zu unterrichten. Am 21. August 1732 brachen die ersten herrnhutischen Missionare, Leonhard Dober und David Nitschmann, mit einem Empfehlungsschreiben von Zinzendorf nach Dänemark auf, wo sich Oberkammerherr von Pleß, ein Hallenser Pietist und Freund Zinzendorfs, ihrer annahm. Er fand für sie ein holländisches Schiff, das sie nach St. Thomas in Westindien brachte. Im nächsten Jahr meldeten sich erneut Brüder bei Herrn von Pleß in Kopenhagen, diesmal um als Missionare unter den Inuit in Grönland tätig zu sein. Es waren die Cousins Matthäus und Christian Stach sowie der Zimmermann Christian David, der 1722 den ersten Baum für den Anbau von Herrnhut fällte. Da Letzterer zum Sprachenlernen bereits zu alt erschien, sollte er den beiden Stachs nur bei den Bauarbeiten helfen und anschließend nach Deutschland zurückkehren. König Christian, der Hans Egedes Unternehmen allmählich für aussichtslos hielt, ließ sich durch das begeisterte Auftreten der Herrnhuter Brüder, die die Mission unter den Grönländern unterstützen und voranzutreiben wollten, überzeugen und gab Order, dass wieder ein Schiff dorthin abgehen sollte.9 7 Anscheinend hatte Zinzendorf, dessen Person nicht unumstritten war, seine Chance auf ein dänisches Regierungsamt zu optimistisch eingeschätzt. 8 Hans Egede war ein norwegischer Pfarrer, der 1721 mit seiner Familie nach Godthaab in Grönland übersiedelte, um sich der christlichen Normannen anzunehmen, von denen er befürchtete, dass sie dem Heidentum verfallen sein könnten. Weil er in Grönland keine Normannen mehr antraf, begann er die Inuit zu bekehren. 9 Bis hierher stützt sich dieser Paragraph auf folgende Quellen: Erich Beyreuther: Die große
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In der unmittelbaren Nähe von Hans Egedes Kolonie Godthaab10 gründeten die Brüder 1733 ihre erste Station in Grönland und nannten sie „NeuHerrnhut“. Die Vorfahren der grönländischen Inuit mussten einst von Nordamerika aus eingewandert sein, und da die Anzahl der grönländischen Eingeborenen den Brüdern eher gering vorkam, vermuteten sie jenseits der Davis Straße auf dem amerikanischen Kontinent Landsleute der Grönländer, die sich noch im Heidentum befänden und denen man also ebenfalls das Evangelium zu verkündigen hätte.11 1749 erhielten die Herrnhuter per Gesetz12 Zustimmung, sich in den britischen Kolonien Nordamerikas niederzulassen. Nachdem Verhandlungen mit der Hudsonbai-Gesellschaft gescheitert waren, erklärten sich drei Londoner Kaufleute, allesamt Mitglieder der Brüderkirche, bereit, ein Schiff für die Erkundungsfahrt nach Labrador auszurüsten. Zur Finanzierung der Unternehmung wurde, nach Egedes Beispiel, der Missionsversuch mit einer Handelsreise verknüpft. Im Mai 1752 segelte die „Hope“ mit einer Handelsdelegation und vier Herrnhuter Brüdern13 nach Labrador ab. Als auf dieser Reise der Oberkaufmann und Vize-Kapitän Erhardt und sechs seiner Begleiter von den Labrador-Inuit an Land gelockt und umgebracht wurden, mussten die Brüder nach Deutschland zurückkehren. Erschüttert gab die Unitätsdirektion den Plan zur Gründung einer Mission in Labrador auf. Es meldete sich aber ein Herrnhuter Bruder dänischer Herkunft, der nicht auf diese Idee verzichten wollte. Zinzendorf schickte Jens Haven (1724–1796) zunächst nach Grönland, damit er sich dortzulande in der Sprache der Inuit üben konnte. Sobald der Siebenjährige Krieg (1756–1763) vorbei war, erhielt Jens Haven von der „Engen Konferenz“14 die Erlaubnis zu einer Sondierungsreise nach Labrador. Weil er in Quirpon den Kontakt zu den Inuit herzustellen wusste, ohne dabei zu Schaden zu kommen, machten sich im nächsten Jahr (1765) gleich vier Brüder – darunter auch wieder Haven – auf den Weg nach Labrador. Nachdem die Herrnhuter 1769 von der englischen Regierung eine Konzession für eine Niederlassung in Labrador erhalten hatten, fand 1770 die letzte Erkundungsreise statt, während der die Brüder das Grundstück für den Zinzendorf-Trilogie. Marburg/Lahn 1988 (Edition C:P, Präsent; Nr. 63), Bd. 2, 278 ff.; Erika Geiger: Nikolaus Ludwig von Zinzendorf. Seine Lebensgeschichte. Holzgerlingen 32000, 38–40 u. 155–161. Cranz, Historie von Grönland [s. Anm. 4], Bd. 1, Tl. 2, Buch V. Neu-Herrnhut 1733, § 1–3, 403–415. 10 Heute die Hauptstadt Nuuk. 11 H. G. Schneider: Die Ermordung Erhardts und seiner Genossen. Herrnhut 1913, 6 f. 12 „Act for Encouraging the People Known by the Name of Unitas Fratrum or United Brethren, to Settle in His Majesties Colonies in Amerika“. 13 Georg Golkowsky, Johann Christian Krumm, Friedrich Post und Matthäus Kunz. 14 Zwei Jahre nach Zinzendorfs Tod wird die „Enge Konferenz“ als Kollegium für die zwischenzeitliche Vertretung gegründet, das die Unität bis zur nächsten Generalsynode (1764 in Marienborn) leitet (Dietrich Meyer: Zinzendorf und die Herrnhuter Brüdergemeine 1700–2000. Göttingen 2000, 63 f.).
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Anbau ihrer Station absteckten. 1771 wurde die erste Missionsstation der Herrnhuter in Labrador errichtet und auf den Namen „Nain“ getauft. 2. Quellen für die Missionsgeschichte Der Herrnhuter Historiker David Cranz hat für seine Historie von Grönland die Diarien und Briefe der ersten herrnhutischen Missionare in Grönland aufmerksam durchgelesen und alles, was ihm wichtig erschien, notiert. Für jedes Jahr hat er das Material so angeordnet und auf Kapitel verteilt, dass die inhaltliche Kohärenz zur Geltung kommt. Allerdings haben die vorliegenden Manuskripte seine Erwartungen nicht in jeder Hinsicht erfüllt, wie aus folgender Bemerkung in seinem Vorwort hervorgeht: Ich habe oft gewünscht, daß unsre Mißionarien etwas mehr von verschiedenen zufälligen Begebenheiten und Veränderungen unter ihrem Volk, besonders aber von den öffentlichen Reden der Grönländischen Helfer, und von den gelegentlichen Aeusserungen der Getauften über die Evangelischen Wahrheiten und derselben Erfahrung an ihren Herzen, aufgezeichnet hätten. Ich habe bey meinem einjährigen Daseyn15 oft erst lange hernach von ohngefehr einige artige Umstände erfahren und dabey vernommen, wie sich dieser und jener Grönländer von verschiedenem Alter und Gnade so naif und herzgefühlig ausgedrukt hat. Daraus habe ich geschlossen, es müsse in den vorgefundenen Diariis nur das wenigste davon aufgezeichnet worden seyn. Ja, ich habe manchmal Lükken von einigen Tagen und Wochen gefunden, wo nichts, oder doch nicht das, was ich am meisten geschätzt haben würde, aufbehalten worden. Die äusserliche Situation entschuldiget diesen Mangel. Unsere Grönländischen Mißionarii haben oft vor äusserlicher Arbeit, zumal wenn die meisten auf Besuch-Reisen einige Tage lang abwesend sind, nicht Zeit und Gelegenheit alles sogleich aufzuschreiben, wie dann oft die besten Practici schlechte Theoretici sind, und lieber thun als schreiben.16
Nun war den Handwerker-Missionaren als „unstudirten Leute[n]“17 wohl nicht bewusst, dass sie die Reaktionen der Grönländer, sozusagen als Feedback, schriftlich festhalten sollten. Darüber hinaus hatten die Herrnhuter 1733 kaum Erfahrung mit der Mission, und Instruktionen seitens der Unitätsältesten gab es noch nicht. Im Dezember 1740 wurde aber von der Unitätsleitung angeordnet, dass sämtliche Gemeinden ab Anfang 1741 Tagebuch führen sollten.18 So betrachtet war David Cranz’ Kritik wohl berechtigt. Die Generalsynode von 1764 beschloss, den Ausbau der Mission zügig 15 16 17
David Cranz’ Aufenthalt in Grönland währte von 1761 bis 1762. Cranz, Historie von Grönland [s. Anm. 4], Bd. 1, Vorrede. Cranz, Historie von Grönland [s. Anm. 4], Bd. 1, Tl. 2, Buch V. Neu-Herrnhut 1733, § 7,
421. 18 Paul M. Peucker: ’s Heerendijk. Herrnhutters in IJsselstein, 1736–1770. Stichtse Historische Reeks/Walburg Pers 1991, 19.
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voranzutreiben, und die Instruktionen für die Rekognoszierungsreisen nach Labrador 1765 und 1770 enthielten klare Anweisungen für die Berichterstattung. In der Instruktion für die Brüder bezüglich ihrer Erkundungsreise nach Labrador 1765 heißt es: Führt ein ordentliches Diarium, so weitläuffig als möglich. [Das] kan Bruder Schlötzer in deutscher Sprache thun, welches uns bey der Retour geschickt wird. Die 3 andern Brüder müßen ihm daher alle[s] [möglichen Notizen geben-durchgestrichen], was sie sehen und hören, communiciren und er lieset ihnen dann seinen Aufsatz vor.19
Im Hinblick auf die Reise nach Labrador im Jahre 1770 machte die Unitäts-Ältesten-Konferenz die Brüder darauf aufmerksam, dass sie von ihnen nach ihrer Heimkehr (u. a.) folgende Stücke verlangen würde: Ein Diarium von eurem Gnadengang [von] der Unterredung mit den Eskimos, und was etwa zu Erreichung eures Hauptzwecks von Tag zu Tag vorkommt.20
An dieser Stelle ist zu ergänzen, dass Bruder Christian Larsen Drachardt (1711–1778), einer von den Brüdern, die sich an den Erkundungsreisen von 1765 und 1770 nach Labrador beteiligten, an der Universität Kopenhagen das Studium der Theologie und Philosophie absolviert hatte, bevor er 1739 vom dänischen Missionskollegium nach Grönland (Godthaab) berufen wurde. Weil ihm die Missionsmethode der Herrnhuter zusagte und er sich mit den Brüdern bestens verstand, siedelte er gegen Ende des Jahres 1750 von Godthaab nach Neu-Herrnhut über. Gleich darauf erkrankte jedoch seine Frau, die eine Herrnhuterin war, und nach ihrem Tod (1751) kehrte Drachardt mit seinen Kindern nach Europa zurück. In Kopenhagen erbat er seine Entlassung aus dem dänischen Missionsdienst, wonach er die Kinder auf Wunsch seiner (verstorbenen) Frau nach Deutschland in die Unitätsanstalten brachte. Selbst zog er in Herrnhut ins Witwerhaus, wo er bis zu seinem Ruf nach Labrador 1765 blieb. In Labrador hat er sowohl seine eigenen Predigten als die Reaktionen der Inuit auf seinen Unterricht für die Unitätsdirektion aufgezeichnet. Ab der Gründung von Nain 1771 führte Drachardt, der sich als Sechzigjähriger nicht mehr an den Bauarbeiten der Station beteiligen musste und daher mehr Zeit mit den Inuit verbringen konnte, für die nächsten zwei Jahre sein eigenes Diarium.21 19 UA, R.15.K.b.17.a., Instruktion der Unitätsdirektion für die Brüder Hill, Haven, Drachardt, Schloezer, 31. 03. 1765. 20 UA, R.15.K.a.7.b., Instruktion der Unitätsdirektion für die Brüder Drachardt, Jens Haven und Stephan Jensen, 22. 03. 1770. 21 Linda Sabathy-Judd: Winning Souls for Jesus. Moravians in Nain, Labrador, 1771–1781. In: Moravian Beginnings in Labrador. Papers from a Symposium held in Makkovik and Hopedale. Ed. by Hans Rollmann. St. John’s 2009, 135.
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Bevor wir die Ausgangsposition der Herrnhuter in Grönland mit der ihrer Amtsbrüder in Labrador vergleichen, wollen wir nun ihre Kommunikationspartner näher betrachten. 3. Grönländer und Labrador-Inuit: zwei Völker mit gemeinsamen Wurzeln Die ersten Inuit22 oder eskimo-ähnlichen Menschen stammen aus NordostSibirien. Sie überquerten die Beringstraße nach Alaska und wanderten ca. 2000 v. Chr. – zu einer Zeit, als das arktische Klima wärmer als heute war – in die kanadische Hocharktis ein. Ihre Kultur wird als ASTt, „Arctic Small Tool tradition“, bezeichnet. Weil sich das Klima bald wieder abkühlte, konnten sich die ASTt Menschen nur wenige Generationen lang in der Hocharktis behaupten, aber manche von ihnen wanderten ostwärts auf die Baffin-Insel und in die nördlichen Regionen der Hudsonbai, wo sie eine Kultur entwickelten, die später unter dem archäologischen Namen „Dorset-Kultur“23 bekannt wurde. Die Epoche der Dorset-Kultur dauerte von ca. 1000 v. Chr. bis etwa 1000 n. Chr. Gegen Ende des ersten Millenniums n. Chr. wärmte sich das Klima wieder auf und zerstreuten sich die Dorset noch einmal über nahezu das ganze Gebiet der Hocharktis,24 wonach sie plötzlich von der Bildfläche verschwanden. Der Niedergang ihrer Kultur fiel mit der zweiten Immigration von Inuit in die kanadische Arktis zusammen. Diese Inuit25 zogen, wahrscheinlich mit wenigen Kernfamilien gleichzeitig, von der Beringstraße in Alaska ostwärts, und drangen bis Grönland vor, wo die Überbleibsel ihrer Dörfer nach der 1910 von Knud Rasmussen und Peter Freuchen gegründeten Handelssiedlung „Thule-Kultur“ getauft wurden. In ihren Kajaks und Umiaks verfolgten die Thule die Wanderrouten des Grönlandwals, der eine ihrer Hauptnahrungsquellen darstellte. Weil sie als Jäger weitaus erfolgreicher als die Dorset-Menschen waren, dürften sie deren Untergang herbeigeführt haben. Nach den Inuit-Legenden hatten sie die Dorset entweder getötet oder in Regionen vertrieben, wo sie nicht überleben konnten.26 Genauso wie die anderen Inuit-Stämme, die heutzutage noch existieren, sind sowohl die Grönländer als die Labrador-Inuit Abkömmlinge dieser 22
Die Bezeichnung „Eskimos“ (Bedeutung: rohes Fleisch- bzw. roher Fisch-Esser) lehnen sie
ab. 23 Der Name leitet sich von der Siedlung „Cape Dorset“ im Süden der Baffin-Insel her. Nach der Inuit-Überlieferung würde es sich hier um die Tuniit handeln. 24 Die archäologischen Fundplätze der Dorset-Kultur erstrecken sich von Victoria Island im Westen Kanadas bis hin zu Grönland und Neufundland im Osten. 25 Abkömmlinge der ASTt-Menschen, die noch die Küsten beiderseits der Beringstraße bewohnten. 26 Robert McGhee: A Tale of Two Cultures: A Prehistoric Village in the Canadian Arctic. In: Archäology, July/August 1981, 44–51; Robert W. Park: Frozen Coasts and the Development of Inuit Culture in the North American Arctic. In: Landscapes and Societies. Selected Cases. Ed. by I. P. Martini [et al.]. Dordrecht 2010, 411 f. und Fig. 25.2.
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Thule-Inuit. In den Labrador Tagebüchern betonen die Herrnhuter Missionare die Verwandschaft zwischen den grönländischen und den Labrador Eskimos mittels des Ausdrucks Karalit (Karaler), der sie als Nation oder „besonderes Volk“27 kennzeichnet. Um andererseits beide Gruppen voneinander zu unterscheiden, bedienten sich die Brüder der Namen Grönländer und Esquimaux (bzw. Eskimos)28: Bruder Drachard nahm 2 Männer zu sich ins Boot, und hatte folgenden Discours mit ihnen. Er sagte zu ihnen: „Vor vielen – d. i. 4–500 Jahren – haben die Karaler in Osten, eure Vorfahren, hier auf euren Inseln gewohnt, und weit in Norden ist ein schmaler Sund, da sind eure Vorfahren herübergekommen. Aber jezo können die Grönländer nicht über das große weite Meer kommen, euch zu besuchen, darum haben sie mich und Bruder Haven geschickt.“29
In seiner Fortsetzung der Historie von Grönland unterschreibt David Cranz diese Erkenntnis: Dass diese Wilden (die Grönlander) mit den Eskimos in Terra Labrador ein Volk sind, ist aus den Reisen unserer Brüder und ihrem Umgang mit diesem Volk deutlich genug zu sehen. Es wird auch niemand anders vermuthen, als daß die Grönländer von Terra Labrador hieher, und nicht jene von hier dorthin gekommen sind.30
Ein Vergleich der religiösen Ideen der Grönländer mit denen der LabradorInuit auf der Grundlage von David Cranz’ Historie von Grönland und der Labrador Tagebücher ergibt u. a. folgende Gemeinsamkeiten und Unterschiede:
Weltschöpfer
Die Grönländer 1733
Die Labrador-Eskimos 1765
Unbekannt (statisches Weltbild)31
Idem (wie Anm. 31)
Vorstellung von einem Bei ihren Vorfahren: Torngöttlichen Wesen und garsuk. Im Laufe der Zeit wurde die Verehrung Verehrung vernachlässigt.32 27
Haben mehr eine Vorstellung davon als die Grönländer.33
UA, R.15.K.a.5.2.b., Journal der Brüder Hill, Haven, Drachardt, Schloezer, 27. 08. 1765,
111. 28 In der Anrede benutzen sie stets die Form „In(n)uit“ („Menschen“), mit der sich diese Menschen auch selbst bezeichnen. 29 Journal der Brüder Hill, Haven, Drachardt, Schloezer [s. Anm. 27], 21. 08. 1765 , 97. 30 Cranz, Historie von Grönland [s. Anm. 4], Bd. 2, Tl. III. Fortsetzung der Historie von Grönland, Abschnitt IV, § 28, 338. 31 Cranz, Historie von Grönland [s. Anm. 4], Bd. 1, Tl. 2, Buch VI. Neu-Herrnhut 1744, § 6, 590 u. Bd. 2, Fortsetzung der Historie von Grönland, Abschnitt IV, § 24, 325. 32 Cranz, Historie von Grönland [s. Anm. 4], Bd. 1, Tl. 1, Buch III, § 35, 254; Bd. 2, Fortsetzung der Historie von Grönland, Abschnitt IV, § 23, 322. 33 Cranz, Historie von Grönland [s. Anm. 4], Bd. 2, Fortsetzung der Historie von Grönland, Abschnitt IV, § 23, 322.
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Silla
Das höchste Wesen, das wie Idem35 die Luft, alles umgibt, auf die Taten der Menschen Acht gibt und sie belohnt bzw. bestraft. Keine Verehrung, weil sie sich von diesem Wesen keine Vorstellung machen können. Abgeleitete Bedeutungen: Luft, Verstand, Universum.34
Torngarsuk
Guter Geist unter der Erde, Orakel der Angekoks. Keine Verehrung.36
Guter Geist, milde, kann alles, hilft den Menschen.37 Verehrung: Opfergaben?38
Seelen der Toten
Einige fahren hinauf, andere unter die Erde.39
Idem40
Mitte des 18. Jahrhunderts haben die Labrador-Inuit nach Einschätzung der Herrnhuter schon seit vier- bis fünfhundert Jahren keinen Kontakt mehr mit ihren grönländischen Verwandten gehabt. Infolgedessen hatten sich nicht nur ihre religiösen Vorstellungen, sondern auch ihre Sprachen auseinander entwickelt. Es traten Unterschiede in Aussprache und Betonung auf, die jedoch nicht so groß waren, dass sich die Brüder, die der grönlandischen Sprache mächtig waren, mit den Labrador-Inuit nicht verständigen konnten.41 Christian David charakterisiert die Grönländer 1734 wie folgt: Ihr Verstand ist so blöde und stumpf zum Nachdenken, daß sie sich gar keinen Begrif von einem Göttlichen Wesen machen können und also auch keine Religion haben. So sinnlich sie sind, so scheinen sie doch fast ohne Affecten zu seyn, und ihre Natur wird nicht leicht aufgebracht und rege gemacht. Sie wissen nur von schön seyn und 34 Cranz, Historie von Grönland [s. Anm. 4], Bd. 2, Fortsetzung der Historie von Grönland, Abschnitt IV, § 24, 323 ff. 35 Cranz, Historie von Grönland [s. Anm. 4], § 23, 322: „Ein jeder wird aus diesen Nachrichten sehen können, daß die Eskimos und die Grönländer Ein Volk sind.“ Journal der Brüder Hill, Haven, Drachardt, Schloezer [s. Anm. 27], 18. 08. 1765, 94. 36 Cranz, Historie von Grönland [s. Anm. 4], Bd. 1, Buch III, Abschnitt V, § 37, 258 u. § 39, 263 u. Bd. 2, Fortsetzung der Historie von Grönland, Abschnitt IV, § 23, 322 f. 37 Journal der Brüder Hill, Haven, Drachardt, Schloezer [s. Anm. 27], 23. 08. 1765, 103. 38 Am Anfang des 20. Jahrhunderts opferten die Inuit von Killinek ihrem Geist Torngarsoak Tabak und Karibufett (E. W. Hawkes: The Labrador Eskimo. Geological Survey, Memoir 91. Anthropological series 14. Canada, Department of Mines, Ottawa 1916, 126). 39 Cranz, Historie von Grönland [s. Anm. 4], Bd. 1, Tl. 2, Buch V. Neu-Herrnhut 1738, § 2, 490. 40 Journal der Brüder Hill, Haven, Drachardt, Schloezer [s. Anm. 27], 29. 08. 1765, 117. 41 Thea Olsthoorn: Die Erkundungsreisen der Herrnhuter Missionare nach Labrador (1752– 1770). Kommunikation mit Menschen einer nicht-schriftlichen Kultur. In: Nikolaus Ludwig von Zinzendorf. Materialien und Dokumente. Reihe 2, Bd. 35. Hildesheim [u. a.] 2010, 179, 254– 256.
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gut schmekken, und weil sie von sonst nichts zu reden wissen, als von den Thieren, die sie zur Speise brauchen; so sind sie auch so thierisch und tumm, als die Thiere selbst, [. . .].42
Dass David zu dieser Schlussfolgerung gelangte, befremdet, weil die Grönlander, bei denen er einkehrte, ihrerseits großes Interesse sowohl an ihm und seinem Namen als auch an seinem Buch, der Bibel, bekundeten und gerne Näheres darüber erfahren wollten. Nur konnte er ihnen „aus Mangel der Sprache nicht sehr darinn dienen“.43 Die stereotype Einschätzung dürfte also vor allem auf das eigene Unvermögen, mit ihnen zu kommunizieren, zurückzuführen sein. Dreißig Jahre danach äußerte sich Drachardt über die Labrador-Inuit deutlich positiver: Die Esquimaux sind ächte Grönländer. Sie denken gar nicht an göttliche Sachen, aber wenn wir, wie diese 4 Wochen, so 2 Jahre mit ihnen umgehen könnten, so werden sie so gut wie Grönländer anfangen zu dencken, und wenn der Heiland sie im 3ten Jahr in ihrem Herzen anrühren könnte, so würden sie auch anfangen zu reflectiren, daß sie Sünder sind, und einen Heiland nöthig haben. Und darnach werden sie bald an den Heiland, und seinen Tod, Blut und Wunden glauben. Denn ihr Dencken, Raisonnieren und Argumente machen hindert sie gar nicht.44
4. Die Brüder in Grönland und Labrador zur Zeit ihrer ersten Kontakte mit den Inuit Während sich die ersten Herrnhuter Brüder, die nach Grönland entsandt wurden, gleich dort ansiedelten, handelte es sich bei den Aufenthalten in Labrador 1765 und 1770 um Erkundungsreisen (Mai-Oktober). Freilich mussten die Brüder in Neu-Herrnhut auch Besuchsreisen unternehmen, um den Kontakt zu den Grönländern zu knüpfen, denn diese ließen sich in den ersten Jahren eher selten auf ihrer Station blicken – es sei denn, dass sie etwas haben oder verkaufen wollten – und zeigten sich für die Annäherungsversuche der Brüder überhaupt schwer zugänglich. Wenn wir die Kompetenzen und Verfahrensweisen der ersten Herrnhuter Missionare in Grönland und Labrador vergleichen, fallen folgende Unterschiede ins Auge: Die ersten Herrnhuter Brüder in Grönland hatten noch keine Erfahrungen mit den Inuit gemacht, während ihre Kollegen in Labrador bereits in Grönland gewirkt hatten und mit Sitten und Bräuchen der Inuit vertraut waren. Die ersten herrnhutischen Missionare in Grönland waren alle Handwerker und Laienmissionare, während sich unter den ersten Brüdern in Labrador ein akademisch ausgebildeter Theologe befunden hat (Drachardt). 42
Cranz, Historie von Grönland [s. Anm. 4], Bd. 1, Tl. 2, Buch V. Neu-Herrnhut 1734, § 1,
433. 43 44
Cranz, Historie von Grönland [s. Anm. 4], ebd., 432 f. Journal der Brüder Hill, Haven, Drachardt, Schloezer [s. Anm. 27], 21. 09. 1765, 170.
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Die ersten Brüder in Grönland mussten die Sprache der Grönländer noch erlernen, während Jens Haven und Drachardt 1765 der grönländischen Sprache schon mächtig waren. Die ersten Herrnhuter Brüder in Grönland übernahmen Hans Egedes Verkündigungspraxis, d. h. sie vermittelten Katechismuswahrheiten und setzten beim Vatergott an, während die Brüder in Labrador (1765, 1770) Zinzendorfs Instruktionen für die Mission unter den Heiden befolgten und den Inuit das Evangelium – insbesondere das Leiden und Sterben Jesu – mittels der für die Herzenstheologie typischen Veranschaulichungsmethode predigten.
Die Gegenüberstellung belegt, dass die Herrnhuter Missionare in Labrador ihren Amtsbrüdern in Grönland vieles voraus hatten. Auch konnten Jens Haven und Christian Drachardt in Grönland von der Erfahrung ihrer herrnhutischen Kollegen profitieren. 5. Die Missionierung der Brüder in Grönland,45 stellenweise um einen Vergleich mit Labrador46 ergänzt Nach ihrer Ankunft in Grönland am 20. Mai 1733 mussten die Herrnhuter Brüder Matthäus und Christian Stach47 – 1734 kamen noch Friedrich Böhnisch und Johann Beck dazu – zuerst die Inuit-Sprache erlernen. Hans Egede und seine Kinder Paul und Niels wollten ihnen dabei behilflich sein. Die Bewältigung der schwierigen grönländischen Sprache48 bereitete den Brüdern (als Handwerker-Missionaren) erhebliche Schwierigkeiten und nahm mehrere Jahre in Anspruch, zumal sie außer der lateinischen grammatikalischen Terminologie auch das Dänische, die Sprache ihres Lehrers, lernen mussten. Sie vereinbarten, während der ersten zwei Jahre vor den Inuit keine geistlichen Themen anzusprechen, damit sie nicht irrtümlicherweise zweideutige oder falsche Begriffe formulierten, was einerseits den Synkretismus49 hätte heraufbeschwören und andererseits unter den Grönländern eine Abneigung gegen sie und den christlichen Glauben hätte auslösen können. Der Ausbruch einer Seuche50 unter den Einheimischen im Bals-Revier, der Skorbut, das Ausbleiben der Lebensmittelvorräte aus Europa 1735 und die sich daraus ergebende Hun45 46 47
Neu-Herrnhut 1733–1740. Erkundungsreisen 1765 und 1770. Christian David sollte bei den Bauarbeiten helfen und danach nach Deutschland zurückkeh-
ren. 48
Die Inuit-Sprache ist eine polysynthetische Sprache, in der Wörter aneinandergereiht wer-
den. 49
Vermischung der Inhalte verschiedener Religionen. 1733 wurden von einem grönländischen Knaben, der aus Dänemark in sein Vaterland zurückkehrte, die Blattern eingeschleppt. Vom September 1733 bis in den Monat Juni 1734 erlagen nach Hans Egedes Einschätzung 2.000 bis 3.000 Grönländer der Krankheit, und 20 Meilen nördlich und südlich von Neu-Herrnhut fand man nur leere Wohnplätze. 50
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gersnot stellten ihr Durchhaltevermögen auf eine harte Probe und drosselten das Tempo des Sprachstudiums. Abgesehen von den persönlichen Unzulänglichkeiten und dem übrigen Elend, das ihnen widerfuhr, gab es weitere Faktoren, die der Christianisierung der Grönländer fürs Erste entgegenwirkten. Um bei den Inuit einigen Anklang zu finden, mussten sich die Brüder zumindest der folgenden kulturellen Unterschiede bewusst sein und diesen auch Rechnung tragen: 1. Die christliche Lehre basiert auf der Heiligen Schrift, während die Inuit zu dieser Zeit nur eine mündliche Sprache hatten. Im mündlichen Sprachgebrauch präzisieren die digital51 übermittelten verbalen Äußerungen den Inhalt, während die bedeutungsmäßig vorherrschenden analogen52 Ausdrucksformen (Haltung, Gebärden, Mimik, Ton usw.) die Beziehung zum Ausdruck bringen. Die analoge Kommunikation war bei den Inuit – zumindest bei denen der Ostarktis – anscheinend besonders ausgeprägt.53 Auch war der Schreibstil, den die Missionare (später) einführten, den Inuit völlig fremd. Er entsprach in keiner Weise der oralen Tradition, die ihnen dermaßen eigentümlich war, dass sie sie auch nach der Einführung der Schrift vorzogen und auf ihre Schriftstücke übertrugen, was sich in ihrer Korrespondenz widerspiegelt: Der Briefstil ist durch eine Kombination der ihnen vertrauten narrativen Sprache für die Berichterstattung der Begebenheiten des täglichen Lebens einerseits und der archaischen biblischen Schriftsprache bei Bezugnahmen auf Hymnen und Gebete andererseits gekennzeichnet.54 2. Der christliche Glaube hat einen transzendentalen Charakter, ist von einer reichen Symbolik geprägt und enthält zahlreiche abstrakte Begriffe, für die die Inuit in ihrer Sprache (noch) kein Äquivalent, kein Wort hatten. Dagegen hatten (und haben) die Inuit ihre eigenen abstrakten Begriffe, wie z. B. Silla und Isuma (Verstand, Rationalität), die von den Missionaren häufig nicht erkannt wurden. Aus der bloßen Tatsache, dass den Inuit die Bedeutung von Ausdrücken wie Sünde und Gnade nicht gleich einleuchtete, durfte man nicht schließen, dass sie darüber nicht reflektieren würden. Nur war dies für die Missionare als Außenstehende schwer erkennbar. Um sich eine Vorstellung von einem abstrakten christlichen Begriff zu machen, verlangten die Inuit einen sinnlichen Bezug, ein Merkmal also, das sie mit ihren Sinnen erfassen 51 Digital: „auf willkürlichen Zeichen basierend“ (Paul Watzlawick, J. H. Beavin u. D. D. Jackson: Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien. Bern 21971 (zuerst 1969), 50–71, Axiom 4). 52 Analog: „eine Ähnlichkeitsbeziehung zum Gegenstand aufweisend“ (wie vorige Anmerkung). 53 Olsthoorn, Erkundungsreisen [s. Anm. 41], 187, 189, 233 u. 252. Möglicherweise lassen sich Gestik und Mienenspiel auf den Handel der Inuit mit Europäern zurückführen. 54 Frédéric Laugrand, Jarich Oosten, Maaki Kakkik: Keeping the Faith. Memory and History in Nunavut. Vol. 3. Iqaluit 2003, 8. Anglikanische Missionare haben die von den Herrnhutern ins Inuktitut übertragenen Texte der Heiligen Schrift zuerst an den Nunavik Dialekt (Nord-Québec) und danach an die Variante des südlichen Teils der Baffin-Insel angepasst (ebd.).
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konnten, wie z. B. einen Körper, ein Bild oder eine Zeichnung. Da sie über die Bedeutung vieler christlicher Begriffe vorerst im Dunkeln tappten, konnten sie den Missionaren beim Vorlesen nicht lange zuhören. 3. Die Inuit, die zu dieser Zeit keine christlichen Werte kannten, richteten sich nach den Verhaltensregeln, die ihnen von ihren Vorfahren überliefert wurden und die sie einzuhalten hatten, um die Geister nicht zu erzürnen.55 Vor der Ankunft der Missionare hatten sie keinen Grund, diese in Frage zu stellen. Wenn die Labrador-Inuit Jens Haven versicherten: „Wir sind gute Inuit“, sollte diese Äußerung daher nicht im christlich-moralischen Sinne verstanden werden. Ein erfolgreicher Jäger bzw. Seehundfänger zu sein, zur Arbeit zu taugen, war im Bewusstsein der Inuit die wichtigste Qualität, zumal diese angesichts des rauen Klimas und der außerordentlich harten Lebensbedingungen für sie lebenswichtig war (und ist). Der Erfolg beim Jagen und der Schutz vor Krankheiten hing nach ihrem Dafürhalten von der genauen Beobachtung der betreffenden Tabus ab. Während der ersten Zeit besuchten die Herrnhuter Brüder die Grönländer nur in Begleitung der dänischen Kaufleute. Bei solchen Begegnungen schätzten die Eingeborenen zwar den Kontakt zum ausländischen Herrn, aber vor seinen Dienern hatten sie dagegen wenig Respekt.56 Sobald die Inuit feststellen, dass die Brüder fleißig mit Hand anlegten und den Kaufleuten behilflich waren, stuften sie diese als deren Knechte ein. Der Umstand, dass die Brüder die grönländische Sprache noch nicht beherrschten und darin von andern unterrichtet werden mussten, schien ihre Annahme zu untermauern. Aufgrund dieser Beobachtungen hielten sie die Brüder, genauso wie die übrigen Europäer,57 für Menschen, die nicht zu ihrem Geschlecht gehörten.58 Die Herrnhuter ihrerseits bezeichneten die Grönländer in ihren Diarien des Öfteren als „Tumme Grönländer“ und „Wilde“ – stereotype Namen mit abwertender Bedeutung, die z. T. schon bei Egede begegnen und von Cranz, der die Grönländer von „verständigern civilisirten Völkern“59 unterscheidet und ihre Religion (wie Egede) als Aberglauben bzw. Superstition kennzeichnet, ohne Weiteres übernommen wurden. Da beide jedoch im Übrigen eine nuancierte Beschreibung der Inuit liefern, dürfte der Gebrauch vorgenannter Stereotype ausschließlich ihrer Verwunderung oder gar Bestürzung, über deren Unkenntnis von göttlichen Sachen zuzuschreiben gewesen sein: 55 Diese Regeln enthalten viele Verbote (die sog. Tabus). In den Berichten der Herrnhuter heißt es, dass die Inuit nach ihren Gewohnheiten handeln (z. B. Cranz, Historie von Grönland [s. Anm. 4], Bd. 1, Tl. 1, Buch III, § 25, 234 ff.). 56 Cranz, Historie von Grönland [s. Anm. 4], Bd. 1, Tl. 2, Buch V. Neu-Herrnhut 1735, § 2, 444 Anm. 57 Cranz, Historie von Grönland [s. Anm. 4], Bd. 1, Tl. 1, Buch IV. Geschichte von Godhaab 1729, § 32, 393: „Die Grönländer sahen freilich die starke Vermehrung der Ausländer nicht gern, zumal da so viele bewafnete Leute kamen, vor denen sie sich fürchteten.“ 58 Cranz, Historie von Grönland [s. Anm. 4], Bd. 1, Tl. 2, Buch V. Neu-Herrnhut 1734, § 1, 433 (Cranz zitiert Christian David). 59 Cranz, Historie von Grönland [s. Anm. 4], Bd. 1, Tl. 1, Buch III, § 35, 254.
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Es steht außer Zweifel, dass man, wenn man einen primitiven und wilden Menschen zum Christen machen will, diesem zuerst Vernunft beibringen muss; der nächste Schritt wird dann leichter sein.60
In den Labrador-Reiseberichten von 1765 und 1770 finden wir die negativen Charakterisierungen der Inuit fast nicht mehr; zumindest fällt auf, dass sie von den Missionaren kaum noch in den Mund genommen wurden. Aufgrund der Erfahrungen, die sie in Grönland gesammelt hatten, zeigten die Herrnhuter Brüder in Labrador eine völlig andere Haltung. Sie waren fähig, sich mit den Inuit zu verständigen, und betonten ihnen gegenüber, dass sie in Grönland gewesen waren und dort ihre Verwandten kennen gelernt hatten. Darüber hinaus identifizierten sie sich sogar mit den Eingeborenen, indem sie ihnen versicherten, dass sie selbst auch Inuit und somit ihre Freunde und Brüder seien: [. . .] ich bin auch ein Innuit wie ihr, und weis euere Gewonheit. Wier lieben euch alle gahr sehr, und wel euch keine Schaden tuen.61
Jens Haven bestätigte, dass er mit den Verhaltensregeln der Inuit (die auf den Kenntnissen und Erfahrungen ihrer Vorfahren basieren) bereits vertraut war, und sein Bedürfnis, sich ihnen anzupassen, ging u. a. daraus hervor, dass er, als er 1764 in Labrador zum ersten Mal den Inuit begegnet war und sich mit ihnen verabredet hatte, vor dem Treffen noch schnell sein grönländisches Kostüm anzog. Darüber hinaus verstand er die Kunst, seinen ganzen Körper so zu bewegen, wie es die Inuit taten, wenn sie kommunizierten: Er unterstützte seine Worte mit Gesten und einer ausdrucksvollen Mimik. Die Anerkennung, welche die Brüder den Labrador-Inuit erwiesen, wurde von den Letzteren wie folgt erwidert: „Ihr kan [in/im] unser Land bauen, wohnen und machen wie wir, den woe ihr im Lande sind und was ihr thue zu Land oder See, so habt ihr dieselbige Freyheit wie unsereiner, den eure Sprache und eure Handelsweise komt ziemlich übereins mit die Innuitter ihre, und ihr sind [jo/ja] Innuitter, gute Leute wie wir, ihr sind nicht solche Kablunaker, bose Leute wie die andre Europæer.“ Ich (Drachardt) anwortede: „Das ist gut. So sind nur (nun) wir, ihr und die Grondländer wie eine Geslecht.“ Sie anwortede: „Ja, aber unsere Geslecht ist alleine gut.“ Ich anwortede: „So ist es. Darum sind wir und ihr gute Freunde. Wir hat euch lieb. Ihr sind unsere Landsleute, wir sind Brüdre.“62
Im Gegensatz zu den herrnhutischen Brüdern waren die „Kablunat“ (die Europäer), unter deren Streit um die Fischereirechte die Inuit in der Region der Belle Isle Straße schwer zu leiden hatten, äußerst unbeliebt: 60 61 62
Hans Egede: A description of Greenland. London 1818, 216. Übers. v. d. Vf.n. UA, R.15.K.a.5.5., Jens Havens Rekognoszierungsreise, 26. 07. 1770, 331. UA, R.15.K.a.5.6., Christian Drachardt, Rekognoszierungsreise 1770, 422 f.
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„Die Europäer taugen nichts, wir wollen nichts mit ihnen zu thun haben. Ihr aber seyd Menschen,63 kommt ihr nur zu uns und baut bey uns.“64 „Wir sind fromme Karaler, nun sehen wir, dass wir eure Freunde und gute Menschen sind. Denn ihr kommt und schlaft bey uns ohne Gewehr.“65 Etliche sagten zu ihm (Drachardt): „Du bist ein Innuk, und kein Kablunak, du willst nicht handeln. [. . .] und wir wollen nicht der Kablunak, sondern unsre eigne Sprache mit dir reden.“66
Die Herrnhuter Brüder passten sich also nicht nur äußerlich (Kleidung und Gebärden), sondern auch in moralischer und sprachlicher Hinsicht den Inuit an. Sie distanzierten sich bewusst von den „bösen“ Europäern, die den Inuit mit ihren Waffen Angst einjagten, und identifizierten sich statt dessen mit den Inuit und deren grönländischen Verwandten als ein und dasselbe Geschlecht (Karaler). Ihre Kenntnisse der grönländischen Sprache trugen wesentlich zur Glaubwürdigkeit der Brüder bei. Dass die Inuit sie als ihre Landsleute ansahen und anerkannten, wurde von den Brüdern begrüßt, und sie bestätigten es gern. Diese Faktoren – äußere Erscheinung, Verhaltensweise und Sprachkenntnisse – waren wichtige Anstöße für die Akzeptanz der Brüder in Labrador. Die Aussage Drachardts: „Wir sind Brüder“, war darüber hinaus ganz im Sinne der Idee der Brüder-Unität (als Idee von den im Leiden und Tod Jesu zusammengebundenen Brüdern). Die Brüder in Grönland konnten während der Anfangszeit ihre guten Absichten und ihre Zuneigung zu den Eingeborenen noch nicht durch Worte, sondern lediglich durch ihr Verhalten zum Ausdruck bringen. In seinem Brief vom 13. Juni 1733 schreibt Matthäus Stach: „Ihre Sprache und ganzes Wesen ist so verkehrt, daß man ihnen auch mit Winken und Zeigen nichts bedeuten kann, daß sie es vernehmen könnten.“67 Die Brüder konnten ihnen also die christliche Gesinnung nur vorleben. Als sich im September 1733 eine Seuche unter den Grönländern ausbreitete, nahmen sie, nach dem Vorbild von Hans Egede, möglichst viele von denen, die wegen der Krankheit zu ihnen flohen, in ihrem Haus auf, um sie zu pflegen, den Schaden für ihre eigene Gesundheit in Kauf nehmend, was manche von den Grönländern tief beeindruckte. Einer, der bis dahin über den Religionsunterricht nur gespottet hatte, sagte z. B. zu Hans Egede: „Du hast an uns bewiesen, was die Unsrigen nicht gethan haben.“68 Je mehr die Grönländer – so Cranz – erkannten, dass die Herrnhuter Brüder nicht nach Grönland gekommen waren, um Handel zu treiben, und je 63 64 65 66 67 68
In(n)uit: „(richtige) Menschen“. Journal der Brüder Hill, Haven, Drachardt, Schloezer [s. Anm. 27], 12. 09. 1765, 155. Journal der Brüder Hill, Haven, Drachardt, Schloezer [s. Anm. 27], 12. 09. 1765, 157. Journal der Brüder Hill, Haven, Drachardt, Schloezer [s. Anm. 27], 15. 09. 1765, 161. Matthäus Stach [s. Anm. 4], 27. Cranz, Historie von Grönland [s. Anm. 4], Bd. 1, Tl. 2, Buch V. Neu-Herrnhut 1733, § 8,
426.
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mehr sie beobachteten, dass sie sich durch ihre ruhige Art von andern Europäern unterschieden, desto aufmerksamer wurden sie auf ihre Worte und Taten. Im Winter des Jahres 1735 (das dritte Jahr) fingen die Brüder an, biblische Schriften ins Grönländische zu übersetzen, aber im Gespräch mit den Grönländern waren sie weiterhin zurückhaltend und vorsichtig. Sie lasen ihnen aber einige Stücke vor, die Hans Egede übersetzt hatte, wie die Zehn Gebote und das Vaterunser, und erinnerten sie an dasjenige, was er (Egede) in den vorangegangenen Jahren von der Schöpfung und Erlösung vorgelesen hatte. Dabei versuchten sie den Grönländern klarzumachen, dass sie die christliche Lehre nicht nur wissen und bejahen, sondern am Herzen erfahren müssten. Dem Beifall nach – die Grönländer versicherten ihnen: „Wir glauben sehr.“ – schien es den Brüdern an Überzeugungskraft nicht gemangelt zu haben. Was aber die Erfahrung des Herzens betrifft, so wüssten sie nicht, was damit gemeint sei. Die Bedeutung von Ausdrücken wie „Jesus Christus“, „mit Blut vergiessen erlösen“ und „Ihn kennen lernen, lieben und annehmen“, konnten sie nicht erfassen: „das sei eine fremde und zu hohe Sprache, welche zu begreifen und zu behalten, ihre Ohren nicht taugten.“69 Wenn man ihnen nicht mehr Stockfisch gäbe, so wollten sie auch nicht mehr zuhören. Sie meinten, wenn sie kämen, zuhörten und sich zum Glauben bereit zeigten, täten sie den Missionaren einen großen Gefallen, wofür man sie eben zu bezahlen hätte. Am 16. März 1735 einigten sich Matthäus Stach, Friedrich Böhnisch und Johann Beck – die drei Brüder, die sich bedingungslos, d. h. ungeachtet des Ausgangs ihrer Unternehmung, der Mission in Grönland verpflichten wollten – während der Prüfungsstunde70 auf sieben Punkte, von denen ich hier zwei vorwegnehme, auf die wir weiter unten noch eingehen werden:71 (2) Die Erkentnis Christi, wie Er am Creutz die Reinigung unserer Sünden durch Sein Blut gestiftet, und allen die da glauben, die Ursach zur ewigen Seligkeit worden ist, soll die Haupt-Lehre unter uns seyn, die wir mit Wort und Wandel, als aus dem
69 Cranz, Historie von Grönland [s. Anm. 4], Bd. 1, Tl. 2, Buch V. Neu-Herrnhut 1735, § 2, 445 f. NT: Mt 13, 10–17 und Mk 4, 21–25. Als Bruder Drachardt am 29. 08. 1765 in Labrador betet: „O Heiland, gib uns Ohren, zu hören, wie Dein Leib überall verwundet ist, und wie Du uns mit Deinem Blute gekauft hast“, antworten die Inuit: „Wir haben gar keine Ohren, wir verstehen solche Sachen nicht.“ (Journal der Brüder Hill, Haven, Drachardt, Schloezer [s. Anm. 27], 29. 08. 1765, 117). 70 Weil die Brüder öfters verschiedener Ansicht waren (vor allem ließ das Verhältnis zwischen Christian David und Matthäus Stach zu wünschen übrig) und sie den Unitätsältesten über ihren Unterricht der Heiden ohnehin noch nicht viel berichten konnten, hatten sie am 10. 10. 1734 beschlossen, dass sie sich alltäglich eine Stunde miteinander beraten und sich aussprechen würden. Diese Stunde hießen sie die Prüfungsstunde (Matthäus Stach [s. Anm. 4], 10 u. 38; Cranz, Historie von Grönland [s. Anm. 4], Bd. 1, Tl. 2, Buch V. Neu-Herrnhut 1735, § 4, 447 f.). 71 Cranz, Historie von Grönland [s. Anm. 4], Bd. 1, Tl. 2, Buch V. Neu-Herrnhut 1735, § 6, 451.
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Vermögen, das Gott darreichet, bezeugen, und dadurch die Heiden zum Gehorsam des Glaubens zu bringen suchen wollen. (3) Wir wollen die Sprache in der Liebe, in Geduld und Hoffnung mit Fleiß zu lernen suchen.
Die Grönländer, die bisher die Regeln ihrer Vorfahren beachteten und in dem Sinne bereits gehorsam waren, sollten nun durch die Leidensgeschichte Jesu dazu gebracht werden, den Prinzipien des christlichen Glaubens zu gehorchen. Im Juli 1736 trafen Matthäus Stachs Stiefmutter und ihre beiden ledigen Töchter, die für die Brüder den Haushalt besorgen sollten, in Begleitung von George Wiesner in Neu-Herrnhut ein. Mit demselben Schiff fuhr Christian Stach zurück nach Deutschland, um die Unitätsdirektion über die heikle Lage der Brüder sowie den kümmerlichen Stand der Mission zu informieren und ihren Rat einzuholen.72 An Bord befand sich ebenfalls Hans Egede, der an Skorbut litt und definitiv nach Kopenhagen zurückkehrte. Seine Krankheit, der Tod seiner Frau und der Mangel an Gehilfen in Godthaab hatten ihn letztlich zur Abreise gezwungen.73 Inzwischen fanden die Brüder auf ihren Besuchsreisen in der Umgebung von Neu-Herrnhut „selten offene Ohren und noch weniger begierige Herzen“. Wenn sie sich länger als eine Nacht bei den Grönländern aufhielten und sich mit deren Vergnügungen (Tanzgelagen) nicht einverstanden erklärten, setzten die Eingeborenen alles daran, um die Brüder zu reizen und ermüden, indem sie „ihr Lesen, Singen und Beten“ mit Mienen und Gebärden nachäfften oder „mit ihren Trommeln und gräßlichem Geschrey“ begleiteten.74 Auch im Jahre 1737 erzielten die Bemühungen der Herrnhuter Missionare unter den Grönländern noch nicht die von ihnen erhoffte Wirkung. Am 6. Juli kam Christian Stach nach Neu-Herrnhut zurück und brachte Bruder Christian Marggraf als neuen Helfer mit. Darüber hinaus hatten Zinzendorf und seine Mitarbeiter den Brüdern Lebensmittel beschafft. Zu ihrer besonderen Situation in Grönland hätten sie jedoch nicht viel sagen können. Um die Brüder aufzumuntern, sei auf den Erfolg der Mission in St. Thomas hingewiesen worden. August Gottlieb Spangenberg hatte 1736 von Pennsylvanien aus eine Visitationsreise nach Westindien unternommen.75 72
Christian David hatte Grönland bereits 1735 verlassen. Nach seiner Rückkehr nach Kopenhagen wurde Hans Egede zum Superintendenten der dänischen Mission in Grönland ernannt und erhielt den Auftrag, ein Seminarium zu gründen; seitdem unterrichtete er die Priesterstudenten in der grönländischen Sprache. Einer von ihnen war Christian Larsen Drachardt. 74 Cranz, Historie von Grönland [s. Anm. 4], Bd. 1, Tl. 2, Buch V. Neu-Herrnhut 1736, § 5, 467. 75 Im Gegensatz zu den Brüdern in Grönland predigten die Herrnhuter in St. Thomas von Anfang an die Erlösung durch Jesu Leiden und Tod. Sie setzten ihr Vertrauen auf die Herzensreligion – die Missionsmethode Zinzendorfs, die schon 1732 weitgehend festlag (Beyreuther, Zinzendorf-Trilogie [s. Anm. 9] 3, 13) – und versuchten, etlichen getauften „Freynegern“ (ehemalige 73
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Solange die Grönländer durch die Brüder Neuigkeiten in Erfahrung brachten, waren sie aufmerksam genug, und manche Bibelgeschichten, insbesondere über die Wunderwerke des Heilands und über die Apostel, nahmen sie mit Gelassenheit zur Kenntnis. Wolte man ihnen aber von Gottes Wesen und Eigenschaften, von dem Fall und Verderben der Seele, von Gottes Zorn über die Sünde, von der Nothwendigkeit der Versöhnung, vom Glauben an Jesum, von den Gnaden-Mitteln, von der Heilung und Heiligung der verdorbenen, kranken Seele und der Glieder, von der Nachfolge Christi und von der ewigen Seligkeit und Verdamnis, einen Begrif machen; so wurden sie entweder schläfrig, sagten zu allem Ja, und schlichen sich davon; oder sie mochten nichts davon hören, und fingen an, von ihrem Seehund-Fang zu reden; [. . .].76
Durch die Katechismusinhalte, welche sie auswendig zu lernen versuchten, überfordert – christliche abstrakte Begriffe wie Sünde,77 Versöhnung und Gnade hatten für sie ja noch keinerlei Bedeutung – verloren die Grönländer bald das Interesse am Unterricht, oder sie stellten der Theorie der Brüder einfach ihre vorzüglichen Qualitäten als Seehundfänger, die ja ihre eigene Vorstellung der Tauglichkeit verkörperten, gegenüber. Weiset uns den Gott, (sagten sie) den ihr uns beschreibt, so wollen wir an Ihn glauben und Ihm dienen. Ihr beschreibt ihn zu hoch und zu unbegreiflich, wie sollen wir zu Ihm kommen? und Er wird sich nicht um uns bekümmern. Wir haben Ihn angerufen, wenn wir nichts zu essen gehabt oder krank gewesen; aber es ist, als ob Er uns nicht hören wolte.78
Die transzendentale Gottesbeschreibung vermochte die Grönländer nicht zu überzeugen. Selbst glaubten sie an die Kraft magischer Formeln und Gegenstände (Amulette), u. a. für den Erfolg beim Jagen und in der Heilkunst.79 Dementsprechend hatten sie das Gelernte auch schon ausprobiert, aber es hatte nicht funktioniert. Gott sollte sich ihnen manifestieren, sie benötigten ein sinnliches Zeichen, ein Merkmal, das seine Existenz unter Beweis Sklaven) das Auswendiglernen von Katechismusinhalten, das dort von früheren christlichen Missionaren eingeführt worden war, abzugewöhnen (C. G. A. Oldendorps Geschichte der evangelischen Brüder auf den caraibischen Inseln S. Thomas, S. Croix und S. Jan. Barby 1777. Hg. v. Johann Jakob Bossart. Tl. 2, Buch I, Abschnitt III: St. Thomas 1732, 467, 469). 76 Cranz, Historie von Grönland [s. Anm. 4], Bd. 1, Tl. 2, Buch V. Neu-Herrnhut 1737, § 5, 479. 77 „[E]inen, dem sie die Sünde des Stehlens ausführlich vorgestellt hatten, ertappten sie bald drauf in allerley Diebereyen.“ (Cranz, Historie von Grönland [s. Anm. 4], Bd. 1, Tl. 2, Buch V. Neu-Herrnhut 1738, § 1, 488) 78 Cranz, Historie von Grönland [s. Anm. 4], Bd. 1, Tl. 2, Buch V. Neu-Herrnhut 1737, § 5, 479. 79 Frédéric B. Laugrand and Jarich G. Oosten: Inuit Shamanism and Christianity. Transitions and Transformations in the Twentieth Century. Montreal [et al.] 2010, 272 ff. (Chap. 9: Powerful Objects and Words).
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stellte. Sie verlangten daher, dass die Brüder durch ihr Gebet – in ihren Augen eine magische Formel – bewirkten, dass sie genug zu essen, einen gesunden Körper und ein trockenes Haus haben. Weiter bedürften sie nichts. Die geistliche Nahrung möchte für die Leute im Lande der Brüder, die kranke Seelen hätten, nötig sein. Manchen von ihnen sei dies sogar anzusehen. Ihre eigene Seele jedoch sei gesund, und sie bräuchten also keinen Arzt für ihre Seele, sondern vielmehr Seehunde, Fische und Vögel, ohne die weder die Seele, noch der Leib bestehen könnten. Nach ihrem Tod wollten sie auch nicht in den (oberen) Himmel fahren, sondern hinunter zu Torngarsuk, wo es Nahrung im Überfluss gebe und sie nie mehr hungern müssten.80 Die schlagfertigen Antworten der Inuit belegen ihren Scharfsinn, sie waren alles andere als „tumme Grönländer“. Im November hielt sich Matthäus Stach vier Wochen lang unter den Grönländern auf, um sich in ihrer Sprache zu üben. Er konnte mit ihnen zwar über Vieles reden und las auch einige Stücke aus dem Neuen Testament vor, aber solange ihnen Gott bzw. Gottes Sohn keine Seehunde schickte – eine Kunst, die ihre Angekoks angeblich wohl beherrschten – machten sie sich über den Unterricht lustig und verspotteten Gottes Namen. Im Jahre 1738 wurde der erste Grönländer (nach Ansicht der Brüder) „gründlich erweckt“. Es war ein Mann, den sie bis dahin nicht kannten. David Cranz zitiert wie folgt aus dem Diarium der Brüder: Am 2. Jun. besuchten uns viele von den vorbeyziehenden Süderländern. Johann Bek schrieb eben etwas aus der Uebersetzung der Evangelisten ins Reine. Die Heiden wolten gern wissen, was in dem Buch enthalten wäre. Er las ihnen etwas vor und nahm dabey Gelegenheit zu einem Gespräch. Er fragte sie: Ob sie eine unsterbliche Seele hätten? Sie antworteten: Ja. Wo dann ihre Seele hinkommen würde, wenn ihre Leiber stürben? Einige sagten, hinauf, und andere, hinunter.81
Wie schon zuvor bei Christian David zeigten die Grönländer auch diesmal ein lebhaftes Interesse an dem Inhalt des Buches. Bruder Beck seinerseits begnügte sich nicht länger mit dem Vorlesen allein, sondern ließ sich auf einen Dialog mit den Grönländern ein, und zwar über ein Thema, mit dem sie sich bereits beschäftigt hatten. Sowohl die Grönländer als die Labrador-Inuit glaubten an einen oberen und einen unteren Himmel, die allerdings nicht allzu weit von der Erdoberfläche entfernt seien: 80 „Weil die Grönländer ihre meiste und beste Nahrung aus der Tiefe des Meers bekommen; so suchen sie den glükseligen Ort unter dem Meer oder Erdboden, und denken, daß die tiefen Löcher in den Felsen die Eingänge dazu seyn. Daselbst wohnt Torngarsuk und seine Mutter; [. . .] da ist gutes Wasser und ein Ueberfluß an Vögeln, Fischen, Seehunden und Rennthieren, die man ohne Mühe fangen kan, oder gar in einem grossen Kessel lebendig kochend findet.“ (Cranz, Historie von Grönland [s. Anm. 4], Bd. 1, Tl. 1, Buch III, § 37, 258 f.) 81 Cranz, Historie von Grönland [s. Anm. 4], Bd. 1, Tl. 2, Buch V. Neu-Herrnhut 1738, § 2, 490.
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Er [Drachardt] [. . .] fragte dann: „Wenn wir sterben, wo dencket ihr, daß eure Seelen hinkommen?“ Sie antworteten: „Etliche oben und etliche unten.“82
Unter der Erde befänden sich die Seelen der Grönländer, die Großes geleistet, zahlreiche Wale und Seehunde gefangen, sehr viel ausgestanden hätten, im Meer ertrunken oder bei der Geburt gestorben waren. Aufgrund dieser Anordnung vermutete Cranz, dass die Grönländer früher einen Begriff von der Belohnung des Guten gehabt hatten.83 Bezüglich der Seelen, die in den oberen Himmel führen, gingen die Meinungen der Grönländer auseinander: Die erste Parthey aber behauptet, daß nur die untauglichen faulen Leute in den Himmel kommen, und daselbst einen großen Mangel an allem haben; [. . .] Sonderlich kommen die bösen Leute und Hexen dahin, [. . .].84
Da sich die Idee zweier Himmel, insbesondere eines sich unter der Erde befindlichen glückseligen Orts, mit der christlichen Auffassung nicht vereinbaren ließ, musste Johann Beck sie korrigieren und die diesbezüglichen Annahmen der Grönländer widerlegen. Gleich fuhr er fort, ihnen die Schöpfung zu erläutern: Nach einiger Zurechtweisung fragte er [Johann Beck] sie: Wer Himmel und Erde, die Menschen und alles Sichtbare gemacht habe? Sie sagten, das wüßten sie nicht, hätten auch niemals davon gehört, es müßte wol ein sehr grosser und reicher Herr seyn. Hierauf erzehlte er ihnen: Wie Gott alles, und besonders die Menschen, gut geschaffen, und wie sie aus Ungehorsam von Ihm abgefallen und ins äusserste Elend und Verderben gerathen wären. Er habe sich aber über sie erbarmet und sey ein Mensch worden, damit Er leiden und sterben und die Menschen erlösen könte. An Ihn müßten wir glauben, wenn wir wolten selig werden.85
Schöpfungsmythen sind in der Inuit-Tradition sehr zahlreich, darin ist stets schon etwas vorhanden, woraus das Neue entsteht. Dass etwas aus dem Nichts erschaffen wird, kannten die Inuit nicht.86 Die Herrnhuter Brüder, die für ergänzende Informationen über die Grönländer auf die (nunmehr abwesenden) Egedes angewiesen waren, entdeckten eine Lücke in der Weltanschauung ihrer Zuhörer, die sie dankbar für ihre Zwecke in Anspruch nahmen, zumal den Inuit Neuigkeiten immer willkommen waren. Bruder Beck erklärte den Grönländern, Gott als Schöpfer habe alles Sichtbare, und besonders die Men82 83 84 85
Journal der Brüder Hill, Haven, Drachardt, Schloezer [s. Anm. 27], 29. 08. 1765, 117. Cranz, Historie von Grönland [s. Anm. 4], Bd. 1, Tl. 1, Buch III, § 37, 259. Cranz, Historie von Grönland [s. Anm. 4], Bd. 1, Tl. 1, Buch III, § 37, 260. Cranz, Historie von Grönland [s. Anm. 4], Bd. 1, Tl. 2, Buch V. Neu-Herrnhut 1738, § 2,
490. 86 Zwar schreibt Ernest W. Hawkes (The Labrador Eskimo. Geological Survey, Memoir 91. Anthropological series 14. Ottawa: Department of Mines 1916, 152), Torngarsuk hätte den Menschen aus dem Nichts gemacht, aber laut Drachardts Diarum von Nain glaubten die Inuit, der erste Mensch sei aus der Erde herausgekommen (UA, R.15.K.b.4.a., Christian Drachardt: Diarium von Nain (1771–1773), 08. 10. 1771, 13).
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schen, gut gemacht. Die Menschen hätten sich jedoch von ihm abgewandt, so dass er die (sichtbare) Gestalt eines Menschen hätte annehmen müssen, um sie zu erlösen. Wir machen einen Abstecher nach Labrador, um zu prüfen, wie dort die Idee der Schöpfung vermittelt wurde. Als Drachardt 1765 zum ersten Mal nach Labrador kam, hatte er bereits langjährigen Umgang mit den Grönländern gehabt und wusste über deren religiöse Ansichten Bescheid. Er konnte für seinen Unterricht daran anknüpfen. Um den Labrador-Inuit den Begriff Schöpfer näher zu bringen, brauchte er nur zu sagen: Wir haben von Bruder Jens Haven gehört, daß ihr Karaler seyd, und nun sehe und höre ich, daß eure Gesichter, Sprache und alles, meist mit der Grönländer ihrem übereinkommt, und ich bin geschickt, euch zu sagen, daß sie den Schöpfer aller Dinge, der unser Heiland ist, kennen.87
Diese Mitteilung musste er allerdings viermal wiederholen, bis es einem alten Mann einfiel, dass er mit „dem Schöpfer aller Dinge“ ihren kosmischen Geist Silla meinen könnte. Zur Veranschaulichung schlug der Inuk die Hand um seinen Kopf und blies, denn mittels dieser Gebärde pflegten die Inuit Silla darzustellen. Bruder Drachardt sagte darauf: „Ja, Silla und der große Weltschöpfer ist unser Heiland.“88
Wohlgemerkt, Drachardt antwortete nicht: „Silla, der große Weltschöpfer, ist unser Heiland“, sondern durch die Ergänzung der Konjunktion „und“ deutete er darauf hin, dass der Vergleich nicht hundertprozentig aufging (also: Silla + Weltschöpfer = Heiland). Darüber hinaus verknüpfte er sofort die Ideen Schöpfer und Heiland miteinander. Noch bevor er dazu überging, ihnen den Begriff Heiland (anhand einer Metapher) zu visualisieren, betonte er, dass der Schöpfer ebenfalls ein Mensch war, „Glieder, Kopf, Hände, Füße, Fleisch und Blut“ gehabt und sich überall in der Silla89 befunden hätte. Jesu Schöpfertat sollte gemäß Zinzendorfs Anweisungen für die Mission unter den Heiden in Verbindung mit seiner Erlösungstat gesehen werden, daher die Bezeichnung „Schöpfer-Heiland“, obwohl Drachardt dieses Kompositum in seinen Berichten nicht erwähnt.90 Hätte Drachardt die Begriffe Schöpfer und 87
Journal der Brüder Hill, Haven, Drachardt, Schloezer [s. Anm. 27], 18. 08. 1765, 94. Journal der Brüder Hill, Haven, Drachardt, Schloezer [s. Anm. 27], 18. 08. 1765, 94. 89 Damit ist die Möglichkeit „Silla = Schöpfer“ ausgeräumt; Drachardt verwendet Silla, der/ die, wie wir gesehen haben, auch kein Weltschöpfer im eigentlichen Sinn war, nur als Ansatzpunkt. 90 Bei seinem nächsten Besuch in Labrador 1770 unterrichtet Drachardt wiederum nach dieser Methode: „Der Schopfer [!] alle Dinge hat die menschliche Natur angenommen um euch, unß und alle Menschen zu erlosen. Darum wird Er ein Erloser, ein Helfere, ein Heiland genant.“ Drachardt nennt den Schöpfer „der Herre über alle Herrer, der uber uns wohnt“ (UA, R.15.K.a.5.6., Drachardt, Rekognoszierungsreise, 17. 07. 1770, 387 f.). 88
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Heiland einzeln, d. h. unabhängig voneinander, erläutert, dann wäre der Schöpfer mit Silla und der Heiland mit Torngarsuk identisch gewesen, denn darauf zielten die Inuit ab: Darauf fing er [Drachardt] an vom Schöpfer mit ihnen zu reden, daß Er unser und ihr Heiland ist. Sie nannten ihn Torngarsok – insoweit man sagen kann, daß sie einen Gott haben, so ist es dieser. Er fragte: „Dencket ihr, daß Torngarsok alles geschaffen hat?“ Sie sagten, sie wüsten es nicht. [. . .] Bruder Drachardt [. . .] fing dann wieder an: „Der Schöpfer ist unser und euer Heiland.“91
Der Heiland ist gleichfalls der Schöpfer, dadurch wurde das Risiko, dass die Inuit fortan den Heiland ihrem Torngarsuk gleichsetzten, beseitigt; einer solchen Anpassung verschiedener Glaubensinhalte und Vermischung von Weltanschauungen (Synkretismus) wollte Drachardt ja zuvorkommen. Auf ähnliche Weise zog er weitere einheimische Begriffe und Bräuche heran, um den christlichen Glauben den Inuit einsichtig zu machen.92 Er benutzte sie aber nur als Träger für die christlichen Ideen, d. h. sie sind lediglich die Verpackung, die er direkt mit einem christlichen Inhalt füllt. Drachardt machte das sehr geschickt, und diese Fertigkeit hatte er den ersten Missionaren in Grönland, die weder auf theologische Studien noch auf praktische Erfahrungen zurückgreifen konnten, voraus. Leider wissen wir nicht, ob an dem bewussten Tag in Neu-Herrnhut, als Bruder Beck versuchte, den Grönländern eine Vorstellung von Gott als Schöpfer zu vermitteln, nicht einer oder sogar mehrere von ihnen aus eigenem Antrieb Sillas Namen erwähnt haben. Sollte dies der Fall gewesen sein, dann hätten die Brüder diese Bemerkungen wohl nicht verstanden und daher ignoriert. Jedenfalls hat Johann Beck die Begriffe Schöpfer und Heiland noch nicht so eng verknüpft, wie Drachardt das später in Labrador tat. Gott ist der Schöpfer, ist ein Mensch geworden, und Jesus ist der Heiland. Das sind noch zwei verschiedene Identitäten. Kehren wir also zu Johann Beck zurück, dessen Auslegung ich unterbrochen hatte: Bey dieser Gelegenheit regte der Heilige Geist diesen Bruder an, ihnen das Leiden und Sterben Jesu nachdrüklicher vorzustellen, und er ermahnte sie mit bewegtem Herzen, daß sie doch bedenken möchten, wie viel es den Heiland gekostet, daß wir erlöset sind, daß sie Ihm doch ihre Herzen, als Seinen so sauer verdienten Lohn, nicht vorenthalten möchten, indem sie Ihn den Tod mit so vielen Wunden und Blutvergiessen gekostet, ja eine solche Seelen-Angst, daß Er darüber blutigen Schweiß geschwitzet: Er las ihnen dabey aus dem Neuen Testament die Geschichte von des Heilands Leiden am Oelberg und seinem blutigen Schweisse vor.93 91 92 93
Journal der Brüder Hill, Haven, Drachardt, Schloezer [s. Anm. 27], 23. 08. 1765, 103. Olsthoorn, Erkundungsreisen [s. Anm. 41], 238–251. Cranz, Historie von Grönland [s. Anm. 4], Bd. 1, Tl. 2, Buch V. Neu-Herrnhut 1738, § 2,
491.
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Johann Beck wechselt vom transzendenten Gott auf die Schilderung des menschlichen Heilands über, steigert sich in seine Predigerrolle hinein und redet den Grönländern energisch ins Gewissen, damit das „tote“ Herz (das Gewissen) dieser Heiden gerührt werde. Seine Darstellungsweise, der eindringliche Ton und – im weiteren Verlauf – seine Tränen sind analoge Ausdrucksformen, die dazu beitragen, dass die Grönländer für seine Botschaft empfänglicher sind, wobei sein erregtes Auftreten (vom Heiligen Geist ausgelöst) sie an die Ekstase ihrer Schamanen, die von ihrem Torngak (Hausgeist) inspiriert wurden, erinnert haben dürfte. Hier ist anzumerken, dass Missionare von den Inuit generell als Angekoks betrachtet wurden und indem sie dies akzeptierten, brachten sie selber die Christianisierung voran.94 Beck erklärte den Inuit, auch sie hätten die Seelenangst und das qualvolle Sterben des Heilands verschuldet und sein Tod erfordere ein Sühnopfer: ihre Herzen. Wie Bruder Beck den Ausdruck „Seelen-Angst“ in der grönländischen Sprache formuliert hat und wie er von den Grönländern rezipiert wurde, wissen wir nicht. Die Inuit hatten vor dem (gewöhnlichen) Sterben zwar keine allzu große Angst, aber vor dem Leiden fürchteten sie sich durchaus95 und wegen ihres Seelenheils waren sie ebenfalls sehr besorgt. Die Seelen der verstorbenen Grönländer erreichten den „Himmel“ auch nicht sofort, sie mussten (Cranz zufolge) mindestens fünf Tage lang an einem rauen Felsen, der ganz blutig davon wurde, herunterrutschen. Während dieser Zeit hatten die Hinterbliebenen „sich gewisser Speisen, auch aller geräuschigen Arbeit“ zu enthalten, damit die Seele auf ihrer strapaziösen Reise nicht beunruhigt wurde oder gar zugrunde ging. Letzteres nannten sie „den andern Tod“, wobei nichts zurückblieb.96 Das von Cranz erwähnte mehrtägige Abrutschen der Seele am Felsen ist als Buße oder Reinigung wegen der Nichtbeachtung von Tabus zu Lebzeiten zu verstehen.97 Die Vernichtung der Seele, die als Quelle der Vitalität und Gesundheit eines Menschen galt, hielten die Inuit für eine überaus traurige Angelegenheit, weil ein neugeborenes Kind, das den Namen eines verstorbenen Verwandten bzw. Vorfahren erhielt, damit (als Namensgenosse) gleichzeitig die Lebenskraft und Fähigkeiten der betreffenden Person erbte. Diese Seelenwanderung bezeichneten die Grönländer als die „neue Auflebung oder 94 Laugrand and Oosten, Inuit Shamanism and Christianity [s. Anm. 79], Chap. 2: Missionaries and Angakkuit, 37 ff., insbes. 61–66: Priests and Angakkuit). 95 In Knud Rasmussens Bericht über die fünfte Thule Expedition zeigt der Schamane Ava anhand mehrerer Beispiele den Grund für die Tabus auf. Der Sinn des Leidens seiner alten, kranken Schwester Natseq ließe sich nicht erklären. Weil sich die Inuit vor Hunger, Krankheit und Leiden fürchteten, befolgten sie die alten Verhaltensregeln der Vorfahren, die sich auf die Erfahrung und Weisheit vieler Generationen stützten. Sie hielten sich an diese Vorschriften, um möglichst ungestört leben zu können (Knud Rasmussen: Intellectual Culture of the Iglulik Eskimos. Report of the Fifth Thule Expedition 1921–24. Vol. 7, 1. Kopenhagen 1929, 55 f.). 96 Cranz, Historie von Grönland [s. Anm. 4], Bd. 1, Tl. 1, Buch III, § 37, 259. 97 Laugrand and Oosten, Inuit Shamanism and Christianity [s. Anm. 79], 113.
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Auferstehung“.98 Der Name war bei den Inuit quasi die historische Dimension, weil er die Beziehung zu den verstorbenen Namensgenossen mit ihren besonderen Talenten herstellte und die Kontinuität der Gesellschaft sicherte.99 Fahren wir nun mit dem Diarium der Brüder, wie von Cranz zitiert, fort. Die Seelenangst und das Leiden des Heilands lösten in einem der anwesenden Grönländer eine bemerkenswerte Reaktion aus, die von den Brüdern als Erweckung verstanden wurde: Da that der Herr einem, Namens Kajarnak, das Herz auf, der trat zum Tisch und sagte mit einer lauten beweglichen Stimme: ‚Wie war das? Sage mir das noch einmal, denn ich möchte auch gern selig werden.‘ Diese Worte (heißts) die ich noch nie von einem Grönländer gehöret hatte, drungen mir durch Mark und Bein, und setzten mich in solche Bewegung, daß ich dem Grönländer mit Thränen in den Augen die ganze Leidens-Geschichte Jesu und den Rath Gottes von unsrer Seligkeit darlegte.100
Beck zufolge hatte der Heiland Kajarnak angerührt. Die innere Bewegtheit oder Ergriffenheit Kajarnaks, welche auf Empathie mit dem Heiland bzw. Bedauern über dessen gewaltsamen Tod hinweisen könnte, interpretierten die Brüder anscheinend als Wirkung der Gnade Jesu und somit Vorstufe der Reue. Drachardt erinnert in Nain 1773 noch an dieses Ereignis, er macht die (Labrador) Inuit wie folgt darauf aufmerksam: „Da der Heiland mit der Tode rang und betede heftig, wurde sein Sweiß wie Blutstropfen, die fielen auf die Erde.“ Durch diese Worte ist der erste Man in Gröndland erwecht, sein Nahme war Kajarnak. Diese Man Kajarnak, da er horte, daß der Shöpfer alle Dinge hat der mensheliche Natur auf sie [sich] genomen, und hat gelitten solche grose Seelen-Angest, daß sein Schweis wurde wie Blut, und Er war betrübt biß in der Tod um unß zu erlosen vom Hollenangest und Pein, da Kajarnak diese Worte etliche Mahl gehort hätte, so hat diese Worte Kajarnaks Herze so eingenomen, daß er resolverte der Heilands zu seyn, und er hat bald zugelassen, daß der Heiland gab ihm eine wahre Gefühl von sein sündige Herz und ein wahre Verlangen, daß er wolte der Heiland mehr und mehr in sein Herze kennen lährnen.101 98 Cranz, Historie von Grönland [s. Anm. 4], Bd. 2 (Fortsetzung der Historie von Grönland), Abschnitt II. Lichtenfels 1763, § 5, 110 und Abschnitt IV, Anmerkungen und Zusätze, § 26, 334. 99 Inhalt und Zusammenhang der Begriffe tarniq (soul) und atiq (name, namesake) werden ausführlich erläutert in: Laugrand and Oosten: Inuit Shamanism and Christianity [s. Anm. 79], 111 ff. u. 126 ff. (Chap. 4: Hunters and Prey). Cranz zufolge unterscheiden manche Grönländer zwei Seelen: den Schatten und den Atem des Menschen (Historie von Grönland. Bd. 1, Tl. 1, Buch III, § 36, 257). Auch bei Hawkes ist die Rede von zwei Seelen: spirit und soul. Die erstere ist die Seele, die sich nach dem Tod noch einige Tage in der Nähe aufhält, bevor sie ins Jenseits überwechselt; die letztere besteht in der Vitalität des Körpers, die in Atem und Körperwärme zum Ausdruck kommt und beim Sterben entweicht (The Labrador Eskimo [s. Anm. 86], 136 f.). 100 Cranz, Historie von Grönland [s. Anm. 4], Bd. 1, Tl. 2, Buch V. Neu-Herrnhut 1738, § 2, 491. 101 UA, R.15.K.b.4.a., Drachardt, Diarium von Nain (1771–1773), 28. 07. 1773, 107 f.
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Was während der „Erweckung“ wirklich in Kajarnak vorgegangen ist, lässt sich nicht eruieren, aber auf jeden Fall mussten die Grönländer für die Deutung der neuen Ideen bei den Vorstellungen, die sie bereits hatten, ansetzen. Anscheinend übte das Bild des gekreuzigten Christus, der für die Erlösung der Menschen geopfert wurde, auf die Inuit eine starke Anziehungskraft aus; möglicherweise assoziierten sie es mit dem Initiationsritus ihrer Angekoks, der häufig den symbolischen Tod und die Auferstehung enthielt.102 Die hervorragendsten und weisesten Angekoks mussten sich, um ihre bevorzugte Stellung zu erlangen, sogar mehrfach schweren (symbolischen) Prüfungen unterziehen, wobei sie mit gefesselten Händen und Füßen vom weißen Bären und vom Wallross verschlungen wurden, bevor ihre Seele die Knochen wieder aufsammelte und ihren Körper neu belebte.103 Folgender Eintrag im Tagebuch von Paul Egede illustriert und untermauert diesen Gedanken: (1725) Auf dieser Reise bekam ich nachher mit einem schlimmen Angeckok zu schaffen. „Ich habe gehört“, sagte er, „daß die Vorbeyfahrenden erzählen, es sey in eurem Lande eine Jungfrau gewesen, die einen Sohn hatte, der ein großer Angeckok war, und wunderbare Dinge thun, allerley Krankheiten heilen, auch Todte lebendig machen konte, und daß eure Väter diesen großen Angeckok todt geschlagen haben, und er nachhero lebendig worden, und gen Himmel gefahren sey. Wäre er zu uns gekommen, wir würden ihn geliebt haben und gehorsam gewesen seyn. Solche thörichte Leute sind nicht unter uns. Welche tolle Menschen! denjenigen tödten, der lebendig machen konte! warum tödtete er nicht diese abscheulichen Leute? und kam herüber zu uns, wir würden es besser zu erkennen gewußt haben.“104
Zurück zu Johann Beck, der Beifall von seinen heimkehrenden Kollegen bekam, was die emotional geladene Atmosphäre verstärkte und die Grönländer noch zusätzlich beeindruckte: Indessen kamen die übrigen Brüder von ihren Geschäften zu Hause und fingen dann mit Freuden an, den Heiden den Weg zur Seligkeit noch weiter auszulegen. Einige von ihnen legten die Hände auf den Mund, wie sie zu thun pflegen, wenn sie sich über eine sonderbare Geschichte sehr verwundern; [. . .] es war eine Bewegung unter ihnen, dergleichen wir noch nie gesehen hatten.105
Dass die Brüder die unter den anwesenden Grönländern herrschende Aufregung als ersten Erfolg (im Sinne eines Durchbruchs) deuteten, liegt nahe und ist aufgrund der Enttäuschungen, die sie erlebt hatten, auch verständlich. Allerdings sind die Reaktionen der Grönländer nicht auf eine Rührung des Gewissens oder ein Sündenbewusstsein im Sinne der Herrnhuter zurückzu102
Laugrand and Oosten, Inuit Shamanism and Christianity [s. Anm. 79], 55. Egede, A description of Greenland [s. Anm. 60], 191 f. 104 Paul Egede: Nachrichten von Grönland. Aus einem Tagebuche, geführt von 1721 bis 1788 vom Bischof Paul Egede. Aus dem Dänischen v. Christian Gottlob Prost. Kopenhagen 1790, 36. 105 Cranz, Historie von Grönland [s. Anm. 4], Bd. 1, Tl. 2, Buch V. Neu-Herrnhut 1738, § 2, 491 f. 103
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führen, da sie ihre Bräuche und ihren bisherigen Lebenswandel nicht in Frage stellten. Ihre Idee einer schlechten Aufführung bestand, wie oben bereits erwähnt, vielmehr darin, gegen die Tabus zu verstoßen. Tabus waren Regeln – wie z. B. das nicht Vermischen von Land- und Seetieren und die entsprechende Anwendung getrennter Geräte zur Zerlegung und Zubereitung dieser Beutetiere – welche die Inuit stets zu beachten hatten, um die gute Beziehung zu ihren Geistern nicht zu gefährden. Die Unbeständigkeit ihres Charakters findet Johann Beck denn auch bald bestätigt: Den 18ten (Jun.) besuchten uns wieder sehr viele Süderländer. Die mehresten hatten keine Ohren zu hören. Beym Kajarnak aber sehen wir immer mehr, daß er einen Haken ins Herz bekommen hat, den er wol nicht wieder los werden wird.106
Anfang 1739 herrschte sehr strenge Kälte, so dass die Grönländer wegen des vielen Eises ihrer Nahrungssuche nicht nachgehen konnten. Der Hunger trieb sie zu den Europäern, und es zeigten sich mehr Grönländer bereit, sich von den Brüdern unterrichten zu lassen. Dabei ist von wesentlicher Bedeutung, dass sich die Herrnhuter Brüder, wie die Grönländer selbst bezeugten, in ihrer Sprache nun deutlicher ausdrücken konnten. Während die Brüder früher von ihnen verlangt hätten, dass sie sich den Inhalt desjenigen, was ihnen vorgelesen wurde, merkten, könnten sie nun frei mit ihnen über den Lehrstoff sprechen. Als Johann Beck eines Abends die Angehörigen dreier Inuit-Männer, die von der Jagd noch nicht heimgekehrt waren, mit der Bemerkung tröstete, dass sie wahrscheinlich etwas gefangen hätten, das sie nur mit Mühe nach Hause bringen könnten, und damit Recht behielt (denn sie hatten tatsächlich zwei Seehunde gefangen), sahen sie ihn fortan als Wahrsager an, was seiner Glaubwürdigkeit sehr förderlich war. Je mehr sich Johann Beck in ihren Augen zum Angekok107 entwickelte, umso aufgeschlossener zeigten sie sich für seine Worte. So weit waren sie gekommen, daß sie aus den sichtbaren Geschöpfen einen unsichtbaren Schöpfer erkennen, fürchten und um Nahrung, Kleidung und leibliche Gesundheit anrufen lernten.108
Vom sinnlichen Merkmal – sie konnten die Seehunde nicht nur sehen, sondern auch riechen, fühlen und schmecken – haben die Grönländer auf die Existenz eines unsichtbaren Weltschöpfers, von der Wirkung also auf die (unsichtbare) Ursache, geschlossen. Die Annahme, dass die Grönländer schon vorher über einen Schöpfer nach106
Cranz, Historie von Grönland [s. Anm. 4], Bd. 1, Tl. 2, Buch V. Neu-Herrnhut 1738, § 2,
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Dieser trat bei ihnen als Priester, Prophet und Arzt auf. Cranz, Historie von Grönland [s. Anm. 4], Bd. 1, Tl. 2, Buch V. Neu-Herrnhut 1739, § 3,
504.
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gedacht hätten, wird von Ethnologen in Frage gestellt: Die Passage in der Historie von Grönland, wo ein getaufter Grönländer die kunstvolle Beschaffenheit eines Kajaks mit der eines Vogels vergleicht und seine daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen auf den Ursprung von Menschen, Erde, Meer, Sonne, Mond und Sterne erweitert,109 ist für die Inuit sehr untypisch, nicht ethnographisch belegt und daher auch nicht glaubhaft. Der Inhalt scheint vielmehr die europäischen Denkmuster und die religiöse Prägung des Verfassers widerzuspiegeln, der dem Inuk diese Worte in den Mund gelegt hat.110 Tatsächlich war das Missionsunternehmen für die Auswahl und die Darstellung der Ereignisse richtungweisend, denn die Berichte der Missionare waren zunächst für ihren Auftraggeber, die Unitätsdirektion, gedacht. Darüber hinaus wurde an den Gemeintagen in anderen Missionsgebieten zu gegenseitiger Ermutigung daraus vorgelesen. Die Veröffentlichung der Historie von Grönland diente insbesondere dem Zweck, den infolge der Sichtungszeit geschädigten Ruf der Herrnhuter durch die Hervorhebung ihrer missionarischen Erfolge wiederherzustellen. Diese Faktoren erfordern, dass wir die indirekt übermittelten Aussagen der Inuit in den frühen Herrnhuter Manuskripten auf ihre Vereinbarkeit mit den indigenen Vorstellungen überprüfen. Dass manche Grönländer also den Schöpfer annahmen, weil der Gedanke ihnen plausibel erschien, will nicht heißen, dass sie den Heiland auch gleich akzeptierten. Der Glaube an Jesus setzte eine Anpassung ihres Verhaltens und ein Verzichten auf sog. heidnische Bräuche und Vergnügungen voraus, womit die meisten von ihnen sich nicht abfinden wollten. Darüber hinaus waren sie überzeugt, dass sie nach ihrem Tod zu Torngarsuk kommen könnten, der für alles Nötige sorgen würde. Die Empfänglichkeit Kajarnaks flößte den Brüdern aber Vertrauen ein und bildete ein Gegengewicht zu ihrer Enttäuschung über die vielen Grönländer, die auf ihren traditionellen Werten beharrten. Laut des Diariums soll sich Kajarnak den Inhalt des Evangeliums nach einem Jahr bereits so weit zu Eigen gemacht haben, dass er nicht nur seine Verwandten zur Standhaftigkeit in der Sinnesänderung anhielt, sondern sogar die Brüder korrigierte und ihnen zu richtigen Worten verhalf, wenn sie sich nicht korrekt ausdrückten: Da sahen sie ein, wie gut es gewesen, daß sie in den ersten Jahren sich vorgenommen, mit den Heiden nicht gleich zu Anfang und zur blossen Sprach-Uebung von Göttlichen Dingen zu reden.111
109
Cranz, Historie von Grönland [s. Anm. 4], Bd. 1, Tl. 1, Buch III, § 35, 255 f. Jarich G. Oosten: The Prime Mover and Fear in Inuit Religion. In: Continuity and Identity in Native America: Essays in Honour of Benedikt Hartmann. Ed. by Maarten Jansen [et al.]. Leiden 1988, 71–73. 111 Cranz, Historie von Grönland [s. Anm. 4], Bd. 1, Tl. 2, Buch V. Neu-Herrnhut 1739, § 4, 506. 110
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Kajarnak und seine Familie wurden noch im selben Jahr getauft und damit die vier Erstlinge in Grönland. Er und seine Frau erhielten die christlichen Namen Samuel und Anna. Das Jahr 1740 stellt eine Zäsur dar. Die Missionare änderten ihre Unterrichtsmethode, was mit einer Anpassung der eigenen Denk- und Handlungsweise einherging und einen Umschwung in deren Wirkung auf die Heiden zur Folge haben sollte. Oben wurde bereits darauf hingewiesen, dass sich die Brüder schon 1735 vorgenommen hatten, Jesu Leiden und Sterben zum zentralen Thema ihrer Unterweisung zu machen. Diesen Vorsatz hatten sie „aus Mangel der Einigkeit des Sinnes“ noch nicht in die Praxis umgesetzt, obwohl Zinzendorf selbst in seiner Vorrede zu den Büdingischen Samlungen anmerkt: Die Nothwendigkeit des Todes Jesu [. . .] gab mir einen Aufschluß in die ganze Heilslehre, davon ich an meinem Herzen die erste selige Probe machte [. . .] und an den Herzen meiner lieben Brüder und Mitarbeiter. Und seit 1734 wurde das VersöhnOpfer Jesu unsre eigene und öffentliche und einige Materie, unser Universale wider alles Böse in Lehr und Praxi, und bleibts in Ewigkeit.112
Im Jahre 1736 schrieb Zinzendorf nach Moskau an die zu den Samojeden entsandten Brüder, darunter Andreas Grassmann, dass sie nicht mit der Lehre von der Existenz Gottes anfangen, sondern statt dessen den gekreuzigten Heiland predigen sollten: „Vom Sohn müssen sie unterrichtet werden.“ Methodisch zog Zinzendorf das Gespräch mit einzelnen Heiden öffentlichen Reden vor (obwohl er nicht davon abriet), denn sein Anliegen war es, Erstlinge zu sammeln.113 Cranz weist darauf hin, dass sowohl die Visitation Andreas Grasmanns in Grönland als auch der Besuch Matthäus Stachs in Deutschland für den Wendepunkt ausschlaggebend waren. Der Umstand, dass die Brüder in Grönland nicht länger von Hans Egede beeinflusst wurden, dürfte den Entschluss zusätzlich erleichtert haben. Mit dem Jahr 1740 setzt also der zweite Periodus von Cranz’ Historie an; er kommentiert die Entwicklung wie folgt: [. . .] wer den vorhergehenden Periodum mit Aufmerksamkeit durchgelesen hat, der wird angemerkt haben, daß sie im Unterricht der Heiden, wiewol aus guter Meynung und nach dem Maaß ihrer Erkentnis, mehrentheils eine Methode gebraucht haben, die zwar von vorne her und in thesi die vernünftigste zu seyn scheint; hintennach aber und in praxi zu der wahren Erwekkung der Herzen nicht nur fruchtlos, sondern oft hinderlich und schädlich ausgefallen ist. Dagegen wird man auch bemerkt haben, daß das Evangelium von dem Schöpfer, der Seine gefallene menschliche Geschöpfe zu erretten, Mensch worden und sie mit Seinem eigenen theuren 112 Cranz, Historie von Grönland [s. Anm. 4], Bd. 1, Tl. 2, Buch VI. Neu-Herrnhut 1740, § 2, 517 (Anmerkung). 113 „Instruktion für die zu den Samojeden gesandten Brüder 1736“. In: Nikolaus Ludwig von Zinzendorf. Texte zur Mission. Mit einer Einführung in die Missionstheologie Zinzendorfs. Hg. v. Helmut Bintz. Hamburg 1979, 39 ff.
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Blute und mit Seinem unschuldigem Leiden und Sterben erworben und gewonnen hat, wie ein Feuer des Herrn in eines noch ganz unwissenden Heiden Herz gefahren, seinen harten Sinn erweicht, sein finsteres Gemüth erleuchtet, und sein todtes Herz zum Leben gebracht hat; und das diese einmal so bewährt gefundene Methode, nemlich die simple Erzehlung und Nutzanwendung der Geschichte von Jesu Menschwerdung, verdienstvollen Leben, Leiden und Sterben, eine unfehlbare Wirkung auf der Heiden Herzen gehabt hat.114
Je mehr man aus der Erfahrung gelernt und – wie die Grönländer – von der Wirkung auf die Ursache geschlossen habe, umso mehr hätte man sich befleißigt, Jesus Christus, den Gekreuzigten, zum zentralen Thema der Unterweisung zu machen. Aus einem Brief von Johann Beck (1740) lässt sich entnehmen, dass diese Anpassung der Verkündigungsmethode für die Brüder alles andere als unproblematisch war: [. . .] , aber mein theurer Hertzensbruder, könt ihr es euch wohl fühlen, wie uns manchmahl zu Muthe sein mag, da wir doch von Hertzen gerne diesen armen Grönländer[n] Jesum denn [sic] Sünderfreund und das erwürgte Lamm, das sich hat um unsertwillen schlachten lassen, anpreisen wollten, aber mein theurer Bruder, wo nehmen wir Worte her in ihrer Sprache? Glaubs mir, mein theurer Hertzensbruder, ich schreib es Dir mit Thränen, wir wolten gern von nichts andern reden noch zeugen, als von Jesu von Nazareth, dem Gecreutzigten, hetten sie nur Worte und wir könten die Sprache. Aus dem Grunde aber, so fehlt es uns auf allen Seiten.115
Es fehlten aber nicht nur geeignete Ausdrücke für die abstrakten christlichen Begriffe, sondern darüber hinaus wurden die Brüder erneut mit ihren unzureichenden kommunikativen Fähigkeiten konfrontiert, während sie die großen kulturellen Unterschiede noch zu wenig berücksichtigten: In unserm Diarium sind viele Sachen, die nichts taugen. Was wir aber mit den Heyden geredet, da haben wir die Sache meistens nach den Worten der Grönländer, und nicht nach dem Sinne geschrieben, weil wir es zum Theil nicht verstanden und uns Gewissen gemacht, anders zu setzen als [ihre R]ede klingen.116
David Cranz zufolge, der auf das einschlägige Diarium von 1740 Bezug nimmt, setzten die Brüder gerne ihr Vertrauen auf Erstlinge als Gehilfen und Vermittler, weil sie meinten, dass diese unter ihren Landsleuten mehr als sie selbst ausrichten könnten. Andererseits brachten die mangelnden Sprachkenntnisse der Brüder es mit sich, dass sie bei demjenigen, was sich zwischen den Erstlingen und andern Grönländern abspielte, nicht recht durchblicken und die Situation erst gar nicht kontrollieren konnten. Man fragt sich eben114
Cranz, Historie von Grönland [s. Anm. 4], Bd. 1, Tl. 2, Buch VI. Neu-Herrnhut 1740, § 1,
515. 115 UA, R.15.J.a.6.8., Johann Becks Brief an Leonhard Dober (Ältester der Gemeine des Herrn Jesu), 16. 06. 1740. 116 UA, R.15.J.a.6.8., Johann Becks Brief an Leonhard Dober (Ältester der Gemeine des Herrn Jesu), 16. 06. 1740.
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falls, woher sie wussten, dass die Ausdrücke, welche die Erstlinge vorschlugen, ihren eigenen christlichen Vorstellungen entsprachen. Matthäus Stach schreibt über die neue Lehrmethode 1742 Folgendes in seinem Tagebuch: Den 30. besucht ich Herrn Professor Reuß. Er fragte, wie denn unsre Methode gewesen wäre, den Heiden das Evangelium zu verkündigen. Ich sagts ihm. Er war mit einigen Ausdrücken nicht zufrieden. Ich sagt: ich bin nun selbst nicht mit allem zufrieden. Darauf fragt er, wie ichs denn nun zu machen dächte. Ich sagte: ich will ihnen den Heiland, wie er aus Liebe zu uns ein armer Mensch geworden und am Kreuz sein Blut vergossen zur Bezahlung vor unsre Sünden, anpreisen und sagen, daß sie von diesem seinem Blut ein Gefühl im Herzen kriegen müssen und daß sie dadurch selige Leute werden in Zeit und Ewigkeit. Dagegen hatt er wohl nichts einzuwenden, sagt aber doch, man müsse ihnen mehr von Gott sagen und rechte Begriffe zu machen suchen. Ich sagte: wir haben viel von Gott geredet; wenn ichs aber ansehe, so fehlen uns die Begriffe von Gott selbst. Er ist ein verheerend Feuer, zu dem niemand nahen kann. In Christo aber hat er sich als die ewige Liebe offenbart, und er ist in Christo, daher halte ich davor, daß man ihnen Christum den Gekreuzigten verkündigen soll, und der wird ihnen das Nötige vom Vater kundtun [. . .].117
Also predigten die Herrnhuter Missionare in Grönland von 1740 an des Heilands Leiden, Sterben und Auferstehung, wobei sie den Grönländern erst einmal erklären mussten, dass der Gott, von dem sie bis dahin gehört hätten, eben dieser Jesus sei, den sie ihnen nun anpriesen und dass Jesus (der Heiland) alles Sichtbare gemacht habe (also Schöpfer sei).118 Das Wort „Gott“, das auf Dänisch „Gud“ lautete, hatte schon früher Missverständnisse aufkommen lassen, weil manche Grönländer „Kuut“ verstanden hatten, was bei ihnen „Flüsse“ bedeutet.119 Während des 1751 in Kopenhagen abgehaltenen Kolloquiums, worin er seine Demission aus dem dänischen Missionsdienst erbat, bezeugte Drachardt, dass er für die Unterweisung der Grönländer außer der Bezeichnung „Gud/ Gott“, welche bereits vor seiner Ankunft in Grönland eingeführt worden sei, keine dänischen Wörter verwendet hätte.120 In Labrador hat Christian Drachardt 1765 und 1770 vor den Inuit den Namen „Gott“ auch nicht mehr benutzt. Er sprach nur vom Schöpfer und vom Heiland; darunter verstand er ein und dieselbe Person, nämlich Jesus Christus. Folgende Zitate geben Aufschluss darüber, wie sich Zinzendorf 1740 auf 117 Matthäus Stach [s. Anm. 4], 59. Das Gespräch mit Professor Reuß (Hofprediger) war am 30. 01. 1742 in Kopenhagen. 118 Cranz, Historie von Grönland [s. Anm. 4], Bd. 1, Tl. 2, Buch VI. Neu-Herrnhut 1743, § 2, 560. 119 Cranz, Historie von Grönland [s. Anm. 4], Bd. 2, Buch IX. Lichtenfels 1762, § 4, 993 f. 120 UA, R.15.J.a.3.a.25., Colloquium, welches von dem Herrn Justiz Rath Finkenhagen in des Herrn Pastoris Poul Egede Gegenwart mit dem Missionario Herrn Christian Drachart vor dem Missions-Collegio den 27. Sept. Ao 1751 gehalten worden.
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den Synoden in Gotha und Marienborn gegen die damalige Methode der Heidenbekehrung in Grönland aussprach. Bezüglich der Synode in Gotha (12. bis 20. Juni 1740) heißt es: Von der Grönländer Brüder Diario hat der Herr Graf auf öffentlichem Bettag in Marienborn gesagt, daß kein Wort vom Verdienst Christi drinnen wäre, und er glaubt, es sei wert, daß man’s mit Füßen trete. Sie haben die gottlose Methode, die Leute zu Gott zu bekehren, und wenn sie so gewonnen und gefangen sein, bringen sie die absurde [vernunftwidrige] Kreuz-Lehre nach. Sie kennen das Verdienst Christi nicht.121
Während die Brüder den Grönländern also die Existenz Gottes (als Schöpfer) anhand der rationalen (vernünftigen) Methode erklärten (Ursache → Wirkung: unsichtbarer Schöpfer → sichtbare Geschöpfe), wendeten sie für die Beschreibung des Heilands die empirische Methode (ausmalen, gefühlsbetont) an. Auf der Wintersynode in Marienborn Ende 1740 fügt Zinzendorf u. a. Folgendes hinzu: Es sind zwei falsche Methoden unter den Heiden das Evangelium zu verkündigen. Daß man ihnen zuviel von Gott sagt und nicht vom Lamme und seiner Versöhnung, und das liegt gemeiniglich am Herzen. Daß man ihnen bei der Verkündigung des Evangelii zuerst vom Vater und denn [dann] von seinem Sohn vorsagt. Auf die Weise müssen sie die Dreieinigkeit glauben, ehe man ihnen das Wort von den Wunden des Lammes sagt. Dahero wollen wir hinführo erst den Heiden predigen, daß der Schöpfer aller Dinge, der Gott, den sie von Natur glauben, Mensch geworden und sein Blut für uns vergossen hat. Alsdenn, wenn sie an seinen Tod und Wunden glauben, so sagt man ihnen, daß der Gott einen Vater habe usf. Am besten wär’s, man predigte ihnen in Anfang gar nicht des Heilands Gottheit. Die Determination der Gottheit [der Gedanke, daß er Gott sei] liegt ihnen schon in ihren Herzen. Man sagt ihnen nur von seinem Verdienste und Tode und nennt den Heiland nur bei seinem Namen Jesus.122
Zinzendorf setzt also voraus,123 dass sämtliche Völker eine Vorstellung von einem Wesen haben, das die Welt erschaffen bzw. in Gang gesetzt hat, aber diese Annahme traf zumindest auf die Inuit nicht zu. Allerdings finden wir hier eine Erklärung, warum Cranz, wie oben bereits erwähnt, einen getauften Grönländer aufführte, der diese Auffassung durch sein Zeugnis unterstützte.124 121 „Heidenkatechismus zum Gebrauch für die Boten 1740“. In: Nikolaus Ludwig von Zinzendorf. Texte zur Mission [s. Anm. 113], 62. 122 „Heidenkatechismus zum Gebrauch für die Boten 1740“. In: Nikolaus Ludwig von Zinzendorf. Texte zur Mission [s. Anm. 113], 63. 123 Nach Rom 1, 19. Cranz, Historie von Grönland [s. Anm. 4], Bd. 1, Tl. 1, Buch III, § 36, 256: „Daß Gott sey, ist ihnen offenbar, denn Gott hat es ihnen offenbaret, so man es wahrnimt an den Werken der Schöpfung, wiewol sie aus eigner Schuld in ihrem Dichten eitel und ihr Herz verfinstert worden.“ 124 Cranz, Historie von Grönland [s. Anm. 4], Bd. 1, Tl. 1, Buch III, § 35, 255.
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Merkwürdig ist, dass Drachardt noch während des oben erwähnten Kolloquiums 1751 diese Ansicht verteidigt. Auf Paul Egedes Bemerkung: „Die Grönländer wißen nichts von Gott, darum muß man sie erst überzeugen, daß ein Gott ist“, antwortet er: „Paulus schreibt an die Römer, daß die Heyden wißen, daß ein Gott ist, und daß es in ihrem Herzen geschrieben sey.“125 Dass die Annahme einer universalen Schöpferidee nicht stimmte, musste Drachardt aufgrund des Unterrichts durch Hans Egede und seiner eigenen zwölfjährigen Erfahrung in Grönland doch wissen. Seine Verfahrensweise und Auslegung in Labrador deuten jedenfalls darauf hin. Drachardt wählt seine Worte sehr sorgfältig: „Der Heiland ist der Schöpfer und er ist überall in der Silla.“ Die Zuhilfenahme des indigenen Begriffs „Silla“ stellte für Drachardt kein großes Risiko dar, weil Silla die Welt nicht in Gang gesetzt hatte und außerdem nicht angebetet wurde. Darüber hinaus wusste Drachardt, dass auch Torngarsuk die Welt nicht erschaffen hatte. Gleichwie die Grönländer ein sinnliches Zeichen als Beweis für die Existenz Gottes verlangten, wollten sich die Labrador-Inuit 1765 ein Bild vom gekreuzigten Heiland vor Augen führen. Immer wieder fragen sie Drachardt: „Hast du Ihn gesehen? Wie sieht Er denn aus?“ Darauf kann Drachardt nur antworten: „Ja, in meinem Herzen habe ich Ihn gesehen.“ Drachardt malte ihnen aber gleichzeitig den gekreuzigten Heiland aus, indem er seine Arme ausbreitete, auf die fünf Wunden zeigte und ihnen vorführte, wie er gekreuzigt wurde. Ein andermal fertigte er eine Zeichnung an, die er herumreichte. Er lehrte die Labrador-Inuit die Kennzeichen des gekreuzigten Jesus, die sie sich merken und worüber sie nachdenken sollten. Kurz vor der Abreise der Brüder aus Labrador gestand ein Inuk ihm, dass sie noch nichts weiter wussten als „Schöpfer, Heiland, Blut und Wunden“. Drachardt hatte den gekreuzigten Heiland auf anschauliche, aber schlichte Weise dargestellt und sich von schwärmerischen Vorführungen, welche die Inuit sicherlich mehr beeindruckt hätten, distanziert. Auf den schnellen Erfolg hatte er es sowieso nicht abgesehen, und infolge der kurzen Aufenthaltsdauer in Labrador musste er damit rechnen, dass seine ersten Versuche noch keine große Beständigkeit haben würden. Andererseits war er zuversichtlich, dass die Brüder, genauso wie in Grönland, mit der Zeit auch in Labrador eine Mission gründen würden. Freilich konnte Drachardt ungeachtet seiner Umsicht und Sorgfältigkeit nicht verhindern, dass die Inuit während seiner Abwesenheit das Gelernte den eigenen Traditionen anpassten, wie die folgenden Zitate treffend belegen: Donnerstag, den 5. Sept. 1765: Nach 8 Uhr kamen 12 Kajake von den Zelten. [. . .] Bruder Jens Haven kannte wenig von ihnen, sie hatten aber alle von ihm gehört. Sie erzehleten ihm, daß Bruder Drachard ihnen gelehrt hätte: „Lieber Heiland, sey mir gnädig!“, schlugen sich dabey auf die Brust, und sagten: „Das sagen wir vielmal.“126 125 126
Colloquium (Drachardt) mit Finkenhagen und P. Egede [s. Anm. 120]. Journal der Brüder Hill, Haven, Drachardt, Schloezer [s. Anm. 27], 05. 09. 1765, 151.
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Als während der nächsten Reise (1770) das Missionsschiff mit den Inuit Mikak und Tugluina, die für die Brüder als Lotsen fungiert hatten, in Esquimaux Bay einlief, stellte sich heraus, dass Sekullia Drachardts Gebet auch nach fünf Jahren noch nicht vergessen hatte: [. . .] es kam gleich fille um uns und auch Segulia, unsere lieber Tugluinas Bruder, der auch pretendiert, ein grosse Hexemeister zu seyn, [. . .] Ich (Jens Haven) sagte: „Hier siehest du, das wier deine Bruder und seine Frau zu euch bringt, und habe ihnnen nichtz Leides getan, und ich sage euch alle: Tue ihnen keines Leides, den sie sint unsere Freünte, und wen ihr ihnnen was Bösses tuet, wier wollen es ansehen, als hat ihr es uns getan. Deswegen behandele sie gut.“ Der Segulia rief wie ein rassender Mensch: „Ich wel eug gn[ä]dig sein“, und reptierte es ohnne Ende, und sagte dan auch: „und sey mich auch gnedich.“ Ich sagte: „Sey stelle, ich habe dich Worte zu sagen. [. . .] Du verstet nicht, was du redest. Der, der Himel und Erde geschafen hat, und alles, was du siehet und höert, und dich und mich, und uns allen hat lassen in Muterleibe werden, der allein kann gnädich seyn, und der alleine kan mich und dich gnädich seyn, und der ist mein Beschiötzer. Wen du ihm welst kennen lernen, dan wil er dich auch gnädich seyn, daher, wen du betten wil, so sage: ‚Herre, Herre, sey mich gnädich om deine Wunden willen.‘ Das verstest du wohl ietz nicht, was das sagen wel, aber der Herr im Himel wert dich schion verstehen, und du kann es lernnen, was das ist, mit der Seit.“127
Sekullia, der als Angekok gerne den Zauberkünstler herauskehrte, um seine Landsleute zu beeindrucken, hat sich das christliche Gebet als magische Formel angeeignet und solchermaßen modifiziert, dass es seinen Bedürfnissen gerecht wird. Möglicherweise verstand er sich sogar selber als „Heiland“. In dieser Weise wandten die Inuit, allen voran ihre Angekoks, christliche Gegenstände, Gebete und Hymnen für die eigenen Zwecke an und erprobten sie auf ihre Wirksamkeit.128 6. Das Lamm Gottes Zum Schluss wollen wir anhand eines Aufsatzes von Inge Kleivan kurz auf den Ausdruck „Lamm“, den Johann Beck in seinem Brief vom 16. Juni 1740 und Zinzendorf auf der Wintersynode in Marienborn verwendeten (s. o.), eingehen. Mit dem Beginn der sog. Sichtungszeit (ca. 1743–1749) rückte in Marienborn und Herrnhaag im Rahmen des Blut- und Wundenkults das Lamm als Symbol für Jesu Opfertod ins Zentrum der Liturgie und Frömmigkeit. Diese Entwicklung wirkte sich zeitweilig ebenfalls auf die Verkündigungspraxis in den Missionsgebieten aus. Für den Unterricht gab es u. a. ein Textbüchlein mit dem Titel Das Lamm Gottes, das für jeden Tag des Jahres einen kurzen 127 128
UA, R.15.K.a.5.5., J. Havens Rekognoszierungsreise, 01. 08. 1770, 338. Laugrand and Oosten, Inuit Shamanism and Christianity [s. Anm. 79], 62.
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Spruch „von der wahren Gottheit und Menschheit Jesu Christi und Seinem Mittler-Amt“ enthielt, welche sich die zu Bekehrenden leicht merken konnten und die zu Fragen anregen sollten. Obwohl der Ausdruck „Lamm“ in Cranz’ Historie schon 1740 begegnet, wurde das kleine Textbuch erst 1745 von den Brüdern ins Grönländische übersetzt.129 Die Tatsache, dass Schafe in der Arktis nicht heimisch sind, hat nicht nur die populäre Dichtung, sondern auch manche wissenschaftliche Abhandlung dem verlockenden Mythus, Hans Egede hätte „das Lamm Gottes“ durch den Ausdruck „den Seehund Gottes“ ersetzt, anheim fallen lassen. Es wird sogar behauptet, dass in den Eskimo-Übersetzungen der Bibel Schafe generell durch Seehunde ersetzt wurden. Um diesen Mythus zu widerlegen, hat Inge Kleivan die grönländischen Bibelübersetzungen des Matthäus Evangeliums von 1744 bis 1961 hinsichtlich der Übersetzung von Tiernamen erforscht und miteinander verglichen:130 Zwar hatte der Seehund, der den Menschen Nahrung und Kleidung verschafft, für die Grönländer eine ähnliche Bedeutung wie das Schaf für die Juden, aber ein Element aus der orientalischen Hirtenkultur der Bibel lässt sich nicht ohne weiteres in eine von der Jagd geprägte Kultur übertragen. Im Zusammenhang mit dem „guten Hirten“ konnte von Seehunden doch unmöglich die Rede sein! Die Missionare versuchten ihre schwierige Aufgabe mittels mehrerer Methoden zu bewältigen: Zur Bezeichnung der in Grönland unbekannten Tiere fügten sie (z. T. nicht sonderlich gelungene) Erläuterungen in Fußnoten hinzu (z. B. Paul Egede 1744 u. 1766), oder sie gebrauchten Lehnwörter aus der norwegischen, dänischen und deutschen131 Sprache des 18. Jahrhundert, deren Zahl immerhin beschränkt blieb. Im Laufe der Zeit ersetzten grönländische Umschreibungen manche dieser Lehnwörter. In sämtlichen grönländischen Bibelübersetzungen wurde das Wort „Schaf“ durch „sava“, das sich vom norwegischen „sau“ (Schaf) herleitet, übersetzt.132 Die Egedes stammten aus Norwegen, aber benutzten für ihre Übersetzungsarbeit eine dänische Bibel, weswegen es auf den ersten Blick unlogisch erscheint, dass ein norwegisches Wort herangezogen wurde. Der Grund dafür dürfte darin liegen, dass Grönländer, die mit norwegischen Missionaren und Kaufleuten in Kontakt standen, die Schafe (und andere Haustiere) nach Grönland überführen ließen, selbst schon dabei waren, den Namen in die Landessprache
129
Cranz, Historie von Grönland [s. Anm. 4], Bd. 1, Tl. 2, Buch VI. Neu-Herrnhut 1745, § 6,
611 f. 130 Inge Kleivan: ‚Lamb of God‘ = ‚Seal of God‘? Some Semantic Problems in Translating the Animal Names of the New Testament into Greenlandic. In: Papers from the Fourth Scandinavian Conference of Linguistics. Ed. by Kirsten Gregersen [et al.]. Odense 1978, 339–345. Kleivan basiert sich auf dem Matthäus Evangelium, weil es das erste Buch des NT ist, worin den neuen Lesern die ihnen unbekannten Tiere vorgestellt werden müssen. 131 I. B. a. die Herrnhuter. 132 Kleivan, Lamb of God [s. Anm. 130], 340, 342.
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aufzunehmen. Die Herrnhuter Missionare, die sich auf ihre grönländischen Sprachkenntnisse stützten, brachten das norwegische Lehnwort nach Labrador.133 7. Zusammenfassung und Ausblick Die vorangehende Darstellung weist auf, dass sämtliche Versuche der Herrnhuter Brüder, den Grönländern einen Begriff von Gott als Schöpfer zu vermitteln, fehlschlugen, bis die Eingeborenen eines Tages aus eigenem Antrieb und in einer Situation, die durch eine zufällige Begebenheit hervorgerufen wurde, seine (mögliche) Existenz aus sichtbaren Zeichen (Seehunden) ableiteten.134 Nachdem die Grönländer den Schöpfer angenommen hatten, zeigten sich die meisten von ihnen für den Heiland als Erlöser/Versöhner nicht mehr aufgeschlossen, weil sie sich keiner Vergehen im Sinne von „Sünden“ bewusst waren und nach ihrem Dafürhalten der Geist Torngarsuk ihre Interessen im Jenseits bereits ausreichend vertrat. Grönland 1733–1740 a. Gott = Schöpfer (transzendental) ↓ a≠b b. Jesus = Heiland (menschlich) ↔ c. Torngarsuk Zinzendorf, der sich schon immer als Christozentriker verstanden hatte und außerdem der Meinung war, dass man den Heiden nicht zumuten dürfe, gleich an die Dreifaltigkeit zu glauben, entwickelte Anfang der 1740er Jahre eine Trinitätslehre, in der der Vatergott hinter seinem Sohn als Schöpfer und Erlöser zurücktritt. Jesu Leiden, sein Kreuzestod und seine Versöhnungslehre, lebendig dargestellt, bildeten den Hauptgegenstand der Mission, während der Heilige Geist, gleichsam als Mutter der kleinen Familie, die Sendboten zur Verkündigung des Schöpfer-Heilands und seiner Lehre anregte.135 Über Drachardts Unterweisung in Grönland gibt es keine Einzelheiten in Deutsch, da er bis 1751 der dänisch-lutherischen Mission angehörte und in Godthaab tätig war. In Labrador (1765) führte Drachardt den Inuit den gekreuzigten Heiland mittels verschiedener analoger Techniken vor Augen und verknüpfte ihn sofort mit dem Begriff Schöpfer als ein und dieselbe Identität. Diese Verfahrensweise schloss die Möglichkeit, lediglich einen der bei133
Kleivan, Lamb of God [s. Anm. 130], 342. Cranz, Historie von Grönland [s. Anm. 4], Bd. 1, Tl. 2, Buch V. Neu-Herrnhut 1739, § 2, 502 und § 3, 504. 135 Nikolaus Ludwig von Zinzendorf. Texte zur Mission [s. Anm. 113], 60, 63. 134
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den Begriffe zu akzeptieren und den andern zurückzuweisen, aus: Es war entweder alles oder nichts. Indem er die Inuit darauf hinwies, dass ihr Torngarsuk kein Schöpfer sei, und dadurch, dass er die Ideen Schöpfer und Silla gewissenhaft nuancierte, gerieten die verschiedenen Vorstellungen nicht miteinander in Konkurrenz, und Drachardt konnte den Schöpfer-Heiland gemäß Zinzendorfs Instruktion für die Mission unter den Heiden als neuen und einzigartigen Begriff präsentieren. Labrador 1765, 1770 a. Heiland = Schöpfer (befindet sich in der Silla) ↑↓ a=b b. Jesus Christus = Heiland (menschlich) Während also Zinzendorfs Herzensreligion mit ihrer Beschränkung auf das Evangelium gerade wegen der einstweiligen Ausklammerung des Vatergotts für die Unterweisung der Inuit in Labrador attraktiv erschien, beschloss die Unitätsdirektion in den Jahren nach Zinzendorfs Tod (Synoden: 1764, 1769 und 1775) eine Rückbesinnung auf die Heilige Schrift als einzige Grundlage für Glaubenslehre und Liturgie. Die „barocke Wundenfrömmigkeit“ der Sichtungszeit hatte dem Ruf der Brüderunität großen Schaden zugefügt, und nun wollte sich die Unitätsleitung wieder der traditionellen Theologie und den Landeskirchen annähern. Sie erneuerte das Bekenntnis zur Augsburger Konfession und rief zum Bibelstudium auf. Im Vergleich mit dem zinzendorfschen Christozentrismus wurde eine stärkere Ausgeglichenheit der Trinität angestrebt, wobei vor allem „dem Vaternamen Gottes mehr Gewicht gegeben werden sollte“. Zinzendorfs Kreuzestheologie wurde beibehalten, aber „diese müsse vor allem gelebt werden“.136 Gemäß diesen Anordnungen der Unitätsdirektion lehrte Drachardt die Inuit ab der Gründung von Nain 1771 wieder Katechismusinhalte, wie die Zehn Gebote, anhand von Luthers Kleinem Katechismus. Am 19. September 1771 schreibt er Folgendes in seinem Tagebuch: Den 19. gieng ich Morgen und Aben wieder über Land und redete über diese Worte: „Gott ist im Fleish ershienet, daß er das Fleish durch Fleish erwarb und seine Geshöffe nicht alles verdarb.“ Bei diese Gelegenheit fieng ich an, das Wort Gott unter die Esquimouxer bekant zu machen, aber sie kann das Wort Gott nicht anders pronuntieren als wie die Grondländer: gub, gubben, gudim, gudib, godäch etc.137
Da jedoch nicht die orthodoxe Lehre, sondern das Gefühl für die wahre Bekehrung des Einzelnen ausschlaggebend sein sollte, bediente sich Drachardt 136 Dietrich Meyer: Zinzendorf und die Herrnhuter Brüdergemeine 1700–2000. Göttingen 2000, 66 f. 137 Drachardt, Diarium von Nain (1771–1773) [s. Anm. 86 u. 101], 1771, 7.
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ebenfalls der Herzenstheologie. Zwar musste darin der Schöpfer-Heiland, der die Bedürfnisse der Inuit sowohl im Diesseits als im Jenseits abdeckte, dem Vatergott, welcher die Rolle des Schöpfers zurückerlangt, weichen. Durch die Trennung der beiden Funktionen – der Heiland Jesus ist nicht mehr zugleich der Schöpfer – macht Torngarsuk dem Heiland erneut Konkurrenz. Damit die Inuit den Heiland annahmen, musste Drachardt sie zuerst davon überzeugen, dass ihr Torngarsuk kein guter, sondern ein schlechter Geist ist, denn aus ihrer Sicht brauchten sie den Heiland ja sonst nicht, und Drachardt wollte seinerseits verhindern, dass die Inuit den Heiland einfach in ihre Religion integrierten (Synkretismus): Den 5. (Nov. 1772). Da ich (Drachardt) heute gieng in alle Zelte und redete vom Heiland, war in eine Zelt ein Mand, er schriede: „Mein Torngak“ – das ist ihre familiair Geist, den sie von ihre Gott Tongarsok gekriegt habe, ihre Oracul und ein Wahrsagergeist – „sagt mir nicht, daß es wahr ist.“ Ich anwortede ihm: „Dein Torngak ist ein bose Geist wie Tongarsok.“ Seine alte Mutter fieng an: „Tongarsok ist gut, ich wil zu ihm.“ (Drachardt:) „Wolt du da, wen du stirb, daß deine Seele soll unten in die Holle kommen?“ Die alte Weib: „Meine Mans Seele ist unten und ich wil zu meiner Mand.“ (Drachardt:) „Wie du wolt und wie du glaubt, so geshiehe es. Aber wen du wolt es horen, so will ich dich etwas erzehlen von Tongarsok.“ Die alte Weib: „Ja, erzehl unß etwas von ihm.“ (Drachardt:) „Du hat es zuvor gehort, daß Gott, der Himmel, Erde und alles geshaffen hat, er hat auch Tongarsok geshaffen, den Gott hat die Geister auch geshaffen und die wird Engle genant. Die meiste sind noch gute Engle, aber viele sind bose und wird genant Tongarsuit: Sathaner, Teufler. Im Anfang war Tongarsok im Himmel und war ein gute Engel, aber da er [fieng an, unsere Brüdre zu verklagen Tag und Nacht vor unser Gott – durchgestrichen] ist nicht in der Warheit gestanden, darum ist er vom Himmel niedergestosen auf die Erde, und nun verführt er alle Menshen und gib sie viele bose Gedanchen. Alle eure mordishe, tiebachtige und hurachtige Gedanchen, sie komen von ihm.“ Die alte Weib: „Das wol ich nicht lährnen.“ [Drachardt:] „So laß es bleiben, aber ist keine hier im Zelte, die an der Heiland glauben wolt?“ 2 Weibsleute anwortede: „Ja, wir wollen vom Heiland horen.“138
Im Jahre 1773 wollte Baron Schuldham als Gouverneur von Neufundland in Erfahrung bringen, wie die Herrnhuter mit ihrem Missionswerk unter den Inuit vorankamen und, um dieses herauszufinden, entsandte er Leutnant Curtis nach Labrador. Dieser sah, wie im Gemeindesaal der Herrnhuter in Nain Inuit Familien in tiefer Frömmigkeit versunken beteten und Hymnen sangen. Er war äußerst überrascht, dass die Missionare mit der Christianisierung der Inuit innerhalb weniger Jahre bereits so große Fortschritte gemacht hatten. Die Brüder mussten ihm jedoch gestehen, dass sie mehr Zeit brauchten und dass dasjenige, was er zu beobachten meinte, nicht der Realität entsprach. Die Inuit hätten Torngarsuk keineswegs aufgegeben, sondern Jesus in ihre Geis138
Drachardt, Diarium von Nain (1771–1773) [s. Anm. 86 u. 101], 1772, 67–69.
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terwelt integriert. Häufig sei nicht einmal klar, ob es sich in ihren Gebeten und Danksagungen um Torngarsuk oder Jesus handle.139 Ähnliches muss in Grönland der Fall gewesen sein, wo die ersten herrnhutischen Missionare, welche mit der Weltanschauung und den Bräuchen der indigenen Bevölkerung noch viel weniger vertraut waren, die emotionale, von Tränen begleitete Ergriffenheit der Inuit (von 1738 an) als Erweckung deuteten. Immerhin konnten sie selbst feststellen, dass viele sog. erweckte Grönländer sich hin und her gezogen fühlten und in ihrer Abwesenheit bald rückfällig wurden. Inuit, die sich für die Evangelisierung aufgeschlossen zeigten, mussten die neuen christlichen Ideen irgendwie mit ihren traditionellen Vorstellungen in Einklang bringen, bevor sie sie in ihr begriffliches Gefüge (conceptual map) integrieren konnten. Darum ließ sich eine Verschmelzung der eigenen mit den christlichen Vorstellungen nicht vermeiden, wie sehr sich die Missionare auch darum bemühten. Im Bewusstsein der Inuit konnte der Heiland wohl nichts anderes sein als ein mächtiger Angekok, der, wie sie aus der Geschichte von der Aufweckung des Lazarus gelernt hatten,140 sogar Tote zum Leben erwecken konnte. Dazu waren ihre herkömmlichen Schamanen noch nicht fähig gewesen. Erkenntnisse wie diese legen die Vermutung nahe, dass sich die Inuit erst nach längerer Zeit und ganz allmählich dazu bewegen ließen, ihren traditionellen Geistern abzuschwören. Die handgeschriebenen Diarien der frühen Missionare in Labrador enthalten neben Informationen zur Mythologie der Inuit auch ausführliche Augenzeugenberichte über indigene religiöse Bräuche und Verhaltensweisen. Um die religiösen Traditionen der Labrador-Inuit zu rekonstruieren, wäre eine Edition der deutschen Primärquellen, zusammen mit einer sorgfältigen Übersetzung ins moderne Englisch, vonnöten. Dabei sollten ebenfalls die Übersetzungen aus dem 18. und 19. Jahrhundert, die damals von den Herrnhutern für ihre englischen Amtsbrüder angefertigt wurden, herangezogen werden. Als Ansatzpunkt für die Edition wären diese nicht geeignet, weil sie die deutschen Manuskripte häufig paraphrasieren, zusammenfassen und interpretieren. Sie enthalten jedoch wichtige Kommentare, die zu einem besseren Verständnis der Inhalte beitragen können.141 Anhand einer solchen deutsch/englischen Edition, die einer breiteren (wissenschaftlichen) Öffentlichkeit zugänglich wäre, könnte ebenfalls der Übergang vom Schamanismus zum Christentum verfolgt und erforscht werden; 139
Sabathy-Judd, Winning Souls [s. Anm. 21], 138. Cranz, Historie von Grönland [s. Anm. 4], Bd. 1, Tl. 2, Buch VI. Neu-Herrnhut 1743, § 2, 561. Drachardt hält diese Rede von der Aufweckung des Lazarus vor den Grönländern am Grab ihres getauften Landesgenossen Martin. 141 Hans Rollmann: Inuit Shamanism and the Moravian Missionaries of Labrador: A Textual Agenda for the Study of Native Inuit Religion. In: Études/Inuit/Studies 8, 2, 1984, 132. 140
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die alten Diarien ermöglichen einen Einblick in die Entwicklungsstufen dieses Prozesses aus der Perspektive der Brüder. Mithilfe der heute vorliegenden anthropologischen Studien über die Christianisierung der Inuit in benachbarten Regionen der Ostarktis im 19. und 20. Jahrhundert142 könnte eine Deutung aus der Sicht der Inuit versucht werden.
142 U. a.: Rasmussen, Intellectual Culture of the Iglulik Eskimos [s. Anm. 95]; Frédéric Laugrand, Jarich Oosten and François Trudel: Apostle to the Inuit. The Journals and Ethnographic Notes of Edmund James Peck. The Baffin Years: 1894–1905. Toronto 2006; Frédéric Laugrand: Mourir et renaître: La réception du christianisme par les Inuit de l’Arctique de l’Est (1890–1940). Quebec City 2002.
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THOMAS RUHLAND
„Ein paar Jahr muß Tranquebar und Coromandel wol Serieus das Object seyn“ – *Südasien als pietistisches Konkurrenzfeld*0 Das voranstehende Zitat stammt aus einem Brief, den Graf Nikolaus Ludwig von Zinzendorf am 27. Februar 1759 an Graf Adam Gottlob von Moltke, den Präsidenten der dänischen Asiatischen Handelskompanie, verfasste.1 Es verdeutlicht die Sichtweise der Herrnhuter Brüdergemeine, dass Tranquebar der maßgebliche Wirkungsort ihrer zu diesem Zeitpunkt bereits rechtlich verankerten Südasienmission werden sollte. Von dort aus wollten die Herrnhuter eine weitere Niederlassung auf den kurz zuvor durch die dänische Handelskompanie erstmals in Besitz genommenen Nikobarischen Inseln gründen. So etablierten die Herrnhuter 1760 in Tranquebar im Einklang mit ihren Privilegien eine neue Ortsgemeine, den Brüdergarten, als organisatorisches und logistisches Zentrum ihrer Aktivitäten in Südasien. Zu diesem Zeitpunkt war die kleine Kolonialstadt an der ostindischen Koromandelküste, mit Sitz des dänischen Gouverneurs das Zentrum der dänischen Aktivitäten in Asien, schon seit über 50 Jahren der Ausgangspunkt der ersten organisierten protestantischen Missionsunternehmung – der Dänisch-Englisch-Halleschen Mission, welche August Hermann Francke seit 1706 von Halle aus organisierte und dirigierte, ab 1727 gefolgt von seinem Sohn und Nachfolger Gotthilf August Francke. Bei Letzterem löste die Ansiedlung der Herrnhuter in Tranquebar schärfsten Protest aus, der in dem Versuch gipfelte, die dortigen Akti-
* Dieser Beitrag ist die überarbeitete Fassung eines Vortrages gehalten auf der Tagung: „Wo gingt ihr hin, wo kamt ihr her, ihr grünenden Gebeine?“ – Nachleben und Nachwirken Nikolaus Ludwig von Zinzendorfs (1700–1760) im 18. und 19. Jahrhundert, (Halle 25.-27. November 2010). Der Autor dankt PD Dr. Christian Soboth vom Interdisziplinären Zentrum für Pietismusforschung und Dr. Rüdiger Kröger, dem Archivar der Evangelischen Brüderunität Herrnhut, für die Möglichkeit, seine Forschungsergebnisse vorzustellen. Den TeilnehmerInnen der Konferenz, vor allem Dr. Otto Teigeler und Dr. Arthur Manukyan, sei an dieser Stelle für anregende Gespräche und ihre wertvollen Hinweise gedankt. Vor allem gilt ein besonderer Dank meinen Kollegen Dr. Claus Veltmann, Dorothea Hornemann und Metta Scholz für ihre grundlegenden Anmerkungen zu früheren Versionen dieses Textes. 1 N. L. v. Zinzendorf an G. A. v. Moltke, 27. Feb. 1759, Unitätsarchiv Herrnhut (im Folgenden: UA), R.15.T.a.1.25.
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vitäten der Herrnhuter zu beenden oder deren Aktionsradius zumindest auf die Nikobarischen Inseln zu begrenzen. In den letzten Jahren hat die Beschäftigung mit der Missionsgeschichte als Teil der Global- und Kulturgeschichte sowie im Zusammenhang mit der Erforschung von Wissenstransfer und Inkulturationsvorgängen die DänischEnglisch-Hallesche Mission und die weltweite Mission der Herrnhuter Brüdergemeine im 18. Jahrhundert von unterschiedlichen Blickpunkten her in das Zentrum der Forschung gerückt.2 Die besonders für den hallischen Pietismus bedeutende Frage der Abgrenzung gegenüber dem herrnhutischen Pietismus oder, um es zuzuspitzen, der innerpietistischen Konkurrenz und deren Auswirkungen auf die protestantische Mission wurde zumindest im Hinblick auf Südasien jedoch noch nicht thematisiert.3 Ebenso wenig erfolgte vor diesem Hintergrund eine Infragestellung der missionsgeschichtlichen Bewertung der Herrnhuter Südasienmission, um sie im Feld kulturhistorischer Forschung nutzbar zu machen. In der Literatur wird die hier als Herrnhuter Südasienmission bezeichnete Unternehmung angesichts der 22 Herrnhuter, die sich zwischen 1768 und 1787 auf dieser Inselgruppe aufhielten, meist „Nikobaren-Mission“ genannt.4 Der Terminus einer Herrnhuter Nikobaren-Mission steht aber dem älteren der hallischen Tranquebarmission gegenüber, für welchen sich in den letzten Jahren die Bezeichnung Dänisch-Englisch-Hallesche Mission5 durchgesetzt 2 Für einen Überblick mit weiterer Literatur vgl. Rebekka Habermas: Mission im 19. Jahrhundert – Globale Netze des Religiösen. In: HZ 287, 2008, 3, 629–679. Speziell für den Bereich der Mission in Indien vgl. Heike Liebau: „Alle Dinge, die zu wissen nöthig sind“. Religiös-soziale Übersetzungsprozesse im kolonialen Indien. In: GG 38, 2012, 2, 243–271; Ulrike Gleixner: Mäzeninnen im „Reich Gottes“. Frauen hohen Standes im Netzwerk der protestantischen Indienmission im 18. Jahrhundert. In: L’Homme. Z. F.G 23, 2012, 2, 13–31; Mission und Forschung: Translokale Wissensproduktion zwischen Indien und Europa im 18. und 19. Jahrhundert. Hg v. Heike Liebau [u. a.]. Halle/Saale 2010; Anne-Charlott Trepp: Von der Missionierung der Seelen zur Erforschung der Natur. Die Dänisch-Hallesche Südindienmission im ausgehenden 18. Jh. In: GG 36, 2010, 2, 231–256; Halle and the Beginning of Protestant Christianity in India. Hg. v. Andreas Gross [u. a.]. 3 Bde. Halle/Saale 2006. 3 Der instruktive Beitrag von Hans Schneider: Die „zürnenden Mutterkinder!“ Der Konflikt zwischen Halle und Herrnhut. In: PuN 29, 2003, 37–67, behandelt nicht die Spannungen im Missionsfeld. Ohne vergleichende Betrachtung des südasiatischen Missionsfeldes sind auch die beiden Beiträge zur Grundstruktur der Mission der Brüdergemeine und des hallischen Pietismus von Hermann Wellenreuther: Pietismus und Mission. Vom 17. bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In: Geschichte des Pietismus. Bd. 4: Glaubenswelt und Lebenswelten. Hg. v. Hartmut Lehmann. Göttingen 2004, 166–193 u. Peter Vogt: Die Mission der Herrnhuter Brüdergemeine und ihre Bedeutung für den Neubeginn der protestantischen Mission am Ende des 18. Jahrhunderts. In: PuN 35, 2009, 204–237. 4 Zum prominenten Gebrauch des Begriffs einer Herrnhuter „Nikobaren-Mission“ vgl. HansWalter Gensichen: Missionsgeschichte der neueren Zeit. In: Die Kirche in ihrer Geschichte. Hg. v. Kurt Dietrich Schmidt u. Ernst Wolf. Bd. 4. Lieferung T. Göttingen 1961, T 18 und ders.: Art. „Asien“. In: TRE 4, 1979, 173–195, hier 185. 5 Vgl. Andreas Gross: Preface. In: Halle and the Beginning [s. Anm. 2] 1: The Danish-Halle and the English-Halle Mission, xxvi.
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hat. Beide Benennungen transportieren Vorstellungen von einem „eigentliche[n] Ziel“,6 bzw. „dem Ort ihrer eigentlichen Bestimmung“7 dieser beiden Missionen, verweisen in dieser lokalen Ausdifferenzierung implizit aber immer auf den innerpietistischen Konflikt zwischen Herrnhut und Halle.8 Deshalb soll die hier durchscheinende und bis heute fortgeschriebene Selbstwahrnehmung und Eigengeschichtsschreibung protestantischer Missionsgemeinschaften durch eine erneute Sichtung der Quellen hinterfragt werden.9 So wird im Weiteren die zeitgenössische Auseinandersetzung über die Frage 6 Arno Lehmann: Es begann in Tranquebar. Geschichte der ersten evangelischen Kirche in Indien. Berlin ²1956, 281, ebenso schon früher Adolf Schulze: Abriß einer Geschichte der Brüdermission. Mit einem Anhang enthaltend eine ausführliche Bibliographie zur Geschichte der Brüdermission. Herrnhut 1901, 120, mit einer ansonsten sehr anderen Wertung der Herrnhuter Aktivitäten in Südasien, auf die Lehmann aber nicht zurückgreift. 7 Hermann Römer: Geschichte der Brüdermission auf den Nikobaren und des „Brüdergartens“ bei Trankebar auf Grunde des handschriftlichen Materials im Unitäts=Archiv zu Herrnhut. Herrnhut 1921, 8. 8 Auch die neueste, umfassend quellengesättigte Darstellung zur Dänisch-Englisch-Halleschen Mission von Heike Liebau übernimmt diese Lokalisierung der Missionsabsichten. Vgl. Heike Liebau: Die indischen Mitarbeiter der Tranquebarmission (1706–1845): Katecheten, Schulmeister, Übersetzer. Tübingen 2008, 276 f. Vor allem durch Lehmanns maßgebliche Darstellung zum Beginn der protestantischen Mission in Indien ist in der Historiographie die Vorstellung einflussreich und traditionsbildend geworden, dass die Nikobarischen Inseln der ausschließliche Bestimmungs- und Wirkungsort der Herrnhuter Südasienmission gewesen wären und somit deren Aktivitäten in Tranquebar ein Eindringen, ein „Unerfreuliches Zwischenspiel“, so seine Kapitelüberschrift (vgl. Lehmann, Es begann [s. Anm. 6], 281–290). Vgl. ebenso Anders Nørgaard: Mission und Obrigkeit: Die Dänisch-hallische Mission in Tranquebar 1706–1845. Gütersloh 1988, 178–182. Lehmann, vor Antritt seines Lehrstuhls für Missionswissenschaft in Halle selbst Missionar der Leipziger Mission in Tranquebar, stützt sich in seiner Interpretation wiederum fast ausschließlich auf die Herrnhuter Historiker Hermann Römer und Karl Müller. Römer bietet die bis jetzt maßgebliche und umfassendste Darstellung der Südasienmission der Herrnhuter mit umfänglichen Quellenbelegen, ausschließlich aus dem Unitätsarchiv Herrnhut, aber leider ohne Angabe der Signaturen. Für ihn ist der Aktionsradius der Herrnhuter Südasienmission zwar der gesamte indische Subkontinent, zu Beginn seiner Darstellung stellt er zur königlichen Konzession für die Herrnhuter jedoch zweideutig fest: „So war es sicherlich die Meinung des Königs, daß diese Freiheit nur für die Nikobarischen Inseln gelten solle, nicht aber für Tranquebar“ (Römer, Geschichte [s. Anm. 7], 7 [Hervorhebung d. Vf.]). Müller wiederum baut fast ausschließlich auf Römer auf, vgl. Karl Müller: 200 Jahre Brüdermission. Bd. I: Das erste Missionsjahrhundert. Herrnhut 1931, 253–269. Die einzigen neueren Darstellungen auf Grundlage der Quellen sind Martin Krieger: Vom „Brüdergarten“ zu den Nikobaren. Die Herrnhuter Brüder in Südasien. In: Der Indische Ozean in historischer Perspektive. Hg. v. Stephan Conermann. Hamburg 1998, 209– 244 und Thomas Ruhland: The Moravian Brethren and the Danish-Halle Mission in Tranquebar – The „Garden of the Brothers“ at the Centre of a European Conflict. In: Halle and the Beginning [s. Anm. 2], 2: Christian Mission in the Indian Context, 743–767. 9 Römer, Geschichte [s. Anm. 7]; Müller, 200 Jahre [s. Anm. 8] und, in seiner unkritischen Übernahme, auch Lehmann, Es begann [s. Anm. 6], argumentieren vor dem Hintergrund der Missionskonzepte des frühen 20. Jahrhunderts und ignorieren die tieferen Ursachen des Konfliktes zwischen hallischem und herrnhutischem Pietismus und deren Auswirkung auf den Bereich der Mission. Römer kommt zu der Beurteilung: „Man kann sehr wohl verstehen, daß die halleschen Missionare bei dieser Brüderniederlassung schwere Bedenken hegten, wie heut zu Tage die Brü-
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des Bestimmungsortes der Herrnhuter in Südasien und ihrer entsprechenden rechtlichen Privilegien thematisiert. Das nicht nur vor dem Hintergrund, dass von den über 90 Mitgliedern der Herrnhuter Südasienmission zwischen 1760 und 1803 nur ein Viertel zu den Nikobarischen Inseln reiste, der Rest hingegen immer im Brüdergarten oder in anderen Orten Indiens lebte.10 Sondern vor allem, weil der Konflikt um den „eigentlichen“ Niederlassungsort schon vor der Aussendung der ersten Herrnhuter 1759 begann und einen bisher wenig untersuchten Aspekt der Person Gotthilf August Franckes „als Mittelpunkt [. . .] [des, d. Vf.] internationalen Kommunikationsnetz[es] des hallischen Pietismus“ beleuchten kann.11 Dieser Beitrag versteht sich somit ausdrücklich nicht als eine immer noch ausstehende neue Darstellung der Herrnhuter Südasienmission, er versucht vielmehr, deren Etablierung vor dem Hintergrund der Konkurrenz zwischen herrnhutischem und hallischem Pietismus zu verorten. Nach der Darstellung der Umstände die zur Einladung der Herrnhuter führten, werden die Bedeutung Asiens als Missionsziel für diese untersucht sowie die Verhandlungen um die Herrnhuter Südasienmission ab 1758 dargelegt. Den Abschluss bildet eine Untersuchung der Interventionen Gotthilf August Franckes, die Herrnhuter auf die Nikobarischen Inseln zu beschränken, gefolgt von einer Analyse der maßgeblichen Quelle, nach welcher die Herrnhuter Südasienmission als intendiertes Konkurrenzunternehmen zur Dänisch-Englisch-Halleschen Mission interpretiert wird. 1. Das Angebot der dänischen Asiatischen Handelskompanie Im Januar 1758 unterbreitete Zinzendorf dem dänischen König das Angebot, durch die Ansiedlung von Herrnhutern bei der Kultivierung von Island Hilfe zu leisten.12 Mit Brief vom 17. April lehnte Graf von Moltke, als Oberdermissionare sie hegen würden, wenn irgendwo mitten in eines ihrer alten Missionsgebiete angelsächsische Methodisten eine Gemeinde setzten“ (Römer, Geschichte [s. Anm. 7], 15). 10 Zu Problematik der Zählung der Mitglieder der Herrnhuter Südasienmission vgl. Ruhland, Moravian Brethren [s. Anm. 8], 759 f. Der Auflösungsbeschluss der Herrnhuter Südasienmission wurde 1795 in Europa gefällt. Diese Information erreichte Tranquebar am 06. 05. 1796, und die letzten Mitglieder der Brüdergemeine, Johann Gottlieb Ramsch und Johann Rudolf Weber, verließen Tranquebar erst 1803. Vgl. ebd. u. „Missionarsverzeichnis“ UA, MD. 627, 13 f.; Johannes Ferdinand Fenger: Geschichte der Trankebarschen Mission. Aus dem Dänischen übers. v. Emil Francke. Grimma 1845, 230. 11 Udo Sträter: Gotthilf August Francke, der Sohn und Erbe. Annäherung an einen Unbekannten. In: Reformation und Neuzeit: 300 Jahre Theologie in Halle. Hg. v. Udo Schnelle. Berlin [u. a.] 1994, 211–235, hier 229. So wenig, wie es eine umfassende Arbeit zur Person Gotthilf August Franckes gibt, ist sein Verhältnis zu Zinzendorf bisher einer tieferen Untersuchung unterzogen worden. Sträter bietet den maßgeblichen Beitrag, der u. a. die Indienkorrespondenz als Franckes erstes selbstständiges Arbeitsfeld in den Franckeschen Stiftungen herausstellt, ebd., 229 f. 12 Vgl. N. L. v. Zinzendorf an Friedrich V. von Dänemark, 23. 01. 1758, UA, R.15.T.a.1.1.b.
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hofmarschall in den 1750er Jahren wohl die einflussreichste Persönlichkeit am dänischen Hof in Kopenhagen, diese Offerte Zinzendorfs ab. Er übermittelte ihm aber zugleich das Wohlwollen König Friedrichs V., wenn Zinzendorf Kolonisten auf die Nikobarischen Inseln schicken würde. Diese Inselgruppe beschrieb er als, „vortreflich[ ], sehr fruchtbahr und annehmlich [. . .], [wo man; d. Vf.] die allergröste Hoffnung [zu; d. Vf.] eine[m] der besten Etablissements in Asien vermittelst der alda angelegten Vestung und täglich sich [. . .] Etablirenden Collonisten schöpfe“.13 Obwohl die ursprünglich intendierte Niederlassung in Island sich viel eher in ein strategisches Konzept der Brüdergemeine integriert hätte – hier sei an die geographische Nähe Islands zu Grönland und Labrador erinnert14 –, war Zinzendorf sofort von dem Angebot Moltkes begeistert. In seinem Antwortschreiben nennt Zinzendorf als einen der Gründe ausdrücklich, dass der „unter uns sehr geliebte Name [des Grafen Moltke, d. Vf.] dabey genennet wurde“.15 Diese Wertschätzung Moltkes war mehr als eine reine Höflichkeitsformel, stand dieser doch in direktem Zusammenhang mit den Herrnhuter Missionsstationen auf den dänischen Karibikinseln, welche in den 1750er Jahren prosperierten.16 Moltke hatte, als Präsident der dänischen WestindischGuinesischen Handelskompanie gut über die Zustände in der Karibik informiert, die positive Wirkung von Herrnhuter Niederlassungen für die wirtschaftliche Entwicklung der Kolonialgebiete erkannt17 und wollte sie, da er gleichzeitig Präsident der dänischen Asiatischen Handelskompanie war, auch für Indien nutzen. 13
A. G. v. Moltke an N. L. v. Zinzendorf, 17. 04. 1758, UA, R.15.T.a.1.2. Zu der Mission in Grönland seit 1733 und den seit 1752 immer wieder unternommenen Versuchen, eine Mission in Labrador zu errichten, vgl. Thea Olsthoorn: Die Erkundungsreisen der Herrnhuter Missionare nach Labrador (1752–1770). Kommunikation mit Menschen einer nichtschriftlichen Kultur. Hildesheim [u. a.] 2010, 18–32. 15 N. L. v. Zinzendorf an A. G. v. Moltke, 25. 06. 1758, UA, R.15.T.a.1.03. 16 Die Mission auf den dänischen Karibikinseln begann 1732 als erste Herrnhuter Missionsunternehmung. Vgl. Christian Georg Andreas Oldendorp: Historie der caribischen Inseln Sanct Thomas, Sanct Crux und Sanct Jan, insbesondere der dasigen Neger und der Mission der evangelischen Brüder unter denselben. Kommentierte Ausgabe des vollständigen Manuskriptes aus dem Archiv der Evangelischen Brüder-Unität Herrnhut. 4 Bde. Berlin 2000–2002. Um 1758 hatte die Brüdergemeine weltweit acht Missionsprovinzen erschlossen und darüber hinaus über 16 Missionsversuche unternommen. Vgl. Schulze, Abriß [s. Anm. 6], 43. Zu einer Gesamtdarstellung der Herrnhuter Mission vgl. Hartmut Beck: Brüder in vielen Völkern. 250 Jahre Mission der Brüdergemeine. Erlangen 1981. 17 Darin ist ein entscheidendes Motiv für Moltkes Angebot im Namen des Königs zu sehen. In der Versicherungsurkunde der dänischen Asiatischen Handelskompanie (Asiatisk Kompagnie, im Folgenden AsK) an die Herrnhuter wurde bekräftigt, wenn die Herrnhuter in Ostindien „eben den Fleiß und Eifer in der Bekehrung der Heyden anwenden werden, wie ihre Mitbrüder, zu ihrem besonderen Ruhm, mit einem gesegneten Fortgang in Grönland und in den Königl. WestIndischen Landen erweisen, so können sich selbige von Seiten der Königl. Octroirten Asiatischen Compagnie aller Protection, Sr. Königl. Maj. Gnadenvollen Absichten gemäß, getrösten“. Versicherungsurkunde der AsK, 19. 01. 1759, UA, R.15.T.a.1.23. 14
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Das Wohlwollen seitens der kolonialen Obrigkeiten – der Handelsgesellschaften – entsprach nicht dem Klima, welches der Brüdergemeine ansonsten im Königreich Dänemark-Norwegen entgegenschlug. Das Verhältnis der Herrnhuter gegenüber dem dänischen Gesamtstaat hatte sich in dem Maße verschlechtert, wie der Konflikt mit dem hallischen Pietismus zugenommen hatte. Zu seiner ersten Dänemarkreise 1731 zur Krönung Christians VI. war Zinzendorf noch mit großen Hoffnungen auf eine Stellung in dänischen Diensten aufgebrochen und hatte zugleich in den pietistischen Zentren Halle und Wernigerode vermittelnd vorgesprochen.18 Das Resultat seiner Bemühungen in Kopenhagen, nämlich der Beginn der Herrnhuter Missionstätigkeit auf den dänischen Karibikinseln und in Grönland, wurde zwar äußerst symbolträchtig, lag aber weit unter Zinzendorfs Erwartungen. Die zeitgleiche deutliche Distanzierung Franckes und die negative Einflussnahme des Grafen Christian Ernst von Stolberg-Wernigerode19 als dem zweiten Führer der „Zinzendorf-feindlichen Partei in Halle und Wernigerode“20, verbunden mit den Angriffen der für den staatskirchlichen dänischen Pietismus maßgeblichen dänischen Geistlichkeit gegen die Herrnhuter, führten hingegen zu einer deutlichen Entfremdung und späteren Verfolgung Zinzendorfs und der Herrnhuter Brüdergemeine durch das dänische Königshaus.21 Das äußerte sich seit 1744/45 in der sogenannten „illegale[n] Periode“22, dem Verbot jeglicher Art von Verbindungen zur Brüdergemeine im dänischen Gesamtstaat, welches zugleich ein Predigt- und Niederlassungsverbot beinhaltete.23
18 Vgl. Schneider, Mutterkinder [s. Anm. 3], 54 f.; Hans-Walter Erbe: Zinzendorf und der fromme hohe Adel seiner Zeit. Leipzig 1928, 104 f.,108–111; Max Wittern: Die Geschichte der Brüdergemeinde in Schleswig-Holstein. In: Schriften des Vereins für Schleswig-Holsteinische Kirchengeschichte. Reihe 2: Beiträge und Mitteilungen 4, 1908, Hf. 4, 271–414, 277 f., 281–284; Gerhard Reichel: Die Entstehung einer Zinzendorf-feindlichen Partei in Halle und Wernigerode. In: Zeitschrift für Kirchengeschichte 23, 1902, 549–592, 555, 566–570. 19 Zu C. E. v. Stolberg-Wernigerode vgl. Elisabeth Quast: Christian Ernst Graf zu StolbergWernigerode (1691–1771) und der Pietismus. In: Stolberg 1210 – 2010. Zur achthundertjährigen Geschichte des Geschlechts. Hg. v. Philipp zu Stolberg-Wernigerode u. Jost-Christian zu Stolberg-Stolberg. Dössel 2010, 152–171. 20 Vgl. Reichel, Entstehung [s. Anm. 18]. 21 Vgl. Reichel, Entstehung [s. Anm. 18]; Wittern, Geschichte [s. Anm. 18]; Erbe, Zinzendorf [s. Anm. 18]; Jørgen Bøytler: Zinzendorf und Dänemark. Zu Zinzendorfs direktem und indirektem Einfluss in Dänemark. In: Graf ohne Grenzen. Leben und Werk von Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf. Hg v. Paul Peucker. Herrnhut 2000, 73–81; Anders Pontoppidan Thyssen: Christiansfeld. Die Herrnhuter im Spannungsfeld zwischen Pietismus und Aufklärung. In: Aufklärung und Pietismus im dänischen Gesamtstaat: 1770–1820. Hg. v. Hartmut Lehmann u. Dieter Lohmeier. Neumünster 1983, 151–159. Eine weitere Maßnahme war z. B. ein zeitweiliges Einreiseverbot für den Grafen, zudem wurde die erste dänische Brüdergemeine Pilgerruh 1741, nur vier Jahre nach ihrer Gründung, wieder aufgehoben. 22 Krieger, Brüdergarten [s. Anm. 8], 218. 23 Vgl. Wittern, Geschichte [s. Anm. 18], 356 f.; Pontoppidan Thyssen, Christiansfeld [s. Anm. 21], 151; Bøytler, Zinzendorf, [s. Anm. 21], 78; Ruhland, Moravian Brethren [s. Anm. 8], 750–752.
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Das Treffen zwischen Francke und Zinzendorf in Halle auf der Rückreise von Kopenhagen am 17. Juni 1731 war der letzte persönliche Kontakt zwischen diesen führenden Vertretern des Pietismus, in dessen Folge die äußere Abgrenzung und theologische Ausdifferenzierung zwischen Halle und Herrnhut ständig zunahm.24 Hier sei nur an die Ausweisung August Gottlieb Spangenbergs aus Halle 173325 und die divergierenden Auffassungen über den Bußkampf26 erinnert. Francke schrieb 1734 an Zinzendorf, dass er sich mit ihm „nicht im Geringsten einlassen werde“, und Zinzendorf hatte schon 1733 verlautbart: „Halle und Herrnhut sollen von nun an geschieden sein und bleiben“.27 2. Asien als Missionsziel der Herrnhuter Brüdergemeine Während seiner Schulzeit auf dem paedagogium regium in Halle traf Zinzendorf die ersten beiden Indienmissionare Bartholomäus Ziegenbalg (1682– 1719) und Heinrich Plütschau (1677–1747) sowie den aus Tranquebar stammenden Tamilen Timotheus, mit denen er regen Umgang hatte.28 Immer wieder bezog sich Zinzendorf bis zu seinem Tod auf diese Zusammentreffen. Die symbolische Bedeutung dieser Treffen ist somit kaum überzubewerten, nicht für die zinzendorfschen Missionsbestrebungen im Allgemeinen und keinesfalls für die Südasienmission – handelte es sich bei diesen ersten hallischen Missionaren doch um die Vorbilder für alle weiteren protestantischen Missionsbestrebungen.29 Im August 1753 betonte der Graf rückblickend auf seine Kindheit, dass er und sein Jugendfreund Friedrich von Watteville große Angst gehabt hätten, „dass sich die Heiden doch nicht alle bekehren würden, bis wir gross würden; was dann übrig bliebe, das wollten wir zum Heiland bringen“.30 Dasselbe Motiv wird auch immer wieder im Zusammenhang mit der Gründung des Senfkornordens angeführt, jenes Jugendbundes, der uns nicht 24
Vgl. Schneider, Mutterkinder [s. Anm. 3], 55–66. Vgl. Sträter: Spangenbergs Vertreibung aus Halle. In: UnFr 61/62, 2009, 23–42; Gerhard Reichel: August Gottlieb Spangenberg: Bischof der Brüderkirche. Tübingen 1906. 26 Vgl. Erika Geiger: Zinzendorfs Stellung zum Halleschen Bußkampf und zum Bekehrungserlebnis. In: UnFr 49/50, 2002, 13–22. 27 Zit. n. Schneider, Mutterkinder [s. Anm. 3], 37. 28 Plütschau weilte im Herbst 1713 zusammen mit Timotheus in Halle, Ziegenbalg 1715, vgl. Gerhard Reichel: Der „Senfkornorden“ Zinzendorfs. Ein Beitrag zur Kenntnis seiner Jugendentwicklung und seines Charakters. Teil 1: Bis zu Zinzendorfs Austritt aus dem Pädagogium in Halle 1716. Leipzig 1914, 84 f. Ebenso wurden schon im Kreise von Zinzendorfs Großmutter, Katharina von Gersdorf, die Halleschen Berichte (Der Königl. Dänischen Missionarien aus Ost-Indien eingesandter Ausführlichen Berichten, Von dem Werck ihres Amts unter den Heyden [. . .]). Teil 1–9 (Continuation 1–108). Halle 1710–1772, im Folgenden HB) gelesen – die von August Hermann Francke herausgegebene erste protestantische Missionszeitschrift, ebd., 145 f. 29 Vgl. Reichel, Senfkornorden [s. Anm. 28], 84 f. und Vogt, Mission [s. Anm. 3], 213 f. 30 Rede Zinzendorfs vom 31. 08. 1753, zitiert nach Reichel, Senfkornorden [s. Anm. 28], 145 f. 25
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nur in der Person Zinzendorfs, sondern auch in der Person von Baron Georg Wilhelm von Söhlenthal im Konflikt um die Herrnhuter Südasienmission wieder entgegen tritt. Der alte Jugendfreund Zinzendorfs war jedoch bis 1760 zu dessen entscheidendem Gegenspieler und zum einflussreichsten Unterstützer des hallischen Pietismus in Dänemark geworden.31 Die Bedeutung Südindiens als Ausgangspunkt für den Beginn der protestantischen Mission machte Zinzendorf und die Herrnhuter Brüdergemeine emotional sehr für das Angebot der Handelskompanie empfänglich. Schon früh wurde Asien daher in mehreren Missionsversuchen das Ziel der Herrnhuter.32 So waren es August Christian Eller und David Nitschmann, die Indien zwischen 1739 und 1740 bei ihrem gescheiterten Missionsversuch auf Ceylon am nächsten kamen.33 Mit dem Satz: „Es müssen also unsere Geschwister, die nach Asien gehen wissen, daß sie nicht jählings wie ein Wetter einschlagen, sondern, daß unsere Brüder, die nach Ceylon gegangen sind vor 18 Jahren, ihnen den Weg gemacht haben“34, stellte Zinzendorf die 1758 31 Georg Wilhelm von Söhlenthal war gemeinsam mit Zinzendorf, Friedrich v. Watteville und Anton Heinrich Walbaum Schüler am paedagogium regium der Franckeschen Stiftungen und Mitglied im Senfkornorden gewesen. Gut befreundet mit Gotthilf August Francke, dessen Briefe er häufig an den König Christian VI. (reg. 1730–1746) weiterleitete, wurde er als Hofmeister des späteren dänischen Königs Friedrich V. (reg. 1746–1766), ab 1749 geheimer Konferenzrat, zu einem der führenden Unterstützer des hallischen Pietismus in Dänemark in enger Freundschaft zu Graf Johann Ludwig von Holstein, dem Obersekretär der Dänischen Kanzlei, Vorsitzenden des königlichen Conseil, des höchsten Staatsgremiums, und Präsidenten des Missionskollegiums (im Folgenden Misskoll). Durch seine lebenslange enge Brieffreundschaft mit Walbaum, welcher seit 1745 in Wernigerode wirkte, hatte er zudem beste Verbindungen zu Graf Christian Ernst von Stolberg-Wernigerode. Trotz seiner entschiedenen Trennung von Zinzendorf in den 1730er Jahren stand Söhlenthal der Herrnhuter Gemeine Pilgerruh zwischenzeitlich aufgeschlossen gegenüber. Vgl. Wittern, Geschichte [s. Anm. 18], 287; Eduard Jacobs: Zur Geschichte des Pietismus in Schleswig-Holstein. Th. II: Georg Wilhelm Freiherr von Soehlenthal und die Seelsorge der Erweckten untereinander. In: Schriften des Vereins für Schleswig-Holsteinische Kirchengeschichte. Reihe 2: Beiträge und Mitteilungen 2, 1901, 2, 259–287; ders.: Art. „Walbaum, Anton Heinrich“. In: ADB 54, 1908, 784–788. In der Einschätzung von Thilo Daniel: „. . .weil derer alhier immer mehr werden“: Nikolaus Ludwig von Zinzendorf und der Pietismus in Dresden. In: Neue Aspekte der Zinzendorf-Forschung. Hg. v. Martin Brecht u. Paul Peucker. Göttingen 2006, 37–63, nimmt Jacobs in seiner Darstellung den Spannungen zwischen Zinzendorf und Söhlenthal die Schärfe. 32 Zu den Versuchen über Konstantinopel (1739–1740), die Walachei (1740), Russland (1742– 1747) und Persien (1747–1750) eine Mission in Asien zu errichten, vgl. Schulze, Abriß [s. Anm. 6], 34–38. 33 Vgl. Klaus Koschorke: Die ersten Herrnhuter auf Ceylon. Das Unternehmen des Nitschmann Syndikus und Dr. Eller nach einer neuen Quelle. In: UnFr 18, 1986, 53–68. Der gleiche David Nitschmann war als Bischof und Syndicus der „Brüdergemeine 1759“ persönlich in Kopenhagen bei der Abreise der ersten Herrnhuter nach Tranquebar anwesend und führte in diesem Zusammenhang weitere Verhandlungen. 34 Abschiedsrede für die erste Kolonne von N. L. v. Zinzendorf in Zeist, 28. 09. 1759, UA, R.15.T.a.1.40. In dieser Rede bezieht Zinzendorf sich auch auf sein Verhältnis zum hallischen Pietismus. „Ich hätte keine solche Freude und Seeligkeit in meinem ganzen jezigen Plan, wenn ich mich nicht mit so ganzem Herzen der Hällischen Oeconomie angeboten und mich zur Informa-
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beginnenden Aktivitäten der Südasienmission ganz bewusst in einen umfassenderen heilsgeschichtlichen Zusammenhang. Für ihn verdeutlichte sich hier die Erfüllung eines schon länger existierenden „Plans des Heilands“,35 eines „Asiatischen Plan[s]“,36 dessen „final würde seyn, daß wir [die Herrnhuter Brüdergemeine; d. Vf.] auf die Küste von Coromandel kommen würden“.37 3. Die Nikobarischen Inseln Als Zinzendorf im Juni 1758 auf das verlockende Angebot der Handelskompanie antwortete,38 hatte diese bereits vier verschiedene Expeditionen von Tranquebar zu den Nikobaren ausgesendet. An der dritten hatte der hallische Missionar David Poltzenhagen teilgenommen, der am 23. November 1756 auf den Inseln verstorben war. Kurz darauf wurde vor Ort in Tranquebar die Unhaltbarkeit der Kolonisationspläne wegen der schwierigen klimatischen und gesundheitlichen Bedingungen der Inselgruppe deutlich,39 weshalb Ende 1757 durch das örtliche Gouvernement alle Ansiedlungspläne mehr oder weniger aufgegeben und sämtliche Schiffsverbindungen eingestellt wurden.40 Die Teilnahme Poltzenhagens an der Expedition 1756 steht im Kontext der Pläne der Dänisch-Englisch-Halleschen Mission, ihre Präsenz in Indien
tion der Kinder und zum Dienst in den Anstalten schriftlich und mündlich Jahr und Tag offerieret hätte [. . .]. Sie haben mich aber auch nicht gewollt [. . .].“ (Ebd.; vgl. Anm. 79) 35 Ebd. 36 Dieser Terminus hat sich sogar bis in den Lebenslauf des ersten Vorstehers des Brüdergartens fortgeschrieben. Vgl. Lebenslauf von Nicolaus Andreas Jäschke, UA, R.22.07.a.37. 37 N. L. v. Zinzendorf Abfertigungsrede in Zeist, 28. 09. 1759, UA, R.15.T.a.1.40. 38 Vgl. N. L. v. Zinzendorf an A. G. v. Moltke, 25. 06. 1758, UA, R.15.T.a.1.03. 39 Schon bei der Ankunft der Expedition, die Poltzenhagen im Herbst 1756 begleitete, auf den Nikobaren verdeutlichten sich die extremen Umstände der dänischen Niederlassung: „Von 130 Menschen, die nach der Colonie übersandt waren, hatte die daselbst grasierende Krankheit innerhalb 8 Monaten die 100 weggenommen.“ „Historischer Bericht von den von Tranquebar aus zuerst gemachten Versuch eine Collonie auf den Nicobarischen Inseln zu etabliren“, UA, MDep.XI.13. Poltzenhagen berichtete darüber ausführlich in seinem Tagebuch, welches später in den Halleschen Berichten veröffentlicht wurde. Vgl. Reisetagebuch (31. 08. 1756–21. 11. 1756) und Beschreibung der Nicobarischen Inseln von D. Poltzenhagen, Halle, Archiv der Franckeschen Stiftungen, Halle (im Folgenden AFSt) M 2 D 33:11 u. AFSt/M 2 D 33:10, Abdruck in: HB [s. Anm. 28] 8 (86. Cont.), 1760, 209–238. 40 Als die Ebenezer am 22. 05. 1757 zu einer erneuten Fahrt zu den Nikobaren aufbrach, hatte sie bereits den Befehl zur Umsiedlung der überlebenden Kolonisten und zum Rücktransport aller Kanonen nach Tranquebar erhalten. Wegen der Schwächung der Niederlassung durch anhaltende Todesfälle in Folge von Krankheit und der plötzlichen Gefahr eines gewaltsamen Zusammenstoßes mit den Einwohnern der Insel flüchteten die letzten Überlebenden der dänischen Besatzung und landeten im nahen Aceh. Vgl. Historischer Bericht von den von Tranquebar aus zu erst gemachten Versuch eine Collonie auf den Nicobarischen Inseln zu etabliren, UA, MDep.XI.13 und Krieger, Brüdergarten [s. Anm. 8], 216.
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weiter auszubauen.41 Zugleich verdeutlicht sich in der direkten Aufforderung der Handelskompanie an die Dänisch-Englisch-Halleschen Missionare, einen der ihren für diese Expedition bereitzustellen,42 auch die Einstellung der Handelskompanie, Missionare bewusst einzusetzen, da diese „zu erleuchtung dieser blinden Heiden, und um mit ihrer Sprache bekandt zu werden, nöthig seyn“.43 Da auch Francke in Halle um die wirtschaftsfördernden Aspekte missionarischer Aktivitäten wusste, bestand er, anders als fast zeitgleich Zinzendorf, auf der Finanzierung eines hallischen Missionars auf den Nikobaren durch die Handelskompanie,44 die Zusicherung freier Überfahrt von Europa nach Indien galt indes für beide Missionen. Sowohl der Tod Poltzenhagens 1756 und die Veröffentlichung seines Reisetagebuches in den Halleschen Berichten45 als auch das Scheitern der Kolonisationsversuche der Handelskompanie ab spätestens 1757 haben in der Forschung bisher zu der Annahme geführt, dass Moltke 1758 den Herrnhutern bei der Beschreibung der guten Zustände der Inselgruppe absichtlich die Unwahrheit berichtet habe.46 In diesem Zusammenhang herrscht zudem die Vermutung 41 Bereits im Oktober 1755 fragten die hallischen Missionare aus Tranquebar beim Missionskollegium in Kopenhagen an: „Da die Dänisch-Asiatische Compagnie sich hier in Indien seit einigen Jahren ziemlich ausbreitet, wie denn bereits vor einigen Jahren Logen auf der Pfeffer=Küste [. . .] angelegt, und in Bengalen in diesem Jahre [. . .] Erlaubniß gegeben worden zu Errichtung dreyer Logen und eines Forts [. . .] auch vor eines Monats Frist zwey Schiffe von hier zu einer Expedition nach der Insul Nicobar [. . .] abgegangen sind: So ist uns dabey aufs Gemüth gefallen, ob [wir; d. Vf.], wenn der Herr uns einen Wink zeigen solte, an einem oder dem anderen von diesen Orten zur Ausbreitung des Evangelii etwas versuchen zu können, es nicht rathsam seyn möchte, solche Gelegenheit in demühtiger Hofnung und Erwartung eines guten Erfolges zu ergreifen“ (Alle Missionare an Misskoll, 13. 10. 1755, AFSt/M 1 F 8 : 59). 42 „[D]aß ein Missionarius mit dem ersten Schiffe mit nach Nicobaren hingehe, um daselbst eine Mission anzulegen.“ (Alle Missionare an J. Finckenhagen, 09. 02. 1756, AFSt/M 1 F 8 : 60). 43 Nachricht von den nicobarischen Insuln, UA, R.15.T.a.1.10.b. Dieses Protokoll wurde im Rahmen der AsK über die Aussichten der neuen Niederlassung auf Grundlage von Informationen über die Zustände auf den Nikobarischen Inseln vor dem 15. 01. 1756 verfasst. 44 Francke fragte an, ob es: „Gott gefallen wolle [. . .], daß die Asiatische Compagnie sich zu Unterhaltung einiger Missionarien auf den neu errichteten Logen willig finden lassen möchte, da durch Gründung des Christenthums auch ihr Commercium in selbigen Gegenden auf einen desto gewisseren Fuß gesetzt werden würde.“ (G. A. Francke an J. Finckenhagen, 11. 01. 1757, AFSt/M 1 F 8 : 68) 45 Vgl. HB [s. Anm. 28] 8 (86. Cont.), 1760, 209–229. Entsprechend der Verzögerung bei Drucklegung durch den langen Postweg erfolgte die Veröffentlichung erst 1760, in dem Jahr, als die Herrnhuter in Tranquebar landeten. 46 Vgl. A. G. v. Moltke an N. L. v. Zinzendorf, 17. 04. 1758, UA, R.15.T.a.1.2 und Krieger, Brüdergarten [s. Anm. 8], eine Aussage, die im Zweitdruck seines Beitrages mit gleichem Titel in: Aufgeklärter Geist und evangelische Missionen in Indien. Hg. v. Michael Mann. Heidelberg 2008, 63–84, hier 69, sogar noch verschärft wurde: „Adam Gottlob Moltke [. . .] versuchte hingegen, im eigenen Interesse und eingedenk des fehlgeschlagenen Nikobarenunternehmens des Leutnant Tanck Zinzendorffs Aufmerksamkeit in eine andere Richtung zu lenken. [. . .] Im Gegenteil steht zu vermuten, dass er [. . .] vorsätzlich die Unwahrheit über die angeblich ‚vortrefflichen‘ Inseln
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vor, dass von Halle aus Missionsaktivitäten auf den Nikobaren bereits vor Moltkes Anfrage wegen des Todes von Poltzenhagen und dessen schockierenden Reiseberichts endgültig abgelehnt worden seien und sich Moltke deswegen an die Herrnhuter gewendet habe.47 Dieser Sichtweise nach stehen die Herrnhuter noch vor Beginn ihrer Südasienmission vor einer doppelten Schwierigkeit. Sie sind nicht nur innerpietistische Konkurrenten der DänischEnglisch-Halleschen Mission, sondern zugleich auch Erfüllungsgehilfen der Handelskompanie bei der Verwirklichung von Plänen, für die die DänischEnglisch-Hallesche Mission sich nicht zur Verfügung stellen wollte – damit wäre die ganze Missionsunternehmung der Herrnhuter in Südasien schon vor Beginn als Konkurrenzunternehmung gegen die Dänisch-Englisch-Hallesche Mission initiiert worden. Dabei wird jedoch immer übersehen, dass bis Herbst 1758 im Hauptquartier der Handelskompanie in Kopenhagen noch niemand über die Entscheidung aus Tranquebar zur Aufgabe der Kolonisationspläne der Inselgruppe unterrichtet war. Vielmehr muss davon ausgegangen werden, dass Moltke in seinem Schreiben an Zinzendorf im April 1758 mit bestem Gewissen über den hervorragenden Zustand der Nikobarischen Inseln gesproschrieb“. Dieser Standpunkt fand, mehr oder weniger deutlich, Eingang in die Forschung, vgl. Ruhland, Moravian Brethren [s. Anm. 8], 749. 47 Nørgaard, Mission [s. Anm. 8], 179, beruft sich auf einen Tagebucheintrag der hallischen Missionare in Tranquebar für 1757 mit der Aussage: „Als diese Nachricht [vom Tod Poltzenhagens; d. Vf.] Tranquebar erreichte, beschloß die Mission, sich künftig nicht mehr an solchen Expeditionen zu beteiligen.“ Es ist nicht der Ort, auf das fast unleserliche Manuskript (Protocoll für Special-Conferentz der Missionarien 1725–1774, Reichsarchiv Kopenhagen [im Folgenden RA], Trankebar-Missionen [600] [im Folgenden TrMi], 3) näher einzugehen. Aber es ist festzuhalten, dass bei Nørgaard der irreführende Eindruck entsteht, „die Mission“ wäre die Gesamtheit der Dänisch-Englisch-Halleschen Mission. Seine Aussage ist wohl teilweise zutreffend für die Missionare vor Ort in Tranquebar, deren Prioritäten waren schon länger in Richtung einer viel aussichtsreicheren Ausweitung der Mission nach Bengalen ausgerichtet. Aber keinesfalls gibt sie die Meinung des Missionskollegiums in Kopenhagen und von Gotthilf August Francke in Halle wieder. Finckenhagen macht als Sekretär des Missionskollegiums in dem in diesem Zusammenhang bei Nørgaard und ebenso bei Krieger, Brüdergarten [s. Anm. 8], 219, Anm. 33, genannten Schreiben nur die Einlassung: „Von den nach Nicobaren zur Ausbreitung der Missions-Anstalten nach gegebenen Vorschläge unternommenen Reise ist beym Collegio [dem Missionskollegium; d. Vf.] bis dato nicht weiteres vorgefallen, wird auch von demselben in der Absicht nicht füglich etwas vorgenommen werden können, bevor man durch die Zurückkunft des H. Poltzenhagen von dem Winck des Herren näher unterrichtet wird“ ( J. Finckenhagen an G. A. Francke, 24. 09. 1757, AFSt/M 1 F 8 : 75). Viel entscheidender in der Frage der Aufgabe der Nikobarenpläne durch die Dänisch-Englisch-Hallesche Mission ist jedoch, dass G. A. Francke in Halle in einem Schreiben vom 11. 09. 1758 gegenüber den Missionaren in Tranquebar neben der Bekundung des Bedauerns über Poltzenhagens Tod das Gefühl eines positiven Wartens ausdrückt: „Da das Missions-Collegium wegen Fortsetzung einiger Versuche nach den Nicobarischen Inseln bisher nichts gemeldet, ob ich ihm gleich Anlaß dazu gegeben; so muß man desfalls die weitere Direction Gottes erwarten, der auch zu seiner Zeit die gehofte weitere Ausbreitung seines Werks möglich machen und befördern wird.“ (G. A. Francke an alle Missionare, 11. 09. 1758, Archiv des Leipziger Missionswerks in den Franckeschen Stiftungen [im Folgenden ALMW/DHM], 3/3c : 12 [Ausfertigung], AFSt/M 1 B 47 : 42 [Entwurf])
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chen hat. Die Informationen, welche die Grundlage für Moltke bildeten, erreichten Kopenhagen schon im Mai 1757 und waren somit fast ein Jahr alt, als er Zinzendorf schrieb.48 Die Leitung der Handelskompanie in Kopenhagen erhielt mit einlaufenden Schiffen aus Asien sowohl im November 175649 als auch am 27. Mai 175750 weiterhin positive Informationen über die Nikobarenexpeditionen und die dänische Inbesitznahme der Inselgruppe. Auf diesem Informationsstand fußte Moltkes Schreiben an Zinzendorf. Das nächste dänische Retourschiff erreichte Kopenhagen erst am 5. September 1758.51 Dieses übermittelte Nachrichten über die sehr schlechten Bedingungen in der dänischen Niederlassung auf den Nikobaren, die schon früher aus Poltzenhagens Reisebericht in Halle bekannt waren, überbrachte aber immer noch nicht die Information über deren endgültige Aufgabe durch das Gouvernement in Tranquebar. Die bereits am 20. März 1758 in Halle eingetroffene Kenntnis über Poltzenhagens Tod beruhte auf der Information des Londoner Hofpredigers Friedrich Michael Ziegenhagen.52 Die Dänisch-Englisch-Hallesche Mission 48 J. Finckenhagen erwähnt, dass das „Retour Schif, die Königin Sophia Magdalena genannt, d. 27 huig [Mai 1757; d. Vf.] glücklich [. . .] angekommen“ ist (J. Finckenhagen an G. A. Francke, 31. 05. 1757, AFSt/M 1 F 8 : 71). Nach Inhalt der von J. Finckenhagen an G. A. Francke übersandten Briefe hat die Königin Sophia Magdalena Tranquebar im Oktober 1756 verlassen und kann so nur Nachricht von der Abreise Poltzenhagens zu den Nikobaren überbringen. Vgl. J. Finckenhagen an G. A. Francke, 31. 05. 1757, AFSt/M 1 F 8 : 71, und J. Finckenhagen an G. A. Francke, 21. 06. 1757, AFSt/M 1 F 8 : 72. 49 Die Briefe über den Beginn der ersten dänischen Nikobarenexpeditionen und die Idee einer Ausweitung der Mission der Dänisch-Englisch-Halleschen Mission sowie die erste Aufforderung des Gouvernements zur Teilnahme eines hallischen Missionars an den Expeditionen zu den Nikobaren erreichten Kopenhagen mit einem dänischen Schiff vor dem 11. 11. 1756. Vgl. J. Finckenhagen an G. A. Francke, 23. 11. 1756, AFSt/M 1 F 8 : 58. 50 Vgl. Anm. 48. 51 „[I]st das RetourSchif der hiesigen Asiatischen Compagnie aus Bengalen über Trankebar d. 5ten. Huig [September 1758; d. Vf.] wieder alles vermuthen glücklich auf unsere Rhede angekommen“ (J. Finckenhagen an G. A. Francke, 09. 09. 1758, AFSt/M 1 F 8 : 86). Das Schiff verließ Tranquebar nach Januar 1758, wie die mitgesendeten Briefe belegen. Siehe dazu die am 19. 09. 1758 mit der Post aus Kopenhagen eingetroffenen Briefe, u. a. das Schreiben aller Missionare an G. A. Francke vom 07. 01. 1758 und von J. Klein an G. A. Francke vom 03. 02. 1758, vgl. Missionsbericht so eingelaufen 1758, AFSt/M 1 B 47 : 1. 52 Vgl. G. A. Francke an J. Finckenhagen, 23. 03. 1758, AFSt/M 1 F 8 : 84. Die Weiterleitung der Briefe aus London erfolgte nicht immer in einer Sendung, sondern wurde oft, so auch in diesem Fall, in Teilsendungen aufgeteilt, was die unterschiedlichen Eingangszeiten in Halle erklärt. Zudem enthalten nicht alle Briefe des ersten Transports, der am 20. 03. 1758 in Halle eintraf, die Nachricht vom Tode Poltzenhagens. Die im Online-Katalog des AFSt verzeichneten Briefe der Missionare zum Tod Poltzenhagens sind alle unter einem späteren Präsentationsdatum verzeichnet. Vgl. J. B. Kohlhoff und Ch. F. Schwartz an G. A. Francke, 24. 02. 1757, AFSt/M 1 B 47 : 15 (Präsentationsdatum vom 30. 03. 1758). Das Schreiben aller Missionare an G. A. Francke und F. M. Ziegenhagen vom 24. 02. 1757 teilt Poltzenhagens Tod und die Übersendung seines Reisetagebuches mit (AFSt/M 1 B 47 : 6). Es ist mit dem Präsentationsdatum vom 10. 07. 1758 vermerkt, liegt jedoch in zweifacher Ausführung vor, beide sind im AFSt jedoch gleich verzeichnet. Eine erste Version traf schon am 20. 03. 1758 mit der Post über England ein. Vgl. dazu das auf
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verfügte mit London über einem zusätzlichen Informationskanal durch die Schiffe der East India Company, welcher auf den Verbindungen Halles zur Society for Promoting Christian Knowledge beruhte.53 Im Idealfall könnte die Nachricht von Poltzenhagens Tod das Missionskollegium in Kopenhagen damit Anfang April erreicht haben.54 Das gilt aber nicht für die Information über die desaströse Verfassung der Niederlassung, welche erst Poltzenhagens Tagebuch offenbarte. Dieses traf erst am 30. März in Halle ein.55 Somit kann ausgeschlossen werden, dass Moltke über das Missionskollegium informiert worden war. Vor dem 14. April 1758 hatte dieses, wenn überhaupt, nur die Nachricht über Poltzenhagens Tod. Zudem befanden sich das Missionskollegium und die Handelskompanie gerade in den festgefahrenen Verhandlungen über die Finanzierung eines hallischen Missionars auf den Nikobaren, und das Missionskollegium war über die ablehnende Haltung der Handelskompanie sehr verstimmt. Es ist somit mehr als unwahrscheinlich, dass das Missionskollegium mit schlechten Nachrichten die Stimmung noch mehr zu verderben gewünscht hätte, es scheint vielmehr, als ob beide Seiten im fraglichen Zeitraum überhaupt keinen Kontakt hatten. 4. Die Herrnhuter Verhandlungen um ihre Privilegien für Südasien Verständlicherweise interessierten sich Zinzendorf und die Herrnhuter nach dem Angebot der Handelskompanie für den genauen Zustand der Inselgruppe. Über ihre dänischen Vertrauten, Lorenz Prätorius, Leiter der Brüder-Societät in Kopenhagen und Mitarbeiter der königlichen Rentenkammer, und Johann Boronowsky, Buchhalter der dänischen Asiatischen Handelskompanie, holten sie weitere Informationen ein. Aus dieser Korrespondenz wird ersichtlich, dass die Brüdergemeine noch vor den abschließenden Verhandlungen um die Jahreswende 1758/59 konkretere Informationen über die Zustände der Kolodem Schreiben vermerkte Eingangsdatum sowie Missionsbericht so eingelaufen 1758, AFSt/M 1 B 47 : 1. Zu Ziegenhagen vgl. Christina Jetter-Staib: Halle, England und das Reich Gottes weltweit – Friedrich Michael Ziegenhagen (1694–1776). Hallescher Pietist und Londoner Hofprediger. Halle 2013. 53 Vgl. Jetter-Staib, Ziegenhagen [s. Anm. 52], 120–123. 54 Am 23. 03. 1758 teilt G. A. Francke dem Sekretär des Missionskollegium in Kopenhagen Finckenhagen den Tod Poltzenhagens mit. Zum Zustand der Niederlassung auf den Nikobarischen Inseln macht er dabei keine Aussagen. G. A. Francke an J. Finckenhagen, 23. 03. 1758, AFSt/M 1 F 8 : 84. Eine direkte Mitteilung an Finckenhagen aus London ist nicht nachweisbar. Hypothetisch bestünde die Möglichkeit, dass die Information, welche von Francke am 23. 03. 1758 nach Kopenhagen weitergeleitet wurde, dem Direktorium der dänisch Asiatischen Kompanie und damit auch deren Präsidenten Moltke bekannt geworden sei. Der Postweg von Halle nach Kopenhagen dauert in Friedenszeiten ca. 14 Tage – der Siebenjährige Krieg führte im fraglichen Zeitraum jedoch zu erheblichen Verzögerungen – und Moltkes Offerte an Zinzendorf stammt vom 17.04. 55 Missionsbericht so eingelaufen 1758, AFSt/M 1 B 47 : 1.
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nie auf den Inseln erhielt, aber nicht über deren Aufhebung informiert war.56 Die Instruction vom Oktober 1758, welche dem Herrnhuter Verhandlungsführer Georg Johann Stahlmann von Zinzendorf und Johannes von Watteville mitgegeben wurde, vermittelt erste Hinweise, dass auch bei den Herrnhutern Nachrichten über Probleme auf den Nikobaren eingelaufen waren, denn sie enthält den Kommentar, dass „die laufenden gerüchte nichts hindern werden“.57 Bei der Brüdergemeine unterstützten diese „Gerüchte“ die schon heilsgeschichtlich legitimierte Überzeugung, dass eine Niederlassung auf dem indischen Festland als Ausgangspunkt und Zentrum ihres Wirkens in Südasien unumgänglich sei.58 Gerade die Kenntnis der Halleschen Berichte und ihre eigenen Erfahrungen mit anderen Missionsstationen in entlegenen Gebieten hatten bei Zinzendorf und der Leitung der Brüdergemeine ein Bewusstsein für die unabdingbaren Notwendigkeiten der Logistik solcher Unternehmungen wachsen lassen.59 Schon allein die geographische Lage der Nikobarischen Inseln an der östlichen Seite des Golfs von Bengalen machte eine direkte Verbindung von Europa zu diesem Archipel unmöglich, und in Anbetracht der Umstände war eine eigene Niederlassung im dänischen Tranquebar die einzige Möglichkeit für die Herrnhuter, dorthin zu gelangen.60 So bestand die Brüdergemeine in den Verhandlungen mit der Handelskompanie im Dezember 1758, vor dem Hintergrund des heilsgeschichtlich interpretierten asiatischen „Plans des Heilands“,61 auf der Etablierung einer geschlossenen Niederlassung62 auf dem indischen Festland.63 Die Erfüllung dieser Bedingung 56 Prätorius äußert sich über den begonnenen Ausbau der Niederlassung auf den Nikobarischen Inseln, sagt jedoch, dass bislang noch niemand „von Nicobar zurückgekommen“. L. Prätorius Antwort auf J. Pauls Anfragen, o. D., UA, R.15.T.a.1.10.a. Die Nachricht von den nicobarischen Insuln, UA, R.15.T.a.1.10.b. (wohl Beilage zu L. Prätorius Antwort auf J. Pauls Anfragen, o. D., UA, R.15.T.a.1.10.a.) gibt nur den Informationsstand bezüglich der Inseln bis zum 15. 01. 1756 wieder. 57 Instruction für G. J. Stahlmann, 18. 10. 1758, UA, R.15.T.a.1.12. 58 Alle anderen Gebiete europäischer Kolonialmächte lagen entweder in katholischen Machtbereichen oder es herrschten umfangreiche Missionsverbote und aus dem holländischen Ceylon waren die Herrnhuter bereits 1740 verwiesen worden. Die Verbote in den Territorien indischer Regenten zu missionieren, hinderten auch die Dänisch-Englisch-Halleschen Missionare bis 1753 an der persönlichen Predigt im Tranquebar benachbarte Tanjore. Vgl. Liebau, Mitarbeiter [s. Anm. 8], 57 f., 82 f. 59 Vgl. N. L. v. Zinzendorf an G. J. Stahlmann und A. G. Völker, 29. 09. 1759, UA R.15.T.a.1.45. 60 Vgl. Krieger, Brüdergarten [s. Anm. 8], 213 und Joseph Reinhold Römer: Vor Hundert Jahren. In: Der Brüderbote, 1862, 1, 18–28, hier 18. 61 N. L. v. Zinzendorf Abfertigungsrede in Zeist, 28. 09. 1759, UA, R.15.T.a.1.40. 62 Die Etablierung von abgeschlossen Gemeinschaften, den Ortgemeinen, ist als essentiell für die Expansionspläne der Herrnhuter Brüdergemeine in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts anzusehen. In den Stammtafeln der Brüdergemeine von 1775, UA, TS, Mp.380.1, und 1778, UA, TS, K 4, wird Tranquebar bzw. der Brüdergarten in Tranquebar auch als eine solche dargestellt. In diesem Kontext ist auf das von Otto Teigeler: Die Herrnhuter in Russland: Ziel, Umfang und Ertrag ihrer Aktivitäten. Göttingen 2006, 45, 52, 67 f-71, 496 f., 511, 516, mit Vehemenz vertretene philadel-
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wurde durch eine Versammlung der Handelskompanie am 18. Dezember 1758 zugesagt.64 In den Verhandlungen baten die Herrnhuter ganz im Sinne ihres missionarischen Sendungsbewusstseins zudem um freie Religionsausübung und Missionserlaubnis mit der Option, unter denen noch nicht getauften Indianern und andern Heidnischen Nationen frey und ungehindert das Evangelium [zu; d. Vf.] treiben, um dieselben zur Erkentniß Jesu Christi nach der Augspurgischen Confession zubringen, [. . .] [und; d. Vf.] Gemeinen, wo es schicklich, [zu; d. Vf.] formiren nach der Brüder Weise, wie solches in Grönland und in den West-Indischen Eylanden ohne allen Zwist und Difficultät geschiehet.65
Dabei wurde vermerkt: Der Ordinarius Fratrum [Zinzendorf; d. Vf.] hat hierbey erinnert, daß, da sich in Tranquebar eine Dänische Mission befindet, die von gewissen Leuten dirigiert wird, die uns nicht lieb haben, und allenthalben drücken, so viel sie können, unser Werk aber nicht sey Altar gegen Altar zu bauen, wo man unseres Dienstes nicht verlangt, denenselben so wol bedeutet werde, uns in möglichster Ruhe zu lassen, als im Fall widrige Berichte von ihnen gegen uns einlaufen solten, dieselben, ohne uns auch darüber zu hören, nicht resolvirt werden sollen.66 phische Gemeindeideal Zinzendorfs und seine Bedeutung für die frühe Herrnhuter Mission hinzuweisen. Die damit verbundene Ablehnung von „Evangelisationsformen in der Gehstruktur“ durch die Herrnhuter in Russland und im Osmanischen Reich, vgl. ebd., 450 u. Arthur Manukyan: Konstantinopel und Kairo. Die Herrnhuter Brüdergemeine im Kontakt zum Ökumenischen Patriarchat und zur Koptischen Kirche. Interkonfessionelle und interkulturelle Begegnungen im 18. Jahrhundert. Würzburg 2010, legt eine nähere Untersuchung der vielen weiteren Parallelitäten der fast zeitgleichen Etablierung von Sarepta, der Niederlassung in Kairo und der Südasienmission der Herrnhuter nahe. Die spätere Unterscheidung zwischen Gemeinorten, Missionen sowie Stadtund Landgemeinen verdeutlicht einen Wandel in der herrnhutischen Missionstheologie. Strukturell wird sie erstmals in der Stammtafel von 1797, UA, TS. Mp.380.2, deutlich. In dieser Übersicht aller Wirkungsorte der Herrnhuter Brüdergemeine wird Tranquebar nur noch als Mission angegeben, während es in den älteren Stammtafeln von 1775 und 1778, die nur zwischen Gemeinen und Diaspora unterschieden, noch als Gemeine gekennzeichnet wurde. Zur veränderten Bewertung der Herrnhuter Missions- und Expansionsbestrebungen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durch die Verschiebung der „Grundauffassung von der Christologie zur Ekklesiologie“ im 19. Jahrhundert also zu der Frage, ob schon allein die Errichtung einer Niederlassung als „scheinende[s] Licht[]“, als sichtbares Zeichen im philadelphisch eschatologischen Sinn oder eine aktive Mission in der „Gehstruktur“ der Hauptzweck der Herrnhuter Unternehmungen waren, vgl. Teigeler, Russland, 511 f. Zur Bedeutung des Philadelphia-Gedankens für Zinzendorfs Ekklesiologie vgl. Hans Schneider: „Philadelphische Brüder mit einem lutherischen Maul und mährischen Rock“. Zu Zinzendorfs Kirchenverständnis, In: Neue Aspekte der Zinzendorf-Forschung. Hg. v. Martin Brecht u. Paul Peucker. Göttingen 2006, 11–36 und Vogt, Mission [s. Anm. 3], der die der Herrnhuter Missionstheologie zusammenfasst. 63 Vgl. Pro Memoria von G. J. Stahlmann an A. G. v. Moltke, 30. 11. 1758, UA, R.15.T.a.1.14 und Vorstellung von G. J. Stahlmann an die Direktion der AsK, 16. 12. 1758, UA, R.15.T.a.1.15. 64 G. J. Stahlmann an N. L. v. Zinzendorf, 19. 12. 1758, UA, R.15.T.a.1.13. 65 Instruction für G. J. Stahlmann, 18. 10. 1758, UA, R.15.T.a.1.12. 66 Ebd. Dieser Vorsatz wurde jedoch später nicht angewendet.
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Auf dieser Grundlage führten die Verhandlungen zu einem schnellen ersten Ergebnis, und am 5. Januar 1759 wurde ein königliches Reskript an die Handelskompanie erlassen, welches die Ansiedlung der Herrnhuter mit allen gewünschten Freiheiten legitimierte.67 Aber dieses bezog sich nur auf die Nikobarischen Inseln. Nach einem erneuten Vorstoß der Handelskompanie beim König, „daß solchergestallt die auf die Fortsetzung der Nicobarischen Etablissements gerichtete Absicht [. . .] nicht würde erreichet werden können“, sondern dass es einer Niederlassung in Tranquebar bedürfe, wurde sieben Tage später ein zweites königliches Reskript erlassen.68 Es enthielt die Erweiterung, „daß bemeldte Colonisten auf Tranquebar und den übrigen, Unserer Asiatischen Compagnie zugehörigen, Etablissements ihren festen Wohnsitz nehmen, und anfangsgedachte Privilegien und Freyheiten [. . .] genießen mögen“.69 Dieses zweite Reskript enthielt aber zugleich den Zusatz, „so lange als es Unsere Asiatische Compagnie für nöthig und nützlich erachten wird“.70 Auf diesem zweiten königlichen Reskript basierte die „Versicherungsurkunde“ der Handelskompanie an die Herrnhuter, welche als die rechtliche Basis ihres weiteren Handelns anzusehen ist,71 wozu die Handelskompanie wiederum durch die beiden oben erwähnten Reskripte vom König legitimiert war. Die Handelskompanie erwähnte in ihrer „Versicherungsurkunde“ jedoch nicht die zusätzliche Klausel,72 sondern verdeutlichte vielmehr ihren guten Willen, den Herrnhutern in Tranquebar und auf den Nikobarischen Inseln durch die Gewährung von Steuerfreiheiten und anderer Vorteile sowie die Unterstützung des örtlichen Gouvernements behilflich zu sein.73 Nach Abschluss der Verhandlungen zu Anfang 1759 waren die Herrnhuter somit rechtlich privilegiert, in allen durch die dänische Asiatische Handelskompanie kontrollierten Territorien Niederlassungen nach ihrer eigenen Verfassung zu gründen und Missionstätigkeit durchzuführen. Den Herrnhutern wurden im Zuge der Verhandlungen alle drei Verordnungen bekannt. Jedoch stellte die einschränkende Klausel im zweiten königlichen Reskript für Zinzendorf im Sommer 1759 ein grundsätzliches Problem dar. Schon im Februar hatte er über die Verhandlungen zusammenfassend gesagt: „Ein paar Jahr muß Tranquebar, und Coromandel überhaupt wol
67 Vgl. Erstes Niederlassungsreskript von Friedrich V., 05. 01. 1759, UA, R.15.T.a.1.18 und RA, OIK, 7a. Zum Folgenden siehe auch die Ausführungen Römers mit teilweise sehr umfangreicher Wiedergabe der Quellen, Römer, Geschichte [s. Anm. 7], 1–8. 68 Zweites Niederlassungsreskript von Friedrich V., 12. 01. 1759, UA, R.15.T.a.1.20. 69 Ebd. 70 Ebd. 71 Vgl. Versicherungsurkunde der AsK, 19. 01. 1759, UA, R.15.T.a.1.23. 72 „[S]o lange als es Unsere Asiatische Compagnie für nöthig und nützlich erachten wird.“ Zweites Niederlassungsreskript von Friedrich V., 12. 01. 1759, UA, R.15.T.a.1.20. 73 Vgl. Versicherungsurkunde der AsK, 19. 01. 1759, UA, R.15.T.a.1.23.
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Serieus das Object seyn, denn wir müssen von da Leute mit haben“.74 Nun wollte er die ganze Mission noch einmal abbrechen, bis „die Sache recht ausgeklärt ist, zur Fundation eines ruhigen Sitzes in Tranquebar für uns, bis die Brüder, nach ihrer eigenen verständigen Überlegung, eine Realität drinen finden können, die Friedrichs-Insuln nach und nach zu entamiren“.75 Den schon von ihm verabschiedeten ersten Missionaren schickte er nach Kopenhagen ein Schreiben hinterher: „Es ist daher mein gänzlicher Rath, daß [. . .] [wenn; d. Vf.] die bedenckliche Clausul nicht76 satisfactorisch removirt werden solte, [man d. Vf.] lieber die ganze Sache noch depretiren, und bezeugen solte, daß man die schon verwandte Summen [. . .] lieber verschmerzen“ würde, als sich vorschnell für eine unkoordinierte Nikobarenexpedition verpflichten oder anderweitig missbrauchen zu lassen.77 Hier zeigte sich deutlich Zinzendorfs Bewusstsein in Bezug auf die prekäre Lage dieser beginnenden Mission. Er hatte Befürchtungen, dass diese Klausel ein Instrument der herrnhutfeindlichen Partei in Kopenhagen sei, um die Herrnhuter bei auftretenden Problemen einfach wieder wegschicken oder sie zu einer nicht gründlich vorbereiteten Ausreise auf die Nikobaren zwingen zu können. Die Unsicherheitserfahrungen, welche die Herrnhuter in den vorhergehenden 30 Jahren gemacht hatten, führten hier zu dem Versuch, umfassende Rechtssicherheit für ihre Aktivitäten in Südasien zu erlangen. Aber genau so schnell, wie Zinzendorf aufbrauste, so leicht beruhigte er sich wieder, als ihm der neue Verhandlungsführer, der Herrnhuter Bischof David Nitschmann, sowie der Gewährsmann Boronowsky aus Kopenhagen die Befehle der Generalvollversammlung der Handelskompanie an das Gouvernement in Tranquebar mitteilten, welche die volle Unterstützung einer Niederlassung der Herrnhuter in Tranquebar zum Ausdruck brachten.78 Wie der Buchhalter der Handelskompanie später noch einmal zusammenfasste, sei die von Zinzendorf als so problematisch empfundene Klausel nie als Einschrän-
74
N. L. v. Zinzendorf an A. G. v. Moltke, 27. 02. 1759, UA, R.15.T.a.1.25. N. L. v. Zinzendorf an G. J. Stahlmann und A. G. Völker, 29. 09. 1759, UA R.15.T.a.1.45 (Hervorheb. im Original). Zinzendorf nennt in diesem Schreiben mehrere Beispiele, wo die Brüdergemeine z. T. schon über 15 Jahre konsolidierte Ortsgemeinen unterhalten hatte, ehe sie sich überhaupt den Missionsaufgaben widmen konnte. Die Unterstreichungen verdeutlichen die den Herrnhutern wichtigen Punkte einer Niederlassung in Tranquebar ohne Konflikte mit der Dänisch-Englisch-Halleschen Mission und ihre eigene Entscheidungsgewalt, wann in Abhängigkeit von den Umständen vor Ort von Tranquebar aus Missionare zu den Nikobarischen Inseln, nach dem dänischen König Friedrichsinseln genannt, abgesendet werden können. 76 „[N]icht“ ist in dieser Abschrift am Rand nachträglich ergänzt. 77 N. L. v. Zinzendorf an G. J. Stahlmann und A. G. Völker, 29. 09. 1759, UA, R.15.T.a.1.45. 78 Vgl. J. Boronowsky an N. L. v. Zinzendorf, 24. 11. 1759, UA, R.15.T.a.1.57, und Direktive der Generalversammlung der AsK an das Gouvernement in Tranquebar, 26. 10. 1759, UA, R.15.T.a.1.53, sowie schon kurz vorher J. Boronowsky an N. L. v. Zinzendorf, 23. 10. 1759, UA, R.15.T.a.1.49, und N. L. v. Zinzendorf an J. Boronowsky, Nov. 1759 (ohne Datum), UA, R.15.T.a.1.54. 75
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kung oder Druckmittel gegen die Herrnhuter gerichtet gewesen, sondern von Moltke selbst eingefügt worden und diente nur der Beruhigung der nicht näher spezifizierten Widersacher der Herrnhuter am dänischen Hof.79 In der Brüdergemeine herrschte dennoch Unklarheit, welcher Art ihre Aufnahme in Indien sein würde. Immer wieder wurde auf die an die Herrnhuter ergangene Einladung nach Ostindien, die Überwindung der dort ehemals auftretenden Schwierigkeiten und die nun anstehende Erfüllung des „Plans des Heilands“ hingewiesen.80 In diesem Zusammenhang stand auch die überraschend anmutende Frage Stahlmanns an Zinzendorf: „Wenn ein- oder der andre Bruder sollte requirirt werden, auf der Dänischen, oder der Missionarien Ihrer Kanzel zu predigen, kan Ers ohne Bedenken thun?“81 Zinzendorfs Antwort zeigte hier deutliche Skepsis: „Es wird nicht leicht begehrt werden und kommt aufs * [Los; d. Vf.]82 an, ob, wenn, wer und wie es der Heyland überhaupt vor gut findet.“83 Als nach der Abreise der aus elf ledigen Männern bestehenden ersten Gruppe von Herrnhutern nach Tranquebar am 7. November 1759 Nitschmann mit Boronowsky über die baldige Entsendung weiterer Herrnhuter verhandelte, starb Zinzendorf am 9. Mai 1760. 5. Gotthilf August Francke und seine Reaktion auf die Herrnhuter Südasienmission Die Versicherungsurkunde der Handelskompanie für die Herrnhuter betonte auch, man werde „den gesammten [. . .] geistlichen Lehrern nachdrücklichst bedeuten lassen, sich alles desjenigen was zu Streitigkeiten Anlaß geben, oder sonst den Evangelischen Brüdern, und denen von ihnen zu errichtenden Gemeinen, im geringsten zum Nachtheil und zur Verunglimpfung
79 Vgl. J. Boronowsky an N. L. v. Zinzendorf, 24. 11. 1759, UA, R.15.T.a.1.57. Laut Boronowsky diente die Klausel, um so dem „ersten Tumult mit einer Christlichen Klugheit auszuweichen“. Ebd. Dementsprechend ist die Interpretation zu revidieren, dass wegen der Abhängigkeiten der Handelskompanie von der dänischen Krone diese Einschränkung im Zusammenhang mit der landesherrlichen Weisungsbefugnis des dänischen Königs gegenüber der Direktion der AsK gesehen werden muss. 80 N. L. v. Zinzendorf Abfertigungsrede in Zeist, 28. 09. 1759, UA, R.15.T.a.1.40. 81 N. L. v. Zinzendorf Antworten auf Fragen von G. J. Stahlmann und A. G. Völker, 28. 09. 175, UA, R.15.T.a.1.41. 82 In den Dokumenten der Herrnhuter steht ein „*“ als Symbol für eine Entscheidung durch das Los. Zu der Praxis des Losgebrauchs in der Brüdergemeine „als unmittelbare [. . .] Führung des Heilands“ vgl. Erich Beyreuther: Lostheorie und Lospraxis. In: Studien zur Theologie Zinzendorfs. Hg. v. dems. Hildesheim [u. a.] 2000, 109–140, hier 109; Elisabeth W. Sommer: Gambling with God. The use of the lot by Moravian Brethren in the 18. Century. In: Journal of the History of Ideas 59, 1998, 267–286. 83 N. L. v. Zinzendorf Antworten auf Fragen von G. J. Stahlmann und A. G. Völker, 28. 09. 1759, UA, R.15.T.a.1.41.
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gereichen könnte, [sich; d. Vf.] zu enthalten“.84 Dieser Punkt lenkt die Aufmerksamkeit auf die bereits bestehende Dänisch-Englisch-Hallesche Mission bzw. auf die Reaktion der hallischen Seite auf die bevorstehende Niederlassung der Herrnhuter in Südasien. Gotthilf August Franckes erste bekannte Reaktion auf Herrnhuter Aktivitäten in Bezug auf Indien überliefert ein Brief an das Missionskollegium in Kopenhagen vom September 1759, also knapp zwei Monate vor der Abreise der ersten Herrnhuter. In seinem Schreiben zeigte sich Francke erstaunt und entsetzt über das Privilegio, welches die Herrnhuter, vermuthlich unter Vorspiegelung allerhand Vortheile, erschlichen haben [. . .] sollen, um ein Etablissement in Tranckenbar zu errichten. Wem bekannt ist, mit welchen Intriguen diese Parthes allezeit umgegangen, der wird leicht vorhersehen können, daß nicht nur die Vortheile, welche sie der Compagnie und dem Königlichen Interesse von ihrem zu errichtenden Etablissement versprochen haben möchten, wol in leeren Worten bestehen werden, [. . .] sondern daß sie auch alle Mühe sich geben werden, die gesamlete Missionsgemeine irre zu machen und in Verwirrung zu setzen [. . .]. [Außerdem; d. Vf.] aber dürfte die Nachricht von diesem Herrenhutischen Etablissement dem Werke bey denen Freunden zum großen Nachtheil gereichen, und, wenn es Gott zuließe, manche Quellen verstopfet werden, daraus bisher demselben Gutes zugeflossen. [. . .] Ich ersuche demnach [. . .] Dero [des Missionskollegiums; d. Vf.] weise fürsorge mit mir dahin zu vereinigen, daß solchen zu befürchtenden übeln Folgen so viel möglich vorgebeuget werde.85
Aus der umgehenden Antwort des Sekretärs des Missionskollegiums Finckenhagen schloss Francke fälschlicherweise, dass dem Missionskollegium und seinem Präsidenten Johann Ludwig von Holstein nichts von den bisherigen Verhandlungen der Herrnhuter bekannt gewesen sei.86 Dieses berichtete er den Missionaren in Tranquebar gleichzeitig mit umfassenden Warnungen vor den ankommenden Herrnhutern.87 Sechs Tage später fasste Francke in einem weiteren Schreiben zusammen: [S]o ist doch das allezeit Ursach genug, ihre Gemeinschaft zu fliehen, daß sie eine besondere Parthey sind. [. . .] Ich bitte Sie daher sämtlich recht herzlich, daß Sie [. . .] 84
Versicherungsurkunde der AsK, 19. 01. 1759, UA, R.15.T.a.1.23. G. A. Francke an J. Finckenhagen, 04. 09. 1759, ALMW/DHM 3/3c : 15a. 86 Vgl. J. Finckenhagen an G. A. Francke, 09. 10. 1759, AFSt/M 1 F 8 : 94. Zum Vorwurf der Verheimlichung der Verhandlungen vor dem Missionskollegium vgl. Nørgaard, Mission [s. Anm. 8], 179, ebenso Lehmann, Es begann [s. Anm. 6], 285 f. Beide fußen auf Fenger, welcher ausschließlich an Hand der Quellen in Kopenhagen eine knappe, aber kritische Darstellung liefert. Dieser geht davon aus, dass das Missionskollegium bei allen Verhandlungen übergangen wurde, ja sogar erst nach der Ankunft der Herrnhuter in Tranquebar 1760, die Schifffahrt für die Post eingerechnet, erst 1761, von dieser Herrnhuter Unternehmung erfahren habe. Vgl.: Fenger, Geschichte [s. Anm. 10], 226 f. Auch Fenger erliegt hier der suggestiven Wirkung der Briefe G. A. Franckes, dessen Bedeutung für die Herrnhuter Südasienmission er nicht thematisiert. 87 Vgl. G. A. Francke an alle Missionare, 23. 10. 1759, ALMW/DHM 3/3c : 15 (Ausfertigung) u. AFSt/M 1 B 48 : 15 (Entwurf). 85
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auch dem schlauesten Feinde88 nicht einräumen mögen, sich von ihnen einnehmen zu lassen, und habe das beste Vertrauen zu Ihnen, daß [. . .] der Herr [. . .] auch ferner alle List des Feindes an Ihnen zuschanden machen werde.89
In diesem Zusammenhang war Francke der Erste, der die Frage nach dem Bestimmungsort der Herrnhuter in den Mittelpunkt rückte: So „scheinet es, daß die den Herrnhutern ertheilte Freyheit nur bloß auf die Nicobarische Insuln und ein auf denselben zu versuchendes Etablissement gerichtet sey“.90 Damit bezog er sich hier – und dieser Linie folgte er konsequent die nächsten Jahre – ausschließlich auf das erste Königliche Privileg und lokalisierte nach diesem den Bestimmungsort der Herrnhuter Südasienmission.91 Für ihn verdeutlichte daher der Wunsch der Herrnhuter, einen Stützpunkt in Tranquebar zu haben: wohin ihre Absichten gerichtet seyen, und daß sie wenigstens einige Hand bey dem Missions=Werck direkt oder indirekt zu haben wünschen mögen, um ihr Ansehen dadurch zu vermehren und desto mehrere Wohltäter an sich zu ziehen.92
Für seinen nun einsetzenden Abwehrkampf bediente sich Francke des weitverzweigten Netzwerks des hallischen Pietismus.93 Sein energisches Einschreiten holte zuerst den Präsidenten des Missionskollegiums, Holstein, wieder in die Reihen der Herrnhutgegner zurück. Dieser hatte trotz der wiederholten gegenteiligen Behauptung Franckes94 sehr wohl Kenntnis von den herrnhutischen Plänen. Beide Niederlassungsreskripte für die Herrnhuter wurden von ihm eigenhändig signiert, was auf seine Funktion als Obersekretär der däni88 Im Entwurf dieses Briefes (AFSt/M 1 B 48 : 16) wird der Begriff des „Sünders“ gebraucht. Als G. A. Francke im Oktober 1762 zum wiederholten Male die Unterstützung G. W. v. Söhlenthals gegen die Herrnhuter im Zusammenhang mit einer Vorsprache beim dänischen König erbittet, wendet er sich selbst deutlich gegen die Vorstellung einer „Feindschaft“ zwischen Halle und Herrnhut und widerspricht dem Gebrauch dieses Begriffes in offiziellen Briefen. Vgl. G. A. Francke an G. W. v. Söhlenthal, 05. 10. 1762, AFSt/M 1 F 10 : 13. 89 G. A. Francke an alle Missionare, 29. 10. 1759, ALMW/DHM 3/3c : 16. 90 G. A. Francke an J. Finckenhagen, 26. 11. 1759, AFSt/M 1 F 8 : 97. 91 In seinem Schreiben, G.A Francke an alle Missionare, 29. 11. 1760, ALMW/DHM 3/3c : 17, kommt er deshalb zu der Aussage: „der neue Gouverneur zu Tranckenbar [würde; d. Vf.] hoffentlich leicht dahin zu disponieren seyn, daß er diesen Leuten, [. . .] nicht gestatten [würde; d. Vf.], die Grenzen ihres Privilegii zu überschreiten und [sich; d. Vf.] auf der Küste gleich zu etablieren“. Diese Fehlinformation aus Halle war der Hintergrund, vor dem die DEH-Missionare alle Aktivitäten der Herrnhuter in Tranquebar immer als Übertretung von deren als auf die Nikobaren begrenzt angenommenen Privileg verstanden und deshalb als Rechtsverletzung nach Europa meldeten. 92 G. A. Francke an J. Finckenhagen, 26. 11. 1759, AFSt/M 1 F 8 : 97. 93 Vgl. Ulrike Gleixner: Expansive Frömmigkeit. Das hallische Netzwerk der Indienmission im 18. Jahrhundert. In: Mission und Forschung [s. Anm. 2], 57–67, u. Thomas Müller-Bahlke: Die Bedeutung des Adels für das hallische Netzwerk. In: Die Welt verändern. August Hermann Francke – Ein Lebenswerk um 1700. Hg. v. Holger Zaunstöck [u. a.]. Halle 2013, 181–193. 94 Vgl. G. A. Francke an alle Missionare, 23. 10. 1759, ALMW/DHM 3/3c : 15 (Ausfertigung) u. AFSt/M 1 B 48 :15 (Entwurf).
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schen Kanzlei zurückzuführen ist.95 Erst Franckes energisches Einschreiten verdeutlichte ihm die Notwendigkeit, die Herrnhuter auf die Nikobarischen Inseln zu beschränken, und führt zu ersten Schritten Holsteins in dieser Richtung.96 Gleichzeitig forderte Francke seinen alten Kollegen Adam Struensee, den nunmehrigen Generalsuperintendenten von Schleswig-Holstein, auf, den neuen Gouverneur von Tranquebar, Hermann Jackob Forck, vor den Herrnhutern zu warnen.97 Später bat er ihn um direkte Intervention beim dänischen König bzw. dessen Ministern in dieser Sache.98 Hatte Franckes Vorstoß 1760 noch keinen Erfolg,99 so trat er zwei Jahre später ein, hauptsächlich vermittelt durch Baron von Söhlenthal, den schon erwähnten Jugendfreund Zinzendorfs. Dieser sollte, von Francke umfassend instruiert, Friedrich V. den Wert der schon über 50 Jahre bestehenden Mission erneut verdeutlichen, damit der König, der „von der Sache und dem zu besorgenden ruin der Mission nicht informiert“ war, so suggerierte Francke, sie nicht einer „solche[n] Secte, deren Betrügerey in Teutschland und Engeland genug offenbar worden, um eines zeitlichen aber ungewissen Vortheils willen, Preis geben würde“.100 Francke fuhr in seinem Brief fort: „Daher sehr zu wünschen, daß sie [ihre Majestät; d. Vf.] davon die ernste Nachricht erhalten, damit in Zeiten remediret werden könne, ehe es damit, wenn schon eine große Zerrüttung erfolgt, zu spät sey.“101 Dieses remedieren, also heilen oder Abhilfe schaffen, kann zugleich mit zurückführen übersetzt werden.102 In diesem Fall sollte es das auch, denn als Folge von Franckes Interventionen war es Baron von Söhlenthal, der Graf Moltke die Zusicherung abringen konnte, die Herrnhuter von Tranquebar entweder zu den Nikobarischen Inseln zu befördern oder nach Europa zurückzuführen.103
95 Vgl. Erstes Niederlassungsreskript von Friedrich V., 05. 01. 1759, UA, R.15.T.a.1.18, u. Zweites Niederlassungsreskript von Friedrich V., 12. 01. 1759, UA, R.15.T.a.1.20. 96 Eine Konsequenz davon ist, dass die Direktion der AsK dem Gouvernement in Tranquebar mitteilt, dass die Herrnhuter die Nikobarischen Inseln nicht aus den Augen verlieren dürften, dass dieses ihr „Haupt=Endzweck“ sei. Zur Vorbereitung und zur Unterstützung für dieses Ziel dürfen sie aber in Tranquebar alle erwähnten Freiheiten genießen. Direktion der AsK an das Gouvernement in Tranquebar, 09. 12. 1761, UA, R.15.T.a.2.25, vgl. Ruhland, Moravian Brethren [s. Anm. 8], 753. 97 Vgl. G. A. Francke an A. Struensee, 29. 10. 1759, AFSt/H C 710 : 5. 98 Vgl. G. A. Francke an A. Struensee, 17. 06. 1762, AFSt/M 1 F 10 : 9; A. Struensee an G. A. Francke, 04. 07. 1762, AFSt/H C 710 : 10. 99 Vgl. G. A. Francke an alle Missionare, 29. 11. 1760, ALMW/DHM 3/3c : 17. 100 G. A. Francke an G. W. v. Söhlenthal, 04. 06. 1762, ALMW/DHM 3/3c : 19 (Extrakt). 101 Ebd. 102 Zeitgleich bittet Francke die Missionare, dem Missionskollegium die „Gefahr der Zerrüttung“ durch die Herrnhuter „recht ausdrücklich vorzustellen“, damit dieses „desto mehr [. . .] Materie habe, bey der Compagnie auf die Remedur zu drängen“ (G. A. Francke an alle Missionare, 15. 06. 1762, AFSt/M 1 B 51 : 35). 103 Vgl. G. W. v. Söhlenthal an G. A. Francke, 02. 09. 1762, ALMW/DHM 3/3c : 19 (Extrakt).
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Moltkes Zusage an Söhlenthal ist die erste Äußerung der dänischen Obrigkeiten, welche eine deutliche Abwendung von den den Herrnhutern für Südasien ursprünglich zugestandenen Privilegien deutlich werden lässt. An diesem Punkt verdient die Argumentation Franckes noch einmal Aufmerksamkeit, zeigt sie doch den Kern seiner Kritikpunkte gegen die Herrnhuter und gibt Aufschluss über die Situation in Tranquebar. Die ersten Warnungen Franckes vor den Schäden, welche die Herrnhuter in Tranquebar anrichten würden, sind schon Ende 1759 verfasst, noch bevor der erste Herrnhuter seinen Fuß auf indischen Boden gesetzt hatte, ja knapp zwei Jahre, bevor die ersten Nachrichten von ihrem Verhalten in Tranquebar überhaupt Europa erreichten.104 Sie offenbaren seine Befürchtungen und Voreingenommenheit, sind aber mitnichten als Zustandsbeschreibungen anzusehen, auch wenn Franckes Autorität sie fast in den Status von Tatsachen erhob. Das zeigt sich z. B. in Franckes Argumenten, welche die innerpietistischen Auseinandersetzungen der 1730er Jahre wieder aufgriffen und in dem Vorwurf der Gründung einer eigenen Partei durch Zinzendorf gipfelten.105 Ebenso diente Franckes letztes Zusammentreffen mit Zinzendorf 1731 als grundlegender Beweis für die Falschheit Zinzendorfs und die moralische Unvollkommenheit der Herrnhuter, die in böswilliger Absicht andere täuschen würden, um ihnen zu schaden:106 „Sowenig ich mich damals einer so gar unverschämten Verdrehung seiner [Zinzendorfs; d. Vf.] mit mir gehabten Unterredung versehen hätte; so schwehr ist mirs [. . .] geworden einiges vorgeben dieser Leute zu glauben“.107 Diese „List und Falschheit“108 fand Francke auch in der angeblichen Erschleichung der Zusage zu einer Niederlassung der Herrnhuter in Tran-
104 Die ersten Nachrichten aus Tranquebar laufen in Halle ein am 17. 06. 1761, z. B. Wiedebrock an G. A. Francke, 16. 10. 1760, AFSt/M 1 B 50 : 5, und dann am 27. 08. 1761, z. B. alle Missionare an G. A. Francke,12.06. (P. S.vom 17.07.) 1760, AFSt/M 1 B 50 : 3. Entsprechend der kurzen zeitlichen Distanz ihrer Absendung zur Ankunft der Herrnhuter am 02. 07. 1760 können sie kaum umfassende Informationen enthalten. Die nächste Postsendung aus Indien kommt am 27. 05. 1762 in Halle an, z. B. alle Missionare an G. A. Francke, 29. 08. 1761, AFSt/M 1 B 51 : 4, und meldet die Ankunft der zweiten Gruppe Herrnhuter am 27. 08. 1761, und zugleich den bereits erfolgten Ausbau des Brüdergartens sowie das gute wirtschaftliche Auskommen der Herrnhuter in der dänischen Niederlassung durch ihre Handwerksbetriebe und deren Versuche, die tamilische und die portugiesische Sprache zu erlernen. 105 Vgl. G. A. Francke an alle Missionare, 29. 10. 1759, ALMW/DHM 3/3c : 16. 106 Einen prominenten Begriff der Moralistik des 18. Jahrhunderts benutzend, bezieht sich G. A. Francke hier auf „dasjenige Laster, da man anders mit dem Munde redet, als man es im Herzen meynet, und die That es hernach ausweiset.“ Ein Laster, welches „Gott und den Menschen“ Feind ist; vgl. Art. „Falschheit“. In: Johann Heinrich Zedlers Grosses vollständiges Universallexikon aller Wissenschaften und Künste, Bd. 9, Sp. 188 (online: http://www.zedler-lexikon.de, letzter Zugriff: 03. 03. 2011). Zudem muss der Begriff der Falschheit hier vor dem pietistischen Konzept der Erweckung oder Wiedergeburt als ein ontologischer Status interpretiert werden, der davon zeugt, dass die betreffende Person eben keine Bekehrung zum wahren Christentum erfahren hat. 107 Vgl. G. A. Francke an J. Finckenhagen, 26. 11. 1759, AFSt/M 1 F 8 : 97. 108 G. A. Francke an J. Finckenhagen, 01. 11. 1762, AFSt/M 1 F 9 : 26.
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quebar wieder, welche für ihn eine eklatante Missachtung des königlichen Niederlassungsprivilegs darstellte.109 Die konsequente Thematisierung des „eigentlichen“ Bestimmungsortes der Herrnhuter, entgegen ihren Privilegien, und der dabei aufgebrachten Idee von deren Rückführung steigerte sich im Oktober 1762 zu dem Punkt, dass Francke dem Sekretär des Missionskollegiums mehr oder weniger offen Handlungsanleitungen erteilte und für die angemahnte direkte Vorsprache beim König den dabei einzuholenden Befehl bereits vorformulierte: [. . .] und bäte, daß Ihro Königl. Maj. an die Asiatische Compagnie, [. . .] den Befehl ertheilen lassen möchten: nicht zu gestatten, daß die Mährischen Brüder in Tranckenbar eine von der Königl. Mission verschiedene neue Mission anlegen dürfen, sondern sie dahin anzuhalten, daß sie unverzüglich sich von Tranckenbar hinweg begeben, und ihre Engagements wegen Nicobaren erfüllen, oder nach Europa zurück kehren müsten.110
Diese massiven und umfangreichen Interventionen trugen dann endlich die erwünschten Früchte. Am 26. November 1762 wurde vom dänischen König ein Ultimatum erlassen, welches verfügte, dass die Herrnhuter binnen Jahresfrist entweder auf die Inselgruppe zu gehen hätten oder nach Europa zurückkehren müssten.111 Als einzige Gründe wurden das Nichterreichen ihres Bestimmungsortes und „Unruhe in der Religion“ in Tranquebar genannt.112 Vor dieser Entscheidung erfolgte weder eine Befragung der Herrnhuter noch eine umfassende Überprüfung der Vorwürfe. Hier wird deutlich, dass mit Zinzendorfs Tod am 9. Mai 1760, also sechs Monate nach der Aussendung der ersten Missionare, das Prestige der Herrnhuter am dänischen Hof sank. Lediglich eine zweite Gruppe Herrnhuter, diesmal vier Ehepaare und weitere ledige Männer, konnte im Herbst 1760 ausgesendet werden, danach war der Widerstand in Kopenhagen acht Jahre lang zu stark. Einzig die Direktion der Handelskompanie betonte, dass wegen der Einstellung der Schiffsverbindung zu den Nikobarischen Inseln die Realisierbarkeit beider Optionen des königlichen Ultimatums nicht möglich war und eröffnete den Herrnhutern deshalb die Möglichkeit einer Ansiedlung in anderen Territorien auf dem indischen Subkontinent.113 109 Vgl. G. A. Francke an alle Missionare, 23. 10. 1759, ALMW/DHM 3/3c : 15 (Ausfertigung), AFSt/M 1 B 48 : 15 (Entwurf). 110 G. A. Francke an J. Finckenhagen, 08. 10. 1762, ALMW/DHM 3/3c : 19 (Ausfertigung), AFSt/M 1 F 9 : 24 (Entwurf). 111 Vgl. „1–Jahresreskript“, Friedrich V. an AsK, 16. 11. 1762, UA, R.15.T.a.2.29. 112 Ebd. 113 Vgl. Generalbrief der AsK an Gouverneur in Tranquebar (Übersendung des königl. „1–Jahresreskripts“), 15.-22.11. und Postskriptum 23. 11. 1762, UA, R.15.T.a.2.30. Auf Grundlage seiner Informationen vom Mai 1759 vermutete Francke in Halle schon im Sommer 1760, dass die AsK die Schiffsverbindung zu den Nikobarischen Inseln einstellen würde. Vgl. G. A. Francke an A. Struensee, 12. 06. 1760, AFSt/H C 710 : 7.
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Die im ersten Ultimatum erfolgten Androhungen wurden in dieser Form zwar nie vollstreckt, jedoch führte der anhaltende Protest aus Halle in Kopenhagen gegen die Herrnhuter 1764114 und 1765115 zu weiteren Ultimaten und Einschränkungen. Zu diesen gehörte ein explizites Missionsverbot und das Verbot, sich außerhalb von dänischem Hoheitsgebiet niederzulassen – eine deutliche Maßnahme, die versuchte, jede Möglichkeit einer Herrnhuter Mission in Südindien ohne Kontrollmöglichkeit durch das Missionskollegium und damit indirekt Francke zu verhindern.116 Der vehemente Einsatz Franckes gegen die Herrnhuter Südasienmission fand jedoch in die zeitgenössische Streitschriftenkultur keinen Eingang. Vielmehr zeigen einzig die Quellen die umfangreiche Kommunikation innerhalb des weit verzweigten pietistischen Netzwerks, die von Indien über Dänemark, Augsburg, Halle und Berlin bis nach London reichte und versuchte, politischen Einfluss geltend zu machen.117 Bevor bei der Edition der Halleschen Berichte 1763 der alljährliche Brief der DEH-Missionare an den dänischen König aus dem Ankunftsjahr der Herrnhuter, 1760, publiziert wurde,118 holte Francke – nicht zum ersten Mal119 – beim Missionskollegium in Kopenhagen die Zustimmung ein, dass es richtig sei, alles die Herrnhuter Betreffende zu zensieren: „so habe ich die dahin gehörige Passage ausgestrichen, weil man nicht gewust, ob man damit nicht anstossen möchte und es voriezt noch nicht rathsam sey, etwas von der Sache zu publiciren, bis wenigstens der letzte allerhöchste Königl. Befehl120 zur Vollziehung gekommen“.121 Die oben kurz erwähnten Auseinandersetzungen um die Herrnhuter Südasienmission bis 1766 sollen hier im Einzelnen nicht mehr Thema sein. Die Grundstruktur und Argumentationsweise Franckes blieben gleich, nur die 114
Vgl. Direktion AsK an Gouvernement Tranquebar, 26. 11. 1764, UA, R.15.T.a.4.a.g. Vgl. „3–Jahresreskript“, Friedrich V. an AsK, 25. 11. 1765, UA, R.15.T.a.7.35. 116 Vgl. Misskoll. an Präsidenten und Direktion der AsK, 24. 09. 1765, AFSt/M 1 F 10. 117 Vgl. u. a. F. M. Ziegenhagen an J. Finckenhagen, 01. 12. 1762, AFSt/M 1 F 10 : 16, ausführlich dazu vgl. Jetter-Staib, Ziegenhagen [s. Anm. 52], 408 f., s. a. G. A. Francke an G. W. v. Söhlenthal, 21. 01. 1763, AFSt/M 1 F 10 : 17; F. W. Pasche an alle Missionare, 02. 02. 1765, ALMW/DHM 6/10 : 26 und G. A. Francke an J. J. Hecker, 15. 01. 1763, AFSt/H C 655 : 109. 118 Alle Missionare an Friedrich V., 05. 10. 1760, AFSt/M 2 D 37 : 6, zensierter Abdruck in: HB [s. Anm. 28], 8 (93. Cont.), 1763, 910 f. 119 Nach längeren Vorüberlegungen lehnt Francke es im Sommer 1761 ab, den Herrnhutern öffentlich entgegenzutreten: „zumalen ich nunmehr nicht dienlich machen kan, ihrem dreisten Vorgeben publice zu widersprechen da solches nicht füglich geschehen könte, ohne dasjenige, was wirklich geschehen ist, selbst zugleich anzuzeigen und bekannt zu machen“ (G. A. Francke an J. Finckenhagen, 17. 08. 1761, AFSt/M 1 F 9 : 12). Das Faktum der zu diesem Zeitpunkt noch gültigen rechtlichen Grundlage aller Freiheiten der Herrnhuter in Tranquebar steht einer öffentlichen Konfrontation im Wege und ist Francke hier bewusst. 120 Hier bezieht sich Francke auf das „1–Jahresreskript“, Friedrich V. an AsK, 16. 11. 1762, UA, R.15.T.a.2.29. 121 G. A. Francke an J. Finckenhagen, 25. 06. 1763 (aufgenommen in der Datenbank als 25.01.), AFSt/M 1 F 9 : 35 und vgl. Finckenhagens zustimmende Antwort, J. Finckenhagen an G. A. Francke, 02. 08. 1763, AFSt/M 1 F 9 : 39. 115
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Anschuldigungen wurden fallweise variiert. Am Ende reduzieren sie sich jedoch auf die immer gleichen, ständig reproduzierten Passagen, dass man das Missionswerk vor „denen listigen und gefährlichen Absichten der Herrnhuter zu de[ss]en Hintertreibung“ schützen müsse,122 „[d]aß aber ihre Absicht gar nicht auf Nicobaren gehe“123 und sie „eine falsche und listige Art, die sich aller Schlangen=krümmen bedient“,124 hätten. Selbst Aussagen, zu denen ihm mehrfach, z. B. von den hallischen Missionaren, bekannt gegeben wurde, dass sie keinesfalls der Wahrheit entsprachen, wie z. B. der angebliche Übertritt des Landkatecheten Rajanayakkan 1761,125 wiederholte er in manipulativer Form gegenüber unterschiedlichen Partnern.126 Durch diese ständige Wiederholung von Francke selbst oder vermittelt durch weitere Mitglieder des umfangreichen Kommunikationsnetzes, um die angebliche Gefahr des Unterganges der hallischen Mission besser greifbar zu machen, wurde ihnen ein regelrechter Wahrheitsgehalt verliehen. Für die spätere Entspannung der Konfliktsituation in Tranquebar sind unterschiedliche Momente anzuführen: Mit dem Regierungsantritt Christians VII. 1766 begann sich die Politik gegenüber den Herrnhutern zögerlich zu ändern. Zwar verlängerte er 1767 die Einschränkungen seines Vaters gegenüber den Herrnhutern, aber er hob das bisher bestehende Ultimatum einer Ausreise auf die Nikobarischen Inseln oder der Rückkehr nach Europa auf.127 Vor allem jedoch entzog die 1768 erstmals mögliche Aussendung von Herrnhutern auf die Inselgruppe dem Ultimatum das Fundament und machte den Hauptkritikpunkt obsolet. Zugleich fehlte durch den Tod Gotthilf August Franckes 1769 der Initiator weiterer massiver Interventionen gegen sie. Letztlich erfolgte aber erst durch die Konzession für den Brüdergemeinort Christiansfeld im Dezember 1771 die Wiederzulassung der Brüdergemeine im Dänischen Gesamtstaat und somit auch die Aufhebung aller Restriktionen gegen die Herrnhuter in den dänischen Kolonien.
122
G. A. Francke an O. v. Thott, 23. 12. 1765, AFSt/M 1 F 9 : 57. G. A. Francke an J. Finckenhagen, 23. 12. 1765, AFSt/M 1 F 10 : 28. 124 G. A. Francke an D. Zeglin, 22. 01. 1765, AFSt/M 1 B 53 : 39. 125 Ausführlich zu Rajanayakkan vgl. Liebau, Mitarbeiter [s. Anm. 8], 251–254, 279–281. 126 Seine falsche Behauptung, dass „die Herrnhuter bereits den angesehensten und begabtesten Mitarbeiter der Mission auf ihre Seite gezogen“ haben (G. A. Francke an J. Finckenhagen, 28. 05. 1762, ALMW/DHM 3/3c : 9), versucht Francke später mit den Worten abzutun: „Was die Herrnhuter betrifft: so ist es wohl ein Mißverstand aus meinem damaligen Schreiben [. . .] gewesen, die beyden Catecheten Rajanaicken und Schinnappen seyen wirklich schon öffentlich zu ihnen übergetreten“ (G. A. Francke an J. Finckenhagen, 02. 08. 1764, AFSt/M 1 F 9 : 44). Dennoch hat er keinerlei Skrupel, diesen angeblichen Übertritt im Weiteren ständig als Argument zu wiederholen. Vgl. G. A. Francke an J. Finckenhagen, 08. 10. 1764, AFSt/M 1 F 9 : 47, u. G. A. Francke an J. Finckenhagen, 23. 12. 1765, AFSt/M 1 F 10 : 28. 127 Vgl. Reskript, Christian VII. an AsK, 27. 11. 1767, UA, R.15.T.a.9.13.a. 123
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6. Die Herrnhuter Südasienmission als intendiertes Konkurrenzunternehmen? Wenn die Bedeutung Gotthilf August Franckes für die rechtliche Marginalisierung der Herrnhuter Südasienmission im Vorausgehenden herausgestellt wurde, so ist die Frage, ob diese nicht von Anbeginn als ein Konkurrenzunternehmen gegen die Dänisch-Englisch-Hallesche Mission geplant war, noch einmal zu erörtern. „Könntet ihr Leben unter die dortigen getauften Eingeborenen bringen, wie wollte ich mich freuen!“128 Dieser Satz des Bischofs Johannes v. Watteville im Zusammenhang mit der Abfertigung der zweiten Gruppe nach Indien 1760 dient in der Historiographie als der maßgebliche Beleg für das geplante Eindringen der Herrnhuter in den Arbeitsbereich der Dänisch-Englisch-Halleschen Mission, die damit ihrem angestammten Intimfeind schaden wollten oder doch zumindest in unverantwortlicher Weise unbedacht vorgegangen seien.129 Römer hatte diese Worte 1921 in seiner umfassenden Darstellung der Herrnhuter Südasienmission in einer längeren Passage zitiert und als missionspraktischen Fehlgriff gedeutet.130 Lehmann wählte 30 Jahre später „mit bedacht“ den Herrnhuter Historiker, den er abschnittsweise zitiert, als Grundlage für sein Kapitel über den Aufenthalt der Herrnhuter in Tranquebar, weil dadurch „die Tranquebarer [die hallischen Missionare; d. Vf.] vor dem Verdacht [ge]schützt [sind; d. Vf.], als ob sie die Ursache der Unruhe gewesen wären“, und kommt im direkten Anschluss seiner Wiedergabe von Wattevilles Zitat zu der Feststellung: „Das war doch geradezu die Aufforderung zur Einmischung in fremde Arbeit!“131 Die enorme Bedeutung der kurzen Passage aus Wattevilles umfangreichen Gesprächen und Instruktionen für die Bewertung der Herrnhuter Südasienmission ist verwunderlich, denn es finden sich keine ähnlichen Aussagen in den Quellen. Sie erscheint vielmehr nicht repräsentativ für die Anliegen der Herrnhuter Südasienmission, so dass sie umso mehr einer kritischen Hinterfragung bedarf. Die folgende ausführliche Wiedergabe einiger Auszüge der Mitschrift der von Watteville am 11. September 1760 in Barby auf der Abfertigungskonferenz gehaltenen Rede sowie seiner anschließend vom 12. bis 16. September 1760 verfassten Instruktionen für den Brüdergarten hat ihre Ursache in der fragmentarischen und dadurch verfälschenden Zitierweise dieser Passagen bei Römer ohne direkte Quellenangabe.132 Das Protokoll dieser Abfertigungsrede liegt in mehreren Ausführungen vor.133 Zudem teilt das Jüngerhaus-Diarium 128
Römer, Geschichte [s. Anm. 7], 15. Vgl. Römer, Geschichte [s. Anm. 7], 71 f.; Lehmann, Es begann [s. Anm. 6], 282, 284 f.,289 f. 130 Vgl. Römer, Geschichte [s. Anm. 7], 14 f. 131 Lehmann, Es begann [s. Anm. 6], 282. Zur für die Historiographie maßgeblichen Interpretation dieses Satzes vgl. ebd., 281–285. 132 Vgl. Römer, Geschichte [s. Anm. 7], 14 f. 133 Ein mehrmals korrigiertes Protokoll der Abfertigungskonferenz ist erhalten unter dem 129
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mit Datum vom 8. Oktober 1760 die von Watteville verfassten Instruktionen für Tranquebar mit,134 welche nochmals in zweifacher Ausfertigung als Briefkopie mit Specialinstructionen vorliegen.135 Die bei Römer zitierte Passage: Eure Conduite mit halleschen Missionaren muß sehr vorsichtig sein. Hütet euch vor Händeln und legt ihnen nichts in den Weg. Trauet auch bei gutem Anschein nicht so leicht und steht auf Eurer Hut. Die halleschen Missionare dürfen Euch niemals schuld geben können, daß Ihr ihnen ihre Schäflein abspenstig gemacht habt.136
ist eine Zusammenstellung aus Teilen von § 23 und aus § 25 der „Instruktion“,137 die im Original eine Textseite auseinander liegen und zudem stark gekürzt sind. Unmittelbar vor dem aus Mitte von § 25 stammenden Schlusssatz bei Römer: „Die Missionarii müßen euch nie Schuld geben können, dass ihr ihnen ihre Schäfgen genommen oder abspenstig gemacht habt“, geht Watteville explizit darauf ein, „alle getaufte nicht als Heyden zu tractiren, sondern alle von diesen Missionariis getaufte als Lutheraner und folglich auch in Ansehung der Aufnahme in die Gemeine und des Abendmahls so zu behandeln, wie ich Sub N. 22 von den Religionsleuten geschrieben habe“.138 Unter § 22 instruiert Watteville, dass erweckte Europäer in Tranquebar nicht Mitglieder der Brüdergemeine werden sollen, sondern „sie sollen in ihrer [Kirchen-]Verfassung bleiben, wie so viele tausend Geschwister in der Diaspora in Europa ja auch thun“.139 Der von Römer als Schlusssatz verwendeten Passage folgen in der „Instruktion“ § 25 abschließend die Worte:
Titel: „Die Abfertigungs Conferenz der 2ten Colonne der 13 Ostind. Geschwister in Barby d. 11. Sept. 1760“, UA, MDep.XI.8.5. Die Korrekturen sind mit größter Wahrscheinlichkeit als Vorbereitung für die Wiedergabe des Inhalts dieser Abfertigungskonferenz auf der Ratskonferenz am 06. 10. 1760 verfasst worden. Vgl. „Protokoll der Ratskonferenz 1760&61“, 06. 10. 1760, UA, R.3.B.4.c.1. Eine Reinschrift des korrigierten Textes liegt vor unter UA, R.15.T.a.2.13 und wird im Folgenden zitiert. In das Jüngerhaus-Diarium wurde unter dem Datum des 11. 09. 1760 die vormittägliche Abschiedskonferenz nicht in ihrer ausführlichen Form aufgenommen, sondern nur ganz kurz die Eingangs- und die Endpassage. Dafür wird dort die Rede Wattevilles vom Nachmittag wiedergegeben und vom Abschiedsgottesdienst für die nach Indien bestimmten Mitglieder sowie der Ordination der vier ledigen Männer berichtet. Vgl. Jüngerhaus-Diarium, 11. 09. 1760, UA, GN.A.80. 1760. 3. 134 Vgl. Jüngerhaus-Diarium, 08. 10. 1760, UA, GN.A.80. 1760. 3. 135 Vgl. J. v. Watteville, Instruktionen für Tranquebar, 12.-16. 09. 1760, UA, R.15.T.a.2.14. Die Unterschiede zwischen den drei Versionen sind marginal. Die Grundlage für die folgenden Ausführungen bildet die nicht eingebundene Version unter UA, R.15.T.a.2.14; im Folgenden zur besseren Übersicht als „Instruktion“ bezeichnet. 136 Römer, Geschichte [s. Anm. 7], 14. 137 Vgl. J. v. Watteville, Instruktionen für Tranquebar, 12.-16. 09. 1760, UA, R.15.T.a.2.14. 138 Ebd. 139 Ebd.
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ja wenn ihr euch auch mit einigen auf einen Diaspora-Fuß einließet, so müßt ihr sie anhalten, fleißig in ihre Kirchen zu gehen, und sich nicht daselbst zu entziehen. So denke ich von der Sache, und ich weiß, daß auch meine Mitarbeiter so denken. Köntet ihr auf diese Weise Leben unter die dortigen getauften Indianer bringen, wie wolte ich mich freuen.140
Römer stellt in einem weiteren Zitat, das er von Watteville wiedergibt, diesen letzten Satz aus § 25 der „Instruktion“ an das Ende einer Passage von Wattevilles Rede auf der Abfertigungskonferenz. Dort hatte sich Watteville über die vier in Südindien anzutreffenden Religionen geäußert: die lutherische Religion, die katholische Religion, „die Mahomedanische Religion“ und die „Vierte Religion“, die „Ost=Indischen Heiden“,141 und fast zusammen, wie leicht die Missionspredigt wäre, wenn es in einem Gebiet keinerlei Christen gäbe. In direktem Anschluss fährt Watteville in seiner Rede fort: Aber in Ost=Indien finds ihr den Statum ganz anders: Erstlich findet ihr eine auf Lutherischen Fuß eingerichtete Christliche Religion aus den Heiden. Sie sind durch die von Halle hingeschickten Missionarios bey Tausende zur Christlichen Religion gebracht worden. Man kan nicht sagen, daß es auf eine Bekehrung des Herzens angetragen worden, sondern wenn sie in der Lutherischen=Lehre unterrichtet worden, und sie dieselbe gelernet und sich dazu bekannt haben, so sind sie getauft und Christen worden. Die Ost=Indische=Compagnie in Copenhagen hat die idée geäußert, daß die meisten von diesen getauften schlechter wären als die Heiden: Und es kan gar leicht möglich seyn, wir haben in West=Indien dergleichen Exempel gesehen; aber es können doch Leute drunter seyn, die etwas vom Heiland gefühlt haben, und um Jesu verlegen sind. Wenigstens haben die ersten Missionarii Ziegenbalg, Gründler p. gewiß etwas vom Heyland in ihren Herzen gehabt, und sind auch noch in Ost=Indien als Gottes Menschen respectiert. Das alles zusammen macht, daß ihr mit denen von denen Missionarius getauften Indianern eine ganz andere Coduite führen müßt, als mit einem Wilden in America.142
Römer übernimmt fast wörtlich den Anfang dieses Teils der Rede mit einer kurzen Auslassung und beendet sie vor dem Satz, der die ersten hallischen Missionare als aufrechte Christen darstellt, so dass sein Zitat Wattevilles als reine Kritik an der hallischen Bekehrungsmethode bestehen bleibt. Zudem beschließt er sein Zitat im Anschluss an den Satz der Rede: „Aber es könnten doch Leute darunter sein, die etwas vom Heiland gefühlt haben und um ihn verlegen sind“, in Anlehnung an den Schlusssatz § 25 der „Instruktion“ mit den entscheidenden Worten: „Könntet ihr Leben unter die dortigen getauften Eingeborenen bringen, wie wollte ich mich freuen!“143 Nicht nur reisst er ihn aus dem Zusammenhang, sondern er unterschlägt die Einschränkung: „[k]öntet ihr auf diese Weise“, die sich explizit auf das Diasporaverständnis 140 141 142 143
Ebd. Abfertigungskonferenz der 2. Kolonne in Barby, 11. 09. 1760, UA, R.15.T.a.2.13. Ebd. Römer, Geschichte [s. Anm. 7], 15.
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der Herrnhuter berief.144 Stattdessen wertet Römer im direkten Anschluss die durch ihn zitierten Äußerungen Wattevilles: „Diese Worte Wattevilles an die ausgesandten Brüder muß man bedauern, denn für eine Missionsgemeine ziemt sich ein geringschätziges Urteil einer anderen Mission nicht“.145 Das philadelphische Ideal der Brüdergemeine im 18. Jahrhundert,146 welches sich im Plan der Gründung einer Ortsgemeine in Tranquebar widerspiegelt, die als „Stadt auf dem Berge“ geplant war, als „ein Licht, das hineinleuchtete in die Finsternis“, wendet Römer um in seine Interpretation der von ihm benutzten Zitate Wattevilles, dass „[m]it der Finsternis [. . .] ganz eigentlich auch die Missionsgemeinde der halleschen Mission“ gemeint gewesen sei.147 Dass sich die Herrnhuter als Nachbarn der Dänisch-Englisch-Halleschen Mission in Tranquebar ansiedeln wollten, steht außer Frage, boten doch die dänischen Gebiete in Indien zum damaligen Zeitpunkt die einzige Gelegenheit für die Expansion des protestantischen Glaubens in Südasien. Der größere Kontext von Wattevilles Zitat zeigt jedoch, dass Römer und ihn noch verschärfend Lehmann nicht nur den Philadelphiagedanken in der Südasienmission der Herrnhuter nicht beachten, sondern auch die Bedeutung des Diasporagedankens völlig ignorieren. Stattdessen wenden sie die zu Beginn des 20. Jahrhunderts etablierten Missionskonzepte, im Sinne einer protestantischen Weltmission und der damit verbundenen regionalen Aufteilung der Arbeitsfelder zwischen den verschiedenen Missionsgesellschaften, auf die Frühzeit der protestantischen Mission an. Damit verfehlen sie die maßgeblichen Fundamente der Herrnhuter Südasienmission, ja sie insinuieren sogar eine forcierte Konkurrenz. 7. Fazit Die Entstehungsgeschichte der Herrnhuter Südasienmission verdeutlicht, um es mit den Worten von Udo Sträter zu sagen, den „komplexen Zusammenhang persönlicher Kränkungserfahrungen, Antipathien und inhaltlicher Auseinandersetzungen“,148 welcher für das Verhältnis zwischen Herrnhut und Halle im Allgemeinen und zwischen G. A. Francke und N. L. v. Zinzendorf im Besonderen so entscheidend war. So wurden durch Francke, der seit Ende 1759 alles in seiner Macht Stehende versuchte, um eine Mission der Herrnhuter auf den indischen Subkontinent zu verhindern, die Argumentationsmuster aus den pietistischen Streitigkeiten der 1730er und 1740er Jahre revitalisiert und im Rahmen des hallischen Kommunikationsnetzwerkes mit Graf von 144 145 146 147 148
J. v. Watteville, Instruktionen für Tranquebar, 12.-16. Sept. 1760, UA, R.15.T.a.2.14. Römer, Geschichte [s. Anm. 7], 15. Vgl. Schneider, Philadelphische Brüder [s. Anm. 62]; Vogt, Mission [s. Anm. 3]. Römer, Geschichte [s. Anm. 7], 14. Sträter, Spangenberg [s. Anm. 25], 23.
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Holstein, Baron von Söhlenthal und Struensee einflussreiche Verbündete gegen Zinzendorf reaktiviert. Obwohl die Brüdergemeine über die rechtliche Grundlage verfügte, sich in Tranquebar in einer geschlossenen Ortsgemeine niederzulassen, wurde die Thematisierung der Frage ihres „eigentlichen“ Bestimmungsortes durch Francke schon im Herbst 1759 auf die Agenda für die Ausweitung des Konfliktes gesetzt und war der entscheidende Hebel, welcher die Position der Herrnhuter in den folgenden Jahren stetig unterminierte. Durch permanenten Druck und konsequente Ausnutzung seiner zentralen Stellung innerhalb des pietistischen Netzwerks vermochte es Francke, eine Änderung und Verschärfung der rechtlichen Situation für die Herrnhuter herbeizuführen. So gelang es ihm, die grundlegende Aussage für das erste königliche Ultimatum zu fixieren, dass die Herrnhuter Südasienmission sich eben nicht in Tranquebar und an der indischen Koromandelküste niederlassen dürfe. Francke zeigt sich hier als ein selbstbewusster Machtpolitiker, der sich seines Einflusses und seiner Verbindungen bedient, um jegliche Konkurrenz auszuschalten. Diesen Interventionen hatten auch Moltke und die Handelskompanie nichts entgegenzusetzen. Nicht die Handlungen der Herrnhuter in Tranquebar waren entscheidend für die Einschränkungen und Verbote gegen sie, sondern die alten, über Jahrzehnte eingeübten Wahrnehmungsmuster der innerpietistischen Streitigkeiten – im Zusammenhang mit der Südasienmission vielleicht zum letzten Mal. Die Frage, ob die Niederlassung der Herrnhuter in Tranquebar gegen die Hallenser gerichtet war, ist nicht eindeutig zu beantworten; geographisch und organisatorisch war sie unumgänglich. Zugleich aber war sie in ein heilsgeschichtliches Konzept eingebettet, das sich aus der Philadelphiaidee Zinzendorfs speiste und den hallischen Vorstellungen entgegenstand. So lassen die herrnhutischen Quellen auch keine intendierte Frontstellung gegen die Dänisch-Englisch-Hallesche Mission erkennen. J. v. Wattevilles singuläre Äußerungen sind vielmehr im herrnhutischen Diasporaverständnis begründet und schließen Übertritte aus der bestehenden hallischen Missionsgemeinde zur Brüdergemeine sogar explizit aus. Zinzendorf betonte zwar immer wieder, dass die Herrnhuter auf Einladung des dänischen Königs handelten und er eine Niederlassung in Tranquebar ohne Konflikte mit der bestehenden hallischen Mission anstrebe, jedoch ließ sich in dem seit über 30 Jahren vergifteten Klima zwischen Herrnhut und Halle diese Hoffnung nicht realisieren. Franckes Darstellung der Dinge und deren ständige Wiederholung hat sich hingegen durch ihre weite Verbreitung unter den unterschiedlichen Partnern im pietistischen Netzwerk mit überwältigender Präsenz in den Quellen niedergeschlagen und wird bis in die Gegenwart fortgeschrieben. Vor allem Franckes Deutung des „eigentlichen“ Wirkungsortes der Herrnhuter, ohne ihre umfassenden rechtlichen Grundlagen zur Kenntnis zu nehmen, wurde somit zum festen Bestandteil der Missionsgeschichtsschreibung und zu einem 115 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559116 — ISBN E-Book: 9783647559117
entscheidenden Kriterium für die Bewertung dieser herrnhutischen Mission. Zudem scheint es, als ob sich in der Bewertung der Herrnhuter Intentionen aus der zeitgenössischen Diskussion um deren „eigentlichen“ Bestimmungsort und der in der Missionsgeschichte vorherrschenden einseitigen und verfälschenden Lesart der Abfertigungsrede von Watteville 1760 Synergieeffekte ergeben haben. Franckes immer wieder vorgebrachte Anschuldigungen in seinem Abwehrkampf gegen die Herrnhuter sind durchdrungen von der Vorstellung, diese wollten die hallische Mission übernehmen und sich in fremde Arbeit einmischen. Hier ist es schwer, zwischen hallischer Polemik und herrnhutischer Intention eine Grenze zu ziehen. Deutlich festzuhalten ist, dass die Herrnhuter rechtlich völlig abgesichert waren, sich bei ihrer Ankunft in Tranquebar ganz nach ihren Vorstellungen anzusiedeln und zu missionieren. Die Niederlassung in Tranquebar war zudem eine logistische Voraussetzung für eine weitere Niederlassung auf den Nikobarischen Inseln. Den Quellen nach zu urteilen, zeigt sich ein Franckes Anschuldigungen entgegengesetztes Bild. Die Herrnhuter versuchten, bei der Etablierung ihrer Südasienmission mit ihren umfangreichen Privilegien auf einer völlig gesicherten rechtlichen Basis zu agieren, und unternahmen keine Aktivitäten, die auf eine „Übernahme“ hindeuteten. Der Konflikt mit dem hallischen Pietismus und das energische Einschreiten Gotthilf August Franckes untergruben jedoch ihre Stellung in Tranquebar. Die daraus entstandene Vorsicht gegenüber den hallischen Missionaren hat sich tief in die Mentalität ihrer Mitglieder eingebrannt und ist ein entscheidendes Moment für das Verständnis der Herrnhuter Südasienmission. So ist Schulzes Wertung zuzustimmen, dass sich die Herrnhuter die „größte Selbstbeschränkung auferleg[t]en wegen der lutherischen Nachbarmission“,149 eine Selbstbeschränkung, die der Versuch war, mit der innerpietistischen Konkurrenz auf dem Missionsfeld in Südasien umzugehen.
149
Vgl. Schulze, Abriß [s. Anm. 6], 123.
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KASPAR BÜTIKOFER
Michael Zingg (1599–1676): Ein Wegbereiter des Zürcher Pietismus? In der ersten Hälfte des August 1694 weilte der Zürcher Pietist Johann Heinrich Locher (1648–1718) bei seinem Freund Johann Kaspar Hardmeyer (1651–1719) in dessen Pfarrhaus in Bonstetten. Sie nutzten die ruhige Sommerzeit für intensive Gespräche über religiöse Themen. Am 12. August lenkte Locher das Gespräch auf die Affäre um den heterodoxen Pfarrer Michael Zingg, der 1661 fluchtartig die Stadt Zürich hatte verlassen müssen: Wir wurden auch eÿngedenck des streites zwüschen Hrn. Buloden und Hrn Zinken [. . .]. Woher er entstanden? Hr Locher erzehlte, daß Jkr. Sekelm[eiste]r Ha[a]b stets ein ernsthafter Man, oberster Examinator und Hrn Zinken Exquisiator gewesen, der alles durhgetrucket, was er wöle; der nun häte Hrn Zinken Sachen alle dem Hrn Bulod entdecket und ihn dahi vermögen, daß er das erste Schreiben aufgesetzet wider den Hrn Zinken; worüber Hr Zinken einige Schreiben an Buloden abgegeben und solches erstes Schreiben begehrt, aber nicht bekommen, sonders wären zwei Schreiben abgenommen, das dridte aber wider zurück gesendet worden. So verschlossen als es gewesen; Endlich hädte es Hr Zink bekommen, und darüber die beÿlagen Trutinam und Antwort aufgesetzet, diese von Hrn Bulodio widerleget worden. Was Kraft jädes gehabt, ist auß den Bÿlagen alls zu erfahren, die Ich hier setzen wölle, damit sie mir nicht unter das Eÿse gienge!1
Locher berichtete seinem Freund von den öffentlich geführten Angriffen eines jüngeren Geistlichen gegen Michael Zingg. Ulrich Bulot (1624–1687) sei, so vermutet Locher,2 von den Vertretern einer konservativen orthodoxen Strömung innerhalb der Zürcher Kirche angestachelt worden,3 als diese befürchten musste, dass Zingg als „Neuerer“ mit seinem abweichenden Glauben ungeschoren davon kommen könnte. 1 Zentralbibliothek Zürich (im Folgenden abgekürzt durch ZBZ) Ms E 136: Tagebuch Johann Kaspar Hardmeyers, 118 (Eintrag vom 12. August 1694). 2 Eine ähnliche Vermutung äußern später auch Johann Jakob Bodmer und Otto Anton Werdmüller in ihren Lebensbeschreibungen von Zingg, vgl. Bodmer, Anekdoten [s. Anm. 57], 436 f., u. Werdmüller, Glaubenszwang [s. Anm. 57], 98. 3 Ulrich Bulot trat auch später gerne als streitbarer Vertreter der streng orthodoxen Richtung auf: beispielsweise gegen Johann Heinrich Heidegger, der einer Reformorthodoxie holländischer Prägung zuneigte. Vgl. Karl Hutter: Der Gottesbund in der Heilslehre des Zürcher Theologen Johann Heinrich Heidegger (1633–1698). Gossau/SG 1955, 47.
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Johann Heinrich Locher dokumentierte anlässlich seines Besuchs in Bonstetten seinen Freund mit den Streitschriften, die zwischen Bulot und Zingg gewechselt worden waren. Der über diese handschriftlich kopierten Flugschriften ausgetragene theologische Disput interessierte auch noch dreißig Jahre später die beiden Pietisten. Johann Kaspar Hardmeyer fügte im Anschluss an den Eintrag über das geführte Gespräch das achtzig Seiten starke Konvolut seinem Tagebuch bei. Die Sympathie der beiden Pietisten liegt ganz auf der Seite von Michael Zingg. Was sie aber besonders beschäftigte, ist die Frage, warum ein so frommer Mensch verfolgt werden konnte: Gestehe gern, daß Hr Bulod einen üblen Sprung ab den Realibus in Personalia getan –; da gemeÿnlich eigener Dünckeln und Eÿfer und Zorn böse Rahtgeber worden, und zur schandlichen Sünde verleihte, welche die Seele verderbe und den Klügsten so verärgern, daß in demselben auch daß guetes niedergerißen wird, was selbs nicht gebauet noch bauen kan [. . .]. Und ob wol auch etwan ein Vorhaben gut ist, wird es durch solche Zufälligkeiten verbösert; in dem jeder unparteÿsche ihrer eÿnbildet, was wölle durch solche beÿhändel durchdrucken was man mit dem Gewichte seiner Gründen nicht zu tun vermöge: und könne nicht sÿn, daß der, so seines Bruders Scham zur schande aufdecke (an stadt die mit der Liebe bedecken solte) nicht auch etwas auß dem seinigen anblike und dichte, wo nicht gar alles Villeichter falsch seÿe!4
Die Angriffe des orthodoxen Wortführers auf den theologischen Außenseiter werden von Hardmeyer mit dem Niedergang der Kirche und ihrer Vertreter gleichgesetzt. Eigendünkel, Eifer und Zorn sind für ihn die Früchte der reformierten Orthodoxie, was für ihn dazu führt, dass die guten Ansätze im Menschen gleich im Keim erstickt und mit der Macht der Autorität unterdrückt würden. Anhand des Zwistes zwischen Bulot und Zingg referieren die beiden Pietisten ein im Pietismus wiederkehrendes Motiv: Die Verfolgung der Gläubigen durch eine – in ihren Augen – degenerierte Kirche. Locher und Hardmeyer diskutierten an diesem Sommertag über Michael Zingg, wie sie vorher und nachher über wichtige Autoren des frühen Pietismus und deren Vorläufer sowie Vertreter verwandter Strömungen diskutierten. Zingg wird hier eingereiht zwischen Antoinette Bourignon, Jakob Böhme, Miguel de Molinos oder Jane Leade.5 Aber nicht nur Locher und Hardmeyer hoben Zingg auf eine Ebene mit wichtigen Exponenten des Pietismus, auch die Zürcher Obrigkeit meinte, die Beschäftigung mit Zingg unter Strafe stellen zu müssen. Genau das wurde Hardmeyer zum Verhängnis, als die Geistlichkeit 1698 gegen Locher und die Pietisten ein Verfahren eröffnete. Hardmeyer wurde in diesem Prozess unter anderem zur Last gelegt, dass 4
ZBZ Ms E 136: Tagebuch Johann Kaspar Hardmeyers, 118 (Eintrag vom 12. 08. 1694). Kaspar Bütikofer: Der frühe Zürcher Pietismus (1689–1721). Der soziale Hintergrund und die Denk- und Lebenswelten im Spiegel der Bibliothek Johann Heinrich Lochers (1648–1718). Göttingen 2009. 5
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er mit Locher eine Liste über die Schriften von und gegen Zingg ausgetauscht hatte.6 Letztendlich kam er aber glimpflich davon: Er wurde in seiner Amtsführung gerügt, und der Rat drückte ihm am 15. November das obrigkeitliche Missfallen aus.7 1. Warum interessieren sich Zürcher Pietisten für Michael Zingg? Erweckte die Außenseiterrolle und die Verfolgung durch die obrigkeitliche Kirche ihre Aufmerksamkeit? Oder gab es weitere Gründe, die Michael Zingg in die Nähe der für den Pietismus wichtigen Strömungen rückten, sodass sein Name auf dieselbe Stufe gestellt wird wie die bedeutenden Größen des frühen Pietismus? Sahen die Zürcher Pietisten in ihm einen Geistesverwandten, einen lokalen Vorläufer oder Wegbereiter? Eine nähere Betrachtung Michael Zinggs scheint lohnenswert zu sein, denn allenfalls vermag sie Hinweise über Strömungen zu geben, die dem Pietismus in Zürich vorausgingen. Es stellt sich die Frage, ob sich inhaltliche und soziale Kontinuitäten feststellen lassen zwischen dem ersten Auftreten einer pietistischen Bewegung und früheren heterodoxen Strömungen. Fand der frühe Zürcher Pietismus Anknüpfungspunkte an ältere Frömmigkeitsformen, die mehrheitlich im Verborgenen blieben? Die Klärung dieser Frage könnte Hinweise über den Ursprung und das Wesen des frühen Pietismus in Zürich vermitteln. Die Frage lautet: Ist Michael Zingg ein Schlüssel zum Verständnis des Zürcher Pietismus? In der Pietismusforschung wird die Bestimmung der Anfänge des Pietismus kontrovers diskutiert. Das Problem ist so alt wie die Forschung selbst und steht in enger Verbindung mit der Bestimmung des Pietismusbegriffs. Oftmals werden mehrere Anfänge gesetzt: Es wird unterschieden zwischen einem reformierten und einem lutherischen Pietismus einerseits sowie einem kirchlichen und radikalen Pietismus andererseits.8 Ausgehend von den vier Anfängen und den vier dazugehörigen Gründungsvätern des Pietismus scheint für Johannes Wallmann die Bestimmung des eher der radikalen Ausformung zuzurechnenden Zürcher Pietismus a priori gegeben zu sein. Für ihn steht fest, „dass neben Spener als Begründer des kirchlichen Pietismus im Luthertum ein radikaler Pietismus parallel läuft und dass beim reformierten Pietismus zwischen dem Beginn des kirchlichen Pietismus bei Theodor Undereyck und dem Beginn eines radikalen Pietismus bei Jean de Labadie zu unterscheiden ist. Der Beginn des reformierten Pietismus in der Schweiz, soweit er radikaler Pietismus ist, ist mit den Fernwirkungen des Labadismus in Beziehung zu set-
6 Julius Studer: Der Pietismus in der zürcherischen Kirche am Anfang des vorigen Jahrhunderts. In: Jahrbuch der Historischen Gesellschaft Zürcher Theologen 1, 1877, 109–209, hier 115. 7 ZBZ Ms S 276: Nr. 6L, Bl. 66 [Abschrifft der Urtheil (15. 11. 1698)]. 8 Vgl. dazu die paradigmatische Arbeit von Johannes Wallmann: Die Anfänge des Pietismus. In: PuN 4, 1977/1978, 11–53.
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zen.“9 Eine quellenbasierte Begründung dieser Behauptung bleibt Wallmann jedoch schuldig. Die neuere Forschung gibt hingegen Anlass, die starre, auf die Unterscheidung radikal/kirchlich sowie reformiert/lutherisch aufbauende Matrix-Struktur kritisch zu hinterfragen. Allein der Begriff radikaler Pietismus wird heute allgemein als unscharf wahrgenommen. Die Grenze zwischen dem kirchlichen und einem radikalen Pietismus hat sich als durchlässig erwiesen.10 Durchlässig scheinen auch die konfessionellen Grenzen in den Anfängen des Pietismus gewesen zu sein. Ausgehend von Andreas Deppermanns Untersuchung des religiösen Milieus im 17. Jahrhundert in Frankfurt am Main, an dessen Traditionen Johann Jakob Schütz anknüpfen konnte,11 stellt Hans Schneider die Frage nach den Anfängen des Pietismus in seiner kirchlichen und radikalen Ausformung neu.12 Im Folgenden soll nach den Anfängen des Zürcher Pietismus gesucht werden: Ich werde zuerst der Frage nachgehen, wie stark der Einfluss des Labadismus auf die Entstehung des Zürcher Pietismus wirkte. Danach werde ich auf heterodoxe Tendenzen in Zürich, die vor dem Auftreten der pietistischen Bewegung bestanden, eingehen und Michael Zingg näher beleuchten. Anschließend untersuche ich theologische und soziale Kontinuitäten zwischen den Heterodoxen des zweiten Drittels des 17. Jahrhunderts und dem frühen Pietismus. 2. In den Quellen zum Zürcher Pietismus gibt es einige wenige Belege, die direkt auf den Labadismus Bezug nehmen. Diese Erwähnungen des Labadismus könnten als Hinweis für eine Verortung der Anfänge des Zürcher Pietismus gedeutet werden. Zum Auftakt des Pietistenprozesses von 1698 verfasste Johann Heinrich Schweizer (1646–1705), Chorherr und Professor für griechische Sprachen, ein Memorial mit dem Titel: Ursachen und Gründe, warum die sogenannte Philadelphische Sozietet oder Pietistische Brüderschafft, wie sie in Engelland, Teutschland und Holland dießmahlen ist, beydes, der Kirchen Godtes und dem gemeinen Wesen, sonderlich in der reformierten Eidgenoßenschafft gefährlich und hiemit unleidlich seye.13 Schweizer schrieb diese Schrift, wie er in einem Brief an Georg Thormann (1656–1708),14 Pfarrer in Lützelflüh, darlegte, weil er durch die Obrigkeit zur 9 Johannes Wallmann: Mutmaßungen über Locher oder Bericht über eine Reise in eine ferne Welt. In: PuN 36, 2010, 265–279, hier 273. 10 Martin Brecht: Der radikale Pietismus – die Problematik einer historischen Kategorie. In: Der radikale Pietismus. Perspektiven der Forschung. Hg. v. Wolfgang Breul. Göttingen 2010, 11– 18. 11 Andreas Deppermann: Johann Jakob Schütz und die Anfänge des Pietismus. Tübingen 2002. 12 Hans Schneider: Rückblick und Ausblick. In: Der radikale Pietismus [s. Anm. 10], 451–467, hier 456. 13 ZBZ Ms S 276: Nr. 6B; ZBZ Ms E 15: Nr. 41; ZBZ Ms S 344: Nr. 25 und StAZH E I 8.4. 14 Vgl. Rudolf Dellsperger: Die Anfänge des Pietismus in Bern. Quellenstudien. Göttingen 1984, 30–37, 53 f.
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Untersuchung der pietistischen Machenschaften zum Deputierten eingesetzt wurde.15 In 17 Artikeln hielt Schweizer das Wesen und die Irrtümer des Pietismus so fest, wie sie sich ihm zu Beginn der Untersuchungen darstellten. Im 12. Artikel kommt er auf das Eheverständnis der Pietisten zu sprechen und schreibt dieses dem labadistischen Einfluss zu.16 Schweizer äußert an dieser Stelle die Vermutung, dass der Labadismus die Entstehung des Zürcher Pietismus beeinflusst habe. Für diesen Anfangsverdacht dürfte er gute Gründe gehabt haben. Jean de Labadies17 und Pierre Yvons (1646–1707) Wirken strahlte auch auf die reformierten Gebiete der Schweiz aus und beeinflusste die Zürcher Pietisten. Das bekannteste Beispiel eines Zürcher Labadisten war Heinrich von Schönau (1654–1689), ein enger Freund Lochers und dessen pietistischer Weggefährte. Von Schönau lebte knapp drei Jahre unter den „wahren Kindern Gottes“ in Wieuwerd. Von dort aus versorgte er seine Freunde zuhause mit labadistischen Schriften, die dann im pietistischen Milieu zirkulierten.18 Bemerkenswert an Schweizers Labadismus-Verdacht ist, dass er ihn eben im Zusammenhang mit dem pietistischen Eheverständnis äußert. Denn es ist unklar, auf welchen Ursachen Schweizers Vorwürfe basierten. Es lässt sich in den Kreisen des frühen Zürcher Pietismus keine rigide Auffassung von der Ehe nachweisen, wie dies beispielsweise in der labadistischen Kolonie gelebt oder zeitgleich in ähnlicher Weise auch von Pierre Poiret (1646–1719) vertreten wurde.19 Nur von Heinrich von Schönau ist bekannt, dass er die Ehe aus Überzeugung ablehnte und ein zölibatäres Leben wählte. Dies mag darauf hindeuten, dass Schweizer ihn im Fokus hatte, als er hinter den pietistischen Verfehlungen labadistische Einflüsse postulierte. Bemerkenswert ist aber auch, dass Schweizer den Labadismus-Vorwurf auf das Eheverständnis beschränkte. Ist ihm aufgefallen, dass eine Gleichsetzung der Philadelphischen Sozietät mit dem Pietismus allfällige labadistische Strömungen eher aus- statt einschloss?20 Jedenfalls war sich Schweizer be15 ZBZ Ms S 276: Nr. 6C, Bl. 7 [Copia eines Andtwort Schreibens Hr. Prof. Schweitzer an Herrn Decanum Thorman in Lützelflüeh (9. Nov. 1698)]. Vgl. Hans Schneider: Ein Dokument zur Frühgeschichte des Zürcher Pietismus. Johann Heinrich Schweizers Ursachen und Gründe (1698). In: Gegen den Strom. Der radikale Pietismus im schweizerischen und internationalen Beziehungsfeld. Hg. v. J. Jürgen Seidel. Zürich 2011, 123–149, hier 126. 16 ZBZ Ms S 276: Nr. 6B, Bl. 5: „Weilen sie von dem Ehestand sonderbahre Meinungen haben, auch deßen Schrancken etwan so enge einziehen, daß sie den zarten gewüßen ein Strik anwerffen, und anderen ein unertragliche Joch aufburden, wie aus der Labadisten Schrifften und Regeln zu sehen.“ 17 T. J. Saxby: The Quest for the New Jerusalem. Jean de Labadie and the Labadists, 1610– 1744. Dordrecht 1987. 18 Vgl. Bütikofer, Zürcher Pietismus [s. Anm. 5], 376 f. 19 Marjolaine Chevallier: Pierre Poiret (1646–1719). Du protestantisme à la mystique. Genf 1994, 47 ff. 20 Johann Heinrich Locher wehrte sich vehement dagegen, mit dem Labadismus in Verbindung gebracht zu werden. In einer durch Locher kommentierten Abschrift von Schweizers Ursa-
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wusst, dass nicht alle Vorwürfe, die er in den 17 Artikeln erhob, auch auf alle Pietisten zutreffen. Am Ende der Schrift relativiert er seine Aussagen: „Dieße obgesetzte Stuck, schreibt man nicht allen und ieden von dißer Brüderschafft zu, sintenmahlen keine volkomen Übereinstimmung unter Jhnen ist.“21 Mit großer Wahrscheinlichkeit geht der Labadismus-Verdacht, wie Hans Schneider aufzeigt, auch auf eigene Erfahrungen Schweizers zurück.22 In jugendlichen Jahren weilte Schweizer vorübergehend in Genf und wohnte vermutlich für einige Monate in Jean de Labadies Haus. Er hörte dort dessen Predigten und kam auch persönlich mit seinen Schülern, Pierre Yvon und Pierre Dulignon (ca. 1630–1681) in Kontakt. Anscheinend wurde er von ihnen vorübergehend in Bann gezogen. Jedenfalls hatte er später keine gute Meinung mehr über sie und er war besorgt, weil ihm „die listigen Räncke solcher Leute“ schon lange bekannt seien.23 Die negativen Erfahrungen Schweizers mit Jean de Labadie und die Befürchtung, dass sich sein Einfluss in Zürich ausbreiten könnte, steht auch in folgender Episode im Zentrum: Am 11. Juli beschloss der Rat, dass bei Locher an dessen Wohnsitz am Bleicherweg eine Inspektion der Bibliothek und des Kontors vorgenommen werden sollte. Unter den Deputierten, die vornehmlich an der Korrespondenz Lochers interessiert waren, befand sich auch Johann Heinrich Schweizer. Locher notierte mit roter Tinte folgenden Zusatz zu einer handschriftlich verbreiteten Darstellung des Pietistenprozesses von 1698 mit dem Titel Wahrhafftigen Erzellung deßen was sich in dem Locherischen und Laubischen handel von dem Anfang bis zum Ende zugetragen:24 Herr Chorherr Schweitzer that hier [nachdem Locher den Deputierten eröffnet hatte, dass er seine Korrespondenz vernichtet hätte; Anm. d. Vf.] eine weit laüffige chen und Gründe notierte er in roter Schrift zum Artikel 12: „Die Philadelpher haben sowol die Sect weder gleichheit noch gemeinschafft mit den Labadisten, mit welchen Herr Professor Jene beschmutzet, dan die Philadelpher haben sowol die Sect der Labadisten als der Quakern und anderen Religionisten nit geachtet sondern nur die Liebespflicht gegen alle menschen erwehlent“ (ZBZ Ms S 276: Nr. 20). 21 ZBZ Ms S 276: Nr. 6B Bl. 6. 22 Schneider, Ursachen und Gründe [s. Anm. 15], 142. 23 Schweizer erinnert Thormann in einem Brief an seine schlechte Erfahrung mit de Labadie, weil er von Prof. Kramer, der aus Deutschland zurückgekehrt war, erfahren hatte, dass mehrere Berner, darunter auch Thormann, einen Briefwechsel mit August Hermann Francke (1663–1727) in Halle unterhielten. Vgl. ZBZ Ms S 276: Nr. 6C, Bl. 5; Schneider, Ursachen und Gründe [s. Anm. 15], 142. 24 ZBZ Ms S 276: Nr. 6D, 1. Locher stellte der Wahrhafftigen Erzellung folgende Bemerkung voran: „Was hernach mit Schwartzer Dinten geschrieben folget Soll wie mir glaubwürdig gesagt worden von Herrn Johann Heinrich Schweitzer Professor der Griechischen Sprach und Corherr an dem GrSifft zum Großen Münster allhier in Zürich, gestelt sein welches ich aber anheime gestelt sein laße weilen aber ein großer Theil meines Lebens lauffs darvon abhanget habe dießer Schrifft hier ein bringen wollen, und zwahr ohne einiges wort abzunehmen, was nun zu beßerem verstand und gründlicheren gewißheit des jenigen so mich betrifft dienlich geachtet habe mit roten dinte zu schreiben mir vorgenohmen [. . .].“
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Rede, meldede wie Er vor der Zeit mit Mons. Delabadie bekannt worden. welcher auch seinen großsen Eÿffer zu Einführung eines Gottseligenlebens hergewandert habe: da sich doch nachwerts befunden daß Er nur sich selbsten und seine Ehre gesucht, habe sich auch mit einigen weibs Personen leichtfertig vergangen. Welches Locher stillschweigend angehört, und nicht darauf geandwortet verwunderte sich aber billich über solchen Discurs von dießen Herren.25
Für Locher kam die Diskussion über Jean de Labadie gänzlich unerwartet. Er wunderte sich über den Verdacht, er sei dessen Anhänger. Dass er in die Nähe des Labadismus gerückt wurde, schien ihm förmlich die Sprache verschlagen zu haben. Erstaunt sein konnte er aber auch über den Gegenstand der Rede, denn Schweizer sprach über sich und seine Erfahrungen, die er vor über 30 Jahren in Genf gemacht hatte. Der obrigkeitliche Deputierte sprach erstaunlicherweise von seinen enttäuschten Hoffnungen, die er als Jugendlicher in den Erneuerer des christlichen Lebens gesetzt hatte, und nicht von pietistischen Lehren. Locher wird hier nicht mit den separatistischen Ideen des Labadismus konfrontiert, sondern mit Jean de Labadies angeblicher Unaufrichtigkeit und dessen Ehrsucht während der Zeit seines Wirkens in Genf. Schweizers heftige Ablehnung des Franzosen dürfte das Motiv für seinen Anfangsverdacht gewesen sein. Mit der religiösen Überzeugung von Locher hatte dies aber wenig zu tun. Schweizers Exkurs über Jean de Labadie war keine wirkliche Auseinandersetzung mit Lochers dissidenter Religiosität. [D]an Er [= Schweizer] lobte Ihme auch des Herrn Titelbachs Buch, welches so wohl des Mons. Delabadie als auch Mons. Yvons und anderer Glieder der Labaistischen Societet Schand thaten auf decke.26
Das von Schweizer lobend angesprochene Buch von Petrus Dittelbach, Verval en Val Der Labadisten (1692) befand sich in Lochers Besitz. Petrus Dittelbach27 war ein enger Freund Heinrich von Schönaus aus den gemeinsamen Zeiten in der labadistischen Kolonie in Wieuwerd. Eine Freundschaft, die auch hielt, als beide mit der separatistischen Gemeinde brachen: Er beteiligte sich an der Herausgabe der überarbeiteten französischen Ausgabe von Heinrich von Schönaus Buch,28 das zuerst deutsch unter dem Titel Betrachtungen Uber die geheimen Fürbilder/ der sechs Tage der Welt-Erschaffung (1688) erschienen ist. Dittelbach, der in Wieuwerd vorübergehend als Prediger der Kolonie tätig war, entwickelte sich später zu einem Gegner des Labadismus und er setzte sich kritisch mit seinen in der Kolonie gemachten Erfahrungen in sei25
ZBZ Ms S 276: Nr. 6D, 10 [Wahrhafftigen Erzellung]. ZBZ Ms S 276: Nr. 6D, 10 [Wahrhafftigen Erzellung]. 27 Vgl. Art. „Dittelbach, Petrus“. In: BWPGN 2, 1920, 505–508. 28 Heinrich von Schönau: RECHERCHE | Dans le Livre | DE L’ETERNEL. | SUR | L’Etat present & à venir de l’Eglise, | & sur la destinée de ses Ennemis, Amsterdam 1689 [ZBZ 6.240:c]. Das Buch wurde gemäß Titelblatt durch Dittelbach verlegt: „Se vend chez Pierre Dittelbach, Maître de Langues, dans le Hand-Boog-straat.“ 26
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nem Buch auseinander.29 Auf diese Schrift Bezug nehmend wollte Schweizer Locher zu einem Bekenntnis über den Labadismus provozieren: Darauf gabe Ihme Locher zu verstehen, daß Er eben solcher ursachen wegen des M. Titelbachs Buch nicht beliebe, dan Er seines nechsten Splitern nicht gerun möchte helffen richten, und dorffte Mons. Titelbach buch mit untersuchung seiner eigenen Mängeln, und Wirckungen seiner Seligkeit die Zeit wohl beßer angewendet haben.30
Die Reaktion Lochers dürfte symptomatisch für die Denkweise eines Pietisten gewesen sein. Der Zürcher Pietist verweigert mit Hinweis auf Mt 7.3 die theologische Diskussion mit den Deputierten. Diese Verweigerung kann keineswegs als Zustimmung zu labadistischen Auffassungen gewertet werden. Sie ist vielmehr Ausdruck einer im Pietismus verwurzelten Ablehnung gegen jegliche Kontroverstheologie. Locher ist seit seiner intensiven Auseinandersetzung mit Johann Arndt einer irenischen, überkonfessionellen Frömmigkeit verpflichtet.31 Er sucht die Gemeinschaft Gottes im Herzen und vertraut auf deren Wirkung; der Diskussion über religiöse Glaubenssätze oder Verhaltensweisen hafte etwas Menschliches an. Sie gehöre nicht in das Reich des Geistes. Deshalb ist Locher überzeugt, dass der Mensch die Zeit besser zubringe, wenn er die eigene innere Herzensfrömmigkeit suche, statt nach äußerlichen Fehlern in kirchlichen Belangen zu forschen. Gerne wird das Beispiel Heinrich von Schönaus als Beweis für die labadistischen Wurzeln des radikalen Pietismus in Zürich herangezogen.32 Wer war Heinrich von Schönau? Der letzte Spross eines alten Zürcher Adelsgeschlechts kann als ein Frühaufklärer bezeichnet werden. Er beteiligte sich am Katalogisieren der Buchbestände der in der Wasserkirche untergebrachten Stadtbibliothek und er zählte zu den Gründungsmitgliedern des Collegiums der Insulaner.33 Er eröffnete mit einem Vortrag diese frühaufklärerische Gesellschaft.34 Eine weitere Leidenschaft galt den Schriften Jakob Böhmes. Eine Leidenschaft, die er mit seinem Freund Johann Heinrich Locher teilte. Die Frucht von Heinrich von Schönaus Beschäftigung mit dem Görlitzer Theosophen 29 Petrus (Pierre) Dittelbach: Verval en Val Der Labadisten, Of Derselver Leydinge, en wyse van doen in haare Huys-houdinge, en Kerk-formering, als ook haren op-en-nedergang, in hare Coloniën of volk-plantingen, nader ontdekt, Vooernamelik, Derselver Leere en Leydinge omtrent het Christelyk Huwelik, uytgehaalt en tegengesproken. Allet in 3. Brieven. Door Petrus Dittelbach, Voor desen Predicant tot Nendorp, in Ost-Frieslant. Amsterdam 1692 [HAB M. Hr 458 (24)]. 30 ZBZ Ms S 276: Nr. 6D, 10 [Wahrhafftigen Erzellung]. 31 Bütikofer, Zürcher Pietismus [s. Anm. 5], 218 u. ö. 32 Vgl. Wallmann, Mutmaßungen [s. Anm. 9], 373. 33 Vgl. Bütikofer, Zürcher Pietismus [s. Anm. 5], 374–376; Christian Scheidegger: Religiöse Strömungen in Zürich zur Zeit Scheuchzers. Von den Nonkonformisten des 17. Jahrhunderts zur pietistischen Bewegung. In: Natura Sacra. Der Frühaufklärer Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733). Hg. v. Urs B. Leu. Zug 2012, 3–30, hier 14. 34 Vgl. Michael Kempe u. Thomas Maissen: Die Collegia der Insulaner, Vertraulichen und Wohlgesinnten in Zürich, 1679–1709. Die ersten deutschsprachigen Aufklärungsgesellschaften zwischen Naturwissenschaft, Bibelkritik, Geschichte und Politik. Zürich 2002.
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war die 1682 verfasste Schrift Die holde Stimme der Wahrheit entgegengesetzt den unangenehmen und verführerischen Quaxen der drei Frösche aus der Offenbarung, oder von Gott gelernte Beurteilung der unter den drei Hauptteilen der heutigen Babylonischen Christenheit geführten Streitigkeiten, meistenteils aus den Wunderschriften des hocherlauchten Jacob Böhmen gezogen,35 die nur im Manuskript vorlag. Im März 1683 verließ von Schönau Zürich, um am kurfürstlichen Hof in Heidelberg die Stellung des Hofmeisters anzutreten. Die neue Tätigkeit sagte ihm aber wenig zu und er fühlte sich dort unterbeschäftigt. Dort kam er durch den Sprachlehrer Matthias Kramer (1640–um 1727/30)36 und weitere Professoren mit dem Labadismus in Kontakt und vernahm von der Kolonie, die unter der Leitung von Pierre Yvon stand.37 Von Schönau brach darauf nach Friesland auf und traf spätestens im Dezember 1683 in der labadistischen Gemeinde in Wieuwerd ein, der er sich für knapp drei Jahre anschloss. Den radikalen Bruch mit seiner auf Böhme fußenden Frömmigkeit vollzog er, indem er das Manuskript Die holdselige Stimme verbrannte und sich ganz der ‚heiligen Gemeinschaft der wahren Kinder Gottes‘ hingab.38 Allein die Tatsache, dass von Schönau seine Schrift verbrannte – ein Akt, der sich wie ein rite de passage ausnimmt39 –, deutet darauf hin, dass es für von Schönau keinen fließenden Übergang von seiner bisherigen pietistischen zur neuen, labadistischen Frömmigkeit gab. Johann Heinrich Locher fand keinen Gefallen an der Entwicklung seines Freundes: Er „hat ihme [von Schönau] bestendig ein sonderbares mißfallen deßwegen bezeüget“.40 Für Locher war der Labadismus offensichtlich nicht bloß eine Modifikation seines pietistischen Glaubens. Er unternahm in der Folge alles, um von Schönau zurück nach Zürich zu führen. In mehreren Briefen versuchte Locher seinen Freund vom eingeschlagenen Kurs abzubringen. Er hielt auch mit seiner deutlichen Kritik an den Labadisten nicht zurück. Zum einen verurteilte er Pierre Yvons Prädestinationsglauben und zum andern war er gegen die Bildung neuer (äußerlicher) Kirchen: Daß Mons. De Labadie oder andere nicht vermocht die Römische oder reformierte Kirchen zu bekehren verwundert mich nicht, (hat doch Christus selbst, kein Gehör, beÿ den bösen Menschen gefunden) diße hete aber nicht anlas geben sollen, mit aufrichtung einer eigene Kirchen die Zahl der Religionen zu vermehren heten wir
35 Bütikofer, Zürcher Pietismus [s. Anm. 5], 374; Ernst Eylenstein: Daniel Friedrich. Ein Beitrag zum mystischen Separatismus am Ende des 16. Jahrhunderts in Deutschland. Diss. Langensalza 1930, 66. 36 Vgl. Suzanne Renner-Braakman: Art. „Kramer (Krämer), Matthias“. In: NDB 12, 1980, 668 f.; Art. „Kramer, Matthias“. In: DBE2 6, 2005, 17. 37 ZBZ Ms S 276: Nr. 18, 1. 38 Bütikofer, Zürcher Pietismus [s. Anm. 5], 374; Deppermann, Schütz [s. Anm. 11], 320; Theodor Wotschke: Justus Dozem. In: MRKG 24, 1930, 30 f. 39 Vgl. Arnold van Gennep: Übergangsriten. 3., erw. Aufl. Frankfurt/Main 2005. 40 ZBZ Ms S 276: Nr. 18, 1.
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weniger Religionen und mehr Nachfolg des armen Lebens Christi, das wehre wohl beß[er].41
Schließlich waren Lochers Bemühungen von Erfolg gekrönt. Schönau wandte sich von der separatistischen Gemeinde ab, und Locher konnte ihn im Sommer 1686 persönlich in Friesland abholen und nach Zürich heim begleiten. Die labadistische Wende in von Schönaus Leben stellt sich somit bei näherer Betrachtung lediglich als Intermezzo dar. Ein Zwischenspiel, das kaum für labadistische Wurzeln des radikalen Pietismus in Zürich spricht. Noch ein weiteres Indiz wird gerne für die These eines labadistischen Ursprungs herangezogen. Es handelt sich um die Aussage bei Studer – auf die sich auch Hadorn bezieht –, wonach sich Hardmeyer und Locher über labadistische Schriften ausgetauscht hätten. Ich gebe hier die besagte Passage im Wortlaut wieder: „Zu gleicher Zeit hatte Kammerer Hartmeier, Pfarrer zu Bonstetten, [. . .] mit Locher gemeinsam einen Katalog der Labadiestischen Schriften verfertigt und mit den Zingg’schen Schriften mitgeteilt“.42 Weil Studer den Katalog der labadistischen Schriften im selben Atemzug mit den Schriften Michael Zinggs erwähnt, muss es sich hier um folgendes Dokument aus den Quellenbeständen des Zürcher Staatsarchivs, mit denen er arbeitete, handeln: „Memoriale Betreffend Hr Lochers Correspondenz mit Hr Pfr. Hart-Meyer [. . .] N°. 8. [. . .] Es ist auch vorhanden ein Catalogus aller Pietistischen und ihrer Widerpart Schriften den Hr Hart-M. eigenhändig geschrieben, mit andeütung derer so Hr Locher noch manglen. Auch hat H. M. dem Hr Locher alle Zinkische Schrifften und andere unfürsichtig verschaffet, weil er wol gewüßt was Hr Locher im Kopf steket.“43 Der Katalog bildet diverse theologische Kontroversen um Spener, Horb, Hinckelmann und Petersen ab44; labadistische Schriften spielen in dieser Literaturliste keine Rolle. Es lassen sich durchaus Einflüsse Jean de Labadies in Zürich nachweisen. Die Vorsteher der Zürcher Geistlichkeit glaubten in ihm eine Gefahr für die Einheit und Reinheit der reformierten Kirche zu erkennen. Deshalb äußerten sie den Pietisten gegenüber schnell den Verdacht des Labadismus. In pietistischen Kreisen fand sehr wohl eine Auseinandersetzung mit den Werken seiner Schule statt. Diese Rezeption fand nicht nur 1 Thess 5.21 folgend aus vorurteilsloser Neugierde statt, sondern teilweise auch in kritischer Absicht. Jean de Labadie zum Vater des Zürcher Pietismus erheben zu wollen, dafür besteht keine hinreichende Veranlassung; die vorhandene Quellenlage rechtfertigt 41 ZBZ Ms S 276: Nr. 18, 14 f. [Brief von Locher an von Schönau vom 19./29. 01. 1686]; vgl. Bütikofer, Zürcher Pietismus [s. Anm. 5], 373–383. 42 Studer, Pietismus [s. Anm. 6], 115. 43 StAZH E I 8.5. 44 Zur Pietismuskontroverse vgl. Martin Gierl: Pietismus und Aufklärung. Theologische Polemik und die Kommunikationsreform der Wissenschaft am Ende des 17. Jahrhunderts. Göttingen 1997.
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dieses Bild nicht. Will nach den Zürcher Anfängen des Pietismus gesucht werden, dann ist anderswo anzusetzen. 3. Seitdem die Zürcher Reformatoren die täuferische Bewegung in der Stadt erfolgreich mit Gewalt verfolgt und unterdrückt hatten,45 tauchten dennoch immer wieder dissidente Strömungen und heterodoxe Gruppen während des 17. Jahrhunderts in Zürich auf. Wie weit eine gewisse auf die ersten Täufer zurückgehende Kontinuität vorliegt und worin eine allfällige Klammer hätte bestehen können, lässt sich nicht eindeutig beantworten. Voreiligen Schlüssen ist mit gebührender Vorsicht zu begegnen. Immerhin scheint das reformierte Zürich am Ende des 16. und in den ersten beiden Dritteln des 17. Jahrhunderts ein guter Nährboden für diverse nonkonformistische und spiritualistische Gruppen gewesen zu sein. Die Kirchenleitung entdeckte 1588 eine kleine häretische Gruppe um Samuel Heidegger, die private Erbauungsstunden abhielt. Die Mitglieder dieser Gruppe trafen sich auf der Suche nach einem glaubwürdigen Christentum zum Gebet und Bibelstudium und fällten den Entscheid, die reformierten Gottesdienste nicht mehr zu besuchen. Infolge ihrer Absonderung wurden sie voreilig als Täufer verdächtigt, obwohl für sie die Erwachsenentaufe nicht in Betracht kam. Die Nonkonformisten erhielten Kenntnis von den Nachstellungen durch die Obrigkeit: Heidegger sowie die meisten seiner Glaubensgenossen konnten rechtzeitig aus Zürich fliehen. Bei den Häretikern handelte es sich nicht um Täufer, obwohl sie Kontakte zu täuferischen Kreisen auf der Zürcher Landschaft pflegten. Christian Scheidegger konnte anhand persönlicher Verbindungen unter ihnen sowie der Verbreitung von Druckschriften nachweisen, dass es sich um Anhänger der Lehre Kaspar Schwenckfelds handelte.46 Obrigkeitliche Aufmerksamkeit erregte ebenfalls das Netzwerk von Alchemisten um Raphael Egli (1559–1622), das an der Jahrhundertwende zum 17. Jahrhundert in Zürich Bestand hatte. Der Diakon am Großmünster stand dem Rosenkreuzertum nahe und war ein überzeugter Anhänger des Paracelsus. Er war bestrebt, seine Anschauungen mit der reformierten Theologie zu verschmelzen. In den Kreisen der Alchemisten fand Giordano Bruno während seines Aufenthalts in Zürich gastliche Aufnahme. Egli gab 1595 Brunos Summa terminorum metaphysicorum heraus.47 Die Leidenschaft für die kostspielige Alchemie wurde zu Eglis Verhängnis. Die Anschaffung teurer Metalle für seine Laborversuche überstieg bald einmal 45
Die Zürcher Täufer 1525–1700. Hg. v. Urs B. Leu u. Christian Scheidegger. Zürich 2007. Christian Scheidegger: Wahrheit und Subjektivität. Warum schwenkfeldische Nonkonformisten in Zürich 1588 gegen Glaubenszwang protestierten. In: Mennonitica Helvetica 31, 2008, 91– 111. 47 Urs Leo Gantenbein: Der frühe Paracelsismus in der Schweiz. In: Nova Acta Paracelsica NF 10, 1996, 14–46, hier 38 f.; Guido Schmidlin: Giordano Bruno im Kreis der Zürcher Alchemisten und Paracelsisten. In: Nova Acta Paracelsica NF 8, 1994, 57–86. 46
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seine Verhältnisse: Erdrückt von der Schuldenlast, musste er 1605 Zürich fluchtartig verlassen, als der Rat ein Verfahren gegen ihn eröffnete und ihn seiner Ämter enthob.48 Der Adept fand ein neues Auskommen am Hof des Landgrafen Moritz von Hessen-Kassel (1572–1632), der selbst der alchemistischen Experimentierkunst zugeneigt war. Egli erhielt eine Anstellung als Hofprediger und Professor der Theologie in Marburg. Nicht zum Kreis der Schwenkfelder ist Hans Jakob Ammann (1586–1658) zu rechnen.49 Der angesehene Wundarzt unternahm zwischen 1612 und 1613 eine Reise ins Gelobte Land und verfasste eine Reisebeschreibung, die in Zürich dreimal aufgelegt wurde.50 In den Jahren um 1618 bis 1624 geriet er wahrscheinlich in den Bann mystisch-spiritualistischer sowie paracelsischer und alchemistischer Ideen, denn 1624 kam er erstmals mit dem Ehegericht in Konflikt, weil er den Kirchenbesuch verweigerte. Er gab zu Protokoll, er habe Jesus im Herzen; weil seiner Meinung nach Lehre und Lebenswandel übereinstimmen sollten, blieb er dem Gottesdienst fern.51 Ein weiteres Mal musste er sich im Januar 1634 vor der Obrigkeit verantworten: Diesmal wurde ihm zur Last gelegt, er behaupte, Christus habe sein Fleisch nicht von Maria erhalten, sondern vom Himmel her mitgebracht. Zudem verwerfe er die Kindertaufe, den Eid sowie Kirche und Obrigkeit. Neben Ammann wurde auch der Zolliker Pfarrer Matthias Hirschgartner (Hirzgartner) (1574–1653),52 der bereits im Vorjahr wegen seines Interesses für medizinische und astronomische Themen verwarnt worden war, von den Examinatoren vorgeladen. 1636 und 1642 wurde Ammann erneut verhört. Für diese zwei Verhöre kann Leu glaubhaft darstellen, dass Ammann mit seinen dissidenten Anschauungen nicht alleine dastand, sondern dass sich um ihn eine kleine Gruppe von mindestens vier namentlich bekannten Personen bildete.53 Ammanns heterodoxe
48
Schmidlin, Giordano Bruno [s. Anm. 47], 85. Urs B. Leu: Chiliasten und mystische Spiritualisten des 17. Jahrhunderts. In: Gegen den Strom. Der radikale Pietismus im schweizerischen und internationalen Beziehungsfeld. Hg. v. J. Jürgen Seidel. Zürich 2011, 39–74, hier 41. Zu Ammann vgl. Hans Jakob Ammann genannt der Thalwyler Schärer und seine Reise ins Gelobte Land. Hg. v. A. F. Ammann. Zürich 1919; F. Loetz: Mit Gott handeln. Von den Zürcher Gotteslästerern der Frühen Neuzeit zu einer Kulturgeschichte des Religiösen. Göttingen 2002. 50 Der Zürcher Pietist Johann Heinrich Locher besaß ebenfalls ein Exemplar der Reisebeschreibung Ammanns. 51 ZBZ Ms E 160: 327; Leu, Chiliasten [s. Anm. 49], 41. 52 Rudolf Wolf: Biographien zur Kulturgeschichte der Schweiz. 4 Bde. Zürich 1858–1862, hier 1, 81–94; Hermann Bleuler: Die Hirschgartner von Zürich. Zürich 1944; Eduard Fueter: Geschichte der exakten Wissenschaften in der schweizerischen Aufklärung (1680–1780). Aarau, Leipzig 1941, 31 ff.; Emil J. Walter: Soziale Grundlagen der Entwicklung der Naturwissenschaften in der alten Schweiz. Bern 1958, 65 f. Hirschgartner studierte u. a. in Steinfurt bei Conradus Vorstius (1569–1622), einem arminianischen Theologen, der später als Professor in Leiden wegen seiner Schrift De Deo (1606) durch die Dordrechter Synode angefeindet wurde, vgl. Wolf, Biographien [s. Anm. 52], 84. 53 Leu, Chiliasten [s. Anm. 49], 48 f. 49
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Auffassungen dürften neben Paracelsus (1493–1541) auch stark von Paul Felgenhauer (1593–1677), namentlich durch die Schrift Aurora Sapientiae (1629), beeinflusst gewesen sein.54 Beinahe zeitgleich zu Hans Jakob Ammann wurde ein junger Theologe vom Kirchenrat in der Stadt St. Gallen am 12. März 1634 verhört. Ihm wurden dieselben irrigen Ansichten zur Last gelegt wie Ammann in Zürich. Er habe anlässlich seiner Badekur in Graubünden die Menschlichkeit Christi negiert und behauptet, „daß der Herr Christus sein[e] wahre Menschheit zu bestimpter Zeit nicht in dem jungfreulichen Leib der heiligen Jungfrau Maria an sich genommen, sondern dieselbige mit sich vom Himmel gebracht.“55 Die zeitliche und inhaltliche Übereinstimmung der heterodoxen Aussprüche in Zürich und St. Gallen bzw. deren zeitgleiche Ahndung ist frappierend. Beim jungen Theologen in St. Gallen handelt es sich um Michael Zingg. Ähnlich wie Ammann war auch er kein Einzelgänger. In St. Gallen wurde mit ihm zusammen Josef Hochreutiner angeklagt. Dieser war nicht nur der Nachfolger Zinggs als Lehrer der oberen Deutschklasse, sondern stand auch mit ihm in engem Kontakt. Der Kirchenrat verdächtigte ihn, dieselben Ansichten wie Zingg zu vertreten, und fand im Verlauf des Prozesses heraus, dass er Paul Felgenhauers Aurora Sapientiae (1629) sowie Das Geheymnus von Tempel des Herrn (1631) besaß. Hochreutiner verweigerte kurz darauf – durch die Lektüre Sebastian Francks geleitet – die Teilnahme an der Taufe seines Sohnes. Er wurde als „Letzkopf“ und Täufer bezichtigt und aus der Stadt verbannt.56 4. Wer ist Michael Zingg (auch Zink oder Zingk)?57 Michael Zingg galt als 54
Leu, Chiliasten [s. Anm. 49], 50 ff. Zit. n. Traugott Schiess: Der Glaubenszwang in der st. gallischen Kirche des XVII. Jahrhunderts. Der „Widertäufer“ Josef Hochreutiner und Pfarrer Michael Zingg. In: Schriften des Vereins für Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung 51, 1922, 46. Schiess’ Arbeit basiert auf Quellenbeständen des Stadtarchivs St. Gallen mit den Signaturen Q 1l und Q 1h. 56 Schiess, Glaubenszwang [s. Anm. 55], 32 ff. 57 Die ZBZ verfügt über umfangreiches handschriftliches Quellenmaterial über Michael Zingg. Seine Lebensgeschichte wurde erstmals von Johann Jakob Bodmer (1698–1783) aufgearbeitet: Anekdoten von Michael Zingg. In: Schweizerisches Museum 5, 1783, 430–456. Bodmers Arbeit basiert zu einem großen Teil auf der Historia der schweren Versuchung, welche angefangen über mich zu gehen in dem Anfang der Hundstage Anno 1660 von Michael Zingg. Dieses Selbstzeugnis ist verschollen. Der Catalogus Bibliotheca Carolina Turicensis ab anno 1809 ad annum 1812 (Ms Car XII 10) hält unter der Signatur [Gal I] 252 fest: „Laut dem vorigen Catalog sollte diese Nummer enthalten – 1) Historia des Herrn Michael Zinggen. u 2) Handlung mit Reedinger – Dieser Band ist aber nicht mehr vorhanden“. Otto Anton Werdmüller: Der Glaubenszwang in der zürcherischen Kirche im XVII. Jahrhundert. Eine kirchenhistorische Skizze. Zürich 1845, 65–118, folgt sehr eng der Darstellung von Bodmer, ergänzt diese aber mit weiteren ausgewerteten Quellenmaterialien. Mit Zinggs Aufenthalt in St. Gallen beschäftigt sich Schiess, Glaubenszwang [s. Anm. 55], 28–50. Zu Zingg als Mathematiker und Astronom: Rudolf Wolf: Notizen zur Geschichte der Mathematik in der Schweiz. I. Michael Zingg. In: Mitteilungen der naturforschenden Gesellschaft in Bern 54/55, 1848; ders.: Biographien zur Kulturgeschichte der Schweiz. Bd. 3. Zürich 1860, 79–92; Gottfried Heer: Glarnerische Naturkundige. Michael Zingg. Vortrag gehalten bei der 55
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ein herausragender Gelehrter des 17. Jahrhunderts, der sich namentlich auf dem Gebiet der Mathematik und Astronomie verdient gemacht hatte. Er war der Sohn eines Schneiders und Tuchhändlers aus Glarus. Als Kind fiel er wegen seiner Intelligenz und seines Wissensdrangs auf, was ihm den Weg zum Studium der Theologie öffnete: So kam er mit einem Stipendium ausgerüstet auf die Hohe Schule nach Zürich. Bereits drei Jahre nachdem er zum verbi divini minister ordiniert worden war, wurde er 1626 als Pfarrer nach Sax ins Rheintal gesandt, wo der Zürcher Stadtstaat die Herrschaftsrechte ausübte.58 Vier Jahre später berief ihn der St. Galler Schulrat zum Lehrer der mathematischen Fächer an die Oberklassen der deutschen Schule. Daneben musste er den Predigtdienst an der Kirche des Siechenhauses in Linsenbühl versehen. Bereits nach einem Jahr gab Zingg seine Stelle wieder auf und er widmete sich ausschließlich seinen mathematischen Studien. Vermutlich begann Zingg sich in diesem Lebensabschnitt als Privatgelehrter mit theologischen Fragen auseinanderzusetzen, die ihn von orthodoxen Standpunkten wegführten.59 Am 14. März 1634 wurde er wegen ‚irrigen Lehren‘ inhaftiert. Zingg wurde gezwungen, schriftlich zu widerrufen, und er musste vor dem Rat die Urfehde schwören. Im Pestjahr 1635 erhielt er als Prediger nochmals eine Chance. Ihm wurde die undankbare Aufgabe als Seelsorger der Pestkranken übertragen.60 So richtig glücklich schien er in St. Gallen nicht mehr gewesen zu sein und er kehrte 1638 nach Zürich zurück, wo er eine Stelle als Diakon in Bülach übernahm. Zwei Jahre später durfte er die Pfarre in Fischenthal im Zürcher Oberland antreten. Aufsehen erregte Zingg mit einer aufwändigen astronomischen Uhr, die er der Stadt Zürich schenkte. Als Gegenleistung erhielt er das Burgerrecht der Stadt, eine außerordentliche Ehre, denn es galt im 17. Jahrhundert als abgeschlossen und wurde nur sehr selten und höchstens noch an reiche Kaufleute – wie beispielsweise an die Familie Römer – vergeben. Die Uhr wurde in der Stadtbibliothek aufgestellt und befindet sich heute im Landesmuseum in Zürich. Die astronomische Uhr besteht aus drei Blättern. Das zentrale obere Blatt gibt im Jahresverlauf die Tierkreise, den Sonnenstand, die Mondphasen sowie die Sonnen- und Mondfinsternisse wider. Die beiden unteren Blätter zeigen die Bewegungen der inneren und äußeren Planeten an.61 Das Herausragende an diesem Uhrwerk besteht darin, dass es sich um eine der ältesten mechanischen Nachbildungen des kopernikanischen Naturforschenden Gesellschaft des Kantons Glarus. Glarus 1917; Johann Wenzel: „Neüwe Astronomische kunstliche Uhre“ von Michael Zingg aus Glarus (1599–1676). In: Uhren. Alte und moderne Zeitmessung 14, 1991, 34–42. Neuere Arbeiten zu Zingg: Oskar Pfister: Michael Zingg (1599–1676), eine Lichtgestalt in dunkler Zeit. In: Zwingliana 8, 1944, 7–24; Urs B. Leu, Chiliasten [s. Anm. 49]. 58 Werdmüller, Glaubenszwang [s. Anm. 57], 66 f. 59 Schiess, Glaubenszwang [s. Anm. 55], 44 ff. 60 Pfister, Zingg [s. Anm. 57], 8–12. 61 Vgl. Klaus Maurice: Die deutsche Räderuhr. Bd. 2. München 1976, Nr. 796.
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Systems handelt. Es dürfte sich um den zweitältesten noch erhaltenen Automaten handeln, der auf dem heliozentrischen Modell beruht.62 Der Uhr wurden ein gedrucktes Flugblatt sowie eine 60-seitige handschriftliche Erläuterung beigegeben. In letzterer rechtfertigt Zingg in der Vorrede seinen kopernikanischen Ansatz ganz dem Zwang seiner Zeit folgend damit, dass dieser einfacher zu berechnen und zu verstehen sei als das Ptolemäische Weltbild: Neüwe Astronomische kunstliche Uhre, In welcher nach der Meinung Aristarchi Samij Philosophi, Nicolai Copernicj [. . .] die Bewegung der Planeten und tagliche Lauf der Fixen-gestirne in rechter Harmonia und Gleichheit mit den Oberen von Stund zu Stund für Augen gestelt, so wundersam und verstandlich, das auch ein zehnjährig Kind durch mündliche Anweisung in kurzem zu solchem verstand der Astronomie kann gebracht werden, zu dergleichen bißher der wenigste Theil under den Gelehrten auff Hohen Schulen gelangen mögen. Durch vilfaltiges nachdencken und überlegen der Zahlen erfunden: Und wie in werk selbsten dargestelt.63
Obwohl sich Zingg mit der Betonung, es handle sich beim kopernikanischen System bloß um eine These und um eine Vereinfachung, zu schützen trachtete, bedurfte es dennoch einigen Bekennermutes. Dass die orthodoxe Geistlichkeit es später besonders auf Zingg abgesehen hatte, dürfte auch darin begründet sein, dass er einen nicht unwesentlichen Beitrag dazu leistete, das heliozentrische Weltsystem in der Zürcher Bildungselite salonfähig zu machen. Zingg stand als entschiedener Kopernikaner nicht alleine da. Ganz offen gibt er in seiner Begleitschrift zu, dass ihm etliche Herren Bücher ‚zu solchen Künsten‘ zur Verfügung stellten, die er sich finanziell nicht hätte leisten können. Besonderen Dank stattet er einem „fürtrefflichen Mathematici“ ab, mit dem er in regem Kontakt stand und der ihm viele Bücher aus seiner Bibliothek lieh.64 Es handelt sich um Matthias Hirschgartner, der sich 1634 zusammen mit Hans Jakob Ammann wegen heterodoxer Ansichten vor der Obrigkeit verantworten musste. Der überzeugte Kopernikaner betrieb intensive astronomische Beobachtungen und veröffentlichte 1643 bei Matthäus Merian in Frankfurt am Main sein bedeutendstes Werk, Detectio dioptrica, das über weite Strecken auf eigenen Beobachtungen mit dem Fernrohr fußte.65 Eine weitere Person, die Zingg nahe gestanden haben musste, nahm Anteil an der kunstfertigen Uhr. Der junge Theologe Nikolaus Zaff (ca. 1620–post 1677), der soeben in die Bündner Synode aufgenommen worden war, verfasste für den 1649 von der Burgerbibliothek herausgegebenen Einblattdruck
62
Wenzel, Neüwe Uhre [s. Anm. 57], 35 ZBZ Ms B 128: Neüwe Astronomische kunstliche Uhre. – Die Vorrede datiert aus Fischenthal vom 26. 02. 1648. 64 ZBZ Ms B 128: Neüwe Astronomische kunstliche Uhre. 65 Wolf, Biographien [s. Anm. 52], 92 ff. 63
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Novi automati tigurini, vel horlogii 66 ein Epigramm auf den Schöpfer des mechanischen Werkes. Dank seiner mathematischen Kunstfertigkeit fand Zingg in angesehenen Zürcher Geschlechtern wie den Familien Werdmüller, Escher oder Hirzel potente Förderer. Sie konnten ihn als Lehrer für ihre Söhne gewinnen. Der Rat beschloss, ihm die Professur für Mathematik zu übertragen und ihn mit dem Gehalt einer halben Chorherrenpfrund zu entlohnen. Der Geistlichkeit gefiel der Ratsbeschluss nicht. Sie hintertrieb diesen und versetzte Zingg auf eine Stelle in der Nähe der Stadt:67 Er wurde 1648 auf der Pfarrei in Altstetten eingesetzt, eine Vorortsgemeinde, die eine Stunde Gehweg von Zürich entfernt lag. Der Mathematikunterricht fand jeweils am Dienstag und Mittwochmorgen in der Wasserkirche statt und stand auch den jungen Zürchern offen, die über keine Lateinkenntnisse verfügten.68 Fünf Jahre später rückte er noch näher an die Stadt heran, als ihm die Pfarre am Pfrundhaus bei St. Jakob an der Sihl, gleich vor dem Stadttor gelegen, übertragen wurde. Zingg vermutete, dass sein rascher Aufstieg und die Möglichkeit, als Professor der Mathematik berufen zu werden, den Neid der Chorherren geweckt habe, weshalb sie ihm in der Folge kräftig nachstellten.69 Misstrauisch stimmte die Chorherren wohl auch, dass Zingg mit seinen Predigten viele Hörer aus der Stadt anzog und Sonntag für Sonntag seine Kapelle voll hatte.70 Das Unheil begann am 27. November 1659, als Zingg über Joh 3,17 predigte. Die Auslegung des Johannes drehte sich um die Frage, ob Jesus für alle gestorben sei oder bloß für einige wenige. Die Predigt wurde von der Hörerschaft sehr kontrovers aufgenommen, was kaum erstaunt. Beim Bibelzitat, das Zingg auslegte, handelt es sich um eine Schlüsselstelle in seiner theologischen Überzeugung. Seine Interpretation richtete sich direkt gegen den Prädestinationsglauben.71 Für seine gewagte Predigt musste sich Zingg vor der Kirchenleitung rechtfertigen, was ihm mit seiner Epistola apologetica auch gelang. Obwohl er keinen Hehl aus seiner Abneigung für die Prädestination machte, konnte er noch einmal den Kopf aus der Schlinge ziehen: Gott habe Christum zum Erlöser für alle Menschen in die Welt gesendet, und dieß sei unser beste und höchste Trost. Viele schwere Klagen und Seufzer von angefochtenen und sterbenden Menschen, die verfangen waren mit Sorg und Schrecken, Gott
66 ZBZ EDR 1649: Zürich Ia, 1. Das Flugblatt ist abgedruckt in: Wenzel, Neüwe Uhre [s. Anm. 57], 38. 67 Wolf, Biographien [s. Anm. 52] 3, 83. 68 Vgl. ZBZ Ms A 67: Nr. 22, 527–530 [Projekt wie das Studium Mathematicam anzustellen mit der Jungen Burgerschaft der Stadt Zürich durch Herrn Michael Zingger, Pfahrrer zu Altstetten und liebhaber dißer Künste]. 69 Bodmer, Anekdoten [s. Anm. 57], 436 f. 70 Pfister, Zingg [s. Anm. 57], 12. 71 Werdmüller, Glaubenszwang [s. Anm. 57], 69 f.
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habe sie ausgesetzt in der Zahl der Verworfenen, also daß sie zur Gnade und Barmherzigkeit Gottes nimmer kommen mögen, haben ihn der finstern Lehre Calvins von der Vorherbestimmung abgeneigt gemacht. Seine mit dem Evangelium und der Lehre der Reformatoren übereinstimmende Lehre habe vielen von seinen Zuhörern zu nicht geringem Trost gereicht.72
In dieser Stellungnahme schimmern die Erfahrungen und Eindrücke des Seelsorgers von Pestkranken durch. Zingg wurde wegen seiner umstrittenen Predigt vorerst nicht mehr weiter behelligt. Aber er bot den Chorherren immer wieder Anlass, seine Rechtgläubigkeit in Frage zu stellen. Zingg, der zeit seines Lebens an einer schwachen Gesundheit litt, besuchte einst die Heilquellen in Wängibad bei Aeugst am Albis. Hier hielt er mit den Kurgästen Erbauungsstunden ab. Diese versammelten sich jeweils am Morgen und Abend zum Gebet und erfreuten sich der Bibellektüre mit anschließender Auslegung. Diese geistlichen Übungen brachten ihm den Vorwurf der ‚wiedertäuferischen Umtriebe‘ ein.73 Über Zingg zirkulierte bereits ein paar Jahre zuvor das Gerücht, er habe den spiritualistischen Ausspruch getätigt: „Was wollet Jhr in der Bibel lesen? Sie ist nur ein Buch auf Lumpen gedruckt.“74 Gegen dieses Gerücht verwahrte sich Zingg gegenüber dem Antistes vehement. Zum Eklat kam es am 3. Juli 1660. Zingg befand sich an der Wühre in Zürich bei einem Buchführer, als er auf Heinrich Fäsi (1631–1690) stieß, den Sohn des Archidiakons am Großmünster. Dieser wusste zu berichten, dass Johann Heinrich Heidegger (1633–1698), der sich 1660 kurz in Zürich aufhielt, die Frage bearbeite: „An passio Christi pro omnibus facta?“ Zingg ließ sich anscheinend provozieren und erwiderte gereizt: Was bedarf es viel des Schreibens? Bleiben wir bei der schönen, runden, auf Gottes Wort gegründeten Bekanntnuß unserer frommen Vorfahren und Reformatoren! Ich bekenne mich mit ihnen, daß Christus sei die Versöhnung für unsere Sünden, nicht allein aber für die unseren, sondern für die der ganzen Welt. Wäre man dabei geblieben, so hätten wir den unversöhnlichen Streit mit den Lutheranern nicht vermehrt.75
Darauf entwickelte sich ein heftiger theologischer Disput, der die Menge anlockte, darunter auch einige Theologiestudenten, die eine große Ketzerei witterten. Die theologische Kontroverse zog ihre Kreise. Drei Tage später wurde Zingg zum Verhör auf die Chorherrenstube zitiert. Der Vorfall wurde nun ernsthaft geprüft und eigens dazu eine dreiköpfige, rein geistliche Kommission gebildet. Es folgten mehrere Verhöre, in denen Zingg vorgeworfen wurde, er lehre die Gratia universalis. Zudem wollte die Kommission wissen, 72
Zitiert nach Werdmüller, Glaubenszwang [s. Anm. 57], 70. Werdmüller, Glaubenszwang [s. Anm. 57], 70 f. 74 Werdmüller, Glaubenszwang [s. Anm. 57], 73. 75 Zit. n. Werdmüller, Glaubenszwang [s. Anm. 57], 71; vgl. ebenfalls Bodmer, Anekdoten [s. Anm. 57], 431 f. 73
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welche Art Briefe er aus den Niederlanden erhalten und an Herrn Hummel76 in Bern weitergeleitet habe. Am 23. August wurde er im Rathaus in Beugehaft genommen. Es wurde von ihm die Unterwerfung unter die Lehrsätze der Dordrechter Synode gefordert. Dank der Fürsprache von Heinrich Zeller (1609–1672) und Kaspar Waser (1622–1667), zwei ihm wohlgesinnten Theologen, konnte ein Kompromiss gefunden werden, indem Zingg bloß eine abgeschwächte Glaubensformel zu unterschreiben brauchte. Am 10. September kam Zingg wieder frei; er wurde jedoch unter Hausarrest gestellt und, weil Antistes Johann Jakob Ulrich (1602–1668) von der Rechtgläubigkeit Zinggs nicht restlos überzeugt war, im Predigtamt suspendiert.77 Nun begann ein eigentliches Kesseltreiben gegen den im Ansehen angeschlagenen Zingg. Ulrich Bulot attackierte Zingg mit einer anonymen, handschriftlich kopierten Flugschrift. Vermutlich wurde der Dekan in Kappel aktiv von der Kirchenleitung zu seiner Tat angeregt, jedenfalls soll die Streitschrift auf der Chorherrenstube von Studenten fleißig kopiert worden sein. Zingg versuchte sich zu verteidigen, woraufhin mehrmals in der Öffentlichkeit Pamphlete gewechselt wurden.78 Zingg verhedderte sich immer tiefer in den theologischen Fallstricken: Als nächstes wurde ihm die vorurteilslose Auseinandersetzung mit dem Täufer David Joris (1501/02–1556) vorgeworfen. Der Rat beschloss, dass seine Auszüge aus der täuferischen Schrift konfisziert werden müssten. Am 16. Dezember 1660 wurde er erneut vor die Examinatoren bestellt: ihm wurde eröffnet, dass große Zweifel an der Ernsthaftigkeit seiner Unterschrift, mit der er die Dordrechter Lehrsätze im Herbst anerkannt hatte, bestünden. Weiter wurde ihm der Briefwechsel mit Johannes Kaspar Faus (Fäusius) (1601–1671)79, Arzt und Professor in Heidelberg, einem Anhänger von Johann Baptista van Helmont (1579–1644), vorgehalten.80 Am 7. Oktober 1661 erhob Antistes Ulrich beim Rat Anklage gegen Zingg und drohte der weltlichen Obrigkeit damit, dass er die Lehre Zinggs von den Kanzeln herab bekämpfen werde, falls der Rat nicht auf die Anklage eintreten sollte.81 Darauf beschloss der Rat, die Schriften, Briefe und Notizen zu kon76 Mit großer Wahrscheinlichkeit handelt es sich um Johann Heinrich Hummel (1611–1674), seit 1647 Münsterpfarrer in Bern. Er wurde 1638 als Pfarrer in Brugg im rechtmäßigen Glauben angezweifelt, konnte sich aber rechtfertigen. Vgl.: Chr. Erni: Histori des Lebens Johannis Henrici Hummelii. Eine Autobiographie aus dem 17. Jahrhundert: In: Berner Zeitschrift für Geschichte und Heimatkunde 1950, 24–57, hier 41. 77 Werdmüller, Glaubenszwang [s. Anm. 57], 96 f. 78 Die Streitschriften fanden offensichtlich in interessierten Kreisen der Stadt eine breite Beachtung und die Handschriften sind in der ZBZ an mehreren Orten vollständig oder teilweise vorhanden: vgl. Ms E 136; Ms F 115; Ms F 186; Ms H 168; Ms Car I 255 oder Ms Car XV 64. 79 Art. „Faus(ius), Johannes Caspar“. In: Dagmar Drüll: Heidelberger Gelehrtenlexikon. 1652– 1802. Berlin 1991, 33 f. 80 Werdmüller, Glaubenszwang [s. Anm. 57], 102–105. 81 ZBZ Ms F 115: Acta ecclesiastica. Tom. XI. A° 1655–1662. Huldriciana II, Bl. 279r u. v [Fürtrag wegen Herrn Zinggen Pfr. Zu St. Jacob darin Er aufs neue seine Irthummer halben wider angeklagt vor Gn HH den 7ten Octobris].
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fiszieren, und ermächtigte die Kirchenleitung, die alten Akten über Zingg aus St. Gallen anzufordern.82 Es folgten zwei Hausdurchsuchungen, und der 1634 abgeschlossene Prozess wurde durch die Zürcher Behörden erneut aufgerollt. Am 14. November saß der Rat über Zingg zu Gericht und beschloss, ihn aus dem geistlichen Stand auszuschließen, und verhängte eine lebenslängliche Gefängnisstrafe. Von Freunden rechtzeitig gewarnt,83 konnte sich der Verurteilte seiner Strafe durch Flucht entziehen. Den Rest seines Lebens verbrachte er verarmt im Exil.84 Der Wissenschaftshistoriker Eduard Fueter entwirft im Zusammenhang mit der Vertreibung von Zingg aus Zürich die These, wonach die angeblich geringe Pflege der Mathematik in der Limmatstadt dem Einfluss der Orthodoxie zuzuschreiben sei, weil die Beschäftigung mit dieser Wissenschaft seit der Verbannung von Zingg im Geruche der Ketzerei gestanden habe.85 5. Am 14. November 1661 traten die Zürcher Ratsherren in der Absicht zusammen, über Michael Zingg ein Urteil zu fällen. In der Ratsversammlung wurde der Abermaliger Fürtrag Wegen Herrn Zinggen seitens der Kirchenvorsteher verlesen.86 Die Anklageschrift umfasst 14 Punkte, die dem Beschuldigten zur Last gelegt wurden. Anhand der Anklageschrift können nachstehend in gebotener Kürze ein paar Streiflichter auf das als heterodox eingestufte theologische Denken von Michael Zingg geworfen werden. Michael Zingg eckte in Zürich zuerst mit seiner Kritik an der calvinistischen Prädestinationslehre an. Seine ablehnende Haltung gegen dieses zentrale Dogma der reformierten Orthodoxie brachte den Prozess gegen ihn erst ins Rollen. Dennoch steht in der Anklageschrift seine Kritik an der Gnadenwahl bloß an zehnter Stelle. Vorgeworfen wurde ihm dort sein angeblicher Arminianismus: Stimt er ganz überein mit der Lehr der Arminianer: dann a. weil er nit zugeben, daß ein ewige Gnadenwahl seÿe. b. daß Gott von Ewigkeit geordnet, welche glaubend oder nit glauben werdind. c. daß gott von Ewigkeit her alle ding vorgesehen habe. d. daß unfehlbarlich geschehe was Gott [vor]gesehen. e. wil er wann Gott böse vorgesehen, auch er kehnt[?] selbiges geschehen zulaßen, so könne das böse nit sünde seÿn. f.
82
Beschluss des Großen Rates vom Sonntag, 13. 10. 1661, ebd., Bl. 279vv. Bodmer vermutet, dass es sich um Johannes Hirzel (1614–1687), Gerichtsherr in Altikon, gehandelt habe. Vgl. Bodmer, Anekdoten [s. Anm. 57], 450. Werdmüller übernimmt diese Vermutung. Vgl. Werdmüller, Glaubenszwang [s. Anm. 57], 114. Johannes Hirzel war ein erfolgreicher Textilfabrikant und Mitglied des Großen Rates, vgl. Leo Weisz: Die Söhne des Bürgermeisters Salomon Hirzel. Zürich 1951, 23 f.; Ulrich Pfister: Die Zürcher Fabriques. Protoindustrielles Wachstum vom 16. zum 18. Jahrhundert. Zürich 1992, 542 (Nr. 50). 84 Werdmüller, Glaubenszwang [s. Anm. 57], 105–116. 85 Fueter, Wissenschaften, 23. 86 ZBZ Ms F 115: Bl. 280vv [Abermaliger Fürtrag Wegen Herrn Zinggen vorstellend seine villfaltigen schwehre Irrthum (im Rat verlesen am 14. 11. 1661)]. 83
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wil er nit daß Gottes gerechtigkeit in abstraffung der sünder bestehe. g. will er, Gott habe allen menschen genugsam Kräffte zuglauben mittheilet.87
Zingg griff bereits im Vorjahr den Vorwurf des Arminianismus in einer dünnen, 36 Seiten umfassenden Druckschrift auf, obwohl er im Verhör durch eine Spezialkommission vom 11. Juli 1660 glaubhaft machen konnte, dass er den Konflikt zwischen Arminius und Gomarus nicht hinreichend kenne.88 Den Traktat Ein Gespräch zwischen einem rechtgläubigen Christen/ vnd einem Arminianer (1660)89 verfasste er während der Gefangenschaft auf dem Rathaus.90 Die Schrift ist als Dialog zwischen einem Vertreter der Orthodoxie und einem Reisenden namens Casparus abgefasst, der aus den Niederlanden stammt und offen Sympathien für die Lehre Jacobus Arminius’ (1560–1609) zeigt. Zingg lässt seinen Protagonisten Lehrsätze der Arminianer als Thesen vortragen, ohne sich deutlich für die eine oder andere Seite zu entscheiden. Der Autor ist hier ganz Kopernikaner und offensichtlich an den Dialogen Galileis geschult. Er lässt mit Absicht seine Thesen bloß als mögliche Alternative unentschieden im Raum stehen. Das Gespräch über sechs angebliche Lehrmeinungen des Arminius schwenkt zielstrebig auf das Kernthema, die Prädestination, ein. Casparus äußert einleitend seine Meinung, wonach nicht bloß einige auserwählte Menschen, sondern alle selig werden können, „so fern sie die angebottene Gnad in Christo annemmen“.91 Der Einwand des ‚Rechtgläubigen‘ folgt prompt: Das Gesagte widerspreche der Schrift. Der Disput dreht sich sodann um die einschlägigen Bibelstellen. Es werden die Schriftorte Mt 20 und 22 sowie Röm 8 und 11 herangezogen. Zinggs Protagonist dreht aber den Spieß unter Verwendung desselben Zitates um und erwidert mit Röm 11.32: „Gott habe alles vnder die Sünde beschlossen/ auff daß Er sich aller erbarme/ so sindt sie ja alle erwehlet.“92 Für ihn ist die Frage, warum nicht alle Menschen von Gott angenommen werden, nicht eine Frage der Auserwählung, sondern eine Frage des
87 ZBZ Ms F 115: Bl. 280vv [Abermaliger Fürtrag (im Rat verlesen am 14. 11. 1661 – 10. Anklagepunkt)]. 88 Vgl. Werdmüller, Glaubenszwang [s. Anm. 57], 76. Die Kirchenleitung hielt die Anklage wegen Arminianismus jedoch bis ans Ende aufrecht. Vgl. ZBZ MS F 115: Bl. 279v [Fürtrag wegen Herrn Zinggen, (07. 10. 1661)] und Bl. 280vv [Abermaliger Fürtrag Wegen Herrn Zinggen vorstellend seine villfaltigen schwehre Irrthum (im Rat verlesen am 14. 11. 1661 – 10. Anklagepunkt)]. 89 Michael Zingg: Ein | Gespräch | zwischen einem recht=|gläubigen Christen/ vnd | einem Arminianer/ | von | etlichen puncten Christlicher | Religion. O. O. 1660. [ZBZ Ms S 361: Nr. 1] 90 Der Hinweis, dass Zingg die kleine Schrift während seiner Inhaftierung auf dem Rathaus verfasste, geht aus einer späteren Druckschrift hervor. Er referiert hier im Anhang auf seinen früheren Traktat: „Exempel [. . .] Zum theil gezogen auß der Unterredung über das Gespräch/ daß sich An. 1660. in zeit meiner Gefangenschafft sehen lassen/ unter dem Namen Orthodoxus und Caspar.“ (Zingg, Bekantnus [s. Anm. 99], Anhang). 91 Zingg, Ein Gespräch [s. Anm. 89], 8. 92 Zingg, Ein Gespräch [s. Anm. 89], 9.
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Willens und der Einstellung des Menschen selbst. Es würden nicht alle selig, weil nicht alle die „angebottene Gnad in Christo annemmen/ sondern mutwilliger weise durch unglauben außschlagen.“93 Im Verlauf des Dialoges wendet sich das Gespräch demjenigen Thema zu, das im Zentrum der Predigt vom 27. November 1659 gestanden hatte, die der Kirchenleitung erstmals Anlass geboten hatte, gegen Zingg einzuschreiten. Die Rede fällt auf die Lehre, dass Christus für alle und jeden Sünder gestorben sei. Casparus untermauert diese Auffassung gestützt auf Joh 1.29, 2Kor 5.19, und 1 Tim 2: „Christus ist die versöhnung/ nicht allein für unsere/ sondern für der gantzen welt Sünde.“94 Aus orthodoxer Sicht entsteht hier ein hochkomplexes hermeneutisches Problem, denn die Bibel darf nicht mit sich in Widerspruch geraten. Aber Mt 20.28 besage, Christus sei für viele gestorben, was eben bedeute, dass er nicht für alle gestorben sei. Darum seien, aus dem Blickwinkel des Sprechers der Orthodoxie, die genannten Zitate für Laien unverständlich und die Worte „Welt“ und „alle“ sehr interpretationsbedürftig. Für Zingg war diese theologische Frage von eminenter Bedeutung und sie nimmt in seinem Traktat denn auch einen gewichtigen Platz ein.95 Er lässt Casparus fragen, wenn sich also die Bibelstellen widersprächen, welches der Zitate dann Gültigkeit habe. Der orthodoxe Gesprächspartner gibt ihm zu verstehen, es seien jene, die belegten, dass Christus nicht gestorben sei für die Gläubigen und Ungläubigen, sondern einzig allein für die Auserwählten.96 In diesem Sinne seien alle Textstellen auszulegen: Die Zitate seien so zu interpretieren, dass eben kein Widerspruch entstehe. „Welt“ bedeute somit nicht „alle“ und „jeder jederzeit“, sondern bloß die von Anbeginn her auserwählten Weltkinder. Deshalb heiße „alle“ bloß alle, die auserwählt seien. Der Vertreter der Orthodoxie doppelt zum Abschluss seiner Beweisführung mit der Behauptung nach, wer diese Auslegung verwerfe, der müsse zugleich zugeben, dass sich die Bibel widerspreche. Allein dies zu denken sei Gotteslästerung!97 Mit der Auseinandersetzung über das Thema, ob Jesus für alle oder bloß für
93 Zingg, Ein Gespräch [s. Anm. 89], 11. Für Arminius ist die Gnade, die Gott allen Menschen schenkt, in ihrer Wirkung nicht unwiderstehlich: Gott lässt den Menschen die Möglichkeit, die Gnade anzunehmen oder abzulehnen. Vgl.: Gerrit Jan Hoenderdaal: Art. „Arminius, Jacobus/Arminianer“. In: TRE 4, 1979, 63–69, hier 65. 94 Zingg, Ein Gespräch [s. Anm. 89], 13. 95 Sehr ähnlich argumentiert sechzig Jahre später der Berner Pietist Samuel König in seiner Schrift: Grundsätze von der allgemeinen Gnade Gottes (1723). Auch er argumentiert, dass ‚für viele gestorben‘ so viel bedeute, wie ‚Christus sei für alle gestorben‘. Es ist denkbar, dass bei König die Argumentationsweise von Zingg noch nachwirkte. Vgl. Rudolf Dellsperger: Samuel Königs Grundsätze von der allgemeinen Gnade Gottes (1723). In: Prädestination und Willensfreiheit. Luther, Erasmus, Calvin und ihre Wirkungsgeschichte. Hg. v. Wilfried Härle u. Barbara MahlmannBaur. Leipzig 2009, 223–236, hier 229. 96 Zingg, Ein Gespräch [s. Anm. 89], 14. 97 Zingg, Ein Gespräch [s. Anm. 89], 16.
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einige Auserwählte gestorben sei, bewegt sich Zingg auf der Ebene der Lehre des Arminius. Im weiteren Verlauf verlässt er aber dessen Begründungen und schwenkt auf eine spiritualistisch gefärbte Linie ein. Das Argument der widerspruchsfreien Bibelauslegung dürfte er bewusst hier eingefügt haben, denn es illustriert nicht nur die inhaltliche Differenz, sondern auch die methodische: Aus spiritualistischer Sicht ist die Bibel bloß toter Buchstabe, wenn die innere in der Wiedergeburt erlangte Erleuchtung durch den Geist Gottes fehlt. Wer die Bibel nicht mit dem inneren Auge zu lesen vermöge, für den bleibe sie ein widersprüchliches und unverständliches Buch. Die Ablehnung der Prädestination steht in einem mystisch-spiritualistischen Kontext: Der Mensch und sein Weg zur göttlichen Gnade steht im Zentrum von Michael Zinggs Theologie. Ihm geht es um die innere Erleuchtung und um die Wiedergeburt. Die Möglichkeit, das Gnadengeschenk Gottes abzulehnen oder anzunehmen, steht für Zingg im engen Zusammenhang mit dem freien Willen des Menschen. Dieser Zusammenhang wird jedoch vom orthodoxen Gesprächsteilnehmer des Dialoges vehement bestritten. Auserwählung und Wiedergeburt sind jenem ein Begriffspaar: Wer nicht wiedergeboren sei, der habe auch keinen freien Willen zum Guten. Ein nicht Wiedergeborener könne die angebotene Gnade Gottes weder annehmen noch ablehnen; er verfüge einzig über eine Neigung zum Bösen. In dieser Aussage des Orthodoxen kristallisiert sich das Prädestinationsproblem an der diametral entgegengesetzten Wiedergeburtskonzeption der Orthodoxie einerseits und Zinggs andererseits. Für Zinggs Protagonisten ist es entscheidend, daß ein jeder Mensch/ wie er die angebottene Gnad im Evangelio könne freywillig verwerffen vnd außschlagen/ also könne er auch dieselbige freywillig ihm applicieren vnd zueignen/ auß kräfften/ so noch in der Natur/ nach dem Fahl/ in einem ieden Menschen übrig solle geblieben seyn.98
Zingg knüpft hier geschickt die Frage nach dem freien Willen des Menschen an der Lehre von der Gnadenwirkung des Arminius an. Er betreibt hier ein Versteckspiel, denn das Thema der Gnade und des freien menschlichen Willens klingt stark an spiritualistische Autoren und ganz besonders an Jakob Böhme an. In einer zweiten, später im Exil anonym verfassten Schrift, Bekantnus Von der Liebe Gottes (1663), wird Zingg deutlicher und arbeitet den Zusammenhang zwischen Wiedergeburt und Gnade in scharfer Abgrenzung zur calvinistischen Prädestination erneut heraus: Nun ist die Gerechtigkeit Gottes durch den Glauben Jesu Christi in alle/ und vber alle die da glauben. Sonst aussert dem ist kein unterscheid/ dann sie haben alle gesündiget/ und manglen der Ehr Gottes. Sind tod in sünden/ kinder des zorns von Natur/ und unter dem fluch: da hat Christus uns erkaufft auß dem fluch des Gesatzes/ als er für uns worden ist ein fluch: (dann es ist geschrieben/ verflucht ist ein jeder 98
Zingg, Ein Gespräch [s. Anm. 89], 19 f.
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dar am holtz hanget) [. . .] auff daß wir die verheissung des Geistes empfangen durch den Glauben. Daher der hocherleuchtete Apostel redet: Adam sey ein Vorbild dessen/ der künfftig war. Und der erste Mensch auß der Erden ist irdisch/ der andere Mensch ist der Herr auß dem Himmel. Welcherley der irdische ist/ solcherley sind auch die irdischen: und welcherley der himlische ist/ solcherley sind auch die himlischen. Und wie wir getragen haben die bildnuß des irdischen (under der ungehorsam/ sünd/ ellend/ zorn/ und fluch) also werden wir tragen die bildnuß des himlischen (in gerechtigkeit/ heiligkeit/ frieden und segen/ nach dem wir durch den glauben in Christo/ wie zuvor durch ungehorsam und natur geburt in Adam.)99
Zinggs Theologie geht von der allgemeinen Liebe Gottes aus. Die Menschen sind durch den Sündenfall Adams nicht grundsätzlich verworfen und einzig auf die Gnadenwahl Gottes angewiesen. Zinggs Gnadenlehre geht von dem Gegensatzpaar Liebe und Zorn Gottes sowie himmlisch und irdisch aus. Für Zingg besteht Hoffnung, denn es können alle erlöst werden. Der Sündenfall brachte die Menschen unter den Zorn Gottes. Der erste Mensch ist irdisch, sündig und verflucht. Aber es gibt die ‚Verheißung des Glaubens‘, die es dem sündigen und verfluchten Menschen als ein Bildnis des Irdischen erlaubt, sich in ein Bildnis des Himmlischen umzuwandeln und zu einem gerechten und geheiligten Menschen zu werden. Im Menschen ist die Anlage zum Glauben durch den Sündenfall nur verschüttet worden, aber immer noch vorhanden. Diese Denkfigur lehnt sich stark an Jakob Böhme an. In der Beschreibung Der Drey Principien Göttliches Wesens wie auch in der Spätschrift Mysterium Magnum, von der wir wissen, dass Zingg sie besessen hat, stehen die zwei göttlichen Wesensarten (Principii) des Zornes und der Liebe im Widerstreit. Auch hier besteht der Kern der Wiedergeburt im Übergang des Menschen vom Zornesreich ins Liebesreich Gottes, indem er sich vom irdischen Ebenbild zum himmlischen Ebenbild Gottes verwandle.100 Die Interpretation des Sündenfalls ist eng mit der zustimmenden oder ablehnenden Haltung gegenüber der Prädestinationslehre verknüpft.101 Entsprechend sensibel reagierten die Kirchenvorsteher auf abweichende Interpretationen. Der fünfte Anklagepunkt hält fest: Lehrt er, Adam seÿe vor der erschaffung Eva abgetretten und in die Sünd gefallen; Adam und Eva seÿind sünder gewesen ehe Sie von der verbodtenen Frucht geeßen; Ja Adam seÿe von der erschaffung Eva durch das Schauen der unvernünfftigen thie99 Michael Zingg: Bekantnus | Von der Liebe Got=|tes in Christo Jesu: Jn Gnaden | gegen dem gantzen Menschlichen Geschlecht/ | das ist/ gegen allen und jeden Menschen | eröffnet. Kurtz verfasset nach heiliger Schrifft. Straßburg 1663, 4. [ZBZ Ms S 361: Nr. 2] 100 Jakob Böhme: Theosophia Revelata. Oder: Alle göttliche Schriften. Faksimile-Nachdruck der Ausgabe von 1730. Hg. v. Will-Erich Peuckert. Stuttgart 1955 ff. De tribus principiis, oder Beschreibung der Drei Principien Göttliches Wesens. 1619 (3P), 7.2–6. – Mysterium Magnum oder Erklärung über das Erste Buch Mosis. 1622/23 (MM), 26.10, 46 f., 40.6 f. u. 43.4, 9. 101 MM 26.1–10.
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ren dergestalten bewegt worden, daß wann Gott nit einen größeren jamer und ellend vorgebauen hädte, er in ein abschühliche und greüliche Schandthat gerathen wäre.102
Diese Auslegung der Genesis dürfte Zingg ebenfalls bei Böhme entlehnt haben. Dort fand er eine Art psychologischer Sündenfalltheorie: Der Sündenfall ist nicht eine auf alle Generationen vererbte angeborene menschliche Eigenschaft, sondern ein ewiges Ringen zwischen dem Liebes- und dem Zornesreich Gottes im menschlichen Charakter. Der Mensch solle sich gemäß Böhme selbst betrachten, so finde er den Vorgang des Sündenfalls in sich selbst. Auch in Adam habe das ewige Ringen zwischen den beiden Wesensarten Gottes stattgefunden und Adam sei dem Geist der Welt erlegen. Deshalb habe Adam nach einer Gefährtin verlangt. Als Gott Eva erschaffen hatte, sei die himmlische Jungfrau von Adam gewichen. Das Essen von der verbotenen Frucht besiegele den Sündenfall bloß noch, indem der himmlische Adam zu einem irdischen Wesen geworden sei.103 Das richtige Verständnis des Sündenfalls besteht für Jakob Böhme in der Erkenntnis, dass der Streit zwischen Grimm und Sanftmut im Menschen ausgetragen werde: „also ist gutes und böses ineinander“.104 Der Mensch lebe in den zwei göttlichen Prinzipien und verfüge über die Freiheit, sich für eines der beiden zu entscheiden. Er trage das himmlische und irdische Bild in sich.105 Auf diesem Verständnis des Sündenfalls gründet für Zingg wie für Böhme die Kritik an der Prädestinationslehre: Den Abfall von Gott könne der Mensch in der Wiedergeburt selbst überwinden. In diesem Punkt ist Zingg ein Anhänger spiritualistischer und theosophischer Anschauungen und unterscheidet sich in seiner Zurückweisung der Gnadenwahl von den Arminianern. Seine theosophische Auffassung vom dreifachen Wesen Gottes und dem dreifachen Aufbau des Universums wurde Zingg bereits in St. Gallen zum Verhängnis. Den Hauptanklagepunkt des früheren Prozesses griff die Anklageschrift erneut auf: Laugnet er daß Christus die Substanz und wesen seiner menschheit von Men[schen] Substanz angenommen, und lehrt dagegen, Christus habe sein fleisch vom Himmel gebracht, er seÿe nicht fleisch, sondern ein Geist, er seÿe nicht auß Maria sondern aus dem H. Geist gebohren, ist eben der schwere irrthum den er zu St. Gallen verschwohren.106
Diese Überzeugung, wonach Christus keinen irdischen Leib, sondern einen himmlischen Leib angenommen habe, fußt ursprünglich auf der Lehre von 102 ZBZ Ms F 115: Bl. 280rr [Abermaliger Fürtrag (im Rat verlesen am 14. 11. 1661 – 5. Anklagepunkt)]. 103 MM 19 f.; 3P 17.22 ff. 104 3P 21.20. 105 MM 19.21, 70.63; 3P 21.12 f. u. 20–23. 106 ZBZ Ms F 115: Bl. 280vv [Abermaliger Fürtrag (im Rat verlesen am 14. 11. 1661 – 9. Anklagepunkt)].
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Kaspar Schwenckfeld (1490–1561). Für Schwenckfeld ist Christus perfekt, weshalb er nicht kreatürlich und irdisch sein könne. Christus habe keinen natürlich-fleischlichen, sondern einen himmlisch-fleischlichen Körper.107 Diese Theorie über den himmlischen Körper Christi ist ein wiederkehrendes Element im spiritualistischen Denken des 16. Jahrhunderts und auch bei Valentin Weigel oder Jakob Böhme anzutreffen.108 Es muss angenommen werden, dass Zingg seine Denkfigur bei Paul Felgenhauer bezogen hat. Das Denken des theosophischen Arztes ist – abgesehen von seiner im Frühwerk entwickelten Eschatologie – stark von Schwenckfeld, Weigel und Böhme geprägt.109 Auffallend ist, dass bei den Prozessen von 1634 gegen Ammann in Zürich wie gegen Hochreutiner in St. Gallen jeweils die 1629 erschienene Aurora Sapientiae im Spiel war. Obwohl diese Schrift später in der konfiszierten Bibliothek Zinggs fehlte, kann davon ausgegangen werden, dass er sich in seinen heterodoxen Bemerkungen direkt auf dieses Werk bezog.110 Paul Felgenhauer greift in seinem Traktat stark auf Jakob Böhme und dessen Theorie vom dreifachen Wesen des Menschen und der Welt zurück, die für die mystisch-spiritualistische Wiedergeburtsauffassung von zentraler Bedeutung ist. Die neue Geburt geht von der göttlichen oder himmlischen Welt aus. Der alten Geburt haftet das Irdische an. Sie kann das Reich Gottes nicht besitzen. Wer ins Reich Gottes eingehen wolle, der müsse aus ihm
107 Vgl. Kaspar Schwenckfeld: Der Erste Theil | Der Christli|chen Orthodoxischen bücher | vnd schrifften [. . .]. O. O. 1564 [ZBZ III N 40], u. a. 112 f.: „Wie Gott seinen Son drumb in der gleichnus des fleisches der sünden hat gesendet/ auff das er das fleisch der sünde mit gleicher substanz erlösete/ das ist/ mit einem fleische/ welchs wol dem fleisch der sünde gleichet/ aber doch nit ein sündhaftig fleisch wär [. . .]. Wer wieß nicht/ das er [Christus] vom H. Geiste empfangen: vnd das sein fleisch nicht also natürlicher weise von Adam und Eua heer ist/ wie vnser fleisch: sonder on sünd vnd ein heilig rein fleisch/ auch von anfang seines Empfancknus also geweßen ist.“ 108 Vgl. Alexandre Koyré: Mystiques, spirituels, alchimistes du XVIe siècle allemand. Paris 1971, 32. 109 Vgl. Ernst Georg Wolters: Paul Felgenhauers Leben und Wirken. In: JNKG 54, 1956, 63– 84; 55, 1957, 54–95; Siegfried Wollgast: Philosophie in Deutschland zwischen Reformation und Aufklärung. 1550–1650. Berlin 21993, 725 f. 110 Dafür spricht auch ein weiterer Anklagepunkt des St. Galler Prozesses, der später in Zürich aber fallen gelassen wurde. Zingg wurde folgende Aussage zu Last gelegt: „Fürs Ander, Sagt und lehrt er auch, die Jungfraw Maria seÿe nicht aus dem Stamme Juda, noch vom Stamme Abraha[m], sonder auß dem stamm Levi.“ Vgl. ZBZ Ms F 156: Zinggiana, Bl. 23r. Die fast identische Behauptung findet sich bei Felgenhauer: „[. . .] dannenher die beyden geschlecht register Christo anders nit zukommen/ denn nur nach dem buchstaben des fleisches/ gleich als ob ER Josephs Son were/ weil er je nit auß Mannessaamen ist. Also gehet das geschlechtregister die Jungfraw Mariam nichts an/ darumb weil sie nit war vom hause David wie Joseph/ sondern Elisabeth so auß den töchtern Aron war.“ (Vgl. Paul Felgenhauer: Aurora Sapientiae | Das ist/| Morgenröthe der | Wießheit | Von den Dreyen Princi-|pijs vnnd Anfang Aller Dinge im | Geheymnüß der Wießheit/ in welchem | der Grund vnd Schlüssel aller Wießheit | offenbahret wird [. . .]. [Amsterdam] 1629 [ZBZ 1.478], 111).
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gemacht sein.111 Durch die Wiedergeburt erlange der Mensch durch Christus die himmlische und geistliche Eigenschaft zurück, die er durch den Sündenfall fast gänzlich verloren habe: [D]er jrrdische oder Erste Mensch nemlich/ an uns/ ist aus Erde/ deß Fleisch und Bluth nit ins Reich Gottes kan eingehen: Der Andere Mensch aber/ nemlich in uns/ ist der HERR vom Himmel/ das ist/ Christus in uns: Also unterscheidet er auch die zweyerleiy Adam/ nemlich/ der erste vnd irrdische Adam ist animalisch/ der letzte aber ist Geistlich/ der Allerhöchste Adam/ das ist Christus/ ein Lebendigmachender Geist.112
Vom Standpunkt des spiritualistischen Verständnisses der Wiedergeburt drängt sich die Vorstellung von einem rein himmlischen Leib Christi geradezu auf. Wenn die gegenständliche, materielle Welt das Heilige ausschließe, dann scheint es folgerichtig, dass Christus den menschlichen Körper nur der Gestalt nach, aber nicht dem Wesen nach angenommen habe: Also ist JEsus CHRistus im Fleisch kommen/ nemblich in seinem eygenen vom Himmel vnd nicht in einem frembden/ irrdischen vnd animalischen/ das Er etwa entlehnet vnnd geborget hette/ sondern Er ist durch sein Eygen Blut in das heylige eingegangen/ vnnd GOTT hat ihm seine Gemeine erworben durch sein selbst eygen Blut.113
Die große Nähe von Zinggs häretischer Aussage, für die er in St. Gallen und Zürich belangt wurde, zur Aurora Sapientiae deutet darauf hin, dass er sich in den Dreißigerjahren das Denken von Jakob Böhme zuerst über die Schriften Felgenhauers, die teilweise stark an Böhme anklingen, erschlossen haben könnte und erst später, als einzelne Schriften im Druck vorlagen oder allenfalls als handschriftliche Kopie zirkulierten, sich mit dem Original beschäftigen konnte. Die wenigen hier angefügten Anklagepunkte rücken Zingg in ein mystisch-spiritualistisches und theosophisches Licht. Dieser Eindruck erhärtet sich zusätzlich durch das Inventar seiner beschlagnahmten Bibliothek. Die Anklageschrift hält diesbezüglich im elften Punkt fest: „Hat er seiner höchsten Lust an solchen schwermerischen Godtlosen büchern.“114 In der 1661 konfiszierten Bibliothek finden wir die wichtigsten nonkonformistischen Autoren und Werke: Von Johann Arndt besaß er neben dem Wahren Christentum noch vier weitere Traktate. Mehrere Werke von Jakob Böhme fanden die Examinatoren vor: darunter das Spätwerk Mysterium Magnum sowie Der Weg zu Christo, De Signatura Rerum und der Theosophische SendBrieff. Weiter beschäftigte sich Zingg mit Valentin Weigels Ein schön Gebetbüchlein und weiteren Traktaten 111
Felgenhauer, Aurora Sapientiae [s. Anm. 110], 81 f. Felgenhauer, Aurora Sapientiae [s. Anm. 110], 109. 113 Felgenhauer, Aurora Sapientiae [s. Anm. 110], 79. 114 ZBZ Ms F 115: Bl. 280vv [Abermaliger Fürtrag (im Rat verlesen am 14. 11. 1661 – 11. Anklagepunkt)]. 112
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sowie mit Hoburgs Apologia Praetoriana und der Theologia Mystica. In der Bibliothek befanden sich ferner die Werke Taulers, die Nachfolgung des Armen Leben Christi, einige nicht näher bezeichnete Druckschriften von Schwenckfeld und zwei Werke von Paracelsus.115 Die Kirchenleitung störte sich nicht nur daran, dass Zingg ‚schwärmerische und gottlose Bücher‘ besaß und las. Noch mehr störte sie, „daß er solche verführerische Bücher nicht auch ehrlichen burgern beliebt und recommendiert [=empfohlen]“ hatte.116 Zinggs Lektüre heterodoxer Bücher fand anscheinend in einem sozialen Netzwerk statt, was das Vergehen in den Augen der Chorherren noch schlimmer machte. Mit wem teilte er die Leidenschaft für mystische, spiritualistische und theosophische Schriften? 6. Auf die große Ähnlichkeit der konfiszierten Bibliothek Zinggs mit jener des Zürcher Pietisten Johann Heinrich Locher hat bereits Urs B. Leu hingewiesen. Er konnte nachweisen, dass sich wenigstens in Bezug auf den Lektürestoff ein fließender Übergang zwischen dem Pietismus und den ihm vorausgehenden Frömmigkeitsströmungen nachweisen lasse.117 Ist dieser fließende Übergang bloß ein Zufall? Oder lassen sich auch weitere Übergänge nachweisen? Gibt es soziale Kontinuitäten? Ein Blick auf die Altersstruktur der ersten Pietistengeneration, die zwischen 1689 und 1698 in den Fokus der kirchlichen Verfolgung geriet, lässt den Schluss zu, dass sich die ersten Pietisten zeitlich sehr nahe um das Wirken von Michael Zingg formierten. Von den 32 Pietistinnen und Pietisten mit bekanntem Geburtsdatum ist die stärkste Altersgruppe mit 8 Personen diejenige zwischen 51 und 60 Jahren. Weitere zwei Personen sind über sechzig. Es ist zu vermuten, dass sich eine Neigung zu pietistischer Frömmigkeit nicht erst im fortgeschrittenen Alter entwickelt hat, sondern viel eher in der späten Adoleszenz- und Jugendphase, spätestens zwischen dem zwanzigsten und dreißigsten Lebensjahr. Diese Annahme legt den Schluss nahe, dass die Formierungsphase der ersten Generation von Pietistinnen und Pietisten in den Siebzigerjahren des 17. Jahrhunderts begann.118 Es stellt sich somit die Frage, inwieweit die Nachwirkung von Michael Zingg und besonders sein nach wie vor in Zürich bestehendes Beziehungsnetz die ersten Pietisten beeinflussen konnten. Michael Zingg stieß in der städtischen Gesellschaft auf Unterstützung und er war mit seinen Anschauungen alles andere als ein Sonderling. So erfreute er sich einer großen Beliebtheit bei den Mitgliedern der „Schützengesellschaft
115 ZBZ Ms F 156: Bl. 136v–140v. Die drei vorhandenen Listen der konfiszierten Bücher sind abgedruckt und kommentiert bei Leu, Chiliasten [s. Anm. 49], 62–69. 116 ZBZ Ms F 115: Bl. 280vv [Abermaliger Fürtrag (im Rat verlesen am 14. 11. 1661 – 11. Anklagepunkt)]. 117 Leu, Chiliasten [s. Anm. 49], 74. 118 Bütikofer, Zürcher Pietismus [s. Anm. 5], 54 f.
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am Platz“, in der sich die wehrfähigen Zürcher Büchsenschützen regelmäßig im Schießen übten. Unter den Schützen war sein Rückhalt bedeutend: Die Gesellschafter sollen sich angeblich bereit erklärt haben, den St.-Jakob-Pfarrer gegen die Angriffe der Geistlichkeit zu verteidigen. Nicht von ungefähr kam der Vorwurf seitens der Kirche, er habe die Schützen im Konflikt mit der Kirche auf seine Seite gebracht. Ulrich Bulot bezichtigte ihn sogar, er werbe bei den Schützen für die Trennung von Kirche und Staat.119 Zingg durfte sich in seiner Auseinandersetzung mit der Orthodoxie nicht nur auf die Unterstützung der Schützengesellschaft abstützen, er konnte sich auch auf ein Netzwerk von einflussreichen Freunden verlassen. Der Freundeskreis, der sich um ihn gebildet hatte, wird in den Darstellungen von Bodmer und Werdmüller mehrfach erwähnt. Folgende Personen können identifiziert werden: – Johann Georg Werdmüller (1616–1678), Feldzeugmeister und Ingenieur:120 Er war der jüngere Bruder des Häretikers Rudolf Werdmüller (1614–1677)121 und pflegte mit Matthias Hirschgartner eine Freundschaft; dieser widmete ihm seine wichtigste, 1643 gedruckte Schrift. Werdmüller konstruierte als Ingenieur die Festungswerke Zürichs sowie den Brunnen auf dem Lindenhof. Er war ab 1648 Mitglied des Kleinen Rates und wurde 1664 zum Landvogt in Wädenswil gewählt. – Junker Hans Escher vom Luchs (1616–1696) beim weißen Fräulein: Er wurde 1640 zum Achtzehner122, 1641 zum Examinator, und 1651 zum Landvogt in Wädenswil gewählt.123 – Escher, Hauptmann und später Stadtschreiber.124 Es dürfte sich um Hans Georg Escher vom Luchs (1620–1686) handeln. Er wurde 1649 Landschreiber, 1663 Unterschreiber, 1665 Stadtschreiber und 1667 Achtzehner.125 – Mehrere Angehörige der mächtigen Familie Hirzel zählten ebenfalls zum Freundeskreis, allen voran Johannes Hirzel, der Zingg zur Flucht vor der drohenden drakonischen Strafe bewegte, aber auch sein politisch erfolgreiche-
119 Bodmer, Anekdoten [s. Anm. 57], 437 u. 441; Werdmüller, Glaubenszwang [s. Anm. 57], 98 u. 104. 120 Werdmüller, Glaubenszwang [s. Anm. 57], 68; Leo Weisz: Die Werdmüller. Schicksale eines alten Zürcher Geschlechtes. Bd. 1. Zürich 1949, 289–325. 121 Zu Rudolf Werdmüller vgl. Weisz, Werdmüller [s. Anm. 120], 139–288; Werdmüller, Glaubenszwang [s. Anm. 57], 12–64. 122 Als Achtzehner wurde die Exekutive der Constaffel bezeichnet – als Zwölfer die Exekutive der Zunft; das Amt war jeweils mit einem Sitz im Großen Rat verbunden. Vgl. Andreas von Moos: Zünfte und Regiment. Zur Zunftverfassung Zürichs im ausgehenden 18. Jahrhundert. Zürich 1995, 65. 123 Werdmüller, Glaubenszwang [s. Anm. 57], 68; ZBZ Ms Z II 2: Carl Keller-Escher: Promptuarium Genealogicum. Escher vom Luchs. Nr. 62. 124 Werdmüller, Glaubenszwang [s. Anm. 57], 104. 125 ZBZ Ms Z II 2: Carl Keller-Escher: Promptuarium Genealogicum. Escher vom Luchs. Nr. 65.
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rer Bruder, Hans Kaspar Hirzel (1617–1691).126 Letzterer genoss seine Ausbildung in Genf sowie in Padua und durfte seinen Vater, Bürgermeister Solomon Hirzel, auf den diplomatischen Missionen begleiten. Er wurde 1651 Stadtschreiber, 1665 Zunftmeister der Schneider und Stadthalter. Ab 1669 bekleidete er das Amt des Bürgermeisters.127 – Hans Rudolf Ulrich (1629–1688), Goldschmied: Er wurde 1669 Stadtschreiber und bekleidete 1675 das Amt des Landvogts in Kyburg. Die politische Karriere krönte er 1684 mit der Wahl zum Zunftmeister der Gerwe.128 – Der Buchhändler Bodmer: Johann Jakob (1617–1676) und Hans Heinrich Bodmer (1621–1689) führten gemeinsam die ehemalige Froschauersche Druckerei. Die beiden waren auch die Herausgeber der vermutlich ersten Zürcher Wochenzeitung.129 In einem Brief an den älteren der Bodmer-Brüder vom 28. Januar 1660 bezeichnet ihn Zingg als einen „besonders geliebten Herr und Fründ“. Der St.-Jakob-Pfarrer erinnert darin an seine folgenschwere Predigt vom 27. November 1659, der auch Johann Jakob Bodmer beiwohnte, und bedankt sich bei ihm für die Unterstützung: „Erkenne seine aufrichtige threüw gegen mir, darfür ich danke und bitt also gegen mir zu verharren.“130 Wie sein jüngerer Bruder saß auch Johann Jakob Bodmer im Rat; er wurde 1656 Zwölfer, 1674 Zunftmeister der Zimmerleute und 1674 Stadthalter. – Von Muralt, Kaufmann:131 Mit einiger Wahrscheinlichkeit handelt es sich um Kaspar von Muralt (1627–1718).132 Er wurde Mitglied des kaufmännischen Direktoriums und 1680 als erster Spross seiner Familie in den Großen und 1685 in den Kleinen Rat gewählt, wo er 1689 seine politische Karriere mit der Wahl zum Obmann gemeiner Klöster krönte. – Heinrich Römer (1628–1697), Kaufmann.133 Er gründete vor dem Renn-
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Werdmüller, Glaubenszwang [s. Anm. 57], 68. Werdmüller, Glaubenszwang [s. Anm. 57], 68 u. 117; Weisz, Die Söhne [s. Anm. 83], 25–
48. 128 Werdmüller, Glaubenszwang [s. Anm. 57], 104 u. 108; ZBZ Ms V 808: Johann Jakob Hirschgartner: Stemmatologia Turicensis oder chronologische Beschreibung aller zürcherischen Geschlechtern. Ulrich. Nr. 45. 129 Werdmüller, Glaubenszwang [s. Anm. 57], 104; Fritz Stucki: Geschichte der Familie Bodmer von Zürich. 1543–1943. Zürich 1942, 400–405; Else Bogel: Schweizer Zeitungen des 17. Jahrhunderts. Beiträge zur frühen Pressegeschichte von Zürich, Basel, Bern, Schaffhausen, St. Gallen und Solothurn. Bremen 1973, 13–22 u. 41–46. 130 ZBZ Ms F 185: Bl. 7 [Sendschreiben an J. J. Bodmer: Bericht, Leben und Liebe Gottes des Vaters in Christo Jesu durch des H. Evangelium geoffenbaret. (28.01.) 1660]. 131 Werdmüller, Glaubenszwang [s. Anm. 57], 104. 132 Für die Vermutung spricht, dass Melchior, der ältere Bruder, erst 1662 ins Geschäft eintrat, und der zweite Bruder, Conrad (1616–1662), früh verstarb. Vgl. Hans Conrad Peyer: Von Handel und Bank im alten Zürich. Zürich 1968, 74–90. 133 Werdmüller, Glaubenszwang [s. Anm. 57], 104. Der jüngere Bruder Johann Römer (1630– 1701) kann ausgeschlossen werden. Weil dieser gemäß der Fabrik- und Pfundzollrechnungen erst ab 1668 in das durch Heinrich Römer gegründete Unternehmen eintrat, muss, wenn von ‚Kaufmann Römer‘ die Rede ist, Heinrich Römer gemeint sein. Vgl. A. Garnaus: Die Familie Römer
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wegtor ein Fabrikationsgeschäft in der Seiden- und Wollbranche. Dieses stieg in den Neunzigerjahren zu einem der bedeutendsten Handelshäuser auf. Heinrich Römer bekleidete ab 1670 eines der sieben angesehenen Direktorenämter des Kaufmännischen Direktoriums. Das Netzwerk von Gleichgesinnten, das Zingg um sich scharen konnte, war sehr illuster: Mit Angehörigen aus den einflussreichen Familien der Hirzel und Escher hatte er Freunde aus Geschlechtern um sich, die am stärksten im Zürcher Regiment vertreten waren und die Politik beinahe monopolisierten.134 Mit Bodmer zählte der wichtigste Buchdrucker der Stadt zu seinen Gönnern und bei Römer und von Muralt fand er in den größten und reichsten Handelshäusern der Stadtrepublik Rückhalt. Die Freunde aus den wohlhabenden Geschlechtern Zürichs waren nicht nur politisch sehr einflussreich, sie zählten auch zu den gebildetsten, weitestgereisten und wissenschaftlich oder kulturell interessiertesten ihrer Zeit. Die Unterstützung durch reiche und mächtige Freunde, die selbst durch Kirche und Obrigkeit praktisch unantastbar waren, dürfte Zingg allzu lange in Sicherheit gewiegt haben. Nur so kann erklärt werden, warum er, nachdem er 1660 in den Fokus der orthodoxen Kirchenleitung geraten war und hart bedrängt wurde, sich nicht für einige Zeit aus der Auseinandersetzung zurückzog; stattdessen fachte er mit weiteren gedruckten und ungedruckten Publikationen die Kontroverse nur noch weiter an. Diverse Linien führen vom Freundeskreis um Zingg direkt oder über die nächste Generation in den Kreis der frühen Pietisten. Der junge und aufstrebende „Fabrikant“ Heinrich Römer war dreiunddreißig Jahre alt, als Zingg fluchtartig die Limmatstadt verlassen musste. Er blieb auch nach dessen Weggang ein in theologischen Dingen unruhiger Geist. Römer stand mit dem Chiliasten Jakob Redinger (1619–1688),135 der Comenius nahe stand, in Kontakt, wovon heute noch mehrere Briefe zeugen.136 Es ist gut möglich, dass der wohlhabende Kaufmann der Bitte Redingers nachgab und die Herausgabe von dessen Werk Unglückliche Schiffs-Leute (1679) finanziell unterstützte.137 Die Vorliebe für mystisch-spiritualistische Schriften ließ sich Römer gerne etwas kosten: Er unterstützte Anfang der Neunzigerjahre großzügig die von von Zürich. 1622–1932. Zürich 1932, 31–48 u. Anhang (unpag.); Pfister, Fabriques [s. Anm. 83], 550, Nr. 132. 134 Hans Schulthess: Das Junker- und Gerichtsherrengeschlecht der von Escher vom Luchs. In: Ders.: Kulturbilder aus Zürichs Vergangenheit. Bd. 1. Zürich 1930, 153–156, hier 155. 135 Vgl. Basil Schader: Johann Jakob Redinger (1619–1688). Sprachwissenschaftler und Pädagoge im Gefolge des Comenius. Zürich 1985; Hugo Blümner: Johann Jakob Redinger. Ein Gehilfe des Amos Comenius. In: Neue Jahrbücher für das klassische Altertum, Geschichte und deutsche Literatur und für Pädagogik 18, 1906, 361–375; Friedrich Zollinger: Johann Jakob Redinger und seine Beziehungen zu Johann Amos Comenius. Eine historisch-pädagogische Skizze aus dem XVII. Jahrhundert. Zürich 1905. 136 Vgl. ZBZ Ms F 196. 137 Schader, Johann Jakob Redinger [s. Anm. 135], 69; Leu, Chiliasten [s. Anm. 49], 70 f.
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Loth Fischer in Utrecht besorgte Ausgabe der deutschen Übersetzung der Himmlischen Wolcke (1694) von Jane Leade.138 In Heinrich Römer erkennen wir einen direkten Vermittler zwischen dem Freundeskreis um Michael Zingg und der ersten Generation von Pietistinnen und Pietisten. Der erfolgreiche Kaufmann ist sowohl dem Freundeskreis um Michael Zingg als auch der ersten Pietistengeneration zuzurechnen. Er wurde beispielsweise 1692 in den Prozess gegen den jungen, pietistisch gesinnten Theologen Georg Ziegler (1659–1749) als Teilnehmer an dessen Konventikeln hineingezogen.139 Er war auch der Vermittler pietistischer Frömmigkeit an seinen Neffen, Johann Heinrich Locher. Dieser absolvierte bei seinem Onkel die Lehre zum Kaufmann. Römer wurde so etwas wie der Mentor des jungen, zur pietistischen Religiosität neigenden Locher. Heinrich Römer war für ihn Ratgeber und Vaterersatz. Er nahm sich Heinrich Lochers an Stelle von dessen failliertem und in die niederländische Kolonie ausgewandertem Vater an und unterstützte ihn in der beruflichen und religiösen Entwicklung. Locher besprach sich auch als Erwachsener gerne mit ihm über Glaubens- und Gewissensangelegenheiten. So machte sich Locher beispielsweise direkt nach Erhalt des Briefes vom 14./24. November 1683 von Heinrich von Schönau aus Amsterdam – worin ihm der Entschluss, sich der Labadistengemeinde anzuschließen, mitgeteilt wurde – sofort nach Hottingen zu Heinrich Römer auf, um die Situation zu besprechen.140 Die zentrale Person der zweiten Pietistengeneration war der Buchdrucker Johann Heinrich Bodmer (1669–1743). Auch hier finden wir eine Verbindungslinie zu Michael Zingg: Sein Onkel, Geschäftspartner des Vaters, zählte zum Freundeskreis um den St.-Jakob-Pfarrer. Und noch eine weitere Linie führt uns in die zweite Generation: Der Chirurg Johannes von Muralt (1645– 1733) führte einen Briefwechsel mit Johann Kaspar Hardmeyer und wurde von der Obrigkeit beim Lesen eines pietistischen Traktates ertappt.141 Entweder dessen Vater oder aber einer seiner Onkel gehörte zu den Anhängern Zinggs. Ein nächster Freund von Michael Zingg ist in der Formationsphase des Pietismus anzutreffen: Es handelt sich um den Verfasser des festlichen Gedichtes zu Ehren des Konstrukteurs der kopernikanischen Uhr: Nikolaus Zaff. Der Engadiner Theologe und Arzt diente zur selben Zeit den Reformierten als Seelsorger in Venedig, als Locher sich dort – wohl im Auftrag seines Onkels – die Sporen als Kaufmann abverdiente. Fernab der Heimat nahm sich Zaff des jungen Zürchers an und führte ihn in einen kleinen Kreis von Böhme-Anhängern ein. Hier wurde Locher mit dem Spätwerk Böhmes, dem Mysterium 138
ZBZ Ms S 276: Nr. 23, Bl. Dv; Bütikofer, Zürcher Pietismus [s. Anm. 5], 400. ZBZ Ms Z V 100: Oskar Stoye: Die Anfänge des Pietismus in Zürich. Unveröff. Diss. [ca. 1916], 91 ff. 140 ZBZ Ms S 276: Nr. 18, 7. 141 Bütikofer, Zürcher Pietismus [s. Anm. 5], 37 f. u. 515. 139
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Magnum, bekannt gemacht. Bei allen Schwierigkeiten, die diese dunkle Schrift bereitete, unterstützte und ermunterte ihn Zaff.142 In dieser Lektüre fand der in seiner pietistischen Frömmigkeit suchende und zweifelnde Locher den nötigen Halt.143 Beachtenswert ist abschließend noch eine weitere personelle Verknüpfung zwischen der ersten Pietistengeneration und deren Vorläufern: Locher vermutete in der Wahrhafftigen Erzellung, dass seine Besuche, die er einst Johann Hochholzer (1618–1695) abstattete, dazu führten, dass der Pfarrer in Rickenbach in seinem Prozess wegen falscher Lehrmeinungen besonders hart angepackt wurde.144 Hochholzer geriet wegen einer heterodoxen Predigt in den Fokus der Kirchenleitung und wurde 1690 zweiundsiebzigjährig seines Amtes enthoben.145 Zwei Jahre später wurde Hochholzer erneut aktenkundig, weil er in pietistischen Kreisen um Georg Ziegler, Heinrich Römer und Heinrich Locher verkehrte.146 – Er war der Schwiegersohn von Matthias Hirschgartner und mit dessen ältester Tochter Elisabeth (1613–1695) verheiratet.147 7. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass der Einfluss Jean de Labadies auf die Herausbildung einer pietistischen Bewegung in Zürich beschränkt war. Heinrich von Schönau, der bekannte Exponent der labadistischen Separation, hing nur vorübergehend dieser Strömung an. Er entwickelte seine Überzeugung im Kontrast zu seiner auf Jakob Böhme fußenden Frömmigkeit am kurfürstlichen Hof in Heidelberg und stieß bei seinen Glaubensgenossen in Zürich auf Unverständnis. Die Quellen legen die Vermutung nahe, dass der Labadismusverdacht seitens der Vorsteher der Zürcher Kirche sich eher auf die Furcht vor labadistischen Frömmigkeitszirkeln sowie auf die eigenen schlechten Erfahrungen mit de Labadie und dessen Entourage stützte und dass der obrigkeitliche Verdacht weniger durch die tatsächlich während des Pietistenprozesses von 1698 vorgefundene Situation genährt wurde. Die inhaltlichen Differenzen zwischen dem frühen Zürcher Pietismus und den Lehren von Jean de Labadie sowie Pierre Yvon waren kaum überbrückbar und kristallisierten sich besonders an der Einstellung zur Prädestination.148 142 ZBZ Ms S 276: Nr. 27, Bl. 12 [Freimüthiges GlaubensBekanthnus N. N. (=Johann Heinrich Locher) von Zürich nebendt etwelcher GeschichtsErzellung aufgesetzt im Monat Augusto 1700]. 143 Kaspar Bütikofer: Die Rezeption Böhmes durch den Zürcher Pietisten Johann Heinrich Locher. In: Offenbarung und Episteme. Zur europäischen Wirkung Jakob Böhmes im 17. und 18. Jahrhundert. Hg. v. Wilhelm Kühlmann u. Friedrich Vollhardt. Berlin 2012, 259–282. 144 ZBZ Ms S 276: Nr. 6D, 7 [Wahrhafftigen Erzellung]. 145 Vgl. Werdmüller, Glaubenszwang [s. Anm. 57], 119–137. 146 StAZH E II 423, 63–67; ZBZ Ms Z V 100: Stoye, Die Anfänge des Pietismus in Zürich [s. Anm. 139], 94. 147 Bleuler, Die Hirschgartner [s. Anm. 52], Stammtafel, Nr. 10. 148 In einem Brief an Andreas Pfaff in Nürnberg schrieb von Schönau aus Wieuwerd, er habe keine Übereinstimmung mit den Labadisten bezüglich der Prädestination; was ihn an die Gemeinde binde, sei die heilsame Gegenwart Gottes. Vgl. Wotschke, Justus Dozem [s. Anm. 38], 31.
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Die Ablehnung der calvinistischen Gnadenwahl war für die auf einer mystisch-spiritualistischen Tradition fußenden frühen Pietisten ein Schlüsselthema. In diesem Punkt konnten sie an ältere lokale Strömungen, die sich in der Gestalt von Michael Zingg manifestierten, anknüpfen. Es lassen sich inhaltliche wie personelle Kontinuitäten zwischen dem frühen Zürcher Pietismus und älteren heterodoxen Gruppen feststellen, die bis in die Dreißigerjahre des 17. Jahrhunderts zurückreichen. Der Einfluss der lokal erfolgten Rezeption der Werke von Böhme, Felgenhauer, Weigel, Schwenckfeld, Tauler und Arndt, aber auch naturwissenschaftlicher Schriften wie jener von Galilei dürfte genauso stark gewesen sein wie der Einfluss der ersten pietistischen Kreise im Ausland. Eine einseitige Abhängigkeit von Holland oder von Frankfurt am Main lässt sich nicht nachweisen.
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JONATHAN STROM
Pietism and Conversion in Dargun The revival that began at the court of Dargun during the 1730s constituted one of the most prominent expressions of the Busskampf model of conversion in German Pietism. Influenced by Samuel Lau and others from the Pietist stronghold in Wernigerode, Duchess Augusta of Mecklenburg and her specially chosen Pietist ministers inculcated a culture of conversion that reached far beyond the court itself and came to shape the direction of Mecklenburg’s territorial church. Practices of conversion and the ideas that lay behind them were highly controversial in Mecklenburg and invited years of controversy. Even within the larger ambit of Halle Pietism, the emphasis on conversion in Dargun proved divisive, above all for its rigid insistence on the Busskampf or repentance struggle.1 The discord it evoked sheds light on the larger place of conversion within eighteenth-century Pietism and reveals that the story of a rigid model of conversion was hardly as straightforward as some historians have portrayed it.
Early Pietism in Mecklenburg and Duchess Augusta Mecklenburg and the university at Rostock had been the home to several powerful streams of reform within Lutheran Orthodoxy during the seventeenth century, but Pietism never found a strong foothold there. During the Pietist controversies of the 1690s Mecklenburg turned in an increasingly antiPietist direction. The theology faculty at the University of Rostock became known as a bastion of orthodoxy in the fight against the Pietists.2 Duke Fried1 Busskampf has no precise correlate in Protestant devotional literature of Britain and North America, and it is difficult to translate satisfactorily, sometimes rendered as the penitential struggle or repentance struggle. Given its distinctive role within German Pietism, the following will leave it untranslated. For the sake of clarity and flow, quotes appear here in translation. Unless otherwise noted, all translations are by the author. This article expands considerably on an earlier, brief account of conversion and Dargun, Jonathan Strom: Conversion, Confessionalization, and Pietism in Dargun. In: Confessionalism and Pietism. Ed. by Fred van Lieburg. Mainz 2006, 149–168. 2 On early Pietism in Mecklenburg and the turn towards orthodoxy, the best account remains: Karl Schmaltz: Kirchengeschichte Mecklenburgs. Bd. 3. Schwerin 1952. See also Strom, Conversion [see note 1]. For pre-Pietist reform movements in Mecklenburg see Jonathan Strom: Orthodoxy and Reform: The Seventeenth Century Clergy in Rostock. Tübingen 1999.
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rich Wilhelm I codified opposition to Pietism in 1708 in the so-called Emendations to the 1602 church order, which contained explicit condemnation of Pietism.3 By the early eighteenth century, many of the clergy in Mecklenburg had studied in orthodox Rostock and increasingly shared the anti-Pietist convictions of their teachers and sovereign. Elements of Pietist influence and sympathy remained in Mecklenburg, ranging from quiet adherents of August Hermann Francke to more radical Pietists such as Leonhard Christoph Sturm and Ludwig Gerhard.4 Overall, the Pietist movement in Mecklenburg during the early eighteenth century was small and relatively unobtrusive within the territorial church. Some of the strongest support for Pietism in Mecklenburg emerged, perhaps unexpectedly, at the court of the Duchess Augusta in Dargun. Augusta was the unmarried daughter of the last Duke of Mecklenburg-Güstrow. His death without male heir in 1695 threw Mecklenburg into turmoil over succession. In the extended negotiations to unify the two Mecklenburg duchies, Augusta and her widowed mother received an unusual amount of autonomy for the rest of their lives in return for support of a greater MecklenburgSchwerin.5 Questions of religion had long interested Augusta, and like her sisters, Christine, Countess of Stolberg-Wernigerode, and Luise, Queen of Denmark, she had distinct Pietist sympathies.6 Augusta took up Greek and Hebrew in order to read the scriptures in the original languages, and she carried on an avid correspondence on religious topics, including with Johann Wilhelm Petersen.7 After her mother’s death in 1718, her court relocated from Güs3 Erläuterung der Fürstl. Mecklenburgschen Kirchen-Ordnung [. . .]. Schwerin 1708, A3v. See also, Schmaltz, Kirchengeschichte Mecklenburgs [see note 2], 121. 4 For examples, see Karl Ritter: Die Inspirierten in Rostock. In: Jahrbücher des Vereins für Mecklenburgische Geschichte und Altertumskunde 66, 1901, 141–154; Claus Bernet: Der Lange Weg aus der Konfession in den radikalen Pietismus. Von Babel in das himmlische Jerusalem—Am Beispiel von Leonhard C. Sturm, Elias Eller und “Chimonius.” In: Confessionalism and Pietism [see note 1], 256–281; Theodor Wotschke: Leonhard Christoph Sturms religiöse und kirchliche Stellung. In: Mecklenburgische Jahrbücher 95, 1931, 103–142; Schmaltz, Kirchengeschichte Mecklenburgs [see note 2], 148–151. 5 In the Hamburger Vergleich of 1701, the majority of the territory from the former duchies of Mecklenburg-Güstrow and Mecklenburg-Schwerin were united into the larger duchy of Mecklenburg-Schwerin, which contained the dominant economic and cultural centers of the two predecessor duchies. A smaller territory of Mecklenburg-Strelitz was created, but its importance remained politically and religiously marginal. 6 On Christine’s interest in Pietism and wide-ranging influence on religious affairs in Wernigerode, see the entry by Eduard Jacobs in ADB 4, 1876, 219–221. On Louise’s efforts in instilling Pietism at court in Denmark and her effect on the future King Christian VI, see Martin Schwarz Lausten: A Church History of Denmark. Aldershot 2002, 166. 7 On Augusta’s youth and religious development, see the article by Heinrich Wilhelmi: Augusta, Prinzessin von Mecklenburg-Güstrow, und die Dargunschen Pietisten. In: Jahrbücher des Vereins für Mecklenburgische Geschichte und Altertumskunde 48, 1883, 89–284, here 110–127. This monograph-length article remains the most complete account of Augusta and the movement in
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trow to Dargun, whose modest palace and lands Augusta received as an apanage.8 The political crisis in Mecklenburg surrounding Duke Carl Leopold, whom an imperial commission removed from most authority in the duchy in 1719, severely weakened the government of the Mecklenburgs, including the oversight of the Landeskirche, which in turn strengthened the autonomy of the Duchess Augusta in religious affairs in Dargun, particularly with appointments in the schools and churches.9 Augusta took an early interest in the condition of religious life in the churches surrounding Dargun during the 1720s. She was active in distributing Bibles in Dargun and nearby villages, an emphasis shared by many Pietists, foremost the Canstein Bible Institute in Halle.10 According to Wilhelmi, she also sought to improve the quality of the schools. Her correspondence with others indicates a form of piety that is reflective of many noble Pietists of the early eighteenth century.11 Augusta clearly had an affinity for some elements of Halle Pietism. When looking for a new Pagenmeister in 1722, she asked the pastor in Recknitz with close connections to Halle, Simon Ambrosius Hennings, to seek a suitable suggestion from A. H. Francke.12 Her court preacher, Dargun. It remains particularly valuable since some of the archival sources used by Wilhelmi in Mecklenburg and Wernigerode are no longer extant. Also valuable is the overview, Erhard Peschke: Der Pietismus in Dargun. In: PuN 1, 1974, 82–99. Peschke is overly broad in his categorizations. A fragment of Augusta’s and Christina’s correspondence with Petersen is preserved in Landesarchiv Magdeburg Landeshauptarchiv, Außenstelle Wernigerode (hereafter LHA Wernigerode), Rep. K, 687, 10. 8 Originally it was a Cistercian monastery; after the Reformation the dukes of MecklenburgGüstrow refashioned the complex into a second residence. Christine Kratzke: Kloster und Schloß zu Dargun in Mecklenburg-Vorpommern: Baugeschichte der Kloster-Schloßanlage unter besonderer Berücksichtigung der mittelalterlichen Bauteile. Dargun 1995. 9 Though removed from most governmental functions through imperial order, Carl Leopold still retained some ducal authority in ecclesiastical affairs, which led to a series of conflicts within the Mecklenburg Landeskirche of the 1730s and 40s. Schmaltz, Kirchengeschichte Mecklenburgs [see note 2], 129–42. There is little good literature on the mercurial figure of Carl Leopold. Most recently, see Gerhard Heitz: Carl Leopold von Mecklenburg-Schwerin (1679–1747). In: Kaiser, König, Kardinal. Deutsche Fürsten 1500–1800. Hg. v. Rolf Straubel u. Ulman Weiss. Leipzig 1991, 303–310, which is sketchy throughout and hardly deals with Carl Leopold after 1720. 10 See the notes to the distribution of Bibles during the years 1723 till 1725 in Landeshauptarchiv Schwerin (hereafter LHA Schwerin), eccl. spec. 1846; Schmaltz, Kirchengeschichte Mecklenburgs [see note 2], 152. 11 Wilhelmi, Augusta [see note 7], 116–117. Her letter to a niece in 1725 reveals her interest in typically Pietist scriptural reading and devotional literature. LHA Schwerin, Korresp. ducal. 2.12 -1/22, 232, letter from 13 Jun 1725. 12 See the correspondence of Simon Ambrosius Hennings to A. H. Francke in 1722, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz (hereafter StBPK), Francke Nachlass 10,1/5: 12, 17 as well as the reports of the Pagenmeister von Horn to A. H. Francke on establishing prayer sessions and other Pietist practices in Halle from 1722. Archiv der Franckeschen Stiftung (hereafter AFSt) /H C 139 : 9–12. Stieber helped von Horn establish a collegium biblicum, and Hellwig and his wife participated in von Horn’s prayer meetings. Recknitz—not to be confused with Röckenitz adjacent to Dargun—was some distance from Dargun but much closer to Güstrow, where Augusta
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Georg Friedrich Stieber, had studied in Halle and corresponded occasionally with Francke, and he supported, for instance, many of the Pietist practices proposed by Georg von Horn, the new Pagenmeister from Halle.13 Despite meeting Francke personally at least once, Augusta herself maintained few direct ties to him or others in Halle. She once objected to von Horn’s prayer sessions, saying that she didn’t want any “Hallensian gangs” at her court, though her principal complaint was less about Francke-style Pietism than what she considered the improper gatherings of women and men together in prayer sessions at court.14 During the mid-1720s, a number at court developed an avid interest in the Danish-Halle missions to India.15 By the mid-1720s, it appears that the Duchess and some members of her circle began moving in an increasingly heterodox direction away from church Pietism.16 She reportedly developed an ardent interest in the doctrine of the apokatastasis—a topic in her correspondence with her sister and Johann Wilhelm Petersen in the mid-1720s.17 Similarly, we know she supported the production of the radical Pietist Berleburg Bible from its beginnings, and her secretary and later Hofrat, Jacob Christian Hellwig, in the 1720s and 1730s developed close ties to some radical Pietists.18 Simon Ambrosius Hennings, a likely made Hennings acquaintance. Hennings was pastor in Recknitz his entire career from 1710 till 1743. Gustav Willgeroth: Die Mecklenburg-Schwerinschen Pfarren seit dem dreißigjährigen Kriege. Wismar 1924. Bd. 1, 400. 13 Shortly after taking up his duties as Hofprediger in Güstrow by Augusta and her mother in 1711/12, Stieber wrote several letters to A. H. Francke recalling his time in Halle and describing his work. AFSt/H C 817, Brief Nr. 7; C 569 : 1–2. 14 Hennings remarked on Augusta’s visit to Halle in a 1722 letter. StBPK, Francke Nachlass 10,1/5 : 12. The letter of von Horn to A. H. Francke of 1 Jan 1723, (AFSt/H C 139 : 12) reveals Augusta’s ambivalence about Halle. 15 See also the letters of her secretary, Jacob Christian Hellwig, to A. H. Francke from 1724 till 1727 praising the reports of the mission to India and sending contributions. AFSt/H C 609. 16 Some accounts date the radical turn already to the early 1720s, though the letters of von Horn to Francke from 1722 do not support this. In a 1735 remark, Stieber suggests that he had been fighting against heterodox ideas at court for ten years that would put the turn toward more radical ideas in the mid-1720s. Letter from Stieber to Augusta, 22 Jan 1735, LHA Schwerin, eccl. spec. 1853. 17 The extant correspondence is fragmentary, but the exchange between Augusta and her sister Christina in the mid-1720s reveals their engagement and correspondence with J. W. Petersen. LHA Wernigerode, Rep. H. St-W, K, 687. Other members of Augusta’s circle also mention Petersen’s works around this time, including Hennings. See Hennings letter to A. H. Francke, 12 Feb 1726, StBPK, Francke Nachlass 10,1/5: 13. The polemical and apologetical intent of later reports makes their objectivity on the question suspect, but as Wilhelmi notes, divergent sources including both supporters and opponents of the later revival in Dargun agreed on the radical influences at court, especially the doctrine of the apokatastasis during the 1720s and early 1730s. Wilhelmi, Augusta [see note 7], 122. On the need to combat the doctrine of the apokatastasis among some members at court, especially Hellwig, see the 1736 letter of Carl Heinrich Zachariae to Count Christian Ernst in Wernigerode, LHA Wernigerode, Rep. H. Stolberg-Wernigerode, Nachlass Heinrich Ernst II A Nr. 200. 18 On Hellwig, Wilhelmi, Augusta [see note 7], 120–122. Hellwig was considered one of the
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confidant of Augusta and pastor in Recknitz conducted frequent correspondence with Francke and others in Halle on her behalf, but Hennings also seemed by the mid 1720s to be drawn more towards more radical views.19 Several reports indicate that in the early 1730s Augusta seriously considered calling the deposed preacher and radical Pietist, Victor Chistoph Tuchtfeld, to one of the parishes over which she held the right of patronage.20 During the early 1730s, she also reportedly evinced interest in the events in Herrnhut under Count Zinzendorf.21 Whether Augusta was as spiritually labile as some have suggested is difficult to ascertain, but it does appear clear that Augusta even into her mid-50s remained open to new religious trends.22 When her nephew Christian Ernst, count of Stolberg-Wernigerode and staunch ally of Gotthilf August Francke, visited Augusta in Dargun he suggested filling clerical vacancies with Pietist preachers from Wernigerode. Under Samuel Lau and Johann Liborius Zimmermann, his court had been the site of a dynamic revival, and Christian Ernst urged her to import two young preachers to Mecklenburg, both of whom had participated in the recent revival in the Harz.23 instigators of radical ideas at court. In an anonymous account—likely written by the later court preacher Zachariae—the author held Hellwig responsible for introducing heterodox ideas in Dargun. Anmerckungen uber des Herrn D. Michael Christian Rußmeyers Schrift, so den Titul führet: Die sonderbahre Kraft Christi, Die Heucheley zu entdecken. Wernigerode 1738, 52–53. From a very different position, Stieber also criticized Hellwig. See Wilhelmi, Augusta [see note 7], 122. 19 Letter from Hennings to A. H. Francke from 2 Feb 1725. StBPK, Francke Nachlaß, 10,1/5 : 13. 20 There is no direct correspondence extant in Schwerin to confirm this. However, both supporters and opponents of Augusta mentioned Tuchtfeld as a possible candidate. See: Walchius Illustratus d. i. Abgenöthigte und nach der Wahrheit angestellte Beleuchtung [. . .] von denen Dargunischen Streitigkeiten. O. O. 1742, 28. See also Wilhelmi, Augusta [see note 7], 129 who sees these reports as credible. On Tuchtfeld, see Hannelore Lehmann: Victor Christoph Tuchtfeld und das Tuchtfeldische Soldaten-Konventikel in Potsdam 1726/27. Erziehung zum frommen Soldaten oder „Verleidung“ des Soldatenstandes. In: Militär und Religiosität in der frühen Neuzeit. Hg. v. Michael Kaiser u. Stefan Kroll. Münster 2004, 277–292; Carl Hinrichs: Preußentum und Pietismus: Der Pietismus in Brandenburg-Preußen als religiös-soziale Reformbewegung. Göttingen 1971, 137–145. 21 There is no extant correspondence of Augusta with Zinzendorf or others in Herrnhut, but there is evidence from February 1732 that Augusta and others in Dargun were particularly interested in the project at Herrnhut. LHA Schwerin, eccl. spec. 1472. In 1735 after being dismissed, the former court preacher Stieber accused those in Dargun of having introduced the sectarian ways of Zinzendorf, but this is more likely a polemical accusation than clear-headed observation. 22 There is some evidence for this. Augusta had apparently written to Johann Wilhelm Petersen about her spiritual struggles in the mid-1720s, to which Petersen replied, consoling her. Letter of J. W. Petersen to Augusta, 20 Jun 1725 (copied by Augusta), LHA Wernigerode, Stolberg Wernigerode K, No. 687, f. 24v, 25r. Wilhelmi sees Augusta as spiritually unsettled in this period. Wilhelmi, Augusta [see note 7], 118 f. 23 The best account of the revival in Wernigerode is still Eduard Jacobs: Johann Liborius Zimmermann und die pietistische Bewegung in Wernigerode. In: Zeitschrift des Harz-Vereins für Geschichte und Altertumskunde 31, 1898, 121–226.
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The New Preachers and Conversion Until the 1730s, conversion was not a major topic in Dargun and when discussed, it concerned primarily the conversion of the Jews or the conversion of Hindus in India.24 The arrival of the two new preachers, Jakob Schmidt and Henning Christoph Ehrenpfort, brought a new emphasis on individual conversion with them to the parishes near Dargun.25 Drawing on her rights of patronage, Augusta had little difficulty in winning congregational approval for the candidates she presented. Schmidt became preacher in the village of Levin and Ehrenpfort in Groß-Methling, both near Dargun. The letters that Schmidt and Ehrenpfort dispatched to their allies in Wernigerode signaled that they perceived themselves almost as missionaries communicating a new form of piety that contrasted strongly with what they found in Mecklenburg. Schmidt’s letter to the Countess Sophie Charlotte just a few months after their arrival in 1733 recounts the new preachers’ early successes including the sickbed conversion of a member of her court, who after many struggles, “grinned with joy as soon as he heard of the Lord Jesus, and would even have preached this to her highness the Princess had he the strength in his body.” A few sentences later, Schmidt described an old lady who came to him after his sermon, telling him that she had come to doubt her previous faith, but through God’s grace, it was now finally strengthened. She had heard many preachers before, she told him, but “they had all preached out of the Old Testament,” implying, at least in his telling, that his was a New Testament message that had been lacking.26 We must take these self-assessments with a grain of salt, yet they represent the sense of mission in building the “Kingdom of God” (Reich Gottes) that these outsiders to Mecklenburg possessed. Augusta was obviously pleased with the newcomers as well. When the Röckenitz pastorate immediately adjacent to Dargun opened up in 1734, she transferred Ehrenpfort there and installed August Hövet, her former Pagenmeister, as pastor in Groß-Methling.27 Schmidt reported that even in such a 24 See for instance the letters of Simon Ambrosius Hennings and Jacob Christian Hellwig on the conversion of the Jews to Grischow and Callenberg. AFSt/H K 3 : 328 (1729) and K 6 : 7 (1730) as well as the letters of Hellwig to August Hermann Francke on the Malabar mission, AFSt/H C 609 : 1–3 (1724–1727). 25 Schmidt had been a catechist (catecheta auf dem Lande) in Wernigerode, but because of his studies in Wittenberg was not eligible for a clerical position in the county. Ehrenpfort, who was unusually tall, was reportedly sent to Mecklenburg in order to avoid the recruiters for the Brandenburg-Prussian army, Wilhelmi, Augusta [see note 7], 130 f. Schmidt became preacher in the village of Levin, near Dargun, and Ehrenpfort in Groß-Methling (see Willgeroth, Pfarren [see note 12] 1, 547, 569, 572). Ehrenpfort studied in Halle, matriculating in 1725 (Fritz Junke: Matrikel der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Halle 1960. Bd. 1, 131). 26 Letter of Jakob Schmidt to Countess Sophie Charlotte, 3 Jul 1733, LHA Wernigerode, Rep. H. St-W, Nachlass Sophie Charlotte I, Briefe 75, Nr. 1. 27 Unlike the others, Hövet was from Mecklenburg, but he fully shared the convictions of the new preachers (Willgeroth, Pfarren [see note 12] 1, 572).
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short time, Ehrenpfort could count several conversions and the groundwork was laid for many more.28 Initially, the other Pietists at court, who perceived the Holy Spirit at work in the revival, received the new clergy well.29 Wilhelmi reports that Schmidt may even have been initially sympathetic to Hellwig’s millenarian und universalist ideas.30 But fissures soon appeared.31 Augusta integrated the new clergy into the life at court, inviting them to preach and giving them opportunities to establish prayer meetings.32 That Ehrenpfort’s sermons in Röckenitz began to draw more and more members of the court annoyed the court preacher Stieber, and he especially objected when Augusta sought to appoint Ehrenpfort as Hofdiakon.33 Stieber’s complaints did not sit well with Augusta, and she seized on the occasion to dismiss him. She quickly replaced him with another pastor from Wernigerode, Carl Heinrich Zachariae, a leading proponent of the Busskampf theology but nonetheless relatively orthodox Lutheran on most doctrinal issues. Zachariae had been Diakon in Wernigerode and worked as a close associate of the court preacher Samuel Lau.34 Further, he had a close relationship to the Count and Countess of Stolberg-Wernigerode with whom he remained in frequent corresponce.35 Arriving in the fall of 1735, the new court preacher became the leading figure of 28 Letter of Jakob Schmidt to Countess Sophie Charlotte, 7 May 1734, LHA Wernigerode, Rep. H. St-W, Nachlass Sophie Charlotte I, Briefe 75, Nr. 2. Schmidt also reported on the conversions in his own parish, though he lamented the distances between villages within the parochial boundaries. 29 On the initial good relations between the Mecklenburg Pietists and the newcomers see, for instance, Hellwig’s September 1735 letter to Callenberg, AFSt/K 23 222r, and the anonymous Anmerckungen [see note 18], 61. 30 Wilhelmi, Augusta [see note 7], 132 f. Some critics reported that Ehrenpfort preached millenarian ideas prior to 1735, but the credibility of these accounts is not especially strong. See „Specification” composed by Albertus Heinrich Fabricius, 19 Apr 1735. LHA Schwerin, eccl. gen. 1572. 31 Already in December 1733, Schmidt reported that Hofprediger Stieber had criticized “the truth,” presumably the views of the new preachers (AFSt/H C 7 17 : 1, letter from Schmidt to G. A. Francke). 32 Though not as impartial as its title suggests, the anonymous report written by the former court physician, Joachim Jasper Johann Hempel describing the religious practices and ensuing revival at court is telling. [Joachim Jasper Johann Hempel:] Unpartheiische und aufrichtige Historie des Kirchen-Zustandes bey der Gemeine zu Dargun im Mecklenburgischen, von Anno 1733. Bis zum Ausgang des Jahrs 1735. In: Georg Theophil Adamsen: Ausführliches Antwortschreiben an seinen guten Freund und Gönner, Herrn Christianum Rodophilum, Betreffend Die nagelneuen Heiligen und sich so nennende Bekehrten zu Dargun. Hamburg 1737. On Hempel and his position at court, see Wilhelmi, Augusta [see note 7],134 f. 33 Letter from Stieber to Augusta, 22 Jan 1735, LHA Schwerin, eccl. spec. 1853. Later reports alleged, for instance, that Stieber refused to hear confession from a lady at court who had gone to hear Ehrenpfort’s sermons in Röckenitz rather than his (Anmerckungen [see note 18], 83). 34 Lau’s tract on conversion initiated the public debate on the topic of the Busskampf in the 1730s: Samuel Lau: Schriftmäßige Beantwortung der Frage: Ob es nothwendig, die Zeit seiner Bekehrung zu wissen, oder sonst ein Kennzeichen eines unbekehrten Zustandes daraus zu nehmen? Jena 1732. 35 On Zachariae’s background, Willgeroth, Pfarren [see note 12] 2, 751. Zachariae had also not studied in Halle and had little connection to G. A. Francke or others at Halle.
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the Dargun Pietists, advocating a vigorous theology of conversion based on the Busskampf but also drawing lines more clearly to exclude radical Pietist tendencies. The intense prayer meetings and the new clergy’s emphasis on conversion appeared alien to many in Dargun and the surrounding villages. Kneeling during prayer or attempts to meditate on images of Christ’s crucifixion were in the minds of many practices redolent of Catholicism; the resulting rumors even drew some curious Catholics to Dargun.36 Many in Mecklenburg had little sensibility for the emotional conversion experiences that occurred in these circles, and as we shall see later, wild rumors about these conversions gained credibility not only among the common people but also among the non-Pietist clergy. Yet, the new clergy enjoyed a fair amount of success with their revivalist methods and could count an ever-greater number of conversions, most prominently that of the Duchess herself. Augusta’s own conversion occurred sometime during the early period of the revival before the end of 1735. In a letter to G. A. Francke, Schmidt noted briefly the duchess’ spiritual progress and increasing trust in the new preachers in September 1734 but still commented that she was “surrounded by great hindrances.”37 There are no contemporary reports, and aside from a brief autobiographical reference in a letter to her nephew, King Christian VI of Denmark, our knowledge of it is largely based on a third-person narrative composed in 1741 that is part of a larger collection of conversion narratives: Princess Augusta had struggled many years with her own righteousness. In doing so, she had considered herself the equal of the world, was admired by all, believed in the power of her own exercises and efforts, and she stumbled onto the doctrine of the return of all things [apokatastasis], all of which, however, did not kill the old Adam. My Lord [Count Christian Ernst of Stolberg-Wernigerode] gave her Francke’s writings, which produced in her a desire to have a preacher recommended from Wernigerode. My Lord sent her two, Ehrenpfort and Schmidt. When she heard the two preach, her unrest grew ever greater, until God made the words of Revelation 3:15– 18 alive to her, through which the entire condition of her soul was revealed to her, drawing her fully away from everything. She learned to call out and cry earnestly for grace until one early morning, she lay exhausted from her struggle, beseeching God for grace. Before she could expect it, God gave her peace in an effusive amount, so that her heart was full of God’s praise. When she lay down again, she thrashed around so much around in bed, that had God not especially protected her, she would have broken her neck. This became then a new basis for her praise of God and made
36 In a 1734 letter to Countess Sophie Charlotte, Schmidt noted that some of his prayer practices were seen as catholic. LHA Wernigerode, Rep. H. St-W Nachlass Sophie Charlotte, I Briefe 75, Nr. 2. Hempel reports that because of these rumors, a Catholic distiller came to Dargun seeking to take the Eucharist because “he had heard that they had adopted his faith there” ([Hempel,] Historie [see note 32], f. [*7v]). 37 AFSt/H C 717 : 2.
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her especially courageous in mocking with joy the devil in all his power and cunning. From this time forward, the world repulsed her.38
This rather uneven account contains many of the typical patterns of Dargun conversion narratives. The author refers Augusta’s heterodox ideas prior to her conversion, which hindered her progress towards salvation. The providential intervention of Count Christian Ernst brought her in contact with Pietist texts that in turn led her to request preachers shaped in this tradition. After their arrival in Mecklenburg, these Pietist clergy in turn revealed to Augusta the true condition of her soul, and following a series of spiritual struggles, she received confirmation in her heart of divine peace. From this point forward, Augusta’s opposition to the “world” made her an ardent advocate of the conversionist practices and ideas. It is striking how closely Augusta’s conversion fit the Busskampf model of conversion–an initial stirring, a deep period of repentance, and finally a sudden breakthrough to an assurance of grace and peace, all datable to a specific place and time. The arrival of Zachariae in 1735 marked a new phase in the movement in Dargun. Court preachers were among the most prestigious clergy in Mecklenburg, and Zachariae’s prominence allowed him to take leadership of the movement in a way that the pastors in outlying villages could not. By this point, opposition to the Pietists in Dargun began to take root. Zachariae’s task was therefore twofold—first to counter these opponents outside Dargun but also, second, to reinforce the movement internally and purge heterodox ideas that Zachariae perceived threatening true religion at court. Opposition to Dargun in Mecklenburg Outside Dargun, Zachariae faced a growing challenge. By the spring of 1735, the stories of dramatic conversions and other practices in Dargun and nearby villages caused alarm in Mecklenburg. Duke Carl Leopold, who had an ambivalent relationship to the Pietists, wrote from Wismar asking Jacob Sigismund Suckow, pastor in Neukalen and Praepositus in the area to investigate.39 Suckow began conducting his own inquiries and collecting reports
38 LHA Wernigerode, Rep. H. St-W, Nachlass Sophie Charlotte, VII, No. 9 “Etwas von der darguhnschen Reise.” 1r–v. The narrator of this account—almost assuredly a member of the court at Wernigerode—collected this and many other conversion narratives after a visit to Dargun in 1741 recording “what these souls have said.” In this account, the author here employs an odd diction, perhaps because of Augusta’s high station, and occasionally intersperses the “majestic plural” with typical third person narration. The informal and unpolished nature of these accounts signal that the author only intended for this to circulate privately within Pietist networks. A brief reference to the duchess’ conversion also appears in [Hempel,] Historie [see note 32] f. *6r. 39 Draft letter to Suckow dated 16 Mar 1735, LHA Schwerin, eccl. gen. 1572.
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critical of the “new priests,” as they were known, and their suspect conversion practices. Though lacking impartiality and largely based on hearsay and rumors, these reports reveal a great deal how outsiders perceived the revival at the time and how novel the conversion experiences appeared to many in Mecklenburg at that time. Many of the statements gathered by Suckow and others illustrate the divisiveness that strong emphasis on conversion could evoke in the parishes. Both clergy and laity applied supernatural explanations to individual experiences, and the clergy especially suggested that the newcomers had introduced heterodox ideas to the duchy. Critics charged that the conversionist clergy strictly divided pastors and laity into converted and non-converted camps, which in their eyes challenged traditional Lutheran practices and devalued the sacraments. Numerous times, they cited examples of the new Pietist preachers warning their parishioners that if they should take the Eucharist without being truly converted, it would not aid them in any way.40 The clerical critics were especially incensed that the conversionist preachers allegedly defamed their colleagues in Mecklenburg calling them unconverted and “wolves” among the sheep.41 Predictably, perhaps, they decried the emphasis on personal conversion and the necessity of the Busskampf in its process as a new form of Pelagianism and a variant of papism.42 Lay complaints paralleled these, but focused more on the fracturing of the parish community and the inevitable exclusion of some and inclusion of others. The emphasis on conversion as the sole way to salvation and corresponding devaluation of the sacraments, both the Eucharist and baptism, were troubling to many, especially as it seemed to question the salvation of departed family members who had not experienced an explicit conversion.43 Many were troubled by what they saw as the hidden and exclusive nature of the prayer meetings and gatherings organized by the clergy.44 The laity were especially sensitive to reports that those who converted received material benefits while those who refused were disadvantaged in their trade.45 Whether distorted or exaggerated, some of these accusations are not entirely unexpected given the rigorous extent that the “new preachers” 40 Ehrenpfort reportedly said that these would “all eat their own way into death.” Specification, eccl. gen. 1572, Nr. 4, see also ibid., Nr. 28 and the Schorrentin report of 13 Apr 1735. 41 “Einige Nachrichten” LHA eccl. gen. 1572. The Pietist Hövet, who was trained in Mecklenburg, reportedly called his own teachers and preachers “false lights, wolves, and blind leaders,” who themselves had no experience with the proper path (Schorrentin, LHA eccl. gen. 1572). 42 “Einige Nachrichten” LHA eccl. gen. 1572. 43 According the “Specification,” Schmidt damned fundamentally not only “his current audience but also their descendents as well as his predecessors in office” (LHA Schwerin eccl. gen. 1572). 44 “Specification,” Nr. 11, LHA Schwerin eccl. gen. 1572. 45 LHA Schwerin, eccl. gen. 1572, “Specification” Nr. 15, 17. Given that Augusta paid her Pietist clergy extraordinarily well and lavished gifts on them, these allegations cannot be dismissed out of hand (Wilhelmi, Augusta [see note 7] 134).
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emphasized conversion. It is doubtful perhaps that they expressed themselves as crudely as the critics would suggest, but the number and range of remarks do suggest that many parishioners interpreted the emphasis on conversion as a break with past religious rhetoric and practice. Indeed, the critics were not skeptical that conversion experiences as such were taking place, but rather saw them as evidence of heterodoxy and enthusiasm, that were for many tinged with supernatural and even magical significance. Often opponents connected visions to the experience of conversion. In one case, a critic reported that Ehrenpfort had supposedly said of a highborn person at court, “that she had had Jesus with her visibly in bed the entire night” implying both enthusiasm and impropriety.46 Others in the throes of conversion reportedly fell into ecstatic states and had visions of relatives in heaven.47 One case described a sergeant who during his Busskampf went out into the churchyard in “fear and trembling” but then as “a spirit in the form of a child appeared to him, he immediately became calm,” signifying his progress in conversion.48 Other rumors spoke of visitations by the angel Gabriel; some more darkly told of the devil taking the form of a dog in order to lead the converted astray.49 One explanation for the sudden appearance of conversion experiences that recurred throughout the critic’s reports was the employment of powders or elixirs with powers, magical or pharmacological, to induce powerful religious experiences. Critics described these variously as “Quaker powder” (QuackerPulver), “conversion powder” (Bekehrungs-Pulver), or an “elixir” (Trunck). Sometimes they were mixed with beer.50 The pastor Pauli from Gorrendorf reported stories that “those in Dargun und Levin make use of Quacker-Pulver and that the people really become frantic from it, especially those in Röckenitz.”51 In Schorrentin, the pastor reported: “It is to be presumed that these evil people use the so-called Quacker-Pulver und administer it to the people.” It was only necessary to sprinkle some of it on the seat of a chair, and when someone sits down, “thus as soon as it becomes warm, it strikes into the blood and causes anxiety and pain, so that one becomes frantic,” allowing the clergy to exploit their anxiety and convert them.52 These were not just rumors among the common people; clergy took these allegations seriously. In his official inquiry conducted with the senior of the Güstrow clergy, the pastor from nearby Alt-Kalen, Suckow specifically asked a woman whom he inter-
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LHA Schwerin, eccl. gen. 1572, “Einige Nachrichten” Nr. 6. LHA Schwerin, eccl. gen. 1572, “Specification” Nr. 14. 48 LHA Schwerin, eccl. gen. 1572, “Specification” Nr. 12. 49 LHA Schwerin, eccl. gen. 1572, “Schorrentin” and “Specification” Nr. 24. 50 Nearly all the accounts from 1735 mention this in one form or another. “Einige Nachrichten,” Nr. II, 1; Schorrentien, Gorrendorf, Nr. 4. “Protocollum.” 51 LHA Schwerin, eccl. gen. 1572, Gorrendorf, Nr. 4. 52 LHA Schwerin, eccl. gen 1572, Schorrentin. 47
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viewed, “Whether those who wished to convert were supplied with a powder or elixir from the aforementioned priests?” to which the woman replied yes, though she couldn’t name a specific person who had told her this. When he continued and queried: “How then did these people act or gesture after being given this powder or elixir?” She responded, in Low German: “They are said to become completely mad so that they also have to hide their heads in fear.”53 Stories of a Quaker powder with power to induce ecstatic religious experiences date back to at least the middle of the seventeenth century in Germany and opponents repeatedly accused Pietists of employing such means.54 In Rostock, so-called Quaker powders were the subject of a 1707 dissertation, reprinted several times between 1707 and 1745.55 In some respects, Quaker powder or elixirs provided a rational, pharmacological explanation for extraordinary religious states, which outsiders to the movement were otherwise at loss to explain. At the same time the implication was often one of magic and satanic influences.56 Stories of a “Quaker powder” may have been part of long anti-Pietist narratives that were easily deployed in this context, but the Dargun Pietists may have inadvertently encouraged these explanations with their frequent use of medicines from the apothecary in Halle, particularly the essen-
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LHA Schwerin, eccl. gen. 1572, Protocolum. See Ehregott Daniel Colberg: Das platonisch-hermetisches [!] Christenthum: begreiffend die historische Erzehlung vom Ursprung und vielerley Secten der heutigen fanatischen Theologie. Erfurt 1690, 295 as well as Samuel Morgenbesser: Prüfung Des Holländischen Qvaker-Pulvers. Sorau 1697, and Johann Heinrich Feustking: Gynaeceum haeretico fanaticum oder Historie und Beschreibung der falschen Prophetinnen, Quäkerinnen, Schwärmerinnen und andern sectirischen und begeisterten Weibes-Personen. Frankfurt/Main 1704, 38, 506, 665. Walch mentions it somewhat skeptically with regard to the early Quakers: Johann Georg Walch: Historische und Theologische Einleitung in die Religions-Streitigkeiten, welche sonderlich ausser der Evangelisch-Lutherischen Kirchen. Jena 31733, Bd. 1, 607. Similar arguments were also made against the Moravians. Büdingische Sammlung einiger in die Kirchenhistorie einschlagender sonderlich neuerer Schriften. Büdingen 1742, Bd. 1, 145. 55 Peter Zorn: Dissertatio historica Theologica de Philtris enthusasticis anglico batavis H. E. von dem Englisch- und Holländischen Qvaker-Pulver. Rostock [1707]. Reprints followed in Rostock (1717) and Wittenberg (1745). While less crude than Morgenbesser and ackowledging the pharmacological effects of powders, Zorn still emphasized the possibility of supernatural effects, which though does not negate satanic influences, ibid., 32 f. 56 The anti-Pietist pastor Morgenbesser was convinced that magic and Satan were at work. Morgenbesser, Prüfung [see note 54], B1v. In contrast to Morgenbesser, Kettner proposed that the “Quäcker-Pulver” was made from datura (Datura stramonium), which could have hallucinogenic effects. Friedrich Ernst Kettner: Beylage. In: Kirchen- und Reformations-Historie, Des Käyserl. Freyen Weltlichen Stiffts Quedlinburg. Quedlinburg 1710, 59 f. There is no indication that datura, however, was part of the Halle armamentarium or otherwise present in Dargun. See Renate Wilson: The Traffic in Halle Orphanage Medications: Medicinals, Philanthropy, and Colonial Mission. In: Caduceus: A Humanities Journal for Medicine and the Health Sciences 13, 1997, 6–22, here 10–13. 54
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tia dulcis.57 Yet it is highly unlikely that these medicines produced the psychopharmacological efforts that the opponents claimed. Other explanations of conversions claimed supernatural or quasi-magical effects at work. One story Suckow investigated concerned a painting with magical qualities in one of the rooms in Dargun where conventicles were held. He queried a local official: “Whether then the new priests had painted something like a calf on the wall, and when a conversion was proper, this thing would begin to bellow?” The official vaguely responded that “it was generally discussed here and there,” but could not be any more specific. Follow up questions detailing more occult connections to the painting, including the presence of “crows and devil’s feet [Teuffelsfüßen],” in the room—items clearly suggestive of the occult—elicited only general acknowledgment of rumors and no further information.58 Others alleged that the “new priests” encouraged intensive practices of meditation to induce conversion. One woman told Suckow, “People have said, that when they want to be newly converted that they should lay their heads on the oven and were to pray so long until they could no longer name God and Jesus and collapse into unconsciousness, something many have encountered.”59 These reports illustrate the range of stories and rumors that surrounded the revival in Dargun and the nearby parishes in the mid-1730s. It is difficult to judge the extent to which clerical opponents such as Suckow believed the more outlandish rumors or simply found propagating them useful in order to discredit the “new priests,” as he frequently labeled them, but certainly they gained some credence far beyond the immediate vicinity of Dargun.60 In certain areas, popular concerns about the new movement led to resistance of Augusta’s policy of installing Pietist pastors to parishes over which she held the right of patronage. The pastoral election in Jördenstorf in the summer of 1736 illustrated the difficulties she faced. The right of patronage granted her the sole authority to nominate candidates, and by presenting a slate that all represented likeminded Pietists, she was able to skew the election
57 Documents in LHA Schwerin, Unterhalt und Leibgedinge 388–390 and AFSt Repertorium 2, Schrank VIIa, 297 Nr. 23 both show large amounts of medicines, especially essential dulcis, going from Halle to Dargun during the 1730s, both directly to the court and to agents such as Pastor Hennings in Recknitz. Wilhelmi estimated the total from 1733 till 1738 at 350 Rthlr. Wilhelmi, Augusta [see note 7], 255. The dominance of the elixir essentia dulcis among these medicines may be one reason that in Mecklenburg opponents referred to a conversion “Trunck” alongside the more common “Pulver.” 58 LHA Schwerin, eccl. gen 1572, “Protocollum” of 26 Apr 1735. 59 LHA Schwerin, eccl. gen 1572, “Protocollum” of 26 Apr 1735. The oven mentioned here was likely the large baker’s oven on the grounds of Dargun palace. Another account mentions that “a number of the converted have found their peace in the cabbage garden behind the oven and in the pig stall” (LHA, eccl. gen. 1572, “Specification” Nr. 13). 60 See the case of Carl Leopold and the Cantor Beatus below.
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in her favor.61 Dissatisfied with the candidates Augusta proposed, the parishioners, spurred on by local nobles, petitioned to postpone the election, but after some hesitation Carl Leopold allowed it to go forward.62 As the clergy and officials assigned to carry out the presentation sought to conduct the election, they encountered stiff resistance at the doors of the church from the assembled villagers who prevented them from entering. Some estimated that 500–600 were present in the churchyard and as the party neared the church, cries were reportedly heard: “We don’t want any Quakers here! Split the heads of these knaves and Quakers in two!”63 Some in the crowd attacked the party and injured one of the clergy badly. Fighting back the mob, the Duchess’s guards were able to bring them to safety in the parsonage, but the election itself was abandoned. Two hours later when they finally withdrew from Jördenstorf, those in the crowd called after them, “There go the Quakers and converted away” urging them never to come again.64 The Duchess and her allies blamed the local nobles for stirring up resentment, and although they certainly played a role in fomenting discontent of the villagers, the cries of “Quakers,” “nave,” “converted,” and in some eyewitness accounts, “sorcerer” (Hexenmeister) amid the attacks signal how closely many in Jördenstorf had tied the revival in Dargun not only to heterodoxy and the arch-enthusiasts of their day—the Quakers—but also that some had connected it with elements of magic and witchcraft.65 The events at Jördenstorf thwarted Augusta’s intended appointment, but unable to get her way, the duchess elected to leave the parish without pastoral leadership for twelve years.66 Moreover, the violence of the anti-Pietists in Jördenstorf served to rally many prominent supporters of Pietism in Prussia and Denmark to her side. At the height of these controversies, the newly installed court preacher at Dargun, Zachariae, moved to counter what he considered heterodox influ61 Augusta recruited Johann Andreas Liekefett from Klein-Ilsede near Hildesheim, who had previously been catechist at the court of Christian Ernst in Wernigerode, and presented him along with Ehrenpfort as candidates. On Liekefett’s revivalist orientation and connection to Wernigerode, see Rudolf Ruprecht: Der Pietismus des 18. Jahrhunderts in den Hannoverschen Stammländern. Göttingen 1919, 117–120. Augusta reckoned that the parish would not elect Ehrenpfort and choose Liekefett. 62 Documents regarding the Jördenstorf election are in LHA Schwerin, eccl. spec. 4899 and 4900. A thorough summary of the election is found in Wilhelmi, Augusta [see note 7], 186–193. 63 Letter of Johann Heidemann to Augusta, 1 Aug 1736 (copy) LHA Wernigerode, Rep. H. St. W, HA A67 Fach 1–3 Nr. 8. 64 LHA Schwerin, eccl. spec. 4899, f. 60r. 65 LHA Schwerin, eccl. spec. 4899, f. 57r. 66 Willgeroth, Pfarren [see note 12] 1, 561. The local nobles recruited a substitute preacher for part of this time, so that the parish was not completely without pastoral leadership, but Augusta was able to prevent the permanent appointment until in 1748, when the congregation, despite the Superintendent’s opposition, was willing to accept a slate of candidates, all of Augusta’s choosing. Wilhelmi, Augusta [see note 7], 196 f.
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ences of radical Pietists. In particular he sought to isolate two long-time allies of Augusta, Privy Counsellor Hellwig and Pastor Hennings from Recknitz, both of whom he held responsible for many of the heterodox influences at court. In a letter to Wernigerode from January 1736, Zachariae described Hellwig and Henning as conniving to undermine religion at court and especially their opposition to the Busskampf oriented conversion of those from Wernigerode. Moreover, Zachariae accused them of harboring heterodox ideas—especially about the apokastasis panton.67 Once Augusta’s closest advisor, Hellwig, who had at least initially been collegial with Ehrenpfort and Schmidt, now found himself increasingly marginalized at court.68 He withdrew from church services in Dargun and most religious matters and was finally dismissed in 1738 by Augusta. In the same way, Augusta severed the once close connections to Pastor Hennings in Recknitz, whose ideas on the apokatastasis were anathema to the conversionists; her Wernigerode allies referred to him as “that wretched universalist.”69 Zachariae’s letters make clear his intent to purge the remnants of heterodox ideas in Dargun. From another direction, the Dargun clergy also faced challenges from the orthodox establishment in Mecklenburg. In early 1736, the consistory in Rostock summoned Schmidt to Rostock to investigate his views of conversion. Schmidt emerged relatively unscathed from this first investigation and successfully defended himself by drawing on the 1602 church order, which itself stressed Buße und Bekehrung. Though obviously self-serving, Zachariae’s account of the hearing leaves the impression that the orthodox Rostock consistory was unprepared to deal with the new form of conversion theology advocated by Schmidt.70 That would change during 1736 when the opponents sharpened their theological criticisms and focused on what they saw as the theological deficiencies of the Busskampf. A disputation questioning the orthodoxy of the Busskampf appeared in Rostock in the summer of 1736, and then a Hamburg newspaper reported on the disputation’s publication and connected it explicitly to the reports and rumors coming out of the revival at Dargun. These made the controversies surrounding Dargun into a public affair with implications far beyond Mecklenburg.71
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Letter from Zachariae to Count Christian Ernst, 23 Jan 1736. In 1734 they referred to themselves as the “three-leafed clover” (Walchius Illustratus, [see note 20], 52 f.). 69 LHA Wernigerode, Rep. H.Stolberg – Wernigerode, Nachlaß Henrich Ernst, I B Nr. 20, 3r. 70 Letter to Countess Sophie Charlotte, 31 Jan1736, LHA Wernigerode, Stolberg-Wenigerode K, No. 920. 71 The disputation appeared as: Johann Christian Burgmann: De Lucta poenitentium, vulgo Vom Buß-Kampf. Rostock 1736. The anonymous article appeared under the title: Rostock vom 10 Jul. In: Hamburgische Berichte von neuen gelehrten Sachen 58, 1736, 526 f. 68
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Dargun as a Public Pietist Controversy Until the summer of 1736, events in Dargun were little known beyond Mecklenburg. In 1735 a short notice had appeared in the Fortgesetzte Sammlung zur auserlesenen Materien zum Bau des Reich Gottes commending the power with which the Word of God was being preached in and around Dargun.72 Schmidt, Hövet, and Ehrenpfort each published a sermon in 1735 in defense of their views, but these early works seemed to generate little controversy, perhaps because of their relative obscurity.73 However, a 1736 notice in the widely distributed journal, Hamburgische Berichte von neuen gelehrten Sachen, was a different matter. It reported on the publication of the disputation itself, which voiced specific criticisms of the Busskampf, but then the Berichte went on to connect this to the rumors surrounding the revival in Dargun in a way the academic disputation had not. Describing the advocates of the Busskampf as “riff-raff,” the article accused them of spreading this pestilence throughout Germany, infecting even the pious and the well-educated with their poison. The article named those in Dargun “sectarians” who peddle all kinds of false teachings, including supposedly Quaker practices of self-castigation: “there many lie and howl day and night on the ground, and sometimes do nothing else for days and even years than cry, sigh, scream, macerate their bodies, and similar things that are displeasing to God and man as they seek to find their way to a true and scriptural understanding.”74 This article helped inflame a local dispute into a much larger controversy.75 Until this point, Zachariae had not taken an especially public role in defending the movement in Dargun. Ehrenpfort had published a short treatise on Das Geheimnis der Bekehrung in the first half of 1736, one of its not so subtle points being that conversion was a mystery to much of “corrupt Christianity” in his day, an indirect rebuke to the orthodox Mecklenburg clergy to whom true conversion seemed especially obscure.76 The disputation in Rostock and the Hamburg newspaper account spurred Zachariae into action. He composed a response and published the most extensive defense of the Busskampf in Pietism to that point, Der in Gottes Wort und unsern Symbolischen Büchern wohlge72 Neue Nachrichten. In: Fortgesetzte Sammlung Auserlesener Materien zum Bau des Reichs 31, 1735, 928. 73 August Hövet: Gewißheit Bey denen Wiedergebohrnen, daß sie Gottes Kinder seynd. AltenStettin 1735; Jacob Schmidt: Eine Predigt vom Gebet. Alten-Stettin 1735; Henning Christoph Ehrenpfort: Eine Predigt von Predigt von der Heil. Tauffe. Alten-Stettin 1735. All three bear dedications to Augusta. Suckow apparently prepared a rejoinder early on that was never published. Erzählung der meklenburgischen Controvers vom Buskampf. In: Acta historico-ecclesiastica 4, 1740, 669 f. 74 Rostock [see note 71] 526 f. 75 Vom Anfang der meklenburgischen Streitigkeit, aus einem Schreiben vom 28 Aug 1739. In: Acta historica-ecclesiastica 4, 1740. 76 Henning Christoph Ehrenpfort: Das Geheimniß der Bekehrung eines Menschen zu Gott. AltStettin 1736, preface.
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gründete Buß-Kampf (1736).77 Zachariae’s goal as the title suggests was to ground the Pietist teaching of the Busskampf in scripture and the Lutheran tradition but also to absolve his understanding of Busskampf from any radical association. He took specific aim at Burgmann’s disputation and the article in the Hamburgische Berichte. Unsurprisingly, his arguments echoed those of his mentor, Samuel Lau, in a number of places, especially in the way he drew on the Lutheran tradition, but Zachariae also adopted a considerably more polemical tone. Zachariae’s argument was built around a passage from Luke 13:24: “Strive to enter through the narrow door; for many, I tell you, will try to enter and will not be able.” The narrow door or gate (enge Pforte) was a common theme among the Dargun Pietists, one that their critics also mentioned.78 For Zachariae the “striving” referred directly to the struggle that took place in repentance and that without it one cannot achieve salvation. He amplified the idea of striving and struggle in repentance with numerous Bible passages from the Old and New Testament, and linked it as well to the Lutheran tradition of repentance and conversion, Buße und Bekehrung. Zachariae pointed to the confessions to justify the idea of a struggle in conversion but especially to Martin Chemnitz who had written explicitly of such a “lucta” or struggle during conversion.79 The Burgmann disputation had been particularly keen on connecting the Busskampf to various heterodox teachings and movements including radical sectarians, theosophists, confessional-indifferentists, perfectionists, and the so-called terminists, who restricted the opportunity for repentance to a specific period.80 Indeed, the disputation argued that rightly understood, the Busskampf was not necessarily an objectionable term and even agreed with one of Lau’s descriptions of it.81 Nevertheless, it sought to link the use of the Busskampf in Mecklenburg to as many heterodox movements as possible, thereby blackening Dargun through association with heterodoxy. 77 Carl Heinrich Zachariae: Der in Gottes Wort und unsern Symbolischen Büchern wohlgegründete Buß-Kampf wurde aus dringenden Ursachen dargethan, mit Zeugnissen Alter und Neuer Evangelisch-Lutherischer Lehrer bestättiget. Peine 1736. 78 Albertus Hinrich Fabricius reported one lay commenter who puzzled over what was meant: “They talk all the time about the narrow gate, but they never want to explain what it is” (LHA Schwerin, eccl. gen. 1572, “Specification,” Nr. 26). Henning also spoke critically of their emphasis on the “narrow gate” according to Zachariae (Letter from 1736. LHA Wernigerode, Rep. H. Stolberg-Wernigerode Nachlass Henrich Ernst II A Nr. 200, 2v). 79 Zachariae, Buß-Kampf [see note 77], 72. The reference is Martin Chemnitz: Loci Theologici. Wittenberg 1615, Bd. 1, 199. 80 The teaching on the Busskampf is connected to ideas of repentance in Stenger and Christianus Melodius (pseudonym of Adam Bernd), Burgmann, De Lucta poenitentium [see note 71], 10–13; “fanatics” such as Gichtel and his followers (ibid., 19 f.); in general the Busskampf is described as a “cesspool of errors” and “snake in the grass,” (1, 38). The German translation is somewhat more moderate, calling it “a cover for many dangerous errors” (Johann Christian Burgmann: Theologische Abhandlung vom Buß-Kampff. Rostock 1737, 96 f.). 81 Burgmann, De Lucta poenitentium [see note 71], 16 f.
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Unwittingly, the disputation’s wilder accusations served Zachariae’s purposes of establishing the relative theological orthodoxy of the Dargun movement. He had no problem decrying sectarians, theosophists, perfectionists, or terminists, who in many cases held views that he considered hindrances to true conversion.82 That the Burgmann disputation spent so much time on the alleged sectarian and heterodox associations of the Busskampf, to a certain extent it obscured the major point of contention, and that was the conviction of Zachariae and others in Dargun that a conversion experience was the sole path to salvation, and that proceeding through a Busskampf was the only way to ensure one’s conversion was true. While the Burgmann disputation was aggressive in its criticisms of the form of conversion allegedly advocated by the Dargun clergy, it provided no alternative. Its discussions of how one ought to understand conversion in the Lutheran tradition were, from a practical theological point of view, impoverished, and in this sense formed a strong contrast to the anonymous and less polemical response to Lau several years earlier on the same issue.83 It reveals perhaps the limitations of the provincial theologians at Rostock in opposing Zachariae and the others in Dargun. Indeed, the most telling criticisms of the Dargun movement, in fact, came from other Pietists. One of the misconceptions of the Dargun controversy was that it was primarily a conflict between the Pietists and their perennial opponents, the Lutheran orthodox. Indeed, Peschke portrayed the controversy in Dargun as the incursion of Halle Pietism into the largely Orthodox territory of Mecklenburg.84 Certainly, the conversionist theology of the new Dargun preachers represented a fundamental challenge to the practices of traditional Lutheran orthodoxy that was at home at the theological faculty in Rostock and among many of the duchy’s clergy, but they were not the only ones who took umbrage at the form of conversion advocated by Zachariae and the others in Dargun.
Russmeyer’s Criticism of Dargun and the Busskampf One of the most severe critics of the Dargun movement came from the Michael Christian Russmeyer, professor of theology at the University of Greifswald. Russmeyer represented a moderate form of ecclesial Pietism. 82 Zachariae, Buß-Kampf [see note 77], 77–81. The Dargun Pietists frequently found themselves accused of perfectionism, a position they did not hold. 83 Theologische Beantwortung Zwoer Fragen Die eigentliche Zeit und Beschaffenheit Der beyden Stücke Bekehrung und Buß-Kampff Betreffend. Frankfurt/Main, Leipzig 1732. 84 For Peschke, Zachariae represented the “spirit of Halle theology,” whereas Russmeyer represented the Lutheran orthodox position (Peschke, Dargun [see note 7], 94). Neither is quite accurate, and especially the portrayal of Russmeyer is misleading.
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Though he did not study at Halle—neither for that matter did Zachariae— Russmeyer did study at Jena under Buddeus and was clearly part of the Pietist network that included Halle. In the mid-1710s, he apparently sought to join Halle’s missionary activity to South India.85 When at the University of Greifswald he ran into considerable opposition for his Pietist proclivities, including holding collegia pietatis, it was to A. H. Francke and others in the Pietist network to whom he turned for advice.86 He pursued a number of specific Pietist practices at the University of Greifswald, including the collegia pietatis.87 Although Peschke treats Russmeyer as a representative of the Lutheran orthodox position, almost nothing ties him to Lutheran orthodoxy apart from his opposition to Zachariae. It is unclear how Russmeyer came to learn of the revival in Dargun. Located in eastern Mecklenburg, Dargun was relatively close to the border of Pomerania, and he may have heard first or second-hand reports in nearby Greifswald about the conversions by the mid-1730s.88 In 1736 he published a sermon that subtly sought to question a rigid understanding of the conversion process.89 He reported later that the Dargun clergy went so far as to denounce this printed sermon from their pulpits.90 By 1737 Russmeyer had received a detailed report from the former court physician at Dargun, Hempel—himself no opponent of Pietism—about the revival in Dargun. Zachariae’s aggressive defense of a strict Busskampf theology of conversion coupled with what Russ-
85 Diederich von Dobbeler recommended Russmeyer to A. H. Francke as a missionary in 1716. See letter of von Dobbeler to Francke, Stabi, Stab/F 4a/7 :15. 86 See the letter of A. H. Francke advising Russmeyer, dated 31 Dec 1723. Stab/F 1a/1A :32. On the controversies in Greifswald during which Russmeyer was one of the leading representatives of the Pietist party—and accordingly the target of orthodox opponents, see Helmut Lother: Pietistische Streitigkeiten in Greifswald: ein Beitrag zur Geschichte des Pietismus in der Provinz Pommern. Gütersloh 1925, 132–154. Russmeyer considered, in fact, a position in Halle, but according to Lother chose not to accept it because of the inadequate income. Lother places him squarely in the Pietist tradition (ibid., 147, 248 f.). 87 Lother, Pietistsche Streitigkeiten [see note 84], 146–154. 88 As early as 1736, the Dargun party apparently suspected Russmeyer of criticizing their approach to conversion in a sermon. Erzählung der meklenburgischen Controvers [see note 73], 331. 89 Russmeyer here contrasted the diverse ways that Christ dealt with his followers in the process of repentance with a single-minded pursuit of conversion that he identified as an unspiritual “Bekehrsucht” or untoward desire for conversion. Michael Christian Russmeyer: Der Umgang Christi, Welchen er in den Tagen seines Fleisches mit den verschiedenen Arten von Menschen, Mit seinen Jüngern, mit den Mühseligen und Beladenen, mit denen Sündern, und mit denen Heuchlern, gepflogen hat. Greifswald 1736, 29. Russmeyer saw this sermon as a corrective to the Busskampf. See Michael Christian Russmeyer: Die Sonderbare Krafft Christi, die Heucheley zu entdecken. [Greifswald 1737], 190. Ardent supporters of zealous conversion practices saw this sermon as a rebuke. Letter of Wilhelm Christian Hasselbach to Gotthilf August Francke, 18 Jan 1738, AFSt/H C 715 : 43. 90 Russmeyer, Sonderbare Krafft Christi [see note 87], 191.
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meyer considered rigid and potentially hypocritical expectations of conversion in Dargun led Russmeyer to respond more directly in print. His tract, Die Sonderbare Krafft Christi, die Heucheley zu entdecken (Greifswald, 1737) did not explicitly name Dargun or cite either Zachariae’s or Ehrenpfort’s writings by name, but the target of his criticisms became clear, especially in the appendix. The main part of the text criticized the potential for selfdeception and hypocrisy in contemporary Christianity. Many cultivated the appearance of godliness, he argued, but often they lacked true piety, just as the scribes and pharisees in the New Testament did. His criticisms were wideranging, but it was clear that in part Russmeyer perceived a high potential for hypocrisy among those who had an inordinate drive for conversion and and the self-satisfied assurance they belonged to the “converted.”91 The appendix made these criticisms more explicit. Russmeyer scrupulously omitted any names, but anyone aware of the controversy would not have failed to connect it with Dargun. He quoted an anonymous report by court physician Hempel who, Russmeyer assured the reader, is “no enemy of the aforementioned preachers” but nonetheless was troubled by specific practices.92 Russmeyer did not categorically object to the Busskampf in the conversion process. Indeed, showing his Pietist roots, Russmeyer stated quite clearly that he himself had undergone just such a conversion: “I myself have experienced this path, but it never occurred to me that it should be a universal path for all conversions and that whoever follows this is converted. The wisdom of God is manifold.”93 Russmeyer objected to the rigid method with which the conversionist clergy employed the Busskampf. He cited cases where these clergy had allegedly judged previous conversions too superficial because “they had run through the Busskampf too quickly and were counseled that they should start from the beginning again.”94 Russmeyer objected that there was no strong biblical or confessional basis for the Busskampf as a method of conversion or doctrine—agreeing with some of the orthodox criticisms—but his concern was less to discredit conversion experiences than to recognize their diversity, a point on which Russmeyer explicitly quoted August Hermann Francke.95 Russmeyer acknowledged the possibility of a long period of repentance that could be described as a Busskampf, but his opposition was primarily to a strict schematization of the conversion process that he saw in Dargun, which included not only an extensive Busskampf but also an explicit breakthrough to „joyfulness in faith” and a „love kiss of Jesus” that seals one’s 91
Russmeyer, Sonderbare Krafft Christi [see note 87], 128. Russmeyer, Sonderbare Krafft Christi [see note 87], 185. 93 Russmeyer, Sonderbare Krafft Christi [see note 87], 215. 94 Russmeyer, Sonderbare Krafft Christi [see note 87], 185. 95 On his criticism of the Busskampf method of conversion as lacking scriptural basis, see Russmeyer, Sonderbare Krafft Christi [see note 87], 190, 193. On Francke and the diversity of repentance in conversion, ibid., 199. 92
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rebirth.96 Though he did not reject these out of hand, their rigidity and lack of scriptural warrant portended dangers of perfectionism, neglect of the doctrine of baptism, and even enthusiasm.97 Russmeyer further posed the pastoral problem of self-deception and hypocrisy in such a schematic process of conversion that some might falsely believe themselves to be converted and where others, despite conversion, might despair of God’s grace.98 Russmeyer’s acknowledged that some criticisms in Burgmann’s disputation of the Busskampf movement were plausible, but also maintained his distance from other orthodox complaints about the Dargun party.99 Russmeyer’s publication drew a vehement response from the Dargun camp,100 but Russmeyer’s criticisms were not the only ones directed at Dargun which came from within Pietist circles. An anonymous treatise by one of Gotthilf August Francke’s allies appeared in 1738 that sought to take a mediating role in the debate but took issue with a strictly schematic understanding of the Busskampf.101 We know from correspondence that Francke was concerned about the public dispute between the Dargun clergy and Russmeyer in Greifswald, and as the controversy grew, he grew increasingly exasperated with the intransigence of the “friends in Dargun.”102 Through an intermediary, Francke also sought to have Count Christian Ernst of Wernigerode intercede with Zachariae to quell the controversy.103 Of course, others with more radical Pietist roots took issue with Zachariae. Hellwig, who found himself dismissed from his position at court and then directly criticized in print by the Dargun clergy, published his own expose of the conversion practices at Dargun, in which he argued that the indispensability of the Busskampf in conversion bordered on the magical and had become a form of works righteousness.104 This, of course, earned him a blistering reply
96
Russmeyer, Sonderbare Krafft Christi [see note 87], 204. Russmeyer, Sonderbare Krafft Christi [see note 87], 204–214. 98 Russmeyer, Sonderbare Krafft Christi [see note 87], 215–217. 99 Russmeyer, Sonderbare Krafft Christi [see note 87], 218. 100 A clear response came in the form of the anonymous Anmerckungen [see note 18], whose author was likely Zachariae. 101 [Johann Friedrich Bertram:] Schriftmäßiges und unpartheyisches Bedencken, über zwo kürtzlich aufgeworffenen theologische Fragen I. vom Bußkampf II. von Bestimmug der eigentlichen Zeit, wenn einer bekehret worden. Bremen 1738. The treatise vigorously defends the possibility of a true Busskampf, but later chapters implicitly question practices at Dargun by strongly criticizing rigid application of the Busskampf as well as the expectation that one would be able to narrate the details of the “history of his conversion” (ibid., 102). 102 In a 1737 letter to Christian Berlin in Wollin, Francke expressed his “heartfelt regret” at the public disagreement between Russmeyer and those in Dargun, assigning some blame to both parties (AFSt/H C 397 : 1). But two years later, after a further escalation of the conflict in print, Francke appeared increasingly frustrated with the Dargun party (AFSt/H C 397 : 5). 103 LHA Wernigerode, Rep. H. St-W, Nachlass Henrich Ernst I B Nr. 20, 34r. Letter of Cellarius to Christian Ernst, 31 Aug 1737. 104 Des Sehligen Mannes Gottes Lutheri Zeugniß, gegen das sogenandte Geheimniß der 97
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from Dargun, attacking Hellwig’s orthodoxy.105 Other moderate Pietists such as the Halle educated Stieber, who was ousted from his position at court, also continued to voice their criticisms in public and in private about the developments in Dargun.106 This is not the place to review the dozens of polemical publications that the Dargun controversy spawned in the 1730s and 1740s. Their breadth illustrates that the controversy cannot be reduced to conflict between “Pietists” and “orthodox.” It was just as much a controversy within Pietism about the extent to which one should pursue a strict understanding of the Busskampf in conversion as it was a controversy between orthodox and Pietists about conversion and revival. Nor can it be cast as a break between Hallensian and other forms of Pietism. Pietists on both sides of the controversy could cite August Hermann Francke in support of their opinion. Indeed, one could argue that Russmeyer was closer to Halle than was Zachariae, who had very few personal connections to Gotthilf August Francke or others at Halle. Certainly, some Orthodox opponents exploited the divisions between Pietists skillfully. Erdmann Neumeister, a Lutheran minister in Hamburg, was one of the most adept anti-Pietist publicists of the 1730s. His glee in publishing Hempel’s account of the revival at Dargun is nearly palpable in the preface.107 One also suspects that he was the individual who kept the Hamburgische Berichte well supplied with stories critical of Dargun. Indeed, the former court physician felt betrayed by the publication, calling it a Judas trick.108 Many of Neumeister’s accusations stemmed from Pietists who were critical of Dargun, signaling that one cannot necessarily equate the schematic form of conversionist theology at Dargun with those of other Pietists at the time, even those with ties to Halle. Inside Mecklenburg, the Orthodox opposition showed little sophistication in dealing with the Dargun Pietists during the theological controversies surrounding conversion and the Bußkampf.109
Bekehrung: in neun Sätzen: sammt einer kurtzen Beschreibung der neuen Propheten, in gebundener Rede, aus eigener gnughaffter Erfahrung verfasset / von einem Dargunschen Emigranten. [Rostock 1739], 9 f. 105 Geprüfete Prüfung oder Untersuchung der sogenannten Aufrichtigen Prüfung so Dr. M. Bernh. Henr. Rönnberg, [. . .] Nebst einem Anhange, darinn der sich so nennende Dargunische Emigrante wie auch der Herr Mag. Burgmann kürtzlich abgefertiget wird. [Berlin 1742]. 106 Stieber likely composed the 1742 tract critical of Dargun and Walch’s favorable treatment of the movement (Walchius Illustratus [see note 20]). 107 Neumeister provided a preface to Adamsen, Antwortschreiben [see note 32]. Adamsen, who is otherwise unknown, may have been a pseudonym for Neumeister. 108 Wilhelmi, Augusta [see note 7], 135. 109 Wilhelmi characterizes many of the attacks of Orthodox in Mecklenburg against the Dargun Pietists as “helpless polemics” that the Darguner despite their own exaggerations and foibles had little problem countering (Wilhelmi, Augusta [see note 7], 206 f.). He singled out Franz Albert Aepinus, professor of theology in Rostock, and Christopherus Nicholas Rampe as especially weak.
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The Continuing Revival in Dargun Moreover, despite the controversy and occasional interference by the consistory, Zacharaiae and the others in Dargun were able to continue their revivalist activities in Dargun with relative impunity. Augusta never wavered in her support of the conversionist clergy and her consequent protection meant a great deal. The Mecklenburg consistory in Rostock cited Ehrenpfort, Hövet, and Schmidt to appear before it again in 1737 and based on these hearings secured an opinion against them from Leipzig, but the attempt to sanction the Dargun clergy turned into a fiasco. Augusta contested the procedure in the Hofgericht in Güstrow, which ruled in her favor. The Dargun Pietists elicited judgments in their favor from the theological faculty of the University of Königsberg and the law faculty of the University of Frankfurt. Moreover, Augusta put Duke Carl Leopold, who continued to wield some authority in religious matters, and his brother Duke Christian Ludwig in Schwerin under internal and external pressure to rule in favor of the Dargun party.110 Both Christian VI of Denmark and Friedrich Wilhelm I of BrandenburgPrussia weighed in on behalf of the Dargun clergy and criticized their treatment at the hands of the consistory.111 Lacking both strong intellectual leadership and political support in Mecklenburg, the consistory effectively capitulated and dropped the matter.112 Indeed, the failure of the consistory on this point illustrates the weakness of the territorial church in Mecklenburg that created an opportunity for Augusta and her clergy to pursue their revival. Amid criticism and opposition from many quarters in the late 1730s, Zachariae and his colleagues were able to continue their revival in Dargun and nearby villages with relatively little interference. The opposition in Jördenstorf meant that Augusta’s plans to install Pietist clergy from outside Mecklenburg in additional parishes stalled, at least temporarily, but she filled other positions in the area around Dargun with individuals with strong Pietist credentials.113 For instance, in the summer of 1736, Zachariae sought the recommendation of a Hofkantor from Count Christian Ernst, bringing the Halle trained Jacob Rudolph to Dargun who would become a central figure 110 Wilhelmi follows the intricate battles over consistorial authority in detail, Wilhelmi, Augusta [see note 7], 208–216. 111 See, for instance, the letter of Friedrich Wilhelm to Christian Ludwig dated 8 Nov 1738, LHA Wernigerode, Rep. H. Stolberg-Wernigerode, HA A67, Fach 1–3, Nr. 8, 43r. See also, Wilhelmi, Augusta [see note 7], 216. 112 Wilhelmi, Augusta [see note 7], 216. 113 These included schoolmasters and sextons in nearby parishes. A remark in one report from ca. 1739 noted: “Among the twelve positions for schoolmasters, Her Most Serene Highness has already filled six with truly believing and well-grounded individuals, to whom she gives free room and board.” (LHA Wernigerode, Rep. H.Stolberg – Wernigerode, Nachlass Henrich Ernst, I B Nr. 20, “Ausbreitung und Hindernisse der Reiches Gottes im Hertzogthum Mecklenburg,” 4v–5r)
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among the Pietists at court.114 As Pagenhofmeister she also installed a Pietist theological student, Ludolph Balthasar Leonhardt, whom she later succeeded in placing in a pastorate. A report from the court of Schwerin in late 1736 indicates that the Mecklenburg opponents of Dargun may have overplayed their hand. The commentator observed: “The Politici are too intelligent and do not believe everything blindly about which the wicked preachers’ gossip; rather they have come to recognize the source from which this sort of thing comes. I can assure you, that at this court, almost no one pays attention to it.” The commentator continued that a number of members of court had visited Dargun and come away impressed, including the heir to the duchy.115 Augusta and her allies also began to find some support among the native clergy, who were put off by the intemperate and sometimes wild accusations made by their opponents. Laurentz Henrich Berner, pastor from nearby Cammin, had led the delegation at the abortive pastoral election in Jördenstorf and was one of those badly beaten by the mob. Although initially suspicious of the “new preachers” in Dargun, he became curious when he heard that “they lived just as they preached.” This sympathetic curiosity turned into fullfledged supported after the violence in Jördenstorf. Berner reported that the blows he received there “freed him from human fear” and set him onto the path of completing his conversion and coming to peace in God.116 Berner became an ardent advocate of the conversionist theology, so much so that his parish complained to the consistory.117 Other Mecklenburg clergy also overcame their reservations and aligned themselves with the Dargun movement, sometimes following a conversion experience.118 Across the border in the
114 See the letter to Christian Ernst, 5 Jun 1736 requesting a Hof-Cantor. LHA Wernigerode, Stolberg -Wenigerode K, No. 920, 12r–13r. It is indicative that though the candidate eventually came from Halle, Zachariae’s connection went through Wernigerode. After Rudolph arrived, Zachariae wrote thanking Christian Ernst. Letter of 4 Sep 1736. LHA Wernigerode, Stolberg -Wenigerode K, No. 920, 18r. 115 “Extract eines Briefes aus Suerin vom 6ten Dec. 1736” LHA Wernigerode, Rep. H. StoWR, Nachlass Henrich Ernst, B Nr. 20, 33r. The author of the letter is not known. 116 See the account from 1741 that Berner related to a visitor from Wernigerode, LHA Wernigerode, Nachlass Sophie Charlotte, VII, No. 9, 9v–10r. 117 Schmaltz, Kirchengeschichte Mecklenburgs [see note 2], 161 f. Berner successfully appealed to Duke Carl Leopold for protection (Letter of 24 Apr 1739, LHA Schwerin, eccl. spec. 1576). 118 Pastor Vorast in Bützow reported that despite his resolution as a young pastor to form a covenant with God, the “temptations of the world” and “the flattery of important figures” drew him away. Allies of Dargun, he reported, brought him to true conversion, his breakthrough occurring at a prayer meeting as he heard one of the revivalist hymns of Johann Liborius Zimmermann, “Auf, verzagter Geist und Kämpfe” (LHA Wernigerode, Nachlass Sophie Charlotte, VII, No. 9, 10r). On Zimmermann’s hymn, Jacobs, Zimmermann [see note 23], 214. Wilhelmi describes the growing affiliation of many clergy in Mecklenburg with the Dargun movement (Wilhelmi, Augusta [see note 7], 225, 263–265).
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towns of Demmin and Anklam, both part of Prussian-controlled Pomerania, the Dargun preachers had allies as well.119 Thus, the revival in Dargun and surrounding villages was able to expand during the later 1730s despite the ongoing literary controversy and stubborn opposition from some orthodox clergy in Mecklenburg. One visitor from Wernigerode at the end of the 1730s reported that 40 of the 150 members of the Hofgemeinde, the court parish, belonged to the converted. In nearby parishes there were also substantial numbers of Kinder Gottes who were converted. The number of converted in the nearby village parishes of Levin, Röckenitz, and Groß Methling was somewhat smaller but “growing daily.”120 The visitor could also point to a high number of converted on the estates of nobles associated with Dargun as well, citing one case among the domestic servants, where supposedly only one of twenty remained unconverted. Even among the field hands, most were now converted.121
Constructing Conversion at Dargun A collection of conversion narratives from 1741 provides a glimpse into the ways that individuals understood conversion at Dargun in the late 1730s and early 1740s. There was a lively exchange between Dargun and the court of Wernigerode, and a visitor from the Harz in late 1741 compiled a series of 42 accounts that he—or more likely she—gleaned from conversations with the converted in and around Dargun.122 Altogether there are 42 narratives, most no more than a paragraph, though a few stretched considerably longer, especially those of high-born individuals including that of Duchess Augusta. The collection comprised 26 accounts of women and 16 of men from Dargun and the adjoining areas. They ranged from simple coachmen to Augusta’s Hofmeister, von Moltzahn. All portrayed a dramatic episode or period of struggle that lead to a successful conversion. Written in the third person and notably condensed, these are hardly transcripts of conversations, but nonetheless they have the character of stories that were recounted to the visitor and at several points the author refers to details told “to me.”123 These accounts 119
LHA Wernigerode, Rep. H. Stolberg – Wernigerode, Nachlass Henrich Ernst, I B Nr. 20,
8r. 120 The author estimated “twenty something” in each of the village parishes (LHA Wernigerode, Rep. H. Stolberg – Wernigerode, Nachlass Henrich Ernst, I B Nr. 20, 4r–v). 121 LHA Wernigerode, Rep. H. Stolberg – Wernigerode, Nachlass Henrich Ernst, I B Nr. 20, 5v. 122 The accounts are found in: “Etwas von der darguhnschen Reise.” LHA Wernigerode, Rep. H. St-W, Nachlass Sophie Charlotte VII, No. 9. The author of the collection is unknown, but internal evidence and style points to a noble woman from the court of Wernigerode. 123 The author began the collection with the observation that the following included “that which was said of souls in their conduct [i. e., in conversion] appearing noteworthy to me.” Later
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signal an expectation at Dargun, that the “converted” would be able to tell of the story of their conversion. At one point the author marveled how a thirteen or fourteen-year-old boy could “recount his conversion so accurately, how he had been awakened, what happened to him in repentance, and in what way he came to peace” though she recorded little of his narrative.124 Other visitors at this time noted the readiness of individuals in Dargun to tell the story of their conversion.125 In contrast to many published conversion accounts in Henckel’s Letzte Stunden or periodicals like the Sammlung auserlesene Materien, the perspective of death did not predominate; rather they represent a more immediate point of view focusing on the process of conversion itself.126 They tell little about the individuals’ life prior to or following conversion. In these accounts, conversion begins with an “Erweckung” or awakening. Elsewhere in German Pietism, “Erweckung” can sometimes be a synonym for conversion, but here it refers to the initial stirrings or Rührungen, in which the process of conversion begins. For instance, the author refers to a cook’s wife who was “awakened” first in Stettin but whose conversion was only completed in Dargun when she “came to peace.”127 After awakening, most of the individuals described enter a difficult period of repentance and struggle. Here, the author does not employ the term Busskampf explicitly, but Anfechtung, struggle, and repentance are all features of this stage. At times, the author describes this middle step in great detail. With the story of von Moltzahn, brother of Augusta’s Hofmeister and later an ardent advocate of Dargun’s style of revivalism, the author narrates these struggles in great detail. The sermons he heard in Dargun „penetrated to his core” and although several times he nearly reached his goal, these promising starts and their „sweet sensations” seemed quickly to evaporate. Finally, following an emotional prayer session with his household tutor, he retired to his room. Falling on knees and praising God for his grace, he then “stood up, confessed the hymn ‘die sanfte Bewegung, die liebliche [Kraft]’ and thereupon he received seal upon seal that he was an heir of God she referred several times to things being recounted “to me” or that were “told” (erzählt), reinforcing the conversational character of the stories. However, the careful numbering of accounts, the clean handwriting, and the nature of the prose itself points to a process of considered revision. “Etwas von der darguhnschen Reise” (LHA Wernigerode, Rep. H. St-W, Nachlass Sophie Charlotte VII, No. 9). 124 LHA Wernigerode, Rep. H. St-W, Nachlass Sophie Charlotte VII, No., 7r. 125 On a visit to Dargun in 1740, Wallbaum wrote in his Tagebuch of two women, one the wife of a cook and the other the wife of a carpenter, who prayed with him, “after telling me of their conversions” (Wallbaum’s “Tagebuch” in Wilhelmi, Augusta [see note 9], 279). 126 For a brief discussion of the function of death in these narratives see Jonathan Strom: Constructing Religious Experience: Conversion Narratives in Hallensian Pietism. In: „Aus Gottes Wort und eigener Erfahrung gezeiget.” Erfahrung – Glauben, Erkennen und Handeln im Pietismus. Beiträge zum III. Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2009. Ed. by Christian Soboth [et al.]. Halle 2012, 106–129. 127 LHA Wernigerode, Rep. H. St-W, Nachlass Sophie Charlotte VII, No. 9, 6r.
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und had the forgiveness of all his sins.”128 This final breakthrough marks the last step of the conversion process. Throughout the accounts, individuals cited sermons, hymns, Bible passages and conventicle sessions that occasioned or triggered specific experiences in the process of conversion. The author described a woman at court who “had long sought her righteousness” but upon hearing a sermon by Schmidt twice, she saw “her own condition vividly depicted” and it propelled her into a crisis. The account continues: God blessed her, though, in that she entered into a truly salutary bowing down and a great work in her soul. She did not flag in her struggling, begging, und beseeching until she was truthfully and lively convinced of the grace of God. Since she endured, as if she had lain in true fear of hell, God blessed her with a verse from an old, beautiful hymn of penitence, where among other phrases appears “and when the entire host of hell would completely devour me.”129 At this point, as a lowly worm, she grasped Christ in his righteousness und poured herself into it. Since then all distress disappeared. She enjoys the peace of God and does not know how she can praise God enough for all the goodness and blessing that he has presented to her.130 Where the sermon here launched the process of repentance and conversion, elsewhere a sermon could provide the final impulse to a breakthrough. Lady von Örtzen had begun her conversion many years before in Halle, but it was not until she came to Dargun and heard Zachariae’s sermons that she realized her full conversion.131 In other cases Bible verses played pivotal roles. Several cited the passage from Matthew 11:28–29: “Come to me, all you that are weary and are carrying heavy burdens, and I will give you rest. Take my yoke upon you, and learn from me; for I am gentle and humble in heart, and you will find rest for your souls.”132 Others drew slips randomly from the Pietist Spruchkästchen that contained Bible passages and short remarks that also, according to the author, moved the individual providentially to full conversion.133 128 LHA Wernigerode, Rep. H. St-W, Nachlass Sophie Charlotte VII, No. 9, 4v. Moltzahn’s account is the longest in the collection. The hymn is one by Christian Friedrich Richter and appeared in Freylinghausen’s Geistreiches Gesangbuch (Halle 1704). 129 This hymn can not be identified. It has certain similarities to a verse from Luther’s “Ein’ feste Berg:” “Und wenn die Welt voll Teufel wär’/ Und wollt’ uns gar verschlingen.” 130 LHA Wernigerode, Rep. H. St-W, Nachlass Sophie Charlotte VII, No. 9, 5r. 131 LHA Wernigerode, Rep. H. St-W, Nachlass Sophie Charlotte VII, No. 9, 2v–3r. 132 LHA Wernigerode, Rep. H. St-W, Nachlass Sophie Charlotte VII, No. 9, 5v, 6v. 133 LHA Wernigerode, Rep. H. St-W, Nachlass Sophie Charlotte VII, No. 9, 2r. The most famous Pietist Spruchkästchen was that published by Carl Heinrich von Bogatzky, Güldnes SchatzKästlein der Kinder Gottes, deren Schatz im Himmel ist, first published in Breslau in 1718 but reprinted dozens of times in the following decades. One could read Bogatzky’s collection in book form or have the specially sized pages cut individually and used in a box or Kästchen as they were here. For other uses of the Spruchkästchen in Dargun, see Wilhelmi, Augusta [see note 7], 147, 232, 245, 255, 266. Opponents also criticized the use of such “Spruchkapseln” implying that they used it as a way of divining true conversion (ibid., 158). See also Shirley Brückner: Die Providenz in Zettelkasten. Divinatorische Lospraktiken in der pietistischen Frömmigkeit. In: Geschichtsbewusstsein und Zukunftserwartung in Pietismus und Erweckungsbewegung. Hg. v. Wolfgang Breul and Jan Carsten Schnurr. Göttingen 2013, 351–366.
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The precise purpose of this collection is not entirely clear. Given the specific details of high-born individuals and the rather clumsy prose, print publication was unlikely. The author likely intended these accounts as a palpable demonstration of the growth of the “Kingdom of God” and compiled it for edification within the closed networks of Pietists associated with Dargun and Wernigerode. The numbering of the accounts here and the precise enumeration among those related to the Dargun movement elsewhere, suggests not just an interest in individual stories but in the collective phenomenon of the work of conversion. Certainly, it appears clear that individuals from coachman to court officials were practiced in telling the details of their conversion in and around Dargun, though there does not appear to be a strong tradition of committing these to writing autobiographically, even among the literate.134 Most of the more extensive conversion narratives stem from the hand of the Pietist clergy in Dargun, who circulated them to their allies in Wernigerode. Sometimes these appeared as part of letters, other times as separately composed conversion accounts. An example of these, longer more carefully composed narratives is the story of a cowherd, whose account Zachariae composed and sent to Wernigerode in 1740.135 This was, however, not a transcript of the cowherd’s own description of his conversion as some of the narratives above claimed to be, but a carefully structured account that quoted the cowherd freely but also portrayed his conversion as paradigmatic for the Dargun movement. Written from Zachariae’s perspective, the account opens with the cowherd’s arrival at Zachariae’s house from a village several days journey away from Dargun. He expressly sought to meet Zachariae. Initially, the court preacher was openly skeptical and refused to see him, but the cowherd persisted and after several others vouched for his earnestness, Zachariae grudgingly agreed to meet him. After asking him to state his reason for coming, Zachariae recorded this conversation as part of the narrative: Cowherd: I came here and must convert myself to God—otherwise, I cannot be saved. Zachariae: How did you arrive at that? You are certainly baptized and baptism is powerful. Isn’t that true? Cowherd: Yes. But we live so godlessly, and in this way we cannot become saved.
134 The theologically trained Pagenhofmeister Leonhardt compiled fifteen conversion narratives during a period of revival in 1745 entitled: “Einen (hand)schriftlichen Aufsatz von der Bekehrung verschiedener Seelen, welche Gott am Ende des 1745. Jahres bald nacheinander in der Ordnung wahrer Buße in der Dargunschen Hofgemeinde zum Frieden gebracht.” Though available to Wilhelmi in the nineteenth century, it is no longer extant (Wilhelmi, Augusta [see note 7], 31 f.). 135 „Bekehrung eines Kuhhirten in Mecklenb. wie solche im Febr. 1740 aus Dargun berichtet worden.” (LHA Wernigerode, Rep. H. Stolberg-Wernigerode, Nachlass Henrich Ernst II. B Nr. 62)
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Zachariae: You would, of course, have your pastor in the community who can reveal to you the condition of your soul. Cowherd: Among us, they are all godless. They swear and curse. Zachariae: You certainly have the Bible. We know of no other conversion, than that which is in the Bible. Cowherd: I cannot read. Zachariae: Conversion is a divine work of grace and we cannot give it to you. You must request it from God. God would find you in your community just as he would find you here, for God is tied to no place. Cowherd: I have asked God day and night. Yet I do not know how. Zachariae: Do you have no faith? Cowherd: No. I have no faith.136
Zachariae took the opportunity to explain the distinction between understanding the true doctrine of faith and having faith in one’s in heart and began instructing him in the “order of salvation.” Zachariae praised the Lutheran church for its true doctrine, but stressed that a living faith “must be effected in our hearts.” Testing him again for ulterior motives, he questioned the cowherd further: Zachariae: Are you perhaps searching only for alms? Do you otherwise have worldly intentions? Cowherd: No. I have my own bread and I am satisfied with it.137
The cowherd repeated over and over again: “I must convert myself; otherwise I will not become saved!” Finally, convinced of his earnest intent, Zachariae continued to instruct him on order of salvation and how to ask God to help him recognize “his miserable sinfulness because otherwise he could not attain true repentance.” Though the cowherd could repeat little more than “Dear Jesus have mercy on me. Dear Jesus help me. Dear Jesus convert me. Dear Jesus show me my sinfulness,” Zachariae noted that he could see positive steps in the young man and urged him to attend the regular church service the next morning where one of his colleagues was preaching. Impatient, the cowherd hoped that he could be “finished” and return on his long journey home, whereupon Zachariae responded: “My friend, conversion does not work like shoeing a horse, so that when you give it a pair of horseshoes it can run off.” The court preacher sent him to some pious members of the community to lodge for the night und urged him to hear the sermon the next morning.138 According to Zachariae, the sermon the next day had a powerful effect on 136
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the cowherd. He was moved to tears and exclaimed that he had “never heard such a sermon” before and wondered whether it was possible that anyone would remain unconverted in Dargun with such preaching. In the afternoon he visited Zachariae again and announced: God has forgiven my sins. This has never happened to me before. In the room where I slept, I prayed and during my prayer it was as if God spoke directly to my heart telling me that all my sins were for forgiven. I am very happy. Now I know that I will be saved when I die. Yesterday I was still a sinner and did not know it. Now I want to take communion.139
At first, Zachariae professed not to trust the rapidity of his conversion and questioned him closely about the depth of his repentance and the state of his faith. Others also probed the extent of his distress, clearly worried that the young had not experienced a thorough Busskampf. Another asked him “whether he had experienced the distress of sin in his heart? The cowherd responded that it indeed had felt “as if two millstones lay upon his heart.” The questioner continued: “So the distress of sins was in fact a great distress? He responded: “O yes! Sometimes it appeared as if it were gone but then it appeared again.” The individual continued and asked about the current state of his heart and whether he still feels distress. The cowherd replied: “No, for my sins are forgiven; it is as if the stones have fallen from my heart.” He added “Now I know with certainty that I will die saved.” His questioner pressed further: “Whether he would have died saved before?” The cowherd responded, “O no!” Another asked, “What did he contribute?” He responded, I contributed nothing, but I have gotten something.” When asked what that was he responded “I have gotten my salvation.”140 The probing questions of Zachariae and others, almost an interrogation, continued at length in the narrative, but the cowherd responded to all of them satisfactorily. Having established the certainty of the cowherd’s conversion, the narrative recounts the hostility and ridicule he experienced in his village from friends, family and even his pastor as he sought conversion, and it describes his remarkable, nearly providential trip to Dargun during the deep winter. After this rapid conversion, he stayed on in Dargun for another five days, during which time the illiterate cowherd developed an intense desire to learn to read. He began to distinguish the letters and quickly could sound out syllables and words using the Bible and other pious texts. According to Zachariae, he learned to read before departing Dargun, a skill the cowherd credited to the same grace that granted him conversion. Upon leaving Dargun friends gave him a Bible and Arndt’s True Christianity, and according to Zachariae’s post139
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script, the zealous cowherd managed to awaken an entire household on his return trip.141 With the exception perhaps of the relatively brief Busskampf, the conversion corresponded well to the Dargun understanding of the conversion process. There is no reason to doubt the first-person quotes of the cowherd that Zachariae liberally included in the account, but at the same time it is evident that Zachariae carefully selected this account to develop in detail and likely also chose statements by the cowherd carefully. More than the limited insight it gives us into the spiritual life of the cowherd, the structure and form of the account tell us a great deal about how Zachariae wished to portray a paradigmatic conversion at Dargun. At the beginning, he is questioning, even skeptical of the cowherd’s desire for conversion, signalling that it is not the Dargun clergy who are driving the young man toward conversion or unduly pressuring him. Moreover, he is able to use the dialogue with the cowherd to establish his solid Lutheran credentials on baptismal regeneration, adherence to scripture, and the validity of “evangelical Lutheran” doctrine. Against charges that those in Dargun teach that one can effect one’s own conversion, Zachariae elicited from the cowherd how he came to understand that one does not bring about conversion by oneself—it comes from God. And although the cowherd is now assured of salvation, Zachariae deliberately quotes him as saying that original sin still inheres in him, thus forestalling any charges of perfectionism. In questioning the cowherd several times about whether he was seeking alms or other gain, Zachariae seemed to be responding to criticisms that the converted at Dargun received material advantages. At the same time, while Zachariae can portray himself and others in Dargun as wary of quick conversion and initially disbelieving of the cowherd’s swift progress, this in turn heightens the unexpected rapidity of his conversion as an even more powerful sign of God’s gracious action. The cowherd’s ability to learn to read in an improbably short time also reinforced the miraculous of God’s work in the cowherd. Thus there emerges a tension between the explicit expectation of conversion as arduous and lengthy that Zachariae espoused and the implicit narrative of a young man journeying to Dargun with the express intention of being truly converted and in fact achieving precisely that in less than a day. There are other apologetic notes. When Zachariae refers him to his village pastor, he was, whether consciously or not, insulating himself from charges that he denigrated other clergy, yet the account also portrays the powerful charisma of the Pietist clergy present in preaching and their incisive authority to adjudicate true conversion. The young man is told that he cannot bring about conversion himself, but, of course, from an outside perspective it appears that his initiative in going to Dargun was deci-
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sive. Yet he is told explicitly that God can find him anywhere and there is no need to come to Dargun for conversion while the account itself implicitly stresses the uniqueness of Dargun as a place where the converted live and that conversion is more likely to happen. Zachariae carefully composed or perhaps better constructed the account, but he did not intend to publish it in print. Though the Darguner engaged in a lively polemical exchange through their tracts and treatises, they published very few conversion accounts and none at all of living individuals. Nevertheless, the account of the cowherd did become well known in the circles of Pietists connected to Dargun and Wernigerode. When a court official from Saxon-Saalfeld, Anton Heinrich Walbaum, visited Dargun a year later in 1741, he referred by name to the “cowherd who was converted here some time ago” and clearly had learned of his conversion from correspondence and conversation with those in Wernigerode.142 These and other accounts circulated widely in manuscript in Pietist networks, most often through descriptions in letters but also through carefully composed conversion manuscript narratives.143 Manuscript dissemination within closed networks allowed Pietists to exchange conversion narratives that would have been far too sensitive for print publication. For instance, at the request of Gotthilf August Francke, Jacob Rudolph relayed to him the conversion story of the hereditary prince of Mecklenburg, Friedrich (1717–1785).144 As future ruler of MecklenburgSchwerin, Friedrich’s embrace of Pietism would mark a triumph for prominent Pietists who followed such cases closely. As a young man, Friedrich was close to his great aunt, Augusta, and a report from 1736 indicated that the nineteen-year-old had been a frequent visitor to Dargun and held the “friends” there in high regard.145 But while drawn to the Pietists and their understanding of repentance and conversion, he was unable to shake entirely the vices of dancing and gambling and consequently some in Dargun doubted, according to Rudolph, whether “he had experienced a true justification.”146 Friedrich’s father, Christian Ludwig, strenuously opposed his son’s Pietist tendencies, and others at court in Schwerin laughed at Friedrich’s pious behaviors. Rudolph described in detail a lengthy conversation from late 1743 142 Walbaum named him as Johann Erdmann Kücken from “Grantz” in Mecklenburg-Strelitz (Wilhelmi, Augusta [see note 7], 277). 143 A good example of the circulation of the latter is a bound manuscript conversion narrative of a young woman from Lomersheim in Württemberg found in the Universitätsbibliothek Rostock, Mss Theol 133 (5). Though its provenance is unclear, the style of its binding and context within the collection suggest a connection to the court of Dargun. 144 On Friedrich’s early life, see Friedrich Wigger: Aus dem Leben Herzog Friedrichs des Frommen bis zu seinem Regierungsantritt. In: Jahrbücher des Vereins für Mecklenburgische Geschichte und Altertumskunde 45, 1880, 53–176. 145 LHA Wernigerode, Rep. H. St-W, Nachlass Henrich Ernst, B Nr. 20, 33r. 146 Letter to G. A. Francke, 25 Jan1744 Stabi, Francke Nachlass, 18, 2/12:4 1r.
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or early 1744 during a visit to Dargun when the young prince poured out his heart to Carl Friedrich von Moltzahn, the chamberlain in Dargun. Friedrich explained how just a few weeks before he had experienced “in the enjoyment of Holy Communion,” the assurance of God’s grace “with divine joy and sweet comfort in his heart.” Now, he told von Moltzahn, he understood what one in Dargun meant by “true conversion to Christ” and could say “Ja und Amen” to it all.147 Beyond this, Friedrich’s lengthy discussion with Moltzahn was less a description of the inner process of conversion than a confession of his adherence to the Dargun movement and their ideals, especially the central role of conversion. Indeed, Friedrich’s conversion and commitment to the Dargun movement had significant consequences for Mecklenburg. After becoming ruling duke in 1756, Friedrich “the Pious,” as he became known, steered Mecklenburg in an increasingly Pietist direction and ensured that Augusta’s legacy continued well into the second half of the eighteenth century.148 Compared to the number of manuscript conversion accounts in circulation, the number of print conversion narratives was strikingly small. Only two found their way to print in the years between 1735 and Augusta’s death in 1756. As in many other parts of German Pietism, these published accounts portrayed individuals whose death was an integral part of the narrative structure, a clear contrast to most of the manuscript narratives from Dargun that were composed shortly after the conversion experience while the individual was still living and generally included no mention of severe illness or death. The earliest published conversion narrative from Dargun told the story of a brutal double murderer, Christian Friedrich Ritter, who was sentenced to death by being broken on the wheel in 1738. The account relates how, after sentencing, the clergy in Dargun mounted an intensive effort to bring Ritter to conversion. The narrative tells how Ritter at first angrily mocked the Pietist clergy, but then under their strenuous intervention he progressed from an incorrigible criminal woefully ignorant of Christian faith to a model for others seeking true conversion. Like the cowherd, Ritter also learned to read in nearly miraculous fashion because of the desire for God’s Word. Ritter’s path through the process of conversion from despair and extended repentance to a growing recognition of faith illustrated vividly the understanding of conversion at Dargun. The account culminated in his final breakthrough to full assurance of the forgiveness of his sins shortly before the execution. Eagerly awaiting his unification with his savior, Ritter died under the blows of the executioner as a paragon of steadfast Christian faith.149 The conversion accounts of condemned criminals were among the most 147
Letter to G. A. Francke, 25 Jan 1744 Stabi, Francke Nachlass, 18, 2/12:4 1v. Schmaltz, Kirchengeschichte Mecklenburgs [see note 2], 167 ff. 149 Bekehrung und herrliches Ende Christian Friedrich Ritters, eines ehemaligen zweyfachen Mörders, der am 18. Sept. 1738 zu Dargun in Mecklenburg gerädert worden. Magdeburg 1739. 148
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popular published narratives in German Pietism. Ritter’s account fits the larger pattern of these accounts closely. In fact it was reprinted many times and without doubt would have been the most widely known conversion narrative from Dargun.150 The account, almost assuredly written by one of the Dargun preachers, portrayed almost heroically their perseverance in the process of Ritter’s conversion. The extended length of the narrative afforded not only a careful depiction of the course of Ritter’s conversion but also the opportunity to exhibit how the clergy worked within the Lutheran confessional context to guide his conversion. Consequently, the Ritter account appeared to have had a different audience than many of the manuscript conversion accounts, whose function was primarily internal and devotional. The only other printed narrative from Dargun appeared in 1747 and described the Busskampf based conversion of Zachariae’s ten-year-old son and then his exemplary death the next year.151 The depiction of his process to conversion provides a classic description of the Busskampf in which the young boy struggled with the high expectations for repentance. At one point in his struggles, he felt some joy and confidence in God, but he immediately viewed this suspiciously, “He did not want to take it as assurance, however, because he had not rightly experienced repentance. Thereupon he felt great distress and fear.”152 Indeed, the emphasis on conversion that permeated the parsonage only intensified his despair, especially when his father remarked upon other recent conversions in the community. Indeed, his father’s expectations of the Busskampf were daunting. Even as his father acknowledged his son’s powerful distress, he remarked somewhat skeptically that it “remained to be seen” whether he would reach conversion.153 Eventually, after days of despair, the boy reached a state of assurance and “true peace in his soul.” At first the narrator reported, those in the household were dubious, but he was so sure of the grace he had received, stating “that he would gladly give up his head before he would deny or conceal it,” that their doubt turned to celebration.154 The editor appended a lengthy account of his illness and death the next year to the narrative that reinforced the validity of his conversion. Even when 150 In addition to the first edition published in Magdeburg, Ritter’s account was anthologized in Johann Jacob Moser: Seelige Letzte Stunden einiger dem zeitliche Tode übergebener Missethäter. [Leipzig 1740], which appeared in four additional editions between 1740 and 1767. Another anthology included Ritter’s account as well: Ernst Gottlieb Woltersdorf: Der Schächer am Kreutz. Das ist, vollständige Nachrichten von der Bekehrung und seligem Ende hingerichteter Missethäter. [Görlitz 1753], 543–588, with later editions in 1761 and 1775–76. It appeared several other editions and collections. A modern, annotated edition is now available Manfred Jakubowski-Tiessen: Bekehrung unterm Galgen: Malefikantenberichte. Leipzig 2011, 151 [Ludolph Balthasar Leonhardt:] Bekehrung und seliges Ende eines eilfjährigen Kindes, August Ernst Friederich Zachariä. Stettin [1747]. 152 [Leonhardt,] Bekehrung und seliges Ende [see note 150], 8. 153 [Leonhardt,] Bekehrung und seliges Ende [see note 150], 11. 154 [Leonhardt,] Bekehrung und seliges Ende [see note 150], 15.
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gravely ill and conscious of death’s approach, the narrative portrayed his confidence of faith and desire to be united with Christ.155 For modern readers, there are disturbingly coercive elements in both Ritter’s and Zachariae’s accounts of conversion. Wilhelmi describes the young Zachariae’s conversion as indicative of the “the entire monstrosity of the Busskampf.”156 These two published accounts are in the main much more emotionally fraught and dramatic in their portrayal of the process of conversion than most of the manuscript accounts. Whether they give much insight into the spiritual lives of the two protagonists may be doubtful, but both accounts nonetheless present ideal types of conversion in Dargun during the 1730s and 40s that reveal a great deal about the expectations of conversion at Dargun and the ways in which the Pietists there wanted conversion to be understood by others. Where prior to the 1730s, dramatic conversion experiences were relatively unknown in Mecklenburg, by the mid-1740s the Pietists in Dargun could claim some success in propagating a broader acceptance of conversion in Mecklenburg and could count not only the ducal heir but also a number of native clergy among their adherents. Conversion experiences remained, however, not only theologically controversial but also tainted with elements of magic even among the pastors and the ducal government in Mecklenburg. Beatus and Late Opposition to Conversion The conversion efforts of a cantor in the town of Malchin not far from Dargun illustrate the ongoing potential for magical interpretations of conversion that had tragic consequences. Small groups of Pietist adherents developed in many areas of Mecklenburg in the 1740s, including Malchin. In 1743 a woman there had been convicted and was awaiting her execution in jail. Inspired, perhaps, by the story of Christian Friedrich Ritter’s conversion in Dargun, the cantor of the main church in Malchin, Wilhelm Wolrath Beatus visited her regularly. Shortly before her scheduled execution she expressed profound repentance, accepted Jesus Christ, and exhibited a “miraculous joyfulness” about her coming death. On the day of her scheduled death, “she admitted everything freely and expressed her desire to die.”157 However, for
155 [Leonhardt,] Bekehrung und seliges Ende [see note 150], 16–29. Zachariae’s older brother, Gotthilf Traugott, contributed the second account of his last hours and death. 156 Wilhelmi, Augusta [see note 7], 236. 157 Letter from Rudolph to G. A. Francke, 25 Jan 1744, Stabi, Francke Nachlaß, 18,2:12/5. The women’s name or the nature of her crime is unclear. Charges of infanticide were often responsible for capital offenses involving women in the early modern period and that may likely be the case here.
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unrelated reasons, her execution was delayed, and this drew the displeasure of the townspeople, who suspected her newly won conversion played a role in the postponement and blamed the cantor for the delay. The cantor continued to visit her, asking her to meditate on the hymn, “Mein Heyland nimmt die Sünder an,” in order to sustain her conversion and gave her a slip of paper with the lyrics written on it.158 According to Rudolph, her ebullient praise emanating from the cell during meetings with the cantor aroused more suspicion, and one of the guards now claimed to have seen the cantor hand her a piece of paper, which she supposedly ate. As a result, the authorities banned Beatus from visiting the condemned woman. The authorities soon executed the woman, but things took a turn for the worse for Beatus when Friedrich Wilhelm Crüger, senior pastor in Malchin, produced a young woman who claimed that at another time the cantor had forced her to pray before certain paintings in his house, denied the baptismal covenant (i. e. baptismal regeneration), and surreptitiously snuck a piece of paper with magical words into her butter bread, which had caused her to become quite nauseous. Pastor Crüger called for an investigation of the cantor’s actions by the ducal authorities.159 Beatus was arrested and taken to the Duke Carl Leopold’s residence in Dömitz where he was confronted with the testimony of the young woman and interrogated about the practice of eating slips of paper as well as other suspicious practices in Pietist conventicles, including now allegations of sexual impropriety.160 The ducal authorities
158 Letter from Rudolph to G. A. Francke, 25 Jan 1744, Stabi, Francke Nachlaß, 18,2:12/5. The hymn was composed by Leopold Lehr in 1731 and often appeared in Pietist stories of conversion. 159 The best account is found in the letters of Jacob Rudolph to G. A. Francke, Stabi, Francke Nachlaß, 18,2:12/2–5. As a leading figure in the Dargun movement, Rudolph was hardly a disinterested party, but most of his observations are confirmed in documents from the chancery of Carl Leopold, especially LHA Schwerin, eccl. spec. 6226. Jacob Schmidt reported to Francke on the early investigation of the case as well in a letter from 12 Oct 1743 (AFSt/H C 717 : 6). The clergy in Malchin were split on Beatus. The junior pastor Gottfried Samuel Sigismundi supported him as did some other members of the community in Malchin who wrote letters to him while he was imprisoned (LHA Schwerin eccl. spec., 6215 Malchin. 3 ff. and eccl. spec. Malchin Kantorat 6226, 44 ff.). Augusta also wrote to Duke Carl Leopold on Beatus’ behalf (LHA Schwerin, eccl. Spec. 6215, 20r). 160 Letter of Rudolph to G. A. Francke, 6 Aug 1744. Stabi, Francke Nachlaß, 18,2:12/2. Rudolph’s account cannot be seen as entirely impartial, but the details of his account, including the interrogations in Dömitz are borne out by other documents. The legal reasons for the interrogation of Beatus and the justification for torture are found in an opinion by Gottfried Rudolf Ditmar Geheimer Sekretär to Carl Leopold (LHA Schwerin, eccl. spec. 6226, 54 ff.). Wilhelmi incorrectly stated Ditmar prevented Beatus’ torture. In fact, his justification was instrumental for the application of torture. The stories of magical words on slips of paper probably had their origins in the Pietist use of the Spruchkästlein which were used in Dargun at the time. See LHA Schwerin, Unterhalt und Leibgedinge 389, Ausgaben Osterquartal 1735 and Jacob Rudolph’s letter to GA Francke, 25 Jan 1744, Staatsbibliothek Berlin, Francke Nachlaß, 18,2:12/2–5.
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arrested three more members of his Pietist circle in Malchin, one young man and two young women shortly thereafter and brought them to Dömitz. When Beatus did not confess, his interrogators subjected him to torture, which still proved ineffective in producing an admission of guilt. After a number of outside legal opinions belatedly arrived in favor of the cantor, the imprisoned Pietsts were finally all released.161 The failed case proved highly embarrassing for Carl Leopold. As a result of the accusations, Beatus had lost his position in Malchin, and the torture had left the cantor’s hands crippled.162 Remorseful, Carl Leopold granted Beatus a monthly stipend and later appointed him rector of the school in Dömitz.163 The case of Carl Leopold and the Pietists from Malchin was, according to Rudolph, widely known in Mecklenburg.164 Many in Mecklenburg openly ridiculed Carl Leopold after Beatus’ release, as a satiric low-German poem mocking Carl Leopold’s dealings with Beatus illustrates.165 Popular stories concerning Carl Leopold’s unjust torture of Beatus circulated well into the next century.166 Beatus’ case brings into focus many of the superstitious rumors that surrounded conversion in Dargun. In the 1740s the most prevalent appear to be allegations of Zettelfressen. There is no question that certain devotional practices among Pietists in Mecklenburg involved slips of paper, such as Bogatzky’s Schatzkästlein. Rudolph describes his own procedure with rolled-up slips of paper, which had Bible verses printed on them. At prayer meetings, he would dump these from a tea-tin onto the table. Participants were then to draw these at random and then look up the corresponding passages in the Bible, though even Rudolph acknowledged that rumors were so widespread that when some new participants in these meetings saw the slips of paper, they feared at first that the Pietists would ask them to eat them.167 In Mecklenburg some
161 Rudolph’s letter to GA Francke dated 6 Aug 1744, Staatsbibliothek Berlin, Francke Nachlaß, 18,2:12/2. 162 Rudolph reported that Beatus was said to have withstood the “third degree of torture” and that his “hands and feet were completely ruined” (Staatsbibliothek Berlin, Francke Nachlaß, 18,2:12/2). On degrees of torture, see Richard van Dülmen: Theater des Schreckens: Gerichtspraxis und Strafrituale in der frühen Neuzeit. München 1995, 32 f. 163 Rudolph’s letter to G.A Francke dated 6 Aug 1744, Staatsbibliothek Berlin, Francke Nachlaß, 18,2:12/2. See also, Beatus’ letter thanking Carl Leopold for the appointing him. LHA Schwerin, eccl. spec., Dömitz Rector 2364, 264r–v. 164 Rudolph noted that all “the world” spoke freely, if inaccurately, about the case (Staatsbibliothek Berlin, Francke Nachlaß, 18,2:12/2). 165 LHA Schwerin eccl. spec. 6226, 122r–124v. Carl Leopold’s detractors impudently sent the poem directly to the duke. 166 Mecklenburg’s Volkssagen. Leipzig 1859, 2, 193–194. 167 Rudolph provides a detailed description of their use in Dargun (Staatsbibliothek Berlin, Francke Nachlaß, 18,2:12/5). See also the conversion narratives discussed above as well as LHA Schwerin, Unterhalt und Leibgedinge 389, Ausgaben Osterquartal 1735.
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recounted supposed attempts to convert unsuspecting individuals by sneaking a piece of paper with magical words into their bread and butter.168 Accusations of Zettelfressen among Pietists date back to at least the early 1700s and continued periodically throughout the eighteenth-century.169 It is not difficult to imagine non-Pietists might conflate unfamiliar Pietist devotional practices with older folk traditions, that for instance involved pieces of paper given to animals to eat in order to protect them.170 Some of the stories had a fantastical nature. One told of a young man who received just such a piece of paper from a Pietist in Mecklenburg. Instead of swallowing it as instructed, he kept it hidden in his mouth to examine later, but when he put it in his hand, it turned into a toad and hopped away.171 Of course, whether Crüger, the anti-Pietist pastor in Malchin believed the plausibility of such rumors or just capitalized on them to attack Pietists such as Beatus is difficult to judge. Certainly, Carl Leopold and his learned jurist, Gottfried Rudolf Ditmar, took the charges of Zettelfressen seriously enough to arrest Beatus and several others and in Beatus’ case proceed to torture. The debacle of the Malchin case further injured Carl Leopold’s reputation, but it also brought into disrepute some of the wilder charges made against Dargun and its emphasis on conversion. Occasionally allegations resurfaced of a Quackerpulver. In 1747, the credulous Geheimrat Ditmar carefully recorded another case of a girl who claimed that two spinster women in Wismar had sought to convert her to the “Dargun faith” by hiding a black powder in her 168 This alleged action particularly animated Carl Leopold and his interrogators in the case of Beatus. See the repeated interrogatories in: LHA Schwerin eccl. spec. 6226, 54v. Others interrogated in Dargun later expressed surprise that the authorities questioned them so much about “Zettelfressen” and so little about their Pietist views (Rudolph’s letter, 6 Aug 1735. Staatsbibliothek Berlin, Francke Nachlaß, 18,2:12/5). 169 Johann Georg Rosenbach’s attempts to disabuse would-be adherents that he distributed pieces of paper meant to be eaten are almost comical, but opponents seriously accused him of being a “Zettel-Fresser” (Johann Georg Rosenbach: Wunder- und Gnaden-volle Führung Gottes Eines auff dem Wege der Bekehrung Christo nachfolgenden Schaafs Oder Historische Erzehlung Was sich mit mir [. . .] von 1701 biß 1704 zugetragen. (O. O. 1704), 353–358). The radical Pietist printer, Christoph Saur, talked about the Schatzkästlein and the “lie of the Zettelfressen” that it occasioned. Sauer quoted in Julius Friedrich Sachse: The German Pietists of Provincial Pennsylvania: 1694–1708. Philadelphia 1895, 101. Sachse also claimed that Kelpius used a similar Schatzkästlein among his followers in the early 1700s, but he gives no source for this claim (ibid., 100 f.). 170 Nineteenth century folklorists cite instances from South Germany and Bohemia in which peasants fed farm animals pieces of paper marked with Bible verses, phrases, and crosses to prevent their being bewitched or becoming ill. A. Treichel: Rundmarken und Rillen an Kirchenwänden. In: Nachrichten über deutschen Alterstumkunde 12, 1880, 46. See also Beiträge zur Geschichte Böhmens 2/2, 1864, 128. For other examples of such „Eßzettel” see Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Hg. v. Eduard Hoffmann-Krayer and Hanns Bächtold-Stäubli. 10 vols. Berlin, 1927–1942, 1, 383, 9, 321 f. 171 Rudolph recounts this “ridiculous” story in a letter to G. A. Francke in order to illustrate the depth of such superstitious convictions in Mecklenburg. Staatsbibliothek Berlin, Francke Nachlaß, 18,2:12/5.
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bread smeared with butter.172 But this appears to be one of the last allegations of this sort that the Mecklenburg authorities took seriously, and with Carl Leopold’s death that same year, a greater consistency retained to the management of church affairs in Mecklenburg. Consolidation? Indeed, by 1747 revivals and conversions were no longer such unusual events in Mecklenburg. When the long-term pastor from the town of Sternberg, David Franck, reported to his superintendent on the recent revival in his parish, he did so with little defensiveness, putting it in continuity with his three decades of pastoral experience in Sternberg, a marked change from the wild accusations that surrounded the first revivals in and around Dargun a dozen years earlier.173 By no means, did Augusta and her Pietist clergy succeed in winning a majority of the clergy in Mecklenburg to their side, but over time, they gradually accumulated more and more support within the territorial church. In letters to fellow Pietists, the Darguner triumphantly enumerated Mecklenburg clergy who had “been converted in office” and allied themselves with the Pietists.174 They were also successful in doggedly pursuing appointments of “converted” candidates to positions within their sphere of influence. After violent opposition had thwarted the election of her candidates in Jördenstorf in 1736, Augusta left the pastorate unfilled until 1748 when she finally succeeded in nominating three “believing candidates” of her choosing, thus ensuring that Jördenstorf would receive a Pietist minister afer all.175 Opposition still remained in the duchy, but as Schmaltz notes, by the late 1740s the consistory lost any desire to interfere in most matters, especially in ministerial appointments.176 On her deathbed in 1756, Duchess Augusta noted with delight and many tears that God had granted her the opportunity to witness the election of Leopold Flörke in Altkalen. Undoubtedly, she saw it as a triumph that a young man with close ties to the Dargun movement had replaced Joachim Friedrich Sarcander, who from the earliest days of the revival had been one of the movement’s most implacable foes.177 Augusta also expressed her pleasure that 172
LHA Schwerin, eccl. spec. 1577. Wilhelmi notes that the revival in Sternberg was largely independent from direct influence from Dargun. Wilhelmi, Augusta [see note 7], 265, 281–283. 174 Letter of Jacob Schmidt to G.A Francke, AFSt/H C 717:10 (1747). See also AFSt/H C 717:9 (1746). 175 Letter of Jacob Schmidt to G. A. Francke, (1748) AFSt/M 3 H 32:148. 176 Schmaltz, Kirchengeschichte Mecklenburgs [see note 2], 163. 177 Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt, Halle (hereafter ULB Halle), StolbergWernigerode Zh-59 (1), f. 252r. See Willgeroth, Pfarren [see note 12] 1, 78, 565. On Sarcander, ibid., 1, 565, Wilhelmi, Augusta [see note 7], 144, 156–160. 173
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her former Pagenhofmeister Christian Buk had become pastor in the town of Schwaan after Pietists at court in Schwerin had engineered the removal of his chief rival from consideration.178 With her death, the court of Dargun came to an end and with it the duchy’s most ardent center of Pietism. However, her sustained efforts over two decades in promoting candidates played no small role in the long-term success of Pietism within Mecklenburg during the mid-eighteenth century. Pietists always remained a minority, but with the conversion of the ducal heir the Pietists had gained a powerful advocate in Mecklenburg, and after his father’s death in 1756, Friedrich the Pious sought to take the duchy in an explicitly Pietist direction, thus continuing Augusta’s legacy. When the University of Rostock resisted his control and the appointment of the Pietist theologian Christian Albrecht Döderlein, Friedrich secured a charter for a new university and established the University of Bützow along Pietist lines in 1760 with Döderlein as its first rector.179 Modeled on Halle, the University of Bützow and its Pädagogium never lived up to its expectations, yet during Friedrich’s reign, it exercised a strong influence on the training of clergy for Mecklenburg until his successor reunited it with the University of Rostock in 1789. Conclusion Why did the movement in Dargun succeed as it did in a territory with a long history of opposition to Pietism? First, the instability of Mecklenburg’s government during the reign of Carl Leopold (1713–1747) left the territorial church structures severely weakened. Removed from most ducal authority in 1719, Carl Leopold retained much authority over religion in the duchy. Indeed, the clergy remained doggedly loyal to Carl Leopold, despite his own religious inconstancy, flirting at different moments with both Catholicism and radical Protestantism. The Dargun movement did not lack for zealous opponents—whether they were capable is another matter—but it is striking how little leverage the duchy’s superintendents or consistory, despite their misgivings, could exercise over the new clergy that Augusta brought to Mecklenburg. The decline of the university in Rostock, particularly the pro-
178
ULB Halle, Stolberg-Wernigerode Zh-59 (1), f. 252v. Willgeroth, Pfarren [see note 12] 1,
243. 179 Originally from Ansbach, Döderlein studied in Halle and took an early interest in the Dargun movement, participating in the revivals on the von Mohlzahn estate in Teschow and elswhere during the 1740s. Wilhelmi, Augusta [see note 7], 262 f. See also, AFSt/H C717:7. On the founding of the new university, Matthias Asche: Von der reichen hansischen Bürgeruniversität zur armen mecklenburgischen Landeshochschule. Das regionale und soziale Besucherprofil der Universitäten Rostock und Bützow in der Frühen Neuzeit. Stuttgart 2000, 71–79.
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minence of the theology faculty, left the duchy without the authoritative voices to counter the Pietist understanding of conversion propagated in Dargun. Outbursts against the Pietists such as that at Jördenstorf in 1738 may have signalled deep resistance to elements of the Pietist program, but the failure to carry out the election that Carl Leopold had approved only underscored the weakness of the territorial church structures during this period. Second, Augusta’s sustained efforts illustrate the changes in religious practice that someone in her position could put in place. Over more than two decades she exploited the weakness of the territorial church and pursued an effective pattern of Pietist reform. When she encountered resistance, she skillfully drew on her connections to some of Europe’s leading rulers to support her, including Christian VI of Denmark and Friedrich Wilhelm I of BrandenburgPrussia, both of whom intervened on her behalf with the duchy’s consistory. Internally, Augusta took full advantage of her patronage rights in the parishes under her control to seek candidates that fulfilled her expectations of an active pastorate. As with Schmidt, Ehrenpfort, and Zachariae, she imported candidates from other parts of Germany but she also promoted candidates from within Mecklenburg who agreed with her Pietist agenda. At the parish level, Augusta’s efforts show how a powerful patron could manipulate the tradition of clerical election in Mecklenburg to install favored candidates. Augusta’s efforts went beyond simply appointing candidates that she and her fellow Pietists considered appropriate. She also devoted significant resources to create a more intense religious culture in the parishes under her control. In many villages, she installed teachers with Pietist credentials and supplemented their salaries significantly. One report from 1739 tells that of twelve local schoolmasters, the duchess had appointed six „believing” individuals and had built new houses for some of them. In other cases where she „couldn’t get rid of the old unconverted” schoolmasters, she appointed another alongside him and simply paid the additional salary.180 Overall, Augusta improved the availability and quality of instruction of the schools in the area around Dargun, even as a chief aim remained religious edification.181 Augusta also showered advantages on her chosen clergy. The non-pastoral burdens on the rural clergy in the eighteenth-century were considerable, and the financial support she offered them afforded them the possibility to devote significantly more time to their pastoral duties. For one village parish that had the reputation of being especially destitute, she offered her new preacher a salary supplement of 150 Reichstaler at a time when the salary of a Rostock professor amounted to 200 Reichstaler—a remarkable contrast to the typical remuneration of the rural clergy. In addition to increased salaries, she built 180
LHA Wernigerode, Rep. H.Stolberg – Wernigerode Nachlass Henrich Ernst, I B Nr. 20,
4v–5r. 181 On Augusta’s efforts in the schools in and around Dargun Wilhelmi, Augusta [see note 7], 251–255.
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them new parsonages, and in some cases even gave them fine carriages and horses.182 These financial advantages allowed the clergy to devote more time to their work in the parishes and at court in Dargun. Many of the Pietist clergy from outlying areas preached during weekly services in the court chapel and many led prayer-meetings at court as well as in their parishes. In addition, the clergy supported by Augusta had the means to hire theology students as tutors and assistants in their far flung parishes. A number of sources mention the presence of these students. In a letter to G. A. Francke, Schmidt describes how in one of his villages belonging to his parish, a theology student sparked a revival there.183 The presence of these committed theological students would have reinforced the revival in and around Dargun, just as the rich regimen of prayer-meetings, preaching, and other church services all contributed to an intensive form of religious culture. Third, amid these conditions, the Dargun clergy applied a form of conversion-oriented Pietism that could function well in the rural parishes and especially in the Hofgemeinde. There is no question that the introduction of conversion practices focused on the Busskampf marked an abrupt departure from previous parish practice in Mecklenburg and resulted initially in opposition from many quarters, especially the established clergy. And while these „new measures” also sparked distrust and division, evoking alternate explanations such as Quackerpulver, they also proved relatively successful in introducing new ways of framing religious experience in Mecklenburg and making this form of conversion an accepted part of religious life, at least for a minority within in the territorial church. While not insubstantial, their adherents, however, did remain a minority among the clergy, and even within parishes where Dargun Pietists served for decades, the number of „converted” never constituted a majority as far as we know. One reason that the Dargun Pietists succeeded in the way that they did was their ability to tie their Pietist beliefs to other practices of the church. They retained a strong emphasis on clerical leadership. As the conversion narratives of the cowherd or Ritter show, the clergy remained instrumental in the process of conversion, often determining when a Busskampf had been sufficient or whether one had reached a true assurance of one’s salvation. These clergy wove their practices of conversion into the confessional structure of the Lutheran church in Mecklenburg. Preaching, communion, Lutheran hymnody all remained prominent features within narratives of conversion. Especially after Zachariae arrived in 1735, the Dargun Pietists used their conversion-oriented Pietism to drive out ideas that they considered heterodox. Their opponents accused them of sectarianism, but in fact the Dargun Pietists
182 183
Wilhelmi, Augusta [see note 7], 133 f. AFSt/H C 717 : 4, letter from 22 Dec 1741.
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considered themselves confessional Lutherans who strengthened rather than weakened their confessional allegiance. These successes of Dargun Pietism reveal, further, that the almost singleminded emphasis on conversion and especially the signal role of the Busskampf remained controversial in German Pietism, even in circles related to G. A. Francke and Hallensian Pietism. The implementation of a rigid schema of conversion in Dargun divided Pietist from Pietist as much as it set itself in opposition to Lutheran orthodoxy. Few would have been opposed to conversion as a general category of religious experience, but as the leaders of the Dargun movement schematized the process of conversion, deploying concepts drawn from A. H. Francke and especially Samuel Lau in a new fashion, they evoked stiff opposition. While their orthodox opponents in Mecklenburg tended to fall back on fantastical, superstitious, and even magical explanations to discredt the revival at Dargun, illustrated by the case of the cantor of Malchin, many moderate Pietists, especially Russmeyer, excoriated the Darguner for their inflexibility and decried its divisiveness.
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KLAUS VOM ORDE
Ein unveröffentlichter Traktat Philipp Jakob Speners Von der Unwürdigen Communion aus dem Jahr 1681 Nach der von Johannes Wallmann vorgeschlagenen Einteilung wird Speners Frankfurter Wirksamkeit in drei Phasen eingeteilt, die jeweils durch die Umwandlung der collegia pietatis (1674/75) und dessen Verlegung in die Barfüsserkirche (1682) eingegrenzt werden.1 Die beiden letzten Phasen sind bislang bei Weitem nicht so bekannt und erforscht wie es für die erste gilt, die von Wallmann umfassend dargestellt wurde.2 Einen ersten – quellengesättigten – Überblick gibt Martin Friedrich.3 Inzwischen ist die Quellenlage durch die historisch-kritische Ausgabe der Briefe Speners aus den Jahren 1675 bis 16814 weitaus breiter. Freilich sind die bereitgestellten Quellen noch nicht annähernd erschöpfend ausgewertet, so dass eine differenzierte Beschreibung der Frankfurter Wirkungszeit Speners von 1675 bis zu seinem Weggang nach Dresden im Sommer 1686 noch aussteht. Durch die Unterteilung dieser Zeit in die beiden genannten Phasen kommt dem Jahr 1682 eine besondere Bedeutung zu. Die Separation einer Reihe von Anhängern Speners wurde nun so offenbar, dass Spener die Augen nicht mehr vor einer Entwicklung verschließen konnte, die er wohl weitaus mehr geahnt hatte, als er dies nach außen zugeben wollte, um seine Arbeit in Frankfurt nicht zu gefährden.5
1
Johannes Wallmann: Der Pietismus. Göttingen 2005, 95. Johannes Wallmann: Philipp Jakob Spener und die Anfänge des Pietismus. Tübingen 21986, 196–354. 3 Martin Friedrich: Frankfurt als Zentrum des Pietismus. In: Von der Barfüßerkirche zur Paulskirche. Beiträge zur Frankfurter Stadt- und Kirchengeschichte. Hg. v. Roman Fischer. Frankfurt/ Main 2000, 187–202. 4 Philipp Jakob Spener: Briefe der Frankfurter Zeit. Bd. 2–5. Hg. v. Johannes Wallmann. Tübingen 1996–2010 [im Flgd. abgekürzt: Frankfurter Briefe]. 5 Vgl. die abwiegelnden Ausführungen in einer ganzen Anzahl von Briefen (Frankfurter Briefe, Bd. 3, Briefe Nr. 16, Z. 1–15, Nr. 19, Z. 20–24, Nr. 46, passim, Nr. 48, Z. 50–84, Nr. 56, Z. 64–81, Nr. 57, 15–22, Nr. 61 passim, Nr. 62, Z. 5–58, Nr. 126, Z. 7–71; Bd. 4, Nr. 100, Z. 40– 95, Nr. 119, Z. 58–67 [mit erstmaligem Vorkommen des Namens „Pietisten“] u. ö.) und v. a. in seinem „Sendschreiben An einen Christeyffrigen außländischen Theologum, betreffende die falsche außgesprengte aufflagen/ wegen seiner Lehre/ und so genanter Collegiorum pietatis, mit freulicher erzehlung dessen/ was zu Franckfurth am Mayn in solcher sache gethan oder nicht 2
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Die Separation von der Kirche konnte man in der damaligen Zeit nur dadurch zum Ausdruck bringen, dass man auf den Gottesdienstbesuch und den Gebrauch der Sakramente verzichtete, also auf diejenigen Kennzeichen, die in den lutherischen Bekenntnisschriften als die Merkmale der christlichen Gemeinde benannt sind.6 Johann Jakob Schütz, der Mitinitiator des Frankfurter Pietismus,7 war schon schon seit längerer Zeit nicht mehr im Gottesdienst erschienen und hatte auch seit 16768 auf die Teilnahme am öffentlichen Abendmahl verzichtet.9 Spener wusste dies, wollte es aber nicht zu einem Eklat kommen lassen.10 Dies ließ sich aber nicht mehr verhindern, als dem Frankfurter Senior ein Brief Christian Fendes (1651–1746), eines Mitarbeiters von Schütz und eifrigen Vertreters der sich in der folgenden Zeit separierenden Pietisten, zugespielt wurde, in dem dieser sein Fernbleiben vom Abendmahl begründet.11 Dieser Brief stammte schon aus dem Jahr 1680, wurde Spener aber erst im Jahr 1682 bekannt. Fende führt aus, wenn beim Abendmahl „die wahre Vereinigung der Glieder an Christo als dem Haupt und dem lebendigmachenden Geist geschieht“,12 kann dies nicht der Fall sein, wenn der „Haufen der Menschen der Welt nach ihrer Gewohnheit“13 daran teilnimmt. Er selbst halte es für eine „grosse Heuchelei [. . .], weil ich weiß, wann die Vorsteher, Lehrer und Verteidiger der weltlichen communion wissen würden gethan werde“ (Frankfurt/Main 1677 [ND Philipp Jakob Spener: Schriften. Bd. 1. Hildesheim 1979]). 6 Confessio Augustana, Art. 7 (Die Bekenntnisschriften der evangelisch=lutherischen Kirche. 11 1992 [im Flgd. BSLK], 61.1). 7 Andreas Deppermann: Johann Jakob Schütz und die Anfänge des Pietismus. Tübingen 2002. 8 Ebd., 182. 9 In dem noch zu bedenkenden Brief Christian Fendes [s. Anm. 11] wird freilich davon berichtet, dass Spener abends und bei sich zu Hause mit seinen Freunden, die das öffentliche Abendmahl mieden, das Abendmahl feierte (Frankfurter Briefe [s. Anm. 4] 4, Brief Nr. 199, Z. 3 f.). 10 Zusammengefasst in Deppermann [s. Anm. 7], 186 f. Speners grundsätzliche Strategie in dieser Frage lässt sich in einem Schreiben an Johann Adolf Rhein (1646–1709) erkennen; dieser stammte aus Frankfurt und hatte dort 1677 Kanzelverbot erteilt bekommen (offiziell wegen zu langer Predigten, Spener führt jedoch weitere Klagen an, die gegen ihn erhoben wurden und die in den Kontext der Gerüchte um die Pietisten passen; Frankfurter Briefe [s. Anm. 4] 3, Brief Nr. 46, Z. 436–446), er lebte nun als Predigtamtskandidat in Augsburg und Spener mahnt ihn in einem Brief vom 21. 01. 1678: „In dem übrigen habe hiermit auch mit meinen lieben bruder seiner person wegen einiges in freundlichem vertrauen zu überlegen, alß versichert, daß er solches in liebe auffnehmen werde. Ich bin berichtet worden, daß derselbe in A[ugsburg] sich annoch biß daher der öffentlichen communion enthalten, so ich zwar damit entschuldiget, daß derselbe etwa sein gewißen noch keinem under den predigern anvertrauen mögen [. . .]. Ich sorge aber sehr, daß mein liebster freund, wo er die sache länger auffschieben wolte, damit nicht nur allein ihm selbs, so er vielleicht wenig achten möchte, widerwertigkeit zuziehen, sondern andere nicht wenig ärgern u. der gantzen sache eine schwehre u. gefehrliche aufflage verursachen möchte, ob gingen alle consilia propagandae pietatis auff eine der kirchen schädliche u. gefährliche trennung u. schisma hinauß [. . .].“ (Ebd., Brief Nr. 115, Z. 90–102). 11 Veröffentlicht in: Frankfurter Briefe [s. Anm. 4] 4, Nr. 199. 12 Ebd., Z. 5 f. 13 Ebd., Z. 10 f.
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meinen Glauben von ihrer communion, sie würden mich sicherlich nicht dazu lassen. Indem ich mich verstelle, um hinzugehen, stehle ich’s ihnen ab und begehe einen Betrug und Falschheit an ihnen“.14 Fende führt also ein zweifaches Motiv für sein Verhalten an: zum einen seine eigene Vorstellung von der Bedeutung des Abendmahls und im Umkehrschluss das Götzendienerische bei all denen, die daran teilnehmen, obwohl sie offensichtlich nicht wahrhaft zu den „Gliedern an Christo“ gehören. Zum anderen geht er auf das Verhältnis zwischen sich selbst und den Geistlichen, die ihm das Abendmahl reichen, ein. Ihnen gegenüber komme er sich wie ein Dieb vor, der ihnen etwas „stehle“, was sie ihm nicht gewähren würden, wüssten sie über seine Meinung zum Abendmahl Bescheid. Während die erste Begründung bei Menschen, die die Teilnahme am Abendmahl verweigerten, häufig genannt wird, ist die zweite durchaus überraschend. Nach 1Kor 6,10 werden Diebe zu denjenigen gerechnet, die nicht in das Reich Gottes kommen werden. Um dieser Gefahr zu entgehen, darf Fende, also nicht am Abendmahl teilnehmen; das, was ein pharmakon athanasias ist, wird für ihn geradezu zu einem lebensgefährlichen Gift, durch dessen Genuss er in Gefahr steht, aus der Heilsgemeinde ausgeschlossen zu werden. Er immunisiert sich damit schon vorab gegen den häufig verwendeten Vorwurf, er könne die innere Haltung der Mitkommunikanten nicht bewerten, wenn er nicht am Abendmahl teilnehme, um sich nicht an der Sünde anderer teilhaftig zu machen. Für Fende spielt es überhaupt keine Rolle mehr, ob diese heuchlerisch oder unter Vorspiegelung falscher Tatsachen zum Abendmahl gehen. Mit seiner Argumentation macht er sich von der Kritik der anderen unabhängig. Dieser – überraschende – Aspekt der Abendmahlsproblematik liegt Spener noch nicht vor Augen, als er im Frühjahr 1681 den Traktat über die Communium der Unwürdigen verfasst. Allerdings ist auch der Skrupel in Bezug auf das Abendmahl, der seine Abhandlung als Antwort auslöst, durchaus überraschend. Denn auch hier geht es nicht um die Frage der Kommunikanten, ob und inwieweit sie selbst oder die Mitkommunikanten würdig seien. Anlass ist vielmehr die Frage eines Geistlichen, ob und inwieweit er selbst sich schuldig macht, wenn er das Abendmahl an Unwürdige austeilt.15 Die Problematik wird von dem Wertheimer Superintendenten Johann Winckler formuliert, der seit spätestens 1673 mit Spener im Briefkontakt stand und sich schon in seiner Zeit als Hofprediger in Darmstadt als Freund und Gesinnungsgenosse Speners gezeigt hatte.16 Seine erste Frau, Elisabeth 14
Ebd., Z. 21–24. Allerdings wurde diese Frage gelegentlich schon in der Reformationszeit bedacht (vgl. Art. „Bann, kirchlicher“, in: RE3 2, 1897, 383). 16 Die neueste Arbeit über Johann Winckler ist Claudia Tietz: Johann Winckler (1642–1705). Anfänge eines lutherischen Pietisten. Göttingen 2008, die freilich nur sein Leben einschließlich der Darmstädter Hofpredigerzeit, also bis 1678, umfasst. Ergänzt werden muss sie nach wie vor durch Johannes Geffcken: Johann Winckler und die Hamburgische Kirche seiner Zeit. Hamburg 1861. 15
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Magdalena von Lindau (gest. 1673), war vermutlich eng befreundet mit Johanna Eleonora von Merlau, der späteren Frau Johann Wilhelm Petersens, und anderen pietistisch gesinnten Menschen.17 Winckler hatte sogar letztere als zweite Ehefrau gewinnen wollen, was jedoch am Veto von Vater und Onkel scheiterte.18 Er hatte die Frankfurter collegia pietatis besucht19 und bald nach dem Antritt seines Amtes in Darmstadt selbst dort ein solches gegründet, dem vornehmlich Leute aus der Hofgesellschaft angehörten.20 Es verwundert demnach nicht, dass er auch in die Auseinandersetzung um die Schrift „Symphonesis Christianorum“21 geriet, in der der Darmstädter Kammerrat Wilhelm Christoph Kriegsmann (1633–1679) private Erbauungsstunden verteidigte. Im Jahr 1678 verließ er Darmstadt, um als Pfarrer an die Mannheimer Konkordienkirche zu gehen.22 Seit April 1679 war er dann Pfarrer und Superintendent in Wertheim,23 wo er, wie Spener wiederholt in seinen Briefen schreibt, eine gesegnete Wirksamkeit entfaltete und sogar ein collegium pietatis in seinem Haus veranstaltete.24 Dennoch muss auch diese Wirksamkeit einige Schatten geworfen haben, die die Bitte des Wertheimer Superintendenten provozierten. Denn am 21. Juni 1681, nachdem er Speners Aufsatz erhalten hatte, meldet er diesem: „Unterdeß haben diejenige, die meinem gewißen sonderlich beschwerlich sind, wieder communiciret“.25 Es ist auch noch darauf hinzuweisen, dass im Frühjahr 1681, also in der gleichen Zeit, in der er sich mit der Frage nach der communio indignorum beschäftigte, eine wohl aus seiner Feder stammende – unveröffentlichte – Verteidigung von Johann Jakob Schütz’ Gedenkbüchlein kursierte.26 In diesem Kontext könnten möglicherweise Anlässe für die Frage nach der Teilnahme Unwürdiger am Abendmahl zu finden sein. Darüber hinaus ist es nicht auszuschließen, dass Winckler durch Kontakte zu den Frankfurter Pietisten, die ihre separatistische Meinung
17
Tietz, Winckler [s. Anm. 16], 151–153. Ebd., 155–159. 19 Ebd., 179. Deppermann, [s. Anm. 7], 270 Anm. 303, vermutet, dass Winckler über Schütz in Kontakt mit Spener gekommen sei. 20 Tietz, Winckler [s. Anm. 16], 179–191. 21 Wilhelm Christoph Kriegsmann: Symphonesis Christianorum Oder Tractat Von den einzelen und privat-Zusammenkunfften der Christen/ Welche CHristus neben den Gemeinen oder Kirchlichen Versammlungen zu halten eingesetzt. Frankfurt/Main: J. D. Zunner 1678. 22 Tietz, Winckler [s. Anm. 16], 196–230. 23 Spener an Ahasver Fritsch am 23. 04. 1679: „Wincklerus [. . .] nunc a paucis diebus Comitatus Wertheimii Superintendens“ (Frankfurter Briefe [s. Anm. 4] 4, Brief Nr. 30, Z. 56 f.). 24 Zu den zusammenfassenden Hinweisen auf Wincklers Wertheimer Tätigkeit s. Frankfurter Briefe [s. Anm. 4] 4, 142, 184, 228, 306, 494 u. 603. Zum collegium s. ebd., Brief Nr. 112, Z. 196– 198: „Autoritas etiam concessa est privatum domi suae, qualem ego habeo, instituendi congressum“. 25 Winckler an Spener am 21. Juni 1681 (Archiv der Franckeschen Stiftungen [im Flg.: AFSt], A 159: 4e). 26 Spener an Philipp Albert Orth am 7. März 1681 (Frankfurter Briefe [s. Anm. 4] 5, Brief Nr. 21, Z. 30–33); vgl. dazu Deppermann, Schütz [s. Anm. 7], 160. 18
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Spener noch zu verheimlichen versuchten, einen weiteren Impuls für seine Frage nach der würdigen Teilnahme am Abendmahl erhielt. Denn diese Problematik war, wie der Brief Fendes zeigt, bei der beginnenden Separation virulent. Spener muss die große Bedeutsamkeit erkannt haben. Dass er sich die Zeit nahm, für einen Freund ein ausführliches Gutachten zu schreiben, war zwar nicht ungewöhnlich, dass er dieses aber mehrfach abschreiben ließ, die Abschriften sogar einer eigenen Korrekturlektüre unterzog27 und sie kursieren ließ, lässt erkennen, wie wichtig für ihn die Frage war.28 Er geht in dieser speziellen Frage nun so vor, wie er es in der Einleitung der Pia Desideria29 vorgeschlagen hatte. Dort hatte er formuliert: Anstelle eines Konzils, das nicht mehr wie in früheren Zeiten durchführbar war, sollten „Christliche Prediger untereinander selbs in der Furcht des Herrn durch so wol Schreiben unter sich / als auch [. . .] offentlichen Truck diese wichtige Sachen mit einander (überlegen) / und was etwa der Gemeinde Gottes dienlich / reifflich (erwegen).“30 Aus den Briefen des Jahres 1681 lassen sich, neben Winckler, der den Traktat veranlasst hatte, sechs weitere „Teilnehmer“ dieser schriftlichen Debatte feststellen. Es sind fromme und um die Ehre Gottes bemühte Freunde31, die dazu aufgefordert werden, sein Manuskript kritisch zu begutachten: „Eam vero tractationem hinc inde amicis mittam, qui censeant suamque de ea sententiam ad me perscribant.“32 Am 26. April 168133 sandte Spener seinen Traktat an den Rigaer Generalsuperintendenten Johann Fischer (1636–1705).34 Dieser stand schon seit einem Besuch in Frankfurt im Jahr 1673 sowohl mit dem Frankfurter Senior als auch 27
Das lässt sich aus den autographen Korrekturen in K1 erkennen. Allerdings hat Spener die Gewohnheit, manche Schriften vor der Publikation erst einige andere zur kritischen Durchsicht durchlesen zu lassen. Bekannt ist dies bei den Pia Desideria, die von den Frankfurter Kollegen vor der Veröffentlichung gelesen wurden (PD 4,38–5,12 = PDdeutsch/lat., 8,21–35; vgl. die vollständige Angabe in Anm. 29). Auch die Allgemeine Gottesgelehrtheit als Antwort an Georg Conrad Dilfeld ist vielleicht zunächst von einigen Freunden gelesen worden (s. Spener, Frankfurter Briefe [s. Anm. 4] 4, Brief Nr. 144, Z. 22–25 [gegen die Deutung von Anm. 7 an diesem Ort]). 29 Philipp Jakob Spener: Pia Desideria. Hg. v. Kurt Aland. 3., durchges. Aufl. Berlin 1964 (im Flgd: PD) 4, 11–18; parallel dazu wird im Folgenden auf die zweisprachige (deutsch-lateinische) Ausgabe: Pia Desideria. Hg. v. Beate Köster. Gießen 2005 (im Flgd: PD-deutsch/lat.) verwiesen. 30 PD 4, 13–18 (= PD-deutsch/lat., 6, 30–36). 31 Fünfmal erwähnt er mögliche Adressaten, die jeweils als „amici“ bezeichnet werden (Frankfurter Briefe [s. Anm. 4] 5, Briefe Nr. 58, Z. 21, Nr. 46, Z. 94, Nr. 47, Z. 78 f., Nr. 83, Z. 43, und Nr. 84, Z. 136). Dreimal werden sie als fromm und um die Ehre Gottes bemüht näher beschrieben (Nr. 47, Nr. 46 und Nr. 84). 32 Spener an Johann Wilhelm Petersen am 22. 04. 1681 (Frankfurter Briefe [s. Anm. 4] 5, Brief Nr. 46, Z. 94 f.). 33 Frankfurter Briefe [s. Anm. 4] 5, Brief Nr. 47. 34 Zu diesem s. Johannes Wallmann: Beziehungen des frühen Pietismus zum Baltikum und zu Finnland. In: Ders.: Theologie und Frömmigkeit im Zeitalter des Barock. (Gesammelte Aufsätze 1). Tübingen 1995, 249–281, hier 258, 264–270 und RGG4 3, 148. 28
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mit Johann Jakob Schütz in Verbindung.35 Er setzte sich für eine Verbesserung des Kirchenwesens im Baltikum ein und unterhielt eine dauerhafte Freundschaft mit Spener, auch noch als er 1701 als Generalsuperintendent und Konsistorialrat im Herzogtum Magdeburg nach Deutschland zurückkehrte. Zu erwähnen ist, dass das Sendschreiben An einen Christeyffrigen außländischen Theologum36 an Fischer gerichtet war. Der nächste uns bekannte Empfänger des Traktats ist Georg Grabow (1637–1707), der seit 1675 als Konrektor in Cölln/Spree wirkte, bevor er 1684 auf Betreiben Speners Rektor in Frankfurt am Main wurde. 1691 zog er sich von seinen Aufgaben zurück und lebte als Privatmann in Leipzig und Berlin.37 Ihm schrieb Spener irgendwann am Ende Juli oder Anfang August 1681.38 Seit 1678 standen die beiden im Briefwechsel. Grabow hatte seine Schrift „Paraenesis super vera docendi ratione in scholis Christianis“39 – offenbar noch als Manuskript – nach Frankfurt gesandt. Spener nahm die Schrift Grabows mit großem Wohlwollen wahr40 und empfahl sie immer wieder nachdrücklich zur Lektüre.41 Der Brief an den Altenstädter bzw. Rodenbacher Pfarrer Johann Heinrich Jung (1647–1704) ist nicht überliefert. Dagegen sind allein von ihm die schriftlichen Anmerkungen und ein Gegenbrief vom 26. August 1681 erhalten. Beide Texte werden hier im Anschluss an den Traktat Speners ebenfalls publiziert. Jung gehörte zu einer Gruppe von Speneranhängern in der Wetterau, nördlich von Frankfurt gelegen.42 Nach der Information seines Enkels Wilhelm Friedrich nahm er schon gleich zu Beginn an den collegia pietatis in Frankfurt teil.43 Mit Schütz stand er im Briefkontakt und dieser berichtete ihm im Jahr 1675 von den Fortschritten der Edition von Schriften Jakob Böhmes und Christian Hoburgs in Amsterdam.44 Im Jahr 1688 wurde Jung Pfar-
35
Wallmann [s. Anm. 34], 258. S. Anm. 5. 37 Lothar Noack u. Jürgen Splett: Bibliographien. Brandenburgische Gelehrte der frühen Neuzeit. Berlin-Cölln 1640–1688. Berlin 1997, 165–173. 38 Frankfurter Briefe [s. Anm. 4] 5, Brief Nr. 83. 39 Georg Grabow: Paraeneses, super Vera docendi Ratione in Scholis Christianis, quibus Renata Iuventus, Spiritu S. bene iuvante, ad Imaginem Jesu Christi quotidie magis magisque renovari potest, ac magnopere debet; nisi Disciplinae vitio plus deformetur, quam conformetur: in Solius Dei gloriam, nec non aegrae Ecclesiae salutem. Berlin: Runganius 1680. 40 S. Frankfurter Briefe [s. Anm. 4] 4, Brief Nr. 2 Anm. 1. 41 Spener an Hermann von der Hardt im Jahr 1679 (Frankfurter Briefe [s. Anm. 4] 4, Brief Nr. 86, Z. 228–232; vgl. weiter Briefe Nr. 129, Z. 20–22, Nr. 158, Z. 35–37; Bd. 5, Brief Nr. 52, Z. 51–54; Brief vom 07. 08. 1690 [Philipp Jakob Spener: Consilia Theologica 1. Frankfurt/Main: Zunner und Jung 1709, 406]). 42 Wilhelm Friedrich Jung: Der in dem Grafen von Zinzendorf noch Lebende und Lehrende wie auch Leidende und Siegende Doctor Luther. Frankfurt/Main, Leipzig 1752, 15, dazu in der Corrigenda-Liste am Anfang des Bandes (unpaginiert). 43 Ebd., 12 f. 44 Deppermann, Schütz [s. Anm. 7], 342. 36
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rer und Inspektor in der Grafschaft Laubach, wo Speners enge Freundin Benigna von Solms-Laubach lebte. Von 1692 an war er Pfarrer in Berstadt/Wetterau und von 1695 Stiftsdechant in Lich. Auch seinem Schwager Johann Heinrich Horb (1645–1695)45 sandte Spener eine Abschrift seines Traktats.46 Dieser war seit 1679 Superintendent in der fränkischen Reichsstadt Windsheim. Schon zu den Pia Desideria hatte er ein Bedenken verfasst, das ohne Namensnennung von Spener an die Separatausgabe angehängt worden war.47 Seit dieser Zeit wendete er sich immer stärker dem Reformprogramm seines Frankfurter Schwagers zu.48 Im Anschluss an eine Kur in Bad Schwalbach im Sommer 1677 besuchte er auch das nahegelegene Frankfurt und lernte dort diejenigen kennen, die sich im Saalhof zu collegia pietatis trafen49 und die Horb „heilige und erleuchtete Gotteskinder“50 bezeichnete. Neben der Gastgeberin Maria Juliane Baur von Eyseneck (1641– 1684) spielten Johann Jakob Schütz und Johanna Eleonore von Merlau, die im Jahr 1680 Johann Wilhelm Petersen heiratete, eine führende Rolle.51 Dass Horb, der sich immer stärker zu einem Vertrauten Speners entwickelte, gerade im Januar 1681, wenige Wochen bevor er den Traktat Speners zur Begutachtung erhielt, eine Bußordnung und – anläßlich einer Kometenerscheinung – eine Bußpredigt hielt, die gewissermaßen als Ergänzung der Frage in Speners Traktat wahrgenommen werden kann,52 dürfte eher als zufällige Koinzidenz angesehen werden. Zum näheren Freundeskreis von Johann Jakob Schütz und den Saalhofpietisten gehörte natürlich auch der nächste Empfänger der spenerschen Abhandlung, Johann Wilhelm Petersen (1649–1727),53 der zu der damaligen Zeit Hofprediger in Eutin war.54 Der letzte namentlich genannte Adressat einer Abschrift des Traktats schließlich war Johann Heinrich Horbs Amtsnachbar, der Rothenburger
45 Frank Hartmann: Johann Heinrich Horb. Leben und Werk bis zum Beginn der Hamburger pietistischen Streitigkeiten 1693. Tübingen 2004. 46 S. Frankfurter Briefe [s. Anm. 4] 5, Brief Nr. 84, Z. 134 f. 47 Neu ediert in: Philipp Jakob Spener: Studienausgabe. Bd. I/1. Gießen 1996, 258–333; vgl. dazu die Kommentierung in Hartmann, Horb [s. Anm. 45], 65–75. 48 Ebd., 79 f. 49 Der Saalhof wurde immer stärker das Zentrum der Separation (Martin Brecht: Philipp Jakob Spener, sein Programm und dessen Auswirkungen. In: Geschichte des Pietismus. Bd. 1: Der Pietismus des 17. Und frühen 18. Jahrhunderts. Hg. v. dems. Göttingen 1993, 279–389, hier 317). 50 In einem Brief an Gottlieb Spizel vom 15. 07. 1677 (s. Hartmann, Horb [s. Anm. 45], 92). Zu den Auswirkungen von Horbs Kontakt zu den Saalhofpietisten s. ebd., 100–111. 51 Ruth Albrecht: Johanna Eleonora Petersen. Theologische Schriftstellerin des Pietismus. Göttingen 2005. 52 Eine Zusammenfassung der Predigt findet sich in Hartmann, Horb [s. Anm. 45], 164 f. 53 Frankfurter Briefe [s. Anm. 4] 5, Brief Nr. 58, Z. 18–21. 54 Markus Matthias: Johann Wilhelm und Johanna Eleonora Petersen. Eine Biographie bis zur Amtsenthebung Petersens im Jahre 1692. Göttingen 1993; zu seiner Eutiner Zeit ebd., 118–197.
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Superintendent Sebastian Kirchmeier (1641–1700).55 Er wurde zu diesem Zweck offenbar nicht direkt von Spener angeschrieben, sondern erhielt eine Abschrift über Horb.56 Der briefliche Kontakt zu ihm bestand erst seit wenigen Monaten.57 Mit Kirchmeiers Vorgänger Johann Ludwig Hartmann (1640–1680) hatte Spener schon seit 1669 im Briefkontakt gestanden. Dieser hatte nicht nur zu den ersten Empfängern der Postillenvorrede gehört,58 sondern hatte auch andere Aufsätze Speners zur Begutachtung erhalten.59 Mit dessen Amtsnachfolger Kirchmeier erhoffte diese sich einen ähnlich guten Austausch über Fragen der Verbesserung der kirchlichen Situation.60 Wer über diese Personen hinaus die Abhandlung Speners zu lesen bekam, lässt sich nicht feststellen. Georg Grabow gegenüber berichtet er nur, dass er sie auch einigen seiner Frankfurter Amtskollegen zur kritischen Lektüre gegeben hatte.61 Namen werden nicht genannt. Immerhin ist festzustellen, dass Spener – anders als bei der Postillenvorrede62 – nicht mehr das ganze Frankfurter Predigerministerium mit einbezieht.63 Welcher der Amtskollegen von ihm ins Vertrauen gezogen wurde, lässt sich nur erraten. Johann Conrad Sondershausen (1632–1704) und Christian Klauer (1640–1712) könnten dazugehört haben. Der erstere hatte sich nach den Verdächtigungen, die seit 1675 gegen Spener aufgekommen waren, entschieden auf die Seite des Seniors gestellt.64 Den zweiten empfiehlt Spener Anna Elisabeth Kißner als Beichtvater, nachdem er von Frankfurt nach Dresden gezogen war und sie offenbar mit Sondershausen nicht zurechtkam.65 Die Empfänger außerhalb der Stadt werden von Spener sehr allgemein als „amici“ und „pii et gloriae divinae studiosi“ bezeichnet.66 Sieht man von Kirchmeier ab, der den Aufsatz ja auch „nur aus zweiter Hand“ erhalten 55
Deutsches Biographisches Archiv, München 1982–2002, Fiche Nr. 651, Aufnahmen 318–
326. 56
Frankfurter Briefe [s. Anm. 4] 5, Brief Nr. 84, Z. 133–140. Ebd., Brief Nr. 57 ([Mai] 1681). 58 Frankfurter Briefe [s. Anm. 4] 2, Brief Nr. 5, Z. 9–11 (09. 03. 1675). 59 Z. B. einen – nicht überlieferten – Entwurf zur Reform des Theologiestudiums (Frankfurter Briefe [s. Anm. 4] 2, Brief Nr. 5, Z. 18–26); zu diesem Entwurf und den Adressaten des Manuskripts s. ebd., Nr. 3 Anm. 3). 60 Frankfurter Briefe [s. Anm. 4] 5, Brief Nr. 57, bes. Z. 17–33 u. 42–45 ([Mai] 1681). 61 Ebd., Bd. 5, Brief Nr. 83, Z. 42 f. (Ende Juli / Anfang August 1681): „[. . .] tractationem [. . .] aliquibus meis Collegis exhibui [. . .]“. 62 PD 5, 2–4 (PD-deutsch/lat. 8, 23–25). 63 Auch das Manuskript der Pia Desideria hätte er gerne über die Frankfurter Kollegen hinaus zur Durchsicht verteilt, was aus zeitlichen Gründen nicht mehr möglich war; an Gottlieb Spizel schreibt er: „Optassem ea prius Tecum communicare, sed instans nundinarum tempus [. . .] communcationem nisi cum praesentibus nullam persmisit.“ (Frankfurter Briefe [s. Anm. 4] 3, Brief Nr. 3, Z. 30–32) 64 Wallmann, Pietismus [s. Anm. 1], 96. 65 Philipp Jakob Spener: Briefe aus der Dresdner Zeit. Hg. v. Johannes Wallmann. Tübingen 2003 ff. [im Flgd.: Dresdner Briefe], Bd. 1, Brief Nr. 36, Z. 6–20. 66 S. Anm. 31. 57
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hatte, standen alle namentlich bekannten Männer in einem mehr oder weniger engen Kontakt zu Schütz und den Saalhofpietisten. Täuscht diese Überlieferungssituation nicht völlig, so kann man eine mehrfache Zielsetzung erkennen, die Spener mit seinem Traktat zur Teilnahme der Unwürdigen am Abendmahl verfolgt. Zum einen konnte Spener mit Hilfe dieser unverfänglichen und von außerhalb der Stadt an ihn herangetragenen Frage seine Meinung zu der Problematik äußern, die die immer stärker zum Separatismus neigenden Frankfurter Pietisten umtrieb. Wenigstens die Empfänger, die in einer bestimmten Verbindung zu diesen standen, konnten nun Speners Haltung in der für ihn schwierigen Situation nachlesen – und hatten unter Umständen die Möglichkeit, diese auch wieder nach Frankfurt zu spiegeln. Somit konnten die Ausführungen Speners als indirekte Mahnung an diejenigen verstanden werden, die für eine persönliche Anrede zu dieser Frage nicht mehr offen waren. Zum anderen kann man sich vorstellen, dass Speners Meinung dadurch unter einigen Bekannten deutlich wurde, mit der er sich von dem Verdacht, eine wie immer geartete offene Separation zu provozieren, salvieren konnte. Allerdings muss man dabei darauf hinweisen, dass er auffordert, das Manuskript „nomine suppresso“67 weiterzugeben, vermutlich aus dem Grund, dass niemand ihm einfach um seiner Autorität willen zustimmen soll,68 oder umgekehrt, die vorgetragenen Gedanken deswegen abgelehnt werden, weil sie aus Speners Feder stammen.69 Nur so war es möglich, eine offene Diskussion im Sinne der einleitenden Worte in den Pia Desideria herbeizuführen, die er von seinen Lesern erwartete: „Misi, qui pie totam expenderent, diligenter excuterent et vel argumentorum virtute convicti me porro confirmarent vel, si me errare credant, melius me edocerent.“70 In einem Schreiben an den Rothenburger Superintendenten Sebastian Kirchmaier wiederholt er seine Überlegungen zu einer Vernetzung der Geistlichen zum Wohl von Kirche und Gesellschaft: Es wäre zwar ein statliches mittel der vereinigung, wo jeweilige Synodi gehalten würden, aber solche erwarten wir vergeblich, daher wüßte ich fast kein anders zu dieser zeit practicabel als die schrifftliche correspondenz, damit die jenige, so einander in dem HErrn genaue haben kennen lernen, eine genauere brüderliche freund67
Frankfurter Briefe [s. Anm. 4] 5, Brief Nr. 83, Z. 49. „Nolo enim quenquam mihi assentari, nec mea auctoritate cuiusve fidem niti“ (ebd., Brief Nr. 83, Z. 46 f.). 69 Dies stand nicht zuletzt für die Landgrafschaft Hessen-Darmstadt zu befürchten, wo seit den Auseinandersetzungen um die collegia pietatis (s. o. 196 f.) der Name Speners bei vielen Theologen nicht hoch angesehen war (W. M. Becker: Aus den Anfängen der pietistischen Bewegung in Hessen. In: Beiträge zur Hessischen Kirchengeschichte 1, Heft 3, 1902, 271–275). 70 Frankfurter Briefe [s. Anm. 4] 5, Brief Nr. 83, Z. 44–46; vgl. Brief Nr. 84, Z. 136 f., und Nr. 58, Z. 19–23 („quaeso, dignare cum cura ea legere et, ubi videbitur recte, sentientem confirmare aut, ubi me devium existimas, monere; aliis hinc inde amicis eadem communico, ut argumentum tam dignum et necessarium plurium cura excolatur et, cum piorum iudicia accesserint, omnium sententiis colatis de veritate certius statui posset.“). 68
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schafft [. . .] aufs wenigstes unter sich stifften mögen, die sich aber allgemach außbreiten kan, wo die jenige, so andere freunde wiederum haben, sie zugleich mit den übrigen bekant machen.71
Wie argumentiert Spener nun in dem hier vorgelegten Bedencken? Keinem Gemeindeglied, d. h. getauften Christen, kann es verboten werden, an der Feier des Abendmahls teilzunehmen, auch wenn er unwürdig zu sein scheint. Dazu führt er drei einschlägige Stellen aus dem Neuen Testament an: Zum einen weist er auf die Tatsache hin, dass Jesus Judas nicht von der Mahlgemeinschaft ausschloß, obwohl er wusste, dass dieser ihn bald verraten würde; zum anderen bespricht er 1Kor 11, wo Paulus die Christen auffordert, sich selbst auf die Würdigkeit zur Abendmahlsteilnahme hin zu prüfen, nicht aber die Mitchristen; und drittens behandelt er die – von den Kritikern in diesem Zusammenhang immer wieder genannte – Mahnung Jesu, die Perlen nicht vor die Säue zu werfen (Mt 7,6). Spener warnt nachdrücklich davor, die Sentenz aus dem Kontext herauszureißen: Sie sei konsequent auf die Ermahnung untereinander bezogen, die – wird sie immer wieder zurückgewiesen – unterlassen werden soll. Man könne die Aussage weder auf das Abendmahl noch auf eine andere Darreichung göttlicher Heilsgaben, etwa die Verkündigung des Evangeliums, anwenden. Alle drei biblischen Hinweise zusammennehmend stellt er somit klar, dass der Teilnehmer am Abendmahl einzig auf sein eigenes Gewissen verpflichtet ist. Den Geistlichen befreit er in dieser Hinsicht völlig von möglichen Skrupeln bei der Verwaltung des Sakraments. Dennoch kann Spener ihn nicht gänzlich aus seiner Verantwortung entlassen. Ganz im Sinne des lutherischen Verständnisses hat der Geistliche nur das Instrument des Wortes für sein Amt. Dieses gilt es dann wirkmächtig zu handhaben, um so den Gemeindegliedern zu helfen, sich im vorgenannten Sinn selbst auf ihre Würdigkeit zu prüfen. Das geschieht vornehmlich durch die rechte Lehre über das Abendmahl in der Verkündigung, zu der es auch gehört, die Gemeinde zu ermahnen, nicht unwürdig zu kommunizieren, und deren geistliche Folgen deutlich zu machen. Dazu kommt die persönliche seelsorgerliche Ermahnung, entweder in der Beichte oder in anderen persönlichen Gesprächen. Keinesfalls darf ein Christ gegen seine eigenen Gewissensempfindungen zur Teilnahme ermuntert werden. Damit freilich würde sich der Geistliche an einer fremden Sünde teilhaftig machen. Auch hier wird das persönliche Gewissen des einzelnen Christen in den Mittelpunkt gerückt. Wie er die ihm gegebene geistliche Gabe nutzt, bleibt in seiner Verantwortung. Beispiele aus der Bibel und aus dem praktischen Leben untermauern diese Hinweise. In der Behandlung der dritten These geht Spener sogar noch ein Stück weiter: Weil der Geistliche lediglich Diener Christi und der Gemeinde ist, steht ihm gar nicht das Verfügungsrecht über die von Christus der Gemeinde gege71
Frankfurter Briefe [s. Anm. 4] 5, Brief Nr. 57, Z. 38–45.
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benen Heilsgüter zu. Er hat sie lediglich zu verwalten. Damit stößt Spener durch zu einer Frage, die ihm viel wesentlicher erscheint – und eines der grundlegenden Übel der Kirche seiner Zeit zu sein scheint: Die Frage nach der rechten, d. h. dem Evangelium gemäßen Gestalt der Kirche. Deshalb diskutiert er im letzten Abschnitt die – im Zusammenhang der Frage nach dem würdigen Gebrauch des Abendmahls zunächst überraschend erscheinende – Problematik nach einer geeigneten Kirchenverfassung. Dabei geraten die beiden oberen Stände, die politische und die geistliche Obrigkeit, in besonderer Weise in den Fokus. Der politische Stand wird dabei nicht nur als „Säugamme der Kirche“ beschrieben, ein Bild das von Spener andernorts ganz im Gefolge der lutherischen Theologie seiner Zeit verwendet wird, sondern als Mandatsträger der gesamten Kirche. Die Landesherrschaft – bzw. diejenigen, die von ihr in das leitende geistliche Amt berufen sind – sind lediglich Vertreter der christlichen Gemeinde, die mit einer besonderen Aufgabe betraut sind. Dies entspricht dem grundsätzlichen Verständnis ihrer Aufgaben. Spener moniert jedoch, dass sich dieses Verständnis im konkreten Vollzug zu wenig widerspiegelt. Er möchte den presbyterialen Aspekt in der Verantwortung für die Gemeinde gestärkt wissen.72 Eine Kirchenverfassung, die nicht in der bestmöglichen Weise die Rahmenbedingungen schafft, ein persönliches und selbstverantwortliches Christenleben zu führen, muss verändert bzw. verbessert werden und die dafür Verantwortlichen machen sich gegebenenfalls mitschuldig an der Schuld der Mitchristen. Alle drei Stände sind in die Verantwortung für eine dem Evangelium angemessene Form der Gemeinde einbezogen.73 Beispielhaft wird dies deutlich an der Teilnahme von Unwürdigen am Abendmahl. Vergegenwärtigt man sich die – möglicherweise – bei der Abfassung dieses Traktats in Blick genommenen Kirchenkritiker, nimmt Spener deren Kritik auf, wendet sie aber weg von der Abwertung der vorfindlichen Kirche, die in der konkreten Frage implizit ausgedrückt werden kann, und weist sie auf die Notwendigkeit – und Möglichkeit! – einer Kirchenreform, die die Verantwortung des einzelnen Christen einschließt. Auf die Seite der Verantwortlichen in der Kirche gewendet, will er die Diskussion um eine Kirchenreform anstoßen, die die von Christus geschenkten Güter so verwaltet, dass es den einzelnen Menschen hilft, ihr Christsein verantwortlich zu leben. In dem ganzen Text wird somit eine Grundstruktur der spenerschen Lehre überhaupt deutlich: die komplementär zusammengehörende Frage nach der 72 Ausführlich beschäftigt er sich mit den „Elterlingen“, d. h. Ältesten, und ihrem Verhältnis zum Konsistorium in: Philipp Jakob Spener: Letzte Theologische Bedencken. Halle 1711 [Im Flgd.: LBed.] 1, 575–592 ; vgl. auch LBed. 1, 492–496 u. 546–549. 73 Diese Überlegungen passen sich ein in den „Demokratisierungsschub“, den der Pietismus für die Kirche als Ganzes und die Glaubensäußerung des Einzelnen gegeben hat (vgl. dazu Klaus vom Orde: Auf der Schwelle zu einer neuen Zeit. Zur Dynamik der frühen Pietisten. In: Theologische Wahrheit und die Postmoderne. Hg. v. Herbert Klement. Wuppertal 2000, 294–310).
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Kirche als konkrete Realisierung des Reiches Gottes unter ganz bestimmten Bedingungen dieser Welt und der Bedeutung des Individuums mit seiner eigenen Verantwortung vor Gott.74 Wie schon in den Pia Desideria ersichtlich, wird der (spenersche) Pietismus nicht erfasst, wenn er lediglich als Betonung des Individuums und seines Gottesverhältnisses beschrieben wird. Es geht vielmehr um die „Besserung der wahren evangelischen Kirche“.75 Die Frage nach dem Individuum ist eingebunden, sie ist gewissermaßen ein – wenn auch tragender – Bestandteil der Bemühung um das Ganze der Kirche. Im Gegensatz zu den Spiritualisten oder Separatisten seiner Zeit, aber auch zur starken Betonung des Individualismus, wie er sich in der kommenden Aufklärungszeit oder in manchen Ausprägungen späterer „pietistischer Tradition“ entwickeln kann, versucht Spener die Bedeutung des Individuums und der gesamten Gemeinde komplementär zusammenzuhalten. Er muss und kann es damit aushalten, in der Frage nach seinem Gottesverhältnis – hier konkret festgemacht an der Würdigkeit oder Unwürdigkeit bei der Abendmahlsteilnahme – den Einzelnen an sein eigenes Gewissen zu binden und gleichzeitig die
74 Die hier angedeutete Spannung wird in einem Brief Speners aus dem Jahr 1690 leicht erkennbar zusammengefasst: „Nechst deme, so bekenne auch, ob mir wol biß hieher noch keine gemeinde bekant worden, dero lehr und glaubens=bekäntnüß von mehr reinigkeit wäre als unsre Evangelische kirche, daher ich so fern in derselben die kirche CHristi sichtbar achte, daß dannoch die seligkeit so gar nicht schlechter dings an die eusserliche gemeinschafft unsrer kirchen binde, daß so wol einstheils hertzlich beseufftze, wie besorglich aus den früchten zusehen, daß bey den allerwenigsten, die eusserlich in unsrer gemeinde leben, der wahre glaube unsrer göttlichen lehr in ihren seelen seye, daher sie mitten in der wahren kirche verlohren gehen [. . .]; also hingegen anderntheils mich versichere, daß unter andern hauffen, bey denen ich die reine wahre lehr nicht erkenne, von dem gütigsten himmlischen Vater noch ein starcker heiliger saamen erhalten werde, der, da es ihm an der buchstäblichen erkäntnüß der wahrheit mangelt, dannoch die göttliche grund=wahrheiten, an denen unser heil hafftet, in göttlichem liecht fassen und also in denselben sein heil erkennen könne. Daher seye es ferne, daß ich unsern theuren könig JEsum so arm halten solte, daß er keine andre genossen seines gnadenreichs haben solte, als die in den engen gräntzen der so genannten Lutherischen kirchen leben, da doch sein reich sich über die gantze welt erstrecket und er unter den vielen zerstreueten allein aber gar genau kennet, welche wahrhafftig die seinige sind. Solche alle auch, in welchen hauffen sie eusserlich leben, rechne ich mit wahrheit zu der wahren kirchen und also auch zu uns: wie sie dann nothwendig in den grund=wahrheiten (die bey allen kindern GOTTes eine seyn müssen) mit uns einstimmen, ob sie wohl vieles dessen, so uns GOtt zu erkennen gegeben hat, nicht erkennen oder sonsten andere hindernüssen haben, sich eusserlich zu uns zu verfügen. Da dann der himmlische Vater selbs mit vieler seiner kinder schwachheit gedult träget und der HErr JEsus in den tagen seines fleisches seine jünger vor gläubig erkant hat, obwol nicht wenige irrige meinungen sich bey ihnen gefunden haben, so will uns ja geziehmen, ein nicht anderes hertz gegen andere, auch wohl in unterschiedlichen (nur daß der grund CHristus fest stehe) irrende zu tragen, auch zu glauben, es wisse der liebste Vater mittel und wege, das füncklein des wahren glaubens=liechts, ob es klein wäre, mitten in der finsternüß einiger irrthume, bey den jenigen, so nicht weiter zu kommen vermocht haben, also zu erhalten, daß sie jenes licht nicht gantz auslöschen muß und sie also selig werden.“ (Philipp Jakob Spener: Theologische Bedencken 1. Halle/Saale 1700, 254). 75 So der Titel der Pia Desideria.
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vorfindliche Kirche in ihre Verantwortung für das einzelne Mitglied zu stellen. Dieser Haltung scheinen nicht alle gewachsen zu sein. Leider ist nur eine Rückmeldung zu Speners Ausführungen überliefert: diejenige des Altenstädter Pfarrers Jung. Dessen Anmerkungen erscheinen gegenüber den Ausführungen Speners deutlich radikaler. Dies ergibt sich durch den völlig anderen Ansatz. Während Spener vor allem von der objektiven Heilsgabe des Sakraments ausgeht, die manche freilich zu ihrem eigenen Gericht essen, nimmt Jung drei Gruppen von Menschen in den Blick, von denen wenigstens die erste – mehr oder weniger leicht – erkennbar ist. Sie leben offen und für jeden erkennbar in Sünden und lassen sich auch nicht eines Besseren belehren. Ihnen ist die Gabe des Abendmahls zu verweigern. In diesem Zusammenhang wird sogar der Kirchenbann in Aussicht gestellt.76 Daneben gibt es solche, die nach außen Ehrbarkeit und Frömmigkeit heucheln, und schließlich Laue und nicht ernsthaft um ein christliches Leben bemühte Menschen. Auch diese beiden letzten Gruppen können sich beim Genuss des Abendmahls versündigen, aber anders als bei den ersten, die sich durch ihre Unbußfertigkeit im Grunde selbst aus der Gemeinde ausgeschlossen haben, so dass mit dem Abendmahlsausschluss nur nach außen gezeigt wird, was geistlich schon geschehen ist,77 gehören diese noch zur Gemeinde und der Geistliche, der die Sakramente verwaltet, hat die Aufgabe, sie durch Ermahnungen usw. auf den rechten Weg zurückzuführen. Spener dagegen scheint vorsichtiger zu sein in seinem Urteil über Menschen. Er vermag die Grenze zwischen den beiden ersten Gruppen, die Jung nennt, faktisch nicht zu unterscheiden. Über den Ausschluss aus der Gemeinde Gottes entscheidet letztlich Gott selbst.78 Dazu wägt er den Nutzen und Schaden einer rigiden Durchsetzung der Schlüsselgewalt im Kontext der kirchlichen Wirklichkeit ab und kann sich, anders als Jung, nicht zu einem radikalen, gewissermaßen Notstandsvorgehen verstehen, mit dem Hinweis darauf, dass man Gott mehr zu gehorchen habe als den Menschen (Apg 4,19). In einem sind sich die beiden einig: Eine Separation von der Gemeinde und der öffentlichen Abendmahlsgemeinschaft durch die Frommen kommt nicht in Frage. Jung warnt davor, dass diese ihren Mitchristen eine Unwürdigkeit „andichten“ (Z. 973). Dass er – anders als Spener – damit in den Zugzwang kommt, festlegen zu müssen, was nun „unwürdig“ heißt, wird ihm offenbar nicht bewusst. 76
S. u. 229, Z. 702 f. Vgl. Martin Luther: Sermo de virtute excomunicatione. (1518): „Ideo verum est, quod excummunicatio ecclesiastica non infert sed praesupponit, aliquem esse in morte et peccato, id es vere excommunicatum spiritualiter.“ (WA 1, 640,6–8) 78 Vgl. dazu die vorsichtige Behandlung des Themas „Bann“ in: Philipp Jakob Spener: Der Klagen über das verdorbene Christenthum mißbrauch und rechter gebrauch. Cap. II, § 14 (Spener, Studienausgabe, Bd. I/2, Gießen 2000, 421,5–423,18). 77
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Leider ist die Reaktion Jungs auf Speners Traktat als einzige überliefert. Betrachtet man Ausführungen aus späterer Zeit, wird deutlich, dass Jungs Argumente ihn nicht überzeugt haben. Sowohl in einem Bedenken aus dem Jahr 1686 als auch in Briefen und Bedenken aus seinen letzten Lebensjahren argumentiert Spener ganz ähnlich wie in der vorliegenden Abhandlung. In einem Brief an Christoph Matthäus Seidel vom 17. September 169779 über die Kirchenzucht und dabei auch über die Frage nach der Verantwortung der Geistlichen für die Zulassung zum Abendmahl, geht er auf einen Vorwurf ein, der ihm bei seiner moderaten Haltung möglicherweise entgegengetreten ist: „Wo aber eingewendet würde / es gründete sich alles dieses allein auf die flucht des creutzes / die einem treuen diener Christi, allerdings unanständig wäre / so dienet zur antwort (. . .)“,80 dass nicht jede Vermeidung von Leiden Unrecht sei, sondern im Gegenteil zur Sünde wird, wenn man dieses geradezu sündhaft herausfordert. Maßstab sind die Ehre Gottes und das Beste für den Nächsten. Weiter gilt es nach Spener zu bedenken, dass möglicherweise nicht nur der Amtsträger selbst in seinem Bekenntniskampf zu leiden hat, sondern er auch andere Menschen aus der Gemeinde mit ins Leiden hineinzieht, nicht zuletzt dadurch, dass diese ihren Seelsorger verlieren, sollte er seines Amtes entsetzt werden. Im Ganzen sei nicht die Vermeidung des Leidens das Motiv seiner Haltung, sondern die Erhaltung des geistlichen Amtes in der Gemeinde. Bringt man diesen Brief aus dem Jahr 1697 mit dem hier vorliegenden Traktat ins Verhältnis, wird in knappen, aber starken Strichen die grundsätzliche Vorgehensweise Speners deutlich. Niemals geht es ihm darum, eine „erträumte Kirche“ zu gestalten oder – wenn nicht anders möglich – neu aufzubauen. So sehr er auf die „erste art der kirche“81 als Maßstab blickt, so sehr setzt er doch bei der Realität der Kirche seiner Zeit an. Das zeigt sich auch im konkreten Vorgehen. Er hat bestimmte kirchenorganisatorische Vorstellungen, die ihm hilfreicher zu sein scheinen als das, was er weitgehend erlebt, etwa die Zusammensetzung und Aufgaben von Konsistorien. Aber er ist sich auch der Schwierigkeiten bewusst, hier Abhilfe zu schaffen. In seinem Brief aus dem Jahr 1697 nimmt er die altbekannte Formel auf: [. . .] deswegen glaube / daß eines predigers amt vornemlich dahin gerichtet werden müsse / daß wir Ecclesiolas in Ecclesiis pflantzen / und also die allermeiste mühe anwenden / wie man erstlich diejenige / welche bereits einen feinen anfang des guten haben / sich vor allen lasse angelegen seyn / denselben immer mehr zu befordern / nechst dem an die jugend grossen fleiß anlege / sie zu einem rechtschaffenen wesen zu bringen / drittens durch treues unermüdetes anhalten mit lehren / vermahnen und straffen / offentlich und absonderlich / an den andern arbeite / damit man immer einen nach dem andern durch GOttes gnade gewinne / und also allgemach das häufflein der frommen in jeder gemeinde wachse und zunehme. Wo nun ein prediger dieses 79 80 81
LBed. [s. Anm. 72] 3, 703–721. LBed. [s. Anm. 72] 3, 709. S. u. 221. Z. 418.
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nach allem vermögen / welches GOtt ertheilt / thut / und sein amt also führet / daß keiner in der gemeinde der gottloß lebet / klagen kan / daß ihm nicht die gefahr seiner seelen zur genüge / wo er nur solches zu hertzen ziehen wollen/ dargethan worden wäre.82
Auf das Problem des Umgangs mit der Teilnahme Unwürdiger am Abendmahl bezogen heißt dies: Die Reinheit und Ehre der Kirche Christi wird weder durch die Separation einzelner noch durch den Ausschluss bestimmter Personen (als eine Art umgekehrter „Separation“) bewahrt oder hergestellt, sondern allein durch das auf alle mögliche Weise verkündigte Wort. Zum Schluss seien einige Hinweise zur Textüberlieferung und zur Gestaltung der Edition gegeben. Der Traktat liegt im Archiv der Franckeschen Stiftungen83 und zwar als Autograph und in zwei Abschriften. Dazu sind die Anmerkungen Johann Heinrich Jungs und dessen Begleitschreiben an Spener vom 26. August 1681 vorhanden.84 Beide Texte werden ebenfalls mit ediert. Das Autograph umfasst insgesamt 22 beidseitig beschriebene Blätter, wobei die beiden ersten fehlen. Sie sind ersetzt durch die entsprechenden Blätter der Abschrift K1, die einige handschriftliche Korrekturen Speners aufweist. Vermutlich ist dies der Grund, wieso diese Abschrift unter der Signatur in Halle durcheinander geraten ist. Eine weitere Abschrift (K2) weist verhältnismäßig viele Abschreibfehler auf. Für den Druck bis Z. 105 wird der Text von K1 herangezogen, weil, wie beschrieben, die beiden ersten Blätter des Autographen fehlen. Diese Abschrift kann aber als zuverlässig gelten, weil die Korrekturen und Ergänzungen von Speners Hand zeigen, dass er sie persönlich überprüft hat. Zur Texterstellung wurden beide Abschriften zum Vergleich hinzugezogen. Dort, wo K1 gefolgt wird und in der Vorlage Textverluste vorliegen, wird auf K2 zurückgegriffen. Varianten zwischen den Überlieferungsträgern A, K1 und K2 sind einzig orthographischer Art oder Flüchtigkeitsfehler beim Abschreiben und deswegen für die Interpretation belanglos. Da die beiden Abschriften gleichzeitig entstanden und Zirkularkopien sind, dokumentieren sie auch keine Überlieferungsgeschichte. Aus diesen Gründen ist es verantwortbar, auf eine vollständige Dokumentation aller Varianten zu verzichten. Die Orthographie ist diplomatisch getreu, die Interpunktion ist um der besseren Lesbarkeit willen der heutigen Praxis angeglichen. Absätze sind der Logik und dem Gedankengang des Textes folgend neu eingezogen worden. 82 LBed. [s. Anm. 72] 3, 704. Die Beschreibung dessen, was Markus Matthias das „ecclesiolaKonzept“ Speners nennt (Markus Matthias: Collegium pietatis und ecclesiola. In: PuN 19, 46–59, hier 55), muss dahin ergänzt werden, dass nicht nur das persönliche geistliche Gespräch (bei Hausbesuchen, ggf. in Gruppen), sondern auch die Katechisierung der Jugend und überhaupt die Predigt in ihren verschiedenen Facetten Teilaufgaben des „ecclesiolas in ecclesia colligere“ sind. 83 AFSt, A 143: 171. 84 AFSt, A 143: 172 u. 173.
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Zitate werden in moderner Weise durch Anführungsstriche gekennzeichnet. Die vier Thesen Speners sind im Autographen nicht, aber in beiden Abschriften durch Unterstreichung hervorgehoben. Dies wird im vorliegenden Druck durch Kursivschrift dokumentiert. Die lateinischen Worte sind wie damals üblich in lateinischen Buchstaben geschrieben. Dies wird im Druck nicht besonders ausgewiesen. Lediglich die lateinische Schreibweise des Wortes „Herr“ – ein Zeichen der Ehrerbietung Gott gegenüber – wird in Großbuchstaben transkribiert. Die Orthographie des textkritischen Apparates entspricht dem bewährten Muster aus der Edition der Spenerbriefe:85 Über die Zeile geschriebene Worte werden mit /xxx/ gekennzeichnet, gestrichene Worte werden in spitze Klammern gesetzt . Am Rande ergänzte Worte werden mit | xxx | ausgewiesen. Aufgelöste Abkürzungen und vom Herausgeber vorgeschlagene Konjekturen werden in eckige Klammern [xxx] gesetzt. Bei Abkürzungen ersetzt die Ergänzung den Abkürzungspunkt in der Vorlage.
In Jesu Namen. Amen. Von Der unwürdigen communion und der dabey vorgehenden sünden.
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Erstlich ists eine außgemachte sache, daß derjenige, welcher unwürdig zum H[eiligen] Abendmahl gehet, sich schwerlich86 versündige, wie die lehre Pauli, 1. Cor XI87, zur genüge zeuget. Dann: 1. Er thuts nicht zu Christi gedächtnis. 2. er verkündigt nicht den Tod deß HERREN. 3. Er prüffet sich nicht selbst. 4. er underscheidet nicht den leib deß HERREN. 5. folglich ist er schuldig an dem leib u[nd] blut deß HERREN und 6. isset ers zu seinem gericht. Welches alles nicht viel weitläufftigkeit mehr erfordert. Zum andern aber ists schwerer außzumachen, waß davon zuhalten seye, wann einigen unwürdigen das H[eilige] Abendm[ahl] gegeben wird, ob die schuld solches unwürdigen communicirens auch auf die jenige falle, welche dasselbe reichen oder reichen lassen. Ich achte aber, es lasse sich die sache am füglichsten in einige gewisse sätze abtheilen: 85
S. Frankfurter Briefe [s. Anm. 4] 1, XXIX f. Adverb zu „schwer“ (Jakob u. Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Leipzig 1854– 1961 [im Flgd.: DWB], 15, 2567), nicht wie im modernen Sprachgebrauch im Sinne von „kaum“. Die Formulierung „schwerlich versündige“ ist wörtlich entnommen aus Solida Declaratio VII (BSLK 991.33) 87 1Kor 11,18–29. 86
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I. Einige unwürdige zu dem H[eiligen] Abendm[ahl] zulassen ist nicht absolute und bloß dahin 88 verboten. Diesen satz erweise89 ich erstlich, weil bey der Einsetzung solches h[eiligen] Sacraments mit keinem wort dieser befehl dabey stehet, ja auch sonsten in der schrifft sich kein deutliches gebot oder verbot hiervon findet, 2. weil unser liebste Heyland selbs, und zwar wissendlich den Judam, seinen Verräther, darzugelassen90, auch zu der zeit, da er doch seine vorhabende mißhandlung91 seinen Jüngern deutlich zu verstehen gegeben, ja, auch die person mit einem zeichen ihnen kundgemacht, 3. weil Paulus 1.Cor XI, ob er wohl wider die unwürdige eyffert92, jedoch mit keinem wort befiehlet, daß sie sich hüten sollen, keinen unwürdigen dazu zu lassen, sondern er warnet nur die unwürdigen vor der gefahr, welche sie selbst, die ihr gericht ihnen93 essen, betreffen würde. 4. Befihlet der H[eilige] Apostel an dem angedeuteten ort, daß der Mensch sich selbst prüffen solle, aber solche prüffung befihlet er nicht nothwendig andern, die über sie zu urtheilen hätten, ob sie sie zu dem H[eiligen] Abendmahl verstatten wolten oder nicht, sondern scheinet es vielmehr eines jeglichen eigenem gewissen allein zu überlassen. Diesem scheinet am meisten entgegen zu stehen der bekante spruch Matth. 7,694, welcher gewohnlich dagegen geführet zu werden pfleget: „Ihr solt das heiligthum nicht den hunden geben, u[nd]95 eure perlen solt ihr nicht vor die seue werffen, auf daß sie dieselbige nicht zutretten, mit
88 Im Sinne von „relativ“ o. ä. – kein Nachweis im DWB! Vgl. aber „bloß hin“ im Sinne von „mäßig“ (DWB 2, 150). 89 Beweisen (DWB 3, 1056). 90 Vgl. Lk 22,19–21, v. a. aber Joh 13,17–30. Nach dem Verlauf der Erzählung in dieser Bibelstelle nahm Judas am Abendmahl teil und wurde erst hinterher von Jesus auf den bevorstehenden Verrat angesprochen. In Mt 26,20–39 und Mk 14,17–21 scheint es umgekehrt zu sein. Johann Gerhard verweist im Zusammenhang der Applikation dieser beiden Stellen auf die Frage nach der würdigen Teilnahme am Abendmahl, auf die lange Auslegungstradition schon seit der patristischen Zeit, nach der davon ausgegangen wird, dass Judas am ersten Abendmahl teilnahm (Johann Gerhard: Loci theologici. Bd. 5. Berlin 1867, 227). Er nennt als Zeugen Theophylakt, Cyprian, Hieronymus, Augustinus, Johannes Chrysostomus u. a. In der mittelalterlichen Exegese findet sich diese Meinung etwa bei Thomas von Aquin (Summa theologiae, part. 3, qu. 81, art. 2). Bei Luther ist sie zu finden in dem Kurzen Bekenntnis vom heiligen Sakrament aus dem Jahr 1544 (WA 54, 155.29–156.3). In den lutherischen Bekenntnisschriften wird sie festgeschrieben in der Konkordienformel (Solida Declaratio VII; BSLK 982.33, 991.60). 91 Im Sinne von „üble Tat“, „Vergehen“, „Sünde“ (DWB 12, 1297). 92 Vgl. 1Kor 11,27–29. 93 Der reflexive Gebrauch des Personalpronomens kommt gelegentlich vor. 94 Mt 7,6. 95 /u./.
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ihren füßen, u[nd] sich wenden und euch zureißen96“. So leugne ich auch nicht, daß derselbe von alten und neuen lehrern sehr offters dagegen gebraucht zu werden pfleget97; und wann er von dieser materie warhafftig handelte, unserm satz sehr zuwider sein würde. Aber wo die sache in der forcht deß HERREN erwogen wird, wird sich finden, 1. daß bekantlich dieser spruch an sich selbst von dem h[eiligen] Abendm[ahl] nicht handele, alß welches damahl noch nicht eingesetzt gewesen, wie wir nun auß solchem argument gegen die reformirte behaupten, daß das 6. cap. Johannis98 nicht von dem h[eiligen] Abendm[ahl] handle99, so wirds hiemit nicht weniger gelten. 2. zeiget der gantze context, daß eigendlich nichts anders gemeint seye,100 weil der Herr in dem vorigen gehandelt von dem verbot deß richtens101, gleich wohl also, daß man demnach102 auch103 sorgen dörffte, wie man auß dem auge deß nechsten, wo das eigene frey seye, den splitter ziehen möge, daß er ferner zeigen will, wie solches zur besserung deß nechsten angesehene richten oder bestraffen104, und also mit folglich105 alle106 erinnerungen und belehrungen auß Göttlichem wort mit gutem bedacht müssen geschehen, daß man nicht weniger schlangenklug alß taubeneinfältig seye107. Nemlich daß dieselbe lehren und bestraffungen alß ein heiligthum und perle nicht denjenigen sollen dargeworffen werden, die sich nicht davon bessern, sondern sie verachten, und denjenigen gefahr108 über den halß ziehen würden109, welche ihnen solche liebe erzeigen wolten, aber damit niemand nützten, sich selbst hingegen schadeten. Dieses ist das 96
| mit ihren füßen, u. sich wenden und euch zureißen | ] [Von Speners Hand]. S. Gerhard, Loci [s. Anm. 90], Cap. XXII, 235). Vgl. auch Johann Heinrich Horb: Bedencken zu den Pia Desideria. StA I/1, 321. 98 Joh 6,34–38. 99 Schon in Solida Declaratio VII,61–63 (BSLK 993.61–63) wird bei der Unterscheidung zwischen der „manducatio spiritualis“ und der „manducatio sacramentalis“ darauf hingewiesen, dass Joh 6,48–58 auf die erste Art zu beziehen sei und nicht mit der sakramentalen Nießung beim Abendmahl. Der Hinweis auf Joh 6 durch die Reformierten wird von Gerhard, Loci [s. Anm. 90], 232 f. 100 seye, ] + alß: K1. 101 Mt 7,1–5. 102 Durch Tintenklecks schwer lesbar. In K2 fehlt das Wort ganz. 103 auch ] – K2. 104 Zu Speners Deutung der Stelle ausführlicher in Philipp Jakob Spener: Sprüche Heiliger Schrifft/ welche von welt=leuten mehrmal zur hegung der sicherheit [. . .] mißbraucht zu werden pflegen. Frankfurt/Main: J. D. Zunner 1693, 495–497 (Spener, Studienausgabe, Bd. II, 551 f). 105 folglich ] + . 106 alle. 107 Vgl. Mt 10,16. 108 gefahr ] + . 109 Sprichwörtlich: Etwas Drückendes oder Hinderndes auflegen (DWB 10, 251). 97
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einige, waß unser liebe Heyland in solchen worten will und seine Jünger erinnert. Auffs wenigste ist dieses einige die rechte eigendliche meynung deß HERREN, auß dero etwaß gewisses geschlossen werden mag. 3. Weil aber die H[eilige] Schrifft so reichlich ist110, daß auch das jenige, waß sie saget, wo es recht erwogen wird, offters noch vielmehrers in sich hat u[nd] fasset, alß es dem ersten ansehen nach geschiehnen, so möchte die frage sein, ob nicht aufs wenigste auß solchem, von unserem lieben Heyland deutlich machenden generalsatz durch eine gültige folge111 dieses verbot gezogen werden möchte, weil nicht zu leugnen, daß die richtige folgen eben so wohl vor Gottes wort zu erkennen seind. Ich bekenne aber, daß ich, wie fleissig ich die wort deß HErren erwege und überlege, durchauß keine dergleichen propositiones112 darinnen antreffe, auß welchem eine folge auf die Sacramenten gezogen werden möchte – dann solte man also schließen, alles dasjenige, waß etwaß heiliges und perlen gleich zu schätzen113 ist, muß niemahl einigen hunden u[nd] säuen, das ist unwürdigen114, gegeben werden, so kann solches einmahl die meynung deß liebsten Erlösers nicht sein115, dann es ist ja die predigt von der buß116 eine heilige sache, eine edle perle, und gleich wohl sendet der HErr außtrucklich seine Jünger auß, daß sie in der gantzen welt solche verrichten solten, wo er auch vorsaget117, daß viele alß hunde sein würde[n], welche vor dem danck wegen der predigt sie verfolgen und ihnen alles leyd anthun würden118. Ja, auch die edle perle deß Evangelii119 oder predigt von Christo müsste in der gantzen welt und also in einem stall gleichsam voller sünde u[nd] säue außgestreuet werden, ob sie wohl ihrer viele zutretten und die prediger zerrissen würden. Der Apostel 2. Cor 2 achtets nicht vor eine übertrettung deß Göttlichen Gebotts, da er das Evangelium so under solchen leuten geprediget hat, da es so wohl ein 110
ist ] – K1; /ist/ : K2. Schlussfolgerung. 112 Aussage, die nach der aristotelischen Logik die Frage nach „wahr“ und „falsch“ ermöglicht. 113 schätzen ] achten: K2. 114 /das ist unwürdigen/. 115 /nicht sein/ [in der Handschrift Speners]. 116 Hier zu verstehen im Sinne von Solida Declaratio V, wonach die „Predigt von der Buß“ zur Evangeliumsverkündigung gehört („Dann es haben Johannes, Christus und die Aposteln ihre Predigt von der Buß angefangen, und also nicht allein die gnadenreiche Verheißung von Vergebung der Sündern, sondern auch das Gesetz Gottes ausgelegt und getrieben“ [BSLK 953, 37–44]). 117 Vorhersagt. 118 Vgl. Mt 10,17 f parr. Allerdings wird das Bild eines Hundes nicht benutzt. 119 Spener unterscheidet hier (genauso wie in Solida Declaratio V) zwischen der „Predigt von der Buß“ (s. Anm. 116) und dem Evangelium wie Solida Declaratio V („Darnach wird das Wort Evangelium in einem andern, nämlich in seinem eigentlichen Verstande gebraucht, da es nicht die Predigt von der Buß, sondern allein die Predigt von der Gnade Gottes begreifet“; BSLK 954.1–5). 111
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geruch deß todes zum tode den jenigen worden, die verlohren werden, alß ein geruch deß lebens zum leben denen, die selig werden120. Daß also die also insgemein u[nd] ohne einschrenckung gefasste proposition unendlich viel instanzien121 leyden würde und gewiß falsch ist, da her in den worten unsers Heylands nicht gegründet sein kan. Solte man auch die proposition noch weiter wollen restringiren122 auf das jenige, wo solches heilige mit füßen getretten und verachtet würde, so gehen die meiste vorige instantzen auch noch bey solchem zusatz eben so wohl gegen solche thesin. Dann ob wohl Gott nicht würde zugeben,123 wo immer fort u[nd] fort sein wort von allen verachtet u[nd] mit füssen getretten würde, daß124 man solches doch ohneracht dessen fort u[nd] fort predigen wolte ohne einigen daher folgenden nutzen und also zu bloßer dessen beschimpffung (conf. Act. 13, 46.47125). So ist doch seiner güte und gerechtigkeit nicht entgegen, daß man126 aufs wenigste erstlich oder auch eine geraume zeitlang das selbe denen predige, die man sorget, schwein127 und hunden zu sein, ja, dergleichen von ihnen in der erfahrung sihet, aber doch noch hoffen kan, daß diese endlich geändert und bekehret werden möchten. In dem ja auch bey denen hartnäckigen eine gute zeitlang anzuhalten und ihre bekehrung zu suchen ist (sihe 2. Tim. 4,2.3128), ja es wird auch Gott nicht entgegen sein, daß in einer gemeinde, in129 welcher viele offenbahre hund und schweine sind, von dero beßerung so große hoffnung nicht übrig ist, um der übrigen entweder frommen oder doch nicht verzweiffelt bösen willen die predigt Göttlichen worts gleichwol also, daß sie auß demselben allemahl ihre sentenz mit anhören, fortgesetzt werde; ob wol130 dabey unaußbleiblich ist, daß es von vielen verachtet und mit füßen getreten wird; deren boßheit aber die übrige unschuldige nicht entgelten oder mit entziehung des ihnen nothwendigen gestrafft werden sollen. Also sehe ich diesen spruch unsers Heilands an, wie ich will, so finde ich weder das verbot der zulaßung der unwürdigen darinnen, noch auch einiges principium, darauß dasselbe nothwendig folgte; sondern daß unser Heiland vielmehr darinnen allein den befehl gebe, wie sich die Jünger und alle Christen, was anlangt den gebrauch des bestraffens und folglich übri120 121 122 123 124 125 126 127 128 129 130
Vgl. 2Kor 2,12–16. Heftigkeiten. Einschränken. zugeben, ] + . /daß/. Apg 13,46 f. man ] + . schwein ] [Ab hier Autograph Speners]. 2Tim 4,2 f. /in/. wol ] + .
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gen seines worts, klüglich verhalten solten, solche nicht mit willen denen jenigen vorzuwerffen, welche diese131 nur verachten und sie132 destomehr verfolgen würden. Daß also auch darinnen von einer sache gehandelt wird, die nicht sowol an sich selbs böse133, alß wegen darauß entstehenden bösen (folglich niemahl anders, alß wo dieses zu fürchten, stehet) zu vermeiden ist. II. Es mag nicht nur die zulaßung der unwürdigen eine sünde sein, sondern ist würcklich zum offtern eine sünde von seiten der jenigen, welche solche zulaßen. Dieser satz erhellet auß deme, weil erstlich erwiesen, daß solche unwürdige sich versündigen, daher weil nach vermögen, alle sünde zu verhüten, getrachtet werden solle, wo nicht nach vermögen gesteuret wird, so machen sich die jenige der schuld mit theilhafftig, welche entweder zu solcher sünde helffen oder nicht so viel und kräfftig, alß sie gekonnt und gesollt, derselben widerstehen, daß also die einige ursach, welche ich finden kan, daß in diesem werck eine sünde begangen werden mag, bestehet in der gemeinschafft fremder sünden134. Also wann und sofern dieselbige in dieser sache platz findet, alßdan und sofern ists eine sünde. Hie ist also ferner zu erwegen nötig, wie dann in solchem werck eine participatio alienae culpae oder gemeinschafft an fremder sünde befindlich seye oder nicht. Da mercke ich nun folgendes: 1. Die reichung des H[eiligen] Abendmahls an sich selbs oder die zulaßung in solchem actu ist vor sich noch kein gnugsame ursach einer solchen participation, dann sie ist nichts anders alß eine an sich unverbotene (wie wir in dem ersten satz gesehen) reichung einer gabe, welche der andere entweder, daß wirs nicht wißen, oder auch, daß wirs wißen, mißbrauchen wird. Einem aber etwas geben, das er mißbrauchen werde, ist an sich selbs noch nicht eben gewiß eine sünde. Wir sehen das exempel Christi an, welcher dem verräther wißentlich das jenige gegeben135, waß er wußte, daß er mißbrauchen würde. Dergleichen findet sich in dem leben Christi viel mehrers: Er hat manchen krancken etwa die gesundheit wider gegeben, die nachmahl derselben mag schandlich mißbrauchet haben, so dem HERRN in seiner allwißenheit nicht unbekant war; alß er die zehn außsätzige geheilet, und neune davon undanckbar worden136, haben wir nicht zu zweifflen, daß solche ihre gesundheit auff eine und andere art mißbrauchet haben. Also gibet Gott, deme aller mißbrauch und folgende sünde nach seiner 131 132 133 134 135 136
/diese/: . /sie/. böse ] + . Vgl. 1Tim 5,22. Zur Teilnahme von Judas am ersten Abendmahl s. Seite 209 mit Anm. 90. Vgl. Lk 17,12–19.
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allwißenheit allgenug bekant seind, alle tag den menschen alles das jenige, waß sie mißbrauchen, und hat doch an ihrer sünde keine schuld. Wir sehen gleiches in dem gemeinen leben, daß, wo ich iemand etwas schuldig bin, ob ichs wol sehe, daß ers nicht wol gebrauchen wird, ichs ihm nichts destoweniger geben muß und darinnen nicht, wol aber in der vorenthaltung des seinigen, sündigen würde, wo nicht einige absonderliche ursachen oder recht solche vorenthaltung mir erlaubt mache. Also kan die bloße darreichung um der ursach willen, daß jener es nicht recht brauchen werde, noch an sich selbs der sünden gemeinschafft nicht in sich faßen; sovielmehr wo wir die dabey sprechende wort bedencken, welche nichts anders in sich faßen alß eine unzweiffenliche wahrheit, daß [1.] dieses der wahre leib Christi, 2. vor ihn, den communicanten, dahin gegeben seye; dazu 3. etwa der wunsch dazu komt. In dero keinem man sich der unwürdigen nießung theilhafftig machet. 2. So muß also noch etwas weiters sein, welches in solcher reichung zuweilen steckt oder dabey ist, welches uns der sünden theilhafftig machet. Solches möchte dann in den folgenden stücken bestehen. Alß zum exempel, wo wir iemand zu der communion nötigen oder ihm dieselbe rathen, welchen wir, unwürdig zu sein, wißen, und er gleichwol ohne unsern zuspruch nicht dazu gegangen wäre, alß der in seinem gewißen sich unwürdig befindet, aber um unsertwillen hinzugehet, weil er entweder uns damit satisfaction thun will oder aber sein gewißen dadurch stillen läßet, weil wir ihm dasselbe ratheten, u[nd] in solchem gehorsam seine versicherung suchet. Ein solcher machet sich wahrhafftig der schuld theilhafftig. Nicht weniger geschiehets, wo die jenige, welche dazu gesetzet seind, dergleichen zu vernehmen, nicht alles das jenige thun, was zu abhaltung solcher sünde nötig ist. Worinnen sonderlich wir prediger in solche schuld fallen können: Wo wir nicht offentlich zu mehrmahlen die gefahr der unwürdigen nießung vor augen stellen und der gemeinde beweglich zusprechen, damit alle wahrhafftig in ihrer seele überzeuget werden, wie nötig eine gründliche prüffung und buß bey dem H[eiligen] abendmahl erfordert werde, und wie hingegen bey ermanglung derselben solche nießung mehr schädlich alß nutzlich seye; mit fernerer und allen auch einfältigen begrifflicher erläuterung, wer würdiglich zu dem tisch des HERREN gehen könne oder nicht, in summa mit treibung alles des jenigen, was die jenige von dem gebrauch abhalten möchte, die davon billich außgeschloßen werden solten137, auff daß nachmahlen keiner unwürdig gehe, der mit bestand sagen könte, es wäre ihm nicht gnugsam gesagt, daß er hätte finden können, unwürdig zu sein, und wäre er also auß nicht nur 137 Ein Beispiel einer solchen Verkündigung findet sich in Philipp Jakob Spener: Des Beichtwesens in der Evangelischen Kirchen rechter Gebrauch und Mißbrauch. In einer Buß=Predigt den 7. Aug. Anno 1695 [. . .] vorgestellet. Cölln an der Spree 1695.
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eigener, sondern der prediger schuld in sein gericht gefallen. Also gehöret auch zu unserm amt (folglich machte uns die underlaßung deßen fremder schuld theilhafftig), daß, wo uns absonderlich ein und anderer vorkommet, welcher unwürdig dazu gehen will, daß wir demselben auff mügliche weise (dazu einiger orten die privatbeicht anlaß gibet, anderwertlich andere gelegenheiten zu suchen seind) vor augen stellen seiner seelen gefahr, wo er die communion in solchem stande brauchen wolte138, auff daß auch durch dieses kräfftigere mittel er etwa in sich selbs und zu mehrer prüffung gebracht würde. Wo solches alles139 nicht geschihet, sovielmehr wo dazu andere fleischliche ursachen, geitz, gunst u[nd] dergleichen ursach140 gegeben, so machet sich ein solcher darreicher der sünde des andern theilhafftig. Es mögen aber etwa der arten noch mehrere sein, welche doch auß den angedeuteten zimlicher maßen erkant werden mögen. 3. Es ist gleichwol auch in dieser sache bereits eine sünde, daß die verfaßungen nicht beßer sind, wie sie sein könten und solten, damit nicht ihrer soviele zur unwürdigen communion gelaßen würden, sondern ieglicher gleichsam freyheit hat, sich selbs in sein gericht zu stürtzen; wo es dannoch Gottes ehre und der kirchen heil erforderte, daß solchem übel nachtrücklich gesteuret würde. Wer aber hierinnen schuld habe, wird auß dem folgenden abzunehmen sein. III. Wo die prediger ihr gewißen in obig erzeigten stücken in obacht genommen und, soviel an ihnen ist, die jenige, die ihnen selbs, den schaden zuzuziehen, kein bedenckens tragen, gewarnet haben, diese aber nichts desto weniger auff141 die communion142 treiben143, so haben sie ihnen solche in gegenwärtigem zustand zu reichen und haben durch jenes ihre Seelen gerettet. Dieser satz gründet sich auff die vorige, 1. weil das reichen nicht an sich selbs unrecht und sündlich, 2. weil sie sich der fremden sünden nicht theilhafftig machen. Zu denselben aber ist ferner zu setzen, 1. daß das H[eilige] Sacrament ein solches gut ist, an welchem alle die jenige144 theil haben, die145 der kirchen glieder und in deroselben gemein138 Die Bedeutung der Privatbeichte erläutert Spener in: Beichtwesen [s. Anm. 137], 45– 51. Als Spener diese beichtväterliche Verantwortung bei dem sächsischen Kurfürsten Johann Georg III. bei einem Bußtag am 22. 02. 1689 wahrnehmen wollte, fiel er in Ungnade (vgl. ausführlich dazu: Spener, Dresdner Briefe [s. Anm. 65] 3. Tübingen 2013, Brief Nr. 32, Z. 73–142). 139 /alles/. 140 ursach ] + . 141 /auff/. 142 communion ] + . 143 /treiben/ : . 144 /alle die jenige/. 145 die ] + .
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schafft146, darneben aber zur prüffung ihrer selbs tüchtig seind. Welche also daran theil haben, die mögen von dem gebrauch derselben güter nicht außgeschloßen werden ohne der sache gnugsame erkantnus und darnach erst auff befinden, daß sie sich solcher gemeinschafft unfähig gemachet haben. Diese erkantnus aber stehet bey keinem einigen menschen absonderlich: auch nicht bey den predigern, vielweniger einem ieglichen147 under denselben, namentlich dem beichtvatter. Dan es seind zwahr diese haußhalter über Gottes geheimnus148, aber also, daß sie darinnen nicht nach eigenem ihrem belieben verfahren dürffen, sondern sie haben alß diener ihren Herren über sich, nach deßen willen sie ihr amt führen müßen. Neben dem so seind sie auch dienere der kirchen und administriren die güter, die nicht ihnen selbs, sondern der Kirchen von Christo gegeben seind, und sie also im nahmen ihrer brüder, darauß sie gewehlt worden149, solche administration verrichten. Wie der tapffere und tieffsinnige Theologus D. Dannhauer150 Hodos. Ph. 2, p. 153. 154. 155151 gar schön lehret, quod Ecclesia sancta sit152: „iurium et officiorum Ecclesiasticorum possessione immediata et habituali“153; wohin dann gehören „dispensatio beneficiorum sui sponsi et sacramentorum oeconomia“154. Wo also die frage ist, ob dieser oder jener zu dem genuß der der gantzen gemeinde angehörigen güter zu laßen seye oder nicht, so mag der außspruch weder bey dem prediger noch bey einiger andern person allein stehen, sondern er gehört der gantzen kirchen, welche drüber zu sprechen hat, ob sie einen solchen in ihrer gemeinschafft laßen wolle oder nicht155. Denn an solcher gemeinschafft hänget die gemeinschafft aller und ieder güter ins gemein und absonderlich. Weswegen wir nicht nur 146
gemeinschafft ] + . Sic! Vermutlich im Sinne von „einzigen“. 148 Vgl. 1Kor 4,1. 149 Der Pfarrer als in ein öffentliches Amt gewählte Person und nur dadurch in einem besonderen Status (ordo ecclesiasticus) (RGG4 6, 621; Martin Krarup: Ordination in Wittenberg. Tübingen 2007, v. a. 313–315). 150 Johann Conrad Dannhauer (1603–1666), Theologieprofessor in Straßburg, Speners bedeutendster akademischer Lehrer (BBKL 1, 1211 f). 151 Johann Conrad Dannhauer: Hodosophia Christiana seu Theologia positiva in certam, plenam et cohaerentam methodum redacta. Straßburg 1649 (die von Spener meist genutzte 2. Aufl. 1666), Phaenomenon 2, 153–155. 152 „Dass die Kirche heilig ist“; (kein wörtliches Zitat an dieser Stelle, sondern das Thema, von dem dieser Abschnitt „N“ von Phän. II handelt. 153 „Durch unmittelbaren und habituellen Besitz der kirchlichen Rechte und Ämter“. 154 Die Verwaltung der Wohltaten an seine Braut [scil. die Gemeinde] und die Haushaltung der Sakramente. (Dannhauer, Hodosophia [s. Anm. 122], 155). 155 S. Eingabe des Frankfurter Predigerministeriums an den dortigen Magistrat vom 22. 12. 1681, abgedr. in Eugen Sachsse: Ursprung und Wesen des Pietismus. Wiesbaden 1884, 81–90, dort 87; vgl. dazu auch das Bedencken Speners vom 17. 02. 1686 (LBed. [s. Anm. 72] 1, 582–585). 147
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davor zu halten und darüber zu klagen haben, daß uns predigern von der obrigkeit nicht zugelaßen würde, eine solche außschlüßung eigenmächtig vorzunehmen, sondern wir sollen erkennen, es gehöre uns solche gewalt von Gottes wegen und nach seiner ordnung nicht vor uns allein. Ja, es würde solches auch nicht nutzlich156 oder der kirche zur erbauung dienlich sein. Dann obwol kein zweiffel ist, daß underschiedliche Gottselige männer under den predigern, da sie diese gewalt hätten, nach gutbefinden iemand zu admittiren oder zu excludiren, sich deroselben nicht übel, sondern heilsamlich und zum besten der kirchen gebrauchen würden, so wißen wir doch, daß nicht nur wir prediger alle menschen sind, und es auch den allerbesten geschehen kan, daß sie auß praeoccupation157 und unziehmlichen, offters aber an sich selbs nicht erkannten affecten in einigen dingen leicht einiges thun würden, worinnen sie158 der kirche bestes meinten zu befinden, es aber eher hinderten, sondern daß bekantlich in unserm amt solche leut hin u[nd] wider stehen, welchen, in dieser sache das urtheil zu laßen, höchst gefährlich wäre. Daher es Gottes159 weißheit gantz gemäß war, daß er dieses urtheil keinem ordini allein gelaßen, sondern der gemeinde anvertrauet hat (sihe Matth. 18,17160). Ist nun dieses selbs nach göttlicher ordnung nicht in der prediger, sondern der gantzen kirchen macht zu urtheilen, wer in die gemeinschafft deroselben gehöre, so kann der prediger keinen davon außschließen, den die kirche noch vor ihr glied erkennet, wo er solches gut fordert, dazu er auß solcher ursach recht hat u[nd] sich auffs wenigste in dem eußerlichen alß ein glied darstellet, das vor bußfertig gehalten werden will.161/162 Wann es dan nicht in seiner macht stehet, so ists ihm nicht sünde, das jenige dem unwürdigen zu geben, waß dieser163 zwahr mißbrauchen wird, ihm aber von denen, die es zu thun hätten, nicht abgesprochen ist. Sondern damit thut er gnug, weil ihm das lehr= und vermahnungsamt vornehmlich anbefohlen ist, daß er ins gemein u[nd] absonderlich lehret u[nd] erinnert, wie sich ieglicher würdig vorzubereiten habe und was vor schwehre straffen die unwürdige 156
nutzlich ] + . Vorurteil. 158 sie < < ..?>. 159 Gottes ] + . 160 Mt 18,17. 161 | u. sich auffs wenigste in dem eußerlichen alß ein glied darstellet, das vor bußfertig gehalten werden will. | 162 Noch im Jahr 1702 betont Spener: „Im übrigen hat kein prediger macht, eine Person, dero sünde verborgen und ihm allein bekant, die er auch der gemeinde nicht kund machen darf, um deswillen, wo sie nicht selbs abstehet, von der H[eiligen] Communion abzuhalten, sondern muß einen noch verborgenen Iudam, obwol mit gnugsamer rührung und überzeugung seines gewissens, damit er unentschuldbar seye, zu seinem gericht admittiren, und ja durch veranlassung der absetzung sich in beraubung seines dienstes an der gemeinde nicht versündigen.“ (LBed. [s. Anm. 72] 3, 525 f). 163 /dieser/ : . 157
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nießung nach sich ziehe. Damit hat er gethan, soviel alß sein amt sich erstrecket, deßen nachtruck er nachmahl nicht weiter treiben kann. Nun werden alle lehrer bekennen, es mache sich der jenige fremder sünden nicht theilhafftig, welcher eine sünde nicht censiret, wo er solche weder hat wehren können, noch auch zu wehren seines amts gewesen ist. Da sich die application hier gantz leicht machen leßet. 2. Achte ich auch dieses wol in consideration zu ziehen, wo164 schon eine mehrere macht den predigern gegeben wäre, daß es auch alßdan in gegenwärtiger unserer zeit und kirchen bewandnus nicht zu rathen wäre, solche exclusion mit gewalt zu undernehmen. Sollten wir nicht gemeinden finden, wo etwa die allerwenigste etwas wahres Göttliches an sich haben, der übrige meiste hauffen insgesamt under die zahl der unwürdigen gehörten? Was solte sich da vor eine außschließung machen laßen, die nicht alsobald in eine offentliche und durch viele folgen viel schädlichere trennung, schisma und abfall außschlagen und denen frommen samt dem prediger am schwehrsten fallen, die kirche aber insgesamt mit unzählichen viel gefährlicheren ärgernußen erfüllen würde? Wo an165 einem166 leib ein und ander glied mit einem unheilsamen schaden angesteckt ist, so leßt sich diesem vorbeugen durch ablösung des jenigen gliedes, welches so verdorben ist. Wo aber der schade den meisten leib nun durchfreßen hat, daß des gesunden wenig übrig ist, so ist jenes mittel nicht mehr practicabel, sondern muß mit anderer art der artzney versucht werden, wie dem gesunden theil noch gerathen, und167 sie vor dem anstecken verwahret, sodan einige der bereits angesteckten allgemach wider geheilet werden möchten. So gehets in der gegenwärtigen beschaffenheit unserer zeit nicht weniger, daß das sonsten in anderem zustand nicht undienliche mittel gantz unbrauchbar wird. Also ferner nach dem die weltliche obrigkeit nicht nur sich der von Gott gegebenen gewalt gerechter weise gebrauchet, sondern an vielen orten ihr wol eine allzugroße macht arrogiren168 mag, und aber die in solcher würde stehende personen gar offt die jenige sind, an denen die scheinbarsten ärgernußen sich finden; so würde, wo das mittel gebraucht werden solte, es an vielen orten solche größeste zuerst treffen müßen, die sich aber nicht gewehnet haben, ihre hälse under das joch Christi zu beugen169. Darauß dan unaußbleiblich folgen würde, daß die jenige treue diener Christi, welche annoch verlangen, daß alles möchte nach Göttlicher ordnung hergehen, da sie dieses ihnen obzuligen glaubten 164 165 166 167 168 169
wo ] + . /an/. einem < ein. und ] + . Anmaßend in Anspruch nehmen. Vgl. Mt 11,29
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u[nd] also diese unwürdige große außschlößen, nichts anders damit außrichteten, alß daß sie in kurtzer zeit alle nacheinander von ihren stellen und heerden abgetrieben und andere miedlinge170, die gar nach ieglicher pfeiffen zu tantzen171 sich erbötten, an ihrer stelle eingetrungen werden. Wodurch mehr alß man erstlich dencken solte, böses erfolgen würde. 1. weil der zweck wäre, die unwürdigen von dem H[eiligen] abendmahl abzuhalten, würde solcher nicht erhalten, sondern wol endlich gar mit mehrerem heuchlern die sicherheit mehr gestärcket. 2. Wol gar auch dasjenige underlaßen, was noch sonsten durch offentlich und absonderliche erinnerung u[nd] warnung vor dem unwürdigen communiciren von den treuen dienern Christi gutes außgerichtet wird, noch etlicher maßen dem bösen gesteuret werden könte. 3. Die übrige gute seelen, welche in den gemeinden noch übrig sind u[nd] an denen etwas fruchtbars außgerichtet werden könte, würden damit ihrer treuen hirten beraubet und denen offenbahren miedlingen vollends überliffert, damit aber nicht nur ihre fernere erbauung gehindert, sondern wol gar einige in das verderben gestürtzet, die durch jener treue noch erhalten werden könten. 4. Wo vollends diese treue diener weg wären, die gleichwol noch einiger maßen vor den riß stehen172 und wehren, daß nicht aller orten alle wälle einreißen,173 so würde es leicht sein, daß noch übrige gute in kurtzer zeit übern hauffen fiehlen und gar alles böse überhand nehme. Welche betrachtungen die sache schwehr machen solte, wo auch sonsten erkant würde, daß die prediger in diesem geschäfft ein mehrere macht hätten, ob dieselbe in dieser bewandnus zu üben wäre; angesehen es endlich auff diese frage außlieffe, ob in dem fall, da man sein amt174 nach allen stücken, so dazu gehört, nahmentlich in abhaltung der unwürdigen, nicht zu verrichten die gewalt behalte, man lieber auch alle übrige theil deßelben, wodurch noch auffs wenigste die frommen und gehorsame erhalten, und doch auch immer einige von den bösen, gewonnen werden möchten, underlaßen u[nd] quittiren solte? Welche frage ich175, nach reiffer überlegung von denjenigen, welche der kirche gern gerathen sehen, nicht leicht mit ja beantwortet zu werden hoffe. Bleibe ich also darbey, unser amt gehe nicht weiter, alß daß wir 1. die würdige nießung mit allem ernst treiben und die gefahr der unwürdigen nießung beweglich den leuten vor augen stellen, sodann, 170
Vgl. Joh 10,12 f. Sprichwörtlich (Karl Friedrich Wilhelm Wander: Deutsches Sprichwörter-Lexikon. Bd. 2. Leipzig 1870, 578, Nr. 982). 172 Vgl. Ez 22,20. 173 einreißen, ] + 174 amt ] + . 175 ich ] + . 171
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worinnen solche würdige oder unwürdige nießung176 bestehe, deutlich erklähren, damit auffs wenigste allen den jenigen, welche ihr heil ernstlich177 verlangen, gerathen [werde] und, bey welchen noch einig gewißen ist, von der unwürdigen nießung abgehalten werden. 2. Welche wir vor unwürdig achten, die haben wir vorher nach vermögen treulich zu erinnern und, wenn wir vermögen, die gefahr ihrer seelen bey der beicht oder sonsten vorzustellen, daher auch, wo wir sie auff ihre beichte absolviren sollen, ihnen klahr vorzusagen178/179, wiefern und in waß beschaffenheit ihres hertzens, wo es sich in der that der erklährung der beicht sich gemäß befinde, die absolution an ihnen kräfftig sei, in ermangelung deßen aber sie nicht angehen würde, und also solche besorgliche unwürdige communion ihnen nach müglichkeit zu entrathen. 3. Offentlich mehrmahl davon sagen, wie es mit dieser sache eine bewandnus habe, auß was ursachen manchmahl solche, welche besorglich möchten unwürdig sein, zugelaßen würden, wo es mangle, das dem übel nicht nachtrücklich gnug gesteuret werden könte. Wie aber solches, das sie uns die ihnen nicht gehörige communion gleichsam abnötigen, solche unwürdige nichts nutzen, sondern ihr gericht nur schwehrer machen würde. Damit also niemand anders sich an solches stoßen und zur sicherheit verleitet werden möchte, wo er sihet, daß diese oder jene zu dem tisch des HERREN gelaßen werden, die doch in dieser oder jener sünde steckten, und er also daher glauben wolte, da ihn sein gewißen einer gleichen oder anderer sünde überzeugte, daß er dann nicht weniger fruchtbarlich dazu gehen könte. Welchem ärgernus zimlicher maßen durch offtmalige solche offentliche protestation gewehrt und vorgebeuget werden mag; auffs wenigste daß es deren eigene, soviel schwerere schuld wäre, wo sich iemand nichts destoweniger noch dadurch verführen ließe. 4. Dazu soll ferner kommen, daß wir prediger, denen vor andern hertzlich angelegen sein solle, daß es in der Christlichen kirchen in rechter ordnung und nach dem willen Gottes hergehe, nach allem unsern vermögen uns dahin bearbeiten, ob doch in der kirche die jenige ordnung angerichtet würde, welche zu verhütung der unwürdigen communion dienlich u[nd] nutzlich wäre, alß wodurch sowol Gottes ehre mercklich befördert, alß viele sünden verhütet und unsre eigne gewißen soviel mehr tranquillirt und beruhiget würden, weil es bey allem oben angezeigten doch nicht dahin gebracht werden mag, daß nicht offters scrupula uns einfallen, die zu benehmen nicht allemahl so leicht ist, auffs wenigste ohne unruhe nicht abgehet; damit also unser hertz uns nicht verdamme180, von unsrer 176 177 178 179 180
/nießung/. /ihr heil ernstlich/. vor/zu/sagen. Im Sinne von „vor Augen stellen“, „vorhalten“. Vgl. 1Joh 3,20 f.
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seit etwas deßen underlaßen zu haben, was zu remedirung dieses übels nötig ist.
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IV. Die gantze kirche hat davor zu sorgen, wie solchem übel gesteuret werden möge, und fellet auff dieselbe insgesamt die schuld der sünden, die mit solcher zulaßung begangen werden. Dieses ist also zu faßen, nicht ob vermöchte es die kirche in dieser welt dahin zu bringen, daß gar niemand unwürdiges zu dem tisch des HERREN gehe; in dem einiger menschen unwürdigkeit so verborgen ist, daß sie von niemand anders beurtheilt werden kan. Daher solcher leute admission allerdings ohne sünde ist und mit der unwürdigen communicanten sünde, so ihr eigen ist, niemand anders gemeinschafft oder theil hat. Aber so weit kan und vermags die kirche wol zu bringen, daß niemand solte zu der H[eiligen] communion verstattet werden, von deßen buß und würdigkeit man nicht soviele eußerliche und vor menschlichen augen kantliche proben hätte, alß ein verständiger Christ nach der regel göttlichen worts nötig zu sein erkennete; hingegen daß schlechter dings davon abgehalten würde aber181 der, welcher von sich offenbahre zeugnußen einer unbußfertigkeit zeiget. Wie es nun die kirche dahin zu bringen vermag, so ist sie auch dazu verbunden, dann ihro liget ob, auff alle mügliche art der ihrigen kinder sünden zu verhüten, daher sie ohne eigne sünde hierinnen nicht säumig sein kann. Es mag aber solches geschehen, wo die erste art der kirche wider eingeführet wird, daß die beide stände der obrigkeit u[nd] der lehrer nicht alle gewalt bloßer dings an sich ziehen, u[nd] in der gantzen kirchen alles allein thun wollen, sondern mit der ihnen zukommenden directione und oberauffsicht zufrieden seind, hingegen der übrigen gemeinde ebensowol ihr recht laßen. Daher diejenige sachen, welche daß gesamte corpus angehen, auch in deßen gantzer versamlung oder doch einem solchen kirchengericht verhandelt werden solte, welches auß allen ständen zugleich bestünde. Wo aber, da es recht hergehen solte, die anstalt so gemacht werden müßte, daß auß dem haußstand182 und größten theil der gemeinde nicht nur einige wenige pro forma mit zugezogen und zu der obern stände vorschläge und meinungen nur allemahl das ja zu sagen verbunden, sondern auff diese weise sie zusammen gefüget würden, daß wahrhafftig der gantzen kirchen versamlung darinnen repräsentiret wäre. Wiewol die erste art, daß nemlich die gantze kirche oder dero haußvätter zur stimme gelaßen würden, die allersicherste wäre (Sihe auch 1. Cor. 5,4183). 181
aber: cj ] aller: A, K1, K2. In der damaligen Gesellschaftsordnung nach dem Regier- und dem Lehrstand der „dritte Stand“ („Nährstand“). 183 1Kor 5,4. Vgl. die ähnlichen Ausführungen in LBed. [s. Anm. 72] 1,585, hier: „gantze gemeinde“. 182
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Wo nun dergleichen angestellet und in übung wäre, so würde alßdan, wo iemand sich zu der communion einfinden wolte und an deßen leben u[nd] buß zweiffel wäre, von dem prediger, dem man gern sofern die sorge vor die sache, vor andern zuzukommen, zustehet, solches nach andern vorgegangenem graden184/185 vor die gemeinde gebracht und deroselben urtheil angehöret, damit aber alles ärgernus auß dem grund gehoben. Dieses wäre die rechte weise, wie so diesen alß vielen andern gemeinen fehlern unserer kirchen in wahl der prediger und dergleichen actibus nachtrücklich gerathen u[nd] geholffen werden möchte. Daß aber solches nicht dermaßen angewendet u[nd] folglich sovielen mißbreuchen gerathen wird, sehe ich alß eine nicht geringe sünde an, die besorglich noch dermaleins ein schwehrer gericht über unsre kirche führen möchte, alß wir wol etwa gedencken, u[nd] hieran ligt alle schuld des unwürdigen communicirens. Weil aber solche anstalt sonderlich an den beiden oberen ständen liget oder vielmehr bey denselben die schuld stehet, daß dieselbe gantz in abgang gekommen, nach dem sie sich alle gewalt in der kirche zugezogen186 (die zwahr gegenwärtig einiger orten fast gar bey dem einen, dem obrigkeitlichen stand, durch größten mißbrauch ist), so ligt auch auff denselben nachmahl diese sünde des unwürdigen communicirens oder zulaßung deßelben: und zwahr auff beiden oder einem und andern ihnen sovielmehr, alß mehr er die sache hätte befördern können oder hingegen solches nicht gern gesehen oder gehindert hätte. Welches etwa an einem ort von einem, an einem187 andern von dem andern am meisten gesagt werden mag. Wie nun dieses die rechte und Gott gefälligste ordnung wäre, also komt derselben noch etzlicher maßen nahe die verfaßung der consistorien, wo sonderlich in denselben auch einige sind, die an statt188 des dritten standes mit beygezogen werden. Wiewol doch auch dieselben, wie sie seind, bey weitem noch der vorigen u[nd] alten anstalten nutzen nicht erreichet; indem in denselben entweder auß dem Regir= und lehrstand allein alle personen genommen werden oder dieselbe doch so starck seind, daß allein bey ihnen aller nachtruck stehet. Indeßen soviel näher sie noch einigerleymaßen solcher göttlichen ordnung seind, soviel mehr wird auch noch damit außgerichtet, daß gleichwol, wo sie nur nach ihren gemeinen ordnungen sich halten, vielem unwürdigen communiciren, da die prediger gewißenhafft drauff acht geben wollen, gewehret werden kan, welches nicht geschihet, wo gar alles in einer lautern confusion stehet u[nd]
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/nach andern vorgegangenem graden/. Im Sinne von „Schritten“. An sich gezogen. /einem/ : . An Stelle; als Vertreter von.
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nicht nur beide obere stände dem dritten sein recht entziehen, sondern auch jene189 sich zwängen u[nd] je einer ohn den andern alles thun will. Jedoch hätten wir billich dahin zu trachten, wie es widerum gar in den stand kommen möchte, der der ersten einsetzung gemäß wäre. Und wolte Gott, daß wir, dergleichen bald zu geschehen, beßere hoffnung haben könten! Aber es scheinet, es sind noch die zeiten des gerichts, daß es der armen kirche so gut nicht werden solle. Wir seind dem größesten hauffen nach noch solche leut, die der HERR nicht würdig achtet, ihnen solche hertzen in geistlich= und weltlichem zu geben, die der gemeinde widerum mit willen das jenige zustellen, was derselben zugehöret und sie etwa zu sich gezogen haben. Jedoch wird sich der HERR der seinigen noch erbarmen190, aber vielleicht auff andere art, alß wir vorher gedencken mögen, und mit niderreißung vieles, welches wir meinten, stehen zu bleiben und es zu erhalten verlangten, aber die göttliche weißheit191, etwas neues ohngehinderter auffzubauen, das alte umwerffen dürffte. Welches deroselben gütigstem und allein weisen rath freigestellet bleibet. Laßet uns nur beten, daß auch in dieser sache sein, Gottes, heiliger nahme verherrlichet, sein reich befördert und sein wille192 vollbracht werde193, ietzo nach dem maaß der gnaden194, welches gegenwärtiger zeit bestimmet ist und nachmahl, wie es der HERR jedesmahl zutheilen will, indeßen in195 dieser ietzigen zeit thun und wehren, wie wir mögen, biß der HERR selbs helffen wird. Zum dritten ist noch übrig zu undersuchen, ob nicht auch eine sünde von seiten der jenigen begangen werde, welche mit solchen unwürdigen communiciren, daß sie selbs dadurch unwürdig würden196. Nun leugne ich nicht, daß es geschehen kan, daß solche mitcommunicanten mögen von den andern, welche sie neben sich sehen und deroselben beschaffenheit wißen, einig ärgernus nehmen, nicht nur in ihrer andacht verstöhret, sondern wol gar zu einer sicherheit gereitzet zu197 werden, obs wol eine solche nötige sache seye, daß man sich zu dem H[eiligen] abendmahl so sorgfältig prüffe oder nicht. Wir haben auch oben gehöret, daß die gantze 189
: / jene/. Vgl. Ps 102,14; in einem Brief vom 01. 02. 1681 schreibt Spener an einen Unbekannten: „daß ich auch nicht zweiffele, der HErr zeige damit, daß er bald sich auffmachen, seines armen Zions sich erbarmen und seinen tempel alsdann aufs neue bauen wolle“ (Frankfurter Briefe [s. Anm. 4] 5, Brief Nr. 9, Z. 11–13). 191 weißheit ] + . 192 wille ] + . 193 Vgl. Mt 6,9 f. 194 Vgl. Eph 4,7. 195 /in/. 196 Hier geht Spener über die spezielle Frage Johann Wincklers hinaus und verlässt den Blickwinkel des Geistlichen. Dies könnte durch Gespräche und erste Erfahrungen mit den Frankfurter Pietisten veranlasst sein, liegt aber bei der ganzen Thematik ohnehin nahe. 197 /zu/. 190
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kirche nicht außer schuld in dieser sache seye, welche under den besondern gliedern allezeit die jenige soviel mehr trifft, alß mehr sie hätte dazu thun können u[nd] sollen, daß solchem mißbrauch gewehret würde. Aber gleichwol achte ich nicht, daß der einiger communicanten198 unwürdigkeit an sich selbs die andere unwürdig mache oder ihnen allen u[nd] iedem insonderheit zur sünde werde. 1. haben wir oben gehöret199, daß bey dem ersten abendmahl Judas alß ein unwürdiger gewesen, es seye aber fern, daß wir sagen wolten, daß die übrige dadurch auch unwürdig worden wären. 2. da Paulus 1. Cor. XI200 ernstlich eiffert gegen die unwürdige communicanten, sehen wir nicht, daß er anders alß den unwürdigen selbs das gericht trohe, nicht aber der ursache wegen sie alle vor unwürdig declarire. Ja, er befihlet daselbs allein dieses, daß ein ieder sich selbs, nicht einen andern mitcommunicanten, prüffen solle. 3. Würde sonsten kein glaubiger iemahl können in seinem gewißen sicher sein, ob er auch würdig die H[eilige] communion genoßen, alß der des zustands seiner mitcommunicanten nicht versichert wäre, ob sie alle würdig gewesen oder ob er fleiß gnug angewendet zu erkennen, wie die beschaffenheit der jenigen personen seye, in dero gemeinschafft er eingetreten. Man möchte auch die sache restringiren wie man wolte, so würde es ein stäter strick des gewißens sein. 4. Da wir in dieser grundsuppen der welt201 und offenbahrem unchristlichem leben des allergrößesten hauffens fast sorgen müßen, daß die meiste oder doch ein großer theil der communicanten unwürdig hinzugehen und ihre vorgebende buß und beicht ein bloßes mundwerck seye, nach dem nach sovielmahligem widerholen nie keine wahre frucht folget, so müßten in dieser betrachtung die jenige, welche noch rechtschaffen seind, entweder sich von dem übrigen hauffen absondern202 und eine sonderliche communion anrichten oder sie müßten von dem H[eiligen] abendmahl gar bleiben. Welche beiderley stücke noch viel gefährlicher und schädlicher wären, alß sie selbs von der gemeinschafft der andern unwürdigkeit sorgen möchten. Ein gewißer (obwol vielleicht sonsten nicht reiner) lehrer redet von solcher sache, wie mich deucht, mit gutem fundament, daß sein wort würdig achte, alhie zu widerholen: „Welche gemeinden die kirchenzucht noch haben u[nd] soviel ansehen und ordnung, auch freyheit, daß sie die unwürdigen glieder außschließen können, sind sie es schuldig zu thun, 198
cmmunicanten ] + . S. o. Z. 23 f. 200 1Kor 11,28 f. 201 Bodensatz; negative Konnotation; vgl. Martin Luther: „Die Welt ist eine Grundsuppe der Sünden“ (vgl. Ulrich Goebel u. Oskar Reichmann: Frühneuhochdeutsches Wörterbuch. Bd. 7. Berlin 2004, 21). 202 absondern ] + . 199
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damit dem ärgernüs gewehret werde. 1.Cor. 5, 6.13. Gal 5,9.12203. Wo aber die kirchenzucht zerfallen auß ursache, weil der unwürdigen u[nd] unordenlichen viel worden u[nd] denen würdigen u[nd] frommen an der zahl oder ansehen überlegen seind, da können u[nd] sollen diese zwahr mit jenen sich nicht vermischen noch mit ihnen eßen u[nd] trincken, 2. Theß 3,14204, oder gemeine conversation und compagnie halten, um sich vor ärgernus zu bewahren, jene aber zu beschämen, soviel als im gemeinen wandel thunlich ist; aber daß sie ihrenthalben dem Herren Christo den gehorsam versagen oder seine ehre, die er durch dieses gedächtnus seines todes suchet, ihm entziehen u[nd] denselbigen nicht verkündigen solten, stehet niemand zu rathen. Ein anders ist, mit iemand nicht eßen noch trincken, das ist, weder ihn zu gaste bitten, noch205 zu ihm zu gast gehen, wie vertraute freunde thun pflegen und beides in unserm freyen willen und macht stehet, ein anders206 an des dritten tische zusammen kommen, der beiden macht zu befehlen hat. Ist also weit ein anders, mit einem unwürdigen an einem tisch des Herren zusammen dem Herren JESU lob opffern und seines todes gedächtnus begehen, welches er allen, die sich zu ihm bekennen u[nd] auff seinen nahmen u[nd] tod tauffen laßen, zu thun befohlen hat. Es mag der unwürdige ihm207 ein gericht eßen u[nd] trincken u[nd] sich an Christi leib versündigen, wenn er sich nicht prüffen oder bewahrt und würdig machen will. Ja, es ist beßer, daß auch die unauffrichtigen ihn verkündigen alß es underlaßen, vielmehr die auffrichtigen in der unreinen geselschafft, Phil. 1,28208, die eußerliche bezeugung der einigkeit an einem tische, brodt u[nd] becher, machet kein unwürdiges glied würdig, also auch kein würdiges unwürdig209; wenn nur der würdige nicht schuld hat, daß der unwürdige mit communiciret, wie auch die gantze kirche unschuldig bleibet, wenn sie verborgene sünde nicht weißt210, noch urtheilet oder straffet, weil solches über ihr vermögen ist. Wenn der unwürdigen gegenwart denen würdigen schaden solte bey Christo, so wären sie alle und immer theilhafftig anderer sünden. Sintemahl ohne zweiffel keine kirche auch zur Apostelzeit nie gewesen, darinnen nicht böse u[nd] fromme, verdamte u[nd] selige solten zugleich communiciret haben, 1. Cor. 10,21; 11,29. 30. 34211.“212 So antwortet er 203
1Kor 5,6.13; Gal 5,9.12. 2Thess 3,14. 205 noch < doch. 206 anders ] + . 207 Der reflexive Gebrauch des Personalpronomens ist denkbar. 208 Phil 1,28. 209 würdiges unwürdig < würdiges /un/würdig. 210 Altertümliche Form der 3. pers. sg. von „wissen“ (DWB 30, 748). 211 1Kor 10,29; 11,21. 30. 34. 212 Nach Frankfurter Briefe [s. Anm. 4] 5, Nr. 100, Z. 70–74, handelt es sich um einen Sozinianer oder Semisozinianer; Näheres konnte nicht ermittelt werden. 204
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auch auff den vorschlag der absonderung sehr nachtrücklich: „Hierinnen stehet hohe und vielfältige gefahr des gewißens. Einmahl weil das urtheil von der Christen würde und unwürde an dem leib Christi kaum der gantzen kirchen mitgegeben, welcher dieser befehl des Apostels, 2. Cor 6,17; 2. Theß 3,14213, zukommet. Wenn nur diese obbmeldte fromme sich deßen anmaßeten u[nd] ihrer eigenen würdigkeit, der andern unwürdigkeit richter sein wolten, fielen sie auß furcht einer sünden in die andere, ein ieder würde sein eigner richter und noch über u[nd] wider die gantze gemeinde (in welcher Christus selbs viel unkraut u[nd] böse fische duldet, ja biß zur ernde dulden heißet214), wodurch die kirche noch mehr zu Babel oder verwirret würde, alß sie leider ist, wenn es auff eines ieden urtheil apart ankommen solte, wer der communion würdig oder nicht. Darnach so begingen die so genannte fromme eine verdamliche sünde, Gal. 5,20215. Wenn sie einen riß in den leib Christi machten, solange die unwürdige ihn nicht machen, sondern iene mit ihrer frommigkeit, bekantnis u[nd] vermahnung (welche sie nie underlaßen müßen) in ihrer gemeinschafft gern erhalten oder dulden wollen. Zeit und unheil gnug, wann sie von denen gottlosen außgestoßen werden, da sie dannoch nach dem exempel des Apostels viele und lange leiden müßen, Act. 19,9216, ehe sie ein neu altar oder kirche auffrichten, wovon sich die Heiligen immer solange gehütet, biß alle mittel zur vertragsamkeit außgewesen sind oder vergebens von ihrer seiten versuchet worden; und solches weil nichts der ehre Gottes, der menschen seligkeit und Christliche erbauung schädlicher ist alß die trennung der gemeine oder des leibes Christi. Was dennoch die unordenliche oder unwürdige anlangt, wann und wo dieselben oberhand genommen u[nd] so mächtig sind, daß sie sich mit Gottes wort und geist weder binden noch lösen laßen (außer welchen schlüßeln Christus seiner kirchen keine andere gegeben hat), so ist den frommen u[nd] gerechten sicherer u[nd] seliger, daß jene ihnen selbs ein gericht eßen u[nd] trincken, die den leib des Herren oder seinen tisch nicht underscheiden; alß das diese ihrenthalben entweder ihre schuldige pflicht dem HERREN JESU mit verkündigung deßen todes nicht leisten, oder deßen leib zerrütten solten, wenn eins von beiden nothwendig geschehen müßte. Belangend die bewehrten und würdigen, so fern sie sich nicht anders dem unordenlichen leiblich entziehen könten, alß mit spaltung der kirche Christi, so ist ihnen seliger, daß sie mit dem hertzen auß ihrem mittel gehen, mit ihrem unreinen werck nichts zu schaffen noch gemeinschafft haben, sondern sie vielmehr straffen u[nd] ihnen abscheu zu verstehen 213
2Kor 6,17; 2Thess 3,14. Jesu Gleichnisse vom Unkraut unter dem Weizen (Mt 13,24–30) und vom Fischnetz (Mt 13,47–50). 215 Gal 5,22. 216 Apg 19,9. 214
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geben, alß das sie, um sie zu meiden, mit ihnen nicht eßen noch zu trincken, entweder den tisch des Herren u[nd] seines todes gedächtnus meiden, oder gar einen riß in seinen leib machen solten.217“ Biß hieher solchen autor, deßen218 entscheid, soviel die sache selbs anlangt, ich mir gantz gefallen laße u[nd] nicht sehe, wie mit sattem grund etwas dagegen auffgebracht werden könne. Der HERR mache selbst endlich dießen fragen ein ende, daß er komme und das unkraut zur zeit der ernde absondere und in das feur werffe, hingegen seinen219 weitzen in seiner scheuren einsamle220; indeßen gebe er uns klugheit, liebe, sanfftmuth u[nd] eiffer, die böse also zu tragen, daß wir sie trachten zu beßern und uns von ihren befleckungen rein zu behalten, in allem solchen aber seinen rath an uns recht erkennen u[nd] ihm gehorsamen. Ja, er gebe allen seinen kindern gnade, daß sie seyn ohne tadel u[nd] lauter und seine wahren kinder, unsträfflich, mitten under dem unschlachtigen geschlecht, darmit sie under denselben scheinen alß die liechter in der welt221. Amen.
Etliche Anmerckungen über das geschriebene Tractätlein von Der Unwürdigen Communion und denen darbey vorgehenden Sünden. * Pag. 1 setzt der Autor diese Erste Thesin: Einige unwürdige zu dem H[eiligen] Abendmal zulassen, ist nicht absolute und bloß dahin verbotten 222. Anmerckung. Es sind dreyerley art unwürdiger dischgenossen zu betrachten: Erstlich seind die Jenigen, welche in offentlichen sünden leben und, hindangesetzt aller ernsten vermahnungen, muhtwillig und halßstarrig darinnen fortfahren, alß da sind Ketzer, Unglaubige, Atheisten, Blutschänder, Hurer, Ehebrecher, Flucher, Räuber, Wucherer, Trunckenbolden etc. Diese werden genant Unbußfertige, Unglaubige, Heyden u[nd] Zöllner, 217 218 219 220 221 222
solten. ] + . deßen ] + . seinen ] + . Vgl. Mt 13,30. Phil 2,15. S. o. 209, Z. 7 f.
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Unbeschnittene an hertzen u[nd] Ohren, Hund und Schweine etc. v[gl.] Act. XIII,46; Mt X,13; c. XIIX,17. 2.Pet II,22223 etc. Zweitens seind die Jenigen, welche zwar Eusserlich vor der welt Schand und laster meyden und ein fein Erbarlich leben zu führen scheinen, allein Sie thun alles zum schein u[nd] seind heimblich aller laster voll p[erge]. Diese werden genant Heuchler p[erge]. Drittens ist auch bey den glaubigen u[nd] bußfertigen noch Eine Unwürdigkeit. Davon Eigentlich Paulus redet 1. Cor XI224. Da Sie nehmlich etwa dergleichen Sünden thun als die, so das götzenopffer assen225, In ihrem ampt u[nd] beruff unfleissig sind, den glauben so eiffrig und feurig nicht beweißen, wie Sie wohl solten, die göttlichen geheymbnußen bevorab226 bey dem h[eiligen] Abendmahl nicht nach würde aestimiren, noch selbiges von andern malzeiten, so wie sichs gebürt, unterscheiden227, Sich nicht mit Ernst und andacht allezeit darzu bereiten, mit fehlern dann u[nd] wann übereilet werden u[nd] in solchem zustand, welche mit228 den Corinthiern ihrem eine Verwandnus hat, zu des Herrn disch kommen. Mit einem wort, in ihrem Christenthumb Sicher, kalt u[nd] nachläßig seyn. Nach dem Exempel der229 klugen Jungfrauen, welche mit den thörichten entschlieffen, Matth. XXV,5230, und Etliche Gemeinden in Asien, Apoc. II u[nd] III231, hören aber doch die Stimme der ruffenden diener endlich u[nd] wachen auf von Ihrem Schlaff232. Wann sie der herr ansiehet, so dencken sie an seine wortt u[nd] erkennen ihre sünde, wie petrus233 p. p. Wofern nun der autor in seinem obigen Satz diese beiden letztere arten der Unwürdigen verstehet, so läst mans nicht nur gelten, sondern universalisiret auch solchen Satz als viel zu eng noch weiter und sagt: daß Sothane Unwürdige zum h[eiligen] Abendmal zulassen gantz und gar nicht verboten sey. Dann was die heuchler anlanget, in dem wir nur nach dem Eußerlichen zu richten haben, sind sie nicht Unß, sondern Gott offenbahr, als bekannt ist. Undt gehöret hieher eigentlich das Exempel Judas. 223
Apg 13,46; Mt 10,13; 18,17; 2Petr 2,22. 1Kor 11,17–34 (bes. V. 27–29). 225 Zur Auseinandersetzung in der korinthischen Gemeinde über die Frage, ob Christen Fleisch, das aus einem heidnischen Opfergottesdienst stammt, essen dürfen s. 1Kor 10,15– 30. 226 Vorab, besonders (praesertim) (DWB 1, 1759). 227 Vgl. 1Kor 11,20–22. 228 /mit/. 229 der ] + . 230 Mt 25,5. 231 Die Sendschreiben an sieben kleinasiatische Gemeinden; darunter sind die Epheser, die die erste Liebe zu Christus verlassen haben (Apk 2,4), die Christen aus Sardes, die tot im Glauben sind (Apk 3,1) und die in Laodizea, die „weder kalt noch warm“ sind (Apk 3,14). 232 Vgl. Mt 25,6 f und Apk 3,2. 233 Vgl. Mt 26,74 f parr. 224
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Was dann die Unwürdigen dritter art betrift, so ist auch, selbige zuzulassen, gantz und gar nicht verbotten. 1. Weil Paulus 1. Cor XI234 nur235 befiehlet, daß sie sich prüfen, nicht aber darvon bleiben, noch durch andere darvon abgehalten werden sollen. 2. Diese Unwürdigkeit ist wol Sünde und zeiget an, daß der Glaub schwach ist, aber Sie ist noch kein Unglaube. 3. Solcherley unwürdiges Essen und trincken sich wol das gericht, aber nicht das gericht Ewiger Verdambnuß (wie fast insgemein der text Pauli dahin auch gedeutet wird236), sondern sie verdienen nur zeitliche Straffe und Züchtigung, welche der Apostel h[oc] l[oco] 1. Cor XI237 das Gerichte nennet. Doch scheidet sie dies gerichte nicht gantz u[nd] gar ab von Christo, sondern züchtiget238 und bessert sie nur, daß sie in das Ewige Gericht nicht fallen, dann allein der Unglaub verdampt. Wie der Apostel sagt: „Darumb seind auch so viel schwachen und krancken unter Euch, und ein gut theil schlaffen, dann so wir unß selber richteten, so würden wir nicht gerichtet. Wann wir aber gerichtet werden, so werden wir von dem herrn gezüchtiget, auf daß wir nicht sampt der welt verdampt werden.“239 (NB. Wo dießer punct recht erkant, deutlicher erklärt u[nd] geprediget würde, so würden die Einfältigen u[nd] Schwachglaubigen wegen unwürdiger Niesung nicht so leicht in Anfechtung u[nd] Zweiffelmuht240 gerahten, als leyder geschiehet, wann man Ihnen Gott als ein [sic!] Tyrannen u[nd] dieße Speiß als gift u[nd] pestilentz abmahlet p[erge]; sed haec in parenthesi!241). Wofern aber der autor die Unwürdigen Erster art verstehet u[nd] statuiren wolte, daß, derselben Einige zum h[eiligen] Abendmahl zulassen, nicht absolute und blos dahin verboten sey, So sehe Ich Einsmals kein fundament, worauf sich dieser Satz gründen möge. Finde vielmehr, was Selbigen über einen hauffen stoßen kan; dann In dem solche Sünder praemissis praemittendis242 gar aus der gemeinde zu bannisie234
1Kor 11,28. /nur/. 236 Spener unterscheidet nicht zwischen (irdischem) Gericht und ewiger Verdammnis, wenn er zur Stelle formuliert: „in aeternum damnatur“ (vgl. Philipp Jakob Spener: Divi Pauli Apostoli Epistolae ad Romanos et Corinthios homiletica paraphrasi illustratae. Frankfurt/Main: J. D. Zunner 1691, 427); dies entspricht der lutherischen Bekenntnistradition: Großer Katechimus (BSLK 721.69), Solida Declaratio VII (BSLK 990.57), Konkordienformel, Epitome VII (BSLK 759.16). 237 1Kor 11,29. 238 1Kor 11,32. 239 1Kor 11,30–32. 240 Religiös kann der Begriff „Unglaube“ bedeuten; aber weiter auch „Verzweiflung“, „Angst“ oder „Sorge“ (DWB 32, 1018). 241 Dies aber in Klammern. 242 Wörtlich: „nach Vorausschickung des Vorauszuschickenden“, d. h. „mit allem, was hier aufzuzählen wäre“. 235
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ren seind, so muß ihnen Ja folglich der zutritt zu des herrn disch absonderlich verwehrt werden; cf. Matth. VII,6. c. XIIX,17; 1. Cor. V, 4–11; 2. Thess. III, 6.14; Rom. XVI,17; Tit. III,10; 2. Joh. X.11243 p[erge]. Darnach so seind auch die vom Autore angeführten Rationes hierzu theilß unbrauchbar, theils ungültig. Dann 1. Obgleich der herr bey der Einsatzung kein deutlich gebott oder verbott dieser Sach wegen gegeben, So erzwingen doch solches die Umbstände der Einsatzung; dann In dem der herr Christus nicht den Unbußfertigen Phariseern, sondern seinen glaubigen lieben Jüngern und freunden, welche seine gebotte annehmen und halten, seinen tod verkündigen244 u[nd]245 Ihn und sich selbst untereinander lieben würden, das h[eilige] Abendmal eingesetzt und solches ofters zu halten befohlen hat; So hat Er zugleich andeuten wollen, daß es vor die Unglaubigen u[nd] Ruchloßen mit nichten eingesetzet sey. Wie Er damals nicht vor die welt, sondern vor die, so Er von der welt erwehlet hatte, u[nd] vor die, so durch Sie an Ihn glauben u[nd] sampt Ihm u[nd] Ihnen In dem vatter Einß sein würden, bate246; Also gibt Er auch nicht der Welt, sondern diesen seinen auserwehlten lebendigen Reben247 u[nd] gliedmassen248/249 diese Speiß u[nd] diesen Tranck. 2. Daß der herr gleichwol den Judas admittiret, beweist hier nichts; dann Judas nicht unter die Erste250, sondern unter die andere gattung251 der unwürdigen gehöret, nehmlich der heuchler, welche, wie droben erwehnet, freylich müssen zugelassen werden; Und konnte Judas nicht unter die Zahl der offenbahren Unwürdigen gezehlet werden, weil sein bös vorhaben damals noch nicht völlig volbracht und offentlich am tage, sondern den Jüngern verborgen war. Hindert nichts, daß der Herr es Ja gewust und Ihn also wissentlich admittiret. Dann der herr wuste es, so fern Er zugleich wahrer Gott war. Er verhelt sich aber hierbey alß ein bloßer mensch, umb Unß zu zeigen, wie wir Unß gegen heuchler verhalten sollen, daß wir nehmlich die Jenigen, Welche Ihrer bosheit u[nd] mishandlung252 durch Anklag (?) oder augenscheinlichen beweiß nicht offentlich überzeuget seind, keines weges ausschließen,253 viel weniger, wo nur
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Mt 7,6; 18,17; 1Kor 5,4–11; 2Thess 3,6.14; Röm 16,17; Tit 3,10; 2Joh 10 f. 1Kor 11,26. /u./. Vgl. Joh 17,9. Vgl. Joh 15,2.5. /u. gliedmassen/. Vgl. 1Kor 6,15. S. o. Z. 638–644. S. o. Z. 645–648. 209 Anm. 91. ausschließen, ] + .
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allein Unß deren Sündliche [sic!] vorsatz bekant war, Sie durch sothane ausschließung offenbahr machen oder zu vollbringung der intentionirten Sünden dardurch reitzen u[nd]254 mehrere Ursach geben sollen; Man solle es diesfals bey Ernsten warnungen u[nd] Ermahnungen nach seinem Exempel bewenden lassen. Daß aber den Jüngern (ausgenommen dem Johanni255) des Judas bosheit unbekant war u[nd] sie aus des Herrn seiner Rede selbige nicht abmercken können, ist Ja aus der historie klar gnug. 3. et 4. Der Locus paulinus 1. Cor XI256 handelt nicht von den unwürdigen Erster gattung, wie droben schon erwehnet. Dann 1. Cor V. 9257 hatte der Apostel deutlich gnug gelehrt, daß man Selbige in Christlicher gemeind gar nicht dulden, mit denselben nichts zu schaffen haben, Ja mit ihm nicht essen, sondern sie aus der gemeind hinaus thun solte258. Also kan Er sie C. XI. nicht vor gliedmaßen259 der Gemeinde Christi halten, viel weniger zum Abendmal des herrn nötigen. Sondern Er redet von solchen Unwürdigen, die noch im glauben waren, wiewol schwach, u[nd] waren noch am leibe Christi, ob sie schon mangel am leben hatten und nicht allerdings dem Evangelio würdig wandelten. Die Gottlosen aber oder Unwürdigen Erster gattung gehören gantz u[nd] gar nicht hieher, dieweil sie zum leibe Christi nicht gehören u[nd] sich selbsten nicht zu prüfen begehren, Ja im Zorn Gottes u[nd] in der Verdambnus liegen, Joh III.36260. 5. Daß der bekante, auch oben citirte Spruch, Mt VII.6,261 des Autoris Satz entgegen unfüglich solte können citirt werden, wolte ich nicht leicht zugeben. man conferire damit, was 2.262 pet. II,22; Hebr. X,29; Apoc. XXII,15263 von den Säuwen u[nd] hunden, welche das blut des Testaments, die Edle gabe, mit füßen tretten p[erge], geschrieben stehet, so wird sichs finden. So leyden auch die vom autore zum behuef seiner meynung angeführten Ursachen ihre Exceptiones. Dann
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/reitzen u./. Vermutlich wird hier auf die Szene in Joh 13,23–26 angespielt, nach der Jesus dem Jünger „an der Brust Jesu“, der traditionell mit Johannes gleichgesetzt wird, mit Hilfe des eingetauchten Bissens Judas als Verräter anzeigt, während nach V. 28 die anderen Jünger das Zeichen und die Rede Jesu (V. 27) nicht verstanden. 256 1Kor 11,20–34 (s. auch Anm. 224). 257 1Kor 5,9. Hier werden Hurer erwähnt. 258 Zu der reformatorischen und nachreformatorischen Entwicklung der Frage nach dem Bann (Großer und Kleiner Bann) in den lutherischen Kirchen, die sich hinter diesen Ausführungen erkennen lässt, s. Christoph Link: Art. „Bann“. In: TRE 5, 1993, 186–188. 259 gliedmaßen ] + . 260 Joh 3,36. 261 Mt 7,6. 262 2.: cj ] 1. 263 2Petr 2,22; Hebr. 10,29, Apk 22,15. 255
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1. Obgleich das Abendmal damalß noch nicht eingesetzt war, alß der Herr diesen Spruch geredet264, so benimpt doch dieß der Sach selber nichts. Indem dem Geist Gotteß nicht ungewöhnlich, dunckele oder allgemeine Gebotte, Verbotte u[nd] Verheißungen zu stellen von dingen, die allererst künftig sollen angeordnet u[nd] gegeben werden alß Joh.265 VII.38266. U[nd] im nachsinnen dürften sich bequemere Exempel finden. 2. Die Regel, auß dem Context und denen Antecedentibus267 von der meynung eines Spruchß der h[eiligen] Schrift zuurtheilen268, ist nicht perpetuel269, sonderlich in denen ortten, wo viele und mancherley unter sich unterschiedene gebott und verbotte gegeben werden; wie in eben diesem VIIten und denen vorhergehenden V. und VIten Capiteln Matthei zu sehen ist270. 3. Daß in ermeltem Spruch271 durchaus keine dergleichen propositiones anzutreffen, aus welchen wenigstens auch nur eine folge auf die sacramenten gezogen werden könte, wird der autor mit der eingeführten Assumption272 u[nd] Instantz nicht wol behaupten können273. Die propositionem Majorem274 setzt Er also: Alleß das Jenige, was Ein Heyligthumb und perle ist, muß niemals einigen hunden u[nd] säuwen gegeben werden; Diese zu infringiren275 subsumiret Er also: die Predigt von der buß ist ein Heyligktumb276. Ergo p[erge]. Allein man erwäge, daß in der Schrift das Jenige Eigentlich ein Heyligthumb oder Ein Heyliges genennet wird, welches von gemeinem brauch abgesondert u[nd] nicht allen gemein ist. Eß seyn nun zeit, orth, person oder dinge. Also im Alten Testament waren die Schaubrod, gewisse Stücke anderer opffern und dergleichen sehr viel277. Welches zum gottesdienst gebraucht oder nur den priestern u[nd] Leviten zu gebrauchen u[nd] zu essen erlaubt war p[erge]. Also im N. T. kan in Eigentlichem Verstand das HEILIGE genant werden das gesegnete brod und der geseg264
Jung bezieht sich hier auf die Argumentation Speners in Z. 46–48. /Joh./. 266 Joh 7,38. 267 Die vorhergehenden (Aussagen). 268 Jung bezieht sich auf Z. 51–66, 269 Dauerhaft(e), ständig(e) (Regel). 270 Mt 5–7; in der hier überlieferten Bergpredigt werden einzelne Ordnungen und Gebote zusammengestellt, deren Bedeutung sich in der Tat meist nicht aus dem gesamten Kontext erheben lässt, sondern die Exegese die jeweils zusammengehörenden Aussagen ermitteln muss. 271 Nämlich Mt 7,6. 272 In der aristotelischen Logik der „Untersatz“ eines Syllogismus. 273 Bezieht sich auf Z. 36–129, v. a. auf Z. 67–118. 274 In der aristotelischen Logik der „Obersatz“ eines Syllogismus. 275 Entkräften. 276 Bezieht sich auf Z. 80. 277 Das Inventar der Stiftshütte (s. etwa Ex 25,30; 35,13; 39,36 u. ö.). 265
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nete wein278; die Evangelische Verkündigung u[nd] lossprechung von Sünden; die Gabe des h[eiligen] Geistes. Und dergleichen p[erge]. Welches als heyligthumb nur vor dieJenigen gehöret, so da geistliche Priester279 sind, gewaschen an ihrem leib mit reinem wasser u[nd] los von dem bößen gewissen, die nicht muhtwillig sündigen, noch das blut des280 bundes mit füßen treten p[erge]; cf. Exod XXIX,4; Num VIII,7 cum Hebr. X,19 seq[uentibus] etc.281 In solchem Eigentlichen Verstand nun kan die predigt von der Buß kein Heyligthumb genant werden, wohl aber das wasser der reinigung282 oder eine vorbereitung zu demselben. Dann diese Predigt allen und Jedem, auch denen ruchloßesten von der welt gemein u[nd] selbigem vorzutragen geboten ist, wie der autor selbst gestehet;283 Petrus predigte dem Zauberer Simon zwar die buß, aber das Heylige wolte Er ihm als einem hund nicht vorwerffen, Act. VIII.22. antec[edentes] et sequ[entes]284. Undt schließe ich aus den wortten Christi also: Alles dasJenige, was in Eigentlichem Verstand das285 Heylige ist, muß niemalen einigen hunden u[nd] Säuwen oder Unwürdigen gegeben werden. Die predigt von der buß wird den unwürdigen gegeben. Ergo: So ist Sie in Eigentlichem verstand nicht das Heylige. Und anstatt der Assumption setze man diese propositionem minorem286: Christus Im h[eiligen] Abendmal ist in eigentlichem verstand der Heilige, so ist der Schluß: Ergo so muß selbiges kein hunden noch schweinen gegeben werden.
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Pag. 5 folget des autoris 2ter Satz: p.287 Anmerckung
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Dieser Satz ist gantz richtig. Da aber der autor in Erzehlung der Ursachen, warumb solche zulassung denen, so Sie verstatten, zur Sünde werde, circa finem pag. 5. darfür helt und auf seiner vorigen deduction schließet, daß die reichung des h[eiligen] Abendmalß oder die zulassung in solchem Actu anders nichts sey alß eine unverbottene reichung einer gab, welche der 278
Vgl. 1Kor 10,16. Im Sinne des „geistlichen“ bzw. „allgemeinen Priestertums aller Gläubigen“ sind hier glaubende Menschen gemeint (vgl. 1Petr 1,5.9). 280 des ] + . 281 Vgl. Ex 29,4; Num 8,7 mit Hebr 10,18–22. 282 Das „Wasser der Reinigung“ im atl. Ritualgesetz, das über Unreine gesprengt wurde, um sie wieder kultisch rein zu machen (Num 19; bes. V. 9). 283 gestehet; ] + . 284 Apg 8,9–24; bes. V. 22. 285 /das/ : . 286 In der aristotelischen Logik der „Untersatz“ eines Syllogismus. 287 S. o. 213, Z. 130 f. 279
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andere entweder, das wirs nicht wissen, oder auch, das wirs wissen, mißbrauchen wird.288 So wiederhole ich dargegen aus meinem vorigen u[nd] sage, daß die reichung des h[eiligen] A[bendmahls] oder die Zulassung der Ersten Class der289 Unwürdigen, nehmlich der Unbußfertigen, der hasstarrigen und hund u[nd] Säuw etc. absolute verboten seye290 u[nd] daß derJenige, welcher Sie admittiret, sich damit gnugsam versündige. Dann 1. handelt Er wider Christi Verbott u[nd] den zweck der Einsätzung; wird des herrn mund ungehorsamb und ein untreuwer haushalter der göttlichen geheymbnüßen291. Der das Heilige u[nd] abgesonderte allen292 ohne unterscheid gemein machet. 2. So weiß Er, das es Jener mißbrauchet; und thut hiezu nichts, daß Christus wissentlich dem Judas das gegeben, was er wuste, das er mißbrauchen würde (p. 6293), dann solch Exempel hieher nicht gehöret, wie droben erwießen. 3. Er schändet die Gemeinde Christi, ärgert die frommen u[nd] einfeltigen u[nd] säet allerhand scrupulos in derselben gewissen. Waß aber die Andern Unwürdigen der 2. und 3. gattung belanget, so ist freylich deren zulassung Eine unverbottene294 Reichung, weil sie zum theil warhaftig noch glieder sind am leibe Christi, zum theil vor solche von Unß gehalten u[nd] angesehen werden. Auch können wir295 von diesen niemals wissen, daß sie es mißbrauchen werden. Dann die liebe uns verbindet, aus ihren worten und äußerlicher gebärdung das beste allezeit von Ihnen zu glauben296 und niemals aus argwohn sie zu beurtheilen. Wohl aber zu ihrer Selbstprüfung ernstlich zu ermahnen. Wie auch der autor gantz wol erinnert.
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S. o. Z. 144–149. /der/. 290 Vgl. Z. 697–704. 291 Vgl. 1Kor 4,1 f. 292 /allen/. 293 S. 6 des Manuskripts, das Jung vorlag (s. o. 213, Z. 150–152 f.). Dieses Manuskript könnte die überlieferte Abschrift K1 sein. 294 unverbottene ] + . 295 wir ] + . 296 Vgl. ähnlich in der Erklärung zum 8. Gebot im Kleinen Katechismus Martin Luthers: „[. . .] sondern sollten ihn [den Nächsten] entschüldigen und guts von ihm reden und alles zum Besten kehren“ (BSLK 509, 22–24). 289
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Pag. 8 folget des autoris 3ter Satz297. Anmerckung
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Dieser Satz kan nach vorigen meinen gründen gleichmäßig limitiret werden. Deme nechst tractiret der autor die wichtige materie, welche in folgenden fragen mag abgefast werden. 1. Ob die Erkantnuß über des Communicanten Unwürdigkeit und die Ausschliesung desselben vom Abendmal bey einem Einigen Menschen, absonderlich bei den predigern oder einem Jeglichen unter denen selben, nehmlich dem beichtvater unterstehe? 298 Hier defendiret der autor negativum auß einem solchen principio, welches umbzustosen schwer fallen solte. Und pflichte ich seiner meynung diesfals gerne bey, in dem ich noch nur [sic! Recte: zur] zeit nichts finde, so mich eines andern convinciren, wohl aber ein mehrers, so mich in solcher meynung stärken kan: Es fliest aber aus dieser frage noch eine andere, u[nd] zwar folgende: 2. 299 nehmlich, wann die kirche einen Unwürdigen Hund u[nd] Sauw nicht vor unwürdig declariren, vielweniger vom h[eiligen] A[bendmahl] ausschließen 300 wolte, ob so dann des Predigers macht u[nd] sein Ampt sich nicht weiter erstrecke, noch ein mehrers erfordere? Sondern Er solchen Unwürdigen admittiren u[nd] das h[eilige] A[bendmahl] reichen solle? Und dannoch darbey ein gutes gewissen habe? Hierin nun kan ich mit dem autor die affirmativam (pag. 20 in fin[em]301) nicht statuiren. Dann es ist ie Ein Prediger der gantzen heerde als ein lehrer u[nd] wächter vorgesetzet u[nd] gehet sein Ampt über alle u[nd] Jede, In welchem Er302 absolute auff der Instruction seines Herrn zu sehen hat. U[nd] Jene seind verbunden Ihme, so fern er das thut, in allem zugehorchen u[nd] folge zu leisten; wo nun die kirch einen, der in der that unwürdig were, dannoch nicht vor unwürdig erkennen oder von der Communion ausschließen wolte, So gebühret dem Prediger nicht, daß er es darbey bewenden lasse, sondern daß Er das unrechte verfahren strafe und vor sich im Nahmen seines Herrn den Ausspruch und die Ausschließung vornehme u[nd] dencke, man müsse Gott mehr gehorchen alß den menschen303. Dann wie die Kirche den Prediger nicht binden kann, Einem Unbußfertigen wider Christi Verbott die Vergebung der Sünden und den Evangelischen Trost zu verkündigen, also304 mag Sie Ihn noch viel weniger binden, Einem solchen die Versicherung u[nd] obligation der Vergebung der Sünden, nehmlich das blut Christi wider Christi verbott zu rei297 298 299 300 301 302 303 304
S. o. Z. 220–224. S. o. Z. 235–237. 2. ] + . ausschließen ] + . Seite 20 im Manuskript (s. o. Z. 279–287). Er ] + . Vgl. Apg 4,19. also ] + .
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chen. Mehrere rationes dörften sich leicht finden. So möchten auch die Executiones, so Paulus verschiedene mahl verrichtet, nicht305 unfüglich hieher gezogen werden306. Hierbey kompt aber noch die wichtigste frage her: 3. Ob es nehmlich rhatsamb, daß Ein Prediger Jeder Zeit, sonderlich bey einem zerrütteten zustand der kirchen, da mehreres unheyl zu befürchten stünde, sich solcher macht gebrauchen wolte? Ich antworte mit Paulo: Wir müßen die Schärffe gebrauchen nach der macht, welche uns der herr, zu bessern und nicht zu verderben, gegeben hat, 2. Cor. XIII,10307, wo wir nun sehen, das (wil nicht sagen an den unwürdigen, sondern an dem Groß (?) des leibes Christi)308 durch unsere Außschließung nichts gebessert, sondern mehr schaden verursacht wird, so muß man sich ie allewege solcher macht nicht gebrauchen, sondern das unkraut unter dem guten waitzen dulden309, biß der Herr der Ernde310 selbst drein sieht. Und hie gestehe ich, daß die Rationes, mit welchen der autor (pag. 11.12311) eben312 dieses zu behaupten suchet, so ponderos und wolgegründet seyn, daß schwerlich etwas dargegen mit bestand wird können aufbracht werden. Und pflichte ich seiner meynung gäntzlich bey, doch so fern, daß die Erörternde313 frage, als uf [sic!] gewisse fälle restringiret314, zu keiner durchgehenden universal regul auch von denen gezogen würd [sic!], welche in einer solchen gemeine stehen, da sie sich ihrer macht ohne der kirchen nachtheil oder315 besorgung anderer emergirenden Inconvenientien316 gar wohl gebrauchen können, daß sie hingegen317 doch anlaß gewinnen, sich selbst zu liebkosen und der welt feindschaft318 großentheils vom hals zu schieben319. Sonsten sind des autoris angeführte beweißthümer starck gnug, das Gewissen Eines Predigers in dem Nohtfall zu salviren, wofern nur die 305
nicht < doch. Z. B. 1Kor 5,3–5. 307 2Kor 13,10; vgl. auch 1Tim 1,20. 308 Diese Klammer steht im Manuskript hinter „unwürdigen“, ist jedoch hierher zu verschieben. 309 Vgl. Mt 13,25–30. 310 Mt 9,38 par. 311 Seiten 11 u. 112 im Manuskript (s. o. Z. 311–344). 312 /eben/. 313 | Erörternde |. 314 Einschränken. 315 oder ] + . 316 Sichtbar werdende Unschicklichkeiten. 317 /daß sie hingegen/ . 318 Vgl. Jak 4,4, hier aber: „der Welt Freundschaft“ ist „Gottes Feindschaft“. 319 Vgl. ähnlich „jd./etwas sich vom Hals schaffen“ (s. Wander, Sprichwörter-Lexikon [s. Anm. 133] 2, 282 Nr. 53). 306
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pag. 13320 mit angehengten praecautiones seinerseits genau, u[nd] zwar so beobacht [sic!] werden, daß man sich darbey hofnung machen kan, Eben das Jenige und, vielleicht noch eher, durch diesen weg, bei dem unwürdigen endlich zu erlangen, was man sonsten durch die Ausschliesung und vorenthaltung des Abendmalß bey ihm hette erlangen sollen, nehmlich SEINE BESSERUNG321. Und find ich nicht, was einem Prediger in solchem fall sein gewissen beflecken322 oder graviren könte! Das oben angezogene verbott des herrn kan es nicht thun. Dann deßen zweg ist die wohlfahrt u[nd] Ehre des geistlichen leibes u[nd] die Besserung deß unwürdigen Eußerliche zucht etc. Weil nun dieser zweck in gewissen fällen nicht allein nicht erhalten323, sondern ein nur grösseres Unheyl am leibe Christi verursachet wird, so felt das verbott auch auf gewisse mase von sich selbst dahin und verobligiret den prediger nicht. Der Herr will mit seiner Einsetzung und verbott zeigen, was billich geschehen solle u[nd] nicht, was allezeit geschehen könne. Und muß man auch hierinnen (wie Lutherus sonsten redet) den wagen nach dem weg richten324; wie wir sehen, daß das dritte und andere mehrere sonst gantz ernste325 gebott326 Gottes327, nachdem328 Lieb u[nd] noht es fordern329, ihre Exceptiones330 oder limitationes leyden. So streng alß die Beschneidung, die Opffer und dergleichen von Gott gebothen waren, so wenig mochten sie331 in obacht genommen werden, da es weder zeit, orth noch andere Umbstände In der wüsten u[nd] in Babel leyden wolten. Wo nun einem die hände gebunden, auch die verfassungen nicht besser seynd und aber Ein gantz Ministerium selbigen orts in pleno Consessu332, folgends auch ein Jeder prediger offentlich und absonderlich dem unwürdigen GERATHEN333, sich, biß daß Er zu Erkantnus seiner bosheit u[nd] zur veränderung seines Sinnes gekommen, des h[eiligen] Abendmals zu enthalten, so hat der prediger, wann dieser gleichwol hinzutritt, dannoch 320
Seite 13 im Manuskript (s. o. Z. 356–398). Im Manuskript mit sehr groß geschriebenen lateinischen Lettern hervorgehoben. 322 beflecken + 323 erhalten ] + . 324 Vgl. Martin Luther, Auslegung der Episteln und Evangelien, (4. Sonntag nach Epiphanias), wo er von einem klugen Fuhrmann redet, der das „geschirr alles nach dem wege lencket“ und – spöttisch! – formuliert: „das ist der kluge furman / der den weg wil nach dem Wagen lencken.“ (WA 17 II, 96,1–2). 325 | sonst gantz ernste | 326 gebott ] gebott. 327 Gottes ] + . 328 nach/dem/. 329 /es fordern/ . 330 Exceptiones . 331 sie ] + . 332 In der ganzen Versammlung, d. h. vollzählig. 333 Wie bei Anm. 321. 321
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die Entschuldigung bey gott u[nd] den trost, daß es wider seinen getreuen rhat geschehen u[nd] dieser des heyligthums wider seines hertzens willen u[nd] verhoffen nehme. Werde also gott seinen diener nach seinem hertzen richten, Jener aber Seine eigene Schuld tragen. Ja, es kan u[nd] soll ein Prediger alsdann nach der regel der liebe hoffen, Eß habe sich dieser Zöllner bekehret334, In betrachtung, daß Gott die buße wircket alß In einem solchen moment, da wirs uns nicht versehen hetten. Wofern aber ein Prediger sich u[nd] nicht außreden335 lassen336, sondern nur versichert halten wolte, daß ein solcher Communicant unwürdig das h[eilige] Abendmal empfangen337, und dahero auch ja der prediger sich mit versündiget hette: So soll Er gedencken, daß nicht die bloße niesung, sondern der vorhergehende u[nd] mitfolgende unglaub u[nd] die beliebte338 unbußfertigkeit (woran gleichwol der prediger nicht schuld hat) eigentlich verdamme. Und 2. daß Er (wofern er sich ie339 mit versündiget) dannoch keine anderen alß etwa nur einer leiblichen vätterlichen züchtigung, mit nichten aber der Ewigen verdambnus umb eines solchen bößen bubens willen theilhaftig gemacht habe p[erge]. Pag. 17. In fine, Erörtert der autor die frage Ob nicht auch eine Sünde von seiten derJenigen begangen werde, welche mit den Unwürdigen communiciren, daß sie selbst unwürdig dardurch würden.340 Anmerckung Diesen punct beantwortet der autor mit NEIN341 und erweiset solches mit guten gründen. Worauf ichs beruhen lasse. Dann die Gemeinschaft der kirchen u[nd] die sacramenten sind nicht bande der ungerechtigkeit oder verbündnüße bößer leute und heuchler. Sondern sie verbinden und verEinigen uns allein mit dem herrn Christo und allen wahren glaubigen, welcher hertzen wir nicht sehen können, ist auch nicht vonnöhten, sondern gnug, daß Gott Sie und unß recht kennet342. So ists auch ein grösser ärgernuß, vom gottesdienst sich gar enthalten, alß daß ein anderer im leben u[nd] wandel etwa strauchlet u[nd] anstößt. 334
Zöllner als sprichwörtlicher notorischer Sünder (vgl. Lk 18,10–14; 19,1–10). Im Sinne von „Ausflüchte“. 336 /u[nd] nicht außreden lassen, sondern/. 337 empfangen ] + . 338 Im Sinne von „was einem gefällt, angenehm ist“ (Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart. Bd. 1. Leipzig 1773, 843). 339 /ie/. 340 S. o. 223, Z. 493–495. 341 Wie bei Anm. 321. 342 Vgl. 2Tim 2,19; vgl. auch 1Sam 16,7. 335
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Wer nun an eines andern leben sich ärgert, der mag gedencken, daß Er selbst mit versäumnus des gottesdienstes viel ein grösser ärgernus gibt. Und heist gewislich auch von Ihm, Wehe dem menschen p[erge], Mt. XIIX,6343, deswegen soll niemand umb anderer leuht boßheit willen das, was recht und gut ist, unterlassen; noch den rechten gebrauch des h[eiligen] Abendmals umb anderer leuth mißbrauchs willen versäumen. Insonderheit solten die Prediger fleißig erinnern, daß sich niemand selber Ein ärgernus tichte344 u[nd] nehme, da oft keines zu nehmen ist, und daß ein Jeder einen Unterscheid zu machen wisse zwischen UNWÜRDIGEN345. Manchem sonst guten gemüht ist die kirche gottes allezeit verdächtig, daß er an derselben nichts guts, sondern346 eitel böses sehen kan u[nd] ohn einigen grund der warheit derselbigen gliedmasen oftermals beschuldiget und kan unter Sünd und Sünder keinen unterscheid machen. Und dahero kompt mehrentheilß der hass und die verachtung des offentlichen gottesdienstes und der Christlichen gemeinde. Diese heiligen haben warhaftig noch nicht recht gelernet, Nachfolger zu seyn der göttlichen liebe, geduld, langmuht und freundligkeit347. Erkennen auch nicht, wie theur die Seelen seyen348, welche zu suchen und nicht zu verderben Christus Jesus in die welt kommen ist349. Alles, was sie sehn u[nd] hören, daß nicht in der perfection u[nd] in dem grad der Erkentnuß der Heyligkeit u[nd] würdigkeit stehet, worin sie etwa durch die gnade gottes stehen oder zu stehen vermeynen, das richten, beurtheilen u[nd] verdammen Sie und bedencken nicht, daß der Vatter nach seinem wolgefallen sich noch stund u[nd] zeiten vorbehalten habe, In welchen Er auch denen andern barmhetzigkeit wiederfahren lasse, buße geben und das mas der gnaden350 mittheilen wolle. Der herr wolle uns in allem verstand geben, zu erkennen, was vor Ihm wohlgefällig sey, damit wir selig machen Unß Und die Unß hören. Amen. Gottes reiche Gnade In Christo Jesu!
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In demselben hertzlich geliebter vatter. Dessen brief und pacqueth vom 9ten hujus351 hab ich sehr wohl emp343 344 345 346 347 348 349 350 351
Mt 18,6. Erdichten, sich ausdenken. Wie bei Anm. 321. sondern ] + . Vgl. 2Kor 6,6 und 2Tim 3,10. Vgl. 1Kor 6,20; 7,23. Vgl. Lk 19,10. Vgl. Eph 4,7. Der Brief Speners vom 09. 08. 1681 ist nicht überliefert.
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fangen. Hierbey überschicke meine einfeltige gedancken über das geschriebene Tractätlein von der unwürdigen Communion p[erge] mit bitte, alles nach der liebe auszudeuten und, wo etwa gestrauchelt, mich candide zu corrigiren. Ich bin ohnlengst 8 gantze tage zu friedburg352 gewesen und habe wegen des H[errn] Inspectoris353 damals anhaltender Ohnpaßligkeit den wochent= u[nd] Sontäglichen gottesdienst354 versehen müssen, so seind mir auch andere ohnbeliebige feldstudia ufm [sic!] hals gelegen, daß ich obige meine Gedancken nicht so bald entwerffen u[nd] überschicken können, alß mein wundsch u[nd] Schuldigkeit erfordert. Das communicirte gedruckte Tractätlein, so355 mit attention durchlesen werde, soll auch nechstens folgen356. Tüchtige subjecta zu denen notificirten Stellen seind mir diesmal nicht bekannt357, so ich welche erfahre, und das noch nichts versäumt ist, werde es sobald berichten. Immittelst E[wer] l[iebden] und dero gantzes haus der gnaden gottes herzlich empfelend. Altstatt, den 26ten Aug. 1681. Meines geehrten H[errn] D[octoris]rs u[nd] in Christo gel[iebten] Vatters zu gebet u[nd] diensten gehorsamwilligster S[ohn] Jungius. Dem Hochwürdig, Andächtig und Hochgelahrten Herrn, Herrn Philip [sic!] Jacob Spener, der h[eiligen] Schrifft Doctori, Predigern und des h[eiligen] Ministerii zu F[rank]furt am Mayn Seniori p[erge] Meinem Hochgeehrten Herrn und wehrten Gönner p[erge] In Franckfort. franco.
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Friedberg, in der Wetterau, nördlich von Frankfurt gelegen. Christoph Huth (gest. 1706), geb. in Friedberg; nach dem Studium in Straßburg (1646) und Gießen (1650) 1653 Pfarrer in Assenheim, 1657 Rektor in Friedberg und 1658 Pfarrer und Inspektor ebendort (Wilhelm Diehl: Hassia Sacra. Bd. 4: Pfarrer- und Schulmeisterbuch für die hessen-darmstädtischen Souveränitätslande. Darmstadt 1930, 261 Nr. 8). 354 gottesdienst. 355 so ] + . 356 Nicht ermittelt. 357 Spener betätigte sich häufig als Vermittler geeigneter Personen als Geistliche an bestimmte Orte. Im zeitlichen Umfeld dieses Briefes etwas geht es um die Besetzung der heimlichen lutherischen Kirche in Köln (Frankfurter Briefe [s. Anm. 4] 5, Briefe Nr. 92). 353
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FRIEDEMANN STENGEL
Schrift, Ereignis, Kontingenz Zur Historizität der Bibelhermeneutik im 18. Jahrhundert 1. Hermeneutische Wende Im Jahre 1809 erschien bereits zum siebten Mal und in fünfter Auflage ein Arbeits- und Methodenhandbuch, das als Kernwerk der bereits vor mehr als 50 Jahren von Gerhard Ebeling (1921–2001) behaupteten „hermeneutischen Wende“ in der Bibelauslegung des 18. Jahrhunderts erkannt worden ist. Diese Wende bestand für Ebeling in der „Preisgabe der Lehre von der Verbalinspiration“, in der Unterscheidung von Bibel und Wort Gottes, in der Emanzipation der Exegese von der Dogmatik und in der wenigstens hermeneutischen „Gleichstellung“ gegenüber profaner Literatur.1 Mit der Feststellung einer ‚Wende‘ in der Hermeneutik wird nach Ebelings Definition somit die moderne historisch-kritische Methode als Erbe des aufgeklärten 18. Jahrhunderts betrachtet. Bis heute gilt dieses Erbe als Legitimationsgrundlage der modernen Bibelwissenschaften: Die wissenschaftlich akzeptierte Exegese lässt sich nicht von dogmatischen Voraussetzungen regieren, sie liest und interpretiert den Text der Bibel beider Testamente in seinem philologischen und historischen Gehalt. Für diese geradezu moderne Perspektivierung steht das genannte Methodenhandbuch. Prominente Theologen der letzten Jahrzehnte des 18. und der ersten des 19. Jahrhunderts wie Karl Friedrich Bahrdt (1741–1792), Johann Jacob Griesbach (1745–1812), Samuel Friedrich Nathanael Morus (1736–1792), Wilhelm Abraham Teller (1734–1804), Johann August Nösselt (1734–1807), Karl Gottlieb Bretschneider (1776–1848), Johann Georg Rosenmüller (1736– 1815), Georg Friedrich Seiler (1733–1807), Karl August Gottlieb Keil (1754– 1818), aber auch der Pädagoge Christian Ludwig Lenz (1760–1833) und viele andere namhafte Gelehrte sind von dem Autor des genannten Buches beeinflusst worden, haben seine Anregungen übernommen und weiterentwickelt, waren teils seine direkten Schüler.2
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Gerhard Ebeling: Art. „Hermeneutik“. In: RGG3 3, 1959, 242–262, hier 253. Friedrich Christoph Ilgner: Art. „Ernesti, Johann August“. In: RGG4 2, 1999, 1461 f.
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Nicht von dem seit den Arbeiten Gottfried Hornigs3 für die Bibelexegese als Schlüsselfigur angesehenen Johann Salomo Semler (1725–1791) ist die Rede, sondern von seinem Leipziger Freund und Kollegen4 Johann August Ernesti (1707–1781). Seine 1761 im Alter von 54 Jahren veröffentlichte Institutio interpretis Novi Testamenti kann als erstes Lehrbuch bezeichnet werden, auf das die oben genannten Kriterien zutreffen.5 Eine hermeneutische „scientia“ mit allgemeingültigen, den philologisch-grammatischen Textgehalt betreffenden Auslegungsregeln stellte er hierin auf.6 Darin unterschied er sich von Semler, der sein Gewicht stärker auf die historische Seite der Auslegung legte.7 Ernesti, selbst klassischer Philologe8 und als Rektor der Thomasschule Kontrahent und Vorgesetzter Johann Sebastian Bachs (1685–1750), kann als der Philologe9 der hermeneutischen Wende betrachtet werden, in der Semler mehr der Historiker war. Selbstverständlich gingen bei Ernesti zahlreiche neuere Autoren bis hin zu dem mehrfach zitierten Johann Jakob Wettstein (1693–1754) ein.10 Seine Institutio kann jedoch als Bündelung und Systematisierung der vorhandenen methodischen und damit auch theoretischen Grundsätze auf der philologischen Ebene der Schrifthermeneutik verstanden werden. Bemerkenswerterweise ist diese bedeutende Person der neueren Theologie- und Exegesegeschichte bis auf eine unveröffentlichte Disserta-
3 Gottfried Hornig: Die Anfänge der historisch-kritischen Theologie. Johann Salomo Semlers Schriftverständnis und seine Stellung zu Luther. Lund, Göttingen 1961; ders.: Johann Salomo Semler. Studien zu Leben und Werk des Hallenser Aufklärungstheologen. Tübingen 1996. 4 Seit 1759 hat Semler nach eigener Auskunft Ernesti gelesen und ihn später jährlich „auf etliche Tage“ in Leipzig besucht, sooft er konnte, um, wie er 1783 schrieb, „von dem Mann etwas zu profitieren“. Johann Salomo Semler: Zusätze zu Herrn O. C. R. Tellers Schrift über Herrn D. Ernesti Verdienste. Halle 1783, 10. 5 Johann August Ernesti: Institutio interpretis Novi Testamenti ad usus lectionum. Lipsiae 1761 [17612, 1765, 1775, 1776, 1792, 1809]. Eine grundsätzliche Revision wenigstens zwischen den Ausgaben von 1761 und 1775 ist nicht zu erkennen. Vgl. Friedrich Christoph Ilgner: Die neutestamentliche Auslegungsmethode des Johann August Ernesti (1707–1781). Ein Beitrag zur Erforschung der Aufklärungshermeneutik. Leipzig, Univ., Diss. theol. 2002, 30. 6 Vgl. Ernesti, Institutio [s. Anm. 5], 5 f. 7 Vgl. zu dieser Seite von Semlers historisch-exegetischem Ansatz aus systematisch-theologischer Sicht jetzt Marianne Schröter: Aufklärung durch Historisierung. Johann Salomo Semlers Hermeneutik des Christentums. Berlin, Boston 2012. 8 Seine Editionen umfassten Werke Homers, Aristophanes’, Suetons, Tacitus’, Ovids, Ciceros u. a. und wurden zum Teil bis weit in das 19. Jahrhundert gedruckt, vgl. Bibliographie bei Ilgner, Auslegungsmethode [s. Anm. 5], 207–227. 9 Er sei der „Begründer der philologisch-historischen Exegese“ (Thomas K. Kuhn: Carl Friedrich Bahrdt. Provokativer Aufklärer und philanthropischer Pädagoge. In: Theologen des 17. und 18. Jahrhunderts. Konfessionelles Zeitalter – Pietismus – Aufklärung. Hg. v. Peter Walter u. Martin H. Jung. Darmstadt 2003, 204–225, hier 206; gleichlautend bereits Karl Aner: Die Theologie der Lessingzeit. Halle 1929, 219. 10 Vgl. neben den zahlreichen Referenzen in der Institutio die frühe Untersuchung Johann August Ernesti: Specimen castigationum in Jo. Jac. Wetstenii editionem Novi Testamenti. Prolusio ad sacrum literarum studioses proposita in academia Lipsiensi. Leipzig 1754.
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tion11 noch nicht Gegenstand eigener Arbeiten gewesen, und seine Institutio wäre als eigenes, geradezu paradigmatisches Lehrbuch forschungsgeschichtlich überhaupt noch einzuordnen. In diesem Beitrag wird nicht auf Ernestis Auslegungsregeln im Einzelnen eingegangen. Das Augenmerk wird auf eine bestimmte Grundentscheidung gerichtet, die seinem Methodenbuch zugrunde liegt. Das erste Kapitel der Institutio De sensu verborum hat eine scheinbar selbstverständliche Voraussetzung zum Thema, die Abschaffung des mehrfachen Schriftsinns. Hinter dem Buchstaben steht weder ein mystischer, allegorischer, parabolischer oder typologischer Sinn, kein sensus spiritualis oder internus. Ernesti unterscheidet nicht zwischen sensus literalis und sensus literae oder zwischen mehreren sensus literales,12 denn dies führe zu einer „Willkür, die alles mit Allegorien, Prophezeiungen und Mysterien füllt“.13 Dort, wo er Reste typologischen oder allegorischen Denkens entdeckt, legt Ernesti auch andernorts Einspruch ein, sei es bei dem aufklärerischen Theologen Wilhelm Abraham Teller14 oder bei dem lutherischen Theosophen Oetinger.15 Der eine Schriftsinn ist für ihn der sensus grammaticus, ausdrücklich identisch mit dem sensus literalis oder historicus, ja nicht einmal ein theologisches Verständnis vor dem rein grammatischen Verständnis der Schrift will Ernesti – unter Berufung auf Melanchthon – zulassen.16 Hier bestanden anfangs Differenzen gegenüber Semler, der stärker 11 Ilgner, Auslegungsmethode [s. Anm. 5]. Auch neuere Arbeiten zur Exegesegeschichte im 18. Jahrhundert gehen auf Ernesti nicht oder nur marginal ein, vgl. etwa Christoph Bultmann: Bibelrezeption in der Aufklärung. Tübingen 2012; aber auch die als Überblickswerk angelegte Studie Daniel Weidner: Bibel und Literatur um 1800. München 2011. 12 Vgl. Ernesti, Institutio [s. Anm. 5], Institutio Cap. 1: De sensu verborum, 7–14, sowie 60: gegen den sensus parabolicus. Vgl. dazu insgesamt Ilgner, Auslegungsmethode [s. Anm. 5], 54–64, 174–178. 13 „[. . .] a qua facilia transitus est ad libidinem omnia allegoriis, vaticiniis, et mysteriis replendi“. Als Beispiel führt Ernesti hier Juden, Kirchenväter, Scholastiker und Coccejaner auf. Vgl. Ernesti, Institutio [s. Anm. 5], 9. 14 Tellers im Wörterbuch des Neuen Testaments (Berlin 1772) vertretene Vorstellung, Adam und Christus seien zwei korrespondierende Gestalten, von denen der eine für eine abwärts, der andere für eine aufwärts führende Geschichte stehe, kritisierte Ernesti ebenso wie den Mangel an einer Trinitätslehre und einer Christologie nach seinem Verständnis. Vgl. Ursula Hardmeier: Friedrich Christoph Oetingers Kampf gegen „falsche Schriftauslegung“. In: Friedrich Christoph Oetinger: Biblisches und Emblematisches Wörterbuch. Bd. 2. Hg. v. Gerhard Schäfer. Berlin, New York 1999, 108–128, hier 123. 15 Vgl. Konrad Ohly: Einleitung. In: Friedrich Christoph Oetinger: Theologia ex idea vitae deducta. Bd. 1. Hg. v. Konrad Ohly. Berlin, New York 1979, 13–42, hier 23. Zu Oetinger vgl. Friedemann Stengel: Theosophie in der Aufklärung. Friedrich Christoph Oetinger. In: Offenbarung und Episteme. Zur europäischen Wirkung Jakob Böhmes im 17. und 18. Jahrhundert. Hg. v. Wilhelm Kühlmann u. Friedrich Vollhardt. Berlin, Boston 2012, 514–547. 16 Vgl. Ernesti, Institutio [s. Anm. 5], 7–14, besonders 11: „Unde sensus literalis idem grammaticus dicitur, immo sensus literalis est latina interpretatio grammatici: nec minus recte historicus vocatur, quod, ut cetera facta, testimoniis et auctoritatibus continetur.“ 12: „Non potest Scriptura intelligi theologice, verissimum Melanthonis dictum est, nisi ante intellecta sit grammatice“ [Hervorhebungen bei Ernesti].
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das Historische als das Grammatische betonte, aber in der Zurückweisung verschiedener Schriftsinne waren sie sich grundsätzlich einig.17 2. Ein radikaler Bruch aus dem Geist der Reformation? Zunächst wäre zu fragen, ob es überhaupt zutrifft, dass Ernesti ausgerechnet den mehrfachen Schriftsinn abgeschafft hat, und, wenn ja: was ihn dazu veranlasst haben könnte. Der Semlerforscher Gottfried Hornig etwa sah in der Abweisung des mehrfachen Schriftsinns lediglich eine Anknüpfung an Melanchthon, David Chyträus und die „lutherische Auslegungstradition“.18 Semler habe sich bei seinem historisierenden Ansatz „lapidar und historisch zutreffend“ auf Luther und Melanchthon berufen,19 eine eher überraschende Feststellung, nicht nur angesichts der zweihundertjährigen Zeitspanne, in der dieses reformatorische Erbe versunken gewesen sein müsste. Auch die Art der Luther- und Melanchthon-Rezeption Semlers und Ernestis ist an diesem Punkt nicht deutlich erkennbar. Ferner ist in der Forschung längst erkannt worden, dass die Reformatoren mit der Auslegungstradition gar nicht konsequent gebrochen haben. So stand der ältere Luther zwar dem auch von Erasmus vertretenen vierfachen Schriftsinn kritisch gegenüber, ersetzte diesen aber durch eine christozentrisch-typologische Hermeneutik, weil die ganze Bibel von „heimlichen Hinweisen auf Christus erfüllt ist“.20 Auch ist in der neueren Forschung betont worden, dass schon der junge Luther der ersten Psalmenvorlesung anstelle der vierfachen Schriftauslegung eine Doppelperspektive anwendete, die einen historischen oder wörtlichen Sinn, unter den für ihn „selbstverständlich“ auch die christologische Deutung fiel, von einer „existentiellen Dimension“ pro nobis oder pro me unterschied, die als „Fortführung des moralischen Schriftsinns“ verstanden werden könnte.21 Schließlich hatte (der alte) Luther bekanntermaßen jahrzehntelang ein „sehr entspanntes 17
Vgl. Hornig, Semler [s. Anm. 3], 38. Hornig, Semler [s. Anm. 3], 238. 19 Hornig, Semler [s. Anm. 3], 260. 20 Heinrich Bornkamm, zit. n. Erich Fascher: Art. „Typologie III“. Auslegungsgeschichtlich. 3 RGG 6, 1962, 1095–1098, hier 1097. Dass sich Luther damit vor allem von Erasmus’ Festhalten am vierfachen Schriftsinn abgrenzte, ist betont worden von Heinrich Rendtorff: Art. „Allegorie III. In der praktischen Schriftauslegung“. In: RGG3 1, 1957, 240. Demgegenüber hat Bernhard Lohse schon vor Jahren darauf hingewiesen, dass Luther mit seinem Christozentrismus und seiner Unterscheidung von Gesetz und Evangelium das Gesetz zwar mehr im Alten als im Neuen und das Evangelium mehr im Neuen als im Alten Testament sehe, das Alte Testament das Neue jedoch „bereits in verborgener Weise“ enthalte. Bernhard Lohse: Martin Luther. Eine Einführung in sein Leben und Werk. München 21983, 177–179, hier 177. 21 So von Volker Leppin: Martin Luther. Darmstadt 2006, 70 f., auch 83. Leppin erkennt weder im historischen noch im „existentiellen“ Schriftsinn, sondern in der Kombination aus beiden das entscheidende Neue an Luthers Schriftauslegung, nämlich die Zusammenführung des akademischen und des praktischen Anliegens der Predigt. 18
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Verhältnis zum vierfachen Schriftsinn“ und griff immer wieder auf Allegorien zurück.22 Folgt man gegenüber diesen Befunden hingegen Hornig, dann hat sich bei Semler – und Ernesti – lediglich das sola-scriptura-Prinzip fortgesetzt, das die Reformatoren mit ihrer antineuplatonischen Exegesekritik begonnen hätten, die bereits Hieronymus Emser (1487–1527) als ketzertypisch ausgemacht hatte23 und die schon Erasmus öffentlich als Trick erkannte, durch den Luther seine eigene Lehre in den Text eintrage; in Wirklichkeit besäße er ja nur „Rinde“ und „Schale“ der Schrift.24 Luthers sola scriptura ist, sofern es den mehrfachen Schriftsinn abweist, in einer bestimmten Debatte offenbar gegen eine bestimmte, Luthers Augustinismus entgegen stehende theologische Anthropologie gerichtet.25 Die Voraussetzung, dass die Repräsentanten der hermeneutischen Wende lediglich ein vergessenes reformatorisches Erbe aufklärerisch in die zeitgenössische Exegese implementiert und dadurch einen scharfen Schnitt in der Exegesegeschichte markiert hätten, lässt sich demnach schon deshalb nicht aufrecht erhalten, weil von einer klaren reformatorischen Position gar nicht ausgegangen werden kann. Die Behauptung eines radikalen Bruchs mit jeder Form von Allegorese kann aber auch für Semler nicht durchgehalten werden, denn Semler bleibt auch nach Hornigs eigener Erkenntnis dabei, dass das Alte Testament „Weis22 Vgl. Kenneth Hagen: Luther’s Approach to Scripture as seen in his „Commentaries“ on Galatians. 1519–1538. Tübingen 1993. Zit. n. Leppin, Luther [s. Anm. 21], 365. An anderer Stelle (255) erinnert Leppin daran, dass es Luthers Insistieren auf der Einheit und „Klarheit“ der Bibel gegenüber Erasmus’ Feststellung inhärenter Unklarheiten und Uneindeutigkeiten schwer gemacht habe, in der ihm folgenden Theologie „die modernen Transformationen des Schriftverständnisses“ zu rezipieren. Vgl. dazu auch: Johann Anselm Steiger: Martin Luthers allegorisch-figürliche Auslegung der Heiligen Schrift. In: ZKG 110, 1999, 331–351. 23 Schon immer, so Emser in seiner refutatio von Luthers Adelsschrift, hätten die Ketzer die Bibel nicht über den Buchstaben hinaus ausgelegt; sie wollen „nichtzit annhemen noch tzulassen [. . .], dan den buchstaben“, und alles das verwerfen, was in der Schrift „nicht vorfasset ader sunderlich ausgedruckt“. Zitiert nach Saskia Braun: „Wider das unchristliche Buch Martin Luthers . . .“. Zur rhetorischen Komposition in Hieronymus Emsers refutatio auf Luthers Adelsschrift. In: Daphnis 38, 2009, 491–526, hier 507. 24 Das monierten Erasmus und Johannes Mensing gegen Luthers sola-Prinzip bereits 1522 und 1527. Vgl. Heribert Smolinsky: Augustin von Alveldt und Hieronymus Emser. Eine Untersuchung zur Kontroverstheologie der frühen Reformationszeit im Herzogtum Sachsen. Münster 1983, 266. In der Tat hatte Luther 1522 in seiner „Antwort deutsch auf König Heinrichs Buch“ gegen Heinrich VIII. behauptet, seine Lehre decke sich mit dem Wort Gottes; wer sie nicht teile, verdamme Gott und sei ein Kind der Hölle; WA 10.2, 229: „Wer anders lerett, denn ich hyerynn geleret hab, odder mich darynn verdampt, der verdampt gott unnd muß eyn kind der hellen bleyben. Denn ich weyß, das dieße lere nicht meyn lere ist. Trotz allen teuffeln unnd menschen, das sie die umbkeren.“ 25 Am Beispiel der Auseinandersetzung mit Hieronymus Emser lässt sich zeigen, dass Luthers Abweisung des mehrfachen Schriftsinns offenbar gegen eine sich auf den Florentiner Hermetismus und Kabbalismus Marsilio Ficinos und Giovanni Pico della Mirandolas berufende Auslegungsweise richtet, vgl. dazu jetzt: Friedemann Stengel: Reformation, Renaissance & Hermetismus. Kontexte und Schnittstellen der frühen reformatorischen Bewegung. In: ARG 104, 2013, 35–81, hier 61–68.
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sagungen“ und ein „Christuszeugnis“ enthalte, dass also das Alte Testament sehr wohl vom „Geiste Christi“ zeuge.26 Auf Ernestis vermeintliche Inkonsequenzen bei der Bewertung der Heiligen Schrift als tatsächlich rein historischgrammatisch zu lesendes Buches wird weiter unten eingegangen, wenn es um die lutherische Dogmatik eines sächsischen Theologen und damit um den prekären Kontext geht, der Ernestis Auslegungspraxis nur inkonsequent erscheinen lässt. Wenn nicht plausibel auf die Rezeption einer reformatorisch klaren Grundentscheidung referiert werden kann, wäre der Hintergrund dafür zu klären, dass ein, vielleicht das Kernwerk der hermeneutischen Wende mit der Abschaffung des mehrfachen Schriftsinns beginnt. Die bisherigen Arbeiten zur hermeneutischen Wende, auch nicht die neuere Dissertation zu Ernesti, sind diesen Kontexten kaum genauer nachgegangen.27 Zuweilen wird pauschal und ohne weitere Umschweife die antischwärmerische Abgrenzung vom Pietismus als Ausgangssituation genannt.28 Immer wieder fallen neben Luther und Melanchthon Namen wie David Chyträus (1531–1600), Johann Konrad Dannhauer (1603–1666), Jean Alphonse Turretini (1671–1737)29 und 26 Vgl. Hornig, Anfänge [s. Anm. 3], 94. Dem widerspricht Hornig selbst: Semler halte wie Luther an der christozentrischen Exegese fest, ordne sie aber der historisch-kritischen Einzelexegese nach: der „sensus litteralis“ sei für Semler der historische, für Luther aber der christusbezogene Sinn, so lautet ein Befund Hornigs, den er merkwürdigerweise zu der Konsequenz führt, Semler habe sich von der christologischen Auslegung verabschiedet und damit vom „reformatorischen Verständnis des Alten Testaments entfernt“ (Hornig, Semler [s. Anm. 3], 208 f.). In der Arbeit von Schröter werden diese Spannungen, die Semlers Werk in seinem Kontext aufweisen, programmatisch eingeebnet: Nicht der Kontext ist Untersuchungsgegenstand, sondern die von Wilhelm Dilthey (1860) abgeleitete Würdigung Semlers als des „gewaltigsten“ Anstoßes der Hermeneutik zwischen Leibniz [!] und Kant [!]. Nicht die Historizität der Semlerschen Hermeneutik, sondern deren Verdienst für den „wissenschaftlichen Diskurs der nachfolgenden Zeit“ ist demnach Thema der Untersuchung. Vgl. Schröter, Historisierung [s. Anm. 7], 11. Die Urteile über Semler bis ins 20. Jahrhundert weisen nun aber gerade eine starke Ambivalenz und ganz und gar kein durchgängiges Verdienst auf (Schröter, Historisierung [s. Anm. 7], 12–18). Keiner seiner „Nachfolger oder Schüler“ hat akademische Veranstaltungen auf der Basis von Semlers Büchern gehalten, von einer „Semler-Schule“ kann keine Rede sein (Schröter, Historisierung [s. Anm. 7], 374). Ist Semlers forschungsgeschichtliche Exzellenz etwa eine Behauptung Diltheys, Hirschs und der ihnen folgenden Autoren, die beispielsweise F. A. G. Tholucks kritischer Würdigung entgegengesetzt ist? 27 Hornig nennt eine anonyme mystische Auslegung des Hohenliedes, gegen die Semler bereits 1757 eine Gegenschrift verfasste, in der er der hier anzutreffenden hermeneutischen Willkür widersprochen habe, mit der die Einmaligkeit der im Neuen Testament bezeugten göttlichen Offenbarung in Jesus Christus eliminiert werde. Vgl. Hornig, Anfänge [s. Anm. 3], 205 f.; Schröter, Historisierung [s. Anm. 7], 104–107. 28 Im Falle Semlers Hornig, Anfänge [s. Anm. 3], 77, 81. 29 Vgl. Otto Merk: Art. „Bibelwissenschaft II“. In: TRE 4, 1980, 375–409, hier 381. Ilgner scheint Turretini bei seiner Arbeit über Ernesti kaum aufgefallen zu sein, obwohl Ernesti ihn (Institutio) mehrfach erwähnt. Zu Dannhauer knapp Schröter, Historisierung [s. Anm. 7], 4, die darauf hinweist, dass mit dem verus orationis sensus schon bei ihm die Lehre vom vierfachen Sinn verabschiedet werde. Diese Behauptung der Vorläuferschaft Dannhauers wäre insofern zu korri-
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andere, die durchaus von Ernesti als Autoritäten erwähnt werden. Wenn man sie im Sinne einer Fortschreibung aber als einzige Anknüpfung betrachten und die aktuellen Referenzen ausblenden würde, könnte man sich einer Fortschrittstheorie in der Auslegungsgeschichte kaum entziehen, ohne dass nähere Rezeptionen und die Kontingenz der Kontextualität des hermeneutischen Ansatzes der Leipziger und Halleschen Exegeten überhaupt in Betracht gezogen würden: Der aufklärerische Fortschritt in der Hermeneutik käme aus dem Geist der Reformatoren teleologisch zu seinem Höhepunkt; anstelle des Kontextes würde ein ‚Geist‘ gestellt, der von den Reformatoren des 16. auf die Aufklärer des 18. Jahrhunderts gewirkt habe. Eine solche Vorstellung beruhte auf der Gleichsetzung von theologischer Aufklärung und einer bestimmten, nämlich historisch-grammatischen Bibelkritik. Gibt es einen konkreten Ort, auf den diese Gleichsetzung referieren könnte? Wie lässt sich erklären, dass der Großteil der vermeintlich aufgeklärten Hermeneutiker und Exegeten in ihrer Schriftauslegung inkonsequent blieben, sei es in der Annahme der Theopneustie der Autoren,30 die auch Semler und Ernesti behaupten, sei es in der Annahme einer analogia fidei,31 die auch für Ernesti den Zusammenhalt zwischen Altem und Neuem Testament gewährleistet und die Kohärenz zwischen Schrift und lutherischem Bekenntnis auch dort ermöglicht, wo der Auslegungsbefund dem Bekenntnis widerspricht? Schon für die Reformatoren, aber auch für die Auslegungspraxis der sogenannten Aufklärer lässt sich beobachten, dass die Schriftauslegung auch und gerade in ihrer Regelgebundenheit kontextuell und kontingent ist, denn sie geschieht in einer bestimmten Situation, mit bestimmten Zielen, bestimmten gieren, als Dannhauer „andere Sinnebenen“ zulässt, wenn sich aus Buchstabensinn „keine befriedigende Interpretation“ ergebe. Denn damit mag er wohl einen vierfachen Sinn zurückgewiesen haben, nicht aber einen mindestens zweifachen. Dass er damit Vorkämpfer eines nur wahren oder historischen Buchstabensinns gewesen wäre, lässt sich gerade nicht behaupten, oder nur dann, wenn man die Reduktion von vier auf zwei bereits als Fortschritt ansehen würde. 30 Vgl. Ernesti, Institutio [s. Anm. 5], 14: „Quoniam autem libri sacri scripti sunt a viris θεοπνέυστοις, facile intelligitur, veram dictorum repugnantiam in iis esse non posse.“ Vgl. auch Ilgner, Auslegungsmethode [s. Anm. 5], 191 f., 198, 206; Aner, Theologie [s. Anm. 9], 220. Damit befand sich Ernesti in der Nähe von Semlers Realinspiration gegenüber der orthodoxen Verbalinspiration. Vgl. Hornig, Anfänge [s. Anm. 3], 75. Vgl. zu „Theopneustie, res und verbum“ bei Ernesti und Semler zusammenfassend Friedemann Stengel: Aufklärung bis zum Himmel. Emanuel Swedenborg im Kontext der Theologie und Philosophie des 18. Jahrhunderts. Tübingen 2011, 478 f. 31 Vgl. Ilgner, Auslegungsmethode [s. Anm. 5], 121–124, 193–196; Stengel, Aufklärung [s. Anm. 30], 480 f. Ausgerechnet Semler verteidigte Ernesti nach dessen Tod gegen Tellers Vorwurf, Ernesti habe sein akademisches Urteil von seinem „Auskommen“ abhängig gemacht, um – unausgesprochener maßen – seine universitäre Existenz in Sachsen nicht zu gefährden. Umgekehrt warf Semler aus dem Blickwinkel der öffentlichen Religion Teller vor, die private Freiheit „zu hoch“ anzusetzen (vgl. Semler, Zusätze [s. Anm. 4], 134). Inwieweit Semler, der eine traditionelle Auffassung von analogia fidei abweist, diese analogia im Spannungsverhältnis zwischen öffentlicher und privater Religion neu bestimmt, ist in der Arbeit von Schröter nicht untersucht worden, vgl. hingegen Schröter, Historisierung [s. Anm. 7], 153, 324.
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Kompromissen und gegenüber bestimmten Gegnern. Auch Regeln und „Ratio“ entstammen nicht diskursfreien Räumen, sie werden gesetzt, um die Grenzen der Auseinandersetzungen festzuschreiben und Abgrenzungen – in diesem Fall: von anderen Schriftauslegungen – zu schaffen.32 Die Kontextualität einer solchen Rationalität wäre Untersuchungsgegenstand einer konsequent historischen Perspektive,33 die im Sinne Michel Foucaults (1926–1984) das singuläre Ereignis – hier: der hermeneutischen Wende – nicht in eine „ideale Kontinuität“, in eine „teleologische Bewegung oder in eine natürliche Verkettung“ aufzulösen, sondern in seiner „einschneidenden Einzigartigkeit“ zu beschreiben strebt.34 Fragen wir also nach dem konkreten historischen Ort, an dem Ernesti agiert, wenn er einen Methodenkanon35 schafft, der Bibelauslegung und Wissensaneignung normieren soll, und fragen wir: Gegen wen richtet sich die für die Aufklärer scheinbar merkwürdig anachronistische Abschaffung des mehrfachen, coccejanischen36 Schriftsinns, wo dies doch bereits die Reformatoren nach Auffassung mancher Forscher vollbracht haben sollen? Ernestis Institutio nennt keine Namen, keine positive Anknüpfung, kein ‚Erbe‘, das er erfüllen will. Der erste Blick lässt einen ratlos zurück. Aber Ernesti nennt im Vorwort eine Front: Er habe einerseits die Studierenden ermahnen wollen, andererseits habe er Grund gehabt, diejenigen „anzuklagen, die, unter dem Anschein von Ehrfurcht gegenüber der Heiligen Schrift und den göttlichen Worten, eine gewisse fanatische Barbarei und eine Kunst des
32 In diesem Sinne ist für die historische Perspektive die diskurstheoretische Einsicht grundlegend, dass Wissenschaften und Rationalität(en) selbst dem Diskurs subjungiert sind, der von den drei Achsen Wissen-Macht-Ethik bestimmt wird. Sie können nicht selbst als eine vermeintlich objektive Außenperspektive der Betrachtung gewählt werden oder dienen. Vgl. Michel Foucault: Was ist Kritik? Berlin 1992, 21, 23; zu den drei Achsen vgl. Michel Foucault: Was ist Aufklärung? In: Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung. Hg. v. Eva Erdmann [u. a.]. Frankfurt/ Main, New York 1990, 35–54, hier 52. 33 Es geht dabei nicht um metahistorische Strukturen, sondern um Rationalitäten, Strategien und um historisch gesetzte Normen (vgl. Roger Chartier: Zeit der Zweifel. Zum Verständnis gegenwärtiger Geschichtsschreibung. In: Geschichte schreiben in der Postmoderne. Beiträge zur aktuellen Diskussion. Hg. v. Christoph Conrad u. Martina Kessel. Stuttgart 1994, 83–97, hier 85). 34 Michel Foucault: Nietzsche, die Genealogie, die Historie. In: Ders.: Von der Subversion des Wissens. Hg. v. Walter Seitter. Frankfurt/Main 1996, 69–90, hier 80. In diesem Sinne fordert Foucault die Aushöhlung der Kontinuitäten; es gehe nicht um das Verstehen, sondern um das „Zerschneiden“. 35 Neben den inneren Prozeduren des Kommentars und des Autors ist es für Foucaults diskurstheoretischen Ansatz die Prozedur der Disziplin, die Ereignis und Zufall im Diskurs bändigt und Kriterien für Irrtum und Wahrheit schafft. Dies geschieht durch wissensdirigierende Methoden, Regeln, Definition, Techniken und Instrumente. Vgl. Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt/Main 72000, 17–23. 36 „Coccejanismus“ wird in diesem Kontext meist sowohl in der Bedeutung der Heilsökonomie als auch für die Annahme eines mehrfachen Schriftsinns gebraucht. Vgl. auch Heiner Faulenbach: Art. „Coccejus, Johannes“. In: TRE 8, 1981, 131–140.
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Träumens und des Spottens in den Schriften einzuführen versuchen“.37 Und an anderer Stelle polemisiert Ernesti noch mehrmals gegen „Fanatiker, die das Studium der Sprachen und der Lehre verachten und alles der göttlichen Kraft des Heiligen Geistes zuschreiben“, weil sie sich weniger für die Schrift selbst als für den „Glauben und die Sitten“ interessierten, selbst wenn man ihnen nicht absprechen könne, dass „sie beim Durchforsten der Schrift nach einem Sinn vom Geist Gottes unterstützt werden“. Ohne Zweifel seien diese Männer fromm und glühten für die göttliche Wahrheit, räumte Ernesti ein.38
3. Barbaren, Träumer, Possenreißer Wer nun sind diese Fanatiker, Barbaren, Träumer und Possenreißer, die den historisch-grammatisch-kritischen Cut provoziert haben? Der Verfasser der jüngsten Dissertation über Ernesti behauptet, dieser entwickele seinen Neuansatz „nicht sichtbar in Zustimmung oder Ablehnung zu anderen Konzeptionen“.39 Obwohl die zitierten Formulierungen nur kleine Textabschnitte umfassen, dürfte es nicht angemessen sein, sie aufgrund ihrer Knappheit zu ignorieren. Von der texträumlichen Beiläufigkeit der Bemerkungen Ernestis kann nicht automatisch auch auf eine inhaltliche Marginalität geschlossen werden. Dass eine konzeptionelle Positionierung nicht „sichtbar“ kontextuell vorgenommen wird und ihren Referenten verbirgt, ist nicht außergewöhnlich. Dass sie sich überhaupt nicht auf einen Referenzrahmen bezieht, würde einen diskursfreien Raum, einen Nicht-Kontext implizieren und zugleich dessen Möglichkeit voraussetzen. Dem widerspricht Ernesti im Vorwort selbst, indem er die intransparente Front der Barbaren bezeichnet, die lediglich sprachlich nicht weiter spezifiziert wird, aber das aktuelle Objekt der Anklage Ernestis ist. Gegen das Sakrileg der sich fromm gebenden Barbaren konstruiert Ernesti eine scientia,40 um durch deren Regelwerk ein Gesetz der Auslegung aufzurichten und den hermeneutischen Fanatismus infolge einer durchaus im juristischen Äquilavent interpretierbaren „Klage“ (queror) die Legitimation zu entziehen. Die ars somniandi ac ludendi, die die Fanatiker 37 „De universa interpretatione habebam, quae partim monerem studiosos, partim quererer cum his, qui, per speciem reverentiae adversus Scripturam Sacram et verba divina, fanaticam quandam barbariem, et artem somniandi ac ludendi in Scripturis inducere tentant [. . .]“ (Ernesti, Institutio [s. Anm. 5], Schlusspassage des unpaginierten Vorworts). „Ludere“: eigentlich „spielen“, aber auch „spotten“, „Possen reißen“, „scherzen“, „tändeln“, „betrügen“, „täuschen“ oder „foppen“. 38 „[. . .] nec ullo modo audiendos esse Fanaticos, qui, contemtis studiis linguarum et doctrinae, omnia ad vim divinam Spiritus S. referunt: quamquam non est dubitandum, viros pios et veritatis divinae cupidos adiuvari a Spiritu Dei in scrutando scripturae sensu, in iis quidem rebus, quae proprie ad fidem et mores pertineant.“ (Ernesti, Institutio [s. Anm. 5], 11) 39 So Ilgner, Auslegungsmethode [s. Anm. 5], 178. 40 Vgl. Anm. 6.
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bei der Schriftauslegung praktizieren, ist für den Philologen keine disziplinär akzeptierte ars; sie wird zum Gegenstand der philologisch-theologischen „Teratologie“,41 die scientia durch Ränderfestlegung erst ermöglicht. Sie muss durch Regeln als Unwissenschaft und Nicht-Kunst entlarvt und angeprangert werden. Während und indem durch die „teratologische“ Definition die missgebildete Praxis der Barbaren jenseits der akzeptierten Binnenregeln exegetischer scientia gestellt wird, konstruiert Ernesti den Methodenkanon und damit die Voraussetzungen legitimer scientia neu. Die Barbaren werden jenseits der Akzeptabilitätsbedingungen gestellt,42 die Ernesti aufzustellen beansprucht. Im Jenseits der disziplinär anerkannten Regeln gibt es „die unmittelbare Erfahrung [und] die imaginären Themen der Einbildungskraft“, die nicht einfach nur falsch oder disziplinierte Irrtümer sind, sondern sich der „definierten Praxis“ entziehen.43 Ohne die teratologische Prozedur der Grenzziehung gegenüber den fanatischen Barbaren: keine scientia. – Wer also könnten sie sein? 3.1 Barbaren I: Berleburger? Die Kritik an Wundern, Unstimmigkeiten, Widersprüchlichkeiten, am Gottesbild des Alten Testaments oder an der biblischen Gewalt, die seit Spinoza und Herbert von Cherbury auf die Bibeltheologie einhagelte,44 hatte die Versuche verstärkt, den äußeren Schriftgehalt als den nicht eigentlichen, nicht wichtigen, womöglich überflüssigen Textinhalt darzustellen und einen anderen Text dahinter zu lesen. Hier wäre zunächst die Berleburger Bibel (1726– 1742) zu nennen. Ein dreifacher Schriftsinn wird unterschieden: ein buchstäblich-historischer, ein moralisch-geistiger, der auf Johannes Coccejus (1603– 1669) zurückgeführt wird, und ein mystischer Schriftsinn, dessen Einflüsse bei Theosophen wie Johann Arndt, Jakob Böhme, kabbalistischen Quellen, englischen Philadelphiern und auch römisch-katholischen Mystikern erkannt worden sind.45 Die historische Bedeutung des Textes der Heiligen Schrift tritt gegenüber den anderen Ebenen, die auf seine Weise auch Swedenborg 41 Jede Disziplin besitzt für Foucault ihre eigene „Teratologie“ (Lehre von den Missbildungen oder Missgeburten), durch die sie die Grenzen bestimmt, innerhalb derer sie zwischen wahren und falschen Sätzen entscheidet. Vgl. Foucault, Ordnung [s. Anm. 35], 24. 42 Foucault, Kritik [s Anm. 32], 32 f. 43 Foucault, Ordnung [s. Anm. 35], 24. 44 Vgl. Johann Anselm Steiger: Ist es denn ein Wunder? Die aufgeklärte Wunderkritik. Oder: Von Spinoza zu Reimarus. In: 500 Jahre Theologie in Hamburg. Hamburg als Zentrum christlicher Theologie und Kultur zwischen Tradition und Zukunft. Hg. v. dems. Berlin, New York 2005, 112–130. 45 Vgl. Siegfried Raeder: Art. „Bibelwerke“. In: TRE 4, 1980, 311–316; Martin Hofmann: Theologie und Exegese der Berleburger Bibel (1726–42). In: Beiträge zur Förderung christlicher Theologie 39, 1937, 313, 343. Alle in der Berleburger Bibel genannten Titel sind ebd., 174–176, aufgelistet.
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benutzt, deutlich zurück.46 Es werden Erklärungen in den Text hineingetragen, „die den inneren Zustand des geistlichen Lebens oder die Wege und Wirkungen Gottes in der Seelen zu deren Reinigung, Erleuchtung und Vereinigung mit ihm zu erkennen gibt“.47 Für die Berleburger ist die Bibel einschließlich der hebräischen Vokalisationszeichen verbalinspiriert,48 darin erweisen sie sich wie Johann Gerhard (1582–1637), Johann Andreas Quenstedt (1617–1688) oder die beiden Johann Buxtorfs (1564–1629, 1599–1664) in einer Weise ‚orthodox‘, die für das 18. Jahrhundert ungewöhnlich war.49 Aber hinter dem verbalinspirierten Wort muss der eigentliche Sinn des Schriftbuchstabens erkannt werden; die Geschichte Israels etwa ist für den Glauben nicht entscheidend. Anstelle des historischen Wortes werden dem Text angeblich lauter heterodoxe Lehren entlockt wie die Apokatastasis panton, bei der der Mensch seine ursprüngliche Androgynität zurückerhalte,50 die Umdeutung der Erbsünde als eine in menschlicher „Eigenheit, Eigenwille, Eigenliebe“ wurzelnde Abwendung von Gott51 und die Zurückweisung eines zornigen und strafenden Richtergottes.52 Mit seinem theosophisch-hermetisch-neuplatonischem Ansatz trug das Berleburger Projekt in die ersten Bücher Mose zwar nicht wie Giovanni Pico della Mirandolas (1463–1494) Heptaplus53 die Erschaffung der rationalen Engelwelt und des Adam kadmon ein. Die Autoren lasen hier Christologie, Soteriologie, Abfalls- und Versöhnungsgeschichte nach Christus, sie setzten den Logos mit der göttlichen Sophia als weiblichem Schöpfungsprinzip gleich.54 Für den kursächsischen Lutheraner Ernesti, der der Konkordienformel verpflichtet war, könnte das Berleburger „Barbarei“-Projekt schon allein wegen dieser Heterodoxien durchaus Anlass für die Anklage gegen die fanatische ars somiandi ac ludendi gewesen sein. Nur lag es 1761 bereits 20 Jahre zurück.
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Vgl. Hofmann, Theologie [s. Anm. 45], 326. Titel der Berleburger Bibel und Eberhard H. Pältz: Art. „Haug, Johann Heinrich“. In: RGG 3, 1959, 87. 48 Vgl. Raeder, Bibelwerke [s. Anm. 45], 312; Hofmann, Theologie [s. Anm. 45], 319. 49 Vgl. dazu knapp Markus Matthias: Art. „Orthodoxie I. Lutherische Orthodoxie“. In: TRE 25, 1995, 464–485, hier: 476 f.; Heinrich Karpp: Art. „Bibel IV. Die Funktion der Bibel“. In: TRE 6, 1980, 48–93, hier 77 f.; sowie Johann Anselm Steiger: Philologia Sacra. Zur Exegese der Heiligen Schrift im Protestantismus des 16. bis 18. Jahrhunderts. Neukirchen-Vluyn 2011, 19–37. 50 Vgl. Hofmann, Theologie [s. Anm. 45], 282. 51 Vgl. Hofmann, Theologie [s. Anm. 45], 191. 52 Vgl. Hofmann, Theologie [s. Anm. 45], 199, 205 f. 53 Giovanni Pico della Mirandola: Heptaplus [Auszug]. In: Ders.: Ausgewählte Schriften. Jena, Leipzig 1905, 141–170. 54 Vgl. eine knappe Zusammenfassung bei Stengel, Aufklärung [s. Anm. 30], 442–445. 47
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3.2 Barbaren II: Hallenser? Die Auslegung nach dem mehrfachen Schriftsinn war nicht nur bei dem schon zeitgenössisch umstrittenen hermetisch-theosophischen Berleburger Projekt in Mode geblieben. Ein Blick in Ernestis Nachbarstadt Halle führt zu dem kombattanten Philologen und Theologen Joachim Lange (1670–1744), der zwei Jahre nach dem Abschluss der Berleburger Bibel starb. Lange unterschied in seinem sechsbändigen Biblischen Licht und Recht (1732–1738) a) die historische Nachricht von der b) in ihr geoffenbarten Religion und der c) darin enthaltenen vernünftigen oder übernatürlichen Überzeugung bei der Auslegung der Bibel.55 August Hermann Francke (1663–1727) selbst hielt am mystischen Schriftsinn fest, wo die Beziehung des Textes auf die Heilsökonomie herzustellen und das christologische Verhältnis zwischen Altem und Neuem Testament abzusichern ist.56 Franckes Nachfolger Johann Jakob Rambach (1693–1735) betonte speziell den Part des Auslegers, der von Gott selbst erleuchtet sein müsse, durch ein lux spiritus et divina. Wie bei Ernesti sind auch bei Rambach die Autoren der Heiligen Schrift „in acto θεοπνευστιας“ gewesen. „Oberstes Auslegungsprinzip“ bei Francke und Rambach bleibt die „analogia fidei“.57 Sogar der prominente theologische Wolffianer Siegmund Jacob Baumgarten (1706–1757), Semlers Lehrer, glaubte nicht nur an die Verbalinspiration „in den Grundsprachen“. Er setzte auch den sensus mysticus als „Stück des volständigen und gäntzlichen Verstandes“ des biblischen Textes voraus, obwohl er davor warnte, „lauter oder alle[r] Geheimnisse“ hinter dem Schriftbuchstaben erkennen zu wollen, und zugleich ausdrücklich forderte, der geheime Sinn dürfe nicht vom Ausleger in den Text hineingelegt, sondern müsse vom „Zweck des redenden“ aus gesehen werden. Baumgarten behielt den dreifachen Sinn bei, beschränkte ihn aber streng auf die biblische Sprache selbst und grenzte sich gegen ‚mystische‘ Schriftausleger ab. Auch wenn sich Baumgarten auf die Eruierung der Autorintention und damit auf eine historisierende, mit der demonstrativen Methode Wolffs verbundene Perspektive konzentrierte, hielt er also dennoch formal an einem mystischen Schriftsinn fest.58 55 Vgl. Raeder, Bibelwerke [s. Anm. 45], 313; Joachim Lange: Biblisches Licht und Recht, oder Richtige und Erbauliche Erklärung der Heiligen Schrift Altes und Neues Testaments, mit einer ausführlichen Einleitung. Halle, Leipzig 1733. 56 August Hermann Francke: Manuductio ad lectionem Sacrae Scripturae [. . .]. Halle 1693; Ders.: Praelectiones Hermeneuticae ad viam dextre indagandi. Halle 1717; Ilgner, Auslegungsmethode [s. Anm. 5], 39–41; Schröter, Historisierung [s. Anm. 7], 35–40. 57 Johann Jakob Rambach: Institutiones hermeneuticae sacrae. Jena 1725; Ilgner, Auslegungsmethode [s. Anm. 5], 41–43, 174 f.; Schröter, Historisierung [s. Anm. 7], 40–42. 58 Ilgner, Auslegungsmethode [s. Anm. 5], 174, vgl. auch 43–45; Siegmund Jacob Baumgarten: Unterricht von Auslegung der heiligen Schrift. Halle 1742 [2. Aufl. 1745], §16: „Die Vorstellungen, so durch die vermittelst des unmittelbaren Wortverstandes angezeigte Sachen der Absicht des redenden gemäs erweckt werden, machen den mittelbaren oder mystischen, das ist geheimen, Verstand aus.“ Im Folgenden rezitiert er den typischen (auf die göttliche Ökonomie gerichteten),
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Bei aller Betonung der Historizität und sogar religionsgeschichtlicher Kontextualität befanden sich unter den Anhängern der Theopneustie und eines inneren, mystischen Schriftsinns, eines sensus internus, viele Zeitgenossen Ernestis aus den verschiedensten theologischen Lagern. Nicht etwa nur Hermetiker, auch hallesche Pietisten und wolffianische Rationalisten waren darunter, die die Heilige Schrift auf diese Weise vor der Kritik abzusichern versuchten. 4. Kampfgefährten gegen den hermeneutischen Fanatismus? Ernestis Auslegungsregeln in der Instiutio kommen ebenfalls nicht aus einem luftleeren Raum. Natürlich nennt er Luther, Melanchthon und Laurentius Valla (1405?-1457), aber er zitiert auch aus den ‚modernen‘ Zeitgenossen Johann Albrecht Bengel (1687–1752), Johann Heinrich Michaelis (1668– 1738), Adrian Reland (1676–1718), Hermann Samuel Reimarus (1694–1768) oder Johann Georg Walch (1693–1775).59 Die konkreten aktuellen Anknüpfungsmöglichkeiten sind in den Blick zu nehmen, nicht einfach 200 Jahre alte reformatorische Ansätze. Bibelkritische Entwürfe insbesondere seit Spinoza und den sogenannten ‚Deisten‘ sind genannt worden, vor allem aus dem englischen Sprachraum. Gegen die arianischen Tendenzen des Mathematikers, Patristikers und unitarischen Theologen William Whiston (1667–1752), Nachfolger Newtons in Cambridge, war beispielsweise Semlers Magisterdisputation gerichtet.60 Während Berleburger und Hallenser modifiziert und an einem inneren oder mystischen Sinn festhielten, griffen andere Rationalisten diese Auslegungspraxis grundsätzlicher an.
den allegorischen (Gebrauch leiblicher Dinge zur Vorstellung geistlicher) und den parabolischen Sinn (Darstellung künftiger Begebenheiten) und grenzt sich gegen solche Hermeneuten ab, die unter dem mystischen Sinn sowohl den allegorischen, den tropologischen als auch den anagogischen „Verstand“ subsumierten, um daraus „Glaubenslehren“ abzuleiten. Diese verwechselten „die Anwendung des Verstandes mit dem Verstande selbst“. Bei Schröter, Historisierung [s. Anm. 7], 51–54, wird dieser Abschnitt nicht erwähnt. 59 Vgl. Ernesti, Institutio [s. Anm. 5], bes. Cap. IV (Der versionibus), VI (De variis Lectionibus), IX (De interpretibus N. T. eorumque usu), X (De usu disciplinarum). 60 Johann Salomo Semler: Vindiciae plurium praecipuarum lectionum codicis graeci Novi Testam. adversus Guilielm. Whiston Anglum atque ab eo latas leges criticas. Halle/Saale 1750. Zu Whistons katalysierender Wirkung auf die Textkritik bei Semler, Bahrdt und anderen im Falle der Bestreitung der Echtheit des Comma Johanneum (1Joh 5,7 f.) vgl. Hornig, Semler [s. Anm. 3], 233–235; Aner, Theologie [s. Anm. 9], 202 f. Kurz nach dem Tod seines Lehrers Baumgarten und nach einem Briefwechsel mit Whiston revidierte er seine Meinung und räumte ein, dass Whiston die besseren Argumente hatte. Zur Debatte um Whiston vgl. auch Stengel, Aufklärung [s. Anm. 30], 433–435; Schröter, Historisierung [s. Anm. 7], 84 f., 209 f.
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4.1 Gefährte I: Der Wertheimer Die womöglich radikalste Beseitigung der traditionellen Christotypologese hatte ein Schüler des lutherischen Kabbalisten Johann Franz Budde (1667– 1729),61 Johann Lorenz Schmidt (1702–1749), vorgelegt, und zwar zeitgleich zu den Berleburgern (1735). Aber Schmidt war noch über die Auflösung des heilsgeschichtlichen Zusammenhangs zwischen Altem und Neuem Testament und die Forderung nach strikter Historisierung des Alten Testaments hinausgegangen und hatte auch die traditionelle Christologie und die Sünden- und Rechtfertigungslehre mit der Agenda der leibnizschen Vorstellung von der prästabilierten besten aller möglichen Welten gänzlich umgedeutet.62
4.2 Gefährte II: Der Fragmentist Während Schmidts Wertheimer Bibel konfisziert und er selbst verhaftet wurde, arbeitete ein anderer Budde-Schüler an einem noch langfristigeren und umfangreicheren Projekt, aber im Untergrund. Hermann Samuel Reimarus’ Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes ist zwischen 1774 und 1778 ohne Verfasserangabe nur in den bekannten Fragmenten von Lessing herausgegeben und vollständig erst 1972 veröffentlicht worden.63 Diese Variante einer sowohl historisch-kritisch als auch speziell religionsgeschichtlich ausgerichteten Bibelkritik, die sich aber in erster Linie der Apologie einer nach eigenem Verständnis vernünftig umgeformten christlichen Religion gegenüber dem Atheismus und dem Materialismus Julien de La Mettries (1709–1748)64 verschrieben hat, kann Ernesti gar nicht gekannt haben.65 Sie kommt als Hintergrund für die Institutio mit Sicherheit nicht in 61 Vgl. gegenüber Wilhelm Schmidt-Biggemann: Die Historisierung der „Philosophia Hebraeorum“ im frühen 18. Jahrhundert. Eine philosophisch-philologische Demontage. In: Historicization – Historisierung. Hg. v. Glenn W. Most. Göttingen 2001, 103–128; Rüdiger Otto: Johann Franz Buddes Verständnis der Kabbala. Einführung und Bemerkung zum Forschungsstand. In: Leibniz und das Judentum. Hg. v. Daniel J. Cook [u. a.]. Stuttgart 2008, 223–249. Die vermutliche Schlüsselrolle Buddes für die Schrifthermeneutik des 18. Jahrhunderts bedarf noch gründlicher Aufarbeitung. 62 Vgl. dazu Wilhelm Schmidt-Biggemann: Theodizee und Tatsachen. Frankfurt/Main 1988, 77 f., 90; Weidner, Bibel [s. Anm. 11], 252–264. 63 Hermann Samuel Reimarus: Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes. 2 Bde. Frankfurt/Main 1972. 64 Vgl. Hermann Samuel Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion. Göttingen 1985 [1766]. In der Vorrede (2r) nennt er als Fronten: die heutige „Lebensart“, eine große Zahl teils französischer Schriften, in denen Christentum, natürliche Religion und Sittlichkeit „verlacht und angefochten“ wird, den allgemeinen „Mangel eines vernünftigen Erkenntnisses von den Grundwahrheiten aller Religion und Ehrbarkeit“ und schließlich die zeitgenössische „Freydenkerey“. La Mettrie ist zentraler Gegenstand in der X. Abhandlung (§16–18). 65 Vgl. gegenüber der systematisch-theologischen Studie von Dietrich Klein: Hermann Samuel Reimarus (1694–1768). Das theologische Werk. Tübingen 2009, die Reimarus’ apologetischen
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Frage. In den 1750er Jahren hatte Reimarus seine Sicht der Natürlichen Theologie, nämlich Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion (1754), und seine Kriteriologie, die Vernunftlehre (1756), auf den Markt gebracht.66 Bibelkritisch hatte sich sein Programm aber öffentlich nicht niedergeschlagen; Reimarus war als Apologet einer Religion bekannt geworden, der sich über die speziellen Lehrinhalte des Christentums öffentlich überhaupt nicht geäußert, sondern nur auf die Vernünftigkeit der natürlichen Religion aufmerksam gemacht und deren Übereinstimmung mit den Grundlagen des Christentums behauptet hatte.67 Bei Ernesti taucht keiner dieser Entwürfe auf. Und es war für Ernesti unmöglich, das christliche Dogma so zu hinterfragen und zu bezweifeln, wie es Reimarus inkognito als Fragmentist tat. 4.3 Gefährte III: Bengel Nicht unerwähnt bleiben kann natürlich die Textkritik Johann Albrecht Bengels, der zu den Autoren gehört, die Ernesti immer wieder für ihre Akkuratesse lobt,68 obwohl er einerseits eine wolffianisch geprägte Eschatologie vertrat und zudem in Leipzig den theologischen Gegenpol zu dem BengelSchüler Christian August Crusius (1715–1775)69 und den apokatastatischen
Ansatz und die Tatsache der Anonymität seiner Schutzschrift insofern zu wenig berücksichtigt, als den Zeitgenossen die Verfasserschaft des Reimarus fast durchweg verborgen blieb, Daniel Cyranka: Lessing im Reinkarnationsdiskurs. Eine Untersuchung zu Kontext und Wirkung von G. E. Lessings Texten zur Seelenwanderung. Göttingen 2005, 281–301. 66 Hermann Samuel Reimarus: Vernunftlehre. München 1979 [1756, 1766]; vgl. Anm. 64. 67 Vgl. Reimarus, Wahrheiten [s. Anm. 64], 2r–3v: „Das Christenthum setzet die Wahrheiten der natürlichen Religion, von Gottes Daseyn, Eigenschaften, Schöpfung, Vorsehung, Absicht und Gesetze, von der Seele geistigem Wesen, Natur, Unsterblichkeit u. s. w. nicht allein voraus, sondern es leget dieselben auch zum Grunde, und flicht sie mit in das Lehrgebäude seiner Geheimnisse ein.“ 68 Vgl. neben den Erwähnungen in der Institutio Ernestis Rezensionen zu Heinrich Wilhelm Clemms Vollständiger Einleitung. In: Neue theologische Bibliothek 1762, 331–349, 867–879 (hier: 872). Zu Bengels Apparatus Criticus ad Novum Testamentum (Tübingen 21763) vermerkte Ernesti, das Werk gehöre trotz mancher Irrtümer und Fehler zu den Büchern, „die unserer Kirche und Deutschland Ehre machen“, und sei den Studierenden zu empfehlen. Vgl. die Rezension in: Neue theologische Bibliothek 1763, 99–120, hier 99, 120. Zuweilen nahm Ernesti Bengel auch gegen den Vorwurf des Chiliasmus und der Heterodoxie in Schutz (vgl. die Rezension in: Neue theologische Bibliothek 1760, 594–615, hier 605 f., zu Johann Christoph Harenberg: Erklärung der Offenbarung Johannis. Braunschweig 1759). Auch Semler schätzte Bengels exegetische Arbeit über die Maßen. Vgl. Hornig, Anfänge [s. Anm. 3], 56, 72. 69 Vgl. Albrecht Beutel: Art. „Crusius, Christian August“. In: RGG4 2, 1999, 502. Crusius vertrat die göttliche Heilsökonomie nach Bengel und ein zweifaches Millennium als Reich Gottes auf Erden. Zur Beziehung zwischen Ernesti und Crusius vgl. Wilhelm Abraham Teller: Des Herrn Joh. August Ernesti gewesenen Professor Primarius der Theologie in Leipzig Verdienste um die Theologie und Religion. Ein Beytrag zur theologischen Litteraturgeschichte der neuern Zeit. Berlin 1783, 13 u. ö.
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und chiliastischen Tendenzen der „Bengelisten“ insgesamt bildete.70 Bengels biblizistischer Realismus, 1742, 19 Jahre vor der Institutio im Gnomon Novi Testamenti, auf den Markt gebracht, setzte die Inspiriertheit der ganzen Schrift und die darin enthaltene universale Heilsökonomie bis hin zum Jüngsten Tag voraus, ohne Geist und Buchstaben miteinander zu identifizieren. Die „doppelte Zweckbestimmung“71 der Bibel für den individuellen Weg des Einzelnen und die heilsökonomische Perspektive von Kirche und Welt kann als Fortschreibung der existentiellen Dimension und gleichzeitige Eschatologisierung der Schriftlektüre insgesamt betrachtet werden.72 Dem Philologen Ernesti blieb die theologisch-apokalyptische Sicht, nicht die textkritische Arbeit Bengels fremd. 5. Barbar III: Ars somiandi ac ludendi Diese verschiedenen Ablehnungs- und Anknüpfungsmöglichkeiten an zeitgenössische Auslegungsmodelle standen Ernesti vor Augen, von der Ausnahme des verborgenen Projekts von Reimarus abgesehen. Aber warum wies Ernesti 1761 in der Institutio ausgerechnet zuerst den mehrfachen Schriftsinn zurück? Ein Jahr zuvor hatte er die Kraftsche Theologische Bibliothek in Leipzig übernommen, die er als Neue und dann ab 1771 als Neueste Theologische Bibliothek bis 1777 herausgab und – auch als Verfasser von etwa drei Vierteln der hier enthaltenen Besprechungen73 – zum zeitgenössisch wohl renommiertesten Journal theologischer Literatur profilierte. Schon im ersten Band, geradezu programmatisch, hatte Ernesti hier ein Buch besprochen, das unter dem Titel Arcana coelestia in acht Bänden zwischen 1749 und 1756 anonym herausgekommen war.74 Ernesti, der nach eigenem Zeugnis den Verfasser kannte75 – dieser hatte Jahre zuvor mehrere Bücher in Leipzig publiziert und war öfter dort gewesen – versah dessen Werk in seiner Rezension 1760 mit dem Attri70 Beispiele für die an CA VII festhaltende Eschatologie Ernestis: Stengel, Aufklärung [s. Anm. 30], 466–475; „Bengelisten“ ist Ernestis eigener Ausdruck, vgl. Stengel, Aufklärung [s. Anm. 30], 474, 495. 71 Heinrich Karpp: Art. „Biblizismus“. In: TRE 6, 1980, 478–484, hier 480. 72 Vgl. zu Bengel knapp Karpp, Bibel [s. Anm. 49], 80; und zu seiner Eschatologie Friedhelm Groth: Die „Wiederbringung aller Dinge“ im württembergischen Pietismus. Theologiegeschichtliche Studien zum eschatologischen Heilsuniversalismus württembergischer Pietisten des 18. Jahrhunderts. Göttingen 1984, 65–87. 73 Vgl. Ilgner, Auslegungsmethode [s. Anm. 5], 5. 74 Rezension zu Arcana coelestia. In: Neue theologische Bibliothek 1760, 515–527. Vgl. zu den folgenden Ausführungen ausführlich Stengel, Aufklärung [s. Anm. 30], 457–463. 75 Vgl. die Rezension zu Swedenborgs Doctrina novae Hierosolymae de Domino. In: Neue theologische Bibliothek 1763, 725–733, hier 725. Es ist unsicher, ob Ernesti Swedenborg auch selbst kannte. Es ist aber möglich, dass Ernesti es vermeiden wollte, Swedenborg mit dem Verfasser der seit den 1720er Jahren auch von den Leipziger Zeitschriften besprochenen naturphilosophischen Schriften zu identifizieren.
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but fanatisch76 und ergänzte die Qualifizierung in einer späteren Rezension von 1763 mit barbarisch.77 Wenn man weiß, wer der Verfasser der Arcana coelestia war, könnte deutlich werden, wie Ernesti dazu gelangen konnte, von einer „Kunst des Träumens und Spottens“ zu sprechen und warum er ausgerechnet den mehrfachen Schriftsinn liquidierte, um sein historisch-kritisches Programm vorzustellen. Der 1760 in der Öffentlichkeit anonyme Verfasser war Emanuel Swedenborg (1688–1772) und sein Hauptwerk, die Himmlischen Geheimnisse, bestanden aus einer mit fast 11.000 Paragraphen in acht Bänden gigantischen allegorisch-christologischen Auslegung von Genesis und Exodus. Swedenborg war ein Prominenter, in sächsischen Kreisen wie vor allem auch in europaweiten Gelehrtenzeitschriften als Naturforscher, Philosoph, Anatom bekannt und umstritten.78 Nachdem er 1744 im Alter von 56 Jahren eine Christusoffenbarung gehabt haben wollte,79 schrieb er nichts mehr über die Natur, sondern brachte seit 1749 in Amsterdam seinen riesigen Genesis- und Exodus-Kommentar heraus. Ernesti war der erste, der überhaupt über die Arcana schrieb, und es folgte ihm bis 1800 eine große Zahl höchst disparater Stimmen von Kant über Semler, Oetinger, Wieland, Joseph Priestley bis zu Johann Caspar Lavater und vielen anderen.80 Was erblickte Ernesti in diesem Werk, das er offenbar über einen längeren Zeitraum gelesen hatte? Es sind drei Felder,81 die das gelehrte Publikum, und erstmals Ernestis kritisches Auge, an Swedenborg beschäftigten. Erstens ging es um seine neuartige Geisterweltlehre, die mit der Behauptung eines realen und persönlichen Kontakts in eine übersinnliche, aber gänzlich naturalistische, den irdischen Verhältnissen bis ins Detail entsprechende Welt als einer religiösen, im übrigen jahrzehntelangen Erfahrung verbunden war. Swedenborg erhob mithin den Anspruch, seine Lehre auf empirischer Basis, nämlich des eigenen Erlebens, vorzutragen.82 Es ging aber um noch mehr. Swedenborg 76 Vgl. Ernestis Rezension wie Anm. 74, 527: „Man sieht ohnschwer ein, daß der Verfasser den Naturalismum, und seine philosophischen Meynungen unter dieser fanatischen Gestalt vortragen wollen [. . .].“ 77 Vgl. Ernestis Rezension wie Anm. 75, 729: Das ganze Buch sei gespickt mit „dunkeln und barbarischen Ausdrücken und Umschweifen“, es sei nichts anderes als ein Machwerk gegen die Protestanten und laufe offenbar auf den Vorwurf hinaus, dass sie nicht „wie die Socinianer, Naturalisten worden sind“. 78 Vgl. zu Swedenborgs naturphilosophischen Schriften und deren Beurteilung und Rezeption unter den gelehrten Zeitgenossen Stengel, Aufklärung [s. Anm. 30], 56–188. 79 Vgl. zu Swedenborgs biographischer Wende und zum Notat seiner Offenbarung, das erst im 19. Jahrhundert veröffentlicht worden ist, Stengel, Aufklärung [s. Anm. 30], 35–46. 80 Vgl. dazu neben den in Stengel, Aufklärung [s. Anm. 30] dargestellten Rezeptionen Friedemann Stengel: Prophetie? Wahnsinn? Betrug? Swedenborgs Visionen im Diskurs. In: PuN 37, 2011, 136–162; sowie Friedemann Stengel: Swedenborg in German Theology in the 1770’s and 1780’s. In: Emanuel Swedenborg – Exploring a „World Memory“. Context, Content, Contribution. Hg. v. Karl Grandin. Stockholm 2013, 334–355. 81 Vgl. zum Folgenden Stengel, Prophetie [s. Anm. 80], 136–141. 82 Am Anfang der Arcana coelestia (Bd. 1, London 1749, Nr. 5), schrieb Swedenborg, ihm sei
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gab seine Schriften als Ergebnis einer angeblich direkten, empirisch erfahrenen göttlichen Offenbarung bekannt. Ihm sollen sich nicht einfach Gespenster, irgendein Spuk, seien es gute oder böse Dämonen, gezeigt haben. Vielmehr sei ihm sein innerer Sinn in der Folge einer Offenbarung des Herrn für die Geisterwelt geöffnet worden.83 Durch den Herrn selbst habe er ferner den sensus internus, den inneren oder geistigen Sinn hinter dem historischen Buchstaben der Heiligen Schrift erfahren, die er zudem nicht bloß für das Ergebnis theopneustisch beeinflusster Autoren, sondern für verbalinspiriert hielt.84 Wenn über Swedenborg diskutiert wurde, dann war demzufolge oft auch die Frage nach der Möglichkeit einer nachbiblischen Offenbarung im Zeitalter der Empirie berührt. Geradezu Allgemeingut85 waren seit der zweiten Hälfte der 1760er Jahre drei Begebenheiten, die zuerst Kant Anfang 1766 in den Träumen eines Geistersehers schriftlich kolportiert und als weder beweisbar noch als widerlegbar angesehen hatte: ein Stockholmer Stadtbrand, den Swedenborg in einer Gesellschaft zeitlich parallel in Göteborg geschaut haben soll, eine verlorene Quittung, deren Ort Swedenborg nach Kontakt mit einem Verstorbenen mitgeteilt haben soll, und schließlich eine geheime Botschaft des verstorbenen Bruders der schwedischen Königin, die dieser ihr vor seinem Tod mitgeteilt und die Swedenborg Luise Ulrike (1720–1782) auf Anfrage vom Geist des Verstorbenen brühwarm berichtet haben soll.86 Diese Begebenheiten werden von manchen Autoren derart selbstverständlich stichwortartig „vergönnt worden, [. . .] schon einige Jahre lang fortwährend und ununterbrochen im Umgang mit Geistern und Engeln zu sein, sie reden zu hören, und wieder mit ihnen zu reden; daher staunenswerte Dinge im anderen Leben zu hören und zu sehen gegeben worden, die nie zu eines Menschen Kenntnis, noch in seine Vorstellung gekommen sind [. . .]“ (Zit. n. der von der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart bereitgestellten revidierten Übersetzung unter http:// www.wlb-stuttgart.de/referate/theologie/swedvotx.html). 83 Die in Anm. 82 erwähnte Stelle beginnt wie viele andere Schriften Swedenborgs ausdrücklich mit dem Hinweis auf „die göttliche Barmherzigkeit des Herrn“, die ihm den Zugang zur Geisterwelt ermöglicht habe. In den Arcana coelestia wird nicht konkret über diese Offenbarung berichtet, sondern erst im postum herausgegebenen Drömmar (Anm. 79). 84 Beispielsweise seien den Propheten die Worte, die sie schreiben sollten, „hörbar verkündigt“ worden. Vgl. Arcana coelestia 7055. Vgl. dazu Stengel, Aufklärung [s. Anm. 30], 194–199, 205– 207. 85 Im Jahr von Swedenborgs Tod sprach nach einer Rezension der sonst überaus swedenborgkritischen Danziger Berichte „jedermann von desselben Träumen und Einbildungen“. Vgl. die Rezension zu: Sammlung einiger Nachrichten, Herrn Eman. Swedenborg und desselben vorgegebenen Umgang mit dem Geisterreich betreffend; nebst einem Schreiben an denselben, worinn seine vornehmste Meynungen geprüfet werden. Hamburg 1771. In: Danziger Berichte von neuen theologischen Büchern und Schriften von derselben dasigen Gesellschaft, welche bishero die theologischen Berichte ausgefertiget, herausgegeben, 1772, 131 f. 86 Vgl. Immanuel Kant: Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik. In: Kant’s gesammelte Schriften. Abt. 1. Bd. 2. Hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1905, 315–372, hier: 354–356 [Die Akademie-Ausgabe wird im Folgenden abgekürzt durch AA und den entsprechenden Band in römischen Ziffern]. Erstmals informierte Kant in einem privaten Schreiben an Charlotte von Knobloch vom 10. August 1763 über diese Begebenheiten, vgl. AA X, 43–48. Vgl. dazu Stengel, Aufklärung [s. Anm. 30], 640–665.
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oder als Allusion erwähnt, dass man von einer hohen Bekanntheit in der europäischen Gelehrtenschaft ausgehen muss. Womöglich sind sie zum Teil seit Ende der 1750er Jahre diskutiert worden. Schließlich ist es drittens Swedenborgs eigenartiges Lehrsystem, das erstmals Ernesti aus tausenden von Seiten extrahierte und systematisch vorstellte, eine Art „spiritistische Neologie“, die viele Parallelen zur zeitgenössischen ‚Neologie‘ der sich gegenüber den Konfessionen als aufklärerisch verstehenden Theologenschaft aufwies.87 Swedenborgs Geisterweltlehre dürfte ferner als Bestandteil der „anthropologischen Wende“ betrachtet werden, die als Kennzeichen der Aufklärung des 18. Jahrhunderts erkannt worden ist.88 Swedenborg dehnte diese Anthropologisierung konsequent auf das Jenseits, die intelligible Welt, ja bis zu Gott89 selbst aus – als eine „Aufklärung bis zum Himmel“90 – und er ordnete das evangelische Bekenntnis radikal dem Kriterium der menschlichen Freiheit unter.91 Die in den Bekenntnisschriften aller Konfessionen enthaltenen traditionellen Auffassungen von Teufel, Gespenstern, Erbsünde, Imputation, Rechtfertigung sola fide oder nicänischer Trinität fallen dahin oder werden konsequent anthropologisiert und nach dem Freiheitsprinzip umgeformt. Das theologische System insgesamt konnte Ernesti 1760 freilich nicht kennen, und es ist ungewiss, ob er um die in der Öffentlichkeit später viel diskutierten telepathischen und nekromantischen Fähigkeiten Swedenborgs wusste. Entscheidend aber ist einerseits, dass er Swedenborgs Offenbarungsanspruch 1760 kannte und was er in den Arcana coelestia las. Angesichts mancher schärferer Urteile in anderen Rezensionen blieb er bei seinen Qualifizierungen der theologischen Aussagen der Arcana coelestia recht zurückhaltend, aber er sah bei dem Anonymus fünf Punkte: Er war 1. Philosoph und Naturalist im Sinne einer Spiegelung ‚natürlicher‘ Verhältnisse in den Himmel,92 2. er war Coccejaner „im höchsten Grade“93, 3. Romancier „von einer neuen Art“, 4. Miss-
87 Dies wurde auch von den Zeitgenossen erkannt. Beispielsweise stimme Swedenborg in der Sichtweise der Imputationslehre „völlig“ mit Eberhard überein. Vgl. Emanuel Swedenborg: Revision der bisherigen Theologie, sowol der Protestanten als Römischkatholischen. Aus der lateinischen Urschrift übersezt; nebst einem Prüfungsversuche: Ob es wol schon ausgemacht sei, daß Swedenborg zu den Schwärmern gehöre. Breslau 1786, XLIII f. Der Rezensent dieser Schrift kommentiert, für diese Übereinstimmung hätte Swedenborg keine Offenbarung gebraucht. Vgl. Allgemeine deutsche Bibliothek 1788, 1. Stück, 40–58, hier: 51. Zu Swedenborgs Theologie vgl. umfassend Stengel, Aufklärung [s. Anm. 30], 216–332. 88 Vgl. insgesamt: Zwischen Empirisierung und Konstruktionsleistung. Anthropologie im 18. Jahrhundert. Hg. v. Jörn Garber u. Heinz Thoma. Tübingen 2004; Stengel, Aufklärung [s. Anm. 30], 736. 89 Der mundus spiritualis hat bei Swedenborg die Form eines Menschen (maximus homo), Gottes Form aber ist der Mensch, vgl. Stengel, Aufklärung [s. Anm. 30], 220 f., 312–316. 90 So daher der Titel meiner in Anm. 30 genannten Habilitationsschrift. 91 Vgl. Stengel, Aufklärung [s. Anm. 30], 243–262, 737. 92 Vgl. Ernesti, Rezension [s. Anm. 74], 527; Stengel, Aufklärung [s. Anm. 30], 461. 93 Ernesti, Rezension [s. Anm. 74], 525; Stengel, Aufklärung [s. Anm. 30], 459.
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braucher und Verdreher der Heiligen Schrift94 und 5. ein aus der Perspektive der in Sachsen geltenden Konkordienformel in vielerlei Hinsicht Heterodoxer.95 Vor einer Pathologisierung Swedenborgs scheute Ernesti im Gegensatz zu anderen Zeitgenossen96 aber offenbar zurück, und er gelangte auch später nicht an diesen Punkt, sondern betont stets den Missbrauch der Schrift und die Heterodoxie Swedenborgs, 1763 verschärfte er diesen Vorwurf noch.97 Der Umfang und die Genauigkeit, mit der Ernesti dabei vorging, unterstreicht das Gewicht, das Swedenborgs Auslegungen, die immerhin mit einem Offenbarungsanspruch verbunden waren, beigemessen wurde. Darunter waren – hier nur skizziert – dogmatische Topoi, die diskutiert und von vielen sogenannten Neologen erst Jahre später öffentlich abgeschafft oder umgeformt wurden. Offenbar lag es genau an diesen Überschneidungen, dass Swedenborg von vielen Neologen und Rationalisten nicht namentlich erwähnt wurde.98 Der lutherische Sachse Ernesti hatte ja gerade die Überschneidungen zwischen ihnen und Swedenborgs Häresie aufgedeckt. Diese Häresien hatte Swedenborg in Ernestis Sicht in die Schrift hineingetragen durch eine allegorische Schriftauslegung und die angebliche Entdeckung eines geheimen Sinns. Er wurde damit „Negativfolie sine qua non“99 für Ernestis hermeneutische Wende: der Fanatiker, Barbar, Träumer und Possenreißer aus den Rezensionen über die anonymen Arcana und aus dem Vorwort der Institutio. Denn in diesen Arcana coelestia erkannte Ernesti ausdrücklich das „Grundwerk“100 für eine um sich greifende, grassierende Apokalyptik. Es dürfte deutlich werden, gegen wen die Abschaffung des mehrfachen 94 Die Arcana seien ein „Roman von einer neuen Art [. . .], welcher ohngefähr mit Klimms unterirdischen Reise zu vergleichen seyn möchte: nur daß die letzte Erdichtung unschuldig, jene aber, da sie die heil. Schrift unter dem vorgegebenen innern Sinne, misbraucht und verdrehet, höchststrafbar ist“ (Ernesti, Rezension [s. Anm. 74], 527); Stengel, Aufklärung [s. Anm. 30], 461; Ludvig Holberg: Nicolai Klims unterirdische Reise, worinnen eine ganz neue Erdbeschreibung wie auch eine umständliche Nachricht von der 5. Monarchie, die uns bishero ganz und gar unbekannt gewesen, enthalten ist. Kopenhagen, Leipzig 1741. 95 Ernesti nennt zunächst ohne Qualifizierung u. a. die ‚sabellianide‘ Identifizierung Christi mit dem Vater, die Deutung der körperlichen Auferstehung als Fortdauer der Seele, die Abweisung von Engeln und Geistern als eigens geschaffenen Wesen, die Abschaffung des Jüngsten Gerichts und die Auffassung, dass auch Heiden in den Himmel kommen könnten, vgl. Stengel, Aufklärung [s. Anm. 30], 460. 96 Vgl. zu den Beurteilungsvarianten der Visionen Swedenborgs Stengel, Prophetie [s. Anm. 80]. 97 Vgl. seine beiden umfangreichen Besprechungen von Swedenborgs Doctrina novae Hierosolymae (1763), wie Anm. 75, und von Swedenborgs Apocalypsis relevata (1766) in: Neue theologische Bibliothek 1766, 685–692; sowie Stengel, Aufklärung [s. Anm. 30], 464–466, 474 f. 1763 nannte Ernesti gänzlich antilutherische Positionen in der Trinitätslehre, Christologie sowie in der Imputations- und Rechtfertigungslehre. 98 Vgl. aber die verdeckten und ambivalenten Rezeptionen, die dargestellt sind in Stengel, Prophetie [s. Anm. 80] und Stengel, Aufklärung [s. Anm. 30]. 99 Stengel, Aufklärung [s. Anm. 30], 476–487. 100 Ernestis Rezension [s. Anm. 74], 515.
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Schriftsinns sich richtete bzw. wer der Anlass für diese Wende war, wobei anzumerken ist, dass „fanatisch“ von seiner etymologischen Herkunft und seiner Verwendung seit der Reformationszeit als „gottbegeistert“ und als Äquivalent der religiösen Schwärmerei oder des Enthusiasmus verwendet wurde. Hobbes und Locke bezeichneten damit gerade die Behauptung unmittelbarer Offenbarungen. Leibniz schloss sich dem an, qualifizierte aber auch den Wunderglauben als Fanatismus.101 Vor diesem Hintergrund erscheint Swedenborg bei Ernesti nicht – wie sechs Jahre später in den Träumen eines Geistersehers – als wahnsinnig gewordener Kandidat für das Hospital mit einem krankhaft verschobenen „focus imaginarius“102, sondern als Schwärmer mit Offenbarungsanspruch, dessen Schwärmerei aber mit Heterodoxie und Schriftmissbrauch verbunden war. 6. Alternativen zum hermeneutischen Fanatismus Die literarische Begegnung mit Swedenborg hatte nicht nur Auswirkungen auf die Textkritik Ernestis. Im Folgenden werden weitere Varianten der Schrifthermeneutik genannt, die den theologisch-philosophischen Diskurs nach 1760 maßgeblich geprägt haben, sich eben dieser Begegnung verdanken103 und die ohne ihr Gegenüber kaum beschrieben werden können. 6.1 Historische Kritik plus Orthodoxie Vertreter der ersten Variante ist erneut Ernesti selbst: Dass sein Beharren auf dem nur historischen Buchstabensinn nicht zur Dogmenkritik führte, haben bereits seine Schüler wie Wilhelm Abraham Teller und Karl Friedrich Bahrdt als Inkonsequenz betrachtet. Teller bescheinigte ihm, bei aller Kritik „immer gerade an der Grenze stehen zu bleiben, welche die symbolischen Bücher gesetzt haben,“ während ihn sein Freund Semler posthum gegen diese Vorwürfe in Schutz nahm und betonte, Ernesti habe sich eben nicht für einen „Dictator über lutherische Theologie und über christlich eigene Religion“ gehalten.104 Der Bibeltext war aber für Ernesti letztlich eben doch kein profa101 Vgl. Robert Spaemann: Art. „Fanatisch, Fanatismus“. In: HWPh 2, 1972, 904–908, hier: 905; sowie schon bei Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart. Bd. 2. Leipzig 1796, 39. 102 Vgl. Stengel, Aufklärung [s. Anm. 30], 462 f. 103 Ernestis Rezensionen von 1760 wurde von vielen Autoren zitiert und waren (erste) Basis für die Kenntnis über Swedenborg, da die Arcana coelestia wegen Preis und Auflage vor dem Übersetzungsprojekt Oetingers ab 1765 (Stengel, Aufklärung [s. Anm. 30], 521–523) nur wenig verbreitet waren. Kant, Oetinger und verschiedene Zeitschriften zitierten und beriefen sich explizit auf Ernestis Rezension. 104 Vgl. Teller, Verdienst [s. Anm. 69], 20, 34, 42; Karl Friedrich Bahrdt: Kirchen- und Ketzeralmanach aufs Jahr 1781. O. O. (Häresiopel), 56; Semler, Zusätze [s. Anm. 4], 13; dazu insgesamt Stengel, Aufklärung [s. Anm. 30], 480.
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ner Text, sondern seine Autoren waren theopneustisch getrieben.105 Die Texte waren nur nach dem äußerlichen Gehalt auszulegen, ihre innere Substanz musste unangetastet bleiben. Für Ernesti blieb die Einheit der Schrift trotz Bibelkritik mit einheitlicher göttlicher Intention abgesichert, auch wenn er formal die Grammatik der Lehre überordnete.106 Aber Widersprüche konnten durch diese theopneustisch abgesicherte Einheit nivelliert werden, und die Konkordie zwischen kritisch betrachtetem Text und lutherischem Bekenntnis blieb erhalten. Diese Inkonsequenz verdankt sich nach meinem Dafürhalten der Frontlinie, die Ernesti gegen Swedenborg gezogen hatte, die ihm der konkrete, historisch-kontingente Anlass für sein Methodenbuch geworden war: Einerseits musste ein anderer als der historische Sinn zurückgewiesen werden, um solche barbarischen Träumereien und Heterodoxien wie die Swedenborgs nicht in den Text eintragen zu können. Andererseits durfte die historische Kritik aber nicht zur vollen Entfaltung auch im dogmatischen Bereich gelangen, weil der Text sonst seine Verbindlichkeit fürs Dogma zu verlieren drohte. An diesem Dogma hat Ernesti aber im Gegensatz zu manchen seiner Schüler nicht gerüttelt. Er hat es durch analogia fidei gerettet und auf diese Weise seine kritische Haltung durch ein externes Glaubenskriterium wieder eingeschränkt.107 Nur gelegentlich sind an dieser Stelle kritische Tendenzen bemerkbar.108 Die von ihm selbst geforderte Unterscheidung zwischen res und verbum hat Ernesti selbst nicht durchgehalten. Dies geschah auch unter dem Vorzeichen, dass die durch analogia fidei erblickte und theopneustisch abgesicherte Gesamtintention der biblischen Texte mit dem lutherischen Bekenntnis gleichgesetzt werden konnte, jenem gegenüber aber zumindest nicht in Widerspruch stand. Auf diese Weise und unter Hinweis auf die Apologia der Confessio Augustana harmonisierte Ernesti beispielsweise die für andere Autoren unüberbrückbaren Differenzen des neutestamentlichen Textes in der Rechtfertigungsfrage, um dem lutherischen Verständnis Schriftgemäßheit zu bescheinigen.109 Auf zweifache Weise hätte Ernesti Swedenborgs Verbindung von Exegese und Offenbarungsanspruch abgewehrt: erstens durch die Attacke auf die illegitime Anwendung eines sensus typicus oder allegoricus, die zweitens eine Lehre in den Text trug, die durchweg den Bekenntnisschriften widersprach. Aber 105 106 107
Vgl. Anm. 30; Stengel, Aufklärung [s. Anm. 30], 478 f. Vgl. Ilgner, Auslegungsmethode [s. Anm. 5], 121–124, 193–196. Vgl. „Die analogia fidei als orthodoxe Inkonsequenz“, Stengel, Aufklärung [s. Anm. 30],
480 f. 108 Im Programmum de officio Christi triplici (Leipzig 1768 f.) kritisiert Ernesti die Dreiämterlehre der Bekenntnisschriften vom Text des Neuen Testaments her. Vgl. Ilgner, Auslegungsmethode [s. Anm. 5], 13. Die Anregung zu dieser Schrift will Semler gegeben haben, vgl. Semler, Zusätze [s. Anm. 4], 126 u. ö. 109 Vgl. Ernesti, Institutio [s. Anm. 5], 68–70; Ilgner, Auslegungsmethode [s. Anm. 5], 126. Die Widersprüche werden unter anderem mit dem modus loquendi der Autoren begründet und auf diese Weise als Scheinwidersprüche betrachtet.
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Ernestis gegenüber Swedenborg, den Berleburgern, gegenüber der pietistischen und wolffianischen Hermeneutik radikales Diktum, dass nur der sensus grammaticus zu gelten habe, wurde von ihm selbst unterlaufen, wo er orthodoxe Lehren zur Beseitigung offensichtlicher Widersprüche auf dem Plan behielt. Dem würde auch die Unterscheidung zwischen Bibelwort und Wort Gottes korrespondieren, die nicht nur für Semler, sondern bereits für Ernesti zu reklamieren ist.110 Die Begegnung – und die Abwehr – gegenüber Swedenborgs Lehrsystem hätte a) Ernestis grammatische Hermeneutik katalytisch vorangetrieben, b) die im Kontrast zu seinem eigenen philologischen Ansatz stehende Orthodoxie bestätigt und erzwungen. Schließlich fällt c) auf den Zeitpunkt, zu dem die Institutio interpretis Novi Testamenti erschien, ein anderes Licht. Ernestis „inkonsequente“ Positionierung wäre Ergebnis einer kontingenten Frontstellung. Der historisch-kritisch-grammatische Ansatz in der Facette des konfessionellen Ernesti wäre eine erste Folge der Swedenborg-Debatte. Semlers Rolle ist für diese frühe Zeit nach dem derzeitigen Forschungsstand indes nur schwer nachzuzeichnen, weil seine umfangreiche Beschäftigung mit Swedenborg abgesichert erst deutlich später und in einem ganz anderen Kontext nachweisbar ist.111 Nur am Rande ist darauf hinzuweisen, dass zeitlich parallel zu Ernestis ersten Reaktionen der berühmte erste Teufelsstreit ausgefochten wurde (seit 1759), in den Semler und Ernesti verwickelt waren. Da zu den zentralen Theologumena Swedenborgs die Abschaffung des Teufels und die Ersetzung der ‚alten‘ Dämonen und Engel durch die Seelen verstorbener Menschen gehört, ist Ernestis und Semlers Position im Teufelsstreit ohne die Kenntnis 110
Vgl. Ilgner, Auslegungsmethode [s. Anm. 5], 139; Stengel, Aufklärung [s. Anm. 30], 483 f. Vgl. Johann Salomo Semler: Unterhaltungen mit Herrn Lavater, über die freie practische Religion; auch über die Revision der bisherigen Theologie. Leipzig 1787. Vgl. dazu vorläufig Stengel, Prophetie [s. Anm. 80], 150–152; ders.: Mit wem sprach Semler? Unterhaltungen mit Lavater oder Johann Salomo Semler und das Ende der Aufklärung. In: Kampf um die Aufklärung. FS Monika Neugebauer-Wölk. Hg. v. Renko Geffarth [u. a.]. Erscheint Boston 2014; und ders., Theology [s. Anm. 80], 342–344. Die bisherige theologische Semlerforschung hat – aus einem systematischen Interesse an der aufklärerischen Führerschaft Semlers (vgl. unten Anm. 163) – den historischen Kontext seiner Theologie und Bibelkritik nur wenig beleuchtet, sondern Semler in teleologischer Manier in Entwicklungslinien verortet. Zentrale Facetten wie der gesamte vermeintlich ‚irrationale‘ Semler ab den 1780er Jahren oder Semlers Hermetismus- und Alchemieinteresse – auch im Zusammenhang mit seiner Hermeneutik – sind entweder infantilisiert und für irrelevant (Schröter) oder zweideutig (Hirsch) erklärt, zuweilen auch offen dämonisiert (Barth) worden. Vgl. Schröter, Historisierung [s. Anm. 7], 20; Karl Barth: Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert. Berlin (Ost) 31961, 150; Emanuel Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens. Bd. 4. Münster 31984, 48. Vgl. dagegen zum Zusammenhang zwischen Semlers Hermetik und Hermeneutik Peter Hanns Reill: Religion, Theology, and the Hermetic Imagination in the Late German Enlightenment. The Case of Johann Salomo Semler. In: Antike Weisheit und kulturelle Praxis. Hermetismus in der Frühen Neuzeit. Hg. v. Anne-Charlott Trepp u. Hartmut Lehmann. Göttingen 2001, 219–233. 111
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der Schriften Swedenborgs, die Ernesti durch seine eigene Rezension kund getan hatte und Semler kaum verborgen geblieben sein dürfte, nicht beschreibbar.112
6.2 Emblematik als Apokalyptik Die zweite Variante der mit Swedenborgs Schriften als Negativfolie verbundenen hermeneutischen Wende ist vier Jahre später textlich nachweisbar. Der theosophisch-kabbalistisch versierte Friedrich Christoph Oetinger (1702–1782) kam nach eigenem Zeugnis erst durch Ernestis Rezensionen Swedenborg auf die Spur und stand später sogar in Briefkontakt mit ihm. Er hat alle wichtigen Bücher Swedenborgs übersetzt oder übersetzen lassen. Neun eigene, davon die wichtigsten Schriften ab Mitte der 1760er Jahre, verdanken sich der Auseinandersetzung mit ihm.113 Oetinger war kein Swedenborgianer, aber er glaubte im Gegensatz zu anderen Swedenborgs Offenbarungsanspruch. Allerdings entwickelte Oetinger eine „prophetische Theologie“ und Kriterien für den Umgang mit Swedenborg.114 Swedenborg habe seine Visionen falsch ausgelegt, nämlich wie in seinem früheren Beruf als Mechaniker und Physiker. Er habe die leibniz-wolffsche Eschatologie in den Text gelegt, in der es kein Weltende, kein Jüngstes Gericht, keine göttliche Strafe, aber in der swedenborgischen Zuspitzung auch keine Gnade und – wichtig für Oetinger – keine Apokatastasis gab, weil jeder Mensch sich komplett auch sein postmortales Schicksal selbst bereite, ohne davon von außen, durch göttliche Gnade und/oder durch Wirkung der Erlösungstat Christi, befreit werden zu können. Swedenborg habe in der Geisterwelt nur ins Zwischenreich geblickt, nicht darüber hinaus, und er habe die Geisterwelt für das gesamte Jenseits gehalten. Gott habe ihm nur den Interimszustand der Seelen nach dem Tod offenbart. Mit der Abschaffung von Soteriologie und Imputation habe sich Swedenborg schlicht geirrt – das sind Positionen, die Oetinger gegen Swedenborgs Lehre nach und nach entwarf, wobei er aber verschiedene andere Lehrsegmente von ihm übernahm, vor allem die menschliche Freiheit, Teile der Naturphilosophie und die anthropomorphe Geisterwelt.115 112 Vgl. daher Stengel, Aufklärung [s. Anm. 30], 487–495: „Der Streit um die Besessenheit: Ernesti, Semler und die Lohmännin“. 113 Zu Oetingers intellektueller Biographie als Rahmen seiner Swedenborg-Rezeption vgl. Stengel, Aufklärung [s. Anm. 30], 512–527. 114 Vgl. Stengel, Aufklärung [s. Anm. 30], 555–635. Der Terminus „prophetische Theologie“ wird von Oetinger selbst verwendet, so im unpaginierten Register von Friedrich Christoph Oetinger: Beurtheilungen der wichtigen Lehre von dem Zustand nach dem Tod und der damit verbundenen Lehren des berühmten Emanuel Swedenborgs theils aus Urkunden von Stockholm theils aus sehr wichtigen Anmerkungen verschiedener Gelehrten. O. O. 1771. 115 Vgl. besonders Oetinger, Beurtheilungen [s. Anm. 114] und ders.: Höchstwichtiger Unterricht vom Hohenpriesterthum Christi, zur richtigen Beurtheilung der Nachrichten des Herrn von
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Aber die Spiritualisierung der Apokalyptik durch Swedenborg ist für Oetinger nur eine Spielart ihrer Abschaffung, die er auch bei Semler antrifft. Semler, der die Offenbarung des Johannes für eine von Kerinth untergeschobene jüdische Mikrologie hält, erscheint Oetinger ausdrücklich als „Bundesgenosse“ Swedenborgs.116 Beide sind im selben Boot, das für Oetinger bemerkenswerterweise vom Doketismus zusammengehalten wird. Den zeitgenössischen Idealismus sieht Oetinger als „Pferdscheue[n] Schrecken vor dem Materialismus“.117 Die Idealisten der leibniz-wolffschen Schule bis hin zu Semler erscheinen Oetinger aufgrund dieser übertriebenen Abwehrreaktion als Doketisten, die nicht nur die eschatologische Leiblichkeit der Welt leugnen, die die Materie ablehnen und die Monaden nur für bloßen Schein halten. Die idealistischen Doketisten von Semler bis Swedenborg leugnen damit auch das lebendige, durch die kabbalistischen Sephiroth leiblich wirkende Leben Gottes, das von Schrift und Natur nicht getrennt werden kann.118 Sie leugnen nicht nur die materiale Realität der Dinge, die sie für idealistische Materie oder für Scheindinge halten, die zudem noch ewig sind. Sie leugnen auch die Leiblichkeit der Schrift, hinter der sie nur orientalische oder jüdische Vorstellungen erblicken, aus der sie aber auf keinen Fall eine apokalyptische Wahrheit ableiten wollen. Am liebsten wollen sie die Offenbarung aus dem Kanon streichen.119 Gegen diese Front, die er in Swedenborg und Semler kulminieren sieht, wendet Oetinger nun seine Eschatologie und emblematische Hermeneutik, die er beide in seiner Lehre von der Geistleiblichkeit zusammenfasst: „Hinweg die Platonische und Leibnizische phantasmata, daß allein die Geister ῎Οντα (Wesen) seyen, Leiber seyen nur φαινόμενα (Erscheinungen), keine Wesen. Das ist der Ursprung der Cerinthischen Irrthümer.“120 Diese Grundentscheidung betrifft a) die Natur, b) die Apokalyptik und c) die Schrift selbst. In allem ist Leiblichkeit, kein Buchstabe, keine Monade ist ohne Leib. Aber in der auf den Tag des Herrn oder die „Güldene Zeit“ hinauslaufenden Ausrollung der Dinge liegt ihre Vollendung, nämlich die vollkommene Verbindung von Geist und Leib.121 Die Wucht, mit der der Schwedenborgs, in einem Gespräch nach Art des Hiob, zwischen einem Mystico, Philosopho und Orthodoxo, da jedesmal ein heutiger Hiob, ein um der Wahrheit willen leidender antwortet, sammt einer Vorrede vom Neide bei Frommen und Gelehrten, herausgegeben von einem Wahrheitsfreunde, der GOtte besonders über Oetinger danket. Frankfurt, Leipzig 1772; beides dargestellt in Stengel, Aufklärung [s. Anm. 30], 581–589; sowie die „Subkutane Rezeption“ Swedenborgs bei Oetinger, vor allem im Biblischen und Emblematischen Wörterbuch (1776), in Stengel, Aufklärung [s. Anm. 30], 594–622. 116 Stengel, Aufklärung [s. Anm. 30], 524 f., 532, 534, 551, 575, 579, 584, 595 f. passim bis 609. Zur Kerinth-Hypothese vgl. etwa Semler, Unterhaltungen [s. Anm. 111], 334. 117 Friedrich Christoph Oetinger: Die Lehrtafel der Prinzessin Antonia [1763]. Bd. 1. Hg. v. Reinhard Breymayer u. Friedrich Häussermann. Berlin, New York 1977, 136. 118 Vgl. Stengel, Aufklärung [s. Anm. 30], 527–534, besonders 532 f. 119 Vgl. Stengel, Aufklärung [s. Anm. 30], 551. 120 Oetinger, Lehrtafel [s. Anm. 117], 242. 121 Vgl. Stengel, Aufklärung [s. Anm. 30], 550–555.
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lutherische Theosoph Oetinger und seine Anhänger Jahre nach Bengel die Apokalyptik und die Allversöhnungslehre mitten in der ‚Aufklärung‘ platzierten, lässt sich kaum ohne den Hintergrund der swedenborgischen Visionen beschreiben. Aber hier geht es vor allem um den hermeneutischen Ansatz, den Oetinger gegen Swedenborg entwickelt und der sich als ausdrückliche Alternative zu den historisch-kritischen Entwürfen und gegen die „SEMLERISCH CERINTHISCHE Abweichungen von dem wörtlichen Verstand heiliger Schrift und wider die Neulingische WOLFFISCHE Schein-Gründe einer demonstrativischen Erklärung heiliger Schrift“122 versteht: die biblisch-emblematische Methode, gipfelnd in Oetingers letztem großen Werk, dem Biblischen und Emblematischen Wörterbuch von 1776. Oetingers Emblematik, die als Vorgriff auf Schellings Hermeneutik angesehen worden ist,123 kann gerade in ihrer Inkonsequenz ohne ihre Gegenfront, die Allegorese Swedenborgs kaum beschrieben werden. Denn wie Swedenborg trägt auch Oetinger seine Theologie in den Buchstaben ein, und zwar obwohl sein emblematischer Ansatz ausdrücklich davon ausgeht, dass jedes in der Schrift genannte Ding genau das bedeutet, was es heißt: Signifikat und Signifikant sind für Oetinger durch eine essentielle Analogie verbunden. Das Emblem verweist nicht auf etwas Anderes, es bedeutet und umschreibt nichts, sondern es „ist“. Geistiges und Leibliches sind gegenseitig umwandelbar, Bild und Zeichen unterscheiden sich für Oetinger grundsätzlich nicht.124 Dieser Ansatz bezieht sich auf die Leiblichkeit aller Dinge, die Leibliches bezeichnen: „Keine Seele, kein Geist kan ohne Leib erscheinen, keine geistliche Sache kan ohne Leib vollkommen werden. Alles, was geistlich ist, ist dabey auch leiblich [. . .].“125 Eine rein geistige Entität ist für den Kabbalisten und Theosophen Oetinger ohne Leib unvorstellbar. Das betrifft nun zuerst die Apokalypse, die Swedenborg in den Augen Oetingers abgeschafft hat, indem er das „Neue Jerusalem“ für eine geistige Neue Kirche oder das Weiße Pferd lediglich für das Neue Wort hält.126 Für Oetinger bedeuten Pferde Pferde, das endzeitliche Jerusalem ist eine Stadt, Drachen sind Drachen.127 Christus wird am Ende wirklich auf einem weißen Pferd reiten und wie die endzeitlichen Völker aufeinanderschlagen, ist auf einem eingelegten Kupferstich zu sehen, den er einer gegen Swedenborg gerichteten Schrift beilegte.128 Dieser Bibelrealismus war aber nicht in dem 122
Vgl. Oetinger, Wörterbuch [s. Anm. 14], Bd. 1, 443 [Hervorhebungen im Original]. Vgl. Tonino Griffero: Figuren, Symbolik und Emblematik in Oetingers „Signatura rerum“. In: Mathesis, Naturphilosophie und Arkanwissenschaft im Umkreis Friedrich Christoph Oetingers (1702–1782). Hg. v. Sabine Holtz [u. a.]. Stuttgart 2005, 231–249. 124 Vgl. Stengel, Aufklärung [s. Anm. 30], 616–622, hier 618, 621. 125 Oetinger, Lehrtafel [s. Anm. 117], 242; Stengel, Aufklärung [s. Anm. 30], 550. 126 Vgl. Stengel, Aufklärung [s. Anm. 30], 271–295, hier 291–293. 127 Vgl. Stengel, Aufklärung [s. Anm. 30], 570, 575, 585, 588, 607, 619. 128 Vgl. Friedrich Christoph Oetinger [Halatophilus Irenaeus]: Kurzgefaßte Grundlehre des berühmten Würtenbergischen Prälaten Bengels betreffend den Schauplatz der Herabkunft Jesu 123
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gleichen Sinne ‚realistisch‘, wie es noch bei Bengel der Fall war. Oetinger stellte keine Berechnungen an und hielt sich mit solchen numerologischen Spekulationen zurück. Er konzentrierte seinen Apokalyptizismus auf die wolffisch-swedenborgisch-semlerischen Gegner, die die Welt für eine seria infinita halten und das endzeitliche Reich Christi nur geistlich deuten, das ist das neue „Antichristische Gift“.129 Und hieraus ergeben sich auch die offensichtlichen Inkonsequenzen des emblematisch-hermeneutischen Ansatzes. Denn Oetinger interpretiert genau dort realistisch-emblematisch, wo er theologisch widerspricht, nämlich in Eschatologie und Soteriologie: Kreuz und Auferstehung sind „unverblümt“ und massiv zu verstehen, Christi Blut durchtränkt die Erde und verleiht ihr die Eigenschaft der Durchdringlichkeit als ein ens penetrabile.130 An vielen anderen Stellen kommt er gar nicht umhin, allegorisch-sinnbildlich zu deuten. Schon seine Definition von Emblemen drückt nichts anderes aus. Sie sind Bilder für Sichtbares, für historische Zeiträume und moralische Signaturen,131 die nach fünf Regeln ausgelegt werden müssen: nach Gottes Endzweck, nach gleichlautenden Worten, nach „Extension und Comprehensionen oder das, worinnen alles und jedes miteinander zusammenhängt“, nach der analogia fidei, und ökonomisch: nach den Werken Gottes.132 Es wäre ein Fehlschluss, aus diesen Regeln zu folgern, dass Signifikant und Signifikat weder untrennbar, eindeutig und starr miteinander verbunden sein können, noch bereits eine Einheit seien. Für Oetinger sind Schrift und Gottes Wort trotz ihrer Differenz auf Vollendung angelegt: geistleiblich vollkommen sind sie am Jüngsten Tag.133 Dennoch wendet er selbst gezielt allegorische Auslegungen an, und zwar a) dort, wo die Schrift selbst metaphorisch verfährt,134 und b) wo der buchstäbliche Sinn nicht eindeutig zu erkennen ist.135 Oetinger nennt immer wieder Jakob Böhmes (1575–1624) Lehre von der signatura rerum, die er in die Nähe von Swedenborgs mikro- makrokosmischer scientia correspondentiarum rückt, als Schlüssel für die Erkenntnis des Unsichtbaren aus den Dingen.136 Er ist also explizit kein Gegner der Allegorese, weil er die zum Gericht des Antichrists vor dem jüngsten Tag samt den mitverbundenen lezten Dingen durch Halatophilum Irenaeum auf Kosten guter Freunde von Nürnberg zum Beweiß daß die H. Schrift in ihrem eigentlich unverblümten Verstand zu nehmen, samt einem Kupfer zum Druck befördert. O. O. 1769; Stengel, Aufklärung [s. Anm. 30], 570–572. 129 Oetinger, Grundlehre [s. Anm. 128], 13. 130 Oetinger, Wörterbuch [s. Anm. 14], Bd. 1, 57, 71 sowie 74, 324. Zum ens penetrabile vgl. ebd., 548–550. 131 Vgl. Oetinger, Wörterbuch [s. Anm. 14], Bd. 1, 431; sowie Griffero, Figuren [s. Anm. 123], 243. 132 Vgl. Oetinger, Wörterbuch [s. Anm. 14], Bd. 1, 6, 430–433. 133 Vgl. Reinhard Breymayer: Friedrich Christoph Oetinger und die Emblematik. In: Oetinger, Wörterbuch [s. Anm. 14], Bd. 2, 42–70, hier 43; Stengel, Aufklärung [s. Anm. 30], 618. 134 Vgl. Oetinger, Wörterbuch [s. Anm. 14], Bd. 1, 416, 420 u. ö. 135 Vgl. Griffero, Figuren [s. Anm. 123], 239. 136 Vgl. Stengel, Aufklärung [s. Anm. 30], 574, 583 f., 620.
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Emblematik dort ins Feld führt, wo die Apokalypse als Text und als ‚Weltbild‘ historisiert oder spiritualisiert wird. Diese sind nach seinem Verständnis zwei Seiten nur einer Medaille, die auf die Leugnung der Leiblichkeit und des realen Wirkens Gottes und der Heiligen Schrift in der Welt hinausläuft. Unter dem Vorbehalt der endzeitlichen Vollendung steht daher auch die Schriftauslegung: das Unerkennbare des Emblems wird erst am Ende der Dinge geistleibliche Realität, die mit dem Erkennen selbst zusammenfällt.137 Oetinger versteht Leiblichkeit – der Schrift und der Natur – daher nicht ideal, sondern eschatologisch.138 Man kann von einem „österlichen Materialismus“139 sprechen, sofern damit keine Verkürzung auf die Auferstehung Jesu verbunden wird. Die zweite Auslegungslinie, die sich dem Knotenpunkt Swedenborg verdankt, ist also eine theosophische und dennoch partiell swedenborgische Neuformulierung des biblischen Realismus Albrecht Bengels. Sie ist zugleich gegen die „historischen Kritiker“ gewandt – übrigens nie gegen Ernesti persönlich140 – sondern gegen Semler und andere „Lästerer“, wie Teller, bei denen man sich wundere, dass ihnen die „Haut vor dem ewigen Gericht nicht schaudert“.141 Gegen sie ist eine Emblematik gerichtet, die offenbar auch Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775–1854) noch anwendet. Die IsaakOpferung beispielsweise hat Schelling in einer Weise ausgelegt, die als Anknüpfung an die über Oetinger vermittelte theosophische Emblematik und an das ebenfalls von Oetinger rezipierte geradezu paradoxe Gottesbild Jakob Böhmes gelesen werden könnte. Wenigstens verrät Schelling dabei keinerlei historisch-kritisches Interesse, geradeso als wäre die Historisierung der Schrift durch die ‚Neologen‘ an ihm vorbeigegangen.142 Schelling wäre Beleg dage137 Oetingers epistemologisch-eschatologische Zurückhaltung lässt ihn sogar daran zweifeln, dass es überhaupt möglich sei, eine „völlige Theologiam emblematicam auszuarbeiten; daraus wir das sinnbildliche und eigentliche durchaus bestimmen,“ weil in jener Welt das Obere und das Untere verkehrt würden, die jetzige Welt sich aber „im Gemisch des guten und bösen Lebens“ befinde (Oetinger, Beurtheilungen [s. Anm. 114], 74). 138 Vgl. Stengel, Aufklärung [s. Anm. 30], 618. 139 So, im Anschluss an eine mündliche Aussage von Walter Magaß, Martin Weyer-Menkhoff: Christus, das Heil der Natur. Entstehung und Systematik der Theologie Friedrich Christoph Oetingers. Göttingen 1990, 232. 140 Oetinger war konsequenter Leser und Rezipient der Neuen Theologischen Bibliothek, vgl. Stengel, Aufklärung [s. Anm. 30], 558, 561, 578 passim. 141 Vgl. Friedrich Christoph Oetinger: Die Metaphysic in Connexion mit der Chemie, worinnen sowohl die wichtigste übersinnliche Betrachtungen der Philosophie und theologiae naturalis & revelatae, als auch ein clavis und Select aus Zimmermanns und Neumanns allgemeinen Grundsätzen der Chemie nach den vornehmsten subjectis in alphabetischer Ordnung nach Beccheri heut zu Tag recipirten Gründen abgehandelt werden, samt einer Dissertation de Digestione, ans Licht gegeben von Halophilo Irenäo Oetinger [dem Sohn Theophil Friedrich]. Schwäbisch Hall [1770], 600. 142 Diese Lesart wäre wegen der unübersehbaren Oetinger-Rezeption Schellings einer lutherischen Interpretation zuzufügen, wie sie vorgenommen worden ist von Johann Anselm Steiger: Zu Gott, gegen Gott. Oder: Die Kunst, gegen Gott zu glauben. Isaaks Opferung (Gen 22) bei Luther,
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gen, dass sich nach 1800 die Grundsätze der Ernestis und Semlers als ‚aufgeklärtes‘ Gut und Etappe eines Fortschrittsprozesses ‚durchgesetzt‘ haben. Er wäre vielmehr prominentes Beispiel dafür, dass eine theosophische Emblematik, die genau gegen diese historisch-kritische Hermeneutik entwickelt worden, als Produkt des Siècle des Lumières ebenfalls praktiziert worden ist. 6.3 Gegen die „vorgebliche Mystik der Vernunftauslegungen“: der moralische Sinn Eine dritte Auslegungslinie entspringt ebenfalls der Beschäftigung mit Swedenborg. Nach Oetinger war der erste Autor, der sich diesem Fall widmete, Immanuel Kant (1724–1804) mit den Träumen eines Geistersehers, 1766 anonym veröffentlicht und in der Kantforschung als wichtigste Schrift der kritischen Wende betrachtet.143 In den Träumen schilderte er erstens die drei oben erwähnten nekromantisch-telepathischen Begebenheiten, um zu urteilen, dass sie weder beweisbar noch widerlegbar seien und ihn wie die „ganze Materie von Geistern [. . .] künftig nichts mehr“ angehe.144 Zweitens erklärte er Swedenborg zum wahnsinnigen „Candidaten des Hospitals“, der einen verkehrten focus imaginarius habe, was seine inneren Einbildungen zu realen Erscheinungen mache.145 Drittens aber gestand er die Ähnlichkeit Swedenborgs gegenüber seiner eigenen „philosophischen Hirngeburt“ ein, so „mißgeschaffen“ Swedenborgs Hirngeburt auch sei:146 in der Theorie einer doppelten Welt, in der der Mensch jetzt schon lebe, und eines mundus intelligibilis oder „Reichs der Zwecke“ als rein geistigem Ort mit Himmel und Hölle, in den der Mensch nach seinen eigenen Taten nach dem Tod ganz gelange, um sich dort ewig fortzuentwickeln, eine intelligible Welt, aus der schon jetzt die im Luthertum der Barockzeit, in der Epoche der Aufklärung und im 19. Jahrhundert. In: Isaaks Opferung (Gen 22) in den Konfessionen und Medien der Frühen Neuzeit. Hg. v. dems. u. Ulrich Heinen. Berlin, New York 2006, 185–237, hier 235–237. Die Rezeption Oetingers bei Schelling, dessen Vater Nachfolger Oetingers im Pfarramt war, ist bislang nur unzureichend untersucht worden von Robert Schneider: Schellings und Hegels schwäbische Geistesahnen. Würzburg 1938. Vgl. noch Tonino Griffero: Sensorium dei. Variazoni sul tema della spazialità divina (Schelling, Oetinger, Newton, Leibniz/Clark, More/Descartes). In: Rivista di estetica 39, 1999, 69–107. Zum Gottesbild Oetingers und Böhmes vgl. Stengel, Aufklärung [s. Anm. 30], 536–545. Zum Böhmismus von Schellings Vater vgl. Hanns-Peter Neumann: Die Rezeption des englischen Böhmismus im Leibniz-Wolffianismus (Canz, Ploucquet, Schelling sen.). In: Kühlmann/Vollhardt, Offenbarung [s. Anm. 15], 479–511. 143 Vgl. zum Folgenden insgesamt Stengel, Aufklärung [s. Anm. 30], 636–721. 144 Vgl. Kant, Träume [siehe Anm. 86], 352. 145 Kant, Träume [siehe Anm. 86], 344, 347. Der focus imaginarius dürfte auf den „Sehepunkt“ anspielen, der von Johann Martin Chladenius in seiner 1742 in Leipzig publizierte Einleitung zur richtigen Auslegung vernünftiger Reden und Schriften eingeführt wurde. Mit dem „Sehe-Punkt“ wird (§ 309) die Subjektivität des Betrachters – und des Historikers – bezeichnet. Vgl. Peter Hassel: Geschichtsdidaktik im 18. Jahrhundert. Johann Martin Chladenius. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 42, 1991, 452–454. 146 Kant, Träume [siehe Anm. 86], 359.
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Vernunft und moralische Einflüsse in Gestalt eines Ganzen der Verstandeswelt flössen. An dieser Eschatologie und an den moralphilosophischen Grundentscheidungen der Träume hielt Kant zeitlebens fest, selbstverständlich unter anderen epistemologischen Voraussetzungen als Swedenborg, nämlich nicht als empirische Möglichkeit in den Grenzen der theoretischen Vernunft, sondern im Rahmen der Postulatenlehre.147 An seiner Eschatologie wird der grundstürzende Unterschied zu Oetinger deutlich – wie seine Gemeinsamkeiten gegenüber Swedenborg.148 Er hält den Offenbarungsanspruch Swedenborgs für Wahn, aber die Auffassung eines Jenseits ohne Jüngstes Gericht, Richtergott in ewigem progressus infinitus zum Bösen oder zum Höchsten Gut bevorzugt er ausdrücklich gegenüber einer Apokatastasis panton: „In der künftigen Welt können wir uns also nur einen Fortschritt zur Seeligkeit oder zum Elende denken, daß alles auf einem Haufen seyn wird können wir uns gar nicht vorstellen.“149 Fremdgericht und Fremderlösung widersprechen Swedenborgs wie Kants Beharren auf der moralischen Autonomie des Individuums. Und für die Tugendhaftigkeit des Individuums ist Freiheit von Heteronomie genauso unabdingbar wie nicht sinnlich oder empirisch affizierte Maxime als Grundlage des moralischen Gesetzes, das mit den Regeln des kategorischen Imperativs definiert wird.150 Trotz der Unterworfenheit des Menschen unter die Kausalität der Natur im sinnlichen Bereich sind intelligible Freiheit und Verantwortlichkeit die Voraussetzung für tugendhaftes Handeln – die sogar die Hoffnung auf überirdische Ergänzung der irdischen moralischen Bemühungen zum Guten durch „höhere Mitwirkung“ ermöglicht.151 Die „Revolution in der Gesinnung“ ist auch für Kant nichts anderes als „eine Art von Wiedergeburt gleich als durch eine neue Schöpfung [. . .] und Änderung des Herzens“ nach Johannes 3,5, „verglichen“ mit Genesis 1,2.152 147 Die Ähnlichkeit der „Hirngeburten“ wie auch die epistemologischen und anderen Differenzen zwischen Kant und Swedenborg sind ausführlich dargestellt in Stengel, Aufklärung [s. Anm. 30], 666–700. 148 Vgl. zu „Swedenborg in Kants Eschatologie“ Stengel, Aufklärung [s. Anm. 30], 666–673. 149 Kant’s Vorlesungen über Metaphysik nach Volckmann. In: AA XXVIII/1, 447. 150 Vgl. zu den Gemeinsamkeiten und Differenzen der „neuen Ethik“ Kants und Swedenborgs Stengel, Aufklärung [s. Anm. 30], 686–695. 151 Immanuel Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. In: AA VI, 1– 189, hier 51 f. 152 Kant, Religion [siehe Anm. 151], 47 [Hervorhebung von Kant]. Josef Bohatec: Die Religionsphilosophie Kants in der „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ mit besonderer Berücksichtigung ihrer theologisch-dogmatischen Quellen. Hamburg 1938, 455, interpretiert diese Stelle so, dass die Revolution der Gesinnungsart „wesentlich Gottes Werk“ ist. Die aufgrund der Hindernisse der Sinnesart hingegen nur „allmähliche“ Reform ist durch die Anlage zum Guten aber ebenfalls möglich. Der Redewendung von der Wiedergeburt und der neuen Schöpfung steht allerdings Kants Aussage gegenüber, dass dem Menschen sowohl die Revolution als auch die Reform möglich sein müsse, erstere durch den Akt einer „einzige[n] unwandelbare[n] Entschließung“: die Umkehrung des obersten Grundes seiner Handlungsmaximen, also seines
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Moral ist auch das Kriterium für Kants Bibelhermeneutik, die er an wenigen zentralen Stellen, hier im Streit der Facultäten (1798), explizit gegen eine „allegorisch-mystisch[e]“ Auslegung richtet, die weder philosophisch noch biblisch sei. Und er verweist dabei auf Swedenborg, der das ganze Alte Testament als „fortgehende Allegorie (von Vorbildern und symbolischen Vorstellungen)“ betrachtet habe, um eine zukünftige Religion in den Text hineinzulesen und um zu vermeiden, dass der Text als Zeugnis einer vergangenen „wahren Religion“ angesehen wird, „wodurch dann das neue [Testament, d. Vf.] entbehrlich gemacht würde“. Um eine solche Hermeneutik zu vermeiden, schlägt Kant aber nun nicht eine historisch-kritische oder grammatikalische Auslegung des Textes wie Semler und Ernesti vor. Ganz im Gegenteil bezeichnet er die „vorgebliche Mystik der Vernunftauslegungen“, mit der die Philosophie in einzelnen Schriftpassagen einen „moralischen Sinn“ aufspäht, „ja gar ihn dem Texte aufdringt“, als einziges „Mittel, die Mystik (z. B. eines S w e d e n b o r g s )“ abzuwenden. Das Übersinnliche muss an die moralische Vernunft geknüpft werden, um einen „Illuminatism innerer Offenbarungen“ zu vermeiden. In einem solchen Fall hätte jeder seine eigene Offenbarung, ein „Probirstein der Wahrheit“ werde damit ausgeschlossen.153 Gegen die schwärmerische Auslegung der Schrift fordert Kant in der Anthropologie (1798) eine „Aufklärung“ auf dem Feld der biblischen Hermeneutik, die sich an der moralischen Essenz von Religion orientiert: Die wirklichen, den Sinnen vorliegenden Welterscheinungen (mit S c h w e d e n b o r g ) für bloßes S y m b o l einer im Rückhalt verborgenen intelligibelen Welt ausgeben, ist S c h w ä r m e r e i . Aber in den Darstellungen der zur Moralität, welche das Wesen aller Religion ausmacht, mithin zur reinen Vernunft gehörigen Begriffe (Ideen genannt), das Symbolische vom Intellectuellen (Gottesdienst von Religion), die zwar einige Zeit hindurch nützliche und nöthige H ü l l e von der Sache selbst zu unterscheiden, ist Aufklärung: weil sonst ein Ideal (der reinen praktischen Vernunft) gegen ein Idol vertauscht und der Endzweck verfehlt wird.154
Wo Swedenborg in Kants Augen die intelligible Welt hinter dem Schriftbuchstaben erkennen will, verzichtet Kant fast völlig auf jedes historische Interesse am Text: Historie und Gottesdienst als Kirchenglaube155 sind kontingent und unwichtig für die Moralphilosophie Kants, aber auch die intelligible Welt ist nicht erkennbar. Wer sie zu erkennen geschweige denn zu betreten meint, ist Schwärmer, wobei Kant hier gerade nicht seine Affinitäten Hanges zum Bösen (Kant, Religion [siehe Anm. 151], 47 f.). Diese Interpretation ist daher nur möglich, wenn man die Termini „Wiedergeburt“ und „neue Schöpfung“ so versteht, wie es Kant durch den Verweis auf Joh 3,5 nahe legt, nämlich als von Gott selbst gewirkte Akte. 153 Immanuel Kant: Der Streit der Fakultäten. In: AA VII, 1–114, hier 45 f. [Hervorhebung bei Kant]. Vgl. Stengel, Aufklärung [s. Anm. 30], 681–683. 154 Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. In: AA VII, 117–332, hier 191 f. [Hervorhebungen bei Kant]. 155 Vgl. Stengel, Aufklärung [s. Anm. 30], 678 f.
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zur Eschatologie und verschiedenen anderen Lehrstücken Swedenborgs aufdeckt. Vielmehr ist das Ziel auch der Schriftlektüre: Religion, im angeführten Zitat aus der Anthropologie gleichgesetzt mit dem „Intellectuellen“. Die Autorität der Vernunft besitzt kein Interesse an den historischen Gestalten des Gottesdienstes, es sei dahingestellt, ob Kant ahnte, dass auch eine konsequent historische Auslegung des sensus literalis nichts anderes zu tun vermag, als die epistemische Agenda des Historikers, die ihm im Rahmen des aktuelles Diskurses zur Verfügung steht, in den Text hineinzulegen. Eine Akkomodationslehre, wie sie etwa Semler156 benutzt, ist wie historisch-kritische, auch religionsgeschichtliche Hermeneutiken für Kant überhaupt unnötig. Ihm geht es um den moralischen Gehalt und um die „Regeln und Triebfedern des reinen moralischen Glaubens“, die sich im Kern des „Kirchenglaubens“ verbergen wie unter einer Schale.157 Während das Historische bei Ernesti und Semler historisiert und in seiner Sprachlichkeit betrachtet wird, während Oetinger es theosophisch-kabbalistisch-apokalyptisch umformt, wird es bei Kant genauso überflüssig wie bei Swedenborg. Und wo Swedenborg die Wahrheit der intelligiblen Welt – in Gegenwart und Zukunft – aus dem Text herausliest, liegt Kants Fokus ausschließlich auf einem von der Vernunft herauszulesenden Textgehalt. Wie Swedenborg und die historischen Kritiker verlässt Kant formal nicht das sola-scriptura-Prinzip, die Heilige Schrift ist ihm alleinige „Norm des Kirchenglaubens“.158 Aber setzt Kant mit diesem mehrfach wiederholten Gedanken einer moralischen Schriftinterpretation nicht ebenfalls voraus, dass sich hinter dem Schriftbuchstaben ein anderer als der literarische Sinn verbirgt, dessen Auslegung nun lediglich an das scharfe Schwert einer vernünftigen Moralität geknüpft wird? Schließlich fordert er selbst, hinter der Schrift das „Symbol“ eines anderen, ‚eigentlichen‘ Gehalts zu erkennen. Bewegt er sich damit, zwar in einer anderen Richtung, aber nicht doch auf der gleichen Ebene wie Swedenborg, der durch seine ‚analogische‘ Hermeneutik den Bibeltext vor der historisch-kritischen Methode und vor der Wunderkritik der frühen ‚Aufklärung‘ ‚retten‘ wollte? Als der Erlanger Theologieprofessor Christoph Friedrich Ammon, der übrigens 1809 auch die fünfte Auflage von Ernestis Institutio herausbrachte, 1792 auf der Basis der moralischen Hermeneutik Kants den Entwurf einer reinen biblischen Theologie159 vorlegte, wurde dieses Projekt von Vertretern eines historisch-kritischen Ansatzes in der Tat als Spielart der eigentlich überwunden geglaubten „allegorischen Exegese“ zurückgewiesen.160 In der kritischen Rezeption der Zeitgenossen wurden 156
Vgl. dazu Schröter, Historisierung [s. Anm. 7], 148–151, passim. Kant, Religion [siehe Anm. 151], 112. 158 Kant, Religion [siehe Anm. 151], 114. 159 Christoph Friedrich von Ammon: Entwurf einer reinen biblischen Theologie. Erlangen 1792. 160 Vgl. Walther Zimmerli: Art. „Biblische Theologie I. Altes Testament“. In: TRE 6, 1980, 426–455, hier 428. 157
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Kant und Swedenborg zu hermeneutischen Zwillingsbrüdern. Signifikanterweise nennt Kant weder hier noch an anderen Stellen die historisch-kritische Methode der Schriftauslegung als Abwehrmittel gegen Swedenborg, sondern eine moralische Hermeneutik, die ebenfalls hinter den Text blickt. An einen anderen Autor ist in diesem Zusammenhang zu erinnern, der sich anders als Kant mit zahlreichen Schriften als Protagonist der hermeneutischen Wende hervorgetan hatte. Als Lessing die Fragmente des unbekannten Reimarus publiziert hatte, stellte sich Semler ganz gezielt und bewusst gegen den Anonymus und dessen Folgerungen zum „Zwecke Jesu“, offenbar um sein eigenes historisch-kritisches Projekt vor dem Verdacht zu schützen, das Dogma als öffentlich verbindliche Lehre in Frage zu stellen.161 Offensichtlich vor dem Hintergrund der Selbstverteidigung gegenüber dem Fragmentisten forderte Semler 1779, in den Evangelien eine „doppelte Lehrart“ zu unterscheiden und herauszusuchen, „davon die eine, sinnliche, bildliche, den wahren Charakter jener Zeit und Orte ausmacht; und damalen nur für solche Leser aus den Juden bestimt worden ist“, während die andere schon „den reinen Inhalt der geistlichen Lehren Jesu“ besitze und die für die Juden gedachten Bilder nicht mehr benötige, wenn die „Zuhörer oder Leser nicht mehr solche sinnliche ungeübte Juden“ sind.162 Obwohl Semler von „Lehrart“ und nicht von „Lesart“ spricht, sind es zwei Schichten,163 zwei sensus, die er im Text erkennt: einen historisch-sinnlichen sensus externus, der in diesem Falle 161 Vgl. Johann Salomo Semler: Beantwortung der Fragmente eines Ungenannten insbesondere vom Zweck Jesu und seiner Jünger. Halle 1779. Semler warf dem Fragmentisten summarisch vor, a) keine guten Hilfsmittel besessen zu haben, b) eine für einen „gemeinen Christen“ geschweige für einen christlichen Gelehrten kaum verzeihliche „Unwissenheit“ an den Tag gelegt zu haben, die c) eher bei einem Juden nicht befremdlich sei, d) eine „merkliche Unbekanntschaft“ mit dem Neuen Testament in Inhalt und Auslegung und eine nur mangelnde „historische Gelersamkeit“ zu besitzen (vgl. Vorrede, a5v). 162 Vgl. Semler, Beantwortung [s. Anm. 161], Vorrede, bv. Mit der nicht weiter begründeten Vorentscheidung, Semlers Rolle im Fragmentenstreit führe bei ihm nicht zu „zusätzlichen methodischen Aspekte[n] hinsichtlich unserer Fragestellung“, klammert Schröter (Historisierung [s. Anm. 7], 20) dieses Kapitel ganz aus der Untersuchung aus. 163 Emanuel Hirsch geht mit seiner Inbeziehungsetzung der „doppelten Lehrart“ und der Unterscheidung zwischen öffentlicher und privater Religion klar daran vorbei, dass Semler sich hier ausdrücklich auf die Textauslegung bezieht (vgl. Hirsch, Theologie [s. Anm. 111], 81). Dass Semler am Ende dennoch einem äußeren und einem inneren Textsinn anhängen könnte, passt für Hirsch offenbar nicht zu seinem typisch ahistorischen Vorverständnis ‚aufgeklärter‘ Autoren. Semler gilt ihm immerhin als „der unbestrittene Führer der deutschen Neologie“, der die „Wende von der altprotestantischen zur neuprotestantischen Theologie heraufgeführt habe“. Hirsch kommt zu dem teleologischen Urteil, dass die „kritische Erneuerung der Theologie über die von ihm gezognen [. . .] Grenzen [. . .] hinausstrebte“. Deshalb sei er zweideutig geworden (Hirsch, Theologie [s. Anm. 111], 48). Dass die Debatten, in die der ältere Semler ab Ende der 1770er eingebunden war, bislang nicht untersucht worden sind, dürfte damit zusammenhängen, dass sich bei einer konsequenten Historisierung auch der Hermeneutik Semlers das Urteil Hirschs (und in seinem Gefolge vieler anderer) wohl kaum halten lassen dürfte, sondern die varianten Relationen von Semlers hermeneutischen Prinzipien ans Licht bringen würde. Vgl. dazu jetzt Stengel, Semler [s. Anm. 111].
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speziell jüdisch-historisch ist, und einen „geistigen“ und „reinen“ Sinn unter der jüdisch-bildlich-historischen Schale. Textinterne Ungereimtheiten, offensichtliche Widersprüche und Unwahrscheinlichkeiten, die der Fragmentist nun zu seiner großangelegten Betrugshypothese benutzte, konnte Semler dem äußeren, jüdischen Sinn zuschreiben, der für Christen keine Glaubensrelevanz mehr hätte. Anders als Kant interessierte sich der Theologe Semler aber für diesen „jüdischen“ Text bloß als Historiker. Für den christlichen Glauben besaß der äußere Text nach dem Urteil Semlers aber ebensowenig Relevanz wie bei Kant. Damit hielt er wie Kant letztlich an einem mehrfachen Schriftsinn fest und verließ, wie oben festgestellt,164 den Kurs einer konsequenten Historisierung der Bibel beider Testamente. Wenn diese Inkonsequenz schon von den Zeitgenossen bei Ernesti festgestellt worden ist, dann erhebt sich mit Blick auf Semler in der Tat die Frage, ob sich die These einer „hermeneutischen Wende“ im Sinne Ebelings überhaupt aufrecht erhalten lässt, wenn deren wichtigste Repräsentanten fundamentale Grundregeln zwar aufgestellt, ihnen aber gar nicht konsequent gefolgt sind. Der Blick auf die Disparatheit und Ambivalenz der tatsächlich praktizierten hermeneutischen Ansätze, die sich um den diskursiven Knotenpunkt „Swedenborg“ entwickelt haben, spricht ebenfalls eher für ein kontingentes Bündelungsereignis um 1760, von dem aus sich neue hermeneutische Varianten gestreut haben.
7. Schluss: Varianten der Schriftauslegung trotz ‚Aufklärung‘ der Schrift Kants Vorschlag erweist sich gegenüber den Vertretern der sogenannten hermeneutischen Wende, gegenüber Swedenborgs innerem Schriftsinn sowie gegenüber Oetingers emblematischer Theologie als eine vierte hermeneutische Variante der protestantischen Theologie der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts.165 Alle genannten Entwürfe zeigen sich als Reaktionen auf die Hinterfragung des Schriftgehalts durch Wunderkritik, Historisierung versus ‚Typologisierung‘ des Alten Testaments, durch die Frage nach der Existenz anderer Religionen, nach dem Gottesbild, der Theodizee und der ganzen Bandbreite außer- und innertheologischer Kritik in den Debatten des 18. Jahrhunderts. Alle Varianten halten mit verschiedenem Gewicht an der Sakralität der Schrift letztlich fest und betrachten sie gerade nicht nur als historisches Buch, sei es durch Inspiration, Theopneustie der Autoren oder die Behaup164
Vgl. Anm. 26. Um auf einer im engeren Sinne theologischen Ebene der Auslegung zu bleiben, bin ich auf die poetischen, ästhetischen und anderen säkularen oder säkularisierenden Bibelhermeneutiken wie Schillers und Goethes dramaturgische Inszenierungen oder Herders Psalmendeutung in diesem Beitrag nicht eingegangen. Vgl. daher Weidner, Bibel [s. Anm. 11], 285–314, 339–375; sowie Bultmann, Bibelrezeption [s. Anm. 11], 227–243. 165
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tung eines Kerngehalts wahrer christlicher (Moral-) Religion. Aber die genannten Entwürfe beziehen sich in ihrer besonderen Gestalt, gerade auch hinsichtlich der vermeintlichen Inkonsequenzen aufeinander. Sie sind voneinander her und auch gegeneinander generiert worden, wobei die Gegnerschaften partielle Übernahmen der Konzepte der anderen gerade einschließen. Schließlich kann nach der „hermeneutischen Wende“ nicht von einer einheitlichen aufgeklärten Bibelhermeneutik gesprochen werden, die den mehrfachen Schriftsinn im Grundsatz ‚abgeschafft‘ und diesen Grundsatz auch praktisch konsequent durchgehalten hätte. Wenigstens an dieser Stelle ist der Behauptung zu widersprechen, die in der Aufklärung anhebende und auf der „allmählichen Durchsetzung frühaufklärerischer Ideen“ beruhende „‚Gesamtumwälzung der Kultur auf allen Lebensgebieten‘“ habe auch im Bereich der Hermeneutik gegriffen.166 Mit einem solchen teleologischen Geschichtsverständnis wird notwendigerweise eine vom sprechenden Zeitgenossen für aufgeklärt gehaltene „Kultur“ – hier Hermeneutik – in das 18. Jahrhundert zurückprojiziert, während die historisch vorhandenen Varianten auf der Basis normativ generierter Urteile nivelliert, ignoriert oder als vom Fortschrittsgeist der großen Umwälzung liquidiert betrachtet werden (müssen). Wie wollte man diese Behauptung angesichts der Tatsache aufrechterhalten, dass solche aufklärerischen hermeneutischen Varianten seit dem 18. Jahrhundert durch Rezeption immer wieder neu figuriert, transformiert und durch Einschreibung in den aktuellen Diskurs in die Moderne transportiert werden? Die Komplexität und Diversität des Historischen würde auf diese Weise durch eine normative Berichtigung im Nachhinein immer wieder reduziert. Wie wollte man schließlich den Beweis führen, dass sich bestimmte Ideale im Sinne Troeltschs durchgesetzt hätten? Wie wollte man die Normalität belegen, mit der solche eine Durchsetzung zu den unumstößlich akzeptierten epistemischen Vorbedingungen gehörte? Wie könnte solch ein ‚Beweis‘-Gang angesichts der faktischen Mannigfaltigkeit der Bibelhermeneutik im 18. Jahrhundert und darüber hinaus überhaupt aussehen? Was hätte es aus einer ‚rein‘ theologischen Perspektive etwa für Konsequenzen, wenn man es für die einzig ‚aufgeklärte‘, also ‚legale‘ hermeneutische Variante halten würde, nur einen einzigen sensus historicus anzunehmen? Wäre dann beispielsweise der nur typologisch garantierbare Konnex zwischen Altem und Neuem Testament aufzugeben? Das würde die ökumenische Vielfalt und Komplexität jetztzeitiger Exegese durch normative Berichtigung reduzieren und die Legitimität pluriformer Gestalten heutiger christlicher Theologie auch in institutioneller und fachwissenschaftlicher Hinsicht ernsthaft in Frage stellen. Aus einem historischen Blickwinkel, der sich einer teleologischen oder normativen Agenda enthält, fällt die Kontingenz, Singularität und Ereignishaftig-
166 So Schröter, Historisierung [s. Anm. 7], 5, anschließend an die von Ernst Troeltsch: Art. „Aufklärung“. In: RE3 2, 1897, 225–241, hier 225, diagnostizierte „Gesamtumwälzung der Kultur“.
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keit der Hermeneutik des 18. Jahrhunderts ins Auge. Als Ansätze und Vorstöße waren religionsgeschichtliche Kontextualisierungen, allegorische, moralische, rationalistische und grammatisch-historische Hermeneutiken vor den geschilderten Debatten vorhanden: bei Wettstein, beim Wertheimer, den Berleburgern, in Halle oder Alpirsbach. Das ‚Ereignis Swedenborg‘ kann als die Frontstellung verstanden werden, die sowohl aufklärerische Debatten über die Grenzen und Möglichkeiten der Schriftauslegung als auch die genannten Neuansätze geordnet und zugespitzt hat, Neuansätze, die Swedenborgs typologisch-allegorische und theologisch heterodoxe Radikalisierung der Exegese vermeiden, umschreiben, partiell adaptieren oder gezielt bekämpfen. Diese Ansätze sind aber auch untereinander eng aufeinander bezogen, ihre Eigenartigkeiten und ihr auf den ersten Blick unstimmiges oder inkonsequentes Verfahren lassen sich vor dem Hintergrund dieser Interdependenzen und der ihnen gemeinsamen Herausforderung beschreiben, die das ‚Ereignis Swedenborg‘ geschaffen hat. Damit geraten die Knotenpunkte167 des Diskurses in den Blick, an denen die Entwürfe neu gemischt, neu verteilt, die Fronten neu abgegrenzt, verschoben, neu formiert werden, die Orte, an denen Geschichte sich ereignet, aus dem Singulären, Nicht-Notwendigen. Das ‚Ereignis Swedenborg‘ ist nach meinem Dafürhalten solch ein Knotenpunkt, der die Neuformierung der Hermeneutiken generiert hat. Das Aufspüren dieses Knotenpunktes ermöglicht es, diese Hermeneutiken in ihrer Ereignishaftigkeit zu beschreiben.
167 Begriff im Anschluss an Jacques Lacans „point de capiton“ nach Ernesto Laclau: The ‚People‘ and the Discoursive Production of Emptiness. In: Ders.: On Populist Reason. London, New York 2005, 67–128, hier 105; Ernesto Laclau u. Chantal Mouffe: Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus. Wien 1991, 150 f.; Slavoj Žižek: Che Vuoi? In: Ders.: The Sublime Object of Ideology. London, New York 1989, 95–144, z. B. 95, 139.
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JOHANNES WALLMANN
Theologiestudent, Kürassier, Waisenhauspräzeptor, Feldprediger und Zivilpfarrer Der seltsame Lebenslauf des Johann Hermann Blume Arndt Ruprecht zum 85.Geburtstag Im Jubiläumsjahr 2012, dem Jahr des 300. Geburtstages Friedrich des Großen, hielten der Verein für Schlesische Kirchengeschichte und der Verein für Kirchengeschichte Berlin-Brandenburg-Schlesische Oberlausitz eine gemeinsame Tagung über das Thema „Friedrich der Große und die Kirchen“. Nach der Planung der Tagung sollte ein Historiker das Verhältnis der evangelischen Kirche im gesamten Preußen zum König behandeln, weitere Kirchenhistoriker regionale Einzelthemen und ein Kunsthistoriker den Kirchenbau in der Zeit Friedrichs des Großen. Für alle diese Themen konnten kundige Referenten gewonnen werden. Nur ein Historiker für das Thema Friedrich der Großen und die Kirche war nicht zu gewinnen. Nicht nur waren die Historiker, die sich speziell mit Friedrich dem Großen befasst haben, im Jubiläumsjahr mit anderweitigen Verpflichtungen ausgebucht. Eigentlicher Grund für die vielen Absagen war offensichtlich, dass das Thema „Friedrich der Große und die Kirche“ in der historischen Wissenschaft kein Interesse findet.1 So musste ein emeritierter Kirchenhistoriker, der über „Preußentum und Pietismus“ zur Zeit des Soldatenkönigs gearbeitet, aber zu Friedrich dem Großen nicht viel mehr beigetragen hat, als dass dessen Jugendfreund Hans Hermann von Katte von Philipp Jakob Spener im Haus des Großvaters, des Generalfeldmarschalls und Gouverneurs von Berlin, Graf von Wartensleben, getauft worden war,2 in die Bresche springen. So habe ich mich innerhalb weniger Monate in Quel-
1 „Auf die religiöse Komponente im Denken und Handeln Friedrichs kann hier nicht eingegangen. Dazu sind die von ihm geäußerten Gedanken auch zu wenig konsistent. So hat Friedrich niemals eindeutig ausgesprochen, was ihm in religiösen Fragen wichtig und unverzichtbar erschien. Der Grübler und Verzweifelte kann vom Spötter letztlich nicht unterschieden werden“. So in einer Anmerkung die einzigen Worte von Johannes Kunisch in seiner Friedrichbiographie zum Thema (Johannes Kunisch: Friedrich der Große. Der König in seiner Zeit. München 2004, 560 Anm. 76). 2 Johannes Wallmann: Preußentum und Pietismus. In: Ders.: Pietismus-Studien. Gesammelte Aufsätze II. Tübingen 2008, 362–391, hier 380.
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len und Literatur eingearbeitet und im September 2012 einen Vortrag „Friedrich der Große und die Kirche“ gehalten.3 Ausgehend von dem Abschnitt De Ecclésiastiques et de la Religion im Politischen Testament von 1752 habe ich mein Thema in fünf Punkten behandelt: 1. Der Toleranzgedanke. Hier habe ich gezeigt, dass der für Friedrichs Religions- und Kirchenpolitik grundlegende, schon bei seinem Regierungsantritt ausgesprochene Toleranzgedanke nichts Neues ist, sondern seit dem Übergang des Kurfürsten Johann Sigismund zum reformierten Bekenntnis 1614 ein Grundzug der Politik der Hohenzollern war. Schon für seine Vorgänger galt die religiöse Toleranz gegenüber Andersgläubigen. Schon der Große Kurfürst hat eine Universität in Tangermünde geplant, die für Juden und Moslems offen sein sollte, und der Soldatenkönig hat muslemischen Soldaten in Potsdam einen Gebetsraum als Moschee zur Verfügung gestellt. Neu bei Friedrich ist nicht der Toleranzgedanke, sondern der rationale Staatsgedanke, der den Staat zu einer rein säkularen Größe macht, ihm alle religiöse Begründung entzieht und damit das Prinzip des cuius regio, eius religio aufhebt. Neu ist die allen Einwohnern des Landes zukommende Glaubens- und Gewissensfreiheit, wie sie § 2 des Allgemeinen Preußischen Landrechts ausspricht. In Punkt 2 habe ich Die praktische Auswirkung der Toleranz aufgezeigt, mit der Friedrich allerdings über seine Vorgänger hinausgeht. Ich habe das gezeigt an der in Preußen den Schwenckfeldern, Socinianern, Mennoniten, die früh in Krefeld toleriert worden waren und durch die zweite polnische Teilung nun in größerer Zahl im östlichen Preußen lebten, gewährte Duldung, an der Duldung der Böhmischen Brüder und der Herrnhuter, Gichtelianer, Tersteegianer bis zu den Moslems, die Friedrich der Große in großer Zahl in Westpreußen aufnehmen wollte. Mein Punkt 3 galt Friedrichs Distanz zu der von seinen Vorgängern betriebenen Union zwischen Lutheranern und Reformierten. Den Unionsplänen seines Vaters zuwider führte diese Distanzierung zu einer innerprotestantischen Rekonfessionalisierung, wie das die Beendigung des Baues von Unionskirchen wie der Dreifaltigkeitskirche und anderer Unionskirchen in Berlin zeigt. Die Organisation der preußischen Militärkirche führte zu einer lutherischen Militärkirche durch das Renovirte Militair-Consistorial-Reglement und KirchenOrdnung des Feld-Ministerii von 1750. Im Potsdamer Militärwaisenhaus, wo die reformierten und lutherischen Kinder anfangs gemeinsam unterrichtet wurden, wurden reformierte und lutherische Schulklassen eingerichtet. Schließlich kam es durch die Errichtung des lutherischen Oberkonsistoriums in Berlin 1750 zur verwaltungsmäßigen Bildung einer ersten lutherischen Landeskirche in Preußen. In einem Punkt 4 bin ich den Aufklärerischen Reformbemühungen in der evangelischen Kirche zur Zeit Friedrichs des Großen nachgegangenen. Anders als 3
Er wird im nächsten Band des Jahrbuchs für Schlesische Kirchengeschichte erscheinen.
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im habsburgischen Josephinismus bestehen sie weniger in Eingriffen ins kirchliche Leben als in der Instrumentalisierung der Kirche für die Zwecke der staatlichen Wohlfahrt wie etwa durch Kanzelabkündigungen und die Verpflichtung der Gemeinden zum Seidenraupenanbau. Aufklärerische Reformbemühungen in der evangelischen Kirche sind die Streichung von Feiertagen und – dies der Höhepunkt in fridericianischer Zeit – der Versuch der Einführung eines neuen Gesangbuches, des Gesangbuches von Mylius 1780. Die Durchdringung der Kirche mit dem Geist der Aufklärung fällt noch kaum in die Frühzeit der Regierungszeit Friedrichs bis zum Siebenjährigen Krieg. Im lutherischen Oberkonsistorium geben noch weithin im Geist des hallischen Pietismus ausgebildete Theologen wie Johann Peter Süßmilch und Johann Julius Hecker den Ton an. Die Aufklärung setzt sich in der Kirche erst durch mit der Dominanz neologischer Theologen im Oberkonsistorium seit der Mitte der sechziger Jahre (August Wilhelm Sack, Johann Joachim Spalding, Wilhelm Albrecht Teller, Johann Samuel Diterich). Sodann mit der Ernennung des stark vom aufklärerischen Geist geprägten Ministers des dem Justizwesen angegliederten Geistlichen Departements Freiherr von Zedlitz im Jahre 1763, der für das Kirchen- und Schulwesen in Preußen zuständig war und dem Friedrich weithin freie Hand für die geistlichen Angelegenheiten überlassen hat. Mein Punkt 5 beschäftigte sich etwas ausführlicher mit dem Militärkirchenwesen, das in der Kirchengeschichtswissenschaft wenig beachtet wird. Vor allem das System der Feldprediger, an deren Spitze seit dem Soldatenkönig ein Feldpropst stand, beanspruchte meine Aufmerksamkeit. Einige Tage danach gab mir eine aufmerksame Zuhörerin, die Historikerin Ruth Slenczka, einen mir unbekannten Text zu lesen, der sich im Druck und in maschinenschriftlicher Transkription in ihrem Familienbesitz befindet: die Lebensgeschichte des Herrn Pastors Johann Hermann Blume von ihm selbst in die Feder gesagt 1785. Es handelt sich um die Autobiographie eines ihrer Vorfahren, der im Alter nahezu erblindet diese Lebensgeschichte seiner Tochter in die Feder diktiert hat. Diese kleine Autobiographie fesselte mich zusehends. Als Sohn eines im Nordischen Krieg in russische Gefangenschaft gekommenen Soldaten im Heer Karls XII. geboren und frühverwaist, wird er auf der Domschule in Reval im pietistischen Geist erzogen und im Alter von siebzehn Jahren nach Halle zum Theologiestudium geschickt. Frisch immatrikuliert gerät er wenige Monate nach Studienbeginn in die Fänge preußischer Werber, wird zum Militärdienst erpresst und Kürassier im Leibregiment. Als Kürassier nimmt er an den beiden ersten Schlesischen Kriegen teil und hat an der Schlacht von Kesselsdorf mitgefochten. Da die Schreibfähigkeit des ehemaligen Studenten dem Regimentskommandeur auffällt, wird er nach dem Ersten Schlesischen Krieg mit der Regimentsschreiberei betraut und vom Dienst beurlaubt. Nach dem Zweiten Schlesischen Krieg wird er von einem Feldprediger mit dem Führen der Listen beauftragt, die ein Feldprediger für Abendmahlsbesuche und andere Amtshandlungen anfertigen muss. Der Feldprediger leiht ihm eine 279 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559116 — ISBN E-Book: 9783647559117
größere Zahl theologischer Bücher, so dass der Kürassier ein theologisches Selbststudium durchführt. Vom Umfang seines selbsterworbenen Wissens beeindruckt, entlässt ihn der Regimentschef aus dem Militärdienst, damit er die Stelle eines Präzeptors am Großen Militärwaisenhaus in Potsdam antreten kann. Blume, der weiß, dass man nach einer fünfjährigen Tätigkeit als Präzeptor im Militärwaisenhaus Anspruch auf eine zivile Pfarrstelle hat, wartet als fleißiger Präzeptor im Militärwaisenhaus die Zeit ab, bis der Feldpropst ihm beim König für eine Pfarrstelle vorschlagen kann. Zweimal scheitert der Versuch, offensichtlich wegen der zwischen der Militärkirche und dem Lutherischen Oberkonsistorium bestehenden Spannungen. Beim dritten Mal hat der Feldpropst Erfolg. Blume lässt sich vom Feldpropst als Feldprediger ordinieren, vertritt in der Potsdamer Garnisonkirche den Feldpropst einige Zeit im Siebenjährigen Krieg. Endlich bekommt er eine Pfarrstelle im Halberstädtischen, gründet eine Familie und hat mehrere Kinder. Die Lebensgeschichte von Johann Hermann Blume ist ein nahezu unbekannter Text. Aus der 1785 angefertigten Handschrift, die heute verschollen ist, ist in einem von der Göttinger Verlegerfamilie Ruprecht hergestellten familiengeschichtlichen Privatdruck die Lebensgeschichte als Teil III von: Max Ruprecht, Die Familie Blume, Brandenburg a. H. 1897 (Wiesike), 77–88 abgedruckt worden. Dieses zu familiengeschichtlichen Zwecken gedruckte Buch ist nicht in die öffentlichen Bibliotheken gekommen. Nur die Staatsbibliothek zu Berlin verzeichnet in ihrem Katalog den Titel, gibt ihn aber als Kriegsverlust an. Auf eine Fernleihbestellung erhielt ich am 10. Dezember 2012 die Auskunft: Der gewünschte Titel ist in den Bibliotheken der Bundesrepublik Deutschland und des Auslands nicht nachgewiesen. Das familiengeschichtliche Buch wurde mit Ergänzungen 1935 neu herausgegeben von Else Heintze: Das Geschlecht Blume nach der „Familie Blume“ von Dr. med. Max Ruprecht, Hannover 1935. Ein Exemplar dieses Buches befindet sich in der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek Hannover. In diesem Buch sind die familiengeschichtlichen Nachrichten zur Familie Blume bis zur Gegenwart fortgeführt, der Teil III mit der Lebensgeschichte von Johann Hermann Blume ist aber fortgelassen. Nur die wichtigsten Lebensdaten Johann Hermann Blumes werden unter der Überschrift 2. Generation genannt und sind von daher wohl in sein Biogramm im Pfarrerbuch der Kirchenprovinz Sachsen, wenn auch fehlerhaft, eingegangen. Man kann also sagen, dass es sich bei der Lebensgeschichte des Herrn Pastors Johann Hermann Blume um einen für die historische Forschung unbekannten Text handelt. Diese Biographie, die weit über den Raum der Kirchengeschichte Interesse finden wird, habe ich mit historischen Anmerkungen versehen und veröffentliche sie nach dem Nachdruck von 1897, der angibt, die Handschrift mit Orthographie und Wortlaut wiederzugeben. Auch ich habe die zuweilen fehlerhafte Orthographie und Interpunktion beibehalten – das Personalpronomen dem erscheint häufig als den und die Schreibung der Namen habe ich in den Anmerkungen richtig gestellt. Zur Kommentierung habe ich die histori280 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559116 — ISBN E-Book: 9783647559117
schen Hilfsmittel benutzt, im ersten Teil besonders die Datenbank zu den Einzelhandschriften in den historischen Archivabteilungen des Studienzentrums August Hermann Francke in den Franckeschen Stiftungen in Halle und zur Identifizierung der Personen und Orte im letzten, dem zivilen Pfarramt geltenden Teil das kürzlich erschienene umfangreiche, vom Verein für Pfarrerinnen und Pfarrer der Kirchenprovinz Sachsen herausgegebene Pfarrerbuch der Kirchenprovinz Sachsen. 10 Bände. Leipzig 2003–2009 (abgekürzt PfB KPS). Die Handschrift ist, wie mir Dr. Arndt Ruprecht / Göttingen, der ebenfalls Johann Hermann Blume zu seinen Vorfahren zählt, mitteilt, heute verschollen. Weggelassen habe ich einen Nachtrag, der nicht mehr von Blume seiner Tochter diktiert worden ist, sondern von dieser Tochter selber stammt. Sie berichtet in diesem kurzen Nachtrag von den letzten Lebensjahren, in denen Johann Hermann Blume sein Amt in Klettenberg körperlich geschwächt, aber mit wachen und gesunden geistigen Kräften weitergeführt und sich zu seiner Weiterbildung von seiner Tochter hat vorlesen lassen, dazu 1791 seinen einzigen noch lebenden Sohn zur Unterstützung seines Amtes als Adjunkt bekommen hat. Ausführlich erzählt sie von der Krankheit ihres Vaters und seinem Sterben am 22. Dezember 1792 in Klettenberg. Da dieser Nachtrag keine Begebenheiten vermerkt, die von historischem Interesse sind, habe ich ihn fortgelassen. So bleibt unerwähnt, dass Blume sich mit seiner Gemeinde im Jahr 1784 der Einführung des neologischen Gesangbuches von Mylius widersetzt4 und damit noch etwas von seinen pietistischen Anfängen bewahrt hat, von denen sonst Sprache und Gedanken seiner Autobiographie wenig erkennen lassen. Außerdem gehört dieser Nachtrag nicht zu der im Titel eigens genannten Autobiographie. Lebensgeschichte des Herrn Pastors Johann Hermann Blume von ihm selbst in die Feder gesagt 1785 So wenig man vollkommene gleiche Gesichtszüge unter den Menschen wahrnehmen wird, ebenso wenig kann auch die Lebensgeschichte der Menschen einander gleich seyn. Erblickt man in jener Einrichtung große Weisheit des Herrn der Natur, so kann man auch in der Anordnung der Schicksale die Weisheit und Güte desselben nicht verkennen. Es ist für den Menschen Pflicht, sich dasjenige, was ihn in seinem Leben begegnet ist, oft selbst vorzuhalten und bey Erwägung der Vorfälle seines Lebens auf den Herrn zu sehen, der ihm nicht nur Leben und Odem gegeben; sondern auch seine Führung zu seinem Besten eingerichtet hat. Zuweilen erfordert es auch seine Pflicht, seine Begebenheiten auch andern bekannt zu machen, zwar nicht aus Eitelkeit; son-
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So die aus anderen Quellen geschöpfte Anmerkung in seinem Biogramm in Bd. 1 des PfB
KPS.
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dern vielmehr zum Preise dessen, der die Welt mit solcher Weisheit und Güte regieret, und mit manchen Menschen ganz besondere Wege gehet. Dieser Pflicht erinnert sich auch der Verfasser der Lebensgeschichte, welche sogleich folgen soll. Schon in seinem Vater schien ihm kein großes irdisches Glück bestimmt zu seyn. Es war der selbe, Herr Jacob Blume, gebürtig aus der Mark Brandenburg.5 Er hatte gut gefunden, unter den schwedischen Kriegs Völkern, welche 5 Über Jacob Blume habe ich nichts feststellen können. In den Briefwechseln, die im ersten Viertel des 18. Jahrhunderts aus Halle mit den nicht wenigen Deutschen in Russland, besonders in St. Petersburg und Reval, den Aufenthaltsorten Blumes zu dieser Zeit, geführt wurden, ist sein Name nicht zu finden. Eduard Winter gibt in seinem Buch Halle als Ausgangspunkt der deutschen Rußlandkunde im 18. Jahrhundert (Berlin 1953), in dessen zweiter Hälfte viele dieser Briefe wiedergegeben sind, umfassend von den zahlreichen Korrespondenten Kunde. Ich habe dankbar die Datenbank der historischen Archivbestände der Franckeschen Stiftungen benutzt. Danach wird Jacob Blume nicht erwähnt in den Briefen von oder an Heinrich Gottfried Nazzius (1702–1751), Pfarrer der deutschen lutherischen Gemeinde St. Petersburg, von und an Magdalene Elisabeth von Hallart (1683–1750), der Ehefrau des für den Zaren tätigen Generals Nikolaus Ludwig von Hallart, die 1721 in St. Petersburg ankam und nach dem Tod ihres Mannes nach Estland ging, von und an Albert Anton Vierorth (1697–1761), der als Hausprediger von Hallarts 1721 nach St. Petersburg kam und 1725 von dort nach Reval berufen wurde, von und an Christoph Friedrich Mickwitz, der von 1721 bis 1724 Hauslehrer bei Oberst Balthasar von Campenhausen in St.Petersburg war und von ihm der estnischen Ritterschaft 1724 als Oberpastor nach Reval vermittelt wurde [s. u. Anm. 15]. Das sind die wichtigsten unter den vielen Deutschen, die damals in St. Petersburg und Reval gelebt haben. Möglicherweise findet sich, da er Offizier im schwedischen Heer unter Karl XII. war, Jacob Blumes Name in schwedischen Offizierslisten in schwedischen Archiven. – Nachtrag: Als ich Dr. Ruth Slenczka, von der ich die Lebensgeschichte des Herrn Pastors Johann Hermann Blume erhielt, das bereits zur Redaktion dieses Jahrbuches gesandte Manuskript meines Beitrages mitteilte, gab sie mir ein Buch aus dem Familienbesitz der Familie von Campenhausen zu lesen, das bei mir ähnliches Erstaunen erregte wie die Lebensgeschichte ihres Vorfahren. Es ist der erste Teil einer Biographie des späteren Generallieutenants Balthasar von Campenhausen, die dessen Leben von seiner Geburt (1689) bis zum Jahr 1730 mit reichen, aus dem Campenhausenschen Hausarchiv in Orellen/Lettland stammenden Quellenzeugnissen enthält und gedruckt ist als Beitrag II in der Reihe „Beiträge zur Geschichte des Geschlechts der Freiherren von Campenhausen“ unter dem Titel Freiherr Balthasar von Campenhausen 1689–1758. Als Verfasser ist auf dem Titelblatt angegeben: Hermann Baron Campenhausen. Der 352 Seiten starke Band enthält weder eine Angabe über den Verlagsort noch über das Erscheinungsjahr. Doch dürfte er wie der Beitrag I der gleichen Reihe bei Häcker in Riga wohl ca. 1920 erschienen sein (auf Seite 92 findet sich der handschriftliche Eintrag: dieses Buch ist während des Krieges geschrieben, aber erst jetzt gedruckt worden. Der Band ist nicht in die öffentlichen Bibliotheken gekommen, und Eduard Winter, der in seinem bekannten Werk über Halle als Ausgangspunkt der deutschen Rußlandkunde im 18. Jahrhundert Balthasar von Campenhausen grundlegende Bedeutung zuschreibt, unbekannt geblieben. In dem 9. Kapitel „Beziehungen zu Halle. Die Hauslehrer“ (132–139) werden reichhaltig Briefzeugnisse angeführt und zum Teil seitenlang wiedergegeben, die nach Balthasar von Campenhausens aus Anlass seiner Mission an die Höfe von Dresden und Berlin im Dezember 1721 gemachtem Besuch in Halle, wo er sich um das Ergehen seines Stiefsohns Valentin von Löschern kümmerte und in einem Gespräch mit August Hermann Francke diesen um einen Hauslehrer bat, zu intensiven Beziehungen zu Halle führten. Von August Hermann Francke wird ein an Balthasar von Campenhausen, als er sich noch in Deutschland befand, am 21. 12. 1721 geschriebener Brief wiedergegeben (124). Francke geht darin auf die Bitte um einen Hauslehrer ein und spricht von wenig Hoff-
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unter den weltbekannten Könige Karl den zwölften eine geraume Zeit großes Aufsehen gemacht haben, Dienste zu nehmen. Mit dessen Kriegs Heere hatte er bey der unglücklichen Schlacht bey Pultawa6 mitgefochten, und als Cornet unter der schwedischen Reuterei wurde er nebst vielen tausend andern Schweden ein russischer Kriegsgefangener. Als ein solcher wurde er mit nach Sybirien geschickt, in welchem Lande er viele Drangsalen ausstehen müssen.7 Nach etlichen Jahren fand er Mittel sich von seiner Gefangenschaft loßzumachen, worauf er sich in der Stadt Casan8 nung, dass Friedrich Christoph von Mickwitz mit nach St. Petersburg gehen werde. Über den dann doch nach St. Petersburg gehenden Mickwitz finden sich in dieser Biographie zahlreiche Zeugnisse in Briefen und Tagebuchaufzeichnungen, ebenso über Albert Anton Vierorth, von dem im Anhang lange Briefe wiedergegeben werden, und Magdalene Elisabeth von Hallart, zu der von Campenhausen in einem für sein religiöses Empfinden innigen Verhältnis gestanden haben muss und die wie Vieroth auf seine Zuwendung zur Brüdergemeine Einfluss nahm. Diese Biographie, die wie das gesamte Archiv des Campenhausenschen Guts Orellen heute im Herder-Institut in Marburg liegt, ist von der Pietismusforschung noch nicht zur Kenntnis genommen worden. Für die Biographie von Johann Hermann Blume habe ich neben vielen Nachrichten über Friedrich Christoph Mickwitz unmittelbar nichts entnehmen können, wenn nicht die Bemerkung von Vierorth in einem Brief vom 31. 08. 1730 (289), der General Bohn sei nach Astrachan abkommandiert, einen Hinweis gibt, dass der Vater Jacob Blume seinen Sohn, als er acht Jahre war, in Reval an Mickwitz übergeben hat. Eine vollständige Kopie des bisher in der Forschung unbekannten Buches Freiher Balthasar von Campenhausen: 1689–1758. 1 Tl. v. Hermann von Campenhausen wurde auf meinen Vorschlag von der Bibliothek der Franckschen Stiftungen aus dem beim Herder-Institut Marburg liegenden Archiv des Campenhausenschen Guts Orellen besorgt und hat im dortigen Bestand die Signatur AFSt/H A 1746. 6 Schlacht bei Poltawa im Juli 1709, entscheidende Schlacht im zwischen Schweden und dem mit Polen verbündeten Russland um die Vorherrschaft im Ostseeraum geführten Nordischen Krieg (1700 bis 1721). Der anfangs siegreiche Karl XII., der durch die Altranstädter Konvention (1707) für die Protestanten wichtige Zugeständnisse errungen hatte (Gnadenkirchen in Schlesien), erlitt bei Poltawa durch die überlegenen Truppen Peters des Großen eine vernichtende, den Krieg entscheidende Niederlage. Den nach Tobolsk in Sibirien deportierten ca. 3.000 schwedischen Kriegsgefangenen, die dort über ein Jahrzehnt in Gefangenschaft lebten und erst durch den Frieden von Nystad 1721 befreit wurden, sandte August Hermann Francke Bibeln und Erbauungsbücher. Dadurch entstand unter den schwedischen Kriegsgefangenen eine Erweckungsbewegung, von der man die Anfänge des Pietismus in Skandinavien zählt; vgl. Pentii Laasonen: Der Einfluß A. H. Franckes und des hallischen Pietismus auf die schwedischen und finnischen Karoliner im und nach dem Nordischen Krieg. In: Halle und Osteuropa. Zur europäischen Ausstrahlung des hallischen Pietismus. Hg. v. Johannes Wallmann u. Udo Sträter. Tübingen 1998, 5–18. 7 Die Gefangenschaft der schwedischen Soldaten in Sibirien dauerte zwölf Jahre bis zum Frieden von Nystad 1721. Jacob Blume gelang es, wie manchem anderen, nach „etlichen Jahren“ frei zu kommen, vgl. Elof Bergelin: Karls des Zwölften Krieger in russischer Gefangenschaft. Kirchengeschichtliche Untersuchungen über das Leben der schwedischen Kriegsgefangenen in Rußland und Sibirien während der Jahre 1709–1721. Greifswald 1922. Hermann Goltz: Repertorium Epistolarum Sibiriacarum I. aus Curt Friedrich von Wreechs „Wahrhafftiger und umständlicher Historie von denen Schwedischen Gefangenen in Rußland und Siberien [. . .]“. (Sorau 1725) zusammengestellt. In: Halle und Osteuropa [s. Anm. 6], 19–48. 8 Stadt an der an der mittleren Wolga, heute Hauptstadt der Autonomen Republik Tatarstan innerhalb Russlands. Peter der Große erklärte 1708 Kasan zur Hauptstadt des Gouvernements Kasan.
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häußlich niederließ. In dieser Stadt, die nicht weit vom caspischen . . . Meere liegt,9 wurde Hermann Johann Blume im Jahr 1722, den 14ten Febr: gebohren.10 Von seiner Kindheit weiß er wenig zu melden, außer daß er sich noch erinnert, daß seine Mutter eine gebohrene Schindler gewesen, und sie durch den Tod daselbst verlohren zu haben.11 Gewisse Umstände nöthigten seinen obengenannten Vater die Stadt Casan zu verlassen, und die lange Reise nach Petersburg anzutreten.12 Auch diesen 9 Kasan liegt mitten im Land, weit entfernt vom Kaspischen Meer. Da der frühverwaiste Johann Hermann Blume von seinem Geburtsort nur gehört haben kann, wird es zutreffen, dass er in einer Stadt nahe dem Kaspischen Meer geboren ist. Das trifft aber nicht auf das an der mittleren Wolga liegende Kasan, wo sich sein Vater unter den wenigen Deutschen auch einmal aufgehalten haben kann, sondern auf Astrachan zu, das nahe der Mündung der Wolga ins Kaspische Meer liegt. In Astrachan lebte zur Zeit Peters des Großen eine stattliche deutsche Ethnie, die sich aus Seeleuten, Kaufleuten und Handwerkern zusammensetzte. Nach 1700 lange Zeit ca. 100 Personen zählend und den Gottesdienst durch Johann Samuel Scharschmid, A. H. Franckes ersten Sendboten in Russland, in Privathäusern haltend, stieg ihre Zahl durch Zuwanderer und die aus russischer Gefangenschaft Entlassenen nach 1710 sprunghaft an. Die Deutschen erhielten vom Zaren die Erlaubnis, eine lutherische Kirche zu bauen, „darin in den folgenden Jahren bis 1722 öfters mehr als 1000 Personen sich versammlet haben. Dieser blühende Zustand der evangelisch-deutschen Gemeine dauerte aber nicht länger als bis 1727, da durch die Pest ihre Anzahl sehr verringert worden, und nach und nach viele Astrachan wieder verlassen und sich nach Moskau oder anderen Orten hinbegeben haben, und also von dieser Zeit an zwar immer ein geringes Häuflein von den Deutschen in Astrachan übrig geblieben, deren Anzahl aber selten über 100 Personen gewesen“ (Geschichte der evangelisch-lutherischen Gemeine zu Astrachan. Ausgezogen aus den Nachrichten des sel. Pastor Neubauer. In: Anton Friedrich Büsching: Geschichte der evangelischlutherischen Gemeinen im Russischen Reich. Teil 2. Altona 1767, 129–148, hier 133). Zu der lutherischen Gemeinde in Astrachan, zu der August Hermann Francke enge briefliche Verbindung hielt und zu der Bedeutung Astrachans als Ausgangspunkt aller Expeditionen nach Persien, Mittelasien und China s. Carl Hinrichs, Preußentum und Pietismus. Tübingen, 1971. 84 f.; Günter Rosenfeld: August Hermann Franckes erster Sendbote in Rußland – Johann Samuel Scharschmidt. In: Europa in der Frühen Neuzeit. FS Günter Mühlpfordt. Hg. v. Erich Donnert. Bd. 5, 1997, 1– 25. Dafür, dass Astrachan statt Kasan gemeint sein muss, spricht auch die Rede vom langen Weg, den der Vater von seinem Geburtsort nach St. Petersburg zurücklegen musste, sowie, dass der Vater sich später nach Persien begab, wohin der Weg über Astrachan führte. 10 In Astrachan, wo es zur Zeit Peters des Großen eine ansehnliche lutherische Gemeinde gab, wird Johann Hermann Blume in der lutherischen Kirche lutherisch getauft worden sein. 11 Die Mutter entstammte offensichtlich einer in Astrachan ansässigen deutschen Kaufmannsfamilie. Probleme mit der orthodoxen Geistlichkeit, die entstanden, weil viele der schwedischen Gefangenen russische Frauen heirateten, die die Orthodoxie verließen, als sie in der lutherischen Kirche eine Ehe schlossen, gab es in Astrachan für Jacob Blume nicht. Er konnte hier in einer stattlichen deutschen Ethnie seine Frau finden und in einer lutherischen Kirche kirchlich getraut werden. Jacob Blume wird Johann Samuel Scharschmid, A. H. Franckes ersten Abgesandten nach Russland, der 1710 zum dritten mal die Pfarrstelle in Astrachan antrat, nicht mehr gekannt haben. Von 1713 bis 1722 war der aus Woronesch gekommene Zechelius Pfarrer der lutherischen Gemeinde in Astrachan (Büsching [s. Anm. 9] II, 142). 12 Wahrscheinlich kannte er Balthasar von Campenhausen (1689–1757), der nach der Schlacht von Poltawa, in der als Offizier Karls XII. diente, in russische Gefangenschaft gekommen war, 1710 aber in die Dienste Peters des Großen trat und der zu dieser Zeit als Oberst in St. Petersburg weilte. Balthasar von Campenhausen stand mit A. H. Francke in Beziehung und hatte bei Peter
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Ort verließ er nach einem halben Jahre und reiste nach Liefland.13 Allein er sah sich genöthiget, russische Kriegsdienste zu suchen, in welche er auch unter dem Character eines Lieutenants aufgenommen wurde14. Man schickte ihn mit einer Anzahl Truppen nach Persien, allwo er bis zum Posten eines Majors stieg, aber auch da sein Grab fand. Ehe er diesen langen Marsch antrat, sorgte er für das Fortkommen seines Sohnes, der jetzt sein Leben beschreibt, dadurch, daß er ihn der Aufsicht des Herrn Ober-Pastor Mickwitz15 an der Dohm-Kirche zu Reval übergab, welcher rechtschaffene Mann denn auch väterlich für ihn sorgte, und da er Fähigkeiten und Lust zum studiren bey ihm wahrnahm, alles von seiner Seite beytrug, ihn den gehörigen Unterricht ertheilen zu lassen16. Von dem Jahr 1732 bis 1738 ist er ein fleißiger Schüler der dasigen Dohmschule gewesen17, und hat es in Erlernung der Sprachen, dem Großen Interesse für die Bildungspläne des hallischen Pietismus erweckt. Für die Bekanntschaft Jacob Blumes mit Balthasar von Campenhausen spricht, dass er mit Christoph Friedrich Mickwitz, der 1721 bis 1724 Hauslehrer im Hause von Campenhausen war, in so vertrauter Freundschaft lebte, dass er ihm seinen Sohn anvertraute (s. im Folgenden). Blume muss Mickwitz in St. Petersburg kennen gelernt haben. 13 Weil der im Folgenden genannte Mickwitz [s. Anm. 15] im Frühjahr 1724 von St. Petersburg nach Reval reiste, um das Amt eines Oberpastors in Reval anzutreten, liegt nahe, dass dies der Grund war, dass Jacob Blume nach halbjährigem Aufenthalt St. Petersburg verließ und nach Reval ging. Johann Hermann Blume wäre also im Alter von zwei Jahren nach Reval gekommen. 14 Darin, dass Jakob Blume als ehemaliger schwedischer Soldat in russische militärische Dienste trat, folgt er Balthasar von Campenhausen [s. Anm. 12]. 15 Christoph Friedrich Mickwitz, geb. 1696 in der Neumark, gest. 1748 Reval (Tallin), studierte 1715 bis 1719 in Halle Theologie bei August Hermann Francke, war 1719 bis 1721 Oberpastor in Halle und wurde eine Zentralfigur für August Hermann Franckes Beziehungen zu Russland. Ursprünglich von Francke zum Hausprediger für General von Hallart bestimmt, wurde Mickwitz 1721 bis 1724 Hauslehrer bei Oberst Balthasar von Campenhausen in St. Petersburg, von ihm wurde er 1724 der estnischen Ritterschaft zum Oberpastor (Bischof) von Reval vermittelt. Seitdem herrschte in Reval, anders als im sonstigen Estland, der hallische Pietismus. Ein Tagebuch-Fragment von Ch. F. Mickwitz aus seiner Petersburger Zeit als Hausprediger bei: Balthasar von Campenhausen, die Monate Januar bis März 1722 umfassend, bei: Briefe August Hermann Franckes. Hg. v. Theodor Geissendörfer. In: Illinois Studies in Language and Literature XXV, 1933, 189–193. 16 Aus dem von Mickwitz gestifteten Dom-Waisenhaus trat er im Alter von zehn Jahren am 4. November 1732 in die Estländische Ritter-und Domschule in Reval ein und zwar, wie das Album derselben ausweist, als Tertianer am 4. November. Dort heißt es unter diesem Datum: „Bernhard Heinrich v. Holst, 13 Jahre alt und Johann Hermann Blume, beide Waisen, haben es beim Herrn Rector Calixtus (dem damaligen Rector des genannten Waisenhauses) so weit gebracht, daß sie bei uns Tertianer abgeben.“ Ich übernehme diese aus dem Album der estländischen Ritter- und Domschule zu Reval. (Reval 1893) entnommene Bemerkung Max Ruprechts in seinem verschollenen Druck von 1897, die Else Heintze in ihre familiengeschichtliche Arbeit von 1935 übernommen hat (1). Das genannte Album der estländischen Ritter- und Domschule liegt in der Martin-Opitz Bibliothek in Herne. 17 Zu der Domschule in Reval unter dem Rektorat von Mickwitz s. Erik Thomson: Geschichte der Domschule zu Reval. Würzburg 1969. Danach verdankt die Domschule Reval Mickwitz den Anbruch einer neuen Blüte (34). Der Unterricht wurde nach den in allen Schulen Norddeutschlands gebrauchten Lehrbüchern durchgeführt, u. a. anhand von aus Halle gesandten (z. B. von J. A.
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welche einem Gottesgelehrten, der er eigentlich werden wollte, nötig sind, wie auch in ander Schulwissenschaften ziemlich weit gebracht, also daß er für tüchtig erkannt wurde, im 17ten Jahre seines Alters die Universität Halle zu beziehen.18 Im Junius des 1738 Jahres ging er zu Schiffe von Reval nach Lübeck ab, erlebte auf seiner Wasserreise 5 mal Sturm, kam aber doch endlich wohlbehalten zu Lübeck an, von da reisete er auf Lüneburg, Zelle, Braunschweig und sofort nach Halle, woselbst er den 3ten August unter die Zahl der Studenten aufgenommen wurde.19 Nun war er an dem Orte, wo sein Durst nach Wissenschaften zureichen(d) hätte gestillt werden können, aber Baumgarte, sowohl der Gottesgelehrte20 , als der Weltweise21, Lange22, Michaelis23, Knapp24, lauter berühmte Männer waren fähig genug, ihn sowohl in Sprachen, als den übrigen Wissenschaften, die einen künftigen Gottesgelehrten unentbehrlich sind, den besten Unterricht zu ertheilen. Wie er sich aber dazu anschickte, solchen von ihnen zu empfangen, wurde er durch einen unerwarteten Streich von seinem Ziele so weit hinweggeschleudert, daß alle menschliche Klugheit nicht anders urtheilen konnte, als daß er solches nimmermehr erreichen würde. Die Sache trug sich folgender Gestalt zu. Er war mit einem Studenten der Rechtsgelehrsamkeit, Namens Rudloff25 in Bekanntschaft gerathen, der ihn ganz durch sein einschmeichelndes Wesen gewann. Selbst ohne Falschheit, argwohnte er nicht, daß jener unredliche Absichten gegen ihn haben könnte. Seine große Jugend und wenig Erfahrung ließen ihn also leicht in die Fallstricke fallen, die ihn jener Bösewicht gelegt hatte. In den Michaelisferien des Jahres 1738 beredete Rudloff ihn zu einer Lustreise auf’s Land zu einen vorgegebenen Freylinghausen). Auf Wunsch von Mickwitz wurden von den Lehrern sonntägliche Erbauungsstunden nach dem Vorbild des hallischen Pietismus mit den Schülern gehalten. 18 Dass Halle als Studienort gewählt wurde, ist auffällig. „In den Jahren von 1731 bis 1740 gingen aus Estland bedeutend mehr Studenten nach Jena als zu selben Zeit nach Halle, wobei die Hälfte von ihnen Theologiestudenten waren“ (Arvo Tering: Die Ausbildung der baltischen Prediger an deutschen Universitäten im 18. Jahrhundert, besonders in Halle. In: Halle und Osteuropa [s. Anm. 1],129–143, hier 138). Die enge Verbindung von Mickwitz mit Halle dürfte der Grund für Halle als Studienziel sein. 19 In der Matrikel findet sich der Eintrag 9. 8. 1738 theol. Blum, Johann Hermann, Casano Russus (Fritz Juntke: Matrikel der Martin-Luther-Universität Halle. Bd. 2: 1730–1741. Halle/Saale 1960, 32). 20 Siegmund Jakob Baumgarten (1706–1757), nach langjähriger Lehrtätigkeit am Waisenhaus 1731 Magister phil., seit 1734 Professor der Theologie. Bedeutendster Repräsentant der sich von Orthodoxie und Pietismus lösenden Übergangstheologie. 21 Alexander Gottlieb Baumgarten (1714–1762), Magister der Philosophie, als Schüler Christian Wolffs Begründer der Ästhetik, wurde 1740 nach Frankfurt/Oder berufen. 22 Joachim Lange (1670–1744), seit 1709 Theologieprofessor, scharfer Gegner Christian Wolffs, an dessen Vertreibung er maßgeblich mitwirkte, zu dieser Zeit der Senior der Fakultät. 23 Christian Benedikt Michaelis (1680–1764), Orientalist und Theologe. 24 Johann Georg Knapp (1705–1771), seit 1739 ordentlicher Professor der Theologie, als Nachfolger Gotthilf August Franckes 1769 Direktor der Franckeschen Stiftungen. 25 Ernst Johannes Rudloff, stud. jur. aus Stargard / Pommern, wurde am 01. 11. 1737 in Halle immatrikuliert (Juntke, Matrikel [s. Anm. 19], bearb. Charlotte Lydia Preuß, 1994, 189).
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Bekannten von jenen. Die Reise ging bis Alsleben26, einem Städtchen an der Saale 1 Meilen von Halle, wo eine Compagnie von den Leibregiment Cürassier27 ihr Quartier hatte. Daselbst war schon alles vorher veranstaltet, ihn zu empfangen, und als einen Rekruten anzuwerben28. Es geschah dies durch die gewöhnlichen Mittel, welche von Soldaten angewendet werden, andere zu nöthigen, mit ihnen in gleichen Stand zu treten.29 Der Verfasser hat nachher entdeckt, daß zwischen gedachten Rudloff und einem Unteroffizier gedachter Compagnie seinetwegen ein Briefwechsel geführet worden, der einen solchen Ausgang nach sich gezogen hat, wie oben erzählet ist. Er war also nunmehr ein Cürassierreuter, nachdem er nur 2 Monathe auf der Universität 26 Stadt am Unterlauf der Saale, 51 km vor deren Mündung in die Elbe. Seit 1680 gehörte die Stadt zum brandenburgisch-preußischen Herzogtum Magdeburg. 27 Unter den Kavallerieregimentern der altpreußischen Armee gab es verschiedene Truppentypen: 1. Kürassierregimenter, 2. Dragonerregimenter. 3. Husarenregimenter. Als Kavallerie galten zunächst nur die Kürassiere, dann die Dragoner (berittene Infanterie) und erst im späten 18. Jahrhundert die Husaren. Zur Zeit Friedrichs des Großen bestand ein Kürassierregiment normalerweise aus 5 Eskadronen (Kompanien). Das Kürassierregiment „Leibregiment zu Pferde“, das später die zusätzliche Bezeichnung K 3 erhielt, hatte in den Jahren, in denen Blume in ihm Dienst tat, folgende Chefs: 1736 bis 1746 Generalmajor Adam Friedrich von Wreech, 1746 bis 1747 Generalmajor Nikolaus Andreas von Katzler, 1747 bis 1758 Generalmajor Johann Friedrich von Katte. 28 Über die Werbung von Soldaten gab es seit Friedrich I. eine Fülle von die Einzelheiten regelnden Edikten. Vgl. das vom 01. 11. 1713 ergangene Patent wegen der Werbung und wie sie geschehen soll (Christian Otto Mylius: Corpus Constitutionum Marchicarum. Dritter Theil. 1. Abtheilung. Halle 1755, No. CX). 29 Die Werbung von Soldaten für die preußische Armee führte unter Friedrich Wilhelm I. zu beträchtlichen Spannungen in der Bevölkerung. Bekannt ist das zum Tod Gottfried Arnolds beitragende gewaltsame Eindringen von Werbern in seinen Pfingstgottesdienst in Perleberg von 1714, um gerade konfirmierte Jungen für die Armee zu requirieren. In Halle führte die vom Fürsten Leopold I. von Anhalt intensiv betriebene Anwerbung von Soldaten unter den Studenten zu Unruhen. Es kam 1717 geradezu zu einem Tumult unter den Studenten wegen der Werbungen (Hinrichs, Preußentum und Pietismus [s. Anm. 9], 142). Der radikale Pietist Victor Christoph Tuchtfeld, der in seinen Predigten das Werben eine von Gott verordnete Zornrute nannte, und der „große Aufstand der Studenten zu Halle wider die Dessauischen Soldaten, da sie das Zwangswerben verübeten“, fanden selbst bei gemäßigten Theologen Verständnis (ebd., 142). Friedrich Wilhelm I. suchte in einem Schutzbrief für die Universität vom 01. 03. 1717 die Hallenser Studenten vor den Werbern sicherzustellen (ebd., 135 f.). Durch die Einführung des Kantonalsystems 1733 wurde die Flut der Werbungen einigermaßen eingedämmt. Das Kantonalreglement, eine Vorform der 1813 von den preußischen Reformern eingeführten Allgemeinen Wehrpflicht, unterteilte die Fläche des preußischen Staates in sogenannte Enrollierungskantone, aus denen die Rekruten regimentsweise ausgehoben wurden. Die Untertanen, soweit sie zur sozialen Unterschicht gehörten (vor allem die Bauern), wurden zur militärischen Dienstpflicht, die bis zu 20 Jahre betrug, rekrutiert und wurden schon nach der Geburt „enrolliert“. Geistliche, Söhne Geistlicher, wirtschaftlich Selbständige und städtische Beamte waren vom Kriegsdienst befreit. Da das vom Soldatenkönig ständig vergrößerte Heer nur zur Hälfte aus den durch das Kantonalsystem erfassten Soldaten rekrutiert werden konnte und zur anderen Hälfte weiterhin aus geworbenen Söldnern bestand, dauerte die Werbung weiterhin an. Zeitweilig zogen bis zu tausend Werber durch die deutschen und außerdeutschen Länder (etwa die Schweiz), um die preußischen Regimenter mit Soldaten zu versorgen. Für besonders groß gewachsene Exemplare wurden Liebhaberpreise bis zu mehreren tausend Talern gezahlt.
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gelebt hatte, ohne sonderlich höhere Kenntniß erworben zu haben. Ein trauriger Wechsel aus einem freyen Stande in eine der ärmsten Sclaverey versetzt zu werden, ohne auch nur den kleinsten Strahl von Hoffnung jemals von derselben frey zu werden vor sich zu sehen; wer sich dieses vorstellen kann, wird sich auch von der Gemüthsverfassung des so sehr herabgesunkenen Verfassers einen Begriff machen können. Einige Tage nachher ließ man ihn den Soldaten-Eid30 schwören und er sahe nun nichts anders vor sich als die Nothwendigkeit, sich mit Geduld zu wappnen, übrigens aber sich nach besten Vermögen in den Stand zu schicken zu suchen, in den er hatte treten müssen. Er unterzog sich allen Pflichten desselben mit der größten Genauigkeit, so daß man ihn ziemlich werth hielt, obgleich der Chef der Compagnie es mit Unwillen ansahe, daß sein körperliches Wachsthum seinen Wünschen nicht entsprach. Als der erste Krieg in Schlesien angegangen war, sah sich der König Friedrich der 2te genöthiget, eine Beobachtungs Armee zwischen Genthin und Rekan nicht weit von der Stadt Brandenburg unter den Befehlen des Fürsten von Dessau campiren zu lassen.31 Unter andern Regimentern war das Leibregiment Cürassier daselbst gelagert. Da man aber keinen Feind zu sehen bekam, so bezogen im Herbst wiederum alle Regimenter ihre alten Standquartiere. Im Frühjahr 1742 war dieses Regiment unter andern mit befehliget, zu der Armee des Königs in Schlesien zu stoßen. In zwischen aber hatte der Sieg der Preußen bei Czaslau in Böhmen32 den Frieden zur gewünschten Folge33. Daher denn auch das Leibcürassierregiment seine Standquartiere zu verlassen nicht nöthig hatte. Im Jahr 1744 aber, machte es die Verbündung des Königs mit Kayser Karl VII. und mit Frankreich nothwendig, dem ersten zum besten eine starke
30 Den auf die Regimentsfahne abgelegten Soldateneid, wie er in allen europäischen Heeren üblich war. Friedrich Wilhelm I. hatte mit der vom Großen Kurfürsten nach dem Dreißigjährigen Krieg eingeführten Praxis, das Heer einem einheitlichen Eid zu unterwerfen, gebrochen und führte unterschiedliche Eidesformeln ein (Sven Lange: Der Fahneneid. Die Geschichte der Schwurverpflichtung im deutschen Militär. Bremen 2002, 42). Mit einem „Ich schwöre“ gelobte der Soldat, dass er seinem Herrn, dem allergnädigsten König, getreu, gehorsam, willig und redlich dienen werde, dass er den Befehlen der Offiziere, die über ihn gesetzt seien, gehorsam sei sowie den ihm vorgelesenen Kriegsartikeln und publizierten Edikten folgen wolle. Mit der Anrufung Gottes und seines heiligen Worts wurde der Soldateneid religiös bekräftigt. Die Formel vom unbedingten Gehorsam, die der Clausula Petri (Apg 5,29) keinen Raum gibt und eine so verhängnisvolle Rolle in der deutschen Geschichte gespielt hat, ist dem altpreußischen Soldateneid fremd. Im Unterschied zu den aus Preußen stammenden, für eine Dienstzeit bis zu zwanzig Jahren verpflichteten Enrollierten war es für Blume ein unbefristeter Eid auf Lebenszeit. 31 Fürst Leopold I. von Anhalt-Dessau, der „alte Dessauer“, griff in den Ersten Schlesischen Krieg nicht ein. Das Leibregiment Kürassier, dessen Chef Adam Friedrich von Wreech 1741 zum Generalmajor befördert wurde, war im Lager von Genthin dem alten Dessauer zugeordnet. 32 Czaslau, Stadt in Südböhmen. Es handelt sich um die Schlacht bei Chotusitz am17. 05. 1742 zwischen Preußen und Österreich. 33 Im Frieden von Berlin wurde am 28. 06. 1742 der Erste Schlesische Krieg beendet.
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Armee in Böhmen marschieren zu lassen34, in welchem Feldzuge die Hauptstadt Prag erobert35, und das ganze Königreich bis an die österreichische Grenze eingenommen wurde. Jedoch konnte das Königreich nicht behauptet werden, welches gegen den Winter des gedachten Jahrs von den preußischen Kriegsvölkern verlassen werden mußte. Im folgenden 1745 Jahre war der Verfasser zuförderst mit in dem Lager von Großkugel36, wo ebenfalls nichts vorfiel: aber gegen das Ende dieses Jahres wurde noch ein Winterfeldzug eröffnet. Der Schauplatz davon war Chursachsen, allwo den 15ten Dec: desselben Jahres die Schlacht bey Kesseldorf37 zum Vortheil der Preußen ausfiel, worauf mit Oesterreich Friede geschlossen wurde38. In dieser Schlacht hat der Verfasser redlich mitgefochten. Seit dem Friedensschlusse verflossen ihm einige Jahre ziemlich einförmig, und er hatte nicht die geringste Hoffnung, den Soldatenstand jemals verlassen zu können. Allein nun fing die Vorsehung an, ihn mit heitern Blicken anzulächeln. Der General von Katt, Chef des Leibregiments39, lernte bey einer gewissen Gelegenheit den hoffnungslosen Cürassier kennen. Diesen Herrn gefiel seine Hand, er erfuhr auch, daß er ehemals studirt habe und dieses erregte ihn ihm die Begierde, ihn bey der Leibcompagnie zu haben. In dieser Absicht bot der General von Alvensleben40 einen weit größeren Mann an, um diesen von ihm zu bekommen, welches Anerbieten gar nicht von der Hand gewiesen wurde, und so wurde der Verfasser unter die Leibcompagnie versetzt. Der mehrerwähnte General fand an dessen Hand einen solchen Gefallen, daß er alles, was er lesen wollte, nur von seiner Hand schreiben ließ, weshalb ihn auch die Regimentsschreiberey41 anvertraut wurde, wogegen er von allen andern Diensten frey blieb. 34 Im August 1744 eröffnete Friedrich durch den Einfall nach Böhmen den Zweiten Schlesischen Krieg. 35 Belagerung von Prag vom 10. bis zur Kapitulation am 16. 09. 1744. 36 Kleiner Ort in der Nähe von Schkeuditz bei Leipzig. 37 Schlacht bei Kesselsdorf (westlich von Dresden) am 15. 12. 1745, in der die von Leopold I. von Anhalt („alter Dessauer“) geführten Preußen die miteinander verbündeten Sachsen und Österreicher schlugen und so Dresden besetzen konnten. 38 Friedenschluss von Dresden 25. 12. 1745. 39 Johann Friedrich von Katte (1699–1764), Generalmajor und seit September 1747 Chef des Leibkürassier-Regiments Nr. 3 (Anton Balthasar König: Biographisches Lexikon aller Helden und Militairpersonen, welche sich in Preußischen Diensten berühmt gemacht haben. Zweiter Theyl G-L. Berlin 1789, 458). Johann Friedrich von Katte war als Sohn des königlichen Geheimen Rats und Kammerpräsidenten Christoph von Katte (1675–1743) und der Ursula Dorothea von Möllendorf (1678–1747) geboren und hat im Kürassierregiment Nr. 9 im Ersten Schlesischen Krieg an den Schlachten von Hohenfriedberg, Soor und Kesselsdorf teilgenommen. Im April 1747 erhielt er den Rang eines Generalmajors, und im September 1747 wurde er zum Chef des Leibkürassierregiments ernannt. Seit 1757 königl. preußischer Generallieutenant erhielt er 1758 wegen seiner Vorbereitung der Übergabe der Festung Breslau an die Österreicher eine einjährige Festungshaft und seine Entlassung. Er starb in Berlin am 29. 03. 1764. 40 Achaz Heinrich von Alvensleben (1716–1777), preußischer Generalmajor. 41 So hatten die Regimentskommandeure über alle ihre Offiziere zum Jahresbeginn ausführliche Konduitenlisten vorzulegen.
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Ein noch nährer Schritt zu seiner endlichen Befreyung wurde gethan,als das Regiment einen neuen Feldprediger bekam, der sich Leekenay42 nannte. Als dieser seinem Amt gemäß die in verschiedenen kleinen Städten des Herzogthum Magdeburg liegenden Compagnien in der Absicht bereiset hatte, das heilige Abendmahl auszutheilen43, hatte er sich von den Wachtmeistern die Liste ihrer Compagnien geben lassen. Nach seiner Ankunft erkundigte er sich, wer diese Speziallisten ihn zu einer Generallisten anfertigen könnte. Der Verfasser wurde ihn dazu vorgeschlagen, der auch auf Verlangen diese Arbeit zu des Feldpredigers Vergnügen in kurzer Zeit zu Ende brachte. Der Feldprediger erkundigte sich hierauf nach seinen Schicksalen, und ließ sich höchlich angelegen seyn, ihn zu ermuntern, die Wissenschaften wieder zur Hand zu nehmen, mit beygefügten Grunde; daß ihn dies mit der Zeit sehr fortteilhaft werden könnte. Zugleich erbot er sich, aus seiner eigenen Bibliothek, ihn alle diese Bücher zu leihen, welche zur Beförderung dieser Angelegenheiten dienen möchten. Ein solches gütiges Anerbieten wurde mit Dank angenommen und der Verfasser hatte in der Folge wohl 40 Bücher des Feldpredigers zugleich in seinem Quartier. Ohne weitere Anführung also fing er an, einen 42 Johann Karl Leekeny, ordiniert am 23. 07. 1749 in Potsdam zum Feldprediger im Kavallerieregiment von Katte. Sein Lebenslauf ist dem Buch mit den Lebensläufen der Feldprediger zu entnehmen, das der von Friedrich dem Großen eingesetzte Feldpropst Decker ab 1743 anlegen und in das jeder Feldprediger nach der vom Feldpropst vorgenommenen Ordination eigenhändig seine Vita eintragen musste. Das Ordiniertenbuch, das Carl Hinrichs bei seinen gründlichen Studien über die preußischen Feldprediger nicht herangezogen hat, weil er sich von seiner Fragestellung her nur für die Feldprediger zur Zeit der pietistischen Feldpröpste Gedicke und Carstedt interessierte, liegt in zwei Bänden im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GStA PK, IV.HA, Rep.8 Nr. 3). Danach wurde Johann Karl Leekeny geboren in Magdeburg am 17. 06. 1720 als Sohn des Kaufmanns Johann Leekeny und der Marie Margarethe geb. Goerlitz. Schulzeit in Magdeburg bis zum elften Lebensjahr, dann Kathedralschule Halberstadt, anschließend drei Jahre auf dem Pädagogium Kloster Berge bei Magdeburg, das seit 1732 der Abt Johann Adam Steinmetz in enger Verbindung mit dem hallischen Pietismus leitete. Leekeny studierte von April 1738, dem gleichen Jahr, in dem Blume sein Studium begann, für fünf Jahre in Halle, also mit außergewöhnlich langer Studienzeit. Er hörte dort die theologischen und philosophischen Vorlesungen der theologischen und philosophischen Professoren und Magister. Leider ist sein Lebenslauf in dem Buch, das Feldpropst Decker nach der Ordination dem neuen Feldprediger zum handschriftlichen Eintrag übergab, sehr knapp gehalten und gibt über die erwähnten Daten hinaus nicht, wie es in den meisten anderen Lebensläufen der Fall ist, die Lehrer an, die ihn geprägt haben. Leekeny wird, wie die meisten seiner Generation, vor allem bei Siegmund Jakob Baumgarten gehört haben, auch, wie die Erwähnung der Magister im Lebenslauf nahelegt, philosophische Vorlesungen bei dem Magister Christoph Decker. Die Schreibung des Namens Leekeny findet sich auch in der Halleschen Matrikel, in der noch ein zweiter aus Magdeburg stammender Student gleichen Namens steht. Otto Fischer führt in seiner Liste der altpreußischen Feldprediger (Die Ordinationen der Feldprediger in der alten preußischen Armee 1718–1805. In: Archiv für Sippenforschung und alle verwandten Gebiete 6, Heft 9, 1929, 289–327) ihn als Johann Karl Leeken an. 43 In der preußischen Armee war neben den täglichen Betstunden und dem sonntäglichen Gottesdienstbesuch („Kirchenparade“) alle 14 Tage Beichte und Abendmahlsbesuch vorgeschrieben, wozu man sich unter Angabe seiner Konfessionszugehörigkeit beim Feldprediger anmelden musste.
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guten Gebrauch von allen diesen Büchern zu machen, wiederhohlte das Hebräisch und Griegische, las philosophische Schriften, studirte Dogmatik und Moral und sahe sich auch in Exegetischen Schriften fleißig um. Seine Kenntnisse wurden merklich erweitert, und sein Trieb dadurch noch mehr angefeuert, immer mehr zu lernen. Eines Tages untersuchte der Befehlshaber der Leibcompagnie einen jeden Reuter in seinen Quartier, also kam er auch zu dem, von dessen Leben hier die Rede ist. Er erstaunte in seiner Wohnkammer eine beträchtliche Anzahl Bücher anzutreffen und zwar noch mehr, als er fand, daß einige darunter ebraisch, griegisch und lateinisch waren. Seine Neugierde trieb ihn anzufragen, ob den Reuter diese Bücher angehörten, welcher denn versetzte, daß der Herr Feldprediger ihm verstattet habe, soviel Bücher aus seinem Vorrath zugebrauchen, als er selbst wollte. Bey einem Gastmahle, welches nicht lange hernach der Herr General von Katt seinen sämmtlichen Herren Officiren gab, zu welchen auch der Herr Feldprediger gebeten worden war, lenkte vorangeführter Befehlshaber der Leibcompagnie das Gespräch dahin, den Herrn Feldprediger zu fragen, ob es wahr sey, daß der Reuter Blume von ihm Bücher habe? Der Feldprediger bejahte es, mit dem Beyfügen, daß, da er bey ihm Lust zum Bücher lesen verspüret habe, er sich ein Vergnügen daraus mache, ihn mit seinem Vorrath dazu behülflich zu seyn. Der gute General erkundigte sich hierauf, ob dieser Mensch auch was gelernet habe, welche Frage der Lieutenant von der Leibcompagnie mit großer Übertreibung zum Vortheil des Reuter Blume bejahete, worauf der gute General bey öffentlicher Tafel sich erklärte, es sey also schade, daß ein solcher Mensch Soldaten dienst thun solle, er habe sich daher entschlossen, denselben loß zugeben, und für sein besseres Fortkommen in einem Stande, der seinen Neigungen gemäßer sey, zu sorgen. Nach einiger Zeit entdeckte der General selbst diesen menschenfreundlichen Entschluß und versprach dabey, den Abt von Klosterbergen vor Magdeburg44 dahin zu disponiren, daß er ihn unter die dasige Präceptores aufnehmen solle. So gut gemeint dieses war, so erkühnte sich doch der Verfasser, seinem General den Vorschlag zu thun, ihn zu einer Präceptorstelle in den großen Königlichen Waisenhause zu Potzdam45 zu empfehlen, er fügte noch den Grund hinzu, daß solches desto leichter durchgehen würde, weil der Minister von Katt als damaliger Direktor des Waisen44 Johann Adam Steinmetz (1689–1762), ein von Speners Schriften geprägter Pietist, der Speners Kleine Schriften gesammelt und 1741 herausgegeben hat und der als Abt das Pädagogium Kloster Berge seit 1732 leitete und zu einer mit dem hallischen Waisenhaus engverbundenen Pflanzstätte des Pietismus machte. 45 Das königliche Waisenhaus in Potsdam war 1724 von Friedrich Wilhelm I. unter der Mithilfe August Hermann Franckes als eine militärische Variante des Halleschen Waisenhauses gegründet worden. Vgl. Geschichte des Königlichen Potsdamschen Militärwaisenhauses, von seiner Entstehung bis auf jetzige Zeit. Hg. zur Stiftungsfeier der Anstalt im November 1824. Berlin, Posen 1824 (ND Potsdam 2012). Der auf dem Titelblatt nicht angegebene Verfasser ist der Direktor des Waisenhauses Joachim August Zarnack. Für die Zeit Blumes ist einschlägig das Kapitel „Das Waisenhaus während der Regierungszeit Friedrich II.“ (77–124).
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hauses46 sich ein Vergnügen daraus machen würde, seinem Herrn Bruder darunter einen Gefallen erzeigen zu können. Der Vorschlag wurde genehmigt, und der Herr General erhielt von seinem Bruder, den Herrn Minister die gewünschte Antwort. Sobald demnach eine Präceptorstelle am Waisenhaus zu Potzdam erledigt wurde, erschien von Berlin aus die Aufforderung an den oft erwähnten General, den Reuter Blume ehestens zu Potzdam eintreffen zu lassen. Alles wurde unverzüglich bewerkstelliget, er bekam einen förmlichen Abschied nebst einen Reisepasse47, worauf er mit der Post nach Potzdam abreisete und den 22ten Dec. 1750 daselbst anlangte, auch seine Präceptorstelle so gleich antrat. Nach dem Geständniß eines jeden, der dies höret oder lieset, war diese Veränderung so groß und erstaunlich, als diejenige, die sich 12 Jahre zuvor mit demselben begeben hatte, da er aus einem Studioso Theologiae in einen Cürassierreuter verwandelt wurde. Jetzt wurde er aus einem Reuter, ein Präceptor zu Potzdam, und also ein College von 14 Candidaten der Theologie.48 Wie er jederzeit keine große Meinung von sich gehabt hatte; so war er bey dieser Veränderung noch gesinnet, und dieses trieb ihn an, alle seine Kräfte anzustrengen, um mit denen gleichen Schritt halten zu können, die weil sie ihre akademische Laufbahn unbehindert zu Ende bringen können, vor ihm so viel voraus zu haben schienen, dahingegen er die ganz Zeit seines Soldatenlebens hindurch an höhere Wissenschaften zu denken, nicht die geringste Aufmunterung gehabt hatte, bis er mit dem Feldprediger Leekeney bekannt wor46 Generallieutenant Heinrich Christoph von Katte (1699–1764), war 1750 bis 1760 Kriegsund Etats-Minister, 1749 war er durch einen Wechsel in der Leitung des Waisenhausdirektorium auch Chef des Potsdamer Waisenhauses (Geschichte des Militärwaisenhauses [s. Anm. 45], 92, 198). 47 Bei Beurlaubung vom Soldatendienst sollte kein anderer Pass gültig sein als der, welchen der Regimentskommandeur unterschrieben hatte (Ordre vom 29.05., Mylius, Corpus Const. March. [s. Anm. 28] Teil 3.1, 416) 48 Das Große Potsdamer Militärwaisenhaus umfasste im Jahr 1750 die stattliche Zahl von 1.200 Knaben und 350 Mädchen (Geschichte des Potsdamer Waisenhauses [s. Anm. 45], 93). Es gab zur Unterrichtung der Waisenkinder zwölf Präzeptorenstellen, zehn für lutherische, zwei für reformierte Kandidaten. Die Aufgaben eines Präzeptors bestanden in der Erziehung der Kinder zur Gottesfurcht und Lebenstüchtigkeit. Die Pflichten eines Präzeptors sind bis in die Einzelheiten vorgeschrieben in den Beilagen zu Sr. Königlichen Majestät in Preussen General-Reglement für Dero Waisenhauß in Potsdam, den 1. Nov. 1724 (Mylius, Corpus Const. March. [s. Anm. 28] VI, 2. Abt. 279–287), vor allem in der Beilage 4) Regeln für die Präceptores (ebd., 300–302) und sehr ausführlich in Beilage 5) Instruction für die Präceptores (ebd., 302–314). Obwohl in diesen Beilagen reichhaltige und interessante Zeugnisse für die Geschichte der Pädagogik enthalten sind, gibt es über die Pädagogik des Potsdamer Militärwaisenhauses, in dem in der Zeit Friedrich Wilhelms I. hallische Theologen wirkten, aber nicht mehr, seitdem Friedrich der Große den aufklärerischen Feldpropst Decker eingesetzt hatte, m. W. keine Studien. In der gründlichen Arbeit von Axel Oberschelp (Das Hallesche Waisenhaus und seine Lehrer im 18. Jahrhundert. Tübingen 2006) werden im Schlussteil zur Wirkungsgeschichte des pietistischen Reformprogramms einige von Halle beeinflusste Schulen wie das Pädagogium im Kloster Berge, die Saldensche Schule in Brandenburg und einige andere untersucht, das Große Militärwaisenhaus in Potsdam verständlicherweise nicht.
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den. Aus den gelegentlichen Gesprächen, die unter seinen Collegen vorfielen, suchte er daher, ihnen unvermerkt, manche Vortheile zu ziehen, die er bey seinem Privatstudiren sich auf’s Beste zu Nutzen machte. Alle Zeit, die ihm von seinen Amtsstunden übrig blieb, wurde mit der standhaftesten Unverdrossenheit zu höheren Kenntnissen zu gelangen, angewandt, auch die Übung im Predigen nicht unterlassen, welche ihm zwar im Anfang, nachdem er in einem Alter von 29 Jahren die erste Predigt abgelegt hatte, sehr viel Mühe verursachte, die ihn doch endlich immer mehr und mehr erleichtert wurde. Er befand sich nun in einem Stande, der ihn zu dem Ziele, welches er sich schon vom Anfang seines Studirens an, vorgesetzt hatte, näher entgegenführte, indem nach Königl.Verordnung die Präceptores des Waisenhauses, nach den Feldpredigern, die nächste Anwartschaft zu erledigten Pfarren haben sollten. In den 6 Jahren, welch er zu Potzdam Präceptor gewesen ist, hat er dieses Ziel beständig vor Augen behalten, bis anderthalb Jahre vor seinem Abzuge die Predigerstelle zu Großberndten49 in der Grafschaft Hohnstein50 erledigt wurde, zu welcher er sich bei dem Feldpropst Decker als Inspektor des Waisenhauses meldete, welcher sie auch durch eine Cabinets Ordre vom Könige vor ihm erhielt51. Diese Stelle bekam er dennoch nicht, weil sie durch hohenstein’sche Cabale einen andern zugeschlagen wurde. Hierauf meldete er sich zu der 2ten Predigerstelle zu Quenstädt52 im Halberstädtischen, welche er auch durch eine Cabinets Ordre erhielt, die aber der König selbst auf eine 49 Das dritte Hauptstück des Renovirten Militair-Consistorial-Reglement vom 15. 07. 1750 (abgedruckt bei Hartmut Rudolph: Das evangelische Militärkirchenwesen in Preußen. Göttingen 1973, 273–287) handelt „Von der weitern Beförderung eines Feld-Predigers“. Hier heißt es in § I. „Wenn ein Feld-Prediger sich 5. bis 6. Jahr beym Regiment oder Bataillon gut verhalten hat; so soll er Sr. Majestät von dem Feld-Probst zu einer andern guten und convenablen Königl. Pfarre [. . .] vorgeschlagen werden“. Feldpropst Decker hatte im Jahr 1746 nicht nur die Oberaufsicht über die lutherischen Waisenhausschulen bekommen, sondern durch königliche Kabinettsordre auch das Vorrecht, die Prediger und Lehrer des Waisenhauses nicht nur zu examinieren, sondern auch zu ordinieren und introduzieren, so dass die Prediger und Lehrer des Potsdamer Waisenhauses im Reglement vom 15. 07. 1750 mit zur Feldinspektion geschlagen wurden (Geschichte des Potsdamer Militärwaisenhauses [s. Anm. 45], 235). 50 Großberndten, Dorf an der Südabdachung der Hainleite, heute in die Stadt Sondershausen eingemeindet. Nach dem Pfarrerbuch der Kirchenprovinz Sachsen (Pfb KPS) war hier 1756 bis 1775 Michael Carl Beyer Pfarrer. Grafschaft Hohnstein, nahe Nordhausen gelegen. Das Geschlecht der Grafen von Hohnstein starb 1593 aus. Heinrich Julius von Braunschweig beanspruchte als Bischof von Halberstadt die Grafschaft als Lehen. Im Westfälischen Frieden als Teil des Hochstifts Halberstadt dem Kurfürstentum Brandenburg zugesprochen, bemächtigte sich Kurfürst Friedrich III. von Brandenburg 1699 endgültig der Grafschaft. 51 Vermutlich hat die königliche Resolution vom 16. 04. 1755 für die Ritterschaft und Stände der Grafschaft Hohenstein, „daß diejenigen Prediger, so bei der Armee dienen sowie auch diejenige Informatores, so bei den publiquen Hospitälern, Waisenhäusern und dergleichen Dienste thun bei Vergebung derer Predigerstellen billig andern, so dem Publico noch mit nichts gedienet haben [. . .] zu präferiren sein“ (Acta Borussica 10, 248), mit der Intervention Deckers beim König für Blume zu tun. 52 Quenstedt, Ort südlich von Aschersleben. Nach dem Pfb KPS war Gottfried Pfeifer 1740 bis 1760 Pfarrer in Quenstedt. Von einer zweiten Pfarrstelle meldet das Pfb KPS nichts.
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Vorstellung vom geistl. Departement in Berlin wieder zurücknahm. Endlich kam die Zeit, daß er wirklich als Prediger zu Gudersleben53 angestellt werden sollte. Der Prediger zu Gudersleben starb den 5ten Februar 175654 und den Präceptor wurde dieser Fall schon den 8ten desselben Monaths bekannt. Der Feldprobst war willfährig genug, seinetwegen zum dritten mal beym Könige einzukommen, und dieses Mal nicht vergeblich, weil der Mitbewerber zu dieser Stelle mit seiner Bittschrift nicht eher erschien, als bis die Cabinets Ordre schon in den Händen des Präceptors war. Ehe er nun nach dieser ihm angewiesenen Stelle reisen konnte, fing der leidige siebenjährige Krieg55 an, und weil es das Amt des Feldprobstes erfordete, daß er mit zu Felde gehen mußte, so war es nötig für die zurückbleibende Garnisongemeinde, einen Prediger als Gehülfen bey dieser zu belassen, wozu ein vor alle Mal der Senior der Präceptores des Waisenhauses bestimmt wurde. Weil nun der Präceptor Blume damals Senior war, so traf ihn diese Bestimmung zuerst56. Er wurde zu dieser Absicht den 21ten August 1756 mit acht Candidaten des Feldministerii von dem Feldprobste Decker examinirt, und trug wieder sein Vermuthen, allein das Lob davon, das er gute theologische Kenntnis habe57. Am folgenden Tage, welcher der 10te Sonntag nach Trinitatis dieses Jahres war, wurde er mit acht andern zugleich zum Prediger ordinirt58, um 53
Dorf im südlichen Harzvorland, heute Ortsteil der Stadt Ellrich. Otto Christoph Schröter war 1725 bis 1756 Pfarrer in Gudersleben (Pfb KPS). 55 Kriegsbeginn am 29. 08. 1756 mit dem Einmarsch der preußischen Armee nach Sachsen. 56 Eigentlich war Blume nicht der Älteste unter den Lehrern des Waisenhauses. Ein Jahr älter war Johann Albert Junge, geb. 16. 07. 1721 in Halberstadt (in der Feldpredigerliste von Fischer wird fälschlich 1731 als Geburtsjahr angegeben), der nach einem dreijährigem Studium in Halle Hauslehrer bei dem Grafen von der Schulenburg gewesen war und dessen einzigen Sohn teils in Halberstadt, teils in Berlin fünfzehn Jahre hindurch unterrichtet hatte, ehe er ans Potsdamer Militärwaisenhaus kam. Am 30. 07. 1756, also drei Wochen vor Blume, wurde Junge in Potsdam vom Feldpropst Decker zum Feldprediger ordiniert (seine Vita im Ordiniertenbuch [s. Anm. 42]) mit der Absicht, dem Feldpropst zur Assistenz beigegeben zu werden. Als kurz darauf Decker zu Felde zog, wurde Junge ihm förmlich adjungiert und zog als sein Stellvertreter in seine Wohnung ein (Geschichte des Potsdamer Militärwaisenhauses [s. Anm. 45], 235, vgl. 226). Blume hat also nur die zivilen Aufgaben des Feldpropstes an der Potsdamer Garnisonskirche neben seiner Lehrtätigkeit am Waisenhaus zu erfüllen gehabt. 57 Feldpropst Decker benotete die Ordinanden entweder mit der Note bene oder mediocriter (Ordiniertenbuch [s. Anm. 42], Bd. 1). 58 Dem Ordiniertenbuch [s. Anm. 42] zufolge, in das die zum Feldpredigeramt Ordinierten, eigenhändig ihren Lebenslauf eintrugen, lassen sich von den acht Kandidaten, die am 22. 08. 1756 ordiniert wurden, sechs identifizieren, die am Vortag examiniert worden waren. Es sind in der Reihenfolge ihres Eintrags in das Ordiniertenbuch 1. Valentin Gottlieb Schultze, geb. 1732 in Potsdam, Lazarettprediger im Kriege. 2. Christian Wilhelm Plümecke, geb. 1732 in Potsdam, ebenfalls Lazarettprediger im Kriege. 3. Karl Abraham Weyland, geb. 1731 in Stettin, Feldprediger im Dragonerregiment von Blankensee. 4. Christian Ludwig Friedlieb Deilicke, geb. 1729 in Malchow/Mark, Feldprediger im Kriege. 5. Christoph Heinrich Wermuth, geb. 1729 in Calbe/ Saale, Feldprediger im Grenadier-Regiment von Carlowitz. 6. Joachim Siefert, geb. 1734 in Potsdam, Feldprediger im Kriege, später Pfarrer an St. Georgen in Berlin. Sie alle sind wesentlich jünger als Johann Hermann Blume, der sich nicht eintragen musste. Bei den beiden, deren Namen 54
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die übrige Zeit seines Aufenthalts auf den Waisenhause an der Garnison-Kirche zu Potzdam Dienste zu leisten, doch daneben seine Schulstunden an dem Waisenhause wie vorher abzuwarten59. Endlich kam die Zeit, daß er nach verflossenen Gnadenjahr für die Witwen, sein Pastorat zu Gudersleben antreten sollte, zu dem Ende reisete er gegen das Ende des Jan: 1757 mit der Post von Potzdam nach der Grafschaft Hohenstein ab, und nachdem er zuvor zu Halberstadt bei dem dasigen Consistorio alles abgemachet hatte, was seine bevorstehende Einführung ins Predigtamt betraf, langte er den 4ten Febr: Abends in Gudersleben glücklich an. Der Herr Inspector Jacobi60 erschien ohngefähr acht Tage hernach und verrichtete das Einführungsgeschäft am Sonntage Sexagesimae zu Gudersleben, und weil die Filiasten zu Mauderode61 eine eigene Einführung in ihrer Kirche verlangten, wurde ihnen darin gewillfahrt, und der nunmehrige Pastor Blume auch zu Mauderode eingeführt. Den folgenden Sonntag Estomihi hielt er an beyden Orten seine Anzugspredigt, und fing nun an, sein Amt an beyden Orten nach seinen besten Wissen zu führen. Die Einkünfte eines Predigers auf dem Lande bestehen hauptsächlich in Ackerbau, von welchem er sich, da er sich von Jugend auf in den Städten aufhalten müssen, nicht das geringste verstand. Er sah sich also genöthigt, sich in Zeiten eine Ehegattin zu bewerben, die in diesen Sachen mehr Erfahrung als er hätte. Er fand dieselbe an der Frau Witwe des seligen Pastor Wilke zu Pitzlingen62, mit welcher er sich den 28ten April 1757 durch den Herrn Pastor Schmidt zu Kehmstedt63 verbinden ließ. Inzwischen brannte die Kriegsflamme in unsern lieben Deutschlande, deren Wuth wir auch in diesem Winkel unsers Vaterlandes empfinden mußten. Wir sahen französische, österreiauch nicht im Ordiniertenbuch stehen, handelt es sich vermutlich ebenfalls um keine zum militärischen Dienst Ordinierte. Nach den Eintragungen der Lebensläufe dieser am 22. 08. 1756 Ordinierten folgt aus der Zeit des Feldpropstes Decker, der Ende August 1756 in den Krieg zog und im Juli 1757 in Leitmeritz im Lazarett starb, nur noch der Eintrag von Joachim Friedrich Buricke, ordiniert am 15. 12. 1756. Die folgenden sieben Blatt sind leer gelassen, und nach dem leeren siebten Blatt werden die Eintragungen ab 1757 mit den vom Feldpropst Balck Ordinierten fortgeführt. Nur hat sich auf dem ersten leeren Blatt versehentlich ein 1770 Ordinierter eingetragen, nachdem sich auf dem Vorblatt ebenfalls versehentlich ein 1761 Ordinierter eingetragen hat. Man erkennt an diesen Versehen, dass das Buch nach der Ordination den Kandidaten zum selbständigen Eintrag ihrer Vita überlassen wurde. 59 Da Blume sich in das Ordiniertenbuch nicht eingetragen hat, fehlt sein Name in Otto Fischers Liste der Feldprediger [s. Anm. 42], die in ihrem zweiten Teil (1743–1806) – mit gelegentlich kleineren Versehen – nach dem Ordiniertenbuch angelegt ist. 60 Nicht identifizierbar. Vielleicht Georg Matthias Jacobi (1735–1820), 1769 bis 1820 Pfarrer in Gudersleben. 61 Dorf nahe Nordhausen mit der 1606 erbauten Filialkirche St. Peter und Paul. Heute Ortsteil der Gemeinde Werther. Im Pfb KPS ist Mauderode nicht erfasst. 62 Werner Christoph Wilcke (1717–1755), Pfarrer in Pützlingen 1747 bis 1753, er war vor 1747 Feldprediger (Pfb KPS). Er war in zweiter Ehe verheiratet mit Sophia Dorothea Wilhelmine Gipser [s. Anm. 68]. Pützlingen ist ein Dorf nahe Nordhausen, heute Ortsteil von Werther. 63 Dorf zwischen Nordhausen und Bleicherode. Johann Heinrich Schmid war Pfarrer in Kehmstedt 1753 bis 1792 (Pfb KPS).
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chische, schweitzerische, würtembergsche und noch manche andere Nationen, die uns das Unsrige mit gewafneter Hand abforderten, und auch der Pastor blieb nicht verschonet. Er war zweymal in Gefahr, als Geißel mit fortgenommen zu werden, wovon er sich doch noch mit Manier loß zu machen wußte. Im Anfang des 1763 Jahres wurde endlich Friede gemacht64, und so kam auch bey ihm alles zur Ruhe. Inzwischen war er sowohl durch den Krieg als durch einen Hagelschlag in seinen häuslichen Umständen sehr zurückgekommen, doch fügte es die Vorsicht, daß ohnegefähr 5 Jahre hernach der Prediger zu Clettenberg65 von einer Gemeinde im Halberstädtischen zu ihren Prediger erwählet wurde. Der Herr Inspektor Schmaling zu Ellrich66, der ihn sehr werth hielt, überredete ihn, um das vacant gewordene Pastorat beym Oberconsistorium zu Berlin67 anzuhalten. Sein Gesuch erhielt alle Stimmen zu seinem Vortheil, und er wurde am 3ten Advents Sonntag 1768 als Pastor zu Clettenberg eingeführt. Diese Stelle ist um ein großes wichtiger in Ansehung der Einkünfte, erfordert aber auch wegen ihrer Beschwerlichkeit mehr Anstrengung der Kräfte, und seit den letzten 10 Jahren spürte er eine starke Abnahme der Leibeskräfte, besonders, da er das Unglück hatte, gegen das Ende des 1773 Jahres einen Schaden an den Augen zu bekommen, das ihn seit der Zeit noch anklebt, und ihn zu eigenen Bücherlesen ganz untüchtig macht. Dennoch führte er noch immer sein Amt fort, und ließ sich das, was er von den neuesten Sachen wissen wollte, durch seine Kinder, besonders durch seine älteste Tochter vorlesen. Der Pastor fühlte, daß seine Kräfte immer mehr abnahmen und sieht der gänzlichen Austilgung derselben mit Gelassenheit
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Friede von Hubertusburg 15. 02. 1763. Klettenberg, Dorf in der Nähe von Nordhausen, heute Ortsteil der Gemeinde Hohenstein, die 1996 im Rahmen einer Gebietsreform des Landes Thüringen durch Zusammenschluss mehrerer Gemeinden gebildet und nach der früheren Grafschaft Hohenstein benannt wurde. Im Westfälischen Frieden kamen Burg und Grafschaft Klettenberg zum Kurfürstentum Brandenburg. Der Prediger zu Klettenberg Christfried Gotthold Thilo (dort 1747–1768) ging 1768 nach Eilenstedt (Pfb KPS). 66 Johann Gottlieb Schmaling (1729–1800), Oberpfarrer und Inspektor in Ellrich 1767 bis 1800 (PfB KPS). 67 Das Oberkonsistorium in Berlin, eine 1750 von Friedrich dem Großen eingesetzte Behörde, mit der die Konsistorien aller lutherischen Gebiete Preußens mit Ausnahme Schlesiens und KleveMark ihre zentrale Leitungsinstanz erhielten. Nach dem Tod der Konsistorialräte Süßmilch (gest. 1767) und Hecker (gest. 1768) war das Oberkonsistorium zu dieser Zeit (1768) fast ausschließlich mit neologischen Konsistorialräten besetzt, nämlich mit den Oberkonsistorialräten August Wilhelm Sack (1703–1786), Anton Friedrich Büsching (1724–1793), Joachim Spalding (1714–1804), Wilhelm Albrecht Teller (1734–1804), dazu mit dem noch 1741 als Feldprediger beginnenden, dem Pietismus entstammenden Christian Friedrich Sadewasser (1717–1770), der nach seinem Tod im Mai 1770 durch den Neologen Johann Samuel Diterich (1721–1797), den Verfasser des Myliusschen Gesangbuchs, ersetzt wurde. Der vom Pietismus geprägte, der Neologie gegenüber ablehnende, als Orthodoxer geltende und eine Sonderstellung einnehmende Johann Esajas Silberschlag (1721–1791) wurde erst 1769 Mitglied des Oberkonsistoriums. 65
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und Unterwerfung entgegen, und wünscht nichts mehr, als die Versorgung seines einzigen Sohnes zu erleben. Mit seiner Gehülfin Frau Sophie Dorothea Wilhelmine, geb. Gipsern68 hat er in allen acht Kinder gezeuget, viere derselben waren Söhne, und die übrigen vier Töchter69. Drey Söhne und eine Tochter befinden sich bereits in der Ewigkeit, von den vier lebenden ist der Sohn jetzo in Halle, wo er Theologie studirt70, die 3 Töchter aber sind noch bey ihm und erleuchten ihm sein Alter durch die kindliche Folgsamkeit.
68 Sophia Dorothea Wilhelmine Blume war eine geborene Gipser und Witwe des Pfarrers Wilhelm Christoph Wilcke [s. Anm. 62], als sie 1757 Johann Hermann Blume heiratete (Pfb KPS). Sie lebte später bei ihrem Sohn [s. Anm. 70] in Obergebra und starb dort. 69 Das Biogramm des Pfb KPS (Bd. 1) gibt die Namen der Kinder an, nennt aber irrtümlich nur sieben Kinder. 70 Johannes Friedrich Wilhelm Blume (1765–1844), mit zwölf Jahren der lateinischen Schule des Halleschen Waisenhaus übergeben, studierte Theologie in Halle und Wittenberg, 1791 bis 1793 Adjunkt seines Vaters in Klettenberg, 1794 bis 1806 Pfarrer in Obergebra (PfB KPS).
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FRED VAN LIEBURG
Direkte Gotteserfahrung. Pietismus und Bibliomantie1 Einleitung Um 1800 erlebte ein junger niederländischer Schiffsbauer, Egbert de Goede, seine Bekehrung. Eine Reihe geistlicher Erfahrungen wurden ihm zuteil. Als er fürchtete, für ewig verloren gehen zu müssen, erinnerte sein Bruder ihn an eine hoffnungsvolle Familienüberlieferung. „Als Onkel und Tante bekehrt wurden und in solcher Anfechtung waren, öffneten sie die Bibel, und was sie dann lasen, glaubten sie.“ Egbert zögerte, aber sagte: „Das werde ich auch tun und was nun an der linken Hand steht, werde ich glauben.“ Er schlug die Bibel auf, und oberhalb der linken Hand las er diese Worte: „Da sprach nun Jesus zu den Juden [. . .]: wenn ihr die Wahrheit glaubet, wird die Wahrheit euch frei machen und ihr seid in Wahrheit meine Jünger“ (Joh 8, 31). Hierdurch kam er zur Ruhe, denn er wusste, der Gnade teilhaftig zu werden.2 Egbert de Goede hat diese Erfahrung selbst beschrieben: in seiner Autobiographie, am Ende seines langen Lebens als ein weitbekannter, gottseliger Mann in reformierten Kreisen.3 Das von ihm Berichtete wird auf Deutsch als „däumeln“ bezeichnet, unter Bezug auf die Weise, wie die Bibel zur Hand genommen wird. Auf Englisch wird wohl von „Bible dipping“ gesprochen. 1 Grundlage dieses Aufsatzes ist mein Kurzvortrag vom III. Internationalen Kongress der Pietismusforschung 2009 in Halle a. d. Saale. Das Kongressthema lautete: „aus GOttes Wort und eigener Erfahrung gezeiget“. Erfahrung – Glauben, Erkennen und Handeln im Pietismus. Mir waren damals die Studien von Shirley Brückner noch nicht bekannt. Sie veröffentlichte inzwischen drei Artikel zum Thema: Losen, Däumeln, Nadeln, Würfeln – Praktiken der Kontingenzbewältigung als Offenbarungsmedien im Pietismus. In: Spiel und Bürgerlichkeit Passagen des Spiels. Hg. v. Ulrich Schädler u. Ernst Strouhal. Wien 2011, 247–272; Der Frommen Lotterie. Lospraktiken im Schweizer Pietismus. In: Jahrbuch der Schweizerischen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts 2, 2011, 66–87; Die Providenz im Zettelkasten. Divinatorische Lospraktiken in der pietistischen Frömmigkeit. In: Geschichtsbewusstsein und Zukunfterwartung in Pietismus und Erweckungsbewegung. Hg. v. Wolfgang Breul u. Jan Carsten Schnurr. Göttingen 2013, 351–366. 2 Egbert de Goede: Eene korte en eenvoudige beschrijving van den weg de bekeering dien de Drie-eenige Verbondsgod met mij gehouden heeft. [1852]. Doesburg 21868, 16 f. 3 Ausführlich zu seiner Schriften: Fred van Lieburg: Living for God. Eighteenth Century Dutch Pietism Autobiography. Lanham 2006.
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In der niederländischen Sprache gibt es kein Wort für diese Praxis, die aber ebenso wohlbekannt ist, doch immer mit anderen Worten umschrieben wird. In diesem Beitrag verwende ich den allgemeinen Terminus Bibliomantie, wörtlich: Wahrsagung mit Büchern. Grundsätzlich kann jedes maßgebliche Buch dafür dienen, aber üblicherweise handelt es sich um die Bibel. Als universelle Erscheinung kommt die Bibliomantie auch in nichtchristlichen Kulturen und Traditionen vor. Wesentlich für den religiösen Umgang mit Büchern ist natürlich die Überzeugung, dass durch diese Methode eine individuelle Botschaft Gottes vermittelt wird.4 Liegt der Fokus auf der persönlichen Gotteserfahrung, kann man im Pietismus eine starke Verbreitung der bibliomantischen Praxis erwarten. Im weiteren Sinne gilt diese Verbindung auch für Parallelerscheinungen in der Frühen Neuzeit, wie den Puritanismus, den Methodismus und die niederländischen, von der „weiteren Reformation“ geprägten Frömmigkeitsbewegungen. Obwohl Zeugnisse vom „Däumeln“ häufig in den Quellen verborgen sind, lassen sich durchaus Beispiele aus den Biographien „größerer“ und „kleinerer“ Pietisten nachzeichnen. Aus der niederländischen Theologie des 18. Jahrhunderts können wir eine merkwürdige Polemik zum Thema rekonstruieren. Dieser Beitrag will auch besonders auf die Spuren der Bibliomantie in der Pietismushistoriographie eingehen. Schließlich zielen diese Überlegungen auf eine (Wieder)Aufnahme der „materialen Religion“ unter die Erkenntnisinteressen einer anthropologisch orientierten Pietismusforschung. Jüdisch-christliche Tradition Merkwürdigerweise gibt die Bibel selbst keine Beispiele von Bibliomantie, ausgenommen einige Hinweise in den Apokryphen. Jüdische Soldaten versuchten während der Makkabäerkriege den Ablauf der Streitigkeiten vorauszusagen, dadurch dass sie nach heidnischen Divinationstechniken die Gesetzesrollen zu Rate zogen. Aus dem frühen Christentum kennen wir nur die klassische Bekehrungsgeschichte von Augustinus. Angerufen von einer Kinderstimme: „Nimm und lies!“ schlug er in der Bibel ein Kapitel des Römerbriefes auf. Der Kirchenvater selbst beschrieb die Tolle-lege-Erfahrung im Jahre 396 in seinen Confessiones (Buch VIII, Kapitel 12, Punkt 29). Er erinnerte sich an eine Passage aus dem Leben des Heiligen Antonius, der beim Eintritt in einen Gottesdienst von einem gerade vorgelesenen Evangelienvers getroffen wurde. Tatsächlich schloss Augustinus sich aber den weitverbreiteten antiken Losorakeln an, die den Werken von Homer und Vergil entnommen wurden.5 4 Vgl. Werner F. Bonin: Lexikon der Parapsychologie und ihrer Grenzgebiete. Bern, München 1976, 81; Ebenezer Cobham Brewer: Dictionary of Phrase and Fable. [1898]. London 1987; Encyclopedia of Occultism & Parapsychology 1, 1991, 182. 5 Pieter W. van der Horst: Sortes: Sacred Books as Instant Oracles in Late Antiquity. In: The Use of Sacred Books in the Ancient World. Ed. by L. V. Rutgers [et al.]. Leuven 1998, 143–174
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Aus dem Mittelalter kennen wir viele Berichte, die darauf hinweisen, dass Formen der Bibliomantie in der Christenheit nicht nur geübt, sondern auch anerkannt wurden. Obwohl verschiedene Synoden (namentlich Viennes 465) sich gegen das Sortilegium von Priestern wandten und kirchliche Autoritäten es als Aberglauben verurteilten, zeigen Heiligenleben und weltliche Geschichten immer wieder, dass Geistliche sowie Laien auf zauberische Weise Gottes Wille kennenzulernen suchten. Die Divination war ein Hilfsmittel bei wichtigen Entscheidungen in politischen, militärischen, kirchlichen und klösterlichen Situationen, wie die Ernennung von Bischöfen, die Planung militärischer Aktionen, die Adoption eines neuen Namens nach Bekehrung zum frommen Leben oder die Absage einer Heirat, um in ein Kloster einzutreten. Die Art und Weise der Bibliomantietechnik konnte dabei wechseln: vom zufälligen Aufschlagen einer Bibel, eines Psalters oder eines Evangeliums bis zum zufälligen Hören bestimmter heiliger Texte.6 Gleichwie bei Augustinus sind manche bibliomantische Erfahrungen als historische Wendepunkte oder Anfänge religiöser Erneuerungsbewegungen gedeutet worden. Der Heilige Franziskus sollte auf Grund eines dreifachen Bibelorakels zur Stiftung seines Ordens gekommen sein. Der italienische Mönch Francesco Petrarca bestieg 1336 den südfranzösischen Mont Ventoux, schlug auf dem Gipfel die Confessiones des Augustinus auf und las einen Absatz, dem er ein tiefes Seelenerlebnis und eine überwältigende Schönheitserfahrung entnahm. Sein eigener Bericht gilt wohl als Vorbote der Renaissance. Schließlich soll Martin Luther als junger Augustiner in der Erfurter Klosterbibliothek eine Bibel entdeckt haben, die er bei der Geschichte von Hannah und Samuel aufschlug. Wie wirkmächtig auch die Erinnerung an die Tolle-lege-Episode und das Monica-Augustinus-Motiv sein mögen, diese Luthergeschichte gehört zu den vielen Legenden, die den großen Kirchenreformer umgeben.7 (ndl. Übers. P. W. van der Horst: Sortes: het gebruik van heilige boeken als lotsorakels in de oudheid. Amsterdam 1999); idem: Ancient Jewish Bibliomancy. In: Journal of Graeco-Roman Christianity and Judaism 1, 2000, 9–17; s. a. idem: Bibliomancy. In: Dictionary of New Testament Background. Ed. by C. A. Evans and S. E. Porter. Downers Grove, Leicester 2000, 165–167. 6 Vgl. Joseph-Claude Poulin: Entre magie et religion. Recherches sur les utilisations mariginales de l’écrit dans la culture populaire du haut moyen âge. In: La culture populaire au moyen âge. Ed. par Pierre Bolglioni. Montreal 1979, 121–143; Peter Dinzelbacher: Die Bedeutung des Buches im Zeitalter des hl. Liudger. In: Aug. van Berkum [et al.]: Liudger 742–809. De confrontatie tussen heidendom en christendom in de Lage Landen. Muiderberg 1984, 45–61; Klaus Schreiner: Volkstümliche Bibelmagie und volkssprachliche Bibellektüre. Theologische und soziale Probleme mittelalterlicher Laienfrömmigkeit. In: Volksreligion im hohen und späten Mittelalter. Hg. v. Peter Dinzelbacher u. Dieter R. Bauer. Paderborn 1990, 329–374; Gàbor Klaniczay and Ildikó Kristof: Ecritures saintes et pactes diaboliques. Les usages religieux de l’écrit (Moyen Age et Temps modernes). In: Annales ESC 56, 2001, 947–980; Klaus Schreiner: Litterae mysticae. Symbolik und Pragmatik heiliger Buchstaben, Texte und Bücher in Kirche und Gesellschaft des Mittelalters. In: Pragmatische Dimensionen mittelalterlicher Schriftkultur. Hg. v. Christel Meier [u. a.]. München 2002, 277–337. 7 W. J. Kooiman: Luther en de bijbel. Baarn 1977, 7–13.
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Protestantische Kontinuität Bevor wir uns einigen „Vätern“ der protestantischen Frömmigkeitsbewegungen zuwenden, machen wir einige allgemeine Bemerkungen zum Verhältnis zwischen protestantischem Glauben und bibliomantischer Praxis.8 Seit dem späten Mittelalter sorgte die Entwicklung der Buchdruckerkunst für die Verbreitung von religiösen Büchern unter dem Volk, wie Evangelienharmonien, Gebetbücher, Bibel und Katechismen. Sie hatten nicht nur wegen ihrer religiösen Inhalte, sondern auch wegen ihrer Bedeutung als heilige Objekte eine bestimmte göttliche Kraft. Der Bruch in der Christenheit infolge von Reformation und Gegenreformation brachte hier keine Änderung. Zwar bekam im Protestantismus das gedruckte Wort eine wichtige Rolle für die Aneignung und Weitergabe des Glaubens. Es handelte sich wesentlich um das Lesen, Lernen und Hören göttlicher oder kirchlicher Zeugnisse. Die materielle Religionskultur zeigt im Protestantismus also ein anderes Bild als im Katholizismus. Hatten römisch-katholische Christen eine Menge von Objekten sakralen Wertes, wie Heiligenbilder, Kruzifixe, Reliquien, Rosenkränze, standen Protestanten eigentlich nur die Bibel oder besondere religiöse Bücher zur magischen Verwendung zur Verfügung. In der protestantischen Volksreligiosität sehen wir einerseits eine Intensivierung des traditionellen Gebrauchs des heiligen Buches als „Totem“ oder „Talisman“, entweder zum Schutz gegen Unheil oder zur Förderung von Glück. Zur Abwehr böser Geister, von Unglück oder zur Beschwörung eigener Ängsten legte man Bibeln ins Wochenbett, in die Wiege oder den Viehstall. Eine Bibel im Hause hielt den Teufel und seine Werke auf sicherem Abstand. Auch war man zum Beispiel gewohnt, während eines Gewitters laut zu lesen. Andererseits sehen wir neue Praktiken aufkommen, in denen die Bibel als Symbol der öffentlichen Religion und privaten Frömmigkeit fungiert. Beispiele sind der Eidschwur mit der Hand auf der Bibel, die Anbringung von Bibeln auf Spießen und Schildern oder die Etablierung der Bibel auf Kissen auf der Bank oder auf Stehpulten im Hause. In diesem Kontext der materiellen Verehrung der Bibel ist die Bibliomantie zu verstehen. Die Verbindung zwischen Magie und protestantischer Frömmigkeit lässt sich auch aus der Vorsehungslehre erklären. Gottes Vorwissen, seine Proaktivität und Intervention können sich im Alltagsleben auch bei der Suche nach dessen Willen durch das Aufschlagen der Bibel zeigen. In seinem klassischen Werk über die Religion und den Rückgang der Magie in England im 16. und 17. Jahrhundert hat Keith Thomas gezeigt, wie tief und breit der Providentia8 David Cressy: Books as Totems in Seventeenth-Century England and New England. In: Journal of Library History 21, 1986, 92–106; Etienne François: Das religiöse Buch als Nothelfer, Familienreliquie und Identitätssymbol im protestantischen Deutschland der Frühneuzeit (17.-19. Jahrhundert). In: Hören, Sagen, Lesen, Lernen. Bausteine zu einer Geschichte der Kommunikativen Kultur. Hg. v. Ursula Brunold-Bigler u. Hermann Bausinger. Bern [u. a.] 1995, 219–230.
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lismus (unter dem Einfluss des Puritanismus) im kollektiven Weltbild und in den Handlungsmustern des Volkes vertreten war. Er beschrieb zahlreiche Weisen, sich nicht nur durch Gebet und Bibellesung, sondern auch durch mehr oder minder magische Rituale in schwierigen Umständen auf Gottes Vorsehung und Allmacht zu berufen.9 Besonders Alexandra Walsham hat dargestellt, dass der Bedarf an Divinationsmitteln im frühen englischen Protestantismus nicht die Hartnäckigkeit des mittelalterlichen Aberglaubens widerspiegelt, sondern gerade neue, namentlich von calvinistischen Gedanken aufgerufene Ängste und Unsicherheiten hinsichtlich des persönlichen Heils.10 Pietistisches Spannungsfeld? Die Verbreitung der Bibliomantie im Protestantismus scheint in Widerspruch zum reformatorischen Adagium der regelmäßigen Bibellesung zu stehen. Luther hat als Urheber der Reformation viele Jahre seines Lebens gearbeitet, um die Bibel für die Deutschsprachigen zugänglicher zu machen.11 Calvin hat sich nicht mit einem solchen Projekt beschäftigt, aber er plädierte schon vor der Erstausgabe seiner Institution, also am Anfang seines Lebenswerkes, in einer Vorrede zu der französischen Bibelübersetzung von Pierre Olivetan (c.1506–1538), dass alle Gläubigen, auch die Armen und Einfachen, direkt von der Schrift Kenntnis nehmen können.12 Der lutherische Scholastiker Andreas Hyperius (1511–1564) schrieb 1561 eine Abhandlung über die tägliche Lesung und Meditation der heiligen Schrift als Erfordernis und Notwendigkeit für alle Christen. Das lateinische Werk wurde in die deutsche, englische und niederländische Sprache übersetzt. Hyperius lieferte zudem einen Leseplan als praktische Handleitung, um die Bibel auch systematisch von der Genesis bis zur Offenbarung des Johannes zu lesen.13 Trotz aller scheinbaren Evidenz der reformatorischen Verbreitung der Bibel und Mahnung zu vollständiger Bibellesung hat Johannes Wallmann die 9 Keith Thomas: Religion and the decline of magic. Studies in popular beliefs in sixteenth- and seventeenth-century England. London 1971; vgl. Robert W. Scribner: The Reformation, Popular Magic, and the “Disenchantment of the World”. In: Journal of Interdisciplinary History 23, 1992/93, 475–494. 10 Alexandra Walsham: Providence in Early Modern England. Oxford 1999, 332. 11 Vgl. Johannes Schilling: Martin Luthers Deutsche Bibel. In: Die Bibel – Wort der Freiheit. Zwei Passauer Vorträge. In: Nachrichten und Berichte Universität Passau. Sonderheft Nr. 13. Passau 1993, 7–33. 12 Jürgen Quack: Evangelische Bibelvorreden von der Reformation bis zur Aufklärung. Gütersloh 1975, 89–116. Vgl. Willem de Greef: Calvijn over de Bijbel. Enkele brieven, inleidingen en hoofdstukken uit de Institutie. Houten 1998; Jean-François Gilmont: Calvin et la diffusion de la Bible. In: La Bible imprimée dans l’Europe moderne. Ed. par Bertram Eugène Schwarzbach. Paris 1999, 230–242. 13 Gerhard Krause: Andreas Gerhard Hyperius. Leben – Bilder – Schriften. Tübingen 1977, 142–144.
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These aufgeworfen, der Protestantismus sei bis weit ins 17. Jahrhundert ein Katechismuschristentum gewesen und das allgemeine Bibellesen erst vom Pietismus aufgebracht worden.14 Für die puritanische und reformierte Tradition ist das, zum Beispiel aus niederländischen Quellen, zu bezweifeln. Für das Luthertum aber gilt die ‚Neuentdeckung der Bibel‘ als wesentlich für die Definition des historischen Pietismus.15 In seinem Buch über Johann Jakob Schütz als Mitbegründer des Pietismus hat Andreas Deppermann sich Wallmanns Meinung angeschlossen, mit der Nuancierung, dass die Theorie der Lutherischen Orthodoxie über den Nutzen des Bibellesens durch die Praxis nicht eingelöst wurde. Für Gelehrte und Theologen wurde das Bibelstudium für gut gehalten, für Gemeindeglieder die Kenntnisse einiger Psalmen und Bibelperikopen des Katechismus als „Laienbibel“ für ausreichend befunden. Auch wenn die Bibel im 17. Jahrhundert unter Lutheranern wenig oder gar nicht gründlich gelesen wurde, war sie jedenfalls im Umlauf, um damit Bibliomantie zu betreiben. Die Ironie der Geschichte will, dass die vermeintlichen Väter der neuen Bibelbewegung, Spener und Schütz, selbst die Bibliomantie übten und also das fromme Bibellesen propagierten, ohne die magischen Bibelorakel zu unterlassen. Bei Schütz spielte eine solche Erfahrung eine Rolle in seinem Bekehrungsprozess.16 Spener, als er 1686 als Pfarrer in Frankfurt am Main in Zweifel war, ob er einen Ruf nach Dresden annehmen sollte, bezog einige bibliomantische Zeugnisse seiner Tochter und mancher Gemeindeglieder in seine Überlegungen ein. In seinem Bericht nahm er Bezug auf eine gleichartige Überlieferung über seinen Vorgänger Ludwig Geiger.17 „Spener behielt eine Schwäche für diesen Brauch, der ihn aufmunterte, wenn es auch andere, wie er wohl wusste, für Aberglaube hielten.“18
Große Fromme Speners Bibliomantie hat ihn aber nicht in die Reihe von Augustinus, Franciscus und Luther gerückt. Es war nicht Spener, sondern Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf, der Pietismus und Bibliomantie innig verbunden hat. 14 Johannes Wallmann: Was ist Pietismus? In: PuN 20, 1994, 11–27; ders.: Vom Katechismuschristentum zum Bibelchristentum. Zum Bibelverständnis des Pietismus. In: Die Zukunft des Schriftprinzips. Hg. v. R. Ziegert. Stuttgart 1994, 30–56; Katalin Péter: Bibellesen. Ein Programm für jedermann im Ungarn des 16. Jahrhunderts. In: Iter Germanicum. Deutschland und die Reformierte Kirche in Ungarn im 16–17. Jahrhundert. Hg. v. A. Szabó. Budapest 1999, 7–38. 15 Fred van Lieburg: Bible Reading and Pietism in the Dutch Reformed tradition. In: Lay Bibles in Europe 1450–1800. Ed. by M. Lamberigts and A. A. den Hollander. Leuven 2006, 223–244. 16 Andreas Deppermann: Johann Jakob Schütz und die Anfänge des Pietismus. Tübingen 2002, 62–69. 17 Vgl. Erich Beyreuther: Geschichte des Pietismus. Stuttgart 1978, 77 u. 112. 18 Paul Grünberg: Philipp Jakob Spener. Band 2. Göttingen 1893 (ND Hildesheim 1988), 162 ff.
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Als Begründer und Leiter der Herrnhuter Brüdergemeine gab er den Gemeinegliedern am 3. Mai 1728, nach der Abendgebetsstunde, einen Spruch zur Überlegung mit. Bald fingen die Herrnhuter an, diese „Worte für jeden Tag“ zu wählen durch Ziehung von Zetteln aus einem Kästchen mit Bibel- oder Liedtexten. Die gewählten Texte wurden anfänglich jeden Tag hinausgetragen in die Wohnungen der Brüder und Schwestern, um dort weiter besprochen und überdacht zu werden. Später wurden sie auf Karten gedruckt und schließlich in Buchform für ein ganzes Jahr herausgegeben. So entstanden 1731 die bekannten Losungsbüchlein, die bis heute in der weltweiten Brüderbewegung zur täglichen Meditation dienen.19 Wenn die Losungen als Bibliomantie im Sinne von Wahrsagung aufgrund einer zufälligen Textwahl bezeichnet werden sollen, dann muss man unterscheiden zwischen der Herstellung der jährlichen Textsammlung einerseits und der täglichen Lesung der Büchlein andererseits. In den Sitzungen der Herrnhuter Leiter, die aus einer Menge von Karten aus einer ovalen Schale die Tagestexte ziehen, gibt es ein willkürliches Element. Wenn die Textbücher einmal im Umlauf sind und in der vorgeschriebenen Ordnung genutzt werden, fungieren sie wie andere meditative Lektüren. Das gilt zum Beispiel auch für die Sammlung von Sinngedichten von Gerhard Tersteegen, 1732 unter den Titel Der Frommen Lotterie veröffentlicht. Es wurde in der Neuauflage von 1738 versehen mit biblischen Sprüchen und vermehrt zu 365 Blättern, für jeden Tag eines.20 Die Tagestexte dienten nur der frommen Überlegung und der Übung des Gottvertrauens, auch wenn Leser die Sprüche als Vorbedeutungen aufnahmen oder sie später in diesem Sinne deuteten.21 Neben Zinzendorf nenne ich hier auch John Wesley, den Gründer des Methodismus, der großen angelsächsischen Erweckungsbewegung, die sich der Bibliomantie bediente. Aus seinen vielen Tagebüchern erweist sich Wesleys Gewohnheit, jeden Tag die Bibel nach dem Schema des Book of Common Prayers zu lesen. Das hieß, dass er das Alte Testament jedes Jahr und das Neue Testament mehrmals im Jahr durchnahm. Dessen ungeachtet schlug Wesley während seines ganzen Lebens regelmäßig die Bibel willkürlich auf, um Antworten auf Glaubensfragen und Lösungen für Wahlprobleme zu finden. Zudem wissen wir, dass er zu diesem Zweck auch Karten verwendete, die auf der einen Seite einen Bibeltext und auf der anderen Seite eine Liedstrophe 19 Heinz Renkewitz: Die Losungen. Entstehung und Geschichte eines Andachtsbuches. Hamburg 21967. Vgl. Erich Beyreuther: Die Herrnhuter Losungen und ihre Entstehungsgeschichte. In: UnFr 7, 1980, 4–14; Ders.: Lostheorie und Lospraxis. In: Ders.: Studien zur Theologie Zinzendorfs. Gesammelte Aufsätze. Hildesheim 2000, 109–139. 20 Das Vorbild stammte von Angelus Silesius mit seiner Geistreichen Lotterei (1714). Vgl. J. F. G. Goeters: Der reformierte Pietismus in Bremen und am Niederrhein im 18. Jahrhundert. In: Geschichte des Pietismus. Bd. 2: Der Pietismus im 18. Jahrhundert. Hg. v. Martin Brecht u. Klaus Deppermann. Göttingen 1995, 398 f. 21 Vgl. für Frankreich: Arnold Niederer: ‚Paroles et Textes pour chaque jour‘. Le tirage au sort de versets bibliques. In: Ethnologie française 17, 1987, 336–341.
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zeigten. Diese Gewohnheit lässt an die Losungen der Herrnhuter denken, aber lässt sich genaugenommen mit jedem religiösen Textträger durchführen.22
Reformierte Theologen In der religiösen Volkskultur und der protestantischen Laienfrömmigkeit ist die Bibliomantie durchaus präsent gewesen. Es stellt sich die Frage nach der offiziellen Sicht von Theologen und Pastoren. Waren Bibelorakel öffentlich erlaubt oder ausdrücklich abgelehnt? War es eine geduldete oder kaum bemerkte, bloß individuelle Praxis? Theoretisch konnte es entweder unter Wahrsagung oder Lotterie gerechnet werden. Wahrsagung galt sicher als eine nichtbiblische Form der Zukunftsvorhersage, aber auch die Lotterie wurde meist als Spielerei mit Gottes Vorsehung betrachtet. Nur höchst wichtige Streitigkeiten durften unter Anrufung des Namens des Herren durch das Los bestimmt werden. Im Allgemeinen standen die Theologen der Frühen Neuzeit Propheten und Formen der Magie ablehnend gegenüber. Manche Sittenprediger wollten auch Glücksspiele aus der Gesellschaft verbannen.23 Aber was hielt man von Bibliomantie? Schlagen wir dazu ein Standardwerk der reformierten Theologie auf, verfasst von Gisbertus Voetius (1579–1676), Professor an der Universität Utrecht. Dieser „Kämpfer der Orthodoxie“ unterwies seine Studenten in der Praxis der Gottseligkeit. In einer Vorlesung zum persönlichen Bibellesen blieben magische Praktiken unerwähnt. Indirekt verwarf er die Bibelorakel ohne Zweifel, wie sein Plädoyer für das regelmäßige Bibellesen nach einer festen Ordnung bekundet.24 Eine maßgebliche Sicht auf die Bibliomantie lässt sich auch in dem Redlichen Gottesdienst von Wilhelmus à Brakel (1635–1711) finden, ein beliebtes Handbuch der reformierten Dogmatik mit praxisbezogener Ausrichtung. Auch er drängte darauf, die Bibel ‚mit allem Eifer und mit Ausdauer‘ zu lesen, wenn möglich mit einer Vor- und Nachbetrachtung. Zudem schärfte er nachdrücklich ein, dass jede Schriftstelle möglichst in ihrem Zusammenhang gedeutet werden sollte.25 Bei Brakel also kein Wort über Bibliomantie, wohl eine Passage zu einem 22 Vgl. William H. Vermillion: The Devotional Use of Scripture in the Wesleyan Movement. In: Wesleyan Theological Journal 16, 1981, 51–67 (mit einer Reaktion von Steven Harper). Im Internet fand ich ein von Conrad Archer zusammengestelltes Handbook of Places, Names & Terms associated with John Wesley, in dem auch das Lemma „Bibliomancy“ aufgenommen ist. 23 Vgl. Hans de Waardt: Toverij in Holland 1500–1800. Den Haag 1991; Leendert F. Groenendijk: Kansspelen in het ethische discours van gereformeerde theologen in de Noordelijke Nederlanden. In: De zeventiende eeuw 15, 1999, 74–85. 24 Gisbertus Voetius. De praktijk der godzaligheid. Tekstuitgave met inleiding, vertaling en commentaar. Hg. v. Cornelis A. de Niet. Utrecht 1996, Bd. 2, 245–248. 25 Wilhelmus à Brakel: Redelijke godsdienst. Rotterdam 1700 [deutsche Übersetzung: Vernünftiger Gottesdienst. Kassel 1716], Bd. 1, Kap. ii. „Van het Woord Gods“.
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gleichartigen Zeugnis der göttlichen Kraft der Bibel. Der Pastor aus Friesland erzählt eine persönliche oder pastorale Erfahrung. „Es geschieht wohl, dass jemand, der weit von den Menschen geboren und aufgewachsen ist, unwissend von einer Kirche, die Bibel zufällig in seinem Haus findet, darin eifrig leset und auf den Geschmack in jenen Sachen kommt, dadurch bekehrt wird, erkennt, dass die Bibel von Gott ist und das Wort lieben lehrt. Ich habe einen Solchen gekannt; was an ihm geschah, kann auch anderen geschehen.“ Hier handelt es sich um den unerwarteten, aber in der Vorsehung bedachten Effekt der Schriftlektüre, es sei nach unabsichtlichem Hantieren mit der Bibel oder während der festen, täglichen oder rituellen Lektüre. Gleiche Erfahrungen gibt es in vielen Bekehrungsgeschichten, sie gehören aber nicht zur bewussten Bibliomantie. Aufgabe der protestantischen Kirche Eine überraschende Fokussierung auf unser Thema bietet der Groninger Professor Antonius Driessen im Jahr 1743. Dieser reformierte Theologe beschäftigte sich mit einer „Art von göttlicher Offenbarung“, die zeigte, dass es auch unter orthodoxen Gläubigen bestimmte Prophetien und Wunder geben konnte. Was dies meint, verstehen wir aus seinem Bericht über eine Frau, mit der er in Kontakt gekommen war. Sie hatte ihm allerhand himmlische Visionen und Eingebungen erzählt, die sie mit dem Bibelorakel konkret illustrierte. Der Professor hatte sich anfänglich zurückhaltend geäußert, war aber immer mehr in ihren Bann geraten. Als er eines Abends in Verzweiflung nach Hause kam, schlug er selbst die Bibel auf bei 1Thess 5, 19–21 („Blust den Geest niet uit. Veracht de profetieën niet. Beproeft alle dingen; behoudt het goede.“). Diese Worte gaben das Motto für eine ganze Predigt über die Bibliomantie. Driessen legte seine bibliomantische Erfahrung als ein Problem der protestantischen Kirche vor.26 Öffentlich fragte er, ob es erlaubt sei, in wichtigen oder schwierigen Sachen Zeichnen von Gott zu begehren, namentlich „durch solche Schriftstellen antreffen zu machen“. Es geschieht doch öfters, schrieb er, „dass, wenn man die Bibel lesen will und sie öffnet, sich beim zufälligen Aufschlag gerade dieses oder jenes Kapitel und beim ersten Augenaufschlag diese oder jene Vers auftut, und sich auf eine sonderbare Weise auftun als ein Wort an uns, dass man an der Befindung und dem Ergebnis verbleiben muss“. Warum sollten wir denn auch nicht mit diesem Zweck absichtlich die Bibel 26 Antonius Driessen: Vraagstuk voorgestelt aan de protestantse kerk over zekere wijze van goddelijke openbaring, vergezelt met warelijk mirakuleuze omstandigheden, waaruit blijken zou dat de Geest der Prophetie en der Wonderwerkken ook in deze dagen zij in de Hervormde Kerk bij derzelve Regtzinnige Belijderen, in tegenstelling en ter beschaming van gewaande prophetie en enthusiastische geestdrijverij, ook in dezen tijd [. . .]. Groningen 1743.
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aufschlagen? Heißt das Gott versuchen? Verbietet möglicher Missbrauch den schicklichen Gebrauch? Dürfte man das gebetliche Nachschlagen der Bibel in der Hoffnung auf einen göttlichen Zufallstreffer gleichsetzen mit den heidnischen Orakelmethoden oder ‚virgilianischen Losungen‘, entweder mit falschen Prophezeiungen oder anderen Formen des Enthusiasmus, die auch im Protestantismus umgingen? Selbstverständlich versuchte der reformierte Theologe seine Stellungnahme mit biblischen Beispielen zu untermauern. Er führte fünf Schriftstellen an. Aus dem Alten Testament nennt er die Geschichten über Elieser, der von Gott ein Zeichen begehrte, um eine Frau für Isaac zu finden (Gen 24, 12), über Jonathan und seine Waffenträger, die im Streit gegen die Philister auf ein Zeichen hin sich verständigten (1Sam 14, 10), und besonders über die Beratung von König Josia mit der Prophetin Hulda nach dem Fund des Gesetzbuches im Tempel (2Kon 22 und 2Chron 34, 15 u. 19). Aus dem Neuen Testament wurde verwiesen auf Philippus und den Kämmerer, der ‚zufälligerweise‘ die Jesajarolle las (Apg 8, 27), und natürlich auf das Auftreten Jesu in der Synagoge (Luk 4, 17). Nach Driessen sollte aber die Aufgabe nicht von Schriftstellen, sondern von facta entschieden werden, das heißt von historischen Beispielen. Dementsprechend viele Seiten füllte er mit Erfahrungen der anonymen Prophetin. Intellektuelle Antworten Die Abhandlung von Driessen wurde rasch von verschiedenen Seiten angegriffen. Auf die Sache der ‚Buchlosungen‘ wurde von einem anonymen Juristen reagiert, vielleicht der Groninger Bürgermeister Paulus Laman (1668– 1747).27 Nachdem er die Bibelorakel den heidnischen Wahrsagungen des Altertums gleichgesetzt und die angeführten Schriftstellen als Verdrehungen dargestellt hatte, beschloss er, dass die ‚Bibellosungswünschlerei‘ unerlaubt sei. Zwar erkannte er, „dass die göttliche Vorsehung darin spielt, wenn wir unseres Vorhaben und ohne einiger Absicht, unversehens etwas aus Gottes Wort antreffen zu unserer Ermahnung, Bestrafung oder Vertröstung“, aber als zielgerichtete Praktik tauge die Bibliomantie nicht. Sie war außerdem schädlich für die Seele, für die Kirche und für den Staat. Schwachgläubige konnten dadurch irregeführt oder zur Verzweiflung getrieben werden, während Gottlose und Scheinchristen sich als solche bestätigt fühlen könnten. Der Kirche drohe die Gefahr einer neuen Offenbarung außerhalb der Bibel. In der
27 Anon.: Anleydinge tot verdere Gedaghten over de Lot-Profetien en Boeklotterien, meede dienen kunnende tot Antwoordt op het Vraaghstuk Van den Heer Professor A. Driessen, an de Protestantsche Kerk voorgestelt: oover zeekere wyze van Goddelyke Openbaringe &c. &c. Door een Student in de Goddelyke en Kerkelyke Regtgeleertheidt. Groningen 1743.
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Bürgergemeinschaft sollten „politische Rätsel und Träume“ nicht bestimmend werden für die Obrigkeitspolitik. Neben diesem Juristen verwahrten sich auch einige ehemalige Schüler Driessens, mittlerweile als Pfarrer im Groninger Land angestellt, gegen das Plädoyer ihres Lehrers für besondere Offenbarungen. Sie schämten sich stellvertretend für die „kabbalistischen Zaubereien“, mit denen der Professor sich gegenüber Katholiken, Juden und Gelehrten lächerlich machte. Driessen selbst hat sich noch in einigen Schriften verteidigt, wobei er bei historischen Autoritäten Unterstützung suchte. Auch übersetzte er die Visionen einer polnischen Prophetin aus dem frühen 17. Jahrhundert. Letztlich distanzierten sich die Groninger theologische Fakultät und die Reformierte Synode von seinen Ansichten. Da die Diskussion mittlerweile von den Bibelorakeln zum weiten Feld der Träume, Visionen, Wunder und Prophetien abgewichen war, brauchen wir hier darauf nicht weiter einzugehen. Die Diskussion platziert sich im Rahmen der zunehmenden Spannungen zwischen populärer Frömmigkeit und ‚aufgeklärter‘ Religiosität in der niederländischen Republik und Kirche des 18. Jahrhunderts.28 Driessens Anliegen war eine von persönlichen Einflüssen bestimmte Ausnahme im Denken der theologischen und kirchlichen Oberschicht seiner Zeit. Die meisten Intellektuellen sollen die Bibliomantie zur Welt des Aberglaubens gerechnet haben, wie beispielsweise der friesische Dorfpfarrer Hobbo Lemke in einer Abhandlung zu Wahrsagungen, Zaubereien und Spukereien im Jahr 1801. Unter Verweis auf die altgriechischen und altrömischen Losungsorakel führte er die Linien weiter in seine eigene Zeit. „Christen verwendeten dazu die Bibel; und was dann zuerst für Augen kam, wurde als eine göttliche Antwort verstanden. Wie töricht war das! Denn wir finden doch zum Beispiel in der Bibel keine Antwort auf alles, was wir zu wissen wünschen; und wie dunkel, wie unverständlich würden jene Antworte sein; und wo sind die Versprechungen, dass Gott uns in dieser Weise seinen Wille offenbaren wird? Gott hat uns mit Rede und Offenbarung beschenkt; jene müssen wir nutzen, dadurch müssen wir uns führen lassen.“29 Offenbar hatte dieser Ansporn auch ein Jahrhundert nach Balthasar Bekkers Kreuzzug gegen die Magie im Protestantismus noch nichts an Aktualität eingebüßt. Praxis unter Pietisten Wenn Theologen und Geistliche sich des Schreibens über ihre bibliomantischen Praktiken nicht schämten, ja manchmal diesen Umgang mit dem heili28 Een golf van beroering. De omstreden religieuze opwekking in Nederland in het midden van de achttiende eeuw. Hg. v. Joke Spaans. Hilversum 2001, 90–93. 29 Hobbo Lemke: Verhandelingen over 1. waarzeggerijen, 2. duivelsbezweeringen en toverijen, en 3. spookerijen [. . .]. Harlingen 1801, 18 f.
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gen Buch als Divinationsform anerkannten, wie sehr wird dann erst dem einfachen Gläubigen das Däumeln vertraut gewesen sein. Am Anfang erwähnte ich das Bibelorakel einiger Leuten in einer niederländischen Handwerkerfamilie. Es würde nicht schwierig sein, dieses Beispiel mit vielen anderen aus niederländischen Quellen, nicht nur des 17. und 18., sondern auch des 19. und 20. Jahrhunderts, zu ergänzen. Es soll kein Zufall sein, dass viele Zeugnisse sich in Tagebüchern, Autobiographien und Briefen finden lassen, also in privaten Egodokumenten, denen Menschen solche persönliche Erfahrungen der Bibliomantie anvertrauten. Was für das niederländische Reformiertentum galt, galt natürlich auch für andere Konfessionen und Gebiete bis hin zu den Missionsfeldern in der Dritten Welt.30 Sobald die Grenze zwischen privater und öffentlicher Frömmigkeit überschritten wurde, stand auch die Grenze zwischen Magie oder Aberglauben und Religion oder Theologie in Frage. Eine bekannte Geschichte einer lutherischen „protestantischen Heiligen“ liefert das Leben der „Württembergischen Tabea“, Beata Sturm. Ihr Biograph, Georg Konrad Richter, Professor und Pfarrer in Stuttgart, erzählt, dass ihr ein bestimmter Bibeltext „unter den Daumen“ kam. Jedoch durfte ein solches Detail nicht ohne Kommentar unter die Augen frommer Leser kommen. Rieger fügte eine vielsagende Bemerkung über Beates Bibliomantie hinzu: „Sie gebrauchte sie dieser Weise nicht abergläubisch, noch leichtsinnig, sondern bedächtig, selten, und nur in den wichtigsten Angelegenheiten“.31 Derartige Überlegungen änderten übrigens nichts daran, dass Beispiele von Bibliomantie in der erbaulichen Literatur diese Praktik lancierten und legitimierten. Im Württemberg des 19. Jahrhunderts war das Däumeln tief im rituellen Repertoire der lutherischen Bevölkerung verankert. Neben der Bibel dienten auch Herrnhuter Losungsbücher und fromme Textbücher zu zauberischen Handlungen. Ein Verlagshaus in Stuttgart lieferte sogar Ziehblätter mit Bibelversen und Ziehkästen für zusammengerollte Zettel mit Sprüchen. In manchen Familien spielte man am Silvesterabend eine Art geistliche Lotterie, um die nahe Zukunft vorherzusagen.32 Derartige Praktiken waren nicht einzigartig für Gebiete, die, wie Württemberg, als vom Pietismus beeinflusst gelten. Ein englisches Folklorebuch von 1875 beschreibt eine Praktik namens „Bible dipping“. Am Neujahrsmorgen öffnete man in einer häuslichen Zeremonie 30 Vgl. Hilding Pleijel: Den lilla Språklådan. Ett särartat gammalt bruk av Bibeln. In: Växjö stifts hembygdskalender 79, 1988, 37–56 (nicht von mir eingesehen); Reimund Kvideland u. Karin Kvideland: Christliches Erzählen in norwegischen Erweckungsbewegungen. In: Volksfrömmigkeit. Referate der Österreichischen Volkskundetagung 1989 in Graz. Hg. v. Hartmut Eberhart [u. a.]. Wien 1990, 219–231; Dagmar Konrad: Missionsbräute. Pietistinnen des 19. Jahrhunderts in der Basler Mission. Münster [u. a.] 2001, 64. 31 Georg Konrad Rieger: Die Würtembergische Tabea, oder das merckwürdige äussere und innere Leben der weyland gottseeligen Jungfrauen Beata Sturmin [. . .]. Stuttgart 1730 (u. ö.). 32 Martin Scharfe: Die Religion des Volkes. Kleine Kultur- und Sozialgeschichte des Pietismus. Gütersloh 1984, 94–97.
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die Bibel, dann wurde das offenfallende Kapitel gelesen im Glauben, dass es die Schicksale der Person oder Familie im angefangenen Jahr enthüllte.33 Historiographischer Dualismus In der wissenschaftlichen Theologie und Kirchengeschichte, die sich im 19. Jahrhundert entwickelten, erscheint die Bibliomantie nicht als Aspekt einer Frömmigkeitspraxis, sondern als Anomalie des Aberglaubens. Die Pietismusforschung liefert dazu ein schönes Beispiel. Bereits im ersten Band seiner Trilogie widmete der Dogmenhistoriker Albrecht Benjamin Ritschl 1880 dem „Däumeln“ einige Aufmerksamkeit, dem „Orakelsuchen in der Bibel durch zufälliges Aufschlagen derselben“. Er spricht nur beiläufig davon, als er die Werke von Johann Heinrich Jung-Stilling aus dem späten 18. Jahrhundert behandelt. Ritschl bezeichnet Gebetserhörungen als Liebhaberei von Pietisten mit dem Anspruch, eine exklusive Beziehung mit Gott auszuweisen. Er sagt aber nicht, wann dieser Gebrauch aufgekommen war und ob er eine pietistische Herkunft hatte.34 Nach vier Jahren griff Ritschl im zweiten Band seiner Geschichte des Pietismus ausführlich und wohlinformiert auf die Thematik zurück. Jetzt gab ihm der Hauptvertreter der Bewegung, Philipp Jakob Spener, mit seinen bibliomantischen Erfahrungen dazu Anlass. Ritschl konnte nun aber ältere Beispiele hervorbringen. Er skizzierte eine Linie von Homeros und Vergilius via Augustinus, Franciscus und Petrarca zu Spener, also vom klassischen Altertum, Mittelalter und Humanismus, über die Bruchstelle der Reformation, bis zum Pietismus. Diese Vorstellung unterstützte Ritschls Wertung des Pietismus als eine römisch-katholische, mystische, ja abergläubische Abweichung, die im Protestantismus der Aufklärung vorhergegangen war.35 In maßgeblichen Nachschlagewerken der Religion fehlen Artikel zur Bibliomantie.36 Aber das Handbuch des Deutschen Aberglaubens, erschienen ab 1927, liefert ein ausführliches Kapitel zur Bibel mit einem sehr informativen Sublemma zum Bibelorakel, verfasst von dem Theologen Oskar Rühle.37 Auch er beginnt bei den heidnischen Losorakeln im Altertum und verfolgt die Biblio33
T. F. Thiselton Dyer: British Popular Customs. London 1876, 5. Albrecht Ritschl: Geschichte des Pietismus in der lutherischen Kirche des 17. und 18. Jahrhunderts. Bd. 1. Bonn 1880, 529 f. 35 Albrecht Ritschl: Geschichte des Pietismus in der lutherischen Kirche des 17. und 18. Jahrhunderts. Bd. 2. Bonn 1884, 160–163. Im letzten Band seiner Trilogie nennt Ritschl noch den Württemberger Pietisten Karl Friederich Hartmann (1743–1815), der seinen Tagebüchern nach däumelte, um seine Heilsgewissheit zu prüfen; vgl. Albrecht Ritschl: Geschichte des Pietismus in der lutherischen Kirche des 17. und 18. Jahrhunderts. Bd. 3. Bonn 1886, 155. 36 Wie in den alten und neuen Reihen von RGG, TRE, Dictionnaire de la spiritualité. 37 Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens 1, 1927, Art. „Bibel“, 1208–1219 (Punkt 6 zu „Bibelorakel“, 1215–1218). Das Lemma „Bibel“ mit der Verweisung nach „Bibliomantie“ im Enzyklopädie des Märchens 2, 1977, 281–283, ist hauptsächlich auf dem HDA-Artikel basiert. 34
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mantie im Christentum. Er behandelt diese als ein universales religiöses Phänomen, das trotz kirchlicher Kritiken tief in die Volkskultur eingedrungen war. Er verweist auch auf die Popularität des Däumelns in pietistischen Kreisen um Gottes Willen zu erforschen und die Heilsgewissheit zu erproben.38 Auffallend ist die Mühe, die Rühle sich gibt, um den Unterschied zwischen Däumeln und Losen zu betonen. „Die täglichen Losungen der Herrnhuter als abgeklärte Formen des Bibelorakels zu sehen, geht zu weit“, schrieb er. „Schließlich muss nicht jede gute, christliche Sitte auf einen alten Aberglauben zurückgeführt werden“.39 Schlussfolgerung Seit Ritschl hat die Pietismusforschung dem materiellen Gebrauch der Bibel keine Aufmerksamkeit mehr geschenkt. Überlegungen zur Funktion des Bibellesens konzentrierten sich auf den Umgang mit dem Inhalt von Gottes Wort. Dieser Umgang wird im Pietismus bestimmt von einer verbalen oder sogar mechanischen Inspirationslehre. Wichtiger noch ist die Unterscheidung zwischen dem wörtlichen und dem geistlichen Sinn der Schrift. In der Mitte der pietistischen Glaubenserfahrung und Frömmigkeitspraxis steht das innerliche Zeugnis des Heiligen Geistes. Die Schrift wird aufgenommen als ein toter Buchstabe, der in der Seele zum Leben gebracht werden soll. Der Bibeltext sollte so verinnerlicht und vergeistlicht werden, dass der philologische oder historische Kontext eigentlich nicht mehr relevant war.40 Zugleich spielte im Pietismus die Bibel eine vorherrschende Rolle für die Erfahrung und Versprachlichung des Glaubens, für die Deutung des Weltgeschehens und die Normierung oder Legitimierung des alltäglichen Handelns. Für „den“ Pietisten ist ja die biblische Offenbarung funktional in einem offenen, übernatürlichen Weltbild. Gleichwie im Zeitalter der Bibel konnte Gott nach ihren Daseinsvorstellungen in den Alltag und in die persönlichen Glaubens- und Lebenserfahrung direkt eingreifen. Pietisten erzählten gern über merkwürdige Vorsehungen, wie wunderliche Ereignisse und auch das „Empfangen von Bibeltexten“ als Formen der besonderen Offenbarung. Gerade in diesem Zusammenhang findet auch der magische Umgang mit dem heiligen Buch als „Verdinglichung“ von Gottes Wortes ihren Platz.41 Darum verdient 38
Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens 1, 1927, 1217 f. Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens 1, 1927, 1217. 40 Vgl. Pietismus und Bibel. Hg. v. Kurt Aland. Witten 1970; Dale W. Brown: Understanding Pietism. Grand Rapids 1978, 64–82; Stephan Holthaus: Fundamentalismus in Deutschland: der Kampf um die Bibel im Protestantismus des 19. und 20. Jahrhundert. Bonn 1993. Vgl. Fred A. van Lieburg: Het piëtisme en de bijbel: vroeger en nu. In: Theologia Reformata 45, 2002, 145–158. 41 Scharfe [s. Anm. 32], 94; Fred van Lieburg: De vuurvaste bijbel. Orale cultuur, materiële religie en de Heilige Schrift. In: Radix. Gereformeerd wetenschappelijk tijdschrift 28, 2002, 317– 328. 39
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auch das Studium der so genannten materiellen Religion oder des materiellen Christentums eine substantielle Integration in die Pietismusforschung, wobei selbstverständlich die Voraussetzungen der Kultur und damit der Theologie der Frühen Neuzeit spezifische Aufmerksamkeit beanspruchen.42 Dem Marburger Ethnologen Martin Scharfe gebührt die Ehre, mit seinem Buch Die Religion des Volkes 1984 den Anstoß zu einer historischen Anthropologie des Pietismus gegeben zu haben. Er plädierte für eine kulturwissenschaftliche Annäherung an die so genannte „pietistische[n] Konstruktion der Wirklichkeit“.43 Doch ließ die anthropologische Wende in der Pietismusforschung bis zum Jahre 2005 auf sich warten, wenn wir die Themenstellung des II. Internationalen Kongresses für Pietismusforschung in Halle als diese Wendung betrachten können. Jetzt gibt es verschiedene junge ForscherInnen, wie in Deutschland Miriam Rieger, Shirley Brückner und Tanja Täubner, die den Pietismus über Praktiken und Materialitäten wie Meditation, Konventikelbildung, Divination, Gespenster und so weiter zu fassen versuchen. 2004 brachte der letzte Teil der neuen Geschichte des Pietismus, mehr als ein Jahrhundert nach Ritschl, das Däumeln wieder zur Sprache im Kapitel zur „pietistischen Eigenkultur und Traditionsbildung“.44 Auch wenn man, dank des Sachregisters, keine Bibliomantie braucht um diese Stelle zu finden, erscheint es doch als ein günstiges Vorzeichen für eine kommende Kulturgeschichte des Pietismus. Nachbemerkung Neben Bibliomantie gibt es unter anderem Nekromantie. Weissagung durch Bücher können Pietisten lieben, Kommunikation mit Gespenstern nicht. Im letzten Band dieses Jahrbuchs erschien eine „Warnung vor einem Phantom“ von meinem verehrten Mitherausgeber Johannes Wallmann. In seiner Miszelle kritisiert er hauptsächlich einen 2007 in PuN erschienenen Beitrag des niederländischen Pietismusforschers Jan van de Kamp. Als „Vorbemerkung“ geht er aber auf meinen historiographischen Artikel im vorhergehenden Band 37 von 2011 ein. Er fühlte sich durch meine „eklatante Fehlinformation“ zu einer Reaktion gezwungen, nicht durch meine von ihm abweichende Meinung (PuN 37, 244 f.). Bevor ich dazu etwas sagen möchte, betone ich, dass
42 Vgl. Colleen MacDannell: Material Christianity religion and popular culture in America. New Haven, Conn. 1995; Materieel christendom. religie en materiële cultuur in West-Europa. Hg. v. Arie L. Molendijk. Hilversum 2003. Für die allgemeinen Rahmenbedingungen s. z. B. Richard van Dülmen: Kultur und Alltag in der frühen Neuzeit. 3. Bd.: Religion, Magie, Aufklärung, 16.-18. Jahrhundert. München 1994. 43 Scharfe [s. Anm. 32]. 44 Manfred Jakubowski-Tiessen: Eigenkultur und Traditionsbildung. In: Geschichte des Pietismus. Bd. 4: Glaubenswelt und Lebenswelten. Hg. v. Hartmut Lehmann. Göttingen 2004, 200.
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van de Kamp und ich ganz unabhängig voneinander arbeiten. Die zwei im Kommentar vereinigten Artikel haben gar nichts miteinander zu tun. Auch soll erwähnt werden, dass van de Kamp ein Promotus von Professor Willem Jan op ’t Hof ist, es aber ein Irrtum ist, op ’t Hof meinen „Lehrer“ zu nennen (PuN 37, 242). Aus dem angeführten Artikel ergibt sich klar, dass ich ein Schüler der Historiker Arie van Deursen und Willem Frijhoff bin. Ich freue mich über Wallmanns Wertschätzung meines Aufsatzes als Einleitung in die für Ausländer schwer zu verstehende niederländische Kirchengeschichtsforschung und dabei nicht zuletzt in die Frömmigkeitsbestrebungen, die unter den Bezeichnungen „reformierter Pietismus“ oder „Nadere Reformatie“ Bekanntheit erworben haben. „Man bekommt“, so Wallmann, „anschaulich zu Gesicht, wie eng angelehnt an bestimmte kirchliche Gruppierungen Pietismusforschung in den Niederlanden betrieben wird, sehr viel anders als bei uns in Deutschland.“ (PuN 37, 244) Genau diese Mischung von historischer Wissenschaft und kirchlicher Identitätspolitik hat jedoch dazu geführt, dass die soeben genannten Bezeichnungen allen heuristischen Wert in der kritischen Geschichtsforschung verloren haben. Von daher kommt mein Anliegen, lieber auf diese Bezeichnungen zu verzichten und ungehindert von schweren historiographischen (Miss-)Konstruktionen und (Schein-)Debatten die Frömmigkeitsbestrebungen selbst in ihren vielgestaltigen Kontexten auszuwerten. Es handelt sich hier insofern nicht um einen Vorschlag an die (niederländische) Pietismusforschung, als ich nicht die Illusion habe, diese eingebürgerten Bezeichnungen könnten einfach aus dem Diskurs entfernt werden. Es mag aber für die (deutsche) Pietismusforschung eine gute Übung in Selbstkritik sein, die Funktion der Kernbegriffe immer wieder zu prüfen und den möglichen Einfluss moderner religiöser Agenden auf das Verständnis des (früh)neuzeitlichen Protestantismus zu reflektieren. Wallmann fürchtet, dass ich mich mit dem Verzicht auf die Bezeichnung „Nadere Reformatie“ in der niederländischen Kirchengeschichtswissenschaft isoliere. Die Sachlage ist aber, dass die Kirchenhistoriker oder Theologen die sich in den Niederlanden mit so etwas wie dem Pietismus beschäftigen, an einer Hand abzuzählen sind. Die meisten Studien zum religiösen und kirchlichen Leben des 17. und 18. Jahrhunderts werden von ‚Profanhistorikern‘ oder Vertretern anderer Disziplinen verfasst. Diese Historiker kümmern sich gar nicht um die Begriffsdebatten einiger deutscher Pietismusforscher. Nur aus praktischen Gründen werden vertraute Bezeichnungen wie „Pietismus“ und „Nadere Reformatie“ sozusagen mit Gänsefüßchen verwendet, nicht aus theoretischen Überlegungen oder definitionsbezogen Motiven. Eine Absonderung bedroht vielmehr op ’t Hof und van de Kamp, die ausdrücklich und radikal an der Schematik dieser Bezeichnungen festhalten. Nun dann der Satz aus meiner Feder, der Wallmann so „schmerzlich“ getroffen hat. Es handelt sich um seine Unterscheidung von Pietismus im weiteren und im engeren Sinn, wobei der weitere Sinn spezifisch mit dem Adjektiv „pietistisch“ und nicht mit dem Substantiv „Pietismus“ bezeichnet werden 313 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559116 — ISBN E-Book: 9783647559117
soll. Mit Blick auf die weitere Pietismusforschung wagte ich folgende Bemerkung zu diesem von Wallmann bereits 1970/1974 geäußerten Vorschlag zur Auflösung der Definitionsprobleme. „Diese Subtilität hilft der Forschung nicht weiter, wie Lehmann überzeugend dargestellt hat.“ Wallmann sei zugestanden, dass sein Vorschlag während drei, vier Dekaden dem Durchdenken der von älteren Pietismusforschern (Goebel, Heppe und Ritschl) aufgeworfenen Gesamtbezeichnungen gedient hat. Der Historiker Hartmut Lehmann schrieb noch 2003, dass diese „nützliche Distinktion“ für ihn und andere „durchaus eine nicht unerhebliche Erklärungskraft“ besaß (vgl. Lehmann, in: PuN 29, 2003, 23). Am Schluss desselben Artikels wies Lehmann aber die Doppeldefinition klar zurück und schlug vor, mit Pietismus nur die 1670 von Spener initiierte Bewegung zu bezeichnen (33, 35). Mit meiner Erwähnung der überzeugenden Darstellung von Lehmann zielte ich auf seinen ganzen Aufsatz, namentlich auf die Schlussbemerkungen. Vielleicht hätte ich das deutlicher in einer Anmerkung referieren müssen, um Wallmann nicht in die Irre zu führen. Meine Nachbemerkung zielt hier übrigens nicht nur auf eine Antwort an meinen wegen seiner Kenntnisse und Verdienste sehr hochgeachteten Kritiker. Was ich vor allem bedauere, ist eine von Wallmann betriebene, ganz unnötige Polemik zur Pietismusforschung. „Der Streit muss fair geführt werden“, schreibt er auch jetzt. Die jüngere Generation interessiert dieser Streit wenig. PuN bietet ein Podium, wo Forscher ihre Ideen präsentieren und debattieren können, ohne Polemik und unnötigen Streit. Das wäre ein Gewinn für die Pietismusforschung, der Herr Wallmann so außerordentlich beeindruckend verpflichtet ist.
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REZENSIONEN
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Heinrich Holze: Die Kirchen des Nordens in der Neuzeit (16. bis 20. Jahrhundert). Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2011 (Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen III/11). – 291 S.; Ill., Kt. Dieses Buch präsentiert die Kirchengeschichte des Nordens von der Reformation bis zur Gegenwart. Der Autor folgt dabei der Entwicklung von Land zu Land durch verschiedene Epochen. Wie auch in den anderen Bänden der Reihe enthalten die Anmerkungen Hinweise zu Material und weiterer Literatur, auf die der Verfasser seine Darstellung stützt. Der Rostocker Professor Heinrich Holze trägt mit seiner Publikation zu einem Genre bei, das nicht allzu weit entwickelt ist. Im Hinblick auf die skandinavische Kirchengeschichte sind Handbücher über die einzelnen Kirchen in den jeweiligen Ländern eher üblich. Einen klassischen Vorgänger hat Holzes Werk jedoch in dem dänischen Den nordiske kirkes historie (Die Geschichte der nördlichen Kirchen) von J. L. Balling und P. G. Lindhardt von 1979. P. G. Lindhardt hat auch zwei Bücher in deutscher Sprache veröffentlicht: Skandinavische Kirchengeschichte seit dem 16. Jahrhundert (1982) und Kirchengeschichte Skandinaviens (1983). In englischer Sprache verdient Nicholas Hopes German and Scandinavian Protestantism, 1700–1918 (1995) eine beson