Geschichte und politischer Konsens: Übergänge der Nachkriegszeit (1945–1955) [1 ed.] 9783428545728, 9783428145720

Der Band analysiert vergleichend die verschiedenen Phasen der Nachkriegszeit in Italien, Frankreich, Österreich und Deut

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Geschichte und politischer Konsens: Übergänge der Nachkriegszeit (1945–1955) [1 ed.]
 9783428545728, 9783428145720

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Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient Band 28

Geschichte und politischer Konsens Übergänge der Nachkriegszeit (1945-1955)

Herausgegeben von Maurizio Cau

Duncker & Humblot  ·  Berlin

MAURIZIO CAU/GÜNTHER PALLAVER (Hrsg.)

Geschichte und politischer Konsens

Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient Band 28

Geschichte und politischer Konsens Übergänge der Nachkriegszeit (1945-1955)

Herausgegeben von Maurizio Cau Günther Pallaver

Duncker & Humblot  ·  Berlin

Italienische Ausgabe Il peso della storia nella costruzione dello spazio politico. Italia, Germania, Francia e Austria nel secondo dopoguerra (Annali dell’Istituto storico italo-germanico in Trento. Quaderni, 90), Bologna 2013

Übersetzung: Werner Menapace

Die vorliegende Publikation wurde unterstützt durch die Autonome Provinz Trient und die Fondazione Cassa di Risparmio di Trento e Rovereto.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2014 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Druck: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH, Wustermark Printed in Germany ISSN 0939-0960 ISBN 978-3-428-14572-0 (Print) ISBN 978-3-428-54572-8 (E-Book) ISBN 978-3-428-84572-9 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die vorliegende Publikation vereint die Ergebnisse des Forschungsprojekts „Il peso della storia nella gestione del consenso politico. Il passaggio del secondo dopoguerra (1945-1955)“ [„Die Bedeutung der Geschichte für die Herstellung von politischem Konsens. Übergänge der Nachkriegszeit (19451955)“], das vom Italienisch-Deutschen Historischen Institut der Fondazione Bruno Kessler in Trient in Zusammenarbeit mit dem Dipartimento di Politica, Istituzioni, Storia der Universität Bologna sowie mit dem Institut für Politikwissenschaft der Universität Innsbruck durchgeführt wurde. Die Untersuchung war darauf ausgerichtet, die verschiedenen Phasen der Nachkriegszeit zu analysieren, um festzustellen, welches Gewicht die Geschichte im Rahmen der politischen Transformationsprozesse gehabt hat. Die Forschungsarbeit hat sich dabei auf drei verschiedene Themenfelder konzentriert: auf die Herausbildung neuer Verfassungskulturen und Verfassungsstrukturen in Italien und in Deutschland, auf den politischen Wandel von der Mitte der 40er bis zum Ende der 50er Jahre in Italien und in Frankreich sowie auf die Rekonstruktion der nationalen Identität in Österreich. Der jeweilige Analysekontext präsentiert sich zwar verschieden, aber gerade dieser Umstand hat es erlaubt, die Gesetzmäßigkeiten politischer Prozesse vergleichend zu analysieren. Dadurch konnte das Spannungsverhältnis zwischen komplexen politischen Übergängen und gesellschaftlichen Kulturen, die von der Geschichte unterschiedlich beeinflusst worden waren, herausgearbeitet werden. Ergänzend dazu kann auf die Fähigkeiten der politischen Klassen verwiesen werden, kulturelle Ressourcen einzusetzen, um neue institutionelle Wege zu beschreiten, diese aber auch zu legitimieren. In allen vier Ländern, die untersucht worden sind, gab es ein großes Bedürfnis nach „Geschichte“, die sich verdichtet in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts abgespielt hat. Diese Geschichte wurde nach 1945 zum Teil sehr kritisch bewertet, auch scharf verurteilt, wie dies für die faschistische und nationalsozialistische Gewaltherrschaft gilt, aber auch für historische Phasen, welche diesen autokratischen Systemen vorausgegangen sind. In allen in Betracht gezogenen Fällen sah man sich mit der Notwendigkeit konfrontiert, sich mit historischen Übergängen auseinanderzusetzen, die von der Reaktion auf die Verabsolutierung verfassungsrechtlicher Prinzipien gekennzeichnet waren. Dabei handelt es sich um eine historische Dimension, die ihre Wurzeln in der Debatte über die Krise des ausgehenden 19. Jahrhun-

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Vorwort

derts findet und die in ihrer Bewertung sehr stark von WissenschaftlerInnen im Allgemeinen, von JuristInnen im Besonderen, aber auch von PolitikerInnen geprägt worden war. Insgesamt haben die Analysen die besondere Rolle unter Beweis gestellt, welche einige spezifische Wissens- und Wissenschaftskulturen, insbesondere aus dem Bereich der Rechts- und Politikwissenschaft, bei der Rekonstruktion einer neuen politischen Sphäre der Nachkriegszeit eingenommen haben. Große Aufmerksamkeit ist den Kontinuitäten gewidmet worden, die – von einer kulturellen Sichtweise aus betrachtet – die Evolution der politischen Geschichte Nachkriegseuropas gekennzeichnet haben. In der vorliegenden Arbeit ist deshalb die komparative Methode angewandt worden, um einige zentralen Phänomene der unterschiedlichen politischen Übergänge in den vier Fallbeispielen herauszuarbeiten und zu vergleichen. Dabei wird unter anderem ersichtlich, dass die europäische Nachkriegsgeschichte eine Geschichte ist, die von der schrittweisen Überwindung des nationalstaatlichen Paradigmas gekennzeichnet ist. Dieser Paradigmenwechsel hängt ganz stark mit den (negativen) Erfahrungen der Zwischenkriegszeit und ihren Folgen zusammen. Die Ergebnisse der Untersuchungen sind in mehreren Zwischenschritten anlässlich von öffentlichen Seminaren und Tagungen diskutiert worden, an denen zahlreiche WissenschaftlerInnen beteiligt waren. Ihnen gilt unser Dank für die wertvollen Hinweise, mit denen die kontextuelle Einbettung des Projekts verbessert werden konnte. Unser Dank geht an Luigi Lacchè, Gilles Le Béguac, Mario Caciagli, Mauro Gervasoni, Christoph Kühberger und Sebastian Ullrich für ihre Bereitschaft, an den einzelnen Treffen teilzunehmen, wie überhaupt für ihr Interesse, das sie dem Projekt entgegengebracht haben. Paolo Pombeni hat die thematische Rahmung abgesteckt, um die herum sich das Projekt strukturiert hat. Auch ihm gilt unsere mit Dank verbundene Wertschätzung. Die Untersuchung wäre ohne die finanzielle Unterstützung der Fondazione Caritro nicht möglich gewesen, der wir ebenfalls unseren Dank aussprechen. Ein großer Dank geht schließlich an die Abteilung, die für die Publikationen der Fondazione Bruno Kessler zuständig ist, namentlich an Chiara Zanoni Zorzi, Friederike Oursin und Adalberta Bragagna. Maurizio Cau und Günther Pallaver

Inhaltsverzeichnis Paolo Pombeni Der Stellenwert der Geschichte bei der Bildung des Verfassungskonsenses nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Maurizio Cau Der Einfluss der Geschichte auf die deutsche und italienische Verfassungskultur nach dem Zweiten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . .

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Michele Marchi Der Einfluss der Geschichte bei der Gestaltung der Nachkriegszeit in Italien und Frankreich 1945-1955 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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David M. Wineroither Vom Konflikt zum Konsens: Die Evolution des Konzepts der Konkordanz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Günther Pallaver Geschichte als Handlungsoption. Ein vergleichendes Resümee. . Verzeichnis der Autoren .

. . . 141

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159

Der Stellenwert der Geschichte bei der Bildung des Verfassungskonsenses nach 1945* Von Paolo Pombeni

Die Moderne war eine Zeit der Umbrüche und Veränderungen, die alle für sich in Anspruch nehmen können, eine historische Zäsur bedeutet zu haben. Sie beginnt bekanntlich mit der Französischen Revolution, die den Bruch mit dem Ancien Régime verkündet, sie vollendet sich im Zeitalter Napoleons, das Manzoni in der berühmten Ode „Il cinque Maggio“1 als Epoche zweier Jahrhunderte darstellte, „l’uno contro l’altro armato“ (bei Goethe ähnlich „gespaltene Welt / Bewaffnet gegeneinander“), dann kamen der Sturm von 1848, die Krise am Ende des Jahrhunderts, das Trauma des Ersten Weltkriegs und schließlich das Zeitalter der Großen Diktaturen. Die Phase nach 1945 wurde wiederum als Ergebnis einer großen Veränderung präsentiert, einer „Neuordnung“, wenn man so will. Das Vorhaben, wieder Ordnung in die Welt zu bringen, war natürlich nichts Neues und hatte stets einen stark politisch-institutionellen Gehalt gehabt, da man inzwischen nicht mehr von einer religiöse Homogenisierung sprechen konnte. Man braucht hier nur an zwei Eckpfeiler dieser Dynamik zu erinnern, den Wiener Kongress und jenen von Versailles. Ersterer wollte die Welt neu ordnen und dabei die politische Ordnung der Restauration durchsetzen. Diese war durchaus keine Negation des Konstitutionalismus, wie eine vor Kurzem erschienene, von Werner Daum koordinierte, beeindruckende Untersuchung gezeigt hat2, sondern agierte im Sinne einer „pluralen“ – würde man heute sagen – Neuinterpretation des von der Aufklärung hinterlassenen Konstitutionalismus. Der zweite Eckpfeilerhabe, wie Carl Schmitt, der auf den Friedensvertrag mit der Türkei verwies, polemisch geschrieben hat, eine Welt errichten wollen, die auf den Grundsätzen des modernen Konstitutionalismus angloamerikanischen Stils gründete, wie man auch in der Pseudo-Abschaffung der Kolonien und im Urteil über das besiegte Deutschland gesehen hat. *

Aus dem Italienischen von Werner Menapace. Der fünfte Mai (Ode von Alexander Manzoni), ins Deutsche übertragen von J.W. Goethe (a.d.R.). 2 W. Daum (Hrsg.), Handbuch der europäischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert, Bd. 2: 1815-1847, Bonn 2012. 1

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Ein Historiker kann nicht umhin, darauf hinzuweisen, dass im einen wie im anderen Fall die Geschichte als Bezugspunkt der zur Diskussion stehenden politischen Konstruktionen bedenkenlos aus dem Blickfeld gestrichen wurde. Bekanntermaßen hütete sich die sogenannte „Restauration“ sehr wohl davor, den status quo ante wieder herzustellen: Schon Ende der Dreißigerjahre erinnerte Guglielmo Ferrero an den offenkundigen Fall der Republik Venedig, die zunächst von Napoleon ausgelöscht wurde, ohne dass sie überhaupt mit Frankreich im Krieg war, und dann nicht mehr wieder errichtet wurde3. Was Versailles betrifft, kann man ebenfalls schwerlich von einer Neuordnung der Weltkarte sprechen, die in irgendeiner Weise der Geschichte Rechnung trug. Vielleicht hatte man eine mythische Vorstellung von der Vergangenheit, wie bei der Neuordnung Mitteleuropas, die zum Teil auf den Überlegungen Seton-Watsons über die geschichtslosen Nationen gründete, doch recht viel weiter ging man darüber nicht hinaus4. Es wäre wenig verwunderlich, wenn wir alles auf die Herrschaft der Vernunft über die Tradition reduzieren wollten, was zweifellos ein Kennzeichen der fortgeschrittenen Moderne war. Allerdings gibt es zwischen Geschichte und Tradition nicht wenige Unterschiede, weil auch die Geschichte – was auch immer ihre Kritiker denken mögen – eine Form der westlichen Rationalität ist. Sie ist nämlich nicht das Festhalten von Ereignissen der Vergangenheit und das bloße Aufzeigen, dass deren Auswirkungen auf die Gegenwart andauern oder nicht. Die Geschichte ist eine Interpretation der Vergangenheit, die zu einem Instrument für das Verständnis der Gegenwart und vor allem für die zukunftsorientierte Ausrichtung des Handelns geworden ist. Damit wird nicht geleugnet, sondern vielmehr bekräftigt, dass die Geschichte ein plurales Faktum ist: Es gibt mehr als eine, und jede hat ihre Eigenheiten und ihre Wirkungen bei den einzelnen Akteuren, die sich ihrer bedienen. Für die vorliegende Untersuchung, deren Ergebnisse in diesem Band vorgestellt werden, sind einige methodologische Präzisierungen notwendig. Der allgemeine Bereich, in den das Forschungsprojekt fällt, betrifft die Frage des Einflusses, den die „Geschichte“ beim „Wiederaufbau“ nach dem Zweiten Weltkrieg von vier nationalen und politisch-rechtlichen Subjekten hatte, die ein traumatisches Verhältnis zu ihrer jüngeren Vergangenheit verbindet. Drei davon, nämlich Italien, Deutschland und Österreich, sahen in jener Vergangenheit die Ursache dafür, dass sie nicht nur im Krieg besiegte Länder waren, sondern Länder, die beim Wiederaufbau ihres verfassungsmäßigen und – im weiteren Sinne – politischen Gefüges nicht von der Geschichte der 3 G. Ferrero, Avventura. Bonaparte in Italia (1796-1797), Mailand 1996 (Originalausg. 1936); G. Ferrero, Talleyrand au Congrès de Vienne 1814-1815, Paris 1996 (Originalausg. 1939). 4 M. Macmillan, Parigi 1919. Sei mesi che cambiarono il mondo, Mailand 2006.

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vorausgegangenen zwei Jahrzehnte ausgehen konnten5. Ich möchte hier an einen Sachverhalt erinnern, dem nicht immer genügend Beachtung geschenkt wird. In allen drei Fällen waren die zwei Jahrzehnte nicht zur Gänze ein Zeitabschnitt im Zeichen der Diktatur, da diese in allen drei Fällen eine demokratische Phase aus dem Feld geschlagen hatte, und einer gegenüber dem vorhergehenden Kontext des liberalen Konstitutionalismus tendenziell experimentellen und innovativen Demokratie: in Italien für einen kürzeren Zeitraum (von 1919 bis 1922) und mit einem begrenzten Erneuerungspotenzial (das wichtigste Experiment war die Einführung des Verhältniswahlsystems), in den anderen beiden Ländern für einen deutlich längeren Zeitraum (1919/1933 in Deutschland; 1919/1938 in Österreich, wenngleich man ab 1932 mit dem Dollfuß-Regime von Austrofaschismus sprechen kann) und mit viel weiter gehenden politischen Experimenten, auch wenn es bei den Inhalten keine Übereinstimmung zwischen der Weimarer Republik und der Ersten Österreichischen Republik gab. Und doch wurde, wie man aus den folgenden Aufsätzen ersehen wird, in keinem dieser drei Länder mit besonderem Nachdruck auf jene „demokratischen“ Phasen verwiesen, da ihre Niederlage unter den Schlägen der faschistischen Bewegungen scheinbar genügte, um ihre Bedeutungslosigkeit zu dekretieren oder die Unzulänglichkeit der Ausgestaltungen zu bestätigen, die sie in jener Zeit erfahren hatten. Natürlich gibt es in den drei betrachteten Fällen erhebliche Unterschiede. Für Deutschland war der Bezug auf Weimar, wie wir noch sehen werden, in gewisser Hinsicht unumgänglich, auch wenn sich dieser in Formen äußerte, die im Allgemeinen dazu tendierten, die Schwächen jenes Systems und die Notwendigkeit hervorzuheben, es zu „korrigieren“, wenn man ein demokratisches System begründen wollte, das gegen Handstreiche gefeit war. Für Österreich war das Urteil über die „Erste Republik“ gewöhnlich weniger kritisch. Man überging das Experiment von Dollfuß und flüchtete sich in die Legende, dass die nationalsozialistische Machtergreifung durch äußere 5 Das Thema dieser „Erinnerung“ ist für Österreich und Deutschland ziemlich traumatisch und hat einen endlosen Konflikt hervorgebracht. Für einen Gesamtüberblick über dieses Geschehen, mit weitgehender Angabe der gesamten dazugehörigen Literatur, verweise ich auf J. Wüstenberg / D. Art, Using the Past in the Nazi Successor States from 1945 to the Present, in: Annals of the American Academy of Political and Social Science, 617 (2008), S. 72-87. In diesem Aufsatz befindet sich eine interessante Untersuchung der Unterschiede im Verhältnis zur Vergangenheit zwischen BRD und DDR; auf dieses Thema gehe ich nicht ein, da es in der DDR keine Verfassungsfrage gibt, die mit der hier behandelten vergleichbar ist. Über die Auseinandersetzung Italiens mit seiner Vergangenheit gibt es eine umfangreiche Literatur; stellvertretend für alle zitiere ich F. Focardi, La guerra della memoria. La resistenza nel dibattito politico italiano dal 1945 ad oggi, Rom / Bari 2005; G. De Luna, La Repubblica del dolore. Le memorie di un’Italia divisa, Mailand 2011.

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Ursachen bedingt war; dabei stützte man sich auf die „Moskauer Erklärung“ von 1943, die Österreich als „das erste freie Land, das der Angriffspolitik Hitlers zum Opfer fiel“, bezeichnete. Diese Definition wurde von der österreichischen Unabhängigkeitserklärung des Jahres 1945 wieder aufgenommen; dabei klammerte man aber aus, dass die Moskauer Erklärung in der Folge betont, dass Österreich „für die Teilnahme am Kriege an der Seite HitlerDeutschlands eine Verantwortung trägt“, und man vergaß, wie es heute für die Geschichtsforschung klar ist, dass der Anschluss von 1938 von der Bevölkerung mitgetragen worden war6. Für den italienischen Fall glaube ich sagen zu können, dass es keine echten starken Bezüge auf das Verfassungsexperiment der Zeit von 1919 bis 1922 (oder, in gewisser Hinsicht, 1924) gab, es sei denn für mehr oder weniger rhetorische Verweise auf den Kampf der Parteien gegen den aufkommenden Faschismus und für eine Kritik an der Schwäche des Liberalismus beim Widerstand gegen seine Gewaltanwendung7. Der Einzige, der auf dem Kontinuitätsnexus zwischen dem antifaschistischen Kampf der frühen Zwanzigerjahre und der Wiederbelebung eines Systems beharrte, das auf den aus dem Aventin hervorgegangenen Parteien gründete – wenn auch nicht allzu offensichtlich –, war in gewisser Hinsicht Alcide De Gasperi; er hielt diese Fahne aber nicht wirklich hoch und ließ Raum für eine abweichende Ausrichtung der üblichen historischen Erinnerung (vielleicht auch deshalb, weil er als damaliger Habsburger Untertan nicht persönlich am italienischen liberalen Konstitutionalismus vor 1918 beteiligt war)8. Anders könnte sich der Fall Frankreichs darstellen, da dieses Land, zumindest formell, nicht unter den besiegten Staaten aufgelistet werden konnte, 6 E.E. Burkey, Hitler’s Austria. Popular Sentiment in the Nazi Era, Chapel Hill NC 2000. Über die Schwierigkeiten der österreichischen Regierung, mit einer gewissen Vergangenheit auch tatsächlich abzurechnen, R. Knight, „Ich bin dafür, die Sache in die Länge zu ziehen“: die Wortprotokolle der österreichischen Bundesregierung von 1945 bis 1952 über die Entschädigung der Juden, Frankfurt a.M. 1988. 7 Emblematisch unter diesem Gesichtspunkt ist die Bemerkung Togliattis bei seiner Wortmeldung in der Verfassunggebenden Versammlung am 11. März 1947, als er sich mit folgenden Worten an die Vertreter des historischen Liberalismus (vor allem V.E. Orlando) wandte: „Ich empfinde Respekt, und auch mehr als nur Respekt, für die Menschen, die in diesem Saal sitzen und die den Gruppen angehören, die ein integrierender Bestandteil dieser alten Führungsschicht waren“; dann fügte er jedoch hinzu: „Ihr wart dieser Aufgabe [des Widerstandes gegen den anbrechenden Faschismus] nicht gewachsen und es ist kein Zufall, dass ihr die Akzente nicht gefunden habt, die es damals zu finden galt“. In der ganzen Rede finden sich aber Überlegungen historischer Art; vgl. Atti Assemblea Costitituente. Assemblea Generale, Rom 1947, S. 1992-2005. 8 Ich habe diese Gedanken detailliert dargelegt in: De Gasperi Costituente, in: Quaderni Degasperiani per la storia dell’Italia contemporanea, 1 (2009), S. 55-123.

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obwohl es sogar in der Wahrnehmung eines Großteils seiner Politiker eindeutig ein solcher war. Sein Zusammenbruch unter den ersten Hieben des nationalsozialistischen Deutschland und das Geschehen von Vichy wurden nämlich als Beweis für das historische Scheitern der Dritten Republik interpretiert: ein Scheitern, das übrigens in der leidvollen Geschichte dieses Regimes mehrmals vorausgesagt wurde, sodass sein Zusammenbruch gleichsam als Erfüllung einer Prophezeiung erlebt wurde9. Auch in diesem Fall konnte man sich also nur mit einiger Befangenheit auf die eigene historische Vergangenheit berufen10. Gleichwohl gab es in all diesen Ländern ein starkes Bedürfnis nach „Geschichte“, um einen Wiederaufbau zu rechtfertigen, der sie sonst zur Marginalität verurteilt hätte. Der Diskurs muss natürlich differenziert werden, da „Geschichte“ ein allzu allgemeiner Begriff ist: Er kann ebenso in der Betrachtung einer jüngeren Vergangenheit bestehen, von der man glaubt, sie könne oder müsse Lehren für die Neuordnung der Gegenwart erteilen, wie auch in einem allgemeineren Heranziehen der Geschichtsschreibung als Instrument für die Schaffung langfristiger Legitimationen. In diesem Zusammenhang muss man berücksichtigen, was eine ganze Untersuchungsrichtung zum Thema der Gründung der als „Narration“ verstandenen nationalen Identitäten auf mehr oder weniger willkürlich rekonstruierten Wurzeln hervorgebracht hat11. Man darf nicht vergessen, dass im 19. Jahrhundert nicht nur das italienische und deutsche „Risorgimento“ auf eine erhebliche Mitarbeit der Geschichtsschreibung zählen konnte, sondern dass es Ähnliches auch in Frankreich und Großbritannien gab12. 9 Für einen allgemeinen Überblick über das Problem, J.F. Sirinelli, La France de 1914 à nos jours, Paris 2007. Für eine eingehendere Betrachtung: S. Berstein, La IV République: république nouvelle ou restauration du modèle de la III République?, in: S. Berstein / O. Rudelle (Hrsg.), Le modèle républicain, Paris 1992, S. 357-381; S. Berstein / M. Winock (Hrsg.), La République recommencée, Paris 2004, S. 267338. Sehr lehrreich ist die Geschichte des französischen politischen Katholizismus in dieser Situation: Ich verweise auf die scharfsinnige Abhandlung von M. Marchi, Alla ricerca del cattolicesimo politico. Politica e religione in Francia da Pétain a De Gaulle, Soveria Manelli 2012. 10 Hier ist anzumerken, dass auf Frankreich das Trauma der Niederlage von 1870 und ihrer verhängnisvollen Interpretation (das Scheitern des „modernen Frankreich“ und sein „Niedergang“) lastete; siehe dazu C. Digeon, La crise allemande de la pensée française 1870-1914, Paris 1959, sowie zum Mythos des Niedergangs, das erste Kapitel von V. Nguyen, Aux origines de l’Action Française, Paris 1991. 11 Zu diesem Thema gibt es einen interessanten Exkurs in: H.H. Guntram, Double Vision: Territorial Strategies in the Construction of National Identities in Germany 1949-1979, in: Annals of the Association of American Geographers, 94 (2004), S. 141-144. 12 Während die Forscher mit den ersten drei Fällen vertraut sind, verweise ich für Großbritannien auf das klassische Werk von J. Burrow, A Liberal Descent. Victorian Historians and the English Past, Cambridge 1983.

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Sicher, das mochte für Österreich, das wegen seiner geografischen Ausdehnung nach 1918 anscheinend auf eine internationale Rolle verzichten musste, vielleicht etwas weniger zutreffen. Ich sage anscheinend, denn auch Österreich brauchte eine „historische“ Legitimation für seine Identität, nachdem es die Erfahrung gemacht hatte, dass gerade die Unsicherheiten bezüglich dieser Ausdehnung es im Zeitabschnitt 1918/1938 in eine Krise gestürzt und schließlich in die Arme Hitlers getrieben hatten13. Ein natürlicher Bezug war unweigerlich das Habsburgerreich, doch dieser Verweis warf nicht wenige Probleme auf: Einerseits erinnerte man damit an die „germanische“ Natur jenes Herrscherhauses, andererseits war es nicht gerade ein leuchtendes Beispiel für die Fähigkeit zur Auseinandersetzung mit den Entwicklungen der Spätmoderne zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert (während es die Herausforderungen des 18. Jahrhunderts gut bewältigt hatte). Ich erlaube mir anzumerken, auch wenn ich es nur anschneiden kann, dass Österreich ab 1955, als es seine Souveränität wiedererlangte, aus der Südtirolfrage ein Instrument machte, um sowohl seinen internationalen Status als auch eine nationale Identität mit der spätromantischen Konzeption eines „irredentistischen“ Mythos wiederzufinden – was mit nicht geringen Risiken verbunden war14. Dieses Thema war selbstverständlich für Frankreich sehr relevant, das von Anfang an trotz allem unter den vier Großen bleiben wollte (und de Gaulle kämpfte entschlossen dafür, jenen Status nicht zu verlieren): Der Fall des Kolonialeinsatzes Frankreichs, der tatsächlich emblematisch zunächst für die Vietnamfrage und schließlich für die Algerienfrage ist, muss im Rahmen der nie verhallten Frage der grandeur gesehen werden, die nicht nur ein propagandistisches Gebaren de Gaulles war15. Italien hatte zweifellos objektive Schwierigkeiten, seine alte post-risorgimentale Aspiration aufrechtzuerhalten, „die letzte Großmacht“, wie man damals gesagt hatte, zu sein, doch es wollte den Anspruch auf dieses Vermächtnis nicht aufgeben. Wie bekannt ist, gab es einen Kampf, der aus heutiger Sicht 13 Vgl. P. Thaler, The Ambivalence of Identity. The Austrian Nation-Building in a Modern Society, West Lafayette IN 2001, dort auch eine umfangreiche Bibliografie zu unserem Thema. 14 Zu diesem Thema möchte ich auf zwei Aufsätze von mir verweisen, La storia, le circostanze e le leggi della politica. Qualche considerazione sul saggio di M. Gehler, in: Annali dell’Istituto storico italo-germanico in Trento, 30 (2004), S. 435-460; La storia come peso e come liberazione. Considerazioni sui contesti del rapporto fra Italia, Sudtirolo e Trentino, in: Annali dell’Istituto storico italo germanico in Trento, 32 (2006), S. 201-236. 15 Eine interessante Lektüre zu diesem Thema ist immer noch S. Hoffmann / I. Hoffmann, The Will to ,Grandeur‘: De Gaulle as Political Artist, in: Daedalus, 97 (1968), S. 829-887; siehe auch M. Vaisse, La grandeur: politique étrangère du général De Gaulle 1958-1969, Paris 1998.

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absurd erscheint, um die eine oder andere Kolonie zu behalten16, und man verteidigte hartnäckig den Besitz Südtirols als letzten Beweis für seinen Sieg im Ersten Weltkrieg, während der Kampf um die Ostgrenze sehr viel komplexer war. Zu erwähnen ist, dass selbst die Kommunistische Partei sehr vorsichtig war, was die Infragestellung eines im Land weit verbreiteten nationalistischen Geistes betraf. Besonders schwierig war das Problem natürlich für Deutschland. Physisch dem Erdboden gleichgemacht durch die Strafbombardierungen, von den Alliierten besetzt, der Souveränität beraubt, tat es sich schwer, wieder eine Größe einzufordern, deren Beanspruchung wie eine untragbare Anmaßung erschienen wäre17. Doch wer den Beitrag der deutschen Kultur in den schwierigen Jahren 1946-1950 untersucht hat, der konnte sehen, dass die Vorstellung wieder auflebte, Deutschland müsse weiterhin eine weltweite Mission haben, ob nun auf dem Gebiet der Wissenschaft und der Kultur (und in diesem Sinne spielten die Feiern zu Goethes 200. Geburtstag im Jahr 1949 eine nicht zu unterschätzende Rolle) oder im Traum eines Teils seiner politischen Intelligenz, sich als „Brücke“ zwischen Ost und West zu empfehlen18. Dazu kommt noch die Geltendmachung deutscher Wurzeln im liberalen Konstitutionalismus, so geschehen im Mai 1948 bei der Hundertjahrfeier des Paulskirchenparlaments mit einer sehr engagierten Festrede zur Bekräftigung der symbolischen Bedeutung jenes Ereignisses19. Sicher marginalisierte die Westernisierung in der Zeit Adenauers die kulturelle Komponente, die in Deutschland die „Brücke zwischen Ost und West“ gesehen hatte (einen solchen Ansatz hatte es bereits in der Vergangenheit gegeben – man denke an die „Betrachtungen eines Unpolitischen“ von Thomas Mann –, doch es wäre falsch, ihn unterzubewerten). 16

S. Lorenzini, L’Italia e il trattato di pace del 1947, Bologna 2007. Man darf nicht vergessen, dass Hans Kelsen erklärt hatte, das besetzte und ohne Friedensvertrag dastehende Deutschland könne in rechtlichem Sinn nicht als Staat betrachtet werden. Gegenteiliger Ansicht, und zwar gerade im Namen der historischen Kontinuität, war der Dekan der deutschen Internationalisten, E. Kaufmann, Deutschlands Rechtslage unter der Besatzung, Stuttgart 1948. Die Situation hatte sich mit dem Grundgesetz von 1949 nur zum Teil geändert, da die Bundesrepublik Deutschland seinerzeit weiterhin keine internationale Souveränität hatte. 18 Vgl. A. Ferretti, Un paese vinto alla ricerca della sua legittimazione. Il caso della Germania occidentale nel secondo dopoguerra, in: P. Pombeni (Hrsg.), Crisi, legittimazione, consenso, Bologna 2003, S. 315-356. 19 Mit der Ansprache wurde der Dichter Fritz von Unruh betraut und sie wurde als kleiner Band von der linkskatholischen Zeitschrift „Frankfurter Hefte“ veröffentlicht (natürlich war sie bereits von der gesamten Presse übernommen worden); vgl. F. von Unruh, Rede an die Deutschen, Frankfurt a.M. 1948. Der Titel spielte auf Fichtes „Reden an die deutsche Nation“ an und außerdem gab es einen ausdrücklichen Bezug darauf, dass Deutschland nun in die Spur Europas zurückkehrte, so wie es 1948 gewesen war. 17

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Kurzum, alle vier Länder, um die es in dieser Untersuchung geht, taten sich schwer, ihren Wiederaufbau in eine „Geschichte“ einzubetten, welche diesen legitimierte. Es konnte eine kritisch bewertete und bisweilen stark zensierte Geschichte wie jene der zwanzig Jahre zwischen den beiden Weltkriegen sein, gleichzeitig war es aber auch eine Geschichte, die weiter zurückreichte, auch wenn das Wie-weit-Zurück in allen betrachteten Fällen eine ziemlich komplexe und alles in allem problematische Materie war, wie wir sehen werden. Dieser Wille zum Wiederaufbau bildete stets die Grundlage für die Neuschreibung einer Verfassung in den verschiedenen Ländern. Das stellte an und für sich bereits ein historisches Faktum dar, da man mehr oder weniger bewusst den Grundsatz akzeptierte, dass der ausgereifte Konstitutionalismus das Kennzeichen der politischen Moderne war, aber auch, dass die Verfassung selbst in gewissem Sinne ein Dokument für eine historische Narration war. Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet waren die Situationen keineswegs gleich, wie man aus den hier versammelten Untersuchungen ersehen wird. Die beiden Extremfälle waren Italien und Frankeich. Ersteres hatte eine Verfassung, das „Albertinische Statut“, das aus dem Jahr 1848 stammte und den Faschismus ziemlich unbeschadet überstanden hatte, zumindest auf formaler Ebene20; das zeigte, dass dieses keine Instrumente zur Abwehr der antidemokratischen Angriffe enthielt, es bedeutete andererseits aber auch, dass man dieses wegen ihrer Unbestimmtheit gegebenenfalls auch hätte beibehalten können, indem man das Statut einfach mit Zusatzgesetzen absicherte. An eine solche Möglichkeit dachte kaum jemand, wenn man von Croce und einigen Liberalen vergangener Zeiten absieht, auch weil das Statut vom Faschismus nicht nur in Anbetracht der Machtbesetzung, sondern auch der scharfen Kritik an seiner Glaubwürdigkeit delegitimiert worden war (bekanntlich hatte Mussolini in einer berühmte Rede diejenigen, die sich darauf beriefen, mit den Wächtern des längst leeren Heiligen Grabes verglichen). In Frankreich gab es überhaupt keine Verfassung, da die Verfassungskrise von 1870-1875 dazu geführt hatte, dass allenfalls eine Reihe von „Verfassungsgesetzen“ zustande kamen, die nicht einmal besonders ausgearbeitet waren, und ab dann ist im Grunde nichts mehr geschehen. Deutschland und Österreich hatten dagegen nach 1919 zwei völlig neu angelegte Verfassungen, die sich an den fortschrittlichsten Konstitutionalismus jener Zeit anlehnten. Wenngleich die Weimarer Verfassung und aufgrund einiger Punkte (der bekannteste davon war die Einführung des Verfassungsgerichts auf Anregung Kelsens) auch jene von Österreich des Jahres 1920 als

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Über diese Tradition und Kontinuität, S. Merlini, Il governo costituzionale, in: R. Romanelli (Hrsg.), Storia dello stato italiano, Rom 1995, S. 3-49.

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innovative Beispiele angeführt wurden, dachte niemand daran, dass man sie sic et simpliciter wieder ausgraben könnte. Denn auch sie waren durch ihren Zusammenbruch unter den Hieben des Faschismus verurteilt. Wir werden sehen, dass die „Verfassungsgeschichte“ aller besagten Länder, einschließlich Frankreich, wo es in den Zwanziger- und Dreißigerjahren eine lebhafte Debatte über die Reform des Staates gegeben hatte21, eine Rolle bei der Ausarbeitung der neuen Verfassungen spielte. Eine noch stärkere Rolle spielte die politische Ordnung, die jedes dieser Länder von seiner Geschichte geerbt hatte, und das betrifft einmal die unmittelbarere der Zwischenkriegszeit als auch jene weiter entferntere etwa ab der Restauration. Man muss natürlich vorausschicken, dass es sich, wie bereits angesprochen, um eine Vielzahl von Formen handelt, wenn vom „Einfluss der Geschichte“ in der Zeit des Wiederaufbaus die Rede ist. Ich zähle einige auf, ohne den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Eine erste Form bezieht sich auf die Geschichte als „Kultur“ der Kenntnis der eigenen Vergangenheit. Selbstverständlich handelt es sich nicht um eine sozusagen wissenschaftlichen Kenntnis davon, sondern um die Art und Weise, wie die kulturelle Bildung der Massen, beginnend mit der schulischen, die inzwischen typisch für alle Gesellschaften des 19./20. Jahrhunderts war, ein bestimmtes Bild der eigenen Vergangenheit vermittelt hatte. Typisch in dieser Hinsicht war die Kenntnis über das Risorgimento, die man in Italien hatte. Es war zweifellos eine gespaltene Erinnerung, denn natürlich gab es zwischen der liberalen Kultur, der sozialistischen Kultur und der katholischen Kultur nicht unerhebliche Unterschiede. Zwischendrin aber hatte es gewissermaßen die vom Faschismus beabsichtigte Homogenisierung gegeben. Dieser hatte versucht, wenigstens Teile dieser drei Traditionen in einer synkretistischen Melasse zu vereinigen. Diese allgemein verbreitete Volkskultur hatte es zum Beispiel dem Antifaschismus gestattet, die Resistenza als „zweites Risorgimento“ zu präsentieren22, und sie erklärt, warum die Kommunisten ihre Partisanenformationen nach Garibaldi benannten und nicht nach irgendwelchen Helden aus dem jüngeren sowjetischen Pantheon. Ein anderes Beispiel: In Frankreich spielte nicht nur die Revolution stets eine wichtige Rolle, sondern auch – und das war noch fragwürdiger – das Kaiserreich und Napoleon III. Noch im Londoner Exil hatte Raymond Aron seinen Artikel über de Gaulle in „France Libre“ mit „Der Schatten der Bona-

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P. Rosanvallon, Le modèle politique français. La société civile contre le jacobinisme de 1789 à nos jours, Paris 2004; F. Monnet, Réfaire la République. André Tardieu: une dérive réactionnaire (1876-1945), Paris 1993. 22 C. Pavone, Le idee della resistenza. Antifascisti e fascisti di fronte alla tradizione del Risorgimento, in: ders., Alle origini della Repubblica, Turin 1995, S. 3-69.

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parte“ betitelt23. Man könnte aber genauso vom Erbe der Auseinandersetzung um die Dreyfus-Affäre sprechen. In Österreich und Deutschland gab es die heikle Frage, wie man die jüngeren Traditionen der Republiken, die aus der Asche der im Zweiten Weltkrieg erlittenen Niederlage hervorgegangen waren, betrachten sollte, doch damit rollte man unweigerlich die Problematik wieder auf, wie die Regime beurteilt werden sollten, die zum Ergebnis von 1918 geführt hatten24. Das Ausmaß der Rehabilitierung von Autoren, die auf irgendeine Weise die historische Krise der vor jenem einschneidenden Zeitpunkt bestehenden Regime vorausgesagt hatten, könnte zum Beispiel ein interessanter Indikator für die Bedeutung dieser Art Geschichte sein. Es handelt sich um kulturelle Tendenzen, die inzwischen auch klar und deutlich in die Überlegungen einflossen, die bei politischen Versammlungen, sowohl verfassunggebenden als auch parlamentarischen, angestellt wurden. Daneben gibt es zweifellos den Verweis auf die periodisierende Bedeutung, die der Zweite Weltkrieg erhalten hatte. Auch in diesem Fall handelt es sich um Deutungen mit zahlreichen Nuancierungen, bisweilen auch mit weit auseinander liegenden Interpretationsansätzen, die aber auf jeden Fall „historiografisch“ sind, und zwar in dem Sinn, dass sie zwangsläufig jenes Trauma in einen Bedeutungskontext einfügen müssen, der fast notgedrungen eine historische Wertigkeit erhält25. Auf jeden Fall darf die Hypothek nicht unterschätzt werden, die der Marxismus mit seiner Theorie der Endkrise des kapitalistischen Systems diesen Deutungen aufgebürdet 23

R. Aron, L’ombre des Bonaparte, in: La France Libre, August 1943. Für Österreich zitiere ich den wichtigen Band von F. Fellner, Geschichtsschreibung und nationale Identität: Probleme und Leistungen der österreichischen Geschichtswissenschaften, Wien 2003. Für Deutschland verweise ich auf G. Corni, La „Neue Sozialgeschichte“ nel recente dibattito storiografico tedesco, in: Annali dell’Istituto storico italo-germanico in Trento, 3 (1977), S. 513-534. Es handelt sich aber um eine sehr umfangreiche Debatte, die nach 1918 einsetzt und fast bis heute andauert und in der es insbesondere um die bekannte These eines Fadens der deutschen Geschichte „von Bismarck zu Hitler“ geht. Um zu verstehen, welchen Einfluss auch diese Geschichtsschreibung auf Deutschland hatte, muss man bedenken, dass auf der Moskauer Konferenz der Alliierten im Mai 1947 ausdrücklich die Abschaffung des Landes Preußen gefordert wurde, das man als das Herz der deutschen Reaktion betrachtete (während der Weimarer Republik wurde es von der SPD regiert und erst als Hitler diese aus dem Weg räumte, war für ihn der Weg zur Eroberung der nationalen Regierung frei). 25 Für den italienischen Fall, V. Capperucci, La memoria della seconda guerra mondiale nei dibattiti della Consulta e della Costituente: il caso italiano, in: P. Craveri / G. Quagliariello (Hrsg.), La seconda guerra mondiale e la sua memoria, Soveria Mannelli 2006, S. 289-326. Über den unvermeidlichen Einfluss des Zweiten Weltkrieges, der die Beziehung zwischen der österreichischen Identität und einem allgemeinen Deutschtum in Schwierigkeiten brachte, F. Fellner, The Problem of the Austrian Nation after 1945, in: Journal of Modern History, 60 (1988), S. 264-289. 24

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hatte. Etwas Ähnliches, manchmal geradezu Spiegelbildliches, finden wir in der christlichen Kultur, und zwar sowohl in der katholischen26 als auch in der protestantischen, die im Geschehenen ebenfalls etwas Apokalyptisches sah und es als Beweis für das Scheitern eines Zivilisationssystems wertete. Unter diesem Gesichtspunkt spielten die verschiedenen politischen Kulturen, die es in jedem der betrachteten Kontexte gab, eine wichtige Rolle. Es ist allzu oberflächlich, diese auf die drei klassischen politischen Familien, nämlich den Liberalismus, den Sozialismus und das politische Christentum zu reduzieren, denn innerhalb einer jeden gab es viele Abweichungen und Varianten, auch wenn man gemeinhin sagen könnte, dass auch einige eindeutig historische Ursprünge vorhanden waren, die ihre Spezifität kennzeichneten. Hervorzuheben ist der Umstand, dass die große Frage zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert für all diese politischen Kulturen darin bestanden hatte, wie man den „Staat“ im Rahmen der neuen Verfassungsordnung, die sich mit dem Erfolg der Großen Revolutionen ergeben hatte, einordnen und interpretieren sollte, schlussendlich eine gemeinsame Basis für die Umsetzung der Lehren der Geschichte beim Problem des Wiederaufbaus schuf. Im Grunde geht es in allen drei betrachteten Fällen um die Notwendigkeit, sich mit historischen Übergängen auseinanderzusetzen, die als Reaktion auf eine Verabsolutierung der staatlichen Dimension begannen: eine offensichtliche Tatsache beim italienischen Faschismus, etwas komplexer zu interpretieren für den Nationalsozialismus, zwiespältig in der österreichischen Erfahrung des korporativen Staates, eine Notfallsituation in Frankreich mit dem VichyRegime. Auf jeden Fall eine Frage, die in der Debatte über die Krise am Ende des Jahrhunderts wurzelte und die sich tief in den Betrachtungen sowohl der Juristen und Sozialwissenschaftler als auch der Berufspolitiker festgesetzt hatte. Dieser Weg führt uns dazu, über zwei weitere Aspekte des „Einflusses der Geschichte“ nachzudenken, die sich nicht unmittelbar aus dem ausdrücklichen Bezug auf diese selbst ergeben, wie er von den auf der politischen Bühne der Wiederaufbaujahre agierenden Akteuren vorgeschlagen wurde. Zunächst gibt es das, was wir als Ergebnis der Fachkulturen bezeichnen können, in erster Linie der Rechtskultur, aber auch ganz allgemein der Politikwissenschaft im weiteren Sinn27. In allen unseren Untersuchungsfällen 26 Für einen typischen Fall unter diesem Gesichtspunkt verweise ich auf das Denken Giuseppe Dossettis, der, besonders in seiner letzten Lebensphase, am technisch „apokalyptischen“ Charakter des Ereignisses des Zweiten Weltkriegs festhielt; vgl. P. Pombeni, Giuseppe Dossetti. L’avventura politica di un riformatore cristiano, Bologna 2013. 27 Für diesen Kontext der europäischen politischen Kultur erlaube ich mir den Verweis auf mein La ragione e la passione. Le forme della politica nell’Europa contemporanea, Bologna 2010.

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hatte das Erbe der kulturellen Debatten, die in jenen Bereichen zumindest ab Mitte des 19. Jahrhunderts stattgefunden hatten, eine gewisse Bedeutung. Es handelt sich natürlich nicht um eine Gegebenheit, die uns dazu bringen soll, mechanische Bestätigungen zu suchen. Offensichtlich konnte im österreichischen Fall die ganze Debatte, die es rund um die Struktur des Vielvölkerstaates gegeben hatte, nicht wieder aufgenommen werden, doch ich erlaube mir zu sagen, dass man darüber nachdenken sollte, ob die Tradition des Beamtenregiments als Methode für die Neutralisierung des politischen Wettstreits nicht eine untergründige Bedeutung beim Hinsteuern auf die „Konkordanz“ als Regierungssystem hatte28. Zweitens darf man nicht vergessen, dass jene Kulturen überhaupt nicht national im gewöhnlichen Sinn des Begriffs waren. Die deutsche Wissenschaft des öffentlichen Rechts, und zwar sowohl jene der Kaiserzeit als auch jene der Weimarer Republik, war im ganzen Westen verbreitet gewesen und ihr Einfluss reichte weit über die Grenzen Deutschlands hinaus. Ebenso hatte zum Beispiel ein Teil der französischen politischen Kultur, vor allem auf katholischer Seite, eine Bedeutung, die über die nationalen Grenzen hinausging. Der italienische Fall stieß auch in den anderen Ländern auf Interesse, auch wenn es mir völlig unangebracht erscheint, hierbei von einem Modellcharakter zu sprechen. In diesem Zusammenhang kann es interessant sein zu sehen, wie der bedeutende Politik- und Rechtswissenschaftler Carl Joachim Friedrich im ersten Moment das Grundgesetz analysierte29. Friedrich (1901-1984) war ein Deutscher, der 1922 in die USA übersiedelte und dann die amerikanische Staatsbürgerschaft annahm. Er machte eine akademische Karriere, leitete in Harvard die Schule für die Ausbildung des Personals für die militärische Führung der USA im Ausland und war von 1947 bis 1948 Berater für Verfassungs- und Regierungsangelegenheiten von General Lucius D. Clay, dem Chef der amerikanischen Militärverwaltung in Deutschland. In seinem umfangreichen Aufsatz vertrat Friedrich die Ansicht, dass „the compromise at which we have now arrived is the resultant of constitutional ideas partly German, partly French, partly English and partly American“, räumte aber ein, dass man sich auf einer historisch-sozialen Grundlage bewegt habe:

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F. Fellner, Das Problem der österreichischen Nation nach 1945, in G. Botz / G. Sprengnagel (Hrsg.), Kontroversen um Österreichs Zeitgeschichte, Frankfurt a.M. 1994, S. 216-240. 29 C.J. Friedrich, The German Constitution I, in: American Political Science Review, 43 (1949), S. 461-482, sowie ders., The German Constitution II, in: American Political Science Review, 43 (1949), S. 704-720.

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„the ,grass roots‘ upon which the conquerors stood were, symbolically speaking, the Catholic Bavarian village and the Marxist trade unions. Authoritarian faith and economic parochialism – these were the two roots of local community which, by grafting a synthetic nationalism upon them, the imperialism of Bismarck, the utopianism of Weimar, and the racism of Hitler had sought to exploit in turn“30.

In dieser Passage sieht man gut, wie ein aufmerksamer und sachkundiger Beobachter die Natur der Verfassung erfasst hat: „authority, power, legitimacy: unless these are effectively combined and balanced, the existence of a true government may well be doubted“31, aber auch hinsichtlich des vorhin Festgestellten und anderer Beobachtungen, dass dieser sich bewusst war, dass es eine historische Wurzel dafür gab. Neben den Fachkulturen gab es außerdem Traditionen bezüglich ihrer Umsetzung in die Mechanismen bei der konkreten Handhabung der verschiedenen politischen Systeme. Zum Beispiel war die Funktion der großen öffentlichen Verwaltungsapparate in keinem der vier Fälle, mit denen wir uns befassen, ähnlich, doch sie spielten in allen eine wichtige Rolle32. Aber auch diese konkreten Wirkungsweisen, jede mit ihrem System von ungeschriebenen Regeln und Werten, die durchaus imstande waren, einen Kontext zu formen, waren historische Ergebnisse und bildeten „Gewichte“, denen alle Systeme Rechnung tragen mussten. Gewöhnlich wurde dieses Thema unter dem Gesichtspunkt der Säuberung behandelt, doch meiner bescheidenen Ansicht nach ist das eine sehr einseitige Herangehensweise. Die Geschichte der Verwaltungssysteme war von großer Bedeutung für die Dynamiken, die zum Wiederaufbau nach 1945 führten. Die Führungsschichten, die sich dessen annahmen, mussten notgedrungen diese Ressourcen verwenden. Mag die berühmte Aussage De Gasperis, wonach die Minister nichts anderes waren als ein Grüppchen von Leuten in den Händen des Verwaltungsapparates, auch übertrieben sein, so enthielt sie doch eine gute Dosis Realismus. Der ziemlich unproblematische Wechsel einiger hoher Bürokraten vom Dienst in den verschiedenen autoritären und totalitären Systemen zu jenem in den neuen Demokratien ist bezeichnend für eine Erscheinung, die nicht einfach auf der Grundlage moralischer Kategorien untersucht werden kann. 30

C.J. Friedrich, The German Constitution I, S. 462. Ebd., S. 461. 32 Für Deutschland merkte wiederum Friedrich an, dass „the Empire tradition also exerted lasting effect through its pro-bureaucratic idea of a neutral, arbitral function of ,the state‘“ (ebd., S. 464). Im Grunde war diese Tradition mehr oder weniger ganz Kontinentaleuropa gemeinsam und man kann sie auch in Frankreich, Österreich (wo die „kaiserliche“ Tradition des Beamtenapparates fest verwurzelt war) und Italien feststellen. Für letzteren Fall siehe G. Melis, Storia dell’amministrazione italiana, Bologna 1996. 31

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So kommen wir nun zur Bedeutung der Geschichte bei der Bestimmung der Eliten, denen die Lenkung des Wiederaufbaus in den verschiedenen Ländern anvertraut wurde. Diese war, so möchte ich sagen, nicht unerheblich, weil sie die Legitimierung, die von den Traditionen herkommen konnte (beruhend auf der Tatsache, dass sie bereits in vorhergehenden Phasen der Geschichte eines jeden Landes Führungseliten gewesen waren), mit der Legitimierung verband, die man aus der Teilnahme an den verschiedenen Erfahrungen des „Widerstandes“ gewann. Diese beinhalteten alle – das muss nicht eigens betont werden – „politischen Diskurse“ über die notwendige Erneuerung. Unter den auf unterschiedliche Weise wirkenden Protagonisten der verschiedenen Wiederaufbauprojekte gab es Persönlichkeiten, die nur eine der beiden Eigenschaften besaßen, und andere, die beide hatten. Es gab auch Fälle, in denen Verdrehungen oder gar Verfälschungen vorgenommen wurden, um einigen Persönlichkeiten diese Legitimation zuzuerkennen. Ich denke etwa daran, dass die Repression nach dem Attentat auf Hitler vom Juli 1944 zum Beispiel Konrad Adenauer als „Widerständler“ legitimiert hat, denn obwohl er seinerzeit Opfer einer nationalsozialistischen Säuberung gewesen war, konnte man ihn vielleicht nicht voll und ganz mit dem identifizieren, was gemeinhin unter jener Etikette verstanden wird. Und sein Fall war kein Einzelfall. Auf jeden Fall stellte sich das Problem des Gegensatzes zwischen historischer Legitimation und rechtlicher Legitimation, aber auch, was man unter historischer Legitimation verstehen sollte33. Der bestens bekannte Fall der Auseinandersetzung zwischen de Gaulle und den Führungsspitzen des internen französischen Widerstandes um die Kontinuität oder nicht der République ist ein Beispiel für diese Widersprüche; diese wurden größer, als man entscheiden musste, ob die Legitimation für den Verbleib oder den Eintritt in die Mechanismen der Machtausübung von der Beteiligung an der entscheidenden historischen Entwicklung herrührte (das heißt, von der Teilnahme am „Befreiungskampf“) oder davon, dass man in den Rechtsfunktionen, die von der nationalen Ordnung vorgesehen und dann nach dem Zwischenspiel der „Delegitimierung“ des Regimes von Vichy und der Italienischen Sozialrepublik wieder eingerichtet worden waren, eine Rolle bekleidet hatte. Dieses 33 Das Problem stellt sich in allen vier betrachteten Fällen sehr nachdrücklich, wenn auch mit offensichtlichen Unterschieden. Ich beschränke mich hier darauf, einige Titel anzuführen: für Deutschland, N. Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 2012; für Österreich, A. Pelinka / E. Weinzierl (Hrsg.), Das große Tabu: Österreichs Umgang mit seiner Vergangenheit, Wien 1987; für Frankreich, O. Wieviorka, La Mémoire désunie. Le souvenir politique des années sombres de la Libération à nos jours, Paris 2010; für Italien, L. Di Nucci / E. Galli della Loggia (Hrsg.), Due nazioni. Legittimazione e delegittimazione nella storia dell’Italia contemporanea, Bologna 2003.

Der Stellenwert der Geschichte bei der Bildung des Verfassungskonsenses

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Thema ist in Frankreich und Italien gleichermaßen präsent (wenn auch mit verschiedenen Besonderheiten), während es in Deutschland und auch in Österreich nicht vorkommt, und zwar aus dem einfachen Grund, weil es in jenen Fällen erstens kein „Zwischenspiel“ eines delegitimierten Regimes (und folglich der „zweifelhaften“ Besetzung öffentlicher Positionen) gegeben hat, und sodann, weil das Besatzungsstatut die Quelle der Macht auf die Übertragung der Funktion seitens der alliierten Militärbehörden beschränkte. Bekanntlich wurde trotzdem, als die Souveränität vollständig oder teilweise wiederhergestellt wurde, das Thema des Stellenwertes, den man der Mitwirkung politischer oder bürokratischer Figuren an den Geschehnissen der Regime beimessen musste, unumgänglich; wobei diese Regime nicht so sehr durch den Kriegsausgang delegitimiert waren (wie man aus offensichtlichen Gründen der Zweckmäßigkeit seitens jener, die ihr Vorleben schützen wollten, geneigt war zu sagen), als vielmehr durch das „historische Urteil“, das die Sieger als logische Folge eines Krieges anwenden wollten, von dem man beschlossen hatte, dass dieser nicht aus Gründen „der Macht“, sondern zur Wahrung höherer Grundsätze geführt worden war. Ich glaube sagen zu können, dass in allen in Betracht gezogenen Untersuchungsfällen die empirische Lösung, um ein Gleichgewicht zwischen all den verschiedenen Faktoren, die ich aufgezählt habe, zu finden, in der Entscheidung gesehen wurde, „Parteienrepubliken“ ins Leben zu rufen. Die politischen Parteien waren nämlich die Verkörperung der Synthese zwischen dem historischen Vorher im umfassenden Sinne (die Geschichte der jeweiligen Konstitutionalismen) und dem historische Vorher in einem engeren Sinn: der Widerstandskampf gegen die Regime, die sich gegen die Tradition des Konstitutionalismus gestellt hatten. Parteien als Organisation und Ausdruck des legitimen gesellschaftlichen Pluralismus waren nämlich durch die totalitären und autoritären Experimente ausgelöscht worden und infolgedessen zu ersten Zellen von Opponenten, um nicht zu sagen zu Akteuren geworden, welche die historische Kontinuität der verfassungsmäßigen Regime im Exil und im Untergrund aufrechterhalten hatten, wobei sie mehr oder weniger bewusst zu Trägern und Hütern der historischen Bedeutung der nationalen Staatlichkeit geworden waren. Sicher waren die Parteien mehrdeutige Kräfte, ein bisschen Zivilgesellschaft und ein bisschen politische Gesellschaft; in vielen Kontexten sah man in ihnen die Verantwortlichen für das Scheitern der Demokratien nach 1918, sie waren aber auch überall Ausdruck der Historizität der verschiedenen politischen Subkulturen, um die herum sich allmählich der Konstitutionalismus des 19./20. Jahrhunderts auch in seinen Komponenten der historischen Narration aufgebaut hatte. Sie bildeten somit die Verankerung mit der Vergangenheit, ohne sie jedoch zu verherrlichen, weil alle auf den Konstitutionalismus vor 1918 gegründeten Systeme sie unter verschiedenen Gesichtspunkten als suspekt

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betrachtet und die experimentellen Systeme des Interregnums zwischen den beiden Kriegen sie letztendlich für ihre Auflösung verantwortlich gemacht hatten. Gleichzeitig aber waren sie, gerade weil sie dank der Niederlage der Regime, die sie delegitimiert hatten, wieder auflebten, die Verkörperung eines aus seiner Asche auferstandenen Phönix34. Paradoxerweise konnten sie sowohl die Priester sein, die den kollektiven Ritus des „epochalen Bruchs“ und der berühmten „Stunde Null“ zelebrierten, als auch die Notabeln, die mit einer gewissen Garantie eine Gesellschaft in einen neuen politischen Kontext überführten, wobei sie darauf achteten, dass ihre Bezugsumfelder nicht allzu sehr unter der unvermeidlichen Veränderung litten. In mehr als einem Fall übernahmen die Parteien am Ende sogar die Aufgabe der Reinwaschung, der man sich unterziehen musste, um den Staub der Vergangenheit fortzuspülen, und zwar im Sinne von „forgive and forget“. Auch daran lässt sich der Einfluss von Geschichte ermitteln.

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P. Pombeni, La ragione e la passione, S. 471-541.

Der Einfluss der Geschichte auf die deutsche und italienische Verfassungskultur nach dem Zweiten Weltkrieg* Von Maurizio Cau

I. Definition des Untersuchungsfeldes – Die Verfassungskultur und die Schaffung eines neuen politischen Raumes Die Geschichte ist, wie Walter Benjamin in einer Vorbereitungsnotiz zu den Thesen „Über den Begriff der Geschichte“ unterstreicht, gekennzeichnet durch „Stellen, an denen die Überlieferung abbricht und damit ihre Schroffen und Zacken, die dem einen Halt bieten, der über sie hinausgelangen will“1. Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg war eine solche Bruchstelle, wobei die Festlegung eines neuen institutionellen Rahmens zum völligen Untergang vielfältiger rechtlicher und politischer Traditionen geführt hat. Wie eine Passage der Ansprache, die Vittorio Emanuele Orlando im März 1946 vor der Consulta Nazionale gehalten hat, beispielhaft zeigt, waren sich diejenigen, die aufgerufen waren, an der Schaffung des neuen institutionellen Rahmens mitzuwirken, voll bewusst, dass sie an der Schwelle eines neuen Zeitalters standen: „Könnten wir unseren Blick erheben und die Mauern des geistigen Gefängnisses, in dem wir eingeschlossen sind, übersteigen, dann würden sich uns Ausblicke auf eine unendliche, unglaubliche historische Größe darbieten. Die Ereignisse, die heranreifen und deren Vorbereitung diese dreißig Jahre schrecklicher Kriege und Zerstörungen erklärt … stellen … einen jener Wendepunkte in der Geschichte der Menschheit dar, welche die Epochen kennzeichnen, aus denen sie besteht. Das ist ein Moment, in dem man … von einer Epoche in eine andere übertritt … Der Nationalstaat, für dessen Herausbildung es mehrere Jahrhunderte gebraucht hat, verändert sich allmählich in seinem Wesen … Es ist die Epoche, die sich wandelt“2. *

Aus dem Italienischen von Werner Menapace. W. Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. 1/3, Frankfurt a.M. 1974, S. 1242. 2 V.E. Orlando, Discorsi parlamentari, hrsg. von F. Grassi Orsini, Bologna 2002, S. 681-683. Zur Rolle Orlandos in der Verfassunggebenden Versammlung siehe P. Pombeni, Vittorio Emanuele Orlando: il costituente, in: Vittorio Emanuele Orlando: lo scienziato, il politico e lo statista, Soveria Mannelli 2003, S. 33 ff.; D. Quaglioni, Ordine giuridico e ordine politico in Vittorio Emanuele Orlando, in: P. Carta / F. Cortese (Hrsg.), Ordine giuridico e ordine politico: esperienze lessico prospettive, Padua 2008, S. 3-25. 1

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Der Zusammenbruch der totalitären Regime läutete bekanntlich eine komplexe Phase des Neuaufbaus ein, der an den Grundmauern der Verfassungsstrukturen und politischen Kulturen Italiens und Deutschlands ansetzte. Auch wenn klar auf die Zukunft ausgerichtet, musste der Weg hin zur Neudefinierung des politischen Raumes der beiden Länder unweigerlich über eine Auseinandersetzung mit den vorhergehenden freiheitsfeindlichen Erfahrungen und den von der Vergangenheit hinterlassenen theoretischen Modellen führen. Im Übrigen können, wie Horst Dreier unterstrichen hat, die aus der Überwindung der diktatorischen Zeiten hervorgegangenen Verfassungsstaaten nicht auf eine Auseinandersetzung mit den historischen Folgen der vorausgegangenen Ereignisse und mit den Wirkungen verzichten, welche die Projektionen der Vergangenheit unter einem normativen Gesichtspunkt auf die Gegenwart und Zukunft der neuen politischen Ordnungen haben3. Denn jeder Neuanfang ist das Ergebnis eines – häufig kritischen – Dialogs mit den vergangenen Erfahrungen, und auf diese Form der Beziehung soll hier das Augenmerk gelegt werden. Die Frage nach dem Einfluss der Geschichte auf den Wiederaufbau in der Nachkriegszeit ist ein weites Thema, das hier sicher nicht in seiner Gesamtheit in Angriff genommen werden kann. Der Blickwinkel, aus dem dies betrachtet werden soll, verweist in erster Linie auf die Rolle, welche die der Rechtstradition der Vergangenheit lieben Modelle bei der Festlegung der italienischen und deutschen Rechtskultur der Nachkriegszeit gespielt haben. Für die Verfassungsregelung beider Länder stellte der Wandel der politischen Ordnungen am Ende der Vierzigerjahre einen nicht unbedeutenden Bruch dar, der die theoretischen und argumentativen Grundlagen, die sich im Verlauf der vorhergehenden Jahrzehnte in der Rechtslehre angesammelt hatten, erheblichen Reibungen aussetzte. Die Wissenschaft des öffentlichen Rechts stellt in diesem Sinne einen bevorrechtigten Beobachtungspunkt dar, um Formen und Mängel der kurz nach der Katastrophe vorangetriebenen Vergangenheitsbewältigung zu erfassen. Es ist ein einseitiger Standpunkt, der jedoch sehr interessante Anregungen zur Rolle der Geschichte bei der Organisation der demokratischen Systeme um die Mitte des 20. Jahrhunderts liefern kann. Die Verfassungsordnungen sind nämlich – darauf hat Peter Häberle hingewiesen – kein rein „normatives 3 Im Hinblick auf den kurz nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen vor-rechtsstaatlichen Systems entstandenen konstitutionellen Rechtsstaat hat Dreier geschrieben: „Er muß sich entscheiden, welche rechtlich relevanten Entscheidungen der Vorgängerordnung er ganz oder partiell übernimmt und fortführt, welche er duldet, welche er von sich aus oder auf Antrag beseitigt, welche neuen Rechtssetzungsakte er in Reaktion auf die Vergangenheit trifft“; H. Dreier, Verfassungsstaatliche Vergangenheitsbewältigung, in: P. Badura / H. Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Tübingen 2001, S. 160.

Der Einfluss der Geschichte auf die deutsche und italienische Verfassungskultur

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Regelwerk“, sondern Ausdruck „kultureller Selbstdarstellung des Volkes, Spiegel eines kulturellen Erbes und Fundament seiner Hoffnungen“4. Die in den Jahren des Wiederaufbaus von einigen der wichtigsten Verfassungsakteure durchgeführte Analyse der Vergangenheitsbewältigung liefert also interessante Denkanstöße, um die Dynamiken, welche die verschiedenen politischen Phasen verbinden und trennen, im Scheinwerferlicht zu betrachten. In diesem Beitrag soll versucht werden, diesen Entwicklungsprozess vergleichend zu verfolgen. Es handelt sich um zwei soziale Wirklichkeiten, die bundesdeutsche5 und die italienische, die zum großen Teil verschieden sind und wo die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit entlang nicht immer paralleler Linien erfolgt; außerdem weisen die beiden Fälle bedeutsame gleichartige Elemente auf, die – wenn auch mit den Besonderheiten der jeweiligen kulturellen Traditionen – die Bedeutung der theoretischen Erfahrungen der Vergangenheit bei der Errichtung der neuen Verfassungsgebäude bestätigen. Ganz allgemein stellte der Übergang von den diktatorischen Regimen zu den republikanischen Ordnungen einen „Neuanfang“ dar, doch in der unmittelbaren Nachkriegszeit „vermischten sich Neues und Altes“ unweigerlich6. Die entschiedene Abkehr von der Vergangenheit, rund um die sich in beiden Ländern das neue Verfassungsexperiment konsolidierte, verhinderte nämlich nicht, dass ein Teil des im vorausgegangenen Zeitabschnitt erarbeiteten Theoriebestandes weiterhin seinen Einfluss zeigte. So kann man neben den starken Brüchen, die sich zwischen dem demokratischen Konstitutionalismus der zweiten Hälfte der Vierzigerjahre und den erfahrungen der Zwischenkriegszeit vollzogen haben, beträchtliche Kontinuitäten in Bezug auf kulturelle und methodologische Orientierungen finden, welche die öffentliche Debatte rund um die Formen der Staatlichkeit angeregt haben.

4 V.P. Häberle, Europäische Rechtskultur. Versuch einer Annäherung in zwölf Schritten, Baden-Baden 1994, S. 177. 5 Eine notwendige Präzisierung: Angesichts der großen Unterschiede bei den politischen, verfassungsmäßigen und theoretischen Entwicklungen in den beiden aus der Asche Hitlerdeutschlands hervorgegagenen Staaten beschränkt sich die Untersuchung des deutschen Falles auf das Geschehen in der Bundesrepublik. BRD und DDR riefen zwei zutiefst unterschiedliche Systeme des öffentlichen Rechts ins Leben, die zwei gegensätzliche politische Ziele verfolgten und auf miteinander unvereinbaren Voraussetzungen fußten. Die Geschichte der Verfassungskultur, die in den beiden deutschen Staaten entstanden ist, ist also eine Geschichte vollkommen paralleler Vorgänge, auf deren Besonderheiten an dieser Stelle nicht eigegangen werden kann. Das Augenmerk richtet sich demnach nur auf die westdeutsche Realität, bei der ein direkterer Vergleich mit dem italienischen Fall möglich ist. 6 P. Grossi, Scienza giuridica italiana. Un profilo storico 1860-1950, Mailand 2000, S. 289.

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II. Der Einfluss der Vergangenheit bei der Schaffung der neuen Verfassungsordnung 1. Der Fall Deutschland Die Verbindung des verfassunggebenden Prozesses mit der Vergangenheit ist umso stärker, je problematischer die institutionellen Erfahrungen sind, von denen sich diese zu unterscheiden suchen7. Wie der Verfassungsrechtler Ernst Friesenhahn nach Verkündigung des Grundgesetzes – er wurde kurz darauf Mitglied des Bundesverfassungsgerichts – unterstrichen hat, war das Grundgesetz das Ergebnis eines Rückblicks auf die nationalsozialistische Diktatur und die Weimarer Verfassung8. Die Mitglieder des Parlamentarischen Rates setzten sich also mit einer „doppelten Vergangenheit“ auseinander: nicht nur mit der totalitären, welche die politische Antithese zur demokratischen Ordnung darstellte, sondern auch mit derjenigen, die das republikanischen Experiment von Weimar mit einschloss, dessen Schwächen der Hitlerherrschaft den Weg geebnet hatten. Die notwendige klare Abgrenzung gegenüber der nationalsozialistischen Vergangenheit wurde also vollzogen, indem man bis auf das Verfassungsexperiment zurückging, das deren Ausbreitung vorausgegangen war (und sie in gewissem Maße ermöglicht hatte). Dies führte dazu, dass das Grundgesetz, zumindest teilweise, als eine Art „Gegen-verfassung“ gegenüber jener des Jahres 1919 geschaffen wurde; diese stellte in einigen Teilen das Negativmodell dar, rund um das die neuen institutionellen Ordnungen festgelegt werden sollten9. Die Abgrenzung von der nationalsozialistischen Vergangenheit wurde so durch ein nochmaliges Nachdenken über die Mängel des Weimarer Verfassungskonzepts ausbalanciert10. 7 Vgl. W. Strauss, Der Bundespräsident und die Bundesregierung, in: Die öffentliche Verwaltung, (1948), 1, S. 272. 8 E. Friesenhahn, Die politischen Grundlagen des Bonner Grundgesetzes, in: H. Wandersleb (Hrgs.), Recht – Staat – Wirtschaft. Schriftenreihe für Staatswissenschaftliche Fortbildung, Bd. 2, Stuttgart / Köln 1950, S. 164. Eine ähnliche Position, aber mit überaus polemischen Tönen, vertrat Werner Weber anfangs der Fünfzigerjahre, für den die Weimarer Verfassung die Bonner Berater wie die geisterhafte Erscheinung eines Verstorbenen, einer gescheiterten Existenz, beschäftigte und bedrückte; W. Weber, Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem, Stuttgart 1951, S. 9. 9 Für eine Analyse des Prozesses der Differenzierung gegenüber der Weimarer Verfassung, den das Bonner Grundgesetz vollzogen hat, verweisen wir auf F.K. Fromme, Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz, Tübingen 1960, S. 5 ff. Siehe dazu jetzt D. Grimm, La Costituzione di Weimar vista nella prospettiva del Grundgesetz, in: F. Lanchester / F. Brancaccio (Hrsg.), Weimar e il problema politico-costituzionale italiano, Mailand 2012, S. 33-36. 10 Zur Verarbeitung der Weimarer Vergangenheit in der Praxis der Bundesrepublik Deutschland vgl. S. Ullrich, Der Weimar-Komplex. Das Scheitern der ersten

Der Einfluss der Geschichte auf die deutsche und italienische Verfassungskultur

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War die Weimarer Reichsverfassung unter streng normativen Gesichtspunkten noch in Kraft, da sie formell niemals aufgehoben wurde, so gehörte sie unter historischen Gesichtspunkten der Vergangenheit an, ihrer Inhalte entleert und zur Unwirksamkeit verurteilt durch den Vormarsch eines politischen Projekts – jenes von Hitler –, das ihre Fundamente untergraben hatte. Die Abkehr vom demokratischen Experiment nach dem Ersten Weltkrieg war also nicht bloß eine rhetorische Strategie des verfassunggebenden Prozesses, sondern entstand aus dem Bedürfnis, mit einer Erfahrung abzurechnen, die zwar historisch vorbei war, aber immer noch ihre Schatten und Schreckgespenster auf die westdeutsche Gesellschaft projizierte11. Unmittelbar nach der Katastrophe bedeutete die Rückbesinnung auf Weimar natürlich, zu überlegen, welchen Weg die Bundesrepublik gehen sollte. Das erste republikanische Experiment, das zeit seines Bestehens heftigen Angriffen ausgesetzt war, stellte eine notwendige Vergleichsbasis für eine politische Gemeinschaft dar, die entschlossen war, sich erneut mit den Verfassungsmodellen demokratischer Prägung zu messen. Der Rahmen, innerhalb dessen jene Erfahrung überdacht werden sollte, stand nicht von vornherein fest: Zunächst war nicht klar, ob die Republik von 1919 die Krönung des deutschen Sonderweges darstellte, der zu Hitler geführt hatte, oder ob sie dagegen das Resultat der Hinwendung des deutschen Weges zur politische Moderne war12, und es war auch nicht klar, ob der neue demokratische Versuch wieder von Weimar starten sollte, mit zum Teil veränderten Orientierungen, oder ob sich dieser nicht vielmehr offen von seiner belastenden Vergangenheit frei machen sollte. Der Ort, um die Antworten auf diese Fragen zu liefern, war natürlich nicht die verfassungsgebende Versammlung, wo die Dringlichkeiten des Aufbaus wenig Raum für die historische Vergangenheitsbewältigung ließen13. deutschen Demokratie und die politische Kultur der frühen Bundesrepublik 1945-1959, Göttingen 2009; F. Balke / B. Wagner (Hrsg.), Vom Nutzen und Nachteil historischer Vergleiche. Der Fall Bonn-Weimar, Frankfurt a.M. 1997; C. Gusy (Hrsg.), Weimars lange Schatten – „Weimar“ als Argument nach 1945, Baden-Baden 2003; H.A. Winkler (Hrsg.), Weimar in Widerstreit. Deutungen der ersten deutschen Republik im geteilten Deutschland, Frankfurt a.M. 2002. 11 Siehe dazu C. Gusy, Die Weimarer Verfassung und ihre Wirkung auf das Grundgesetz, in: Friedrich Ebert Stiftung (Hrsg.), Die Weimarer Verfassung – Wert und Wirkung für die Demokratie, Erfurt 2009, S. 27-51; W. Benz, Die Rolle Weimars in der Verfassungsdiskussion und im Parlamentarischen Rat, in: C. Gusy (Hrsg.), Weimars lange Schatten, S. 199-214. 12 Für eine Analyse der Komplexität und Ambiguität der politischen Entwicklung Deutschlands zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert vgl. M. Ponso, Una storia particolare. Sonderweg tedesco e identità europea, Bologna 2011. 13 Zu den Formen, welche die Vergangenheitsbewältigung nach dem Zweiten Weltkrieg im Allgemeinen angenommen hat, vgl. N. Frei, 1945 und wir. Das Dritte

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Aus den Debatten des Parlamentarischen Rates ergab sich grundsätzlich eine kritische Sicht des Weimarer Experiments. Es gab auch maßgebliche Stimmen, wie jene von Theodor Heuss, die sich erhoben, um die Verfassung von 1919 von der Schuld freizusprechen, die deutsche Demokratie nicht ausreichend geschützt zu haben14. Insgesamt aber setzte sich eine negative Sicht der vorausgegangenen republikanischen Erfahrung durch und wurden deren Schwächen kritisiert, und zwar die übertriebene Aufmerksamkeit, die man der Frage der politischen Vertretung widmete (langfristig der Grund für die Unregierbarkeit des Reichstages), die Aufspaltung der einheitlichen Entscheidungsgewalt des Staates in eine Vielzahl von Organen und Verfahren, das Fehlen eines verfassungsmäßigen Rechtssystems, das imstande war, die Wahrung der Grundrechte vollständig umzusetzen. In diesem Sinne kann man sagen, dass es sich, wie vor Kurzem angemerkt wurde, „bei den von der verfassunggebenden Versammlung in Bonn diskutierten Problemen um diejenigen handelte, die bereits zur Zeit der Nationalversammlung von Weimar gestellt und nicht zufriedenstellend gelöst worden waren“15. Kein Geringerer als Konrad Adenauer, der Präsident des Parlamentarischen Rates, erinnerte Jahre danach an die Lehren, welche die Versammlung aus einer ausführlichen Analyse der Weimarer Erfahrung gezogen hatte: „Allgemeiner Grundsatz unsererseits war, daß wir aus den Fehlern der Weimarer Republik die nötigen Folgerungen ziehen müßten. Die Stellung des künftigen

Reich im Bewusstsein der Deutschen, München 2005; C. Cornelissen / K.C. Lanners (Hrsg.), Vergangenheitspolitik und Erinnerungskulturen im Schatten des Zweiten Weltkrieges. Deutschland und Skandinavien seit 1945, Essen 2008. 14 Bei der dritten Plenarsitzung des Parlamentarischen Rates am 9. September 1948 erklärte Heuss: „Heute hat man die Angewohnheit zu sagen: Weil Hitler an die Reihe gekommen ist und von den Paragraphen der Weimarer Verfassung nicht daran gehindert werden konnte, ist die Verfassung schlecht gewesen. So primitiv ist die Motivenreihe des Geschichtsprozesses nicht!“; T. Heuss, Vater der Verfassung. Zwei Reden im Parlamentarischen Rat über das Grundgesetz 1948/1949, hrsg. von E.W. Becker, München 2009, S. 51. R. Katz, Mitglied des Parlamentarischen Rates in den Reihen der SPD, nahm eine ähnliche Position ein: „Was wir ändern müssen, ist der Geist der Menschen, nicht das System der Spielregeln“; zitiert in: F.K. Fromme, Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz, S. 162. 15 F. Lanchester, Vincitori e vinti: suggerimenti, veti e imposizioni degli alleati nel processo di ricostruzione della democrazia in Italia, Germania e Giappone, in: S. Merlini (Hrsg.), Piero Calamandrei e la costruzione dello Stato democratico 19441948, Rom / Bari 2007, S. 88-89. Zu den Gefahren einer zu stark ,harmonisierenden‘ Neuerrichtung des deutschen politischen Panoramas der späten Vierzigerjahre hat sich S. Ullrich, Der Weimar-Komplex, S. 165-166, geäußert. Auch F.K. Fromme, Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz, hat die Unzulänglichkeiten der Deutungen unterstrichen, die mit einem Übermaß an Linearität den Charakter der Antiverfassung des Grundgesetzes gegenüber der Weimarer Verfassung betont haben.

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Bundespräsidenten durfte nicht mit den Vollmachten versehen sein, die der Reichspräsident der Weimarer Republik besessen hatte. Ein weiterer Grundsatz unserer Arbeit war, die Stellung des Bundeskanzlers stärker zu machen, als es die des Reichskanzlers der Weimarer Republik gewesen war. Es sollte nach dem künftigen Grundgesetz nicht mehr möglich sein, einzelne Minister durch Mißtrauensantrag aus ihren Ämtern zu entfernen und dadurch dem Bundeskanzler die Erfüllung seiner Pflichten zu erschweren“16.

Der regelrechte „Weimar-Komplex“17, der in der unmittelbaren Nachkriegszeit Gestalt annahm, zeigt also, dass sich der Prozess der Legitimierung der neu entstandenen Republik auch, und in nicht unerheblichem Maße, über den Prozess der symbolischen Abkehr von der demokratischen Vergangenheit abspielte18. Wegen der vermeintlichen Verantwortlichkeit in Bezug auf den Vormarsch des Nationalsozialismus wurde die aus der Novemberrevolution hervorgegangene Republik nicht in den Bestand der historisch-kulturellen Legitimierung aufgenommen, der zur Begründung der neuen Staatsordnung verwendet wurde. Die Auseinandersetzung mit jenem Abschnitt des deutschen Konstitutionalismus war aber dennoch verpflichtend für jeden, der berufen wurde, der neuen Verfassungsordnung Form und Struktur zu verleihen. Die kritische Neuinterpretation von Weimar stellte nämlich die andere Seite der Projektion in die Zukunft dar, die das Grundgesetz anstrebte. In einigen Schlüsselgrundsätzen der neuen Verfassungsordnung wird die Auseinandersetzung mit dem Weimarer Erbe besonders deutlich. Man denke an den Abschnitt der Grundrechte, bei deren Festlegung man offensichtlich die Mängel beseitigen wollte, welche die entsprechende Regelung in der Verfassung von 1919 aufgewiesen hatte. Der ‚gemischte‘ Charakter der Weimarer Grundrechte (das heißt, das Nebeneinander von allgemein gültigen Freiheitsrechten, Rechten zum Schutz besonderer Kategorien und sozialen Rechten mit höchst programmatischem Charakter) hatte einen normativen Rahmen mit ziemlich verschwommenen Umrissen hervorgebracht, der dem Gesetzgeber weitgehende Ermessensfreiheit bezüglich der tatsächlichen Umsetzung ließ. Bekanntlich wollte der deutsche Verfassungsgeber jene Mängel beseitigen, indem er die 16 K. Adenauer, Erinnerungen 1945-1953, Stuttgart 1965, S. 153. In einer anderen Passage meint Adenauer: „Wir wollen bei der Neuerrichtung Deutschlands aus den Fehlern der Vergangenheit lernen, lernen auch aus Fehlern, die in der Weimarer Verfassung enthalten waren“; ebd., S. 127. 17 Der Ausdruck wurde eingehend untersucht in der Arbeit von S. Ullrich, Der Weimar-Komplex. 18 Das Nachdenken über die Bedeutung des Weimarer Experiments für die neu entstandene Bundesrepublik betraf nicht nur die Mitglieder des Parlamentarischen Rates und die Öffentlichrechtler, sondern stellte auch ein zentrales Thema im öffentlichen Diskurs im Nachkriegs-Deutschland dar. Für eine umfassende und eingehende Analyse der Konturen, welche die Debatte über Weimar bis zum Ende der Fünfzigerjahre angenommen hat, verweisen wir auf S. Ullrich, Der Weimar-Komplex.

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Grundrechte als „Menschenrechte“ festlegte und diesen eine Qualität der „Vorstaatlichkeit“ zuschrieb19. Indem er die Freiheitsrechte (also nicht die sozialen Rechte und auch nicht jene mit programmatischem Charakter) als „vorkonstitutionellen“ und „überstaatlichen“ Kern anerkannte, wollte der Parlamentarische Rat ihren unfehlbaren Charakter festlegen und den Weg für ihre direkte Einlösbarkeit eröffnen. Abgesichert durch eine ausdrückliche Verbindlichkeit und mit der Gründung eines Bundesverfassungsgerichts hat die Regelung der Grundrechte auf diese Weise „einen regelrechten Spurenwechsel gegenüber der europäischen Verfassungstradition“20 vollzogen, die vom Geschehen des nationalsozialistischen Totalitarismus, dem Ausdruck einer grundrechtsfeindlichen21 Politik, in ihren Grundfesten erschüttert worden war. Stellt die in Art. 1 § 3 des GG22 festgelegte direkte Einlösbarkeit der Grundrechte eine Replik auf das Weimarer Modell dar, so stellen die Erklärung der Unantastbarkeit der Würde des Menschen und die Verpflichtung aller staatlichen Gewalt, sie zu achten (Art. 1 § 1) eine ebenso direkte Reaktion auf die Erfahrungen der nationalsozialistischen Gewalt dar. Vom Schutz des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 § 2) zum Schutz des Rechts auf freie Meinungsäußerung (Art. 5), vom Verbot, Kinder gegen den Willen der Erziehungsberechtigten von der Familie zu trennen (Art. 6 § 3) zur Erklärung der Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 § 1), ist ein Großteil der im ersten Abschnitt des Grundgesetzes festgelegten Grundrechte das Ergebnis von Entscheidungen, die, wie Heuss am 18. Januar 1949 in einer Sitzung des Parlamentarischen Rates unterstrich, „nur als eine als notwendig empfundene Antwort auf das Erleben dieser letzten Zeit zu verstehen sind“23. Das Gleiche gilt für andere im Grundgesetz vorgesehene Maßnahmen, angefangen mit dem durch Art. 67 § 1 festgelegten konstruktiven Misstrauensvotum oder dem Verzicht auf die Direktwahl des Bundespräsidenten. Diese Maßnahmen wurden in der Absicht ausgearbeitet, zu verhindern, wie 19 Siehe dazu G. Gozzi, Democrazia e diritti. Germania: dallo Stato di diritto alla democrazia costituzionale, Rom / Bari 1999, S. 127-134. Die Aufwertung der Grundrechte erfolgte auch auf rein symbolischer Ebene, indem man die Grundrechte an den Anfang (und nicht mehr an den Schluss wie im Weimarer Fall) des Grundgesetzes setzte. 20 F. Lanchester, L’esperienza costituzionale tedesca ed il dibattito istituzionale italiano, in: ders., Le costituzioni tedesche da Francoforte a Bonn, Mailand 2002, S. 87. 21 Die Definition stammt von J. Perels, Das juristische Erbe des „Dritten Reiches“, Frankfurt a.M. / New York 1999, S. 33. 22 Art. 1 § 3 des Grundgesetzes lautet: „Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht“. 23 Der Parlamentarische Rat, Akten und Protokolle 1948-1949, 14/I, München 2009, S. 1301.

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Robert Lehr im Mai 1949 im Parlamentarischen Rat erklärte, „dass eine solche Häufung von Regierungsstürzen oder Regierungsumbildungen wie in der Weimarer Zeit sich wiederholen könnte“24. Dieselben „Lehren der Geschichte“ sind in den verfassungsrechtlichen Bestimmungen ersichtlich, die, angefangen mit Art. 21 des GG, die Umrisse der wehrhaften Demokratie absteckten und die Kriterien für die Verfassungswidrigkeit der sogenannten „Antisystemparteien“ und die Methoden für den Schutz der demokratischen und freiheitlichen Ordnung festlegten. Das „idiosynkratische“25 Verhältnis der Deutschen zur Demokratie wurde auf Verfassungsebene anhand einer Reihe von gesetzlichen Vorgaben angegangen, die zum Ziel hatten, auf der einen Seite die Gefahren einer übermäßigen Zersplitterung der politischen Vertretung zu vermeiden, auf der anderen – wie man zu sagen pflegte –, „den Feinden der Freiheit keine Freiheit“ zu gewähren. Die Unterscheidung zwischen dem, was zur Verfassungstreue gehörte und dem, was unter die Verfassungsfeindlichkeit fiel, war nicht leicht und man musste auf die Urteile des Verfassungsgerichts über das Verbot der Sozialistischen Reichspartei (1952) und der Kommunistischen Partei (1956) warten26, um die wehrhafte Demokratie klarer abzugrenzen27, die in der Absicht entstanden war, ein Gegenstück zum wertneutralen Charakter der Weimarer Demokratie zu bilden. Unter den einschneidendsten Folgen der verfassungsmäßigen Aufarbeitung der Vergangenheit ist auf alle Fälle die Gründung des Bundesverfassungsgerichts zu erwähnen. Von den ersten Diskussionen beim Verfassungskonvent in Herrenchiemsee an war es klar, dass das Bundesverfassungsgericht umfangreichere Kompetenzen erhalten würde, als sie das Weimarer Staatsgericht hatte. Als Garant und Verteidiger der Grundrechte wurde dem Verfassungsgericht faktisch die Rolle eines regelrechten Hüters der Verfassung zugewiesen. Über diese Funktion hatte sich die öffentlich-rechtliche Debatte von Weimar entVgl. dazu S. Ullrich, Der Weimar-Komplex, S. 278-279. M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 4, München 2012, S. 305. 26 Für eine Betrachtung der Bedeutung der Urteile des deutschen Verfassungsgerichts in Bezug auf die wehrhafte Demokratie siehe R.C. van Ooyen, Die Parteiverbotsverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht, in: R.C van Ooyen / M.H.W. Möllers (Hrsg.), Das Bundesverfassungsgericht im politischen System, Wiesbaden 2006, S. 333-348; W. Schön, Grundlagen der Verbote politischer Parteien als politische Gestaltungsfaktoren in der Weimarer Republik und in der Bundesrepublik, Würzburg 1972. 27 Zum Stellenwert des Weimarer Experiments bei der Festlegung der in das Bonner Grundgesetz aufgenommenen Instrumente zum Schutz der deutschen Demokratie verweisen wir auf M. Brenner, Die wehrhafte Demokratie: Eine Lehre aus Weimar?, in: E. Eichenhofer (Hrsg.), 80 Jahre Weimarer Reichsverfassung. Was ist geblieben?, Tübingen 1999, S. 95-115. 24 25

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zündet, die gespalten war in diejenigen, die – wie Kelsen – im Instrument der Verfassungsgerichtsbarkeit eine Garantie für die pluralistische Demokratie sahen, und diejenigen, die – wie Schmitt – bestritten, dass einem Verfassungsgericht die durchweg „politische“ Funktion des Hüters der Verfassung übertragen werden könne28. Das Gespenst einer Wiederholung der Fehler des Weimarer demokratischen Modells29, das im kollektiven Gedächtnis der Gründerjahre der Bundesrepublik spürbar präsent war30, musste besiegt werden, indem man das neue Verfassungsprojekt mit einer Reihe von gesetzlichen Vorgaben panzerte, die sein Wiederauftauchen verhindern sollten. Die Verabschiedung der neuen Verfassungsarchitektur, noch mehr aber die Solidität eines politischen Systems, das von Anfang an eine beträchtliche Regierungsstabilität zu garantieren vermochte, konnten die Ängste jener, die hinter dem Bonner Grundgesetz die Mängel der vorausgegangenen republikanischen Erfahrung zu sehen glaubten, nicht ganz verscheuchen, doch das Bild von Weimar wurde nach und nach immer weniger bedrohlich. Wie auch kürzlich unterstrichen wurde, verstummten in den frühen Fünfzigerjahren „die Stimmen, die vor einer Wiederholung des Weimarer Scheiterns warnten … nicht, auch blieben antiparlamentarische und antiparteienstaatliche Vorbehalte virulent. Aber die Kritiker gerieten nun mehr und mehr in die Defensive“31. Eine Reaktion auf die ständige Präsenz von Themen Weimarer Herkunft im öffentlichen Diskurs der Bundesrepublik kam 1956 von Fritz René Allemann, einem Mitarbeiter der Schweizer Tageszeitung „Die Tat“, der mit der Veröffentlichung des erfolgreichen „Bonn ist nicht Weimar“ die Ängste vor einer „Wiederkehr“ der Vergangenheit abbauen wollte und unterstrich, 28 Die gegensätzlichen Positionen von Kelsen, der die Verfassungsgerichtsbarkeit als vollständigen Ausdruck der Demokratie verstand, und Schmitt, der den Staat als „politische Entscheidungseinheit“ betrachtete und die Vorstellung der Verfassungsgerichtsbarkeit als Verleugnung der Demokratie ablehnte, hatten 1929 die Jahrestagung der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer belebt. Dazu und zur Wiederaufnahme des Kelsenschen Ansatzes in den Arbeiten des Parlamentarischen Rates durch Vermittlung von Hans Nawiasky siehe R.C. van Ooyen, Der Streit um die Staatsgerichtsbarkeit in Weimar aus demokratietheoretischer Sicht: Triepel – Kelsen – Schmitt – Leibholz, in: R.C van Ooyen / M.H.W. Möllers (Hrsg.), Das Bundesverfassungsgericht im politischen System, S. 99-113. Zur Kelsenschen Auffassung der Verfassungsgerichtsbarkeit vgl. S. Lagi, Kelsen e la Corte costituzionale austriaca: un percorso storico-politico (1918-1920), in: Giornale di Storia costituzionale, 11 (2006), 1, S. 165-176. 29 Für eine ausgewogene Analyse der Schwächen der Weimarer Verfassung und ihre angemessene historische Kontextualisierung vgl. D. Grimm, La Costituzione di Weimar vista nella prospettiva del Grundgesetz, S. 36-39. 30 S. Ullrich, Der Weimar-Komplex, S. 305-308. 31 Ebd., S. 412.

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dass der neue deutsche Staat in kurzer Zeit eine ausgereifte politische und verfassungsmäßige Ordnung erreicht hat. Die „Abkehr von Weimar“32, die auf einer ausgeprägten Stilisierung der konstitutionellen Vergangenheit und – zumindest zum Teil – auf ein ,dagegen‘ geschaffenes bundesdeutsches Modell gründete, stabilisierte sich also und ließ allmählich Raum für die Überzeugung, dass die Lehren der Vergangenheit dazu gedient hätten, das neue Verfassungsgebäude abzusichern. 2. Der Fall Italien Das Ende des Krieges hatte, wie die oben angeführten Worte Orlandos bezeugen, auch für Italien einen Einschnitt von großer Tragweite bedeutet. Die dramatischen Ereignisse, von denen die Erfahrung des Widerstandes gekennzeichnet war, und der Zusammenbruch der faschistischen Diktatur riefen nach einer verfassunggebenden Gewalt, die mit dem vergangenen Regime brach. Doch auf dem „großen Aufbaueifer“33 jener Jahre lasteten nicht nur die Misserfolge des totalitären Regimes Mussolinis, sondern auch die Erinnerung an die Krise des liberalen Systems der frühen Zwanzigerjahre. In einer berühmten (und sehr umstrittenen) Rede am 26. Oktober 1945 vor der Verfassunggebenden Versammlung stellte der Ministerpräsident Ferruccio Parri Überlegungen zur neuen Entwicklung der italienischen Demokratie an und blickte polemisch auf die Vergangenheit zurück: „Ich weiß nicht, ich glaube nicht, dass man die Systeme, die wir vor dem Faschismus hatten, als demokratisch bezeichnen kann … [Unterbrechungen, gegenseitige Beschimpfungen, Kommentare, Lärm]. Ich möchte mit diesen meinen Worten jene Systeme nicht beleidigen [Kommentare, Unterbrechungen, Lärm]. Es tut mir leid, dass meine Definition nicht genehm ist. Ich wollte Folgendes sagen: demokratisch hat eine klare, ich würde sagen, technische Bedeutung. Jene Systeme können wir als liberal bezeichnen und betrachten [Unterbrechungen, Kommentare, Rufe: Es lebe Orlando! Stürmischer und anhaltender Applaus an die Adresse des Abg. Orlando, Rufe: Es lebe Vittorio Veneto!]“34.

32 Nach der von Gusy vorgelegten Rekonstruktion kam es, nach einer ersten Phase der Abwendung von der Weimarer Tradition, ab den Sechzigerjahren zu einer spürbaren Abkehr von jenem republikanischen Experiment seitens der deutschen politischen und juristischen Kultur. Die Achtzigerjahre hätten schließlich zu einer Historisierung der Weimar Zeit und in der Folge zu einer völligen Verselbstständigung des Verfassungsdiskurses gegenüber jener Tradition geführt; vgl. C. Gusy, Die Weimarer Verfassung und ihre Wirkung auf das Grundgesetz, S. 37-46. 33 Ich entlehne den Ausdruck von P. Grossi, Scienza giuridica italiana. Un profilo storico 1860-1950, S. 289. 34 Vgl. Atti della Consulta Nazionale. Discorsi dal 25 ottobre 1945 al 9 marzo 1946, Rom, S. 18.

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Wie aus den vom Stenographen festgehaltenen Kommentaren hervorgeht, stieß der Hinweis auf die Misserfolge des liberalen Staates, womit Parri die Notwendigkeit einer radikalen Erneuerung des Verfassungsmodells unterstrich, bei vielen der Anwesenden nicht auf Zustimmung. Wie die Debatten in der Verfassunggebenden Versammlung zeigten, bedeutete nämlich für einige Protagonisten des nationalen politischen Lebens das „Neue“, das zu gestalten man sich anschickte, nicht notwendigerweise die völlige Archivierung der vorausgegangenen politischen Erfahrungen35. Im Übrigen hatte die provisorische Regierung, die zur konstituierenden Phase geführt hatte, ganz klar zum Ausdruck gebracht, dass Gegenkräfte vorhanden waren: auf der einen Seite die Versuche einer „Rückkehr zum Statut“ in der präfaschistischen oder nostalgisch autoritären Variante, auf der anderen Seite die Kräfte der Erneuerung, die in Richtung einer einschneidenden Verfassungsbegründung drängten36. Stellte das Andenken an den Partisanenkampf ein Legitimierungsinstrument dar, das von den politischen Kräften weitgehend akzeptiert wurde, so gab es bei der Bewertung der Mängel der liberalen Erfahrung nach dem Ersten Weltkrieg harte Auseinandersetzungen. Gegen diejenigen – man denke an Orlando – welche die Gültigkeit der liberalen Verfassungserfahrung verteidigten, stellten sich diejenigen, welche jenem Modell (und der Führungsschicht, die dessen Werte verteidigte) zur Last legten, den Vormarsch des diktatorischen Plans Mussolinis nicht aufgehalten zu haben. Beispielhaft in dieser Hinsicht erscheint der Seitenhieb, den Togliatti anlässlich seiner Wortmeldung am 11. März 1947 bei der Verfassunggebenden Versammlung den Exponenten des alten Liberalismus erteilte: „Wir sind verantwortlich für die Zukunft unserer Kinder, gegenüber unseren Enkeln. Deshalb machen wir eine neue Verfassung, das heißt, wir wollen eine neue Verfassungsordnung begründen. Dabei wollen wir berücksichtigen, was geschehen ist, das heißt, Bilanz ziehen über einen historischen und politischen Prozess, der in einer nationalen Katastrophe geendet hat. Diese Katastrophe, meine Herren, war gleichzeitig das Scheitern einer Führungsschicht, und das ist auch die iegentliche Frage … Das italienische Volk kann nämlich heute nicht umhin, sich zu fragen, Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang die Reaktion Croces auf die Überlegungen Parris: „Diese Behauptung steht in offenkundigem Gegensatz zur Tatsache, dass Italien von 1860 bis 1922 eines der demokratischsten Länder der Welt war … Und wer, so wie ich, sich in jener liberalen und demokratischen Blüte Italiens herangebildet hat, wird niemals vergessen, dass er sein Bestes jener Art und jenem Rhythmus des italienischen Lebens verdankt, die es ihm leicht machten – so wie es für die vorhergehenden Generationen nicht war –, sich ohne jeglichen Druck zu bilden, im weiten Raum der universalen Kultur umherzuschweifen … sich mit jedermann im zivilen Wettstreit zu messen“; Atti della Consulta Nazionale. Discorsi dal 25 ottobre 1945 al 9 marzo 1946, S. 37. 36 C. Decaro, Le due costituzioni provvisiorie (1943-1948), in: Il Parlamento italiano, XIV (1946-1947). Repubblica e Costituzione: dalla luogotenenza di Umberto alla presidenza De Nicola, Mailand 1989. 35

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ob diese Niederlage, die wir erlitten haben, dieses Unglück, in das sie uns gestürzt haben, etwas Unvermeidliches war … Diese Niederlage war nicht unabwendbar. Kollegen, ich empfinde Respekt, und auch mehr als nur Respekt, für die Menschen, die in diesem Saal sitzen und die den Gruppen angehören, die ein integrierender Bestandteil dieser alten Führungsschicht waren … doch ich komme nicht umhin, nicht zu empfinden und nicht zu behaupten, dass auch diese Menschen einen Teil der Verantwortung für die Katastrophe tragen, die über das italienische Volk hereingebrochen ist. Denn ihr hattet Augen und habt nicht gesehen“37.

Das sind bekannte Aussagen und es ist nützlich, sich auf diese zu berufen, um zu unterstreichen, welchen Einfluss die Geschichte, „verstanden sowohl im Sinne der großen epochalen Ereignisse, denen man Rechnung tragen muss, als auch im Sinne der Überlieferung der Vergangenheit, welche die politischen und nationalen Identitäten der Gegenwart formt“38, bei der Festlegung der Strategien hatte, und die – nicht immer ohne Zögern – in der Nachkriegszeit die Hand des italienischen Verfassungsgebers geführt hat. So wie im deutschen Fall, betraf die Aufarbeitung der Vergangenheit nicht nur die dunklen Kapitel der autoritären Erfahrung, sondern erfasste auch die politische Phase, die ihr vorausgegangen war. Und obwohl sie Kind eines vom 19. Jahrhundert geprägten Verfassungsmodells war (also fern von dem in mancher Hinsicht innovativen Experiment, das man in Weimar versucht hatte), gab es auch Stimmen, die viele der gedanklichen Grundmuster bewahren wollten, rund um die es Gestalt angenommen hatte. Genau wie in Deutschland hatte die sogenannte „Stunde Null“ des italienischen politischen Lebens übrigens nicht die vollständige Auflösung der normativen und administrativen Apparate der Vergangenheit und den Aufbau aus dem Nichts des neuen Verfassungsgebäudes zur Folge. Wie gesagt, waren im italienischen Fall die Zeichen der Kontinuität in der Tat „weder spärlich noch unerheblich, weil die Zeit zwischen den beiden Kriegen nicht allein in der bleiernen Schwere des autoritären Regimes mit seinen ununterdrückbaren Anmaßungen bestanden hatte, sondern auch in einer Interpretation der eigenen historischen Zeit mit angemessenen Antworten auf die drängenden Fragen dieser Zeit“39. P. Togliatti, Discorsi parlamentari, Bd. 1, Rom 1984, S. 59-60. P. Pombeni, Il peso del passato. Storia d’Italia e strategie costituzionali all’Assemblea Costituente, in: G. Miccoli / G. Neppi Modena / P. Pombeni (Hrsg.), La grande cesura. La memoria della guerra e della resistenza nella vita europea del dopoguerra, Bologna 2001 S. 402; für eine umfassendere Rekonstruktion des politischen Panoramas, in dem sich die Tätigkeiten der Verfassunggebenden Versammlung abspielten, siehe ders., La Costituente. Un problema storico-politico, Bologna 1995. 39 P. Grossi, Scienza giuridica italiana, S. 289. Zur Unmöglichkeit, das Jahr 1948 als das „Jahr Null“ der Verfassungsordnung zu betrachten, siehe G. Amato, Costantino Mortati e la Costituzione italiana. Dalla Costituente all’aspettativa mai appagata dell’attuazione costituzionale, in: M. Galizia / P. Grossi (Hrsg.), Il pensiero giuridico di Costantino Mortati, Mailand 1990, S. 236-243. 37 38

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Im italienischen verfassunggebenden Prozess zeigten sich deutlich die Linien der Kontinuität sowohl mit dem Bildungsgut der alten liberalen Tradition als auch mit den Versuchen theoretischer Erneuerung, die in der Zeit des Faschismus aus der weniger regimetreuen Rechtskultur herangereift sind40. Das war kein Hindernis dafür, dass sich die Charta in vielen Punkten gegenüber der Verfassungstradition erneuerte, dank einer signifikanten theoretischen Revision von Instituten der liberalen Ordnung und einer gleichzeitigen Öffnung gegenüber neuen rechtlichen Lösungen, die das Ergebnis des Überdenkens der vergangenen autoritären Erfahrungen waren. Was sich mit der Verabschiedung der Verfassung von 1948 änderte, waren nicht bloß die politische Ordnung und die Regierungsform; mit dem Durchbruch des Modells eines Verfassungsstaates wurden nämlich, wenn auch unter vielen Gefahren und mit gravierenden Verspätungen, die durch die Nichtverwirklichung jenes politischen und rechtlichen Entwurfs bedingt waren, viele Konzepte neu definiert, welche die frühere Wissenschaft des öffentlichen Rechts geschaffen und vermittelt hatte. Es änderte sich vor allem das Verhältnis zwischen Staat und Verfassung: Die absolute Zentralität, die der Staat im rechtlichen Diskurs des 19. Jahrhunderts innegehabt hatte, machte allmählich einer Vorstellung Platz, in der die Verfassung als selbsttragender Unterbau des Ordnungssystems verstanden wurde. Es war nicht mehr der Staat, der seine Verfassung festlegte, sondern es war zunächst die Verfassung, die den Staat schuf41. Hatte man bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs dem Staat eine Vorherrschaft gegenüber Gesellschaft und Verfassung zuerkannt – die Definition der staatlichen Erscheinung selbst ging von der Anerkennung des vollständigen und ursprünglichen Charakters seiner Souveränität aus –, so nahm infolge des Niedergangs der historischen Erfahrung des liberalen Staates und des Vormarsches der politisch organisierten Massen im öffentlichen Leben die Verfassung allmählich, so wie es in Deutschland der Fall war, eine völlig neue Zentralität ein42. Die kategoriale Bestimmtheit, mit der die Wissenschaft des öffentlichen Rechts den Staatsbegriff auf den Punkt gebracht hatte, machte langsam einer ganz anderen theoretischen Konstruktion Platz,

40 Vgl. P. Caretti / P. Sorace, Tecnica e politica nel contributo dei giuristi al dibattito costituente, in: U. De Siervo (Hrsg.), Scelte della Costituente e cultura giuridica, Bd. 1, Bologna 1980, S. 24. 41 H. Hoffmann, Riflessioni sull’origine, lo sviluppo e la crisi del concetto di Costituzione, in: S. Chignola / G. Duso (Hrsg.), Sui concetti giuridici e politici della costituzione europea, Mailand 2008, S. 234. 42 Für eine Betrachtung über die allgemeinen Merkmale der Entwicklung, die der europäische Konstitutionalismus nach dem Zweiten Weltkrieg genommen hat, verweisen wir auf M. Fioravanti, Costituzione e popolo sovrano. La Costituzione italiana nella storia del costituzionalismo moderno, Bologna 2004, S. 77-119; ders., Costituzionalismo. Percorsi della storia e tendenze attuali, Rom / Bari 2009, S. 98-104.

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in welcher der Staat nicht mehr die logische Voraussetzung der Verfassung und der Politik darstellte. Die Vorstellung, die sich in der Nachkriegszeit durchzusetzen begann, kehrte sozusagen die Ordnung der Faktoren um und legte die Zentralität der Verfassung fest, die in ihrer authentisch politischen Dimension erfasst und mit der Aufgabe betraut wurde, die Voraussetzungen und Koordinaten für die Entwicklung der Gesellschaft festzulegen. Nachdem der Staat die Rolle als unparteiischer Schiedsrichter aufgegeben hatte, wurde ihm die Aufgabe übertragen, aktiv die soziale Entwicklung voranzutreiben und den Wandel zu steuern. Es war, wie gesagt, kein schmerzloser Prozess, da sich die Kombination von Tradition und Erneuerung als eher komplex darstellte, wie Calamandrei mit gewohnter Schärfe anmerkte, wobei er hervorhob, dass im Verfassungsentwurf zugleich „Fahrzeugteile aus dem 19. Jahrhundert und Triebwerke von Flugzeugmotoren“43 vorhanden waren. Einen Beweis für diese Komplexität liefern die Vorfälle, die zur Festlegung des Grundsatzes der Volkssouveränität führten (Art. 1). Obwohl die am verfassunggebenden Prozess beteiligten politischen Kräfte von der historischen Notwendigkeit überzeugt waren, das in vielerlei Hinsicht von der Geschichte desavouierte Modell des liberalen Parlamentarismus zu überwinden, waren sie sich grundsätzlich in ihren Bemühungen einig, den Grundsatz der uneingeschränkten Volkssouveränität mit dem traditionellen Modell des Primats des Parlaments zu vereinen, indem man die Ausübung der souveränen Gewalt in den von der Verfassung anerkannten Formen verankerte44. Auch der Grundrechtekatalog entstand aus einer Aufarbeitung als Reaktion gegenüber der nationalen Vergangenheit. Die unzulängliche Konzeption der Grundrechte aus der Statutenzeit, die auf die sogenannten „negativen“ individuellen Freiheiten und auf die aus Deutschland herrührenden Lehre der Freiheitsrechte als Selbstbeschränkung der souveränen Staatsgewalt gegründet war, machte einer moderneren Rechtslehre Platz, wobei jedoch das Problem der unmittelbaren Wirkung der Grundsatzbestimmungen nicht eindeutig, so

43 P. Calamandrei, Chiarezza nella Costituzione, in: ders., Costituzione e leggi di Antigone. Scritti e discorsi politici, Florenz 1996, S. 81. Für eine Einordnung der Positionen Calamandreis zur Verfassung und zu ihren Unzulänglichkeiten vgl. A. Galante Garrone, Calamandrei, Mailand 1987, S. 256-282; P. Barile, La nascita della Costituzione: Piero Calamandrei e le libertà, in: Scelte della Costituente e cultura giuridica, Bd. 2, S. 15-48. 44 Für eine Analyse der aus den Debatten bei der Verfassunggebenden Versammlung hervorgegangenen Theorie der Souveränität siehe D. Quaglioni, La sovranità nella Costituzione, in: C. Casonato (Hrsg.), Lezioni sui princìpi fondamentali della Costituzione, Turin 2010, S. 13-33; M. Fioravanti, Costituzione e popolo sovrano, S. 97. Vgl. darüber hinaus ders., Costituzione e legge fondamentale, in: Diritto Pubblico, (2006), 2, S. 467 ff.

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wie im deutschen Grundgesetz, gelöst wurde45. Die leidenschaftlichen Diskussionen im Herbst 1946 in der Kommission der 75 zeigen, dass – auch in Bezug auf das Thema der Rechte – der programmatische Wert der Verfassungsbestimmungen der Vorstellung ihrer Umsetzung auf politisch-parlamentarischer Ebene untergeordnet wurde. Erst mit Inkrafttreten des verfassungsmäßigen Justizsystems wurde der bindende Charakter dieser Grundsätze anerkannt, was dazu führte, dass – nach den Worten von Calamandrei – die Freiheitsrechte aufhörten, „leere Rechtshülsen“46 zu sein. Die Auswirkungen der Zwischenkriegserfahrung sind auch in der Verfassungsregelung der politischen Partei spürbar. In den Dreißigerjahren hatte die ‚Entdeckung‘ und das Akzeptieren des Konfliktcharakters der Gesellschaft die Wissenschaft des öffentlichen Rechts (ein Paradefall ist natürlich Mortati) veranlasst, die liberale und sozietäre Konzeption der Partei zur Diskussion zu stellen, und zwar im Namen einer deutlicher auf die Verfassung ausgerichteten Sicht, in der die Partei kein bloßer Interessenverband mehr war, sondern eine vorrangige Rolle bei der Differenzierung (um bei dem von Mortati so geliebten Vokabular zu bleiben) und Aggregierung des politischen Systems übernahm. Die Erfahrung des Faschismus hatte die Gefahren einer totalisierenden (und totalitären) Auffassung der Partei unmissverständlich deutlich gemacht und die Schwachstellen des Prozesses der Verstaatlichung der assoziativen Dynamiken aufgezeigt. Bei der Regelung der Materie mussten die Verfassungsgeber zwei Erfordernisse in Einklang bringen: Einerseits energisch das pluralistische Prinzip als Bruch gegenüber der Erfahrung der faschistischen Ordnung durchsetzen, andererseits die institutionelle Dimension der Partei sicherstellen und rund um diese eine neue Sicht der Volkssouveränität entwickeln. Wie geschrieben wurde, „bleibt unsere Verfassung in diesem Sinn auf halbem Weg stehen: Sie ist nicht mehr rein liberal, weil die starke Rolle der politischen Parteien im Wesentlichen akzeptiert wird, weit über den Buchstaben des Artikels 49 hinaus; sie schafft es aber auch nicht bis zum anderen Extrem, nämlich – wie die Verfassungslehre der

45 Trotz eingehender Beschäftigung mit den Grundrechten in der Verfassunggebenden Versammlung hat die Verfasung von 1948 keine besonders starken subjektiven Rechtspositionen herausgearbeitet; vgl. dazu M. Fioravanti, Costituzione e popolo sovrano, S. 103-104. 46 Zum Einfluss, den der Verfassungsgerichtshof bei der Umsetzung der Verfassungsvorschriften und für die allmähliche Überwindung der Rechtsprechung des Kassationsgerichts in Bezug auf den bindenden oder vorschreibenden Charakter der Verfassungsbestimmungen hatte, siehe M. Fioravanti, L’attuazione della Costituzione: il ruolo della cultura costituzionale, Referat auf der Tagung „La Costituzione della Repubblica Italiana. Le radici, il cammino“, Bergamo 29. Oktober 2005 (einsehbar unter http://www.astrid-online.it/rassegna/Rassegna-2/22-12-2005/Fioravanti-ruolocultura-cost_28_10_.pdf).

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Dreißiger- und Vierzigerjahre – in der Partei jene Institution zu sehen, welche der Volkssouveränität konkrete Form gibt, indem sie diese auf eine vorherrschende und bestimmende politische Ausrichtung bezieht, die direkt vom Volk gewählt wurde“47.

Solche Gegensätzlichkeiten gibt es bekanntlich bei der Wahl der Regierungsform. Auch in diesem Bereich vermischte sich die Notwendigkeit, die negativen Folgen des faschistischen Experiments zu vertreiben, mit dem Bemühen – das einem Teil der Verfassungsgeber besonders am Herzen lag – die von der liberalen Tradition hinterlassenen Grundlagen zu bewahren und der Figur des Staatsoberhauptes eine zentrale Stellung zuzuerkennen. Sogar die kommunistischen Kräfte, die immerhin klar auf die Überwindung der faschistischen Regierungsform ausgerichtet waren, legten eine bemerkenswerte Treue zum Dogma der Staatssouveränität an den Tag, allerdings abgewandelt in eine vollkommen parlamentarische Form. Radikalere Vorschläge zur Neudefinierung der Regierungsform, die bereits in der Verfassungsdebatte der Dreißigerjahre aufgetaucht waren, fanden in der verfassungsgebenden Debatte wenig Gehör48; man entschied sich zwar für den Weg des tiefen Bruchs mit der Vergangenheit, gestaltete aber die traditionellen Modelle der Staatssouveränität und des Parlaments um, ohne deren völlige Überwindung zu dekretieren49. So wurde die Tagesordnung Perassi genehmigt, in der die Vorschläge für das präsidentielle und direktoriale Regierungssystem verworfen wurden und man sich für das parlamentarische System aussprach, „das allerdings mit Verfassungsinstrumenten geregelt werden soll, die geeignet sind, die Erfordernisse einer beständigen Regierungsarbeit zu erfüllen und die Auswüchse des Parlamentarismus [die Gespenster der Vergangenheit flatterten bedrohlich] zu vermeiden“50. Andere Ergebnisse der vergangenen Rechtstradition waren zu eng mit der diktatorischen Erfahrung verbunden und wurden trotz der Versuche, ihre Grenzen neu abzustecken, aus dem Verfassungsentwurf gestrichen. Man denke an den theoretischen Besitzstand des Korporatismus, über den nicht nur die 47 M. Fioravanti, Costituzione e popolo sovrano, S. 79. Siehe dazu P. Scoppola, La repubblica dei partiti. Profilo storico della democrazia in Italia (1945-1990), Bologna 1991, S. 61 ff.; S. Bonfiglio, Forme di governo e partiti politici. Riflessioni sulla evoluzione della dottrina costituzionalistica italiana, Mailand 1993. 48 Zu den unterschiedlichen Positionen, die im 2. Unterausschuss deutlich geworden sind, vgl. F. Bruno, I giuristi alla Costituente: l’opera di Costantino Mortati, in: Scelte della Costituente e cultura giuridica, S. 99 ff. 49 Vgl. A. Massera, Orlando, Romano, Mortati e la forma di governo, in: Forme di Stato e forme di governo. Nuovi studi sul pensiero di Costantino Mortati, Mailand 2007, S. 769-803; M. Fioravanti, Costituzione e popolo sovrano, S. 108-115; S. Merlini, Il governo costituzionale, in: Storia dello Stato italiano dall’Unità a oggi, S. 53 ff. 50 Atti dell’Assemblea Costituente, II Sottocommissione, seduta 5 settembre 1946, S. 943-944.

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regimetreue Rechtswissenschaft nachgedacht hatte, sondern auch jener Teil der italienischen Wissenschaft des öffentlichen Rechts, der am empfänglichsten für die christliche Soziallehre und für korporativ ausgerichtete Vorstellungen war, die ab dem späten 19. Jahrhundert das wirtschaftliche und soziologische Denken katholischer Prägung angeregt hatten. Der Misskredit, in den die Idee des Korporatismus geraten war, brachte eine klare Distanzierung von der Vergangenheit und die eindeutige Verurteilung dessen mit sich, was das Regime – auf korporatistischer Grundlage – im Namen der Neuordnung der Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft verwirklicht hatte. Was an den Korporatismus erinnerte, wurde recht bald beseitigt, und doch war dieser trotz des dermaßen feindseligen Klimas eine „Idee, die nach dem Zweiten Weltkrieg ausuferte und einen ganz und gar urbar und fruchtbar gemachten Boden hinterließ“51. Auch wenn das korporative Experiment des Faschismus offen stigmatisiert wurde, sodass man sich nicht einmal bei der Errichtung der Sozialrepublik ausdrücklich auf jenes Modell berief, so gab es in der unmittelbaren Nachkriegszeit gleichwohl einige Versuche, seine Idee – entlastet von den autoritären Implikationen und innerhalb eines demokratisch gefärbten Horizonts – am Leben zu erhalten und zumindest teilweise zu verbreiten. Vor allem die katholische Kultur, deren nicht so sehr mit dem Regime verbundene Komponenten im Verlauf der Dreißigerjahre ihr Missfallen gegenüber der etatistischen Sicht des faschistischen Korporativismus geäußert hatten52, hegte in einigen ihrer Teile (ehrlich gesagt, eine Minderheit) ein gewisses Wohlwollen gegenüber jener ideellen und argumentativen Tradition. Die Arbeiten der Verfassunggebenden Versammlung zeigen, wie lebendig die Einflüssen noch waren, die auf Projekte zur Ordnung der Gesellschaft und zur politischen Verpflichtung verwiesen, welche auf korporativen Grundlagen beruhten, und wie wenig eindeutig die Loslösung von den institutionellen und kulturellen Hinterlassenschaften des Korporativismus gewesen war53. Man betrachte das Projekt Mortatis, das einen Senat als korporative Kammer vorsah, die auf die gewerkschaftliche und berufliche Vertretung gegründet war. Dieses Projekt geriet unvermittelt ins Stocken, und zwar deshalb, weil in jenen Jahren jeder institutionelle Vorschlag undenkbar war, der – auch nur nominell – die jünP. Grossi, Scienza giuridica italiana, S. 184. Wir erlauben uns zu diesem Thema den Verweis auf M. Cau, Un nuovo ordine tra stato e società. Recenti ricerche sul corporativismo, in: Storica, 16 (2010), 48, S. 135-163; ders., La via maestra alla giustizia sociale. Alcide De Gasperi tra solidarismo e corporativismo, in: Scienza & Politica, 21 (2009), 41, S. 5-31; C. Vallauri, Le radici del corporativismo, Rom 1971. 53 Vgl. A. Gagliardi, Il corporativismo fascista, Rom / Bari 2010, S. 158; I. Stolzi, L’ordine corporativo. Poteri organizzati e organizzazione del potere nella riflessione giuridica dell’Italia fascista, Mailand 2007, S. 17. 51 52

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gere Vergangenheit zurückgerufen und damit noch nicht vernarbte Wunden geöffnet hätte54. Es sei daran erinnert, dass der Rückblick des Verfassungsgebers sich nicht nur auf die belastende faschistische Erfahrung und die weiter zurückreichende liberale Erfahrung richtete. In den Debatten der Nachkriegszeit – ein ähnliches Interesse ist aber auch seit den frühen Vierzigerjahren deutlich feststellbar – fehlte es nicht an Bezugnahmen auf die Verfassungserfahrung Weimars und auf die deutsche Rechtstradition, die großen Anteil am Reifungsprozess der italienischen Wissenschaft des öffentlichen Rechts ab dem späten 19. Jahrhundert gehabt hatte. Im Italien des konstitutionellen Umbruchs war Weimar nämlich „nicht nur das Gespenst, das es zu vertreiben galt, sondern auch eines der Modelle, auf das unsere Verfassungsgeber schauten, und nicht gerade das unwichtigste“55. „Ausgangs- oder Übergangspunkt“, was den organisatorischen Teil der Verfassung von 1919 angeht, und „Schlusspunkt“56, was die Erklärung der nach der Novemberrevolution festgelegten Grundrechte und Grundpflichten betrifft. In der Studienreihe, die vom Ministerium für die Verfassungsgebung unter Koordinierung von Massimo Severo Giannini gefördert wurde, kam dem Text Mortatis über die deutsche Verfassung von 1919 eine wichtige Rolle zu57. Bei der Vorstellung der organisatorischen Besonderheiten der Weimarer Staatsform, die das Ergebnis eines Kompromisses zwischen radikalen demokratischen Forderungen und traditionsgemäß liberaleren Modellen war, hob Mortati die Gründe für ihren frühzeitigen Niedergang hervor; diese waren auf das instabile Gleichgewicht zwischen parlamentaristischen Ausrichtungen und präsidentialistischen Tendenzen, auf die unterbliebene Demokratisierung Zum Scheitern des Vorschlags von Mortati siehe F. Bruno, I giuristi alla Costituente: l’opera di Costantino Mortati, S. 105-123. 55 S. Basile, La cultura politico-istituzionale e le esperienze „tedesche“, in: Scelte della Costituente e cultura giuridica, S. 45. Siehe außerdem F. Lanchester, Le costituzioni tedesche da Francoforte a Bonn. Introduzione e testi, Mailand 2009, S. 108-109. 56 S. Basile, La cultura politico-istituzionale e le esperienze „tedesche“, S. 45. 57 C. Mortati (Hrsg.), La costituzione di Weimar, Florenz 1946. Für eine Überprüfung der Positionen Mortatis zur Krise des politischen Systems von Weimar vgl. S. Trinchese, Governare dal Centro. Il modello tedesco nel cattolicesimo politico italiano del ’900, Rom 1994, S. 185-195; F. Bruno, La Costituzione di Weimar e la Costituente italiana, in: Weimar e il problema politico-costituzionale italiano, S. 98-108. Zum Verweis Mortatis auf die Weimarer Verfassung als Bezugsmodell für die Verfassungen des 20. Jahrhunderts vgl. M. Fioravanti, Profilo storico della scienza italiana del diritto costituzionale, in: S. Labriola (Hrsg.), Valori e principi del regime repubblicano, Bd. 1, Rom / Bari 2006, S. 146-147; für eine Analyse der Betrachtungen Mortatis über das Weimarer Modell in den frühen Dreißigerjahren vgl. G. Rebuffa, Weimar e l’Italia negli anni Venti e Trenta, in: Weimar e il problema politico-costituzionale italiano, S. 86-87. 54

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der Zwischenkörperschaften (eines der bevorzugten Themen des kalabrischen Juristen) und auf den grundsätzlichen Misserfolg der Maßnahmen zur Verbindung und Koordinierung zwischen Staat und Gesellschaft zurückzuführen58. Diese Überlegungen klangen in den Debatten der Verfassungsgeber an, wobei es auch direkte Verweise auf die Strukturen (und Schwächen) des deutschen parlamentarischen Systems gab, vor allem anlässlich der Diskussionen über die Rolle des Staatsoberhauptes und sein Verhältnis zum Ministerpräsidenten59. In den Jahren, in denen – um es mit den treffenden Worten Calamandreis zu sagen – das italienische nationale Leben gezwungen war „in behelfsmäßigen konstitutionellen Barackenlagern zu wohnen“60, stellte Weimar also einen „unglücklichen Mythos“ und gleichzeitig „eine Quelle und ein Beispiel“61 dar. Es war kein Ansatz, auf dem man, so wie in den ersten Jahren der Bundesrepublik Deutschland, sprunghaft einen neuen Verfassungsentwurf aufbauen konnte, aber ein Modell, auf das man schauen konnte – nicht ohne Unbehagen62 –, um einen Zugang zu den Formen des republikanischen Konstitutionalismus zu finden, mit dem sich dessen Schwächen vermeiden ließen. Wenn man heute einige der vorschnellen Urteile über die Schwächen der deutschen Demokratie nach dem Ersten Weltkrieg, welche die italienischen Verfassungsgeber zum Ausdruck gebracht haben, nachvollzieht, so mögen diese überraschen63. Sie scheinen in gewisser Weise die Schwierigkeiten zu verbergen, welche die italienische rechtliche und politische Kultur der Nachkriegszeit dabei hatte, an die eigene doppelte Vergangenheit zurückzudenken, und zwar die liberale und die faschistische. Das Schweigen, das in Vgl. F. Bruno, Costantino Mortati fra Weimar e Bonn, in: Forme di stato e forme di governo: nuovi studi sul pensiero di Costantino Mortati, S. 315-348. 59 Siehe die Wortmeldungen von Tosato und La Rocca bei der Sitzung vom 5. September 1946. Die negativen Urteile Tosatos über die Entwicklung der Weimarer Ordnung nahmen die Überlegungen wieder auf, die sein Lehrer Donato Donati zwei Jahrzehnte zuvor in seinen Kursen in Padua angestellt hatte. 60 P. Calamandrei, Nel limbo istituzionale, in: Costruire la democrazia. Premesse alla Costituente, Florenz 1995, S. 34. 61 S. Trinchese, Governare dal Centro, S. 178. Für eine Analyse der negativen Stellungnahmen zum Weimarer Modell (insbesondere von Astuti, Tosato, Guarino und Sforza) vgl. ebd., S. 180-183. 62 Zum Gefühl der Fremdheit, das ein Teil der italienischen Verfassungsrechtler gegenüber der Weimarer Kultur äußerte, vgl. P. Ridola, Weimar e il problema politico-costituzionale italiano: gli anni Cinquanta e Sessanta, in: Weimar e il problema politico-costituzionale italiano, S. 124-129. 63 Man denke an Sforza, der sich bei der Sitzung vom 16. September 1947 damit brüstete, die Weimarer Verfassung nie gelesen zu haben. 58

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Deutschland nach Abschluss der Entnazifizierung und Wiedereingliederung der Regierungsapparate in den neuen demokratischen Rahmen über die totalitäre Vergangenheit hereinbrach, unterschied sich in diesem Sinne nicht allzu sehr von der Bedächtigkeit, mit der man sich in Italien entschloss, mit der faschistischen Erfahrung abzurechnen (oder besser, nicht abzurechnen)64. Auch wenn es gegensätzliche Gesprächsstrategien gab (in Deutschland richteten sich die Anschuldigungen gegen den Positivismus, der sich als unfähig erwiesen hatte, den systemfeindlichen Kräften Einhalt zu gebieten; in Italien hob man die Verdienste des Formalismus hervor, der ein Schutzschild gegen die Auswüchse der faschistischen Ideologie war), wurden ähnliche Schwierigkeiten bei der Herausarbeitung der Verantwortlichkeiten der Rechtskultur im Hinblick auf die Ausbreitung der totalitären Regime erkennbar65. Das Zwischenparadigma, das von der Interpretation des Faschismus durch Croce ins Spiel gebracht wurde, hat bekanntlich eine lange Phase in der italienischen Nachkriegskultur geprägt. Ein Großteil der Rechtswissenschaft der Nachkriegszeit scheint sich dessen Argumentationsstrukturen grundsätzlich überzeugt angeeignet zu haben, wie eine überaus anschauliche Passage der Rede zeigt, die Calamandrei 1950 bei der Eröffnung des Internationalen Kongresses für Zivilverfahrensrecht gehalten hat: „Seit der Zeit, da man Kongresse abgehalten hat wie diesen heute, der die alte Gepflogenheit wieder aufnimmt, von freien Wissenschaftlern, die freiwillig im Dienste der Wahrheit tätig sind und nicht von armen Funktionären in Uniform, gleichgeschaltet im Dienst einer Tyrannei … ist eine finstere Zeit über die Welt hereingebrochen, an deren Ereignisse wir uns nicht mehr erinnern möchten: So wie in jenen unerforschten Gegenden, die voll unheimlicher Schrecken sind, über welche die alten Geographen geschrieben haben ‚hic sunt leones‘, möchten wir uns darauf beschränken, über diese zwanzig Jahre Weltgeschichte, die wir hinter uns haben, ein einziges Motto zu schreiben: ‚hic sunt ruinae‘: und den Weg wieder aufnehmen, ohne uns umzudrehen. Auch wir Rechtswissenschaftler haben uns wieder an die Arbeit gemacht, wobei wir versuchen, uns nicht umzudrehen. Für die Bewohner bestimmter Erdbebengebiete schafft es die Heimsuchung durch regelmäßig wiederkehrende Verwüstungen nicht, ihre Verbundenheit mit jener instabilen Heimat zu erschüttern, und nach jedem Beben beginnen sie wieder auf eben jenem schwankenden Land zu bauen: So sind wir Rechtswissenschaftler

64 Zur grundsätzlichen ‚Vorsicht‘, mit der die italienische und deutsche politische und rechtliche Kultur ihre Vergangenheit betrachteten vgl. F. Lanchester, I giuspubblicisti tra storia e politica. Personaggi e problemi nel diritto pubblico del secolo XX, Turin 1998, S. 100-101. 65 Zu den Schwierigkeiten beim Verständnis und bei der Historisierung des totalitären Geschehens unter dem Gesichtspunkt der Rechtskultur vgl. M. Stolleis, Comprendere l’incomprensibile. L’olocausto e la storia del diritto, in: Pólemos, 4 (2010), 1, S. 193-206. Zum Schweigen der deutschen Kultur über die nationalsozialistische Vergangenheit in den Jahren des Aufbaus der demokratischen Ordnung vgl. ders., Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 4, S. 30.

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wieder damit beschäftigt, das Gebälk unserer logischen Gebäude aus den Trümmern auszugraben und unsere Begriffskathedralen zu restaurieren … Wir nehmen den Diskurs wieder auf, als ob wir ihn gestern unterbrochen hätten; wir fangen wieder an. Heri dicebamus“66.

1946 hat der Literat und Querdenker Giacomo Noventa die Frage gestellt, ob man nicht in Betracht ziehen könne, dass der Faschismus nicht „nur ein Irrtum gegenüber der italienischen Kultur, [sondern] gleichzeitig auch ein Irrtum der italienischen Kultur“67 war; sie blieb lange ungehört und ohne Antwort. Die offenkundigen Kontinuitätslinien, die unter rechtlichem und kulturellem Gesichtspunkt den Übergang vom liberalen Italien zum Faschismus und vom Faschismus zur Republik gekennzeichnet haben, hat man lange nicht gesehen; es lohnt sich also, über die Rolle nachzudenken, die sie bei der Festlegung der Rechtsordnungen der Nachkriegszeit gehabt haben.

III. Kontinuität im Bruch – Die Fortschreibung der kulturellen Modelle der Vergangenheit in der Nachkriegszeit Das bisher Gesagte zeigt, dass in den sogenannten „Jahren des Wiederaufbaus“ häufig Osmosen zwischen unterschiedlichen historischen Epochen stattfinden, die nicht konfliktfrei verlaufen. Die Geschichte der italienischen und deutschen Wissenschaft des öffentlichen Rechts in der Nachkriegszeit bestätigt, dass die Phasen der Definition der Verfassungsprozesse nicht immer mit den Phasen der Reifung des Rechtsdiskurses zusammenfallen. In diesem Sinne stellt die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg unter dem Gesichtspunkt der Evolution der Rechtskultur einen zeitlich multiplen Abschnitt dar, in dem die Aufarbeitung der vergangenen historischen Erfahrung in einer zähflüssigen Form erfolgt und die institutionellen, kulturellen und sozialen Veränderungen zeitliche Verläufe aufweisen, die häufig untereinander phasenverschoben sind. Diese Arrhythmien der historischen Zeit legen einige Überlegungen über das Problem der Beziehungen zwischen Kontinuität und Bruch in der Entwicklung der Kulturmodelle nahe. 66 P. Calamandrei, Processo e giustizia, in: Rivista di diritto processuale, 5 (1950), 5, S. 273-274. Für eine ausführliche und anregende Analyse der Betrachtungen Calamandreis, eingebettet in den allgemeineren Kontext der italienischen Rechtskultur der Nachkriegszeit, vgl. P. Cappellini, Il fascismo invisibile. Una ipotesi di esperimento storiografico sui rapporti tra codificazione civile e regime, in: Quaderni fiorentini per la storia del pensiero giuridico moderno, 28 (1999), S. 190-237. 67 G. Noventa, Opere complete. Il grande amore e altri scritti, 1939-1948, Bd. 3, hrsg. von F. Manfriani, Venedig 1988, S. 319-320. Zur intellektuellen Parabel Noventas sei uns der Verweis erlaubt auf M. Cau, Cultura cattolica e critica letteraria all’ombra del regime, in: Transalpina, 12 (2009), S. 93-114.

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Wenn es stimmt, dass „in allen historischen Umbrüchen … die Grenzen zwischen den Regierungsformen dadurch nachgiebig werden, dass langsam fließende Strömungen, Wirkungsbereiche und Denkrichtungen mit anderen, turbulenten interferieren und dabei interagieren“68, dann kann die Beziehung zwischen Kontinuität und Bruch, die sich in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg abspielt, nicht als statisches Verhältnis zwischen zusammenhanglosen Erscheinungen gesehen werden, sondern muss vielmehr als dialektischer Zusammenhang interpretiert werden, der unterschiedliche Schichtungen der historischen Zeit verbindet. Kontinuität und Wandel schließen sich nicht nur nicht aus, sondern gerade im Wandel und in der Verflechtung von ‚Beständigkeit‘ und ‚Fortleben‘ zeigt sich die Kontinuität69. Somit darf es nicht verwundern, dass im Kontext der italienischen und deutschen Wissenschaft des öffentlichen Rechts in den Jahren des Wiederaufbaus sich Neues und Altes vermischt haben, wobei sich gar nicht so tief unter dem Putz die Zeichen einer kulturellen Kontinuität zwischen den verschiedenen Verfassungsperioden erkennen lassen. Unter den rhetorischen Figuren, die im öffentlichen Diskurs über die Übergangsphasen am gängigsten sind, kommt dem bereits zitierten Ausdruck „Stunde Null“ eine bedeutende Rolle zu; er bezieht sich auf die Möglichkeit, den Beginn einer neuen politischen Ordnung als echt originären Augenblick auszulegen, in dem die Kräfte der Veränderung frei werden und in dem man das Bild einer Zukunft erkennen kann, die bereit ist, sich auf vollkommen neuen Grundlagen zu entfalten. Die beliebte Metapher suggeriert die Vorstellung einer Annullierung der Zeit und beschreibt emblematisch den Charakter des Bruchs, den bestimmte Ereignisse dem Lauf der Dinge aufdrücken. Dieses Bild eignet sich jedoch schlecht für den Verfassungsdiskurs, da, wie vor Kurzem angemerkt wurde, „Institutionen und Normsysteme … wesentlich aus ihrer eigenen petrifizierten Vergangenheit [bestehen]. Sie speichern ihre Geschichte in verschiedenen Stufen, stoßen sie auch wieder ab und wandeln sich, gewinnen aber gerade die ihnen eigentümliche Stabilität durch die Langsamkeit der ihnen immanenten Umschichtungsprozesse“70. 68

R. Petri, Transizione, in: 900. Per una storia del tempo presente, (2005), 12,

S. 11. 69 Zur Beziehung zwischen Kontinuität und Dauerhaftigkeit der Leitlinien des Wandels vgl. M.R. Lepsius, Die Bundesrepublik Deutschland in der Kontinuität und Diskontinuität historischer Entwicklungen: Einige methodische Überlegungen, in: W. Conze / M.R. Lepsius (Hrsg.), Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Beiträge zum Kontinuitätsproblem, Stuttgart 1983, S. 16 ff. 70 M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 4, S. 25; vgl. außerdem J. Rückert, Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der juristischen Methodendiskussion, in: K. Acham / K.W. Nörr / B. Schefold (Hrsg.), Erkenntnisgewinne, Erkenntnisverluste. Kontinuitäten und Diskontinuitäten in den Wirtschafts-,

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Im deutschen Fall erfolgte die Auseinandersetzung der Rechtswissenschaft mit der neuen Verfassungsordnung durch die Wiedergewinnung und teilweise Aktualisierung des von der Weimarer Staatslehre erarbeiteten Gedankengutes, was zu einer einmaligen Phasenverschiebung führte zwischen der Zeit, die der neue Verfassungshorizont brauchte, um sich durchzusetzen, und der Zeit für die Festlegung neuer Modelle für die Interpretation der Normengesamtheit. Unmittelbar nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Totalitarismus hatten nämlich die Bemühungen, die Konturen der Kategorie Staat neu zu definieren und diese Kategorie innerhalb neuer politphilosophischer Koordinaten zu reartikulieren71, keine spürbaren Folgen für das Denken der Wissenschaft des öffentlichen Rechts; deren Überlegungen erfolgten weiterhin innerhalb des etatistischen Paradigmas, das den Großteil des Rechtsdiskurses in der Zwischenkriegszeit geprägt hatte. Die Hauptströmungen der Staatslehre der Nachkriegszeit waren somit gekennzeichnet, „wenn auch in unterschiedlicher Weise und Stärke, durch die etatistische Ausrichtung, die Wiederholung der Polemik gegen den Formalismus und die hartnäckige Verteidigung des Rechtsmoments gegen jede soziologische Kontamination“72. Die Entwicklung der Rechtslehre ist also in ihrem Inneren durch bedeutsame Asynchronien gekennzeichnet. Als Beispiel für den deutschen Fall mag hier die Lehre Smends stehen, die im Verlauf der Zwanzigerjahre in einem politischen und kulturellen Kontext formalisiert wurde, der sich von Grund auf von jenem der Nachkriegszeit unterschied, in der die Integrationstheorie ihren größten Einfluss entfaltete. Und für den italienischen Fall denke man an die Lehre Mortatis von der Verfassung im materiellen Sinn, die „nicht das Schicksal des Regimes geteilt hat, das sie auf Verfassungsebene theoretisiert hatte“73, sondern die ihren größten Einfluss in einer anderen Epoche ausübte, und zwar während der Gründung des republikanischen Staates. Die Kontinuität, über die reflektiert werden soll, ist also nicht jene institutionellen Charakters und sie bezieht sich nicht auf die Prozesse der Säuberung und Wiedereinsetzung der Eliten in die Staatsapparate74. Die Ankoppelung Rechts- und Sozialwissenschaften zwischen den 20er und den 50er Jahren, Stuttgart 1998, S. 128-155. 71 Die Öffnung der deutschen Politikwissenschaft gegenüber der angelsächsischen Tradition und die Bemühungen von Hannah Arendt, die Grundlagen des politischen Handelns neu zu definieren, stellen zwei emblematische Beispiele für diese Haltung dar. 72 P.P. Portinaro, Una disciplina al tramonto? La Staatslehre da Georg Jellinek all’unificazione europea, in: Teoria politica, 11 (2005), 1, S. 19. 73 G. Zagrebelsky, Premessa, in: C. Mortati, La costituzione in senso materiale, Mailand 1998, S. XII. 74 Für eine Analyse dieser Aspekte verweisen wir auf H. Woller, Die Abrechnung mit dem Faschismus in Italien 1943-1948, München 1996; F. Focardi, Criminali di guerra in libertà, Rom 2008.

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einer neuen Verfassungsrealität an eine vorhergehende Staatsordnung ist unter rechtlichem Gesichtspunkt gewiss ein großes Problem, wie die nach dem Zusammenbruch des Hitlerregimes aufgeflammte Diskussion über die Rechtslage Deutschlands emblematisch zeigt, an der sich führende Rechtswissenschaftler wie Kelsen, Nawiasky, Kaufmann und Abendroth beteiligten75. Gleiches gilt für die Frage der Kontinuität der Verwaltungsapparate, wie – um beim deutschen Fall zu bleiben – das heiß umstrittene Thema des Schicksals des nationalsozialistischen Beamtentums in der Bundesrepublik der frühen Fünfzigerjahre zeigt. Aufgezeigt werden soll jedoch eine andere Form der Kontinuität, und zwar jene, die sich auf den für die Verfassungsumbrüche typischen Prozess der Fortschreibung der kulturellen Paradigmen der Vergangenheit bezieht. In Deutschland führte der „Neubeginn“, wie man gesehen hat, weder zur direkten Wiederaufnahme der 1933 unterbrochenen demokratischen Erfahrung noch zu einer echten Neugründung der Staatsordnung. Die Wahl zwischen Restauration und Neubeginn stellte keine wirkliche Alternative dar, sodass die Einleitung einer durchaus neuen demokratischen Erfahrung, die unter der Ägide der alliierten Kräfte im Zeichen der Erhaltung des deutschen Staates als Rechtssubjekt erfolgte, auch zur Rückgewinnung eines beträchtlichen Teils des Rechtsbestandes und der beruflichen Kapazitäten aus der Weimarer Zeit führte. Im Unterschied zu dem, was nach dem Ersten Weltkrieg geschehen war, war der Beitrag der Rechtswissenschaft zum verfassunggebenden Prozess bescheiden; die Staatsrechtslehre, Königsdisziplin der Staatswissenschaften, befand sich im Übrigen in einem Zustand der Instabilität und Desorientierung. Viele Protagonisten der lebhaften Weimarer Zeit standen am Ende ihrer Karriere (Richard Thoma, Gerhard Anschütz, Hans Triepel, Gustav Radbruch), andere waren nicht mehr in Deutschland tätig (wie Hans Kelsen, der in die USA ausgewandert war, oder Hermann Heller, der im Exil gestorben war); einige, und zwar diejenigen, die dem Hitlerregime besonders nahegestanden waren, waren direkt in den Entnazifizierungsprozess verwickelt (am meisten davon betroffen waren bekanntlich Carl Schmitt, Otto Koellreuter, Ernst Rudolf Huber, Reinhard Höhn); wieder andere kehrten dagegen aus dem Exil zurück (wie Erich Kaufmann, Walter Jellinek, Hans 75 Zum Problem der institutionellen Kontinuität des Deutschen Reiches, zu den Merkmalen der ‚Rechtskontinuität‘, die sowohl das Jahr 1933 als auch das Jahr 1945 durchzieht und zum ‚Widerstand‘ des alten Rechts gegenüber den Erneuerungsversuchen seitens der alliierten Kräfte vgl. B. Diestelkamp, Kontinuität und Wandel in der Rechtsordnung, 1945 bis 1955, in: L. Herbst (Hrsg.), Westdeutschland 1945-1955. Unterwerfung, Kontrolle, Integration, München 1986, S. 85-96. Für eine Analyse der Positionen der einzelnen Staatsrechtslehrer in Bezug auf die Frage der institutionellen Kontinuität verweisen wir auf M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 4, S. 32-37.

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Nawiasky und Gerhard Leibholz), um am Neuaufbau des deutschen Staates mitzuwirken76. Die Säuberung, die einen wichtigen Teil der deutschen Gesellschaft betraf, führte zu keinen übermäßigen Erschütterungen innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft der Öffentlichrechtler. Wenn man die oben erwähnten augenfälligsten Fälle ausnimmt, befürwortete die deutsche Wissenschaft des öffentlichen Rechts die Strategie des Schweigens und der weitgehenden Wiedereinsetzung der Rechtswissenschaftler, die mehr oder weniger direkt an den Geschicken des totalitären Regimes beteiligt gewesen waren. Die grundsätzliche Milde, welche die Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer nach der Wiederaufnahme ihrer Tätigkeit den Mitläufern zukommen ließ, vor allem im Vergleich zur Strenge der Kritik, mit der die Kollegen bedacht wurden, die sich für ein Weiterarbeiten in der DDR entschieden hatten, zeigt den allgemein verbreiteten Wunsch, eine Vergangenheit hinter sich zu lassen, deren Heraufbeschwörung unerträglich war und für deren Exorzierung sich breite Kanäle der Zusammenarbeit mit dem neuen demokratischen Staat öffneten. „Das Werk unserer Vereinigung“ – sagte 1949 deren fünfundsiebzigjähriger Präsident Richard Thoma anlässlich der Wiederaufnahme der Tätigkeit nach 18 Jahren Inaktivität – „war und bleibt Dienst am Verfassungsleben einer nach Einigkeit und Recht und Freiheit strebenden Volksgemeinschaft; Dienst an der richtigen Deutung und wohlerwogenen Fortbildung des Staatsrechts eines demokratischen Rechtsstaates. Als der Rechtsstaat unterwühlt und erstickt wurde, hat sich unsere Vereinigung nicht gleichgeschaltet, sondern ihre Tätigkeit eingestellt; erhobenen Hauptes kann sie jetzt wieder hervortreten“77. Trotz der zuvor bekundeten Nähe zum Regime wurden viele der Öffentlichrechtler, die sich in den späten Dreißigerjahren herangebildet hatten (man denke an Theodor Maunz, Hans Peter Ipsen, Ulrich Scheuner oder Ernst Forsthoff), wieder in die wissenschaftliche Gemeinschaft eingegliedert und wurden bald zur Bezugsgeneration für die voranschreitende öffentlichrechtliche Forschung. Ehrlich gesagt, ließ der Vormarsch noch auf sich warten, wie die ersten kommentierenden Arbeiten zeigen, die von der deutschen Rechtswissenschaft gegen Ende der Vierzigerjahre hervorgebracht wurden: Es Für eine Analyse der allgemeinen Tendenzen der Staatslehre der Nachkriegszeit und der Biografien der Hautpakteure der Wissenschaft des öffentlichen Rechts jener Zeit verweisen wir auf F. Günther, Denken vom Staat her. Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre zwischen Dezision und Integration 1949-1970, München 2004, S. 112-211; M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 4, S. 115-145; B. von Bülow, Die Staatsrechtslehre der Nachkriegszeit, Berlin 1996; C. Möllers, Der vermisste Leviathan. Staatstheorie in der Bundesrepublik, Frankfurt a.M. 2008. 77 R. Thoma, Vorwort, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, 8 (1950). 76

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handelt sich nämlich um Studien, die sich weniger dem polemischen Eifer aus der Zeit des Methodenstreits überließen, sondern im Allgemeinen der umsichtigen Beschreibung des neuen Verfassungsrahmens den Vorrang gaben und damit zeigten, dass es für die meisten Öffentlichrechtler vorrangig war, zur konkreten Arbeit im Dienste des Wiederaufbaus des Staates zurückzukehren. Das charakteristischste Merkmal der Staatslehre nach dem Krieg war übrigens die Offenbarung ihrer „staatstheoretischen Abstinenz“78, die in der grundsätzlichen Aussetzung der Debatte über den Staat wurzelte, zu dem die nationalsozialistische Ideologie geführt hatte. Die Reartikulation des politischen Diskurses rund um die Kategorien Führer und Volk hatte nämlich die Konzepte unbrauchbar gemacht, die zuvor von der Weimarer Wissenschaft des öffentlichen Rechts genutzt worden waren, einschließlich derjenigen, die am empfänglichsten für die etatistischen und konservativen Ausrichtungen waren. Da die Jahre unter der nationalsozialistischen Ägide für die Wissenschaft des öffentlichen Rechts eine Zeit tiefster Krise gewesen waren, konnte die Erneuerung der Staatsrechtslehre nach dem Krieg nicht in Kontinuität mit jener Erfahrung erfolgen. Eine andere Form der Kontinuität war jedoch möglich, und sie führte direkt nach Weimar und zu jenem Richtungsstreit, dessen erste Ausprägungen sich bereits in den frühen Zehnerjahren des 20. Jahrhunderts finden79. Das Fehlen theoretischer Bezugsmodelle veranlasste die deutsche Wissenschaft, die beim vorausgegangenen republikanischen Experiment ausgearbeiteten historischen Koordinaten wieder aufzugreifen. Die Beziehung zur demokratischen Weimarer Phase war somit durch einen ambivalenten Ansatz gekennzeichnet: Während das 1919 entstandene Modell weiter seine Schatten auf die neue Phase der Verfassungsgebung und auf den öffentlichen Diskurs in Deutschland warf, wandte sich die Staatsrechtslehre den antiformalistischen Lehren der Zwanzigerjahre zu80, um das Denken über den Staat neu zu lancieren – wenn auch in einem anderen Kontext. C. Möllers, Der vermisste Leviathan, S. 31. Zur Kontinuität zwischen dem Denken des frühen 19. Jahrhunderts, der Weimarer Staatslehre und der Bonner Rechtskultur vgl. D. Schefold, Geisteswissenschaft und Staatsrechtslehre zwischen Weimar und Bonn, in: K. Acham / W. Nörr / D. Schefold (Hrsg.), Erkenntnisgewinne, Erkenntnisverluste: Kontinuitäten und Diskontinuitäten in den Wirtschafts-, Rechts- und Sozialwissenschaften zwischen den 20er und 50er Jahren, Stuttgart 1998, S. 566-567. 80 In der lebhaften Weimarer Debatte hatten sich im Wesentlichen fünf Lehrmeinungen herausgeschält: Neben dem klassischen positivistischen Ansatz (in den neben den anderen Positionen jene von Thoma, Anschütz, Preuss, Triepel und Radbruch einflossen, die freilich methodologisch nicht auf der gleichen Linie waren) etablierte sich die normativistische Ausrichtung der Wiener Schule Kelsens. Auf der antipositivistischen Seite formierten sich die Lehre Schmitts (mit ausgesprochen dezisionistischen Zügen), die Konzeption Smends (welche die geisteswissenschaftliche Methode umfasste 78 79

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Für den deutschen Konstitutionalismus, der bereit war für einen Rückzug in die Begriffshorizonte der Weimarer Tradition, stellten die Fünfzigerjahre unter theoretischem Gesichtspunkt eine Zeit ohne besonderen kreativen Schwung dar81. Die öffentlich-rechtliche Debatte im Nachkriegs-Deutschland polarisierte sich um zwei „Schulen“; beide waren Ausdruck kultureller Ansprüche, die im prätotalitären Kontext aufgetaucht waren. Die eine, die an entschieden etatistischen Positionen festhielt, wurde durch die um Carl Schmitt herangereiften Öffentlichrechtler vertreten; die andere, die sich zu einer pluralistischen Sicht der Verfassungsdynamik bekannte, von der Gruppe von Wissenschaftlern, die sich in den Seminaren über Verfassungstheorie von Rudolf Smend herangebildet hatten82. Die Gruppe der „Schmittianer“, zu der Ernst Forsthoff, Werner Weber und Hans Schneider gehörten und der sich später Ernst-Wolfgang Böckenförde, Roman Schnur und Helmut Quaritsch anschlossen, berief sich nachdrücklich auf das dezisionistische Paradigma des Rechtswissenschaftlers aus Plettenberg; ausgehend davon wurden die ersten Ergebnisse der neuen Verfassungsperiode offen abgelehnt: von der Festlegung der Grundrechte als Wertordnung bis zur Errichtung des Verfassungsrechtssystems. Die Smendsche Schule, vertreten im Besonderen durch Konrad Hesse, Horst Ehmke, Peter von Oertzen, Ulrich Scheuner und Wilhelm Hennis, griff dagegen das pluralistische Modell der von Smend in den Zwanzigerjahren unterbreiteten Integrationslehre wieder auf. Auch wenn er in der Kontinuität einer ideellen Entwicklung stand, die in der Verfassungslehre der Weimarer Zeit wurzelte, führte der demokratische und natofreundliche Blickwinkel, aus dem die Smendsche Gruppe ihre Forschungen artikulierte, zur Überwindung und Aufgabe der konservativen und etatistischen Komponente des Denkens von Smend83. Wieder aufgeund von Rechtswissenschaftlern wie Kaufmann, Holstein und Leibholz unterstützt wurde) und die Staatslehre Hellers (die aufgeschlossen war gegenüber der Integration von Rechtsdenken und soziologischer Methode). Die Literatur über dieses Thema ist bekanntlich sehr umfangreich; für eine generelle Einordnung verweisen wir auf M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 3, München 2002. 81 Wie F. Günther unterstrichen hat, waren für die Staatslehre „die fünfziger Jahre … kein Jahrzehnt einer ,aufregenden Modernisierung, sondern eine Zeit wenig innovationsfreudiger, mehrheitlich konservativ motivierter‘ Rückbesinnung“; F. Günther, Ein Jahrzehnt der Rückbesinnung. Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre zwischen Dezision und Integration in den fünfziger Jahren, in: T. Henne / A. Riedlinger (Hrsg.), Das Lüth-Urteil aus (rechts-)historischer Sicht, Berlin 2005, S. 302. 82 Für eine eingehende Analyse der Zusammensetzung der beiden Gruppen und der unterschiedlichen theoretischen Ausrichtungen verweisen wir auf F. Günther, Denken vom Staat her, S. 112-190; D. Schefold, Geisteswissenschaften und Staatsrechtslehre zwischen Weimar und Bonn, S. 581-599. 83 Zum „Bruch in der Kontinuität“, der innerhalb der Schule von Smend vollzogen wurde, und zur schrittweisen Überwindung des etatistischen Horizonts vgl. F. Günther, Rückbesinnung der Staatsrechtslehre, S. 308-310. Zu den Hauptfiguren

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griffen und weiterentwickelt, hatte die von Smend in den Berliner Jahren entwickelte geistwissenschaftliche Richtung einen großen Einfluss nicht nur auf die wissenschaftliche Debatte in der Bundesrepublik Deutschland (man denke an die Entwicklung der Dogmatik der Grundrechte), sondern auch auf die Tätigkeit des Bundesverfassungsgericht, in dessen Urteilen häufig Verweise auf die Weimarer Theorien von Smend und auch von Leibholz zu finden waren84. Was also aus der Verfassungsperiode zwischen den beiden Kriegen übernommen wurde, war die antipositivistische Ausrichtung, die, wenn auch auf unterschiedlichen theoretischen Grundlagen, in den Zwanzigerjahren die Thesen Schmitts und Smends verbunden hatte85. Für den Normativismus von Kelsen gab es dagegen keinen Spielraum: Der Positivismus, insbesondere derjenige in der pan-legalistischen Variante Kelsens, wurde bezichtigt, den Weg für den ungehinderten Vormarsch des NS-Regimes geebnet zu haben, und wurde aus dem Begriffshorizont der Staatsrechtslehre liquidiert (erst in den Achtzigerjahren kam es zu einem erneuten Interesse für die formalistischen Theorien des österreichischen Rechtswissenschaftlers). Der andere große Abwesende aus dem Kreis der Hauptdarsteller der Weimarer Debatte war Hermann Heller, dessen Staatslehre – die postum im Jahr 1934 erschien und die Grundlagen einer Doktrin des sozialen Rechtsstaates festlegen sollte – erst gegen Anfang der Sechzigerjahre wieder in Umlauf kam; trotz seines entschiedenen Eintretens für das Weimarer demokratische Paradigma, oder vielleicht gerade deshalb, wurde das Denken Hellers, das durch einen einmaligen methodischen Synkretismus gekennzeichnet und auf eine Neugründung der Staatslehre auf soziologischen Grundlagen ausgerichtet war86, spät wieder dieser Neuausrichtung der Integrationslehre in einer Optik, die für die republikanischen Forderungen empfänglicher war, zählt Gerhard Leibholz, dessen frühe Betrachtungen aus der Weimarer Zeit über die Vertretung als Prinzip der politischen Form in der Tat eine gewisse Scheu, ja sogar eine klare Distanz gegenüber den Paradigmen des republikanischen Modells offenbarten; vgl. D. Schefold, Geisteswissenschaften und Staatsrechtslehre zwischen Weimar und Bonn, S. 575-580. 84 Vgl. D. Schefold, Geisteswissenschaft und Staatsrechtslehre zwischen Weimar und Bonn, S. 585-590. 85 In beiden Fällen hatte es sich um konservativ geprägte Ausrichtungen gehandelt, die ihre Abneigung gegen die demokratische Option nicht verhehlten. Es ist bezeichnend, dass in den Jahren der Neugründung der demokratischen Ordnung die theoretischen Optionen, die in Weimar stärker für die Verteidigung der Demokratie eingetreten waren (also jene von Kelsen und Heller), am Rande der öffentlich-rechtlichen Debatte blieben, während gerade das Modell der Integrationslehre von Smend, das in den Zwanzigerjahren auf antiliberalen und antidemokratischen Präjudizien entstanden war, zum Modell des demokratischen Verfassungsstaates erhoben wurde. 86 Für eine Analyse des theoretischen Horizonts von Heller, der das Ergebnis des Ausgleichs zwischen historischem Materialismus, philosophischer Anthropologie und Kulturwissenschaft war, siehe die jüngsten Arbeiten von M. Henkel, Hermann

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entdeckt, was sich allerdings eher im Bereich der Politikwissenschaft als in jenem der Verfassungswissenschaft auswirkte87. Im Unterschied zur Flexibilität, mit der sich ein Teil der Lehre dem neuen Verfassungskontext angepasst hat, ist auch im italienischen Kontext ein Großteil der Rechtswissenschaft Interpretationsmodellen treu geblieben, die von der vorhergehenden Rechtstradition bevorzugt wurden. Der Wechsel der theoretischen Modelle der Wissenschaft des öffentlichen Rechts ist den Koordinaten der neuen historischen Zeit nicht linear gefolgt, sondern ist vielfach in Konflikt dazu geraten. Die Lehrkonstruktionen, die es der Rechtswissenschaft, zumindest in ihren umsichtigsten Teilen, ermöglicht hätten, die Umsetzung des Verfassungsentwurfs zu begleiten, waren nämlich Frucht einer kulturellen Phase, deren Wurzeln in der Debatte der späten Dreißigerjahre lagen. So war es jene Komponente der Rechtslehre, die anfangs der Vierzigerjahre der Zeit voraus war (man denke an Mortati, Giannini, Crisafulli, Miele und Lavagna), die zum großen Teil den Weg der rechtlichen Überlegungen in der neuen Zeit absteckte, wobei sie eine oftmals hitzige Auseinandersetzung mit jenem zahlenmäßig nicht unerheblichen Teil der italienischen Rechtskultur begann, der weiterhin argumentierte, als ob sich die Zeiten der Verfassung in Wirklichkeit nicht geändert hätten88. „Alles ist zerstört, wie soll es wieder aufgebaut werden?“ fragte Orlando 194689. Bei der Antwort schlug die italienische Wissenschaft des öffentlichen Rechts zwei verschiedene Richtungen ein: Wiederaufgreifen des liberalen Paradigmas des Personenstaates, auf dem die präfaschistische nationale öffentlich-rechtliche Tradition aufgebaut hatte90, oder dagegen Rückgriff auf Hellers Theorie der Politik und des Staates, Tübingen 2011; M. Llanque (Hrsg.), Souveräne Demokratie und soziale Homogenität. Das politische Denken Hermann Hellers, Baden Baden 2010. 87 Zu den ‚Erben‘ der Staatslehre Hellers nach dem Krieg können auf jeden Fall höchst namhafte Autoren gezählt werden, etwa Martin Drath, der bereits Hellers Assistent in Frankfurt gewesen war und von 1951 an seinen Einfluss im ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts ausübte. Den Positionen Hellers nahe war auch das Denken Wolfgang Abendroths, der sich zu Beginn der Fünfzigerjahre von der Wissenschaft des öffentlichen Rechts abwandte, um sich der Politikwissenschaft zuzuwenden. 88 Zum kulturellen Kontext, der die Umsetzung der Verfassung begleitete, siehe S. Bartole, Interpretazioni e trasformazioni della Costituzione repubblicana, Bologna 2004, S. 41 ff. 89 V.E. Orlando, Discorsi parlamentari, Bologna 2002, S. 667. 90 Fioravanti hat betont, dass sich „die Gegenwart der öffentlich-rechtlichen Tradition, genauer gesagt, jener traditionsbehafteter Rechtswissenschaftler, die sich in der liberalen Zeit herangebildet hatten, ganz und gar nicht auf die Zeit der faschistischen Dikatatur beschränkte. In verschiedener Weise versuchten hochrangige Persönlichkeiten wie Santi Romano und vor allem Vittorio Emanuele Orlando auch nach dem Sturz des Regimes die Richtlinien der Wissenschaft des öffentlichen Rechts zu beeinflussen und

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die Theorien, welche die Rechtswissenschaft in jenem – wie man es ausdrücken könnte – hausgemachten Methodenstreit hervorgebracht hatte, der die italienische Rechtswissenschaft zwischen den späten Dreißiger- und den frühen Vierzigerjahren erfasst hatte. Gerade die Lebhaftigkeit der Debatte, mit der ein Teil der Wissenschaft des öffentlichen Rechts wenige Jahre vorher versucht hatte, eine Antwort auf die Krise des Staates zu liefern, die bereits viele Jahre zuvor in einer bekannten Abhandlung Santi Romanos thematisiert worden war, verhinderte, dass die Nachkriegserholung im theoretischen Vakuum erfolgte, von dem Deutschland nach dem Nationalsozialismus gekennzeichnet war. Im italienischen Fall führte also die Abkehr vom faschistischen Ideologie- und Kulturapparat nicht, wie in der Bundesrepublik Deutschland, zur vollständigen Beseitigung der unter der Diktatur gemachten wissenschaftlichen Erfahrung. Die am stärksten dem Regime verhafteten theoretischen Anschauungen wie jene Costamagnas, die an einer ,integralen‘ Vorstellung der Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft festhielt, oder jene Panunzios, die sich der Förderung eines Korporativismus mit deutlich etatistischen Konturen verschrieb, wurden ohne Einspruchsmöglichkeit fallen gelassen. Ein großer Teil der jüngeren Rechtsdebatte diente aber dazu, den neuen Verlauf der Forschung zu bereichern, wenn auch in einem anderen institutionellen und kulturellen Kontext91. In Italien war die Aufteilung in Gruppen und Schulen weniger eindeutig als in der Bundesrepublik Deutschland92. Unter dem Gesichtspunkt der Bereitschaft zur Anpassung an den neuen institutionellen Kontext kann man generell zwei Gruppen erkennen, die in ihrem Inneren weder im Hinblick auf zu bestimmen, die Ereignisse, die im Begriff waren, ein neues politisches System und eine neue Verfassung hervorzubringen, in einer bestimmten Weise zu interpretieren“; M. Fioravanti, Dottrina dello Stato-persona e dottrina della Costituzione. Costantino Mortati e la tradizione giuspubblicistica italiana, in: M. Galizia / P. Grossi (Hrsg.), Il pensiero giuridico di Costantino Mortati, Mailand 1990, S. 165. 91 Wie die Geschichtsschreibung unterstrichen hat, „scheint es realistischer, der Theorie des Zwischenspiels, welche die Fäden der Methodendebatte wieder an die präfaschistische Zeit anknüpft, oder jener des Bruchs, nach der mit dem Ende der Diktatur eine neue demokratische Rechtswissenschaft zutage getreten sei, die These entgegenzustellen, dass zwar ein Teil der italienischen Rechtslehre sich ‚neutralisierte‘ und ein anderer transzendierte, die interessanteste und modernste Linie aber diejenige war, welche gerade von der intensiven Debatte beflügelt wurde, die in der autoritären Periode nach dem Zusammenbruch des liberalen Staates stattgefunden hat“; F. Lanchester, I giuspubblicisti tra storia e politica, S. 65. 92 Für eine Analyse der akademischen und theoretischen Lage der Wissenschaft des öffentlichen Rechts in Italien nach dem Krieg verweisen wir auf ebd., S. 113-120; eine umfassende Erkundung findet sich jetzt in: M. Gregorio, Quale costituzione? Le interpretazioni della giuspubblicistica nell’immediato dopoguerra, in: Quaderni Fiorentini per la storia del pensiero giuridico moderno, 35 (2006).

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die politische Couleur noch auf die theoretischen Ausrichtungen homogen waren: auf der einen Seite jene der „großen Grübler der Dreißigerjahre“93 wie Costantino Mortati, Vezio Crisafulli, Giovanni Miele, Carlo Esposito, Carlo Lavagna und Massimo Severo Giannini, auf der anderen jene der Verfassungswissenschaft, die in der traditionellen Ausrichtung des Rechtsdenkens und der Souveränität des Personenstaates verankert war; deren Vertreter waren Vittorio Emanuele Orlando, Oreste Ranelletti, Emilio Crosa, Antonio Amorth und Amedeo Giannini94. Bis zur Umsetzung des Verfassungsentwurfs in den frühen Sechzigerjahren stellte die Polarisierung rund um diese beiden unterschiedlichen theoretischen Ausrichtungen eines der Kennzeichen der italienischen Rechtswissenschaft dar95– die eine überzeugt von der Notwendigkeit, die theoretischen Verkrustungen des Rechtsstaates durch die Begründung einer neuen Verfassungstheorie zu überwinden, die andere eng an das dogmatische Instrumentarium der Tradition gebunden und ablehnend gegenüber der in der Verfassung nahegelegten Neudefinierung der Beziehung zwischen Politik und Recht96. Unter dem Gesichtspunkt der Theorien und Lehrmeinungen gliederte sich die nationale Szene der Wissenschaft vom öffentlichen Recht dagegen im Wesentlichen in zwei Richtungen: auf der einen Seite die normativistische Strömung, die für die Einflüsse des Kelsenismus empfänglich und (besonders nach der sogenannten „Kehre“ der frühen Sechzigerjahre) in den originären Betrachtungen Crisafullis und, wenn auch auf sehr problematische Art und Weise, von Esposito präsent war; auf der anderen Seite eine Strömung, die offener war für die soziologische und politische Dimension des Konstitutionalismus, der von Duguit und Hariou über den Institutionalismus von Santi Romano zur Linie Mortatis geführt hatte97. Es handelt sich also um Der Ausdruck stammt von P. Grossi, Scienza giuridica italiana, S. 290. Es waren natürlich nicht zwei eindeutige und gegensätzliche Lager; siehe zum Beispiel die Position Espositos, der als „kritischer Positivist“ klar auf die Gefahren einer einseitig auf die Werte ausgerichteten Verfassungsinterpretation hingewiesen hat; vgl. C. Esposito, La Costituzione italiana. Saggi, Padua 1954, S. 17 ff.; siehe dazu M. Fioravanti, Profilo storico della scienza italiana del diritto costituzionale, S. 152. 95 Auch in diesem Rahmen war der von der Weimarer Verfassungsdebatte ausgelöste Widerhall nicht entscheidend; zur kontroversen Beziehung zwischen der italienischen Verfassungsliteratur der Fünfzigerjahre und Weimar vgl. P. Ridola, Weimar e il problema politico-costituzionale italiano: gli anni Cinquanta e Sessanta, S. 134-140. 96 Emblematisch dafür sind die Positionen Orlandos; vgl. D. Quaglioni, Ordine politico e ordine giuridico in Vittorio Emanuele Orlando, S. 12-25. 97 Vgl. F. Rimoli, I manuali di diritto costituzionale, in: Rivista Trimestrale di Diritto Pubblico, (2001), 4, S. 1412-1413. Trotz der Relevanz, die das Weimarer Verfassungsmodell in der italienischen verfassunggebenden Phase hatte, wurde von den ‚Klassikern‘ der deutschen Rechtskultur der Zwanzigerjahre vor allem der Kelsen 93 94

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ein theoretisches Panorama, das sich in vielerlei Hinsicht vom deutschen unterschied, wo der Formalismus Kelsenscher Prägung bis zum Ende der Siebzigerjahre entschieden verbannt wurde. In Bezug auf das Thema der Fortschreibung der kulturellen Modelle der Vergangenheit im neuen Verfassungskontext würde die theoretische Entwicklung, die Mortati vollzogen hat, eine gesonderte Betrachtung verdienen. Sie stellt sinnbildlich eine Art Scharnier zwischen drei verschiedenen historischen Zeiten dar und bedeutet, wie geschrieben wurde, „die Niederlage einer bestimmten Wissenschaftstradition, aber auch deren Wiederbestätigung durch einen mühseligen Veränderungsprozess, der die Rechtswissenschaftler mit neuen Verfassungsproblemen konfrontierte, welche die Verfassunggebende Versammlung der Republik unweigerlich durchzogen“98. Mortatis „dritter Weg“, der sich im „theoretischen Raum zwischen Tradition und Revolution“99 definiert hatte, hatte sich seit den späten Dreißigerjahren auf die Suche nach einem theoretischen Modell gemacht, das imstande war, mit der neuen historischen Form, die der Staat angenommen hatte, in Dialog zu treten, und wurde allmählich zugänglich für den Eintritt der Politik in die normative Dimension des Staates. In diesem Rahmen erfolgte der Rückgriff auf die „präskriptive Ausrichtung der Verfassung“, welche die Basis für die von Mortati 1940 ausgearbeitete Lehre war, Sinnbild des Weges vom Rechtsstaat der Tradition hin zum verfassungsmäßigen Staat des Rechts und der Wiederentdeckung der sozialen Sphäre, der gemäß der neuen Verfassungsordnung die Agenden der Staatsrechtswissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg prägte100. Die verfassungsmäßige Konzeptionalisierung der Partei als Instrument der sozialen Differenzierung und der damit verbundene Aufbau einer Theorie des States als teleologische politische Einheit sind nur zwei Artikulationen des Denkens Mortatis, an das nach dem Krieg jener Teil der Verfassungstheorie anknüpfte, der vom Wunsch beseelt war, die hypostasierte Vorstellung des der reinen Rechtslehre aufgegriffen (nicht dagegen der Theoretiker der Demokratie und des Parlamentarismus), während die Arbeiten von Schmitt, Heller, Smend und Leibholz, die sich ausführlicher mit der Beziehung zwischen Recht, Gesellschaft und Verfassung befassten, lange vernachlässigt wurden; vgl. dazu P. Ridola, Gli studi di diritto costituzionale, in: Rivista Trimestrale di Diritto Pubblico, (2001), 4, S. 1262. Von Ridola siehe die Bemerkungen zu den Verpflichtungen Mortatis gegenüber der Weimarer Rechtstheorie „Weimar e il problema politico-costituzionale italiano: gli anni Cinquanta e Sessanta“, S. 140-147. 98 M. Fioravanti, Dottrina dello Stato-persona e dottrina della Costituzione, S. 48. 99 Ebd., S. 49. 100 Für eine Vertiefung der Verfassungstheorie Mortatis verweisen wir auf Il pensiero giuridico di Costantino Mortati; M. Galizia (Hrsg.), Forme di Stato e forme di governo: nuovi studi sul pensiero di Costantino Mortati, Mailand 2007; G. Zagrebelsky, Premessa, S. VII-XXXVII.

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Staates liberaler Tradition zu überwinden und zur Festlegung der ‚konstitutionellen‘ Variante des Rechtsstaates beizutragen. Wie das Beispiel Mortatis sehr klar zeigt, erfolgte der ‚Neubeginn‘ nach dem Krieg nicht auf einer Tabula rasa. Gerade die Entwicklung des Denkens des kalabrischen Rechtswissenschaftlers ist vielleicht die deutlichste Bestätigung dafür, dass auch in Italien „der Übergang von einem politischen Regime zu einem anderen nicht trotz des Fortbestehens von Stratifikationen und Elementen der Kontinuität erfolgte, sondern, zumindest zum Teil, gerade weil diese weiter bestanden“101.

IV. Fazit In den Momenten großer politischer und institutioneller Umbrüche hat die Rechtswissenschaft gewissermaßen eine doppelte Aufgabe: Einerseits räumt sie, nach den Worten Calamandreis, „das Gelände auf und beseitigt die Trümmer, wo die Revolutionen hindurchgezogen sind“102, andererseits ist sie aufgerufen, das Gerüst der neuen Verfassungsgebäude zu errichten, indem sie gegebenenfalls Teile des alten Balkenwerks wiederverwendet. Bei diesem Ordnen und Neudefinieren der Rechtsgrundlagen kommt unweigerlich der ganze Einfluss der kulturellen und institutionellen Erfahrungen der Vergangenheit zum Tragen. Durch die Analyse der Entwicklung einiger Teile der italienischen und deutschen Verfassungskultur in der Nachkriegszeit konnte aufgezeigt werden, dass die Bestimmung der neuen Wege des demokratischen Konstitutionalismus nach dem Krieg über eine eindeutige Abkehr von der Vergangenheit erfolgte, aber auch über die Wiederherstellung und aktualisierte Neuauflage typischer Theorieelemente und kultureller Modelle, die Kinder eben jener konstitutionellen Vergangenheit waren, der gegenüber der „Neubeginn“ einen klaren Bruch vollziehen wollte. Wenn auch mit allen unumgänglichen Unterschieden, die nicht zuletzt durch die unterschiedlichen politischen Verhältnisse bedingt waren, in denen sich die beiden Nachkriegszeiten ausprägten, weisen Italien und die Bundesrepublik Deutschland in vielerlei Hinsicht ähnliche Verläufe auf, deren Vergleich es ermöglicht, einige ‚Konstanten‘ aufzuzeigen und die Rolle zu verstehen, welche die Aufarbeitung der vergangenen Erfahrungen beim Aufbau der neuen kulturelle und institutionellen Modelle spielt. In beiden Fällen hat die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit sowohl die totalitäre Phase – von der man sich natürlich am deutlichsten distanziert 101 102

R. Petri, Transizione, S. 23. P. Calamandrei, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 67-68.

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hat – als auch die ihr vorausgegangene demokratische Erfahrung betroffen. Die Neuauflage des republikanischen Experiments sorgte in Deutschland für ein besonders lebhaftes Interesse gegenüber den Mängeln und Verantwortlichkeiten des Weimarer Modells, während in Italien die Entscheidung für ein Verfassungsmodell, das mit der nationalen Tradition brach, die Auseinandersetzung mit den Schwächen des liberalen Systems etwas weniger zwingend machte. Die Analyse der Entwicklung der kulturellen Modelle und der theoretischen Apparate der Verfassungswissenschaft nach dem Krieg zeigt dagegen, wie sehr die Linien des Bruchs in der Praxis mit jenen der Kontinuität verflochten sind. Die wichtigsten Theoriegruppen, rund um die sich die Wissenschaft des öffentlichen Rechts neu geformt hat, sind sowohl im deutschen als auch im italienischen Fall Projektionen oder Erweiterungen kultureller Erfahrungen, die im Verlauf der vorhergehenden Jahrzehnte entstanden oder herangereift sind. Im deutschen Fall handelte es sich um eine grundsätzliche Neuauflage der Interpretationsschemas der Weimarer Debatte, die teilweise dem neuen politischen Kontext angepasst und von einigen wissenschaftlichen Optionen befreit wurden, die durch die Entwicklung der jüngsten nationalen Geschichte am meisten diskreditiert waren. Im italienischen Fall erfolgte die Auseinandersetzung dagegen zwischen zwei unterschiedlichen Generationen, die für die Persistenz (und Resistenz) der Rechtstradition liberaler Prägung und das Auftauchen eines bunten theoretischen Lagers stehen, die aus der Methodendebatte hervorgegangen sind, welche die italienische Rechtswissenschaft in den späten Jahren der Diktatur erfasst hatte. In beiden Fällen erfolgte also die Herausbildung neuer wissenschaftlicher Perspektiven auf der Grundlage der Umarbeitung der theoretischen Modelle der Vergangenheit, die mit der Überwindung der institutionellen Gegebenheiten, in deren Kontext sie entstanden waren, ihre Gültigkeit nicht verloren und weiterhin ihren Einfluss auf die Gründungsjahre der neuen Verfassungsordnungen ausgestrahlt haben. Anhand einer detaillierten Analyse der Anfangsphase der Systeme der Verfassungsgerichtsbarkeit könnte man weitere – alles andere als nebensächliche – Aspekte der Vergangenheitsbewältigung in der demokratischen Praxis nach dem Krieg aufzeigen103. Es ist nicht möglich, an dieser Stelle eine 103 Das System der Verfassungsgerichtsbarkeit war bekanntlich sowohl in der italienischen als auch in der deutschen Erfahrung ein außerordentlicher Motor für Veränderungen. Ein Großteil der von der Verfassungskultur zwischen den Fünfzigerund Sechzigerjahren in Angriff genommenen vollständigen „Vergangenheitsbewältigung“ war nämlich das Resultat der Rechtsprechung der Verfassungsgerichte; vgl. L. Lacchè, Il limite, la garanzia, l’arbitro. La Corte e il costituzionalismo, in: Giornale di storia costituzionale, 11 (2006), 2, S. 5-22; A. Simoncini, L’avvio della Corte costituzionale e gli strumenti per la definizione del suo ruolo: un problema storico aperto, in: Giurisprudenza costituzionale, 49 (2004), 4, S. 3065-3104; D. Schefold,

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detaillierte Untersuchung der Tätigkeit der beiden Verfassungsgerichte durchzuführen, wir erlauben uns aber ein paar kurze Überlegungen. Als regelrechter Motor der Umsetzung des neuen politisch-institutionellen Modells hat sich die Verfassungsgerichtsbarkeit aus einer privilegierten Sicht am Prozess der Vergangenheitsbewältigung beteiligt. Zweitens erlaubt es die Präsenz einiger Protagonisten der Verfassungsdebatte in den beiden Verfassungsgerichten, zu überprüfen, in welchem Maße die traditionellen theoretischen Ausrichtungen imstande sind, das Verfassungsgeschehen der neuen Staaten zu beeinflussen, auch in Anbetracht der zentralen Rolle, welche die Systeme der Verfassungsgerichtsbarkeit in der italienischen und deutschen Rechtsordnung allmählich eingenommen haben104. Man bedenke, welchen Einfluss im deutschen Fall die Vergangenheitsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts beim Prozess der Durchleuchtung der Weimarer Vergangenheit hatte, von der Formalisierung der These vom „Verlust der materiellen Gültigkeit der Weimarer Verfassung“ zu den Bezugnahmen auf die Weimarer Lehre für die Festlegung der ‚historischen‘ Interpretation der Gesetze, von der Abkehr von der Weimarer Theorie der Grundrechte (die durch die wertorientierte Theorie Smendscher Schule ersetzt wurde) zur Überwindung der Parteienlehre, die von der Verfassung des Jahres 1919 und einem Teil der zeitgenössischen Lehre unterbreitetet worden war105. Auch die Rechtsprechung der Fünfzigerjahre zur Verteidigung der streitbaren Demokratie waren durch den Verweis auf die Schwächen der vorhergehenden republikanischen Erfahrung begründet106. Dagegen waren die theoretischen und argumentativen Grundlagen, die das Bundesverfassungsgericht im VerCorte costituzionale e sistema costituzionale in Germania, in: Giornale di storia costituzionale, 11 (2006), 1, S. 209-234; Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht. 104 Zum allmählichen Verlust der zentralen Rolle der deutschen Staatslehre gegenüber dem neuen Verfassungsakteur von Karlsruhe und zum Transfer von Begriffen und Ideen, der von Beginn an zwischen der Verfassungswisssenschaft und dem Bundesverfassungsgericht stattfand, vgl. F. Günther, Wer beeinflusst hier wen? Die westdeutsche Staatsrechtslehre und das Bundesverfassungsgericht während der 1950er und 1960er Jahre, in: R.C van Ooyen / M.H.W. Möllers (Hrsg.), Das Bundesverfassungsgericht im politischen System, S. 129-139; D. Schefold, Geisteswissenschaften und Staatsrechtslehre zwischen Weimar und Bonn, S. 585-591. 105 Unter den Erkenntnissen des Bundesverfassungsgerichts, die noch deutlicher zu einem Nachdenken über die deutsche Vergangenheit führten, sind außerdem die Entscheidungen der frühen Fünfzigerjahre über das Verbot der systemfeindlichen Parteien, die Entscheidung vom Dezember 1953 über das deutsche Beamtentum und das Lüth-Urteil vom Januar 1958 zu erwähnen; vgl. M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 4, S. 145-170; T. Henne / A. Riedlinger (Hrsg.), Das Lüth-Urteil aus (rechts-)historischer Sicht, Berlin 2005. 106 C. Gusy, „Vergangenheitsrechtsprechung“: Die Weimarer Reichsverfassung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Zeitschrift für neuere Rechtsgeschichte, 26 (2004), 1/2, S. 62-83.

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lauf der Fünfzigerjahre herangezogen hat, stark durch die Theorietradition aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg beeinflusst: Die Betrachtungen von Staatsrechtlern, die sich im Klima der Ersten Republik herangebildet hatten, wie Martin Drath, Gerhard Leibholz und Ernst Friesenhahn, schlugen sich unweigerlich im Sinne theoretischer Modelle jener Tradition in den Tätigkeiten des Verfassungsgerichts nieder107. Kurz gesagt handelt es sich um einen Beleg, wie im Verfassungsleben nach dem Krieg die Vergangenheit weiterhin ihr Gewicht und ihren Einfluss in die Waagschale hat. Wie im Übrigen auch Benjamin, von dem wir in gewisser Weise ausgegangen sind, angemerkt hat, ist jedes Dokument der Kultur zugleich ein Dokument der Barbarei, die ihr vorausgegangen ist108.

107 So bezogen sich die theoretischen Grundlagen Draths auf die Staatslehre von Heller, griffen die Theorien von Leibholz weitgehend auf die von Smend und Triepel erarbeiteten Konzeptualisierungen zurück, während Friesenhahn häufig an das Denken von Thoma anknüpfte; vgl. T. Oppermann, Das Bundesverfassungsgericht und die Staatsrechtslehre, in: P. Badura / H. Dreier (Hrsg.), Festschrift für das Bundesverfassungsgericht, Bd. 1, Tübingen 2001, S. 421-460. 108 W. Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, in: Illuminationen. Ausgewählte Schriften, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1974, S. 253 f.

Der Einfluss der Geschichte bei der Gestaltung der Nachkriegszeit in Italien und Frankreich 1945-1955* Von Michele Marchi

I. Methodologische Überlegungen In diesem Beitrag soll untersucht werden, welchen Einfluss die historische Entwicklung im Prozess der demokratischen Wiedergeburt Frankreichs und Italiens nach dem Zweiten Weltkrieg hatte. Im Besonderen geht es um die entscheidende Phase der Verfassungsgebung unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, um die Verwendung der Kategorie „Widerstand“ zwischen dem Ende der Vierzigerjahre und dem Anfang der Fünfzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts, aber auch um einige besondere Fälle, die typisch für eine der beiden nationalen Dynamiken sind, wie etwa der Konflikt um die Europäische Verteidigungsgemeinscahft (EVG), der so entscheidend für das empfindliche Gleichgewicht der Vierten Republik war. In den abschließenden Übelegungen soll sodann versucht werden, einige andere mögliche Forschungswege zu skizzieren, auf die eine solche Untersuchung, wie sie in dieser Arbeit durchgeführt wird, angewandt werden könnte. Bevor wir uns voll auf die Analyse konzentrieren, ist es wichtig, vorweg einige Überlegungen anzustellen, die sich schematisch mit dem Begriff „geschichtliche Entwicklung“, mit der Periodisierung und dem Vergleich befassen, um den methodologischen Rahmen abzustecken, innerhalb dessen die historische Analyse und Interpretation verläuft. Zunächst zwei Worte zum Begriff „Einfluss der Geschichte“ oder, wie eben gesagt, „historischen Entwicklung“. In dieser Untersuchung wurde eine besondere Lesart des Begriffs „Geschichte“ herangezogen, und zwar in der Absicht, einen ganz auf der Logik der Erinnerung konzentrierten Diskurs zu vermeiden, wie er in der jüngeren Geschichtsschreibung in der Tat sehr verbreitet ist. Die italienische Geschichtsschreibung der letzten beiden Jahrzehnte, zum Großteil aber auch die französische (vielleicht mit teilweise anderen Zielsetzungen), hat bei der weitergehenden Erforschung der Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg die Dynamiken der konkreten historischen * Aus dem Italienischen von Werner Menapace.

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Entwicklung letztlich als gegeben angenommen und sich auf die Vermittlung der Erinnerung dieser Dynamiken konzentriert1. Wo die Arbeit in Angriff genommen wurde, indem man von der soliden Basis der Ereignisgeschichte und der politischen Geschichte ausging, wie in den Abhandlungen von Pierre Nora2 und Olivier Wieviorka3 auf französischer Seite, aber auch in den Betrachtungen über den öffentlichen Gebrauch der Geschichte von Nicola Gallerano4 und in den Studien von Mario Isnenghi auf italienischer Seite5, sind die Ergebnisse beachtlich. Allzu oft jedoch ist sowohl in Frankreich als auch in Italien die „memorielle“ Logik der Erinnerung am Ende zu einer Quelle öffentlicher Polemik oder zu einem Schleier geworden, der einen unzureichenden Ansatz verdeckt, bei dem das Quellenstudium zu kurz kommt. Kurzum, fanden mit den Neunzigerjahren des vorigen Jahrhunderts, auch infolge des Zusammenbruchs der Ideologien, die Auseinandersetzungen zwischen „historiographischen Schulen“ (allzu oft nur leere Behälter mit dem Zweck, vorgefasste historiographische Thesen hervorzubringen) ein erfreuliches Ende, so besteht nun die Gefahr, dass die Intensität jener Geschichtsforschung nachgelassen hat, die darauf ausgerichtet ist, die Vergangenheit zu rekonstruieren und zu untersuchen, während dagegen die memoriale Analyse der Erinnerung bevorzugt wird, deren Ziel der geistige Prozess der Vermittlung eines Ereignisses oder einer ideologischen Entwicklung und nicht so sehr das Verständnis des Sachverhalts oder eben der Ideologie ist. Im französischen Fall, angefangen mit der „loi Gayssot“ des Jahres 1990 bis zum Versuch der „Rehabilitierung der kolonialen Vergangenheit“ im Verlauf der ersten umstrittenen Schritte unter der Präsidentschaft Sarkozys, ist ein regelrechter kulturpolitischer Streit über die öffentliche Verwendung der Geschichte und über die sogenannten „lois mémorielles“ ausgebrochen, an dem alle wichtigen Historiker und viele namhafte politische Persönlichkeiten beteiligt waren6. 1 Für einen begriffsgeschichtlichen Gesamtüberblick siehe K. Pomian, Sur l’histoire, Paris 1999, sowie R. Koselleck, Geschichte, Historie, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2, hrsg. von O. Brunner / W. Conze / R. Koselleck, Stuttgart 1975, S. 593-717, siehe auch die jüngste Arbeit von F. Hartog, Croire en l’histoire, Paris 2013. 2 P. Nora, Les lieux de mémoire, Paris 1984-1992. 3 O. Wieviorka, La mémoire désunie: le souvenir politique des années sombres, de la Libération à nos jours, Paris 2010. 4 N. Gallerano (Hrsg.), L’uso pubblico della storia, Mailand 1995, sowie N. Gallerano, La verità della storia: scritti sull’uso pubblico del passato, Rom 1999. 5 M. Isnenghi, I luoghi della memoria, Rom / Bari 1997. Von großem Interesse ist auch das von Marc Lazar betreute Dossier für die Zeitschrift: Vingtième siècle, 100 (2008), mit dem Titel: Italie: la presence du passé, S. 3-201. 6 Für einen recht erschöpfenden Gesamtüberblick verweisen wir auf P. Blanchard / Y. Veyrat-Masson (Hrsg.), Les guerres de mémoires: la France et son histoire, Paris 2008, sowie A. Houziaux (Hrsg.), La mémoire pour quoi faire?, Paris 2006. Sehr

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Wir möchten hier keine historiografische Polemik entfachen, auch wenn es einiges zu sagen gäbe über eine jüngere Geschichtsschreibung, die – insbesondere im Zuge von Tendenzen vornehmlich angelsächsischen Ursprungs – die politische Geschichte marginalisiert und sich einem kultur- und häufig erinnerungszentrierten Ansatz hinwendet, der Emotionen und Gefühlen gegenüber den traditionellen Hilfsmitteln der Geschichtsforschung den Vorzug gibt7. Mit dieser Präzisierung soll lediglich unterstrichen werden, dass eine „Geschichte der Jetztzeit“ zweifellos wesentlich ist, und zwar umso mehr im Bereich der politischen Geschichte; sie ist es aber tatsächlich nur dann, wenn sie imstande ist, den Forscher nicht zu weit von den Quellen und ganz allgemein von den Methoden der Geschichtsforschung wegzuführen. Kurz, die Fragen können – und vielfach müssen sie – tiefe Wurzeln haben, die bis zur Gegenwart und zu ihren Problemen vordringen, der Blick aber muss sich auf die Vergangenheit in ihrer konkreten Entwicklung richten und nicht auf die Projektion, die sich von ihr im kollektiven Gedächtnis oder in den unterschiedlichen und gegensätzlichen Erinnerungen gebildet hat, oder zumindest nicht ausschließlich8. Mit dieser langen Vorbemerkung möchte ich betonen, dass in meiner Abhandlung mit dem „Einfluss der Geschichte“ konkret untersucht werden soll, wie sehr die Vergangenheit und die historische, aber auch die politisch-institutionelle Entwicklung den Prozess des Wiederaufbaus des demokratischen Lebens in Frankreich und Italien beeinflusst haben. Wie sehr also die politischen Hauptdarsteller, Leader und Parteien ihre mehr oder weniger jüngere Vergangenheit assimiliert oder nicht assimiliert haben, sie neu interinteressant sind auch die Betrachtungen von René Rémond in: R. Rémond, Quand l’Etat se mêle de l’histoire, Paris 2006, sowie ders., L’Histoire et la loi, in: Etudes, 6 (2006), S. 763-773, sowie schließlich das Dossier der Zeitschrift: Regards sur l’actualité, mit dem Titel: L’Etat et les mémoires, 11 (2006), S. 5-65. Sehr interessant ist außerdem die von der Bibliothek Sciences Po Paris zur Verfügung gestellte vergleichende Bibliografie, die leider nur bis zum Jahr 2008 aktualisiert ist; siehe http://bibliotheque. sciences-po.fr/sites/default/files/pdfs/usages-passe-europe-bibliographie.pdf. 7 Als Beispiel zitieren wir das bekannte Werk C. Duggan, The Force of Destiny. A History of Italy since 1796, London 2007. Auch wenn häufig gesagt wird, die französische politische Geschichte sei in Krise, kann sie noch eine ansehnliche Schar von jungen und weniger jungen Interpreten vorweisen, wie der jüngste, sehr gewichtige Band F. Audigier / D. Colon / F. Fogacci (Hrsg.), Les partis politiques: nouveaux regards. Une contribution au renouvellement de l’histoire politique, Brüssel 2012, beweist. 8 Zu diesem Punkt siehe die wegbereitenden Betrachtungen von René Rémond in: R. Rémond, Pourquoi notre société veut-elle une histoire du temps présent?, in: Historiens et géographes, 12 (1981), S. 417-447; J.-P. Rioux, Devoir de mémoire, devoir d’intelligence, in: Vingtième siècle, 1 (2001), S. 157-167; sowie auch die jüngste Arbeit von H. Rousso, La dernière catastrophe. L’histoire, le présent, le contemporain, Paris 2012.

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pretiert oder dies unterlassen haben, und welchen Einfluss diese Aufarbeitung auf die Strukturierung der unterschiedlichen politischen Kulturen und der unterschiedlichen Verfassungskonzepte der italienischen Republik und der französischen Vierten Republik hatte. Kommen wir nun zum zweiten Punkt, und zwar zu jenem der Periodisierung, der eigentlich, wie man sehen wird, zum Teil auch mit dem dritten zusammenhängt, nämlich jenem des Vergleichs. Im Titel des Beitrags wird auf das Jahrzehnt 1945-1955 verwiesen. Ausgangspunkt der Abhandlung ist zweifellos das tatsächliche Ende des Kriegsgeschehens, daher die Wahl des Jahres 1945. In Wahrheit erfolgte die Befreiung Frankreichs im Jahr zuvor (im August 1944 kommt es zur Befreiung von Paris) und im Oktober 1945 finden bereits zwei wichtige Volksabstimmungen statt, in denen das Land über die institutionelle Zukunft entscheidet und die Verfassunggebende Versammlung wählt. Infolgedessen erfolgt die Wiedereingliederung der politischen Akteure in den demokratischen Rahmen im französischen Kontext zweifellos schneller und früher als im italienischen. Auch wenn in Italien im März 1946 wichtige Kommunalwahlen stattfinden, und zwar die ersten freien seit 1921, so ist das Datum, mit dem auch symbolisch die demokratische Wiedergeburt des Landes beginnt, jenes vom 2. Juni 1946. Was dagegen die Wahl des Jahres 1955 als Enddatum für diese Abhandlung betrifft, muss erneut auf eine gewisse Dyskrasie zwischen dem italienischen und dem französischen Kontext hingewiesen werden. Offensichtlich handelt es sich in beiden Fällen um das erste Jahrzehnt nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Im italienischen Kontext ist dieses Jahrzehnt, wie man sehen wird, von erheblicher Bedeutung gerade in Bezug auf den Einfluss der Geschichte auf die historisch-politischen Entwicklung des Landes. Angesichts einer Democrazia Cristiana, die sich in einer heiklen Übergangsphase zwischen dem Ende des Zentrismus De Gasperis und den ersten Schritten zum – vorerst nur theoretischen – Ausbau des Centro-Sinistra befindet, bietet das Jahrzehnt der Befreiung nämlich Gelegenheit zur Aufwertung und Konsolidierung jener „hegemonischen Darstellung“ des Widerstandes und des Antifaschismus, die vom 18. April 1948 an zu einer regelrechten politischen Auseinandersetzung zwischen der DC (und den laizistischen Mehrheitsparteien) und den sozialistisch-kommunistischen Kräften geworden war. Die Rede des Staatspräsidenten Giovanni Gronchi in der gemeinsamen Sitzung beider Kammern am 22. April 1955 ist emblematisch für diese besondere Situation. Im französischen Kontext ist das Datum 1955 zweifellos nicht so deutlich periodisierend. Wenn man es aber aufmerksamer betrachtet, ist das Jahr 1955 auch in diesem Fall ein Schlüsseljahr. Im Februar 1955 endet nämlich die Regierungszeit von Pierre Mendès-France. Seine kurze Regierung von

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ungefähr acht Monaten stellt jedoch einen zweifellos periodisierenden Übergang in der Entwicklung der Vierten Republik dar. Vor allem im Hinblick auf die hier angestellten Überlegungen sind die Monate von Mendès-France im Palais Matignon emblematisch für den „Einfluss der Geschichte“ in der politisch-institutionellen Entwicklung Frankreichs. Denn Mendès-France scheint es für einen Augenblick zu gelingen, die Logik des absoluten Parlamentarismus, auf welcher der Verfassungsvertrag von 1946 ruht, aus den Angeln zu heben, er scheint imstande zu sein (zumindest in Indochina und in Marokko), den Einfluss der kolonialen Vergangenheit „politisch“ zu überwinden. Außerdem ist die Ablehnung der Ratifizierung des Abkommens über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft durch die Assemblée nationale im August 1954 nicht nur ein Zeichen für die engen Handlungsspielräume des radikalen Politikers, sondern vor allem eine weitere Bestätigung dafür, wie sehr der „Einfluss der Geschichte“ (in diesem Fall die antideutschen Impulse sowohl der PCF als auch der RPF) letzten Endes die interne Entwicklung des Landes beeinflussen. Bestimmt ebenso begründet und wahrscheinlich passend für den französischen Kontext wären die Jahre 1956 und 1958. Im ersten Fall würde die Wahl aus zwei Gründen auf jenes Datum fallen: Zum einen, weil die Wahlen vom Januar 1956 zu einer ersten Bipolarisierung des politischen Systems führen, und zwar zwei Jahre vor der Neugründung des institutionellen Systems seitens de Gaulles9. Zum anderen, weil im Februar 1956 im Zuge des turbulenten Besuches des Ministerpräsidenten Mollet in Algier der politisch-militärische Einsatz des Landes im Algerienkonflikt als unwiderruflich betrachtet werden kann. Die Entscheidung für das Jahr 1958 würde natürlich bedeuten, die periodisierende Zäsur der Ereignisse vom 13. Mai und der darauf folgenden, die zur Reform des Systems und zur neuen Verfassung vom September 1958 führten, heranzuziehen10. Und schließlich der dritte Punkt, nämlich die methodische Anlage des Vergleichs. Warum kann der vergleichende Ansatz, wie ich glaube, einen entscheidenden Beitrag zur Erforschung der politischen Geschichte des 20. Jahrhunderts leisten? Zunächst ist es unerlässlich, übertriebene Vereinfachungen aus dem Weg zu räumen: vergleichen heißt weder gegenüberstellen und erst recht nicht nebeneinanderstellen. Eine sachgemäße vergleichende Herangehensweise geht von einer Untersuchung über die unterschiedlichen Kontexte aus und sucht nach gemeinsamen Fragen, mit denen die Entwicklung dieser Kontexte in Erfahrung gebracht werden kann. Deshalb – und das ist der 9 Siehe dazu die Einführung von G. Richard / J. Sainclivier (Hrsg.), Les partis et la République: la recomposition du système partisan 1956-1967, Rennes 2007. 10 Wichtige Anregungen in: J.-P. Thomas / G. Le Béguec / B. Lachaise (Hrsg.), Mai 1958. Le retour du général de Gaulle, Rennes 2010, sowie B. Lachaise / G. Le Béguec / F. Turpin (Hrsg.), Les élections législatives de novembre 1958: une rupture?, Bordeaux 2011.

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zweite Punkt, den man nicht außer Acht lassen sollte – kann man auch die scheinbar entferntesten historischen Erfahrungen vergleichen, indem man die Analyse der Eigentümlichkeiten mit jener der besonderen Fragen verbindet. Vergleichen wird somit entscheidend für den Historiker: Einerseits kann er seinen eigenen nationalen Kontext ohne eine Reihe von Beeinflussungen, die sein politisches, kulturelles und soziales Milieu zwangsläufig kennzeichnen, erforschen; andererseits gewinnt er dadurch einen neuen, möglicherweise unorthodoxen Blick, vor allem aber wird er die Quellen und den für ihn „fremden“ Kontext befragen, wobei er Fragen heranzieht, die durch andersartige Empfindlichkeiten, Methoden und Herangehensweisen bedingt sind. Am Ende muss sich ein Bild ergeben, das imstande ist, Besonderheiten und Gemeinsamkeiten zusammenzuhalten, vor allem aber jenen übermäßig verabsolutierenden Ansatz vieler historischer Untersuchungen abzuschwächen, welche die Logik des Vergleichs ablehnen, ob diese nun explizit oder auch nur implizit vom Historiker angewandt wird11.

II. Verfassungsdebatte und Einfluss der Geschichte im Vergleich zwischen Italien und Frankreich Die Frage des Heranziehens der Geschichte als System für die Legitimierung der neuen politischen Ordnung, die das postfaschistische Italien erhalten soll, stellt sich nachdrücklich in der Verfassunggebenden Versammlung12. Im Besonderen sind es zwei Schlüsselpunkte, mit denen sich die Verfassungsgeber auseinandersetzen müssen: Wie soll das vorhergehende Regime beurteilt werden, und zwar nicht nur und nicht so sehr der Faschismus, sondern auch die Jahre des sogenannten liberalen Italien? Und zweitens, was soll dem neuen Staat zugrunde gelegt werden, gerade unter dem Gesichtspunkt der historischen Wiederherstellung der nationalen Vergangenheit? Eine Antwort auf diese beiden Fragen bedeutet, sich im Klaren darüber zu sein, ob die von der Resistenza vollzogene Befreiung eine Befreiung nur vom Faschismus war oder ob sie auch als „Befreiung“ vom liberalen Italien dargestellt werden müsse. Und außerdem, ob das Widerstandsgeschehen in den Verfassungsdebatten als bloße Wiederaufnahme bereits festgeschriebener Werte und 11 Sehr interessant sind nach wie vor die Betrachtungen von M. Salvati, Storia contemporanea e storia comparata oggi: il caso Italia, in: Rivista di storia contemporanea, 2-3 (1992), S. 486-510. Allgemein verweisen wir auf das Stichwort „Storia comparata“, bearbeitet von J. Kocka für die Enciclopedia delle Scienze Sociali Treccani, auch online verfügbar unter http://www.treccani.it/enciclopedia/storia-comparata_(Enciclopedia_delle_Scienze_Sociali)/, sowie auf P. Pombeni, La storia politica comparata, in: G. Orsina (Hrsg.), Fare storia politica, Soveria Mannelli 2000, S. 87-100. 12 Für einen Gesamtüberblick siehe M. Fioravanti / S. Guerrieri (Hrsg.), La Costituzione italiana, Rom 1999.

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Traditionen betrachtet werden solle. Als Beweis dafür, wie entscheidend diese Fragen sind, kann die Rede Ferruccio Parris vom 26. Oktober 1945 vor der Verfassunggebenden Versammlung (also noch in der Phase vor der eigentlichen Verfassungsgebung) zitiert werden: „Was euch angesichts dieser Situation der Unsicherheit interessieren und am Herzen liegen muss, ist das, was ich als die Begründung der Demokratie bezeichne. Bedenkt, dass die Demokratie bei uns praktisch erst am Anfang steht. Ich weiß nicht, ich glaube nicht, dass man jene Ordnungen, die wir vor dem Faschismus hatten, als demokratisch bezeichnen kann … Ich wollte Folgendes sagen: demokratisch hat eine klare, ich würde sagen, technische Bedeutung. Jene anderen waren Ordnungen, die wir als liberal bezeichnen und betrachten können“13.

Eine solche Sichtweise kann von der liberalen Elite, die von der Einigung bis zur Ankunft des Faschismus den institutionellen und politischen Stützbalken des Landes dargestellt hat, natürlich nicht akzeptiert werden. Einer ihrer angesehensten Vertreter, Benedetto Croce, verteidigt den demokratischen und freien Charakter des präfaschistischen Italien und präzisiert, dass „Italien von 1860 bis 1922 eines der demokratischsten Länder Europas war und dass seine Entwicklung ein ununterbrochener und häufig beschleunigter demokratischer Aufstieg war“14. Kann man nicht umhin, in der Sichtweise Croces eine persönliche Version der Vorstellung des Faschismus als „Zwischenspiel“ zu sehen, so scheint das Problem der regelrechten „historischen Zäsur“, zu der es im Land und ganz allgemein in der westlichen Geschichte mit den faschistischen Ereignissen gekommen ist, den Verfassungsgebern und insbesondere den katholisch-demokratischen, vertreten durch die Gruppe um Dossetti und La Pira, wohl bewusst zu sein15. Ich will hier nicht im Detail auf die Verfassungsdebatten eingehen, erstens weil das Thema bereits von namhafteren Forschern behandelt und interpretiert wurde, und zweitens vor allem deshalb, weil das nicht der Fokus meiner Abhandlung ist. Mittelpunkt der Betrachtungen muss der „Einfluss der Geschichte“ in der langen Phase der Verfassungsgebung bleiben, die das Land 13 Zitiert in: P. Pombeni, Il peso del passato. Storia d’Italia e strategie costituzionali all’Assemblea Costituente, in: G. Miccoli / G. Neppi Modona / P. Pombeni (Hrsg.), La grande cesura. La memoria della guerra e della resistenza nella vita europea del dopoguerra, Bologna 2001, S. 392. Für eine ähnliche Herangehensweise an das Thema siehe V. Capperucci, La memoria della seconda guerra mondiale nei dibattiti della Consulta e della Costituente: il caso italiano, in: P. Craveri / G. Quagliariello (Hrsg.), La Seconda guerra mondiale e la sua memoria, Soveria Mannelli 2006, S. 289-326. 14 Zitiert in: P. Pombeni, Il peso del passato, S. 393. 15 Siehe das klassische Werk P. Pombeni, Il gruppo dossettiano e la fondazione della democrazia italiana: 1938-1948, Bologna 1979, sowie ders., Giuseppe Dossetti, Bologna 2013 und das monumentale E. Galavotti, Il professorino. Giuseppe Dossetti tra crisi del fascismo e costruzione della democrazia 1940-1948, Bologna 2013.

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durchlebt hat. In einem vor etwa zehn Jahren erschienenen Beitrag sagt Paolo Pombeni offen, dass in der italienischen verfassunggebenden Phase eine klare Auseinandersetzung mit der politischen Tradition des europäischen Liberalismus fehlt und dass die italienische Verfassungscharta daher im Hinblick auf eine „abgeschlossene Theorie der politischen Demokratie“ unvollständig ist. Der „Einfluss der Geschichte“ ist so offensichtlich, dass die neue politische Demokratie letzten Endes hauptsächlich im Wirken der politischen Parteien festzustellen ist, die sich nach den Wahlen von 1948 endgültig zu Garanten und Vermittlern gewandelt haben, die für die demokratische Entwicklung des Landes unabdingbar sind; von daher die bekannte Äußerung Pietro Scoppolas über die „Republik der Parteien“16. Zur Bestätigung dafür, welch großen Einfluss die Geschichte beim Aufbau dieser auf das „unvollkommene Zweiparteiensystem“ gegründeten „Republik der Parteien“ hat, kann man sich auf die beiden „Lesarten“ dieses „Triumphes der politischen Partei“ berufen, die Togliatti und De Gasperi angeboten haben. Togliatti möchte den „Einfluss der Geschichte“, in diesem Fall jenen der langen liberalen Phase, dazu verwenden, um sich auf die Suche nach der objektiven Verantwortlichkeit zu machen, die der „nationalen Katastrophe“ zugrunde liegt, welche in der Verwicklung des faschistischen Italien in den Zweiten Weltkrieg gipfelt. In diesem Fall macht sich der kommunistische Führer die Verwendung der Geschichte auf schlaue Weise zu eigen, wenn mir der Ausdruck gestattet ist. Es ist abwegig, sagt Togliatti im Wesentlichen, die Verantwortung der intrinsischen Schwäche eines Systems (des liberalen) und/oder einer politischen Ideologie zuzuschreiben. Die Verantwortung trage allein die Führungsschicht. „Ich kann nicht anders als zu bekräftigen, dass diese Menschen einen Teil der Verantwortung für die Katastrophe tragen, die über das italienische Volk hereingebrochen ist. Denn ihr hattet Augen und habt nicht gesehen … Ihr wart in der Lage, jene Worte zu sagen, die das ganze Volk hätten einen und zu einem wirksamen Widerstand gegen jene Welle der Barbarei ermuntern können; ihr wart dieser Aufgabe nicht gewachsen“17.

Die von vornherein feststehende Schlussfolgerung des kommunistischen Leaders: Es bleibt nichts anderes übrig, als auf das Scheitern dieser Führungsschicht dadurch zu antworten, dass man eine andere ins Spiel bringt. Und so präsentieren sich die KPI und ihr Leader als die Vertreter dieser neuen Führungselite, die sich an die Spitze der neuen Phase der nationalen Entwicklung stellen wollen. Siehe P. Scoppola, La Repubblica dei partiti, 2. Aufl., Bologna 1997, insbesondere S. 179-231; interessante Überlegungen auch in: P. Pombeni, I partiti e la politica dal 1948 al 1963, in: G. Sabbatucci / V. Vidotto (Hrsg.), Storia d’Italia, Bd. 5: La Repubblica, Rom / Bari 1997, S. 127-153. 17 Zitiert in: P. Pombeni, Il peso del passato, S. 401. 16

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Auch De Gasperi unterbreitet seine eigene und persönliche Schlussfolgerung, um sodann die zentrale Rolle der politischen Parteien im erneuerten institutionellen System Italiens zu verfechten. Und er tut dies bekanntlich nicht, indem er im Rahmen der Verfassunggebenden Versammlung aktiv wird, sondern indem er aus seinen Überlegungen ein regelrechtes zweites „verfassunggebendes“ Moment macht, ausgehend jedenfalls von „Il programma della Democrazia Cristiana“, und aus seinem konkreten Wirken an der Spitze des Landes in der Zeit zwischen 1945-1948. Der Ausgangspunkt De Gasperis wird denn auch im Programm der Democrazia Cristiana deutlich dargelegt: Der Schlüssel liegt im System der Gestaltung der Politik, folglich kann das tatsächliche „verfassunggebende“ Moment nicht auf die Wiederherstellung der im liberal-demokratischen System verkörperten Demokratie verzichten. Vorrangig ist also die politische Stabilisierung, und zwar sowohl nach innen als auch nach außen. Und so kommt nun der „Einfluss der Geschichte“ zur Geltung. Italien muss Zentralität im internationalen System zurückgewinnen, nachdem die „faschistischen Kriege“ Image und Stellung des Landes diskreditiert haben. Daraus erklärt sich das große Bemühen De Gasperis auf der Friedenskonferenz von Paris, dem die Unterzeichnung des Friedensvertrages folgte. Unter einem internen Gesichtspunkt kann es sich Italien nicht erlauben, die „Römische Frage“, die viel zu lange das sozio-politisches Gefüge zerrissen hatte, noch einmal aufzurollen. Zu diesem Punkt äußert sich De Gasperi am 25. Juli 1946 in seiner Replik auf die Stimmabgabeerklärungen zur Entstehung seiner Regierung ganz klar: „In der Verfassung geht es nicht nur um das Sozial- und Wirtschaftsprogramm, es geht in erster Linie um Grundsätze und nicht nur um die Rechte der Personen, sondern um Freiheit, Schule, Grenzen, um die Beziehungen zwischen Kirche und Staat. Dass sich die Kirche in diesem Vorfeld verpflichtet gefühlt hat, ihre Meinung zu äußern, darf euch nicht wundern. Wisst ihr, was wir tun müssen? Wir müssen eine gute Verfassung machen, wir müssen die Freiheit und die Lateranverträge gewährleisten und die Kirche wird ihre Einwände gern auf das rein Notwendige beschränken“18.

Im Bewusstsein der Schwierigkeiten schlägt De Gasperi in seinem einzigen ausführlichen Beitrag in der Verfassunggebenden Versammlung am 25. März 1947 erneut Alarm, und zwar genau in Zusammenhang mit dem Artikel 7: Entscheidend ist, die „Römische Frage“ nicht neu aufzurollen, zu einem für das Land ohnehin schon heiklen Zeitpunkt. 18 A. De Gasperi, Intervento all’Assemblea Costituente 25 luglio 1946, in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 3/1: V. Capperucci / S. Lorenzini (Hrsg.), Alcide De Gasperi e la fondazione della democrazia italiana 1943-1948, Bologna 2008, S. 256.

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„Es geht also nicht um diesen oder jenen Artikel, den ihr kritisiert habt oder den ihr eurer Zensur unterwerfen könnt. Es geht um die Grundsatzfrage: nämlich, ob die Republik den Beitrag des religiösen Friedens, den dieses Konkordat bietet, annimmt; denkt gut nach. Dieses Konkordat wird in der Präambel zur notwendigen Ergänzung des Vertrages erklärt, der die ‚Römische Frage‘ beendet … Wenn wir dem Artikel 7 zustimmen, beantworten wir diese Frage mit ja; wenn wir dagegen stimmen – ich weiß nicht, wer das gesagt hat, ich glaube, der Abgeordnete Lami Starnuti –, wenn wir dagegen stimmen, dann sind nicht wir es, werte Kollegen, die einen politischen Kampf eröffnen, sondern ihr eröffnet ihn, oder besser, ihr öffnet in diesem zerrissenen Körper Italiens eine neue Wunde, von der ich nicht weiß, wann sie verheilen wird“19.

Und wenn man mit dieser geschickten Verwendung der historischen Legitimität zur Stützung des eigenen „verfassunggebenden“ Weges außerhalb der formalen Schranken der Versammlung, der die Ausarbeitung der Verfassung obliegt, fortfährt, kann man den Diskurs nur mit dem entscheidenden Schritt vom Mai-Juni 1947 abschließen20. Der Austritt der KPI aus den Reihen der Regierung darf nicht als erster Schritt eines antikommunistischen Kreuzzuges interpretiert werden, der darauf ausgerichtet ist, aus dieser Partei eine gegen das System gerichtet Kraft zu machen. Und den klaren Beweis dafür, dass dies nicht die Absicht De Gasperis ist, liefert die Rede des Ministerpräsidenten anlässlich der Vertrauensabstimmung über seine neue Regierung. Der Trentiner Staatsmann erinnert nämlich an Einfluss und Bedeutung der historischen Legitimität seiner Regierung, eine Legitimität, die vom Aventin über die Resistenza zur Verfassunggebenden Versammlung geht. Und in der abschließenden Replik vom 21. Juni 1947 wird auch der Gipfel des „verfassunggebenden“ Werkes De Gasperis klar. „Dass die Versammlung ihre verfassungsmäßige Aufgabe beschleunigt und abschließt … damit man so rasch wie möglich zu den Wahlen der beiden Kammern und zur endgültigen Ernennung des Staatspräsidenten übergehen kann“21. Das verfassunggebende Zwischenspiel ist nunmehr beendet; aus der Sicht des Trentiner Staatsmannes ist es Zeit, die politische Dialektik wiederaufzunehmen, die in den liberalen Konstitutionalismus eingebettet werden muss, dessen Stützbalken der Parlamentarismus und die zentrale Rolle der politischen Parteien sind22. In Wahrheit könnte der Diskurs ohne einen kurzen, aber wesentlichen Verweis auf die institutionelle Frage unvollständig erscheinen, was jedoch in 19 A. De Gasperi, Intervento all’Assemblea Costituente 25 marzo 1947, in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 3/1, S. 367-368. 20 Siehe G. Formigoni, Alcide De Gasperi 1943-1948. Il politico vincente, S. 105135, einleitender Essay zu A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, 3/1, S. 105-135. 21 A. De Gasperi, Intervento all’Assemblea Costituente 21 giugno 1947, in: A. De GasperI, Scritti e discorsi politici, Bd. 3/1, S. 418. 22 Zu all diesen Betrachtungen siehe P. Pombeni, De Gasperi costituente, in: Quaderni Degasperiani, 1 (2009), S. 55-123.

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diesem spezifischen Kontext nur als Entwertung des Bezuges auf den „Einfluss der Geschichte der Monarchie“ in Italien und andererseits als Versuch, eine möglichst gemeinsame „republikanische Zivilreligion“ zu schaffen, zu verstehen ist23. In der Zeit unmittelbar nach dem 25. Juli 1943 scheinen die Feindseligkeiten gegenüber der Krone abzuklingen. Nach Abschluss der Feiern zum Sturz des Regimes beginnt die Monarchie jedoch schon bald wieder zwiespältige und gegensätzliche Gefühle hervorzurufen. Auf der einen Seite fehlt es nicht an Dankbarkeit und Anerkennung für den „Todesstoß“ für das Regime, auf der anderen Seite können Ressentiment und Abneigung, die zumindest seit den Ereignissen des Marsches auf Rom und den darauf folgenden verhängnisvollen militärischen Unternehmungen unter der Oberfläche schwelen, nicht ausgeräumt werden. Nicht außer Acht lassen darf man aber die Tatsache, dass angesichts dieser verzwickten Lage, in der die Monarchie agieren muss, so schnell keine eindeutige Nachfrage nach „Republik“ aufkommt. Für die antifaschistischen Parteien, die sich nach dem Sturz des Faschismus im Land neu zu organisieren versuchen, ist der Ruf nach einer institutionellen Wende kein vordringlicher Punkt. Nur der Partito d’Azione und das, was von der Tradition des Partito Repubblicano übrig bleibt, setzen die institutionelle Wende in ihren Programmen an vorderste Stelle. Entscheidend wird eine als Reaktion herbeigeführte echte Wende, und der Punkt, der zum Bruch führt, ist die Entscheidung Viktor Emanuels III., Rom zu verlassen, das Heer und den Staat in einem Zustand der regelrechten Auflösung zurückzulassen24. Unvermittelt wird aus dem „König, der Italien gerettet hat“, der „König, der das Land verraten hat“. Mit seiner Reaktion auf den Waffenstillstand wirft Viktor Emanuel III. den mit dem 25. Juli 1943 zurückgewonnenen Schatz an Glaubwürdigkeit fort. Er hat den Pakt mit den Untertanen gebrochen, bestehend aus der Fähigkeit, Ordnung, Autorität und Sicherheit zu gewährleisten, und im Gegenzug legitimiert zu werden. Das Land erlebt, auch unter einem symbolische Gesichtspunkt, ein zweites schweres Trauma: auf den Sturz Mussolinis folgt jener der Krone25.

23 Für eine interessante Konzeptualiserung vgl. G.E. Rusconi, Possiamo fare a meno di una religione civile?, Rom / Bari 1999; interessante Überlegungen auch in: A.G. Ricci, La Repubblica, Bologna 2001. 24 Siehe die klassischen Arbeiten E. Galli della Loggia, La morte della patria: la crisi dell’idea di nazione tra Resistenza, antifascismo e Repubblica, Rom / Bari 1996, sowie E. Aga Rossi, Una nazione allo sbando: l’armistizio italiano del settembre 1943, Bologna 1993. 25 M. Ridolfi / M. Tesoro, Monarchia e Repubblica. Istituzioni, culture e rappresentazioni politiche in Italia (1848-1948), Mailand 2011, S. 129 ff.

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Ab diesem Zeitpunkt setzt nun ein heikler Prozess zur Schaffung eines republikanischen Kollektivbewusstseins und parallel dazu einer republikanischen Zivilreligion ein, wo die bisweilen verdienstvollen, häufig aber widersprüchlichen Bemühungen der antifaschistischen Kräfte zusammenfließen; nicht zu vergessen sind aber auch die ebenso verdienstvollen Bemühungen eines Teils des Landes, der tatsächlich der monarchischen Institution verbunden ist26, und schließlich jene nicht unbedeutende (vor allem, weil es sich um junge Leute handelt) Anzahl von Menschen, die gegen die monarchische Institution sind, allerdings aus der neofaschistischen Sicht der Republik von Salò27. Durch die Wende von Salerno und die sogenannte „institutionelle Waffenruhe“, die darauf folgte, gerät die Herausbildung eines republikanischen Bewusstseins ins Stocken. Von da an besteht die Gefahr, dass der Ruf nach der Republik im politisch-institutionellen Raum des Antifaschismus Spaltungen hervorruft, und an seine Stelle tritt der Ruf nach der Verfassunggebenden Versammlung. Während die Republik spaltet, scheint die Verfassunggebende Versammlung zu einen28. Hat, wie auch vorher festgestellt, die Arbeit der Verfassunggebenden Versammlung zumindest zum Teil die Schaffung eines in vielerlei Hinsicht schwachen Staates wettgemacht, indem sie diesen mit dem Verweis auf die führende Rolle gestärkt hat, welche die Kirche, die Parteien und die gewerkschaftlichen Vereinigungen gespielt haben (und bei seiner Umsetzung spielen müssen), so lebt der Aufbau einer vollendeten republikanischen Demokratie notwendigerweise von einer komplexen und besonderen Darstellung der eigenen Vergangenheit. Das Band zwischen Republik und Risorgimento – wie schon zwischen Resistenza und Risorgimento – kann sich nicht ohne weiteres offenbaren, da die entscheidende Rolle, welche die Dynastie der Savoyer gespielt hat, zwangsläufig unterbewertet oder gar völlig ausgespart werden muss. Auch aus diesem Grund findet auf formeller und in gewisser Hinsicht liturgischer Ebene eine vollständige Wiederaufnahme der Feiern zum 4. November und 25. April statt – regelrechte Schauplätze für die Darstellung des Gründungsmythos der noch schwachen Republik –, und es sind außerdem weniger offensichtliche, aber jedenfalls vorhandene Verweise auf eine ferne und wenig bekannte historische Erfahrung wie die der Römischen Republik von 1849 zu beobachten29. Vgl. A.A. Mola, Declino e crollo della monarchia in Italia, Mailand 2006. Vgl. R. Chiarini, L’ultimo fascismo. Storia e memoria della Repubblica di Salò, Venedig 2009. 28 Siehe dazu P. Pombeni, La Costituente. Un problema storico-politico, Bologna 1995, S. 103-143. 29 Unterschiedliche Gesichtspunkte in: P. Scoppola, 25 aprile: liberazione, Turin 1995, sowie R. Chiarini, 25 aprile: la competizione politica sulla memoria, Venedig 2005. 26 27

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Doch unter einem politischen Gesichtspunkt ist es die sogenannte „Doppelentscheidung“ Alcide De Gasperis, welche die republikanische Zukunft des Landes bestimmt und ein endgültiges Veto über den Einfluss seiner „monarchischen Vergangenheit“ verhängt. Die wahrscheinlich bekanntere ist die „westliche“ Entscheidung vom Mai 1947, mit dem Ausschluss der Kommunisten von der Führung des Landes, nicht aber vom legitimierenden Kreis der republikanischen Verfassunggebenden Versammlung30. Ebenso entscheidend, aber von der Publizistik weniger oft erwähnt, auch wenn sie mittlerweile von der jüngeren und soliden Geschichtsschreibung gut durchleuchtet und zu Recht valorisiert wurde, ist die Rolle, die De Gasperi auf der Friedenskonferenz von Paris gespielt hat31. Im Telegramm, das er am 20. Juni 1946 an die Regierungschefs der USA, UdSSR, Großbritanniens und Frankreichs geschickt hat, erinnert De Gasperi daran, dass die Siegermächte das vor Kurzem aus dem Volksentscheid hervorgegangene republikanische Italien nicht demütigen dürfen und es vielmehr integrieren müssen, damit es seinen Beitrag zum Wiederaufbau der Nachkriegswelt leisten könne. Nicht von ungefähr schließt der Verweis auf die politischen Parteien – Stützpfeiler des noch im Anfangsstadium befindlichen demokratischen Aufbaus – die monarchischen Kräfte (aber auch die so eng mit der monarchischen Tradition verbundene liberale Partei) aus und es wird direkt auf die neue institutionelle Architektur Bezug genommen. Auch wenn deutlich ist, dass die Republik für den Trentiner Staatsmann (der sich im Übrigen gerade wegen der institutionellen Frage mit gar einigen Spaltungen innerhalb seiner Partei auseinandersetzen musste) vorerst nur ein Teil ist, so muss sie nunmehr, und umso mehr auf dem entscheidenden internationalen Szenarium, das Ganze darstellen32. 30 Interessante Dokumente in: G. Sale, De Gasperi, gli Usa e il Vaticano all’inizio della Guerra fredda, Mailand 2005. 31 Siehe S. Lorenzini, L’Italia e il Trattato di Pace del 1947, Bologna 2007, und für die Rolle De Gasperis siehe F. Malgeri, Alcide De Gasperi, Bd. 2: Dal fascismo alla democrazia (1943-1947), Soveria Mannelli 2009, S. 195-256. 32 Nicht von ungefähr äußert sich De Gasperi im Telegramm vom 20. Juni folgendermaßen: „Die Abgeordneten der parlamentarischen Gruppen in der Verfassunggebenden Versammlung der Italienischen Republik, Vertreter der folgenden demokratischen Parteien, welche die überwältigenden Mehrheit des italienischen Volkes vereinigen: Partito d’Azione, Partito comunista, Partito democratico cristiano, Democrazia del lavoro, Concentrazione democratica repubblicana, Partito socialista bringen den Regierungschefs den Willen des italienischen Volkes zum Ausdruck, seine demokratischen Errungenschaften zu festigen, um Italien zu einem immer wirksameren Faktor der internationalen Einigkeit zu machen. Die Abgeordneten, welche die oben genannten Parteien vertreten, fordern die großen Nationen auf, an dieser Festigung der italienischen Demokratie mitzuwirken, und weisen zu diesem Zweck darauf hin, dass ein Frieden, der die Rechte des italienischen Volkes verletzen und die Republik demütigen würde, die Aussicht auf Festigung der freien Institutionen, die sich das italienische Volk gegeben hat, ernsthaft gefährden würde. Des Weiteren würde der Beitrag zum Wiederaufbau der Welt in Frieden und internationaler Gerechtigkeit,

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Gerade dieser Verweis auf die zentrale Rolle der politischen Parteien gestattet es, unsere Aufmerksamkeit dem französischen Fall zuzuwenden. Wenn man die Zäsur der Verfassungsgebung weiter unter dem Blickwinkel des „Einflusses der Geschichte“ betrachtet, dann kann man, glaube ich, den Überlegungen vier Schlüsselereignisse zugrunde legen. Das erste ist jenes der „zweifachen Ablehnung“33. Seit den ersten Schritten des Widerstandes, und zwar viel stärker und viel früher bei der sogenannten „äußeren“ Résistance und erst später bei der inneren, ist diese zweifache Zurückweisung klar: die der Dritten Republik und jener von Vichy. Der Angriff auf den Parlamentarismus der Dritten Republik, der das Land zur Katastrophe von Vichy geführt hat, kommt geradewegs von einem Protagonisten der Assemblée nationale in den Zwanziger- und Dreißigerjahren, nämlich Léon Blum. Das Land wurde durch die Übermacht des Parlaments wesentlich geschwächt. In London haben linksorientierte Männer wie André Philip, Pierre Brossolette, Georges Boris34 keine Zweifel: Die Résistance muss den Ausgangspunkt für den Aufbau eines neuen Frankreich bilden; eines Frankreich, das aus einer neuen politischen Klasse und neuen Institutionen besteht, die das Ende des Regimes der „bavardage, irresponsabilité e inefficacité“ der Dritten Republik garantieren müssen. Der „Einfluss der Geschichte“ scheint jedenfalls in dieser ersten Phase jene politischen Parteien zu erdrücken, welche regelrechte tragende Balken des parlamentaristischen republikanischen Modells waren, das aus der Asche des Zweiten Kaiserreichs hervorgegangen ist35. Das zweite Schlüsselereignis ist vor allem wegen seiner paradoxen Kennzeichnung interessant. Derjenige, der – zumindest unter militärstrategischem Gesichtspunkt – ein scharfer Kritiker der Politikerklasse der Dritten Republik war und mit seiner Botschaft aus London deren Verantwortung den Italien nach seiner Teilnahme am Befreiungskrieg mit seinen ganzen Kräften zu leisten sich anschickt, weniger wirksam werden“, zitiert in: A. Mola, Declino e crollo, S. 282. 33 Zu diesem Ausdruck und zu zahlreichen Überlegungen zu diesem Abschnitt siehe S. Berstein, La IV République: république nouvelle ou restauration du modèle de la III République?, in: S. Berstein / O. Rudelle (Hrsg.), Le modèle républicain, Paris 1992, S. 357-381, sowie auch das ganze Kap. 5 (S. 267-338) von S. Berstein / M. Winock (Hrsg.), La République recommencée, Paris 2004. 34 Zu André Philip siehe C. Chevandier, André Philip: socialiste, patriote, chrétien, Paris 2005. Zu Pierre Brossolette die vor kurzem erschienene Arbeit E. Roussel, Pierre Brossolette, Paris 2011 und zu Boris J.-L. Crémieux-Brilhac, Georges Boris: trente ans d’influence, Paris 2010. 35 Siehe J.-F. Muracciole, La France pendant la Seconde guerre mondiale, Paris 2002, das klassische Werk H. Michel, Les Courants de pensée de la Résistance, Paris 1962, aber auch Dictionnaire historique de la Résistance, Paris 2001.

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an der Entstehung des Kollaborationsregimes von Vichy ohne Umschweife unterstrichen hatte, wird zu ihrem Neugründer. Dank des Wirkens von Jean Moulin erreicht de Gaulle nämlich nicht nur die Union zwischen äußerer und innerer Résistance, die beide bereit sind, ihn als alleinige Bezugsperson anzuerkennen. Er erreicht auch die Wiedereingliederung der wichtigsten politischen Parteien, die in den Conseil National de la Résistance aufgenommen werden und ihm neben der charismatischen Legitimation auch die politische garantieren. Dieses Paradox erfährt nun bei der Befreiung von Paris einen regelrechten symbolischen Höhepunkt. Als de Gaulle von Georges Bidault aufgefordert wird, auf den Balkon des Pariser Rathauses zu treten und die Republik auszurufen, hat er keine Zweifel und bekräftigt dem Führer des CNR, dass die Republik niemals aufgehört habe zu existieren, da sie sich von Mal zu Mal in den politisch-militärischen Organisationen verkörpert habe, die er geschaffen und in der Zeit von 1940 bis 1944 geführt hat36. Hier, und nicht nach den Wahlen vom 21. Oktober 1945, kann man meiner Ansicht nach das vulnus einordnen, das zwischen de Gaulle und den politischen Parteien entsteht. Es stimmt, dass der General mit seinem Vorschlag des doppelten Volksentscheids, neben der Wahl der neuen Assemblée implizit die Hypothese bestätigt, dass Letztere zu einer Verfassunggebenden Versammlung wird, die ein neues institutionelles System ins Leben rufen soll. De Gaulle ist sich all dessen bewusst, er scheint aber zu übersehen, dass gerade die Geschichte die Ebene der Theorie und jene der Praxis verflechten wird. Er scheint die Sache nicht institutionell zu sehen und ist auch fest entschlossen, in der Substanz nicht nachzugeben: An die Stelle des absoluten Parlamentarismus der Dritten Republik muss ein auf das Primat der Exekutive gegründetes System treten. Auch in diesem Fall darf man die Bedeutung des Einflusses der Geschichte und ihrer Protagonisten nicht vernachlässigen. In den tatsächlichen Übergangsphasen37 pflegen Modelle und Formeln wieder aufzutauchen, die vom herrschenden Regime häufig beseitigt worden waren. Im Entwurf der Einkammerverfassung der PCF gibt es zweifellos einen Bezug auf die Verfassung von 1848, was aber in diesem Kontext am meisten interessiert, ist die Tatsache, dass jenes „Modell Matignon“ wieder aufgegriffen wird, das in Wirklichkeit Interessante Überlegungen in: J.-L. Crémieux-Brilhac, La France Libre: de l’appel du 18 juin à la Libération, Paris 1996, sowie auch in: G. Quagliariello, De Gaulle e il gollismo, Bologna 2003, S. 123-142. 37 Ich erlaube mir, den Begriff so zu verwenden, wie er kürzlich von Paolo Pombeni auf der internationalen Tagung mit dem Titel „La Transizione come problema storiografico“ am Sitz der Fondazione Bruno Kessler in Trient im September 2012 theoretisiert wurde; jetzt in: P. Pombeni / H.G. Haupt (Hrsg.), La transizione come problema storiografico. Le fasi critiche dello sviluppo della modernità (1494-1973), (Annali dell’Istituto storico italo-germanico in Trento. Quaderni, 89) Bologna 2013. 36

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bereits in den Dreißigerjahren ausgearbeitet wurde. Das kulturpolitische Klima in jener Phase war jenes der Gesamtreform des Staatssystems (es genügt der Hinweis auf die Untersuchungen Réné Capitants), die Schlüsselfiguren, die in dieser Phase zu nennen sind, sind aber zwei. Auf der einen Seite Gaston Palewski, von 1931 bis 1939 Kabinettschef des damaligen Finanzministers Paul Reynaud, danach letzter Ministerpräsident des Rates der Dritten Republik. Von ihm (und Michel Debré, nicht zufällig in jenen Jahren chargé de mission, ebenfalls von Reynaud38) stammt die Ausarbeitung jenes Entwurfs zur institutionellen Reform, welche die Zentralität der Exekutive herbeiführen soll, und zwar verkörpert im Ministerpräsidenten oder Premierminister. Diese Idee des Primats der Exekutive verfolgt Palewski auch, als er von 1942 bis Januar 1946 ununterbrochen das Amt des Kabinettschefs von General de Gaulle ausübt39. Auf der anderen Seite haben wir Jules Jeanneney, von Juni 1932 an Senatspräsident und vor allem Präsident der Nationalversammlung, die am 10. Juli 1940 Marschall Pétain mit umfassenden Vollmachten ausstattet. Jeanneney ist vom „Trauma von 1940“ dermaßen geschockt und erschüttert, dass er de Gaulle, mit dem er seit Juni 1942 einen Briefwechsel führt, ohne Zögern zu einer radikalen Reform der Institutionen rät, als dieser ihn um seine Meinung als anerkannter Jurist fragt, wie nach der Befreiung des Landes die schwierige Rückkehr zum Rechtsstaat in Angriff genommen werden soll40. Siehe dazu J. Perrier, Michel Debré, Paris 2010, S. 75-102. Für einen Gesamtüberblick über die Figur Palewskis verweisen wir auf J. Bernot, Gaston Palewski: premier baron du gaullisme, Paris 2010. Für die Jahre an der Seite von Paul Reynaud siehe T. Tellier, Paul Reynaud. Un indépendant en politique 1878-1966, Paris 2005, S. 176-215. 40 Der Einfluss der Geschichte, auch der jüngeren, übt eine entscheidende Wirkung auf das Denken Jules Jeanneneys aus. Was ihn zu einem scheinbar so weit von seinem Wirken und seiner Erfahrung als „Mann der Dritten Republik“ entfernten institutionellen Vorschlag veranlasst, sind insbesondere die Ereignisse vom Juni/Juli 1940. In einem dramatischen Treffen mit Pétain am 18. Juni unterbreitet Jeanneney dem Marschall eine Lösung, die verhindern soll, dass die Regierung des Landes in die Hände des nationalsozialistischen Invasors fällt. Nachdem er zur Kenntnis genommen hat, dass Pétain, der designierte Ministerpräsident, entschlossen ist, das Land nicht im Stich zu lassen, schlägt der Senatspräsident folgende Lösung vor: „Auch wenn Ihr in Bordeaux bleibt, überträgt einem stellvertretenden Ministerpräsidenten die Befugnisse des Regierungschefs. Danach begeben sich der mit Euren Vollmachten ausgestattete Staatspräsident und Vize-Präsident mit den wichtigsten Ministern außer Landes an einen noch zu bestimmenden Ort. Frankreich wird seinen freien Präsidenten und seine freie Regierung haben und somit weiter überleben können“. Natürlich verwendete Pétain, wie bekannt, die Ratschläge Jeanneneys nicht (ohne diese gehört zu haben, wird aber de Gaulle eine historische Kontinuität der Republik vorschlagen, die in gewisser Hinsicht in Einklang mit diesem Vorschlag ist). Ein noch dramatischerer Punkt wird jedoch, immer laut dem Senatspräsidenten, am 10. Juli 1940 in Vichy erreicht, und zwar bei der Abstimmung über die Vollmachten für Pétain und dem grundsätzlichen „Mord/Selbstmord der Dritten Republik“ durch die Mehrheit seiner politischen Mitarbeiter. „Für Laval und die Akteure seiner Operation darf die Sitzung 38 39

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In einem Brief vom 30. Juni 1942 an Jules Jeanneney spricht der General über die Regierung und die Vertretung des Landes nach der Befreiung und ersucht ihn, „darin einzuwilligen, nur für mich Euren Standpunkt darzulegen, wie man sich die neuen Institutionen vorstellen könnte“41. Unter dem Eindruck der im Juni-Juli 1940 selbst erlebten „Perversionen“ hat Jeanneney keine Zweifel: Es ist ein klarer Bruch notwendig. Und er muss vor allem „nach Recht und Gesetz“ erfolgen, da der Verfassungsbeschluss von Vichy durch ein verfassungswidriges Verfahren vollzogen wurde: Die Kammern hätten nur nach Einberufung durch das Staatsoberhaupt zusammentreten dürfen. Zur rechtlich-verfassungsmäßigen Motivation kommt dann noch die historisch-politische hinzu. Unverkennbar ist die völlige Diskrepanz zwischen den Kammern vor dem Krieg und dem Geist, der sich infolge der Widerstandsaktivitäten gegen den Nazifaschismus und jede Form von Kollaboration im Land auszubreiten beginnt. Es gibt also nur einen Ausweg: „den Rubikon“42. Der Einfluss der Geschichte wirkt in wirklich paradoxer Weise, wenn man die „verfassungsmäßigen“ Hinweise liest, die Jeanneney dem General aus Grenoble übermittelt. Wer da schreibt, ist der Protagonist von vierzig Jahren des parlamentarischen Geschehens der Dritten Republik, der sich als ausgesprochener Kritiker der Verfassungsbestimmungen des Jahres 1875 präsentiert und ein neues System vorschlägt, das ganz um den Primat und die konkrete Wirksamkeit der Exekutive zentriert ist. Er erhält die Idee der doppelten Exekutive aufrecht (Staatspräsident und Ministerpräsident), schlägt aber vor, die Befugnisse des Ersten erheblich zu erweitern43. nur eine Formalität sein … In Wirklichkeit hätte man kämpfen können. Man hätte Rechenschaft über den von der Regierung vorgelegten Text verlangen können. Man hätte dies tun können, wenn man nicht seit drei Wochen den Nationalsozialisten das Feld überlassen hätte und wenn an jenem Morgen eine bedeutende Persönlichkeit der Mitte oder der Rechten aufgestanden wäre um zu versichern, dass sich die republikanischen Institutionen nur deshalb nicht verdient gemacht haben, weil man sie verdreht hat und dass die Ersten unter denen, die deren Scheitern anprangern, die großen Schuldigen und auch die großen Nutznießer dieser Perversion sind. Diese Stimme hat sich nicht erhoben: das war die eigentliche Sünde“. Für die Zitate siehe J. Jeanneney, Journal politique: septembre 1939 / juillet 1942, Paris 1972, S. 78 und ff. 97-99. Anzumerken ist, dass O. Wieviorka betont, dass gerade Jeanneney, ebenso wie Edouard Herriot und Albert Lebrun, sich darauf beschränkten, „streng verfahrensmäßig die Rituale der Dritten Republik einzuhalten, ohne sie allerdings zu verteidigen“, zitiert in: O. Wieviorka, La France politique des années sombres 1940-1944, in: S. Berstein / M. Winock (Hrsg.), La République recommencée, Paris 2004, S. 197. 41 Zitiert in: J. Jeanneney, Journal politique, S. 313. 42 Ebd., S. 259. 43 „Dem Staatspräsidenten das Recht zu entziehen, allein eine Handlung durchzuführen und folglich allein eine Verantwortung zu übernehmen, bedeutet, ihm seine

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Jeanneney plädiert sodann für eine Ausweitung der Befugnisse des Regierungschefs, den er als Premierminister bezeichnet, um dessen Vorrang gegenüber den Ministerkollegen zu unterstreichen. Um die Gefahr einer ministeriellen Instabilität zu vermeiden, hält er es zudem für notwendig, Mehrheit und Regierung mit einer Art „Kollektivvertrag“ zu binden. Dessen Dauer sollte lang genug sein, „um die wirksame Ausarbeitung eines Regierungsprogramms zu erlauben, aber kurz genug, um die Minister im Ungewissen zu lassen und eine für nötig erachtete Erneuerung oder Umbildung zu ermöglichen, ohne ein richtiges Krisenverfahren zu eröffnen“44. Was die Legislative betrifft, ist es für den ehemaligen Senatspräsidenten wesentlich, einen unvollkommenen Bikameralismus anzupeilen, vor allem unter dem Gesichtspunkt der Mechanismen für die Wahl der Abgeordneten und Senatoren. Für das Unterhaus kann das allgemeine Wahlrecht beibehalten werden, während für den Senat an eine Versammlung gedacht ist, die aus einer Mehrheit von indirekt gewählten Senatoren (Gemeinderäte der wichtigsten Städte und Generalräte) und aus einer Minderheit von „Senatsräten“ zusammengesetzt ist, bestehend aus ehemaligen Staatspräsidenten, ehemaligen Premierministern und ehemaligen Ministern, die das Amt mindestens vier Jahre lang ausgeübt haben. Natürlich nimmt eine derartige Zusammensetzung dem Senat jegliche Macht zum Regierungsumsturz, sie verleiht ihm aber besonders in der ersten Phase der Abfassung der Gesetzgebungsverfahren eine Schlüsselrolle45. Im Lichte dieser langen Reihe von Hinweisen zur verfassungsmäßigen Entwicklung des Systems schickt de Gaulle nach dem Einmarsch der alliierten Truppen in Paris seinen Kabinettschef René Brouillet unverzüglich auf die Suche nach Jules Jeanneney, um ihm einen Staatsministerposten in der provisorischen Regierung anzubieten. Mit der Wahl Jeanneneys sichert sich de Gaulle nämlich die Kompetenz zur Ausarbeitung der Maßnahmen, um das Land auf den Weg der demokratischen Normalität zurückzuführen, und eine Linie der Kontinuität mit der Vergangenheit der Dritten Republik, die dem General zufolge auf jeden Fall unabdingbar ist. Eine entscheidende Rolle spielt Jeanneney besonders in der Phase JuniJuli 1945. Er präsentiert sich als regelrechtes Bollwerk des Widerstandes Autorität zu nehmen; da in einem demokratischen Kontext die Autorität nicht von der Verantwortung getrennt werden kann, die eine direkte Folge der Handlung ist … ist es unannehmbar, dass der Präsident ohne grünes Licht eines Ministers nichts tun kann und dass er in jedem Fall nicht allein handeln oder entscheiden kann“. Im Übrigen verleiht aus dieser Sicht die Wahl durch ein größeres Kollegium als das Parlament dem Präsidenten mehr Einfluss und stärkt seine Autorität, gerade gegenüber den Parlamentariern. Für das Zitat siehe J. Jeanneney, Journal politique, S. 259. 44 Zitiert in: J. Jeanneney, Journal politique, S. 260. 45 „Der Senat ist aufgrund seiner Zusammensetzung besser als die Kammer geeignet, eine erste Überprüfung der Gesetzentwürfe oder Gesetzesvorlagen vorzunehmen,

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gegen eine schlichte und einfache Rückkehr zu den Verfassungsvorschriften und -verfahren von 1875 (diese These wird unter anderem vom Radikalen Edouard Herriot vertreten). Bei einem Treffen mit de Gaulle am 28. Juni 1945 gelingt es Jeanneney, die Idee der Verfassunggebenden Versammlung und des Volksentscheids durchzusetzen, um die Befugnisse der Versammlung einzuschränken. Doch auch über die tatsächliche Bedeutung, die der Volksbefragung beigemessen werden soll, prallen in den Kreisen, die dem General am nächsten sind, schließlich zwei unterschiedliche Standpunkte aufeinander. René Capitant schlägt vor, einfach nur über einen Erlass abstimmen zu lassen, der die Befugnisse der Verfassunggebenden Versammlung genau festlegt und der entweder angenommen oder abgelehnt werden kann. Jules Jeanneney hat unterdessen im Einvernehmen mit seinem Sohn und mit Michel Debré einen Entwurf vorbereitet, der drei Fragen vorsieht: Abkehr von der Verfassung des Jahres 1875 oder deren Beibehaltung, Vor-Verfassung und Möglichkeit eines weiteren Referendums, um den neuen Text zu genehmigen oder abzulehnen. Im Verlauf des Abends entscheidet sich Gaulle für den Modus Capitant, während Jeanneney seinen Entwurf fertiggestellt und das Referendum von drei auf zwei Fragen vereinfacht hat. Das Volk soll zunächst gefragt werden, ob man will, dass die Versammlung eine verfassunggebende sei: Mit einem Ja wird auch die Vor-Verfassung angenommen (welche die Befugnisse der Verfassunggebenden Versammlung selbst einschränkt), mit einem Nein kehrt man automatisch zum Jahr 1875 zurück. Das zweite Referendum ist für die Annahme oder Ablehnung erforderlich, nachdem der Verfassungsentwurf ausgearbeitet wurde. De Gaulle scheint dagegen zu sein und die These Capitants wird am 9. Juli im Ministerrat einstimmig angenommen. Die Reaktion der Presse am nächsten Tag ist jedoch ziemlich negativ. Jeanneney und seine engsten Mitarbeiter bemühen sich, unter Vermittlung von Gaston Palewski, um ein Treffen mit dem General am folgenden Donnerstag. Diesmal kann ihn Jeanneney für die beiden Fragen gewinnen, die den Franzosen bei der Wahl der Verfassunggebenden Versammlung unterbreitet werden sollen. Privat erweist de Gaulle dem ehemaligen Senatspräsidenten Texte auszuarbeiten. In diesem sitzen reife Personen, von denen die meisten mit der Abfassung von Texten vertraut sind … Nachdem die Gesetzentwürfe vom Senat durchgebracht worden sind, würden sie der Abgeordnetenkammer vorgelegt werden. Diese hat als direkter Ausdruck der Nation besondere Eigenschaften, um deren Willen zu interpretieren und sie durchzusetzen. Ihre Rolle wird sein, zu bestätigen, ob der vorgelegte Entwurf diesem Willen entspricht oder nicht; wenn ja, diesen mit ihrem Votum abzusegnen, wenn nicht, diesen aufzuhalten, und zwar entweder endgültig oder indem diese aufzeigt, was verbessert werden muss. Auf diese Weise würde jede Versammlung die Rolle haben, die ihr zukommt: der Senat jene der Stabilisierung und Bremse, die Kammer jene der souveränen Gewalt (der Inspiration und Beeinflussung) und der endgültigen Entscheidung“, zitiert in: J. Jeanneney, Journal politique, S. 261-262.

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offen seine Ehrerbietung „Ihr hattet letzten Montag recht, Euer Vorschlag war loyaler“46. Auch das Ende der Beziehung der Zusammenarbeit zwischen dem General und Jules Jeanneney ist von großem Interesse für den in Angriff genommenen Diskurs über den Einfluss der Geschichte. Als im November 1945 die Verfassunggebende Versammlung zusammentritt, betrachtet Jeanneney seine Rolle als „Regisseur des Übergangs“ als nunmehr abgeschlossen. Am 24. November desselben Jahres schreibt ihm de Gaulle, um ihm „persönlich für die Rolle, die er in den vierzehn vergangenen Monaten ausgeübt hat, und im Namen Frankreichs für die dem Dienst des Landes geweihte lebenslange Anstrengung zu danken“. Und er schließt mit folgenden Worten: „Eure Präsenz in der provisorischen Regierung hat nicht nur die Frucht Eurer politischen und administrativen Erfahrung darin eingebracht. Sie war das Sinnbild Frankreichs, das fortschreitet, das Wahrzeichen dafür, dass der Geist Clemenceaus die neue Republik beseelt“. In der Antwort Jeanneneys ist der Verweis auf die Geschichte und ihre Bedeutung unübersehbar: „Auch wenn ich mich seit jeher wenig hingezogen zum Ministeramt fühle, habe ich den Auftrag angenommen, als Ihr mich darum ersucht habt. Siebenundzwanzig Jahre zuvor hatte ich in gleicher Weise auf den Ruf Clemenceaus geantwortet. Damals wie heute hat sich der Lebenswille unseres Landes in einem energischen, klarblickenden und unbeirrbaren Menschen verkörpert. Damals wie heute ist es dem Land gelungen, das Hindernis zu überwinden … Für Frankreich, für die korrekte Wiedereinrichtung seiner republikanischen Ordnung, für die Wahrung seiner Rechte in der Welt ist es notwendig, dass Euer Auftrag zu Ende geführt wird. Nichts wünsche ich mir mehr, über nichts werde ich mich mehr freuen als darüber, zu erleben, wie Euer Werk zum Abschluss gelangen wird“47.

Ebd., S. 266. In Wahrheit klammert de Gaulle in seinen Memoiren die Details der Debatte innerhalb seiner Regierung aus und schreibt die Verantwortung für die Entscheidung zur Gänze sich selbst zu, vgl. C. de Gaulle, Mémoires de guerre. Le salut: 1944-1946, Paris 2006, S. 316. 47 Als Beweis dafür, wie gefestigt die Beziehung zwischen de Gaulle und Jeanneney mittlerweile ist, und vor allem dafür, welch großen Einfluss die Vergangenheit von Vichy für die verfassungsmäßigen Überlegungen des ehemaligen Senatspräsidenten der Dritten Republik hatte, kann man auch zwei kurze Briefwechsel zwischen den beiden zitieren, in denen Jeanneney 1949 und erneut 1956 seinen Standpunkt bekräftigt. „Im Verlauf der letzten dreißig Jahre ist Frankreich im Krieg zwei Mal Gefahr gelaufen, sich aufzugeben. Beide Male hat es sich von einem der Seinen den Willen zum Sieg aufzwingen lassen. Wie ist es möglich, dass es in Friedenszeiten nicht imstande ist, sich zu überwinden und dass es am Ende von der Demagogie beherrscht wird? Es stimmt längst, dass die Demokratien in fataler Weise von den Massen beherrscht werden. Doch aus diesen Massen müssen echte Eliten hervorgehen. Leider sind wir immer weiter davon entfernt“. Und weiter, am Vorabend der Parlamentswahlen von 1956: „Es besorgt mich zu sehen, dass der Mann des 18. Juni nicht an der Wiedergeburt beteiligt ist, auf die Frankreich nicht mehr warten kann, ohne in Lebensgefahr zu geraten. Mehr als je zuvor denke ich in diesen Tagen an Eure Gesundheit und 46

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Auch wenn die unmittelbare verfassungsgeschichtliche Entwicklung nicht in der von de Gaulle, vor allem aber von Jules Jeanneney erwünschten Richtung verläuft, kommt man nicht umhin, daran zu erinnern, dass dieses Denken der Zeit von 1942 bis 1945 dann entscheidend für die Ausarbeitung des Verfassungsentwurfs von 1968 wird. In diesem Kontext reicht der „Einfluss“ der Fehler der Dritten Republik nicht aus, um ein Verfassungsmodell durchzusetzen, das imstande ist, dem üblichen Primat der Nationalversammlung eine radikale Wende zu geben48, so wie er mit Beginn der jakobinisch-revolutionären Tradition zutage getreten ist. Nebenbei: Ein weiterer, häufig vernachlässigter Faktor, der dazu beiträgt, dass die Nationalversammlung der Dritten Republik jede Legitimität verliert, besteht darin, dass an den Kommunal- und Kantonalwahlen von 1945 keine Frauen teilgenommen haben. Das eingeschränkte Wahlrecht, mit dem die letzte Versammlung der Dritten Republik gewählt wurde, trägt dazu bei, ihr längst jede volle demokratische Legitimität abzuerkennen. Die Wahlen vom 21. Oktober 1945 und der anschließende Rücktritt de Gaulles im Januar 1946 stellen den dritten Schritt dar, und zwar den Moment, in dem das Paradox des Generals, der die Parteien neu gründet, seine ganze Widersprüchlichkeit offenbart. Die politischen Parteien des Dreiparteiensystems machen nämlich ihre Volkslegitimität gegenüber einem de Gaulle geltend, der nur jene historisch-charismatischer Herkunft vorweisen kann. Der Wahlsieg der drei politischen Parteien gebietet es aus ihrer Sicht, ein institutionelles System wiederherzustellen, das den klassischen Ort, in dem die Parteien wirken, in den Mittepunkt stellt, nämlich den Parlamentssaal. Unter einem politischem Gesichtspunkt sind die Unterzeichnung der charte du tripartisme und die Aufteilung der Ministerien der von Félix Gouin angeführten Regierung im Verhältnis zum Stimmenanteil der einzelnen Parteien bedeutsame Indizien dafür, dass die neue Republik fast sicher eine „Republik der Parteien“ sein wird. Ein weiteres Paradox steht genau in diesem Kontext am Beginn der langen Verfassungsdebatte, welche die drei wichtigsten politischen Parteien und ihr Hauptgegner, nämlich de Gaulle, vom Januar 1946 bis zum Referendum vom 13. Oktober 1946 führen. Ich möchte nicht die Debatte und die Auseinandersetzungen zwischen PCF, SFIO und MRP im Rahmen der beiden Verfassunggebenden Versammlungen (die am 21. Oktober 1945 und am 2. Juni 1946 gewählt wurden) vernachlässigen und auch nicht eine Debatte herabmindern, die es auf jeden Fall gegeben hat und die auch an Euer Wohlergehen und damit an jenes von Frankreich“, Zitate in: J. Jeanneney, Journal politique, S. 267-268. 48 Interessante erkenntnistheoretische Überlegungen in: L. Jaume, Le discours jacobin et la démocratie, Paris 1989, sowie einige interessante Betrachtungen in: P. Rosanvallon, Le modèle politique français: la société civile contre le jacobinisme, Paris 2004.

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ergiebig war, doch die Tatsache, die hervorgehoben werden muss, ist die vollständige Rückkehr zu einem Denken, das ganz innerhalb der Logik des Parlamentarismus in der Tradition der Dritten Republik verläuft49. Das ist meiner Ansicht nach der springende Punkt, und darum wird der „Einfluss der Geschichte“ zum grundlegenden Thema, das noch vor jeder ausgesprochen juristischen Betrachtung beleuchtet werden muss. Entscheidend ist genau jener Einfluss, der die Tradition der Dritten Republik auf einen beträchtlichen Teil der politischen Klasse der zukünftigen Vierten Republik ausgeübt hat. Man braucht nur an den Fall Ramadier zu denken, den ersten Ministerpräsidenten der Vierten Republik, der, nachdem die Mehrheit seinem Programm zugestimmt hat, die Assemblée um eine zweite Abstimmung ersucht, diesmal über seine gesamte Regierung. Die Entscheidung ist nicht durch verfassungsmäßige Verpflichtungen bedingt, sondern durch ein Vermächtnis der Vergangenheit, durch eine typische Praxis der Ministerpräsidenten der Dritten Republik. Mit dieser Entscheidung zeigt Ramadier, dass er noch dem Denkmuster der Dritten Republik verhaftet ist, oder besser, dass der Bruch zwischen der Dritten und Vierten Republik in den Augen vieler politischer Führer noch lange nicht akzeptiert wird. Somit sind – und das ist der vierte und letzte Punkt, mit dem wir uns befassen werden – die Betrachtungen über das republikanische Modell der Vierten Republik, die Serge Berstein bei verschiedenen Gelegenheiten in maßgeblicher Weise unterbreitet hat, nur teilweise überzeugend. Wenn Berstein nämlich sagt, dass der Parlamentarismus der Vierten Republik, zumindest theoretisch und einem juristischen Ansatz gemäß, ein „rationalisierter“ Parlamentarismus und folglich keine reine Neuauflage jener der Dritten Republik ist, scheint er zu vergessen, dass jedes institutionelle Modell nicht außerhalb des historisch-politischen Kontextes beurteilt werden kann, in dem es wirksam ist. Der Schlüssel seines Scheiterns, fährt Berstein fort, sei in erster Linie im Übergang von 1947 auszumachen, als das Dreiparteiensystem zerbricht und die PCF im Wesentlichen zu einer systemfeindlichen Partei wird (während auf entgegengesetzter Seite die RPF entsteht, eine Bewegung, die ebenfalls sehr kritisch gegenüber dem neuen institutionellen System ist). Kurzum, man könnte fast sagen, dass die Institutionen der Vierten Republik ein gutes Modell für einen rationalisierten Parlamentarismus gewesen wären, wenn sich nicht die Denkmuster des Kalten Krieges durchgesetzt hätten. Viel überzeugender ist Berstein im zweiten Teil seiner Ausführungen über das Scheitern des republikanischen Modells der Vierten Republik. Er scheint sich nämlich bewusst zu werden, wie unnütz es 49 Für einen detaillierten Blick auf den Verfassungsprozess, der zur Entstehung der 4. Rebublik geführt hat, siehe S. Guerrieri, Due costituenti e tre referendum: la nascita della IV Repubblica francese, Mailand 1998.

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ist, theoretisch darüber nachzudenken, wie viele Anstrengungen unternommen wurden, um von der im französischen Kontext nach 1870 zentralen Gleichung Republik ist gleich Parlamentarismus wegzukommen. Und wie notwendig es dagegen ist, sich konkret bewusst zu werden, dass sich der angenommene „rationalisierte Parlamentarismus“ der Vierten Republik sehr schwer hätte verwirklichen können, da die politischen Kulturen der neugeborenen Republik schon bald jenes Mindestmaß an innovativem Schwung verlieren, der im Verlauf der Widerstandsaktivitäten zumindest einige ihrer Vorkämpfer zu kennzeichnen schien. Der wahre Bruch war dagegen durch den Übergang 1958-1962 gekennzeichnet. In jenem Kontext vollzogen die wichtigsten politischen Kulturen eindeutige und bedeutsame Zäsuren, und daher fiel auch das von de Gaulle vorgeschlagene Verfassungsmodell auf fruchtbaren Boden, wo es Wurzeln schlagen konnte. Der zweite Fokus der Untersuchung wird sich nun aber auf den „Einfluss der Widerstandsgeschichte“ richten.

III. Der nicht eindeutige Charakter des Rückgriffs auf den Widerstand – Der französische und der italienische Fall im Vergleich Ausgangspunkt dieses zweiten Teils der Abhandlung ist die vergleichende Betrachtung der Bedeutung des historischen Ereignisses „Widerstand“ in der Entwicklung der beiden politischen Kontexte und im Besonderen seine Verwendung oder Nichtverwendung seitens der verschiedenen politischen Akteure zur Legitimierung des eigenen Verhaltens und zur Delegitimierung jenes des Gegners50. Ohne eine allzu starke Vereinfachung des Diskurses befürchten zu müssen, kann man auf jeden Fall sagen, dass es sich bei der französischen Vierten Republik und der italienischen Republik von 1948 um Systeme handelt, die als politisch-institutionelle Verkörperung des positiven Ausgangs der Widerstandsaktivitäten entstehen. Ohne den entscheidenden Beitrag der alliierten Kräfte bei der Befreiung Europas vom nationalsozialistischen Joch unterbewerten zu wollen, darf man gleichfalls nicht vergessen, wie entscheidend für die politische Wiedergeburt Frankreichs und Italiens der Aufstand eines Teils – natürlich einer Minderheit – seiner Bevölkerungen gegen die demagogischen, faschistischen und nazifreundlichen Entscheidungen des Mussolini-Regimes und des von Marschall Pétain angeführten Kollaborationsregimes war. Dem 50 Interessante Betrachtungen vor allem über den italienischen Fall in: S. Cavazza, La transizione difficile: l’immagine della guerra e della resistenza nell’opinione pubblica nell’immediato dopoguerra, in: G. Miccoli / G. Neppi Modona / P. Pombeni (Hrsg.), La grande cesura, S. 427-464. Zur Kategorie der Legitimierung und Delegitimierung siehe F. Cammarano / S. Cavazza (Hrsg.), Il nemico in politica. La delegittimazione dell’avversario nell’Europa contemporanea, Bologna 2010, S. 7-12.

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Stellenwert des Widerstandes kommt also eine zentrale Bedeutung zu, und eine ebenso zentrale Rolle spielt innerhalb dessen die Parteienkomponente. Auch unter diesem Gesichtspunkt können die beiden Republiken als Republiken „des Widerstandes“ und „der Parteien“ bezeichnet werden51. Gerade die „historische“ Verwendung des Stellenwertes des Widerstandes erlaubt es uns aber, auf die nationalen Besonderheiten einzugehen, um in groben Zügen zu schildern, auf welche Weise die „Widerstandsvergangenheit“, das heißt, der „Einfluss der Geschichte des Widerstandes“, auf die ersten Schritte der jungen institutionellen Systeme einwirkt. Wie in Bezug auf das „Gewicht der Geschichte“ in der Verfassungsdebatte 1945-1948 teilweise gesagt wurde, stellt im italienischen Kontext der Abschluss des verfassunggebenden Prozesses den eigentlichen Moment der Zäsur für die Auswirkungen der Geschichte des Widerstandes auf die demokratische Entwicklung des Landes dar. Das italienische Bild ist viel geradliniger als das französische. Der italienische Antifaschismus hat am Ende des Krieges versucht, und es ist ihm großteils gelungen, ein weitgehend selbstfreisprechendes Bild (Erinnerung?) der nationalen Schuld zu vermitteln, und zwar sowohl für die zwanzig Jahre Diktatur als auch für die Kriegsführung52. Auf diese Weise haben sich mindestens vier allgemein gebräuchliche Versionen herausgebildet: jene des nationalen Befreiungskampfes als Volkskampf; jene, die dazu tendiert, den Krieg im Zeitraum vom 10. Juni 1940 bis 8. September 1943 zu minimieren und die Schuld dafür allein beim frevelhaften Regime zu suchen; jene des zwanzigjährigen Widerstandes gegen den Faschismus, der im 25. Juli 1943 gipfelt, und schließlich diejenige, welche die gesamte Verantwortung für die italienischen Misserfolge dem ehemaligen nationalsozialistischen Verbündeten zuschreibt53. Begünstigt durch die lange Arbeit der Verfassunggebenden Versammlung, hat diese irreführende Darstellung des „Einflusses der Geschichte“ 51 Für einen Gesamtüberblick über die Resistenza und die Geschichte Italiens siehe das klassische Werk C. Pavone, Una guerra civile: saggio storico sulla moralità della Resistenza, Torino 1991, sowie die jüngere Arbeit S. Peli, Storia della Resistenza in Italia, Turin 2006. 52 Interessant und sehr wichtig sind die abschließenden Betrachtungen von Ermanno Gorrieri in seiner Arbeit: La Repubblica di Montefiorino, Bologna 1991 (1966), S. 693-713. Über die Figur Ermanno Gorrieris siehe seine Biografie M. Carrattieri / M. Marchi / P. Trionfini, Ermanno Gorrieri: un cattolico sociale nelle trasformazioni del Novecento (1920-2004), Bologna 2009. 53 Für diese Interpretation, und im Übrigen für das gesamte Werk von Renzo De Felice, siehe dessen Betrachtungen in: R. De Felice, Rosso e nero, Mailand 1995; siehe auch E. Galli della Loggia, La perpetuazione del fascismo e della sua minaccia come elemento strutturale della lotta politica nell’Italia repubblicana, in: L. Di Nucci / E. Galli della Loggia (Hrsg.), Due Nazioni, Bologna 2003, S. 227-262.

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des Widerstandes in gewisser Hinsicht vermindert; dieses ist jedoch mit seiner ganzen destabilisierenden Kraft besonders nach dem 18. April 1948 zutage getreten. Um zu zeigen, wie sehr sich das Bild der Resistenza im Verlauf von etwa drei Jahren verändert hat und wie sie jeder politische Akteur mittlerweile zu einem Instrument für die eigene Selbstlegitimierung und die mehr oder weniger deutliche Deligitimierung des Gegners gemacht hat, genügt es, die Beiträge Togliattis vom 29. Dezember 1945 und Saragats in der Verfassunggebenden Versammlung am 6. März 1947 mit jenem von Riccardo Lombardi in der Zeitung „L’Avanti“ am 24. April 1949 zu vergleichen. Im Zusammenhang mit der Widerstandsaktivität sagt Togliatti: „In diesem Kampf waren wir nicht allein, und wir beanspruchen auch kein ausschließliches Verdienst. Wir hatten sozialistische Arbeiter und Werktätige, Arbeiter und Intellektuelle des Partito d’Azione, der christdemokratischen Partei sowie anderer demokratischer und liberaler Strömungen an unserer Seite, denen wir unseren brüderlichen Kämpfergruß übermitteln. Im Kampf für die Befreiung unseres Landes hat sich zwischen unserer Partei und diesen anderen demokratischen Richtungen eine Einigkeit in den Absichten und im Vorgehen herausgebildet, die einer der Hauptgründe für unseren Sieg war. Diese Einheit darf heute nicht zerbrechen, sie muss vielmehr fortdauern und sich festigen, sie muss zu einer der Grundlagen des neuen Italien werden, das wir gemeinsam errichten wollen“54.

Noch deutlicher in der Verfassunggebenden Versammlung ist Saragat, der einen bereits von Pietro Calamandrei zum Ausdruck gebrachten Standpunkt aufgreift: „Wir sind keine Gesetzgeber sui generis, wir sind dieselben Menschen, die zwanzig Jahre lang den Kampf gegen den Faschismus angeführt haben“. Kurzum, der Antifaschismus und der Stellenwert des Widerstandes symbolisieren genau den „kulturellen“ Wert des Kampfes zur Verteidigung der historischen Tradition und der positiven Entwicklung der europäischen Politik. Die Worte Riccardo Lombardis ungefähr zwei Jahre später verdeutlichen, dass die Resistenza mittlerweile einen entscheidenden historischen Tatbestand darstellt und darum als Instrument für politische Polemik verwendet wird. „Für uns hat das Datum des 25. April eine ganz genaue Bedeutung, die sich nicht für Gedenkfeiern eignet, sondern nur für das Nachdenken über die Aufgaben, die weitergeführt werden müssen, und über die neuen, die vor uns stehen. In Wahrheit bedeutet nämlich der 25. April 1945, der die Krönung des Kampfes der Resistenza darstellt, nicht deren Ende, sondern vielmehr eine Etappe davon … Das üble Meisterwerk der konservativen Parteien, der vom Partito Liberale unterstützten Democrazia Cristiana, bestand darin, verhindert zu haben, dass die Reform des Staates sofort durchgeführt wurde … Deshalb haben wir von einer ‚unterbrochenen Revolution‘ gesprochen und tun das immer noch. Nicht um einer extremen Ausdrucksweise zu frönen, sondern um zu zeigen, wie und warum eine Revolution mit ausgereiften Beweggründen, konstruktiven Zielen,

54 Zitiert in: F. Focardi, La guerra della memoria. La Resistenza nel dibattito politico italiano dal 1945 a oggi, Rom / Bari 2005, S. 127.

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zivilisierten und ausgewogenen Formen und Methoden zu einer Situation führen konnte, die viel stärker an das Klima des 28. Oktober 1922 als an jenes des 25. April 1945 erinnert“55.

Es ist längst offensichtlich, dass sich eine Klasseninterpretation des Widerstandes durchsetzt, eine Interpretation, deren Hauptziel der politische Kampf ist. Der Bezug auf den Widerstand muss dazu dienen, die eigenen Kräfte zu mobilisieren und den Regierungsparteien, insbesondere der DC, die beschuldigt wird, das historische Mandat der Resistenza verraten zu haben, entgegenzuwirken. Es ist De Gasperi persönlich, der sich entschließt, das Wort zu ergreifen und die „nationale“ Bedeutung der Resistenza klarzulegen. Für die DC ist der Widerstand nichts anderes als der Kampf für Unabhängigkeit und Freiheit, vom nationalsozialistischen Totalitarismus ebenso wie vom sowjetischen Imperialismus. „Doch die Befreiung, die Rettung, die Unabhängigkeit des Landes will vor allem die Freiheit im Inneren, Frieden und Sicherheit gegenüber denjenigen, die den Frieden gefährden könnten. So haben wir uns, als wir über den Atlantikpakt sprachen, an unsere jungen Menschen erinnert, die gelitten haben, und an die Ziele, für die sie gekämpft haben … Wir kämpfen gegen die Folgen eines Krieges und einer verheerenden Politik, die von einem Parteienstaat durchgesetzt wurde, der den Bürgern, den besten Bürgern, jede Einflussnahme auf die Richtung der Politik verwehrte hat. Wir wollen nicht mehr in eine solche gefährliche Situation kommen, auch wenn man jetzt den Parteienstaat mit linksextremen Argumentationen fordert“56.

Der Rahmen ist nunmehr klar umrissen. Im Italien des Kalten Krieges gibt es zwei gegensätzliche „Widerstände“. Auf der einen Seite den Widerstand als „unterbrochene Revolution“, die von den Linken vorangetrieben wird, und auf der anderen Seite den im Zeichen der Freiheit geführten Widerstand, der sich im christdemokratischen Modell verkörpert. Ungefähr ein Jahr später äußert sich De Gasperi erneut deutlich über den trennenden Charakter des Stellenwertes des Widerstandes. „Die Heimat braucht derzeit Solidarität, sie braucht einen neuen Widerstand gegen die zersetzenden Kräfte: Sie braucht tatkräftigen Mut gegen die Freiheitsfeindlichkeit“. Das allgemeine Klima des Kalten Krieges trägt gewiss nicht zu einer eindeutigen und einigenden Auffassung über den Stellenwert des Widerstandes bei. Der Ausbruch des Koreakrieges, mit der Begleiterscheinung der Wiederbewaffnung Deutschlands und des Projekts zur Europäischen Zitiert ebd., S. 140 und 144. A. De Gasperi, Discorso ai dirigenti lombardi della Democrazia cristiana 23 aprile 1949, in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, 4/2: S. Lorenzini / B. Taverni (Hrsg.), Alcide De Gasperi e la stabilizzazione della Repubblica, 19481954, Bologna 2009, S. 1202. 55 56

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Verteidigungsgemeinschaft, heitert das politisch-ideologische Klima nicht auf57. Zu diesen ganz offensichtlichen Gegebenheiten kommt in der italienischen öffentlichen Debatte noch die verstärkte Präsenz des delikaten und zwiespältigen Themas der „Versöhnung“ hinzu, das sich mit dem potenziell explosiven der „Amnestie“ vermischt58. De Gasperi scheint sich mehr als alle anderen der Gefahr – insbesondere für die DC – bewusst zu sein, dass eine schrittweise Rehabilitierung der reaktionären Teile am Ende gerade jene „Partei“ in Schwierigkeiten bringen würde, die am 18. April auch deshalb einen deutlichen Sieg errungen hat, weil sie sich als „gemäßigt national“ gekennzeichnet hat. So kommt der Trentiner Staatsmann in einer am 25. April 1951 anlässlich der Gedenkfeiern für die Befreiung in Trient gehaltenen Rede auf das heikle Thema der Versöhnung zurück. „Wir können uns mit den Menschen versöhnen, wir können aber keine Rehabilitierung der Doktrin und der politischen Leitlinie akzeptieren, die zur nationalen Katastrophe geführt haben. Das ist der Unterschied. Wir können unsere Einheit zurückgewinnen, sie mühsam und brüderlich suchen, vorausgesetzt, man will nicht eine Vergangenheit rehabilitieren, die mit so viel Schuld und Verantwortung beladen ist“59.

Die Deutung De Gasperis ist von großer Weitsicht. Dem Trentiner Staatsmann ist der „Einfluss der Geschichte“ durchaus klar, er ist sich aber ebenso bewusst, dass die Waffe des Antikommunismus unwirksam und kontraproduktiv zu werden droht, wenn sie ihrer allgemeineren Bedeutung als Antitotalitarismus beraubt wird und folglich von einer ständigen antifaschistischen Wachsamkeit begleitet sein muss. Auf den Versuch, dem Bemühen des „Zentrismus“ mit einer Art moderat-klerikalem Block zu begegnen, reagiert De Gasperi 1952 bei den Kommunalwahlen von Rom standhaft mit seinem „Nein“ zum Abkommen mit dem MSI gegenüber Pius XII. und setzt im Juni 1952 mit dem Scelba-Gesetz zum Verbot der Neugründung der aufgelösten faschistischen Partei ein deutliches Zeichen60. Nachdem im Jahr 1953 mit dem Streit über das von den Kommunisten und Sozialisten in „legge truffa“ umbenannte Gesetz (in diesem Fall spielen übrigens die historische Abhängigkeit und die uneigentlichen Parallelitäten Vgl. A. De Bernardi / P. Ferrari, Antifascismo e identità europea, Rom 2004. G. Neppi Modona, La giustizia in Italia tra fascismo e democrazia repubblicana, in: G. Miccoli / G. Neppi Modona / P. Pombeni (Hrsg.), La grande cesura, S. 223-284. 59 A. De Gasperi, Comizio elettorale, Trento 25 aprile 1951, in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 4/2, S. 1484. 60 Siehe dazu A. D’Angelo, De Gasperi, le destre e l’operazione Sturzo: voto amministrativo del 1952 e progetti di riforma elettorale, Rom 2002, sowie A. Riccardi, Pio XII e Alcide De Gasperi: una storia segreta, Rom / Bari 2003. Siehe auch M. Marchi, Luigi Gedda e la politica italiana dal centrismo al centro-sinistra, in: Mondo Contemporaneo, (2013), 1. 57 58

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zum Acerbo-Gesetz des Jahres 1924 eine bedeutende legitimierende Rolle für die Linkskräfte) der Höhepunkt der ideologischen Auseinandersetzung überschritten wird, scheint sich die politische Situation teilweise wieder zu beruhigen61. Nicht außer Acht gelassen werden dürfen das Ende des Koreakrieges, der Tod Stalins und außerdem das Scheitern des Projekts der EVG. Dasselbe gilt für die bereits erwähnte Rede des Staatspräsidenten Giovanni Gronchi vom 22. April 1955, die er in der gemeinsamen Sitzung beider Kammern anlässlich des ersten Jahrzehnts der Befreiung gehalten hat. Die Geschichte, und im Besonderen jene der Resistenza, wird erneut zum Instrument für die Legitimierung der gesamten politischen Elite. Trotz der Spaltungen der Nachkriegszeit ist und bleibt der Widerstand für Gronchi der Bezugspunkt für alle demokratischen Kräfte62. Es ist, wie Filippo Focardi sagt, die Schlussrunde der hegemonischen Darstellung der Resistenza63. Dem Bild würde ein wichtiger Teil fehlen ohne einen kurzen Hinweis auf jenes „moderate“ Italien, das sich von den ersten Schritten nach 1945 an nicht in der Darstellung des Widerstandes wiedererkennt (oder wenn ja, dann nur widerwillig) und das demnach nicht den Kampf um die Befreiung vom Nazifaschismus in den Mittelpunkt seines ideologischen Diskurses stellt, sondern vielmehr die Abschaffung jener „liberalen“ Regierungsklasse, die es gleich nach dem Ersten Weltkrieg zugelassen hatte, dass der Faschismus die Macht übernahm und „das Land in den Ruin“ führte64. In der Phase 1945/1948 ist das der Ansatz der vom neapolitanischen Komödiendichter und Regisseur Guglielmo Giannini ins Leben gerufenen Bewegung65. Sein „Fronte dell’Uomo Qualunque“ vertritt einen politischen Diskurs, der auf Leistungsorientierung und Überwindung aller Ideologien gegründet ist. Hauptanliegen ist die „gute Regierung“, die der „Misswirtschaft“ der politischen Karrieristen entgegengesetzt werden muss. Diese sind in der Darstellung Gianninis nichts anderes als „revenants“. Gerade dieser in seinem Schematismus simple Diskurs

61 Außer den klassischen Arbeiten M.S. Piretti, La legge truffa: il fallimento dell’ingegneria politica, Bologna 2003, sowie G. Quagliariello, La Legge elettorale del 1953, Bologna 2003, siehe den einführenden Essay von P.L. Ballini, in: S. Lorenzini / B. Taverni (Hrsg.), Alcide De Gasperi e la stabilizzazione della Repubblica, S. 148-178. 62 Vollständig zitierte Rede in: F. Focardi, La guerra della memoria, S. 156-164. 63 In Wirklichkeit übernimmt Focardi den Ausdruck von C. Maier, Fare giustizia, far storia: epurazioni politiche e narrative nazionali dopo il 1945 e il 1989, in: Passato e Presente, 13 (1995), 34, S. 23-32. 64 Siehe dazu die interessante Arbeit C. Baldassini, L’ombra di Mussolini. L’Italia moderata e la memoria del fascismo (1945-1960), Soveria Mannelli 2008, sowie ders., L’Italia moderata nella storiografia dell’ultimo decennio, in: Mondo Contemporaneo, (2008), 3, S. 165-181. 65 Vgl. die vor kurzem erschienene Arbeit C.M. Lo Martire, Il qualunquista: Guglielmo Giannini e l’antipolitica, Mailand 2008.

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ist auf eine klare Vorstellung der Vergangenheit gegründet: In dieser Vergangenheit sind die eigentlichen Verlierer jene Parteien, die sich am stärksten an eben jenes „moderate Italien“ wenden, zu dem Giannini spricht, nämlich PLI und DC. Sie stellen jene Kontinuität zwischen Liberalismus, Faschismus und neuem Italien dar, die der „Fronte dell’Uomo Qualunque“ unbedingt verhindern will, um ihr die Erneuerung mit einer neuen Führungsschicht entgegenzusetzen, die zuallererst nicht aus Berufspolitikern besteht. Daher der Direktangriff auf den ganzen politischen Professionalismus der liberalen Elite. „Croce, der als der klügste Kopf der alten italienischen Politik gilt, hat auch die Ehre, das größte politische Fiasko zu verkörpern, das man in Italien vorsehen konnte; und mit ihm haben, in unterschiedlichen Abständen je nach Intelligenz, Sforza, Bonomi, Orlando und Nitti versagt“66. Der Angriff auf den alten Liberalismus in der Tradition des späten 19. Jahrhunderts wird im Namen einer Antipolitik geführt, die Hass gegenüber den Eliten und den Berufspolitikern ist; Giannini begreift aber ziemlich bald, dass der wahre Feind der Bildung eines Blocks der „Moderaten“ die DC ist, die für viele den einzigen Damm gegen die sozialistisch-kommunistische proletarische Flut darstellt. In diesem Fall wiegt der „Einfluss der Geschichte“, das auf der liberalen Elite lastet, für die Erben des Partito Popolare auf jeden Fall weniger schwer (auch wenn dieser trotz des Widerstandes Sturzos an der ersten Regierung Mussolini beteiligt war). Giannini entscheidet sich also für das Image des wahren Verteidigers des Katholizismus in Opposition zum „schwarzen Bolschewismus“ der DC. „Die Democrazia Cristiana hat ihre Verpflichtungen völlig missachtet … Anstatt darüber zu tratschen, wer mehr oder weniger katholisch ist, anstatt zuzulassen, dass man mit dem schwarzen Finger auf den Uomo Qualunque zeigt, soll unser Freund De Gasperi, wenn er wirklich Christus nachahmen will, anfangen das zu tun, was Christus getan hat: Er verjage die Händler aus dem Tempel … Die Katholizität ist etwas Universales, sie stellt die größte Internationale dar, die es auf der Welt gibt, die die demagogisierten Parteien vergeblich nachzuahmen versuchen … Wir haben unseren Papst und behalten ihn, wir verteidigen ihn, und darauf werden wir unsere Politik gründen: weil heute, da es in Italien keine Monarchie mehr gibt, das Papsttum noch das einzige Symbol, die einzige Glorie ist … Wir haben nicht die Ehre, die Ratschläge des Vatikans zu erhalten, aber wir hätten sie gern! Würde De Gasperi etwas mehr auf die Ratschläge des Vatikans hören und etwas weniger auf die der schwarzen Bolschewiken in seiner Partei, würde er es besser machen und würde es ihm und dem Land sehr viel besser gehen“67.

So weit ein Überblick, zumindest teilweise, über den „Einfluss“ des Widerstandes im italienischen Nachkriegskontext. Der französische Fall erscheint dagegen, wie bereits angedeutet, etwas weniger linear. Und zwar in dem Sinne, dass das Thema des Widerstandes im italienischen Kontext, 66 67

Zitiert in: S. Setta, L’Uomo qualunque 1944-1948, Rom / Bari 1995, S. 164. Zitiert ebd., S. 187-188.

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wenn man die besondere Phase 1951/52 ausnimmt, vom bipolaren Sturm erfasst wird, der Italien zu einem regelrechten Schauplatz ideologischer Kämpfe macht, und schon bald Teil der schonungslosen Auseinandersetzung zwischen den beiden Protagonisten des unvollkommenen Bipolarismus wird. Warum ist der französische Fall weniger linear und was sind seine Besonderheiten? Und außerdem, inwiefern spielt der historische Stellenwert des Widerstandsgeschehens von den ersten Schritten der Vierten Republik an eine bedeutende Rolle bei der Entwicklung von mindestens drei der vier wichtigsten politischen Kräfte jenseits der Alpen? Der erste Punkt, der zu beachten ist – er mag banal erscheinen, doch davon geht jede sinnvolle Betrachtung aus, wenn man sich mit den ersten Schritten der Vierten Republik beschäftigt –, ist die Tatsache, dass es im französischen Kontext mindestens zwei Widerstände gibt68. Einerseits den äußeren, dominiert von der Figur de Gaulles und mit einer dreifachen und starken Legitimität versehen: der charismatischen, historischen und militärischen69. Andererseits einen internen Widerstand, der erst ab 1941 von der kommunistischen Partei beherrscht wird. Wie bereits erwähnt, gelingt es de Gaulle dank Jean Moulin, zum einen die beiden „Widerstände“ zusammenzuführen, zum anderen jene politischen Parteien wieder ins Spiel zu bringen, die nach der Erteilung der umfassende Vollmachten an Pétain diskreditiert waren. Doch noch bevor der Verfassungspakt verwirklicht wird, beschließt die Spitze dieser Widerstandsaktivität, sich außerhalb und gegen das im Entstehen begriffene politisch-institutionelle System zu stellen. Mit dem Beginn des Rassemblement du Peuple Français am 7. April 1947 verkörpert sich der „systemfeindliche“ Charakter des berühmtesten aller Franzosen in einer richtigen politischen Partei, die bereit ist, das neue institutionelle Gefüge der Vierten Republik von innen aus den Angeln zu heben. Damit findet der absolut „nicht eindeutige“ Charakter des Bezuges auf die Widerstandslegitimität seine erste Verkörperung70. Im zweiten Artikel des Statuts des Rassemblement heißt es ausdrücklich: „rassembler les françaises et les français, s’inspirant de l’esprit qui a animé la Résistance française“. Auf welchen Widerstand bezieht sich das Rassemblement? Auf eine Vorstellung des nationalen Widerstandes, der seine Wurzeln in der Verteidigung des Landes hat, der also am 3. September 1939 68 Für einen allgemeinen und endlich erschöpfenden Überblick siehe die soeben erschienene Arbeit O. Wieviorka, Histoire de la Résistance, Paris 2013. 69 P. Harismendy / E. Le Gall (Hrsg.), Pour une histoire de la France Libre, Rennes 2012, insbesondere S. 15-47. Für eine allgemeine Abhandlung dieses Themas siehe außerdem J.-F. Muracciole, Les Français Libres. L’autre Résistance, Paris 2009. 70 Siehe das klassische Werk J. Charlot, Le gaullisme d’opposition 1946-1958: histoire politique du gaullisme, Paris 1983.

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beginnt und seinen Höhepunkt natürlich in der Geste der Insubordination de Gaulles und in seiner Übersiedelung nach London findet, um den Kampf zur Verteidigung Frankreichs fortzuführen. Somit ist der vorgestellte Widerstand in erster Linie ein einmaliger und ganz im Einsatz der France combattante, später France libre verkörperter Widerstand. Welches ist jedoch der nächste Schritt, wenn man speziell die öffentlichen Auftritte de Gaulles vom April 1947 bis zu den Parlamentswahlen 1951 analysiert? Das Thema des Widerstandes zu „politisieren“, ihn in einen regelrechten „verratenen Widerstand“ umzuwandeln, verraten hauptsächlich von den politischen Parteien, die das Land nicht für seinen Einsatz belohnt und ihm ein institutionelles System unterbreitet haben, das die schlimmsten Mängel der Dritten Republik aufweist. Den Geist des Widerstandes wiederentdecken bedeutet also, sich für die Reform des Staates einzusetzen und in der Friedenszeit jene ideelle Kraft wiederzufinden, die sich in der Kriegszeit entwickelt hatte, mit den gleichen Akteuren und vor allem mit dem gleichen Führer. Der Aufruf vom 18. Juni 1940 muss also wieder aufgegriffen und in engem Zusammenhang mit der Rede zur Bildung der RPF am 7. April 1947 neu gelesen werden. Eine feine, aber unverkennbare Linie verbindet den so verstandenen Widerstand, die France Libre und das Rassemblement du peuple français. Dieser Ansatz findet auch eine ikonographische Entsprechung. Auf diese Weise kann man den regelrechten symbolischen „Missbrauch“ des „Lothringer Kreuzes“ begründen; dieses wird nach dem kriegerischen Zwischenspiel der Widerstandsaktivität zum Sinnbild, das man dem Kommunismus entgegensetzt. „La Croix de Lorraine“, das Bollwerk gegen „La Croix gammée“ Hitlers, ist nun der Wall gegen „La faucille et le marteau“, Sinnbild des communisme international71. Noch weniger eindeutig und widersprüchlicher ist der Stellenwert des Widerstandes im Fall der ersten Schritte der PCF in der Vierten Republik72. Auf den ersten Blick könnte man es beim Bild der Französischen Kommunistischen Partei als erster Partei des Widerstandes belassen, schon allein wegen des von den militanten Kommunisten entrichteten Blutzolls. Eine große Zahl von ihnen war von den nationalsozialistischen Kräften und von jenen der kollaborationistischen Miliz hingerichtet worden. Bei einer sorgfältigeren Analyse sieht man jedoch, dass der Widerstand, etwa unter einem ideologischem Gesichtspunkt, keine so entscheidende Rolle in der Entwicklung der PCF spielt. Die französische Niederlage von 1940 ist, ideologisch gesehen, nichts anderes als die Bestätigung der von der internationalen kommunistischen Bewegung ausgearbeiteten Analyse bezüglich des Zusammenbruchs des bürgerlichen kapitalistischen Systems. Nach diesem Ansatz ist der Widerstand also kein Synonym für Bruch, sondern für ein Instrument zur Bestätigung B. Lachaise (Hrsg.), Resistance et politique sous la IV République, Bordeaux 2004, S. 33 ff. 72 Zu diesem Thema siehe S. Courtois, Le PCF dans la guerre, Paris 1980. 71

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einer bestimmten ideologischen Lesart. Auch unter propagandistischem Gesichtspunkt lässt sich das Thema des Widerstandes seitens der PCF schwerlich verwenden. Einerseits kann es eine Stärke sein, mit dem Bild der PCF als „parti des fusillés“, andererseits aber kann es leicht zu einer Quelle großer Schwäche werden, wenn man auf den Abschnitt 1939-1941 eingeht, als nämlich die UdSSR mit Nazideutschland verbündet war und die französische PCF von den Behörden der Dritten Republik verboten worden war. Demzufolge tun sich die Propagandisten der PCF in den Anfangsjahren der Vierten Republik sehr schwer. Potenziell dürfte es sich im Hinblick auf die Wahlen lohnen, das Thema der zentralen Rolle, welche die kommunistische Partei im Widerstand gespielt hat, ins Spiel zu bringen. Es handelt sich um ein ruhmreiches Kapitel auf interner Ebene (Primat der PCF über andere Parteien und über France Libre) und auf internationaler Ebene (bedeutende Rolle der UdSSR). Andererseits aber können sich diese Trümpfe auch als Fallen entpuppen. Die große Mehrheit der Führungskräfte der höchsten Ebene besitzt eine schwache Widerstandslegitimation (man denke nur an Thorez) und folglich könnten diejenigen, die sich diese Legitimität im wahren Kampf erworben haben, eine Bedrohung darstellen. Zweitens würde das Forcieren des nationalpatriotischen Bezuges darauf hinauslaufen, den „internationalen“ Beitrag der UdSSR abzuwerten. Wenn es also auch paradox erscheint, so kann man sagen, dass der Widerstand und das Erinnern an diesen ein richtiges „zweischneidiges Schwert“ für die PCF darstellt: ein legitimierendes Element, von dem sie nicht absehen kann, das sie am Ende aber sichtlich in Verlegenheit bringt. Womöglich noch deutlich verwickelter ist das Verhältnis der SFIO zum Thema des Widerstandes73. Potenziell kommt die Kriegs- und Widerstandsphase als Moment der ideologischen und strukturellen Erneuerung der Partei infrage. Zum einen ist nämlich eine echte Hekatombe von sozialistischen Führungspersönlichkeiten zu verzeichnen (Tote, Deportierte, Gefangene usw.) und zum anderen erfordert das widersprüchliche Verhalten der Partei in Vichy eine tief greifende Säuberung unmittelbar nach der Befreiung. Auf den ersten Blick scheint diese Erneuerung stattgefunden zu haben: zwischen 1945 und 1958 sind 86% der gewählten Abgeordneten oder Räte der Republik Neulinge auf nationaler Ebene74. Sogleich tauchen aber die ersten Fragen auf: Wie viele 73 Vgl. S. Berstein / F. Cépède / G. Morin / A. Prost (Hrsg.), Le Parti socialiste entre Résistance et République, Paris 2000, sowie C. Vodovar, La Resistenza nel dibattito politico in Francia e in Italia: il caso dei socialisti (1944-1948), in: P. Craveri / G. Quagliariello (Hrsg.), La Seconda guerra mondiale e la sua memoria, S. 491-528. 74 Siehe N. Castagnez, Socialistes en République. Les Parlementaires SFIO de la IV République, Rennes 2004.

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von ihnen wurden wegen ihres Aktivismus in der Phase 1939-1944 in die Partei integriert? Zudem verdanken die meisten Ideen der Résistance der sozialistischen Partei sehr viel; man braucht nur an das Schlüsselthema der Verstaatlichungen zu denken. Die Sozialisten machen sich diesen ideologischen Apparat des Widerstandes zu eigen. Gelingt es ihnen aber, ihn zu erweitern und in der nachfolgenden politischen Auseinandersetzung zu verwenden? Es scheint, dass die SFIO auf diese beiden Fragen wenig klare Antworten liefert und dass das Thema des Widerstandes schon sehr bald in eine Sackgasse führt, und zwar sowohl bei der theoretischen Vorstellung als auch in der Praxis der Partei selbst. Wenn man die Neugewählten im Parlament genau ansieht, wird man sich in der Tat bewusst, dass es sich durchaus um Aktivisten handelt, die ihre ersten parlamentarischen Erfahrungen machen, zumeist aber um Führungskräfte, die seit Langem in der Partei engagiert sind. Dagegen sind jene gewählten Widerstandskämpfer, die aktiv in einer der vielen Bewegungen (Combat, Libération Nord usw.) am Widerstand teilgenommen und sich nur gelegentlich oder indirekt auf die ideelle Strömung des Sozialismus berufen hatten, ausgesprochen unterrepräsentiert. Wenn man diese Beobachtung etwas vertieft, kann man auf den ersten Blick einen ziemlich eindeutigen Eindruck erhalten, der jedoch, sobald er ein wenig abgeklungen ist, sich als nicht so klar definiert herausstellen kann. Auf den ersten Blick kann man 100% der Mitglieder des Leitungsgremiums, 90% der ins Parlament Gewählten und ungefähr 80% der Sekretäre als „Widerständler“ bezeichnen. Wenn man jedoch, wie gesagt, die Daten etwas nuancierter betrachtet und auf die tatsächliche Definition von „Widerständler“ eingeht, ist das Bild nicht so monolithisch. Zunächst kann man nämlich auch über die Natur der Definition von „Widerständler“ im sozialistischen Rahmen diskutieren. Da es sich beim sozialistischen Widerstand zumeist um eine rein politische und ideologische Reaktion handelt, die sich nicht direkt auf militärischer Ebene äußert, fragen sich nicht wenige Leiter der Bewegungen, wie Emmanuel d’Astier de la Vigerie (von Libération Sud), ob dieser wirklich als Widerstand gegen den Feind bezeichnet werden kann. Im Übrigen werden die „großzügigen“ Kriterien, welche die SFIO für sich festgelegt hat, um ihre Führungskräfte als „Widerständler“ zu definieren, intern häufig gerade von jenen angefochten, die sich dagegen von der ersten Stunde an für das bewaffnete Vorgehen oder zumindest für die Spionageaktionen entschieden hatten. Aus dieser Sicht werden die Gegenstimmen am 10. Juli 1940 in Vichy, die Zugehörigkeit zu einem Comité de Libération oder die Entscheidung, sich auf der Massilia nach Algerien einzuschiffen, nicht als ausreichend betrachtet, um dem Umfeld der Résistance zugerechnet zu werden.

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Andererseits, und das ist ein weiterer wichtiger Punkt, bietet die Entscheidung von sozialistischer Seite, die Vorstellung einer Widerstandsaktivität zu favorisieren, die der politischen Dimension den Vorzug geben würde, ein eintöniges und plattes Bild einer Widerstandaktivität, die dagegen durch zahlreiche und verschiedenartige Erfahrungen gekennzeichnet war. Wenn man die Mitglieder der ersten beiden Leitungsgremien der SFIO nach dem Krieg unter die Lupe nimmt, stellt man fest, dass die ehemaligen Mitglieder des Comité d’Action Socialiste (das politische Organ der sozialistischen Résistance) eindeutig überrepräsentiert sind. Für Henri Ribière von Libération Nord und André Philip von Libération Sud gilt fraglos der doppelte – politische und militärische – „Status“, doch von den vielen Sozialisten, die in der Armée secrète, in verschiedenen Verbänden des Maquis und in den reseaux der Spionage aktiv waren, ist niemand zu finden. Zum Beispiel ist nur ein einziges Mitglied der Forces français libres vertreten, nämlich Jules Moch. Letztendlich bringt die Entscheidung, ganz auf eine „breite“ und durchwegs „politische“ Definition des Widerstandes zu setzen, eine Parteileitung hervor, die in Wahrheit paradoxerweise weder die Realität des sozialistischen Widerstandes noch die institutionelle Résistance noch (und das ist vielleicht noch schlimmer) die Vorstellung widerspiegelt, die sich in der Gesellschaft von der Résistance zu bilden begann, wobei die Armée secrète, die FFL, die Spionageagenten und die Saboteure im Vordergrund standen75. Auch unter einem ideologischen Gesichtspunkt ist die negative Auswirkung offensichtlich, die das Thema des Widerstandes letztendlich auf die SFIO hat. Zwei Beispiele mögen zur Bekräftigung diese Behauptung genügen. Zum einen das Thema der Zusammenarbeit mit den Katholiken, die sich gerade in der Widerstandsphase entwickelt und gefestigt hat. Die Idee eines humanistischen (um nicht zu sagen christlichen) Labourismus stirbt endgültig auf dem Kongress im August 1946 und im Gegensatz dazu festigt sich der antiklerikale Ansatz. Zum anderen könnte sich aus der Auseinandersetzung mit den kommunistischen „Brüdern“ eine kritische ideologische Sicht gegenüber dem Bruch mit dem kapitalistischen Modell ergeben. Stattdessen lassen sich die Sozialisten jedoch darauf ein, zumindest in dieser ersten Phase, zusammen mit der PCF einen pseudomarxistischen ideologischen Richtungswechsel vorzunehmen. Auf diese Weise werden Marxismus und Antiklerikalismus zu zwei Eckpfeilern einer SFIO, die keinesfalls imstande ist, den historischen Stellenwert des Zwischenspiels des Widerstandes umzusetzen. Die Übernahme der Parteiführung durch Guy Mollet im Jahr 1946 bedeutet dann das endgültige Aus für die Erneuerung der Partei; Erneuerung, die nur angedacht worden war, und zwar unter Berücksichtigung der direkt mit der Widerstandsaktivität 75 N. Castagnez-Ruggiu / G. Morin, Le parti issu de la Résistance, in: S. Berstein / F. Cépède / G. Morin / A. Prost (Hrsg.), Le Parti socialiste entre Résistance et République, S. 46-49.

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zusammenhängenden Auswirkungen. Die SFIO hat den eigentlichen Kampf um die Erneuerung (es gab eine Erneuerung, aber nur eine endogene, die durch das Vorrücken bereits interner Führungskräfte bedingt ist), um die ideologische Neuanpassung und die Propaganda (in Hinsicht auf das Image ist es der doch zwiespältigen PCF nämlich gelungen, diese auch beim Rückgriff auf den legitimierenden Wert des Widerstandes zu schlagen) verloren. Schließlich wird jene Partei, nämlich der MRP, die in einem ersten Moment den größten Nutzen daraus zieht, sich als „Partei des Widerstandes“ (als Partei der „fidelité“ zum „ersten Widerständler“ Frankreichs) zu identifizieren, am stärksten von der Entstehung der RPF und dem Wandel de Gaulles zum „ersten Gegner“ der neuen Republik in Mitleidenschaft gezogen76. Im Allgemeinen sind, zumindest ab Mitte der Fünfzigerjahre, die wichtigsten Führungskräfte der politischen Parteien der Vierten Republik entweder keine Führer, die eine bedeutsame Widerstandsvergangenheit vorweisen können, oder es sind politische Persönlichkeiten, die während der Résistance zweitrangige Rollen gespielt haben. Die Marginalisierung von Georges Bidault innerhalb der MRP (im Zuge des Auftretens der Algerienfrage) ist sicherlich ein emblematischer Fall, ebenso emblematisch ist aber auch die Tatsache, dass Pierre Pflimlin (der kein bedeutender Widerständler war) an die Spitze kommt. Noch augenscheinlicher ist die Entwicklung bei den Moderaten, mit der Marginalisierung zweier historischer Persönlichkeiten des Widerstandes wie Paul Raynaud und Joseph Laniel, und dem Aufstieg eines ehemaligen „Marschallisten“ wie Roger Duchet, ganz zu schweigen von der Bedeutung einer Figur wie Antoine Pinay, der zum Mitglied des Conseil National von Vichy ernannt wird (auch wenn er 1942 zurücktritt). Auch im Lichte dieser letzten Betrachtung bestätigt sich die Ausgangshypothese, und zwar mit einem französischen Bild, das zweifellos weniger eindeutig ist als das italienische, wenn man sich mit dem Einfluss der Geschichte des Widerstandes für die Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg befasst. Wenn man im italienischen Fall sagen kann, dass das Thema allmählich von den Linkskräften vereinnahmt wurde, insbesondere von den Kommunisten, und dass es von den Regierungskräften in vielerlei Hinsicht vernachlässigt wurde, haben im französischen Fall gerade die dominierende Rolle, die de Gaulle dabei spielte, und sein Widerstand gegen die Vierten Republik dazu geführt, dass der legitimierende (und folglich auch delegitimierende) Charakter des Rückgriffs auf den historischen Einfluss des Widerstandes von innen entleert wurde. 76 Neben dem klassischen Werk P. Letamendia, Le mouvement républicain populaire: l’histoire d’un grand parti français, Paris 1995 erlaube ich mir den Verweis auf M. Marchi, Alla ricerca del cattolicesimo politico. Politica e religione in Francia da Pétain a de Gaulle, Soveria Mannelli 2012, insbesondere S. 227-286.

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IV. Der paradigmatische Fall der EVG in Frankreich Bei der vergleichenden Untersuchung der historisch-politischen Entwicklung Italiens und Frankreichs darf man auch Elemente, die für jeden der beiden Bereiche charakteristisch sind, nicht außer Acht lassen. Daher kommt man nicht umhin, auf den französischen Fall der EVG einzugehen77. Der Konflikt um die Europäische Verteidigungsgemeinschaft ist nämlich von großer Bedeutung für den in Angriff genommenen Diskurs über den „Einfluss der Geschichte“ in der schwierigen französischen Nachkriegssituation. Auf der einen Seite haben wir die beiden wichtigsten Parteien, die in Opposition zur sonderbaren Mehrheit der „dritten Kraft“ stehen, nämlich Kommunisten und Gaullisten der RPF. Diese sind geschlossen gegen ein gemeinsames europäisches Heer (auf die Gründe werden wir gleich eingehen). Auf der anderen Seite haben wir eine durch die Parteien gehende Spaltung und infolgedessen sind die Anhänger der EVG von Grund auf inhomogen, da sich praktisch durch alle verbleibenden politischen Kräfte (die zumindest hypothetisch das Projekt unterstützen), von den Christdemokraten der MRP über die Radikalen und Moderaten zu den Sozialisten, die Bruchlinie des „Ja“ oder „Nein“ zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft zieht. Wenn man diese Bruchlinien etwas genauer betrachtet und dem herkömmlichen Begriff der politischen Partei den umfassenderen, wenn auch nicht so klar umrissenen, des politischen Gespürs hinzufügt, erhält man ein differenzierteres Bild. Die christdemokratische Front ist, zumindest dem Anschein nach, ziemlich homogen. Der traditionelle Europäismus dieses politischen Gespürs weist in Wirklichkeit gerade im Konflikt um die EVG besondere Nuancen auf78. Die sogenannten „christdemokratischen Gaullisten“ wie Edmond Michelet und Louis Terrenoire haben bei ihrem Versuch, eine Synthese zwischen christdemokratischem Anliegen und nationalistischem Ansatz des Generals de Gaulle zu finden, keine Zweifel bezüglich des Themas der EVG und folgen dem General. Während die MRP im August 1954 ziemlich geschlossen für die EVG stimmt – nur neun Abgeordnete folgen dem Aufruf nicht –, ist die sogenannte mouvance intellectuelle, die sich rund um die französischen katholischen Kreise bildet und besonders bei der basisorientierten Jugend, die sich in vorderster Linie vor allem bei den Themen der Dekolonisation engagiert, ein breites Echo findet, gegen 77 Für einen allgemeinen Überblick über das Thema siehe das klassische, nach wie vor aber aktuelle Werk R. Aron / D. Lerner (Hrsg.), La querelle de la CED. Essais d’analyse sociologique, Paris 1956. Für etliche Betrachtungen dieses Teils vgl. P. Buton, La CED, l’affaire Dreyfus de la Quatrième République?, in: Vingtième siècle, 4 (2004), S. 43-59. 78 Siehe dazu M. Le Dorh, Les démocrates-chrétiens français face à la construction européenne (1944-1957), Paris 2005.

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die EVG. Unter den anderen Beispielen ist jenes der Zeitschrift Esprit von Jean-Marie Domenach vielleicht das bezeichnendste. Viel tiefer und augenscheinlicher ist der Bruch innerhalb der Radikalen Partei. Sie war eine pivotale Partei der Vierten Republik bis 1956, als sie im Zuge der Regierung von Mendès France bei den Parlamentswahlen in zwei Blöcke zerbrach, von denen der eine von der PMF und der andere von Edgar Faure angeführt wurde. Genau beim Thema des gemeinsamen europäischen Heeres kommt es zu ihrem endgültigen Auseinanderbrechen und beginnt ihr Niedergang, der mit der Neugründung der Institutionen und der Entstehung der Fünften Republik besiegelt wird79. Der ehemalige Ministerpräsident Edouard Daladier ist der eigentliche Hauptvertreter der radikalen Gegner der EVG und um sein Ziel zu erreichen, bezieht er auch seinen ehemaligen Rivalen und graue Eminenz des französischen Radikalismus Edouard Herriot mit ein. Bei der Abstimmung wird der interne Bruch offensichtlich: 34 Abgeordnete von 67 sind gegen die EVG. Innerhalb der SFIO ist die Situation potenziell womöglich noch gefährlicher. Hier steht einer Führungsgruppe, die bezüglich der Unterstützung der EVG ziemlich geschlossen ist, eine weitgehende Disziplinlosigkeit seitens der Parlamentarier gegenüber. Nur dadurch ist die Anzahl der sozialistischen Abgeordneten zu erklären – 53 von 105 –, die am 30. August mit „Nein“ für die Europäische Verteidigungsgemeinschaft stimmen. Die Situation wird noch komplizierter, wenn man das Augenmerk auf die französische öffentliche Meinung jener Zeit richtet. Denn während das Bild über das spezifische Thema der EVG noch einen großen Bruch zeigt, sind die Daten über die Unterstützung Europas ziemlich eindeutig. Zwischen 1952 und 1954 beträgt die Zustimmung der französischen Bürger zum Aufbau eines einheitlichen und dauerhaften Europa rund 60%. Dieser Wert ist eine Bestätigung dafür, dass im Konflikt um die EVG in Wirklichkeit viel tiefere und historisch strukturierte Brüche wieder zutage treten. Der erste davon entsteht in Zusammenhang mit den unterschiedlichen Positionen der öffentlichen Meinung bezüglich des sogenannten „Faktors UdSSR“. Auf der einen Seite bestimmt die sowjetfreundliche Gesinnung der kommunistischen Wähler und Aktivisten ihren Widerstand gegen die EVG, die als westliches und amerikafreundliches Projekt abgestempelt wird. Diese 79 Siehe dazu E. Duhamel / G. Le Béguec (Hrsg.), La reconstruction du parti radical: 1944-1948, Paris 1993, sowie F. Foggacci, Le malheur des temps, la mouvance politique radicale et radical-socialiste de la Libération à la fin des années 1960, das demnächst bei PUR erscheint, und einige interessante Betrachtungen im ersten Teil von ders., La mouvance radicale et radicale-socialiste sous la V République, marge centriste ou centre marginalisé?, in: Histoire@Politique. Politique, culture et société, 15, septembre-décembre 2011, www.histoire-politique.fr.

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Definition gilt für jedes Projekt zur europäischen Integration, das Sinnbild einer Vorherrschaft des westlichen kapitalistischen Modells ist. Auf der anderen Seite veranlasst gerade die Angst vor der UdSSR einen beträchtlichen Teil der radikalen und sozialistischen Aktivisten (wie auch ihrer Führer), das Projekt der EVG zu unterstützen. Gerade der Bezug auf die Vereinigten Staaten gestattet es, einen zweiten entscheidenden Faktor ins Spiel zu bringen, wenn man sich mit dem Thema der EVG und der Spaltungen innerhalb der politischen Szene und der öffentlichen Meinung Frankreichs beschäftigt. Dabei geht es um Amerikanismus und Antiamerikanismus. Auch in diesem Fall ist das Bild der politischen Kräfte ziemlich bunt. Unbestritten antiamerikanisch eingestellt sind die prosowjetischen Kommunisten, aber auch die Gaullisten, wenn auch auf besondere Art und Weise, und zwar wegen eines nationalistischen Reflexes, der in dieser Phase eng mit dem letzthin schwierigen Verhältnis zwischen de Gaulle und dem damaligen Präsidenten der USA Roosevelt zusammenhängt. Sehr amerikafreundlich, und zwar besonders aus wirtschaftspolitischen Gründen, sind die Moderaten und die Radikalen. Schwierig ist es wiederum, Sozialisten und MRP einzuordnen. Vielleicht noch wesentlicher ist aber abzuwägen, wie viel an dem in der öffentlichen Meinung jedenfalls sehr verbreiteten Antiamerikanismus strukturell ist und wie viel situationsbedingt80. Denn einerseits ist der Antiamerikanismus eine Konstante des französischen ideologischen Panoramas, verstanden als Kritik gegenüber der führenden Macht und als Angst vor einer simplifizierenden und vom Konsumdenken beherrschten Kultur. Andererseits darf man das situationsbedingte Faktum nicht außer Acht lassen. In dem Moment, wo jeder Anschein imperialer Dimension vergeht, wird die französischen Macht in dem Maße schwächer, wie der Primat der USA stärker wird, der von der öffentlichen Meinung jenseits der Alpen immer weniger akzeptiert wird. Ihren Höhepunkt erreicht diese Situation beim „ungeschickten“ Suez-Feldzug der Briten und Franzosen, doch weitere Ursachen für Reibungen in diesem Sinn hatte es in der Region Indochina gegeben und gab es wenig später in der schwierigen Algerienfrage. Schließlich spielt das Erbe des Zweiten Weltkrieges, oder besser gesagt, des sogenannten europäischen Dreißigjährigen Krieges, eine entscheidende Rolle für die Schließung der Fronten sowohl bei den Gegnern als auch bei den Befürwortern der EVG, wobei der Antigermanismus Pate stand. Denn die Angst vor einem neuen, mit einem Heer ausgestatteten Deutschland (auch wenn in einen europäischen, streitkräfteübergreifenden Kontext eingebunden) ist zweifellos ein Faktum, das die Gegner der EVG zusammenschweißt. Aber auch unter den hartnäckigsten Befürwortern, wie im Fall der MRP, regt

80 P. Roger, L’ennemi américain: généalogie de l’antiaméricanisme française, Paris 2002.

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sich das Schreckgespenst einer neuen Wehrmacht an den Grenzen, falls die Schaffung des gemeinsamen Heeres nicht klappen würde81. Es zeigt sich, dass mindestens zwei der vier Faktoren, welche die Legitimität der Vierten Republik so schwach machen, im Spiel sind: die Auswirkungen des Kalten Krieges und die schwierige Phase der Aushöhlung der nationalen Souveränität (die übrigens eng mit einem der beiden restlichen zusammenhängt, nämlich dem Prozess der Dekolonisation, die ein regelrechtes Synonym für das Ende der imperialen Dimension ist). Unter dem Gesichtspunkt des in diesem Beitrag behandelten Themas wird der Konflikt um die EVG zu einem regelrechten Schulbeispiel. Als Antoine Pinay 1952 Ministerpräsident wird, wird das Land zum ersten Mal seit der Befreiung von einem „Nicht-Widerständler“ geführt (wie bereits gesagt, war Pinay sogar persönlich durch Vichy kompromittiert, zumal er von Pétain zum Mitglied des Conseil National ernannt worden war). Der Bruch zwischen Widerstand und Kollaboration scheint erstmals und teilweise wieder beigelegt zu sein82. Das Problem der EVG bekräftigt jedoch sogleich, dass der Einfluss der jüngeren Vergangenheit, im Besonderen das Trauma des sogenannten Dreißigjährigen Krieges, imstande ist, die wichtigsten politischen Parteien in ihrem Inneren zu entzweien und die öffentliche Meinung zu spalten; durch diese ging noch ein weiterer Riss, der mittlerweile ganz konkret geworden war, nämlich die Auseinandersetzung zwischen Kommunismus und Antikommunismus in ihrer vom Klima des Kalten Krieges ideologisch gekennzeichneten Version83.

V. Einige abschließende Überlegungen Mit diesem Verweis auf die Auseinandersetzung zwischen Kommunismus und Antikommunismus lässt sich aufzeigen, welchen Einfluss die jüngere Vergangenheit auf die unterschiedlichen Entwicklungen der Italienischen Republik, die mit Inkrafttreten der Verfassung am ersten Januar 1948 entstanden ist, und der französischen Vierten Republik hatte. Unter diesem Gesichtspunkt kann man anhand des Vergleichs zwischen den beiden Fällen einige weitere Überlegungen bezüglich der unterschiedlichen Legitimitätsgrade, 81 Siehe hierzu M. Marchi, Catholiques mais avant tout francais. La presse catholique de l’après-guerre aux Traités de Rom, in: D. Pasquinucci / D. Preda / L. Tosi (Hrsg.), Communicating Europe. Journals and European Integration 1939-1979, Bern 2013, S. 457-478. 82 Für einen abweichenden Standpunkt vgl. das klassische Werk H. Rousso, Le syndrome de Vichy, Paris 1987. 83 Vgl. P. Buton, La memoria collettiva francese della Seconda guerra mondiale, in: Ventunesimo Secolo, 7, April 2005, S. 61-82.

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auf welche die beiden institutionellen Realitäten in ihren Anfängen und bei ihren Entwicklungen zählen können, anstellen. Im italienischen Fall wiegt zweifellos die „internationale“ Bedingtheit am schwersten, das heißt, das antikommunistische Präjudiz, das die italienische „Republik der Parteien“ zu einem unvollkommenen Zweiparteiensystem und im Wesentlichen zu einer Art „blockierter Demokratie“ macht, ohne die Möglichkeit eines echten Regierungswechsels, bedingt durch die westliche Entscheidung De Gasperis, noch stärker vielleicht aber durch die „östliche Entscheidung“ der KPI Togliattis84. Die komplizierte Legitimität, die sich die politischen Parteien in der Widerstandsphase nach dem 15. Juli 1943 (und zum Teil auch in der Phase nach dem Aventin) konstruiert haben, verdichtet sich im verfassunggebenden Zwischenspiel und in dem Moment, wo die „äußere Bedingtheit“ wirksam zu werden beginnt, das System, auch wenn blockiert, auf eine Basis zählen kann, die zwar schwach, aber im Wesentlichen einmütig ist. Die schweren Mängel dieser „blockierten Demokratie“ treten unweigerlich zutage, jedoch mittel- und langfristig85. In der in dieser Arbeit untersuchten Phase ist der „historische“ Diskurs der politischen Parteien stark legitimierend. Dasselbe lässt sich vom Kontext jenseits der Alpen nicht sagen. Wenn man sehr darauf achtet, keiner Beurteilung ex post zu erliegen (die durch den Zusammenbruch der Vierten Republik 1958 verfälscht wird), kann man jedenfalls behaupten, dass das neue institutionelle System von Anfang an durch mindestens vier Legitimitätskonflikte gekennzeichnet ist. Auch auf französischer Seite stellen der Kalte Krieg und die Auseinandersetzung zwischen Kommunismus und Antikommunismus sicherlich einen destabilisierenden Faktor dar, der nicht vernachlässigt werden darf, ebenso wie die Schwierigkeiten jenseits der Alpen, mit einer langsamen, aber fortschreitenden Abtretung der Souveränität fertig zu werden, die mit dem Einsetzen des Prozesses der europäischen Integration ab der Schumann-Erklärung beginnt (wie man gesehen hat, spielt der Fall der EVG eine nicht unbedeutende Rolle). Es gibt aber zwei weitere, noch wichtigere delegitimierende Faktoren, 84 Siehe P. Craveri, De Gasperi e il ricorso necessario ai „vincoli esterni“ und A. Guiso, L’Europa e l’Alleanza Atlantica nella politica internazionale del PCI degli anni ’50 e ’60, in: P. Craveri / G. Quagliariello (Hrsg.), Atlantismo ed Europeismo, Soveria Mannelli 2003, S. 567-588, sowie S. 205-248. Interessante Betrachtungen in: R. Gualtieri, L’Italia dal 1943 al 1992, Rom 2006, in: G. Formigoni, La Democrazia cristiana e l’alleanza occidentale 1943-1953, Bologna 1996 und außerdem in: ders., De Gasperi e la crisi italiana del maggio 1947. Documenti e reinterpretazioni, in: Ricerche di storia politica, N.F. 6 (2003), 3, S. 361-388. 85 Darauf hat sich ein großer Teil der Überlegungen Aldo Moros über die notwendige Ausweitung des Regierungsbereichs auf alle nationalen politischen Kräfte konzentriert. Siehe einige besonders interessante Betrachtungen in: G. Formigoni, Alla prova della democrazia. Chiesa, cattolici e modernità nell’Italia del ’900, Trient 2008, S. 189-228.

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und in diesen beiden Fällen ist die französische Spezifität offensichtlicher. Der erste betrifft den regelrechten institutionellen Bruch, den de Gaulle mit seinem Verfassungsentwurf von Bayeux (der im Gegensatz zu dem um den Primat der Nationalversammlung der Vierten Republik zentrierten steht) und mit seiner Entscheidung, seine überaus starke historische Legitimität in antiparteiischer Weise auszuspielen, vorgenommen hat. Von diesem Augenblick an ist das vulnus, das die französische „Republik der Parteien“ von innen erodiert, beachtlich. Das zweite Element ist zweifelsohne der „Faktor Dekolonisation“. Unter diesem Gesichtspunkt kann man sagen, dass der koloniale „Einfluss der Geschichte“ so etwas wie ein Felsbrocken ist, der die Grundfeste der Vierten Republik erschüttert. Und das vor allem deswegen, weil die gesamte Politikerklasse der Vierten Republik – ob an der Regierung oder nicht –, die mit der globalen Dekolonisationsbewegung zurechtkommen muss, sehr stark nicht nur von der langen Kolonialgeschichte des Landes, sondern auch von den jüngeren Ereignissen des Zweiten Weltkrieges beeinflusst ist. Man braucht nur daran zu denken, welche Bedeutung die Kolonien für die politische und militärische Legitimität der ersten Schritte der France Libre hatten, oder auch daran, welche Bedeutung Algier bei der Bildung eines Keimes für die provisorischen Regierung des Landes in der Phase des Widerstandes hatte. Der lange und kostspielige Indochinakrieg erodiert von innen einige Lebensnerven der Verwaltung der Vierten Republik. Vor allem bekommt die „politische“ Rolle des Heeres ein übermäßiges Gewicht: Von der Niederlage von Dien Bien Phu an wird es zu einer regelrechten unabhängigen Variablen des politisch-institutionellen Kontextes der Vierten Republik, die entschlossen ist, die angewachsene Unabhängigkeit und Macht sowie die im Zusammenhang mit Algerien herangereiften Enttäuschungen zu verwenden. Gerade der Algerienkonflikt zeigt sehr bald sein zerstörerisches politisches, wirtschaftliches und soziales Potenzial86. Unter diesem Gesichtspunkt erdrückt die Geschichte mit ihrem Gewicht die nach 1944 entstandenen zerbrechlichen Institutionen, gefährdet den wirtschaftlichen Wiederaufschwung des Landes, wirkt sich empfindlich auf die internen Dynamiken jeder einzelnen Partei, Organisation sowie politischen und gewerkschaftlichen Bewegung aus, wobei sie unter anderem einen gewaltigen und einschneidenden Konflikt zwischen den Generationen auslöst87. Wenn man eine Schlussfolgerung aus dieser vergleichenden Betrachtung ziehen will, kann man also sagen, dass das Gewicht der Geschichte in beiden

86 Siehe M. Harbi / B. Stora, La guerre d’Algérie, Paris 2010, sowie M. Evans, Algeria. France’s Undeclared War, London 2012. 87 Siehe dazu im Besonderen B. Stora, La gangrène et l’oubli, Paris 2005.

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politisch-institutionellen Kontexten maßgebend ist88. Im französischen Fall wirkt dieses als Beschleuniger für eine Krise, jene vom Mai 1958, die zur Neugründung der Institutionen und zur Schaffung einer festen Ordnung führte, die nach mehr als fünfzig Jahren Stabilität und Wechsel garantiert89. Auf italienischer Seite hat die wichtige verfassungsmäßige Legitimation die Bildung eines Systems erlaubt, das mindestens dreißig Jahre lang eine in Europa unvergleichliche wirtschaftliche und soziale Entwicklung garantiert hat und Italien in die Spitzengruppe der am stärksten industrialisierten Länder hat aufrücken lassen, wobei die Grundvoraussetzungen sehr schwach waren. Die Unmöglichkeit des Regierungswechsels und das erdrückende Gewicht des Kalten Krieges haben das System aber zu einer langsamen und beständigen Krise verdammt, die jedoch nie zu einem richtigen Wechsel von einem Verfassungssystem zu einem anderen geführt und so den „falschen Übergang“ der letzten beiden republikanischen Jahrzehnte hervorgebracht hat90.

88 Ein anderes potenziell destabilisierendes und delegitimierendes Element der Vierten Republik hätte die Neuauflage der Auseinandersetzung zwischen den „zwei Frankreich“ sein können, dem weltlichen und laizistischen und dem gläubigen und katholischen. Die Wende des Widerstandes, die entscheidende Rolle, welche die Gläubigen dabei spielten und die anschließende Entstehung der MRP sanktionieren den endgültigen „Eintritt“ der Katholiken in die Republik. Nur in einem Punkt, allerdings einem maßgeblichen, war der „Einfluss der Geschichte“ der Auseinandersetzung zwischen den „zwei Frankreich“ entscheidend für die Erosion der zerbrechlichen Grundmauern der Vierten Republik: jenem bezüglich der Auseinandersetzung über die (katholische) Privatschule. Nicht zufällig war de Gaulle, nachdem er wieder an die Macht gekommen war, die ersten Monate seines Mandats damit beschäftigt, eine Lösung für diesen Konflikt zu suchen, der zum Teil, aber nur zum Teil, mit dem Loi Debré des Jahres 1959 gelöst wurde. Dazu erlaube ich mir erneut, auf meine Arbeit M. Marchi, Alla ricerca del cattolicesimo politico, S. 259-286 und 376-388 verweisen. Siehe auch I. Clavel, Réformer l’Ecole après 1944: du consensus au dissensus entre la SFIO et le MRP, in: „Histoire@Politique“, 18, septembre-décembre 2012, www. histoire-politique.fr, sowie B. Poucet, La politique de l’enseignement de Michel Debré, in: S. Berstein / P. Milza / J. F. Sirinelli (Hrsg.), Michel Debré Premier ministre 1959-1962, Paris 2005, S. 386 ff., sowie B. Pouchet, L’Etat et l’enseignement privé. L’application de la loi Debré (1959), Rennes 2011. 89 Für einen Gesamtüberblick über die Fünfte Republik siehe J. Garrigues / S. Guillaume / J. F. Sirinelli (Hrsg.), Comprendre la V République, Paris 2010, insbesondere S. 139-207, sowie auch G. Pasquino / S. Ventura (Hrsg.), Una splendida cinquantenne, Bologna 2010. 90 Siehe dazu die einleitenden Bemerkungen und im Allgemeinen die gesamte Rekonstruktion von S. Colarizi / M. Gervasoni, La tela di Penelope. Storia della Seconda Repubblica, Rom / Bari 2012.

Vom Konflikt zum Konsens: Die Evolution des Konzepts der Konkordanz Von David M. Wineroither

I. Zur Einführung Der neuzeitliche Siegeszug der Demokratie verlief nicht ohne Brüche und Rückschläge: In globalem Maßstab hat sie noch heute einen schweren Stand. Zögerlich und in Wellen, die sich über drei Jahrhunderte erstreckten1, begann sie zunächst die westlichen Staaten zu erobern und stieg in diesem Rahmen im Anschluss an die beiden Weltkriege zur dominanten Herrschaftsform auf. Dennoch erachtete zu diesem Zeitpunkt die (Politik-)Wissenschaft ein bestimmtes reales Demokratiemodell, vorzufinden in alten Demokratien – de facto beschränkt auf die angelsächsischen Länder und somit ein demokratisches „Minderheitenprogramm“ repräsentierend –, gleichsam als Hort von Demokratie und ein in puncto politischer Stabilität und Leistungsfähigkeit anzustrebender benchmark: das demokratisch-revolutionäre Flaggschiff Vereinigte Staaten von Amerika, das (nicht zuletzt im Wissenschaftsbetrieb) bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts zur globalen Supermacht aufgestiegen war; das Mutterland des Parlamentarismus, Großbritannien, dessen einstiger Glanz als British Empire sich bis zu ebendiesem Zeitpunkt verflüchtigt hatte, das aber durch seinen Export der Westminster-Demokratie und des common sense als koloniales Erbe nachwirkte. Nicht alleine ein präzise austariertes institutionelles Gebilde, so bemühte sich die vergleichende Politikwissenschaft vor allem in den USA festzuhalten, sondern ein tief in der politischen Kultur der Bürger verankertes Legitimationspolster, ein Basiskonsens über die wesentlichen Einrichtungen ihrer jeweiligen Demokratien und der Definition der eigenen Bürgerrolle, taugten als nachahmenswerter Stabilitätsgarant2. 1 S.P. Huntington, The Third Wave: Democratization in the Late Twentieth Century, Norman OK 1991. 2 G.A. Almond, Comparative Political Systems, in: Journal of Politics, 18 (1956), S. 391-409. Die verwandte, aber gleichzeitig weiterführende Frage nach der Qualität unterschiedlicher Typen von Demokratie beantwortet die zeitgenössische Forschung überwiegend zuungunsten der angelsächsisch geprägten Konfliktdemokratien. A. Lijphart, Patterns of Democracy: Government Forms and Performance in Thirty-Six

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Die politischen Erfahrungen auf europäischem Boden in der Zwischenkriegszeit legten nun nahe, in einem ersten Schritt zunächst die behauptete Einheit einer Überlegenheit der Wettbewerbsdemokratie und mit ihr des Mehrheitswahlrechts sowohl mit Blick auf Garantien politischer Stabilität, systemische Leistungsfähigkeit und prozedurale Qualität von Demokratie zu hinterfragen. Begleitet war die Ausweitung der demokratischen Hemisphäre in der Welt seit den 1820er Jahren wie eingangs angesprochen von beinahe kontinuierlichen Rückschlägen gewesen: nicht jede entstandene Demokratie überlebte ökonomische, soziale oder militärische Krisen. Davon war, hundert Jahre nach Einleitung der ersten Demokratisierungswelle und im nahtlosen Übergang zur zweiten Demokratisierungswelle im Gefolge des Ersten Weltkriegs, das europäische Kernland betroffen. Die zahlreichen Fälle einer autoritären Wende in der Zwischenkriegszeit erfolgten dabei angesichts eines hohen ökonomischen Entwicklungsstandes und trotz der damals grassierenden Wirtschaftskrise gegen die Theorie. Diese Rückwärtsbewegung erfasste einige Länder mit junger demokratischer und/oder republikanischer Erfahrung wie Österreich, das Deutschland der Weimarer Republik und einige Länder Mittelosteuropas. Hingegen blieben andere Länder, beispielsweise Belgien, die Niederlande und der Sonderfall der eidgenössischen Schweiz demokratisch. Dass gerade diese Länder mit ihren politischen Ordnungen den Stürmen um sie herum trotzten, dass sie nicht dem Beispiel anderer Länder in die Autokratie folgten, mutete umso erstaunlicher an, als dass die jeweiligen Gesellschaften tief und entlang gleich mehrerer Bruchlinien fragmentiert waren. Die vergleichende Politikwissenschaft musste daran Interesse haben, jene Eigenschaften des politischen Systems zu isolieren, die für diese Krisenresistenz verantwortlich zeichneten und bereits vor den Umbrüchen der Zwischenkriegszeit das Überleben des demokratischen Gemeinwesens gesichert hatten. In Arbeiten der 1960er Jahre wurde dieser Versuch systematisch unternommen, und es zeigte sich die Gemeinsamkeit eines speziellen Typs der politischen Machtteilung der Anwendung fand, um zentrifugalen Kräften in fragmentierten Gesellschaften entgegenzuwirken: das Streben nach „gütlicher Übereinkunft“, das heißt Konkordanz, als ultima ratio politischer Eliten3. Die politischen Führungen unterschiedlicher ideologischer Ausrichtung konnten stellvertretend für ihre jeweiligen weltanschaulichen Lager handeln (in den Niederlanden spricht man vom Prozess der „Verzuilung“). Es handelte sich Countries, New Haven CT 1999; J. Bernauer / A. Vatter, Can’t get no Satisfaction with the Westminster Model? Winners, Losers and the Effects of Consensual and Direct Democratic Institutions on Satisfaction with Democracy, in: European Journal of Political Research, 51 (2011), S. 435-465. 3 G. Lehmbruch, Proporzdemokratie. Politisches System und politische Kultur in der Schweiz und in Österreich, Tübingen 1967; A. Lijphart, The Politics of Accommodation. Pluralism and Democracy in the Netherlands, Berkeley CA 1968.

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im österreichischen Fall um drei Lager, welche die Opposition zum Liberalismus verband, der nach dem Ausgleich von 1867 in der Doppelmonarchie vorherrschte: ein international-sozialistisches, ein christlich-konservatives und ein deutschnationales Lager4. Weltanschauliche Nähe und Gemeinsamkeiten selbst in ideologischen Globalfragen wie etwa der „sozialen Frage“, der Begegnung von Nationalitätenkonflikten oder der Haltung zur Religion unterliefen dabei keineswegs den grundsätzlich antagonistischen Charakter des Wettbewerbs zwischen allen drei Lagern. Maßgebliche Sozialisationsinstanzen wie die Katholische Kirche, die Gewerkschaften, die Publizistik und politische Vereine verfestigten gesellschaftliche Segmentierung entlang der Lagergrenzen. Während die konkordante Form des politischen Ausgleichs beispielsweise in den Niederlanden bereits seit den 1860er Jahren und noch einmal intensiviert ab dem Jahr 1917 praktiziert wurde, vollzog sich eine Wende in Österreich erst mit der Begründung der demokratischen Zweiten Republik im Jahr 1945. Konkordanz (in der englischen Fassung consociationalism) erstreckt sich nach Arend Lijphart auf vier Eckpfeiler: 1. „grand coalition“: ein Regierungsbündnis der Repräsentanten aller relevanten gesellschaftlichen, politisch mobilisierten oder mobilisierbaren Lager/Säulen; 2. „veto rights“: den Partnern in diesem Bündnis werden wechselseitige umfangreiche Vetorechte eingeräumt; Junktimierungen gehören zum konkordanten Tagesgeschäft; 3. „proportionality“: Ämter und Funktionen werden nach dem Proporzprinzip besetzt; die Vergabe findet losgekoppelt von den numerischen Kräfteverhältnissen statt, die sich aus Wahlergebnissen ableiten ließen; 4. „segmental autonomy“: abseits der gesamtgesellschaftlich bzw. für die Machtbeziehungen zwischen den politischen Parteien relevanten Belange, in denen Vetorechte den Handlungsradius wechselseitig beschränken (siehe Punkt 1.), herrscht das Prinzip der Nichteinmischung von außen; im Mittelpunkt befindet sich funktional die Aufgabe vertikaler Integration, die essentiell für die Repräsentation der Lagerinteressen durch die jeweilige politische Elite ist, wobei die Milieugrenzen durch parallele Schulsysteme, Hospitäler, Presselandschaften usw. konturiert sind und aufrecht erhalten bleiben5.

4 A. Wandruszka, Österreichs politische Struktur: Die Entwicklung der Parteien und politischen Bewegungen, in: H. Benedikt (Hrsg.), Geschichte der Republik Österreich, München 1954, S. 289-485. 5 A. Lijphart, Democracy in Plural Societies: A Comparative Exploration, New Haven CT 1977, S. 25.

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Die Hinterfragung des Ideals der Westminster-Demokratie und die Hinführung zum Konzept der Konkordanzdemokratie verdankten sich aber nicht nur den auffälligen Stabilitätserfahrungen in einigen fragmentierten, teilweise zerklüfteten und polarisierten Gesellschaften. Sie sind auch als Reaktion auf verschiedene Theoriestränge zu sehen, die in den 1950er Jahren die vergleichende Politikwissenschaft zu revolutionieren begannen. Noch zu Beginn der 1960er Jahre hatte die bahnbrechende „Civic Culture-Studie“ am partizipatorischen Ideal der in den Vereinigten Staaten von Amerika (USA) und in Großbritannien (GBR) verbreitet anzutreffenden staatsbürgerlichen Kultur festgehalten und ihr diverse mangelhafte Alternativen gegenübergestellt (z.B. die Untertanenkultur), die unter anderem die politische Kultur jener Zeit in den Postdiktaturen Bundesrepublik Deutschland und Italien prägten6. Eine bestimmte politische Kultur im Verbund mit einem Set an bestimmten politischen Institutionen ermöglichte in den Westminster-Demokratien einen intensiven politischen Wettbewerb, ohne die Legitimation des Staates zu untergraben und ohne eine politische Radikalisierung breiter Bevölkerungsschichten zu befördern. Einige der hierfür verantwortlichen Ausgangs- oder Grundbedingungen, etwa eine weitgehend homogene Gesellschaft (GBR) oder ein ausgeprägter Verfassungspatriotismus (USA), waren in Ländern wie den Niederlanden oder Österreich so nicht gegeben. Dort mussten Minderheiten fürchten, von der Mehrheit unablässig überstimmt zu werden bzw. langfristig nicht in der Lage zu sein, selbst zur Mehrheit heranzuwachsen. Gesellschaftliche Segmentierung stellt infrage, ob Wahlen politisch „in der Mitte“ gewonnen werden können. Überhaupt scheint sie das Schmiermittel demokratischen Wettbewerbs auf minimale Dosis zu setzen: potenzielle Wechselwähler. Der beobachtbaren ausgeprägten Stabilität der Beziehung zwischen Parteien und Wählergruppen ging die cleavage theory auf den Grund. Die Beziehung zwischen bestimmten Gesellschaftsteilen und politischen Parteien hatte sich seit der Etablierung mehr oder weniger kompetitiver westlicher Parteiensysteme zwischen dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts und weit hinein in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts erstaunlich stabil gezeigt7. Dies betraf vor allem die beinahe überall in signifikanter Stärke vertretenen Parteienfamilien der Sozialdemokratie und der Christdemokratie. Die Beziehungsgeflechte lassen sich auf einige wenige zentrale gesellschaftliche Konfliktlinien zurückführen, am prominentesten jene zwischen Arbeit und Kapital, ferner jene zwischen Zentrum und Peripherie, Stadt und Land, 6 G.A. Almond / S. Verba, The Civic Culture: Political Attitudes and Democracy in Five Nations, Princeton NJ 1963. 7 S. Bartolini / P. Mair, Identity, Competition, and Electoral Availability: The Stabilisation of European Electorates 1885-1995, Cambridge 1990.

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entlang sprachlicher, ethnischer und konfessioneller Zugehörigkeit (bzw. Säkularismus im letzteren Fall)8. Social choice theory leistete einen wesentlichen Beitrag zur kritischen Hinterfragung der Meriten einer jedweden Entscheidungsregel und verwies neben zahlreichen Paradoxien (z.B. Arrow-Theorem; Condorcet-Gewinner) auf die Beliebigkeit von Mehrheiten je nach Anwendung findender Entscheidungsregel9. Diese Verfahrensabhängigkeit und dieser Interpretationsbedarf haben William Riker zum Schluss bewogen, dass „the outcomes of voting are, or may be, inaccurate or meaningless amalgamations, what the people want cannot be known“10. Die wachsende und theoretisch ausgreifende Forschung über rational choice in politischen Entscheidungskontexten sensibilisierte für die Kontextgebundenheit systemstabilisierenden – und bezogen auf den politischen Output effizienten – politischen Wettbewerbs in der Demokratie, vor allem die Konzentration von Wählern in der politischen Mitte11, die in vielen westlichen Gesellschaften eben nicht gegeben war. Losgelöst von diesen akademischen Diskussionen bahnte sich die Einsicht in die Vorzüge kooperativer Formen der Entscheidungsfindung unter politischen Akteuren ihnen Weg auf ganz und gar unterschiedliche Weise. Wesentlich für eine Verhaltensänderung scheint jedenfalls die Abkehr von einer Sichtweise zu sein, die Politik als reines Nullsummenspiel auffasst, in deren Rahmen der Gewinn des einen Akteurs zwangsweise als Verlust auf Seiten eines oder mehrerer anderer zu verbuchen ist. Im österreichischen Fall wurzelte diese Verhaltensänderung in einem kollektiven Lernprozess aus den Erfahrungen mit politischer Konfrontation in der Ersten Republik. Weder in Belgien noch in den Niederlanden oder der Schweiz, sondern in Österreich alleine, begründeten Bürgerkrieg und Diktaturerfahrungen die historische Antithese der Konkordanzdemokratie. Der Einfluss der Geschichte der Ersten Republik, der Jahre des Nationalsozialismus und der Zeit der alliierten Besatzung des Landes auf politische Legitimation verblasste gleichsam natürlich im Verlauf der Zweiten Republik. Dennoch ist die Prägekraft dieser Periode für den demokratischen Prozess selbst mit Blick auf die jüngere politische Entwicklung des Landes nicht 8 S.M. Lipset / S. Rokkan, Cleavage Structures, Party Systems and Voter Alignments. An Introduction, in: S.M. Lipset / S. Rokkan (Hrsg.), Party Systems and Voter Alignments. Cross-National Perspectives, New York 1967, S. 1-64. 9 K.J. Arrow, Social Choice and Individual Values, New Haven CT 1951. 10 W.H. Riker, Liberalism Against Populism: A Primer, San Francisco 1982, S. XVIII. 11 A. Downs, An Economic Theory of Democracy, New York 1957.

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gänzlich verschwunden und an neuralgischen Punkten greifbar geblieben. Die einstmaligen historischen Bezugspunkte wichen zwangsläufig alternativen Narrativen, doch verliefen weder der Prozess der Umschichtung historischer Legitimationsgewichte noch jener der Veränderung des Gewichts der Geschichte im Allgemeinen stringent: Generationeneffekte, erinnerungspolitische Konjunkturen, eruptive Ausbrüche und überraschende Wiederkehr prägten die Szenerie. Die Darstellung des Gewichts von Geschichte für politische Legitimation in der Zweiten Republik muss daher weiter ausgreifen und kann auf einen Periodisierungsversuch nicht verzichten – in Abgrenzung der Nachkriegszeit von der goldenen Ära des Wohlfahrtsstaates, an die sich eine – mit Jürgen Habermas gesprochen – politisch wirkungsmächtige Unübersichtlichkeit anschloss. Etatismus und Korporatismus, die Leitplanken der Konkordanz von den 1960er Jahren bis zur Mitte der 1980er Jahre, verfügten ihrerseits über eine lange historische Tradition auf dem Gebiet Westmitteleuropas und ließen sich vorzüglich mit konkordanten Legitimationsmustern verbinden. Die Herausforderung konkordanter Politik durch neuartige gesellschaftliche Konflikte in den 1980er Jahren erfolgte auch auf dem Weg historischen Tabubruches und erinnerungspolitischen Aufbruches: Waldheim-Affäre und Aufstieg der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) unter Jörg Haider rüttelten an den Grundfesten des Mythos vom antifaschistischen Grundkonsens der frühen Jahre der Zweiten Republik und jenem vom Österreich des Jahres 1938 als erstem Opfer Hitler-Deutschlands. Die Präsenz neuer gesellschaftlicher Konfliktlagen, politischer Programmatik und Parteien begann die historischen Bande von Gesellschaftsgruppen und Parteien zu strapazieren, und sie brachten diese im Verbund im neuen Jahrtausend zum Reißen.

II. Die Genese der Wende zum Konsens – Keine „Stunde Null“ Am Anfang stand jeweils ein verlorener Krieg: Österreichs Erste Republik folgte auf das Ende der Habsburger-Monarchie, die Zweite Republik auf den Untergang des nationalsozialistischen Regimes. Der Beginn im Jahr 1918 war schwierig gewesen, aber nicht ohne Erfolge verlaufen: In ihrer Geburtsstunde war die demokratische Republik „Deutschösterreich“ nicht viel mehr als eine Restgröße und ein „Staat, den keiner wollte“12. Ihr Schicksal eines raschen 12 H. Andics, Der Staat, den keiner wollte. Österreich 1918-1938, Wien 1962; W.B. Simon, Democracy in the Shadow of Imposed Sovereignty: The First Republic of Austria, in: J.J. Linz / A. Stepan (Hrsg.), The Breakdown of Democratic Regimes: Europe, Baltimore MD 1978, S. 80-121.

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Zugrundegehens der Demokratie, befördert durch den scharfen Gegensatz der politischen Lager, war allerdings in der Frühzeit nicht absehbar gewesen. Wie in der Weimarer Republik bildete eine Große Koalition den Regierungsauftakt. Sie regierte nicht ohne Innovationskraft: So wurde beispielsweise auf sozialdemokratischen Druck hin bereits 1918 das allgemeine Frauenwahlrecht auf allen politischen Ebenen eingeführt, welches zu diesem Zeitpunkt erst in wenigen anderen westlichen Demokratien bestand. Die institutionell konzentrierte Verfassungsgerichtsbarkeit wiederum leistete einen wichtigen Beitrag zum Weltbestand politischer Institutionen13. Es oblag dem langjährigen Linzer Bürgermeister der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und parlamentarischen Zeitzeugen der Jahre 1930 bis 1934, Ernst Koref (Sozialdemokratische Arbeiterpartei, SDAP; von 1945 bis 1991 Sozialistische Partei Österreichs, SPÖ), in der Zweiten Sitzung des Nationalrates in der I. Gesetzgebungsperiode des Jahres 1945 an „ehrliches Bemühen“ der Partner in der Großen Koalition zwischen 1918/19 und 1920 zu erinnern14. Gleichwohl blieb die Demokratie unter großen Teilen der politischen Elite des Landes „ein schwieriger Gegenstand über das Datum der staatsrechtlichen Begründung einer demokratischen Republik hinaus“15. Die Sozialdemokratie vermochte in der Erringung der Regierungsgewalt auf demokratischem Wege nicht viel mehr als ein Vehikel zur Durchsetzung der Interessen der Arbeiterklasse zu erkennen16. Im christlichsozialen Lager kursierten potenziell oder offen autoritäre Konzeptionen wie jene einer Führerdemokratie und einer ständischen Verfassung als populärste Ordnungsentwürfe17. Das jähe Ende der Großen Koalition im Jahr 1920 begünstigte die Entstehung eines antagonistischen ideologischen Parteienwettbewerbs, der nur wenige Jahre später nicht mehr zwischen drei politischen Lagern, sondern bipolar zwischen den Sozialdemokraten einerseits und dem „Bürgerblock“ (bestehend aus Christlichsozialen und Großdeutschen) andererseits ausgetra13 A. von Brünneck, Verfassungsgerichtsbarkeit in den westlichen Demokratien. Ein systematischer Verfassungsvergleich, Baden-Baden 1992. 14 Stenographische Protokolle (künftig StProt), 2. Sitzung des Nationalrates der Republik Österreich, 21. Dezember 1945, S. 27-28. 15 L. Helms / D.M. Wineroither, Austria sui generis? Der Vergleich als Königsweg der Demokratieforschung, in: L. Helms / D.M. Wineroither (Hrsg.), Die österreichische Demokratie im Vergleich, Baden-Baden 2012, S. 13-29, hier S. 13. 16 N. Leser, Zwischen Reformismus und Bolschewismus. Der Austromarxismus als Theorie und Praxis, Wien / Frankfurt a.M. / Zürich 1968. 17 E. Hanisch, Demokratieverständnis, parlamentarische Haltung und nationale Frage bei den österreichischen Christlichsozialen, in: A.M. Drabek / R.G. Plaschka / H. Rumpler (Hrsg.), Das Parteienwesen Österreichs und Ungarns in der Zwischenkriegszeit, Wien 1990, S. 73-86.

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gen wurde. Auch die Einführung der Direktwahl des Bundespräsidenten im Rahmen der Zweiten Bundes-Verfassungsnovelle von 1929 entsprang dem machtpolitischen Kalkül der Parteien. Paramilitärische Verbände als politische Kampfinstrumente symbolisierten die Radikalisierung ideologischer Gegensätze bereits Jahre vor der Ausschaltung des Parlamentarismus im Jahr 1933 und der Etablierung des diktatorischen Ständestaates 1933/34. Vor dem Hintergrund des Scheiterns der Ersten Republik und der zweifachen Erfahrung einer Diktatur (Ständestaat 1933/34-1938, NS-Regime 1938-1945) nimmt der politische Kurs, den die Zweite Republik einschlug, das Ausmaß von Elitenkooperation über die Lagergrenzen hinweg, die Gestalt einer kompletten Kehrtwende an. Der Staatskanzler des Jahres 1918, Karl Renner, nahm diese Rolle im Jahr 1945 erneut wahr – worin sich die Parallelen beider Republikgründungen beinahe schon erschöpfen18. Für die Sozialdemokratie (die sich nunmehr Sozialistische Partei Österreichs nannte) ergab sich die Gelegenheit – bedingt durch den bipolaren Wettbewerb der 1920er Jahre, die Suspendierung der parlamentarischen Demokratie als Überleitung zum Ständestaat und die anschließenden NS-Jahre –, nach einem Vierteljahrhundert Pause an den Regierungsgeschäften teilzuhaben. Noch war die Regierung keine Große Koalition sondern – bis zum Ausscheiden der Kommunisten 1947 – eine Allparteienregierung (trotz absoluter Mandatsmehrheit der Österreichischen Volkspartei, ÖVP). Das diskreditierte vormalige deutschnationale Lager betrat die parlamentarische Bühne, verkörpert durch den Verband der Unabhängigen (VdU), erst im Anschluss an die Nationalratswahl 1949. „Minderbelastete“ Nationalsozialisten hatten das Wahlrecht mit Verspätung erhalten. Bis zum Jahr 1966 regierte am Ballhausplatz eine Große Koalition unter ÖVP-Führung, während in der benachbarten Hofburg von der SPÖ nominierte Bundespräsidenten amtierten. In den Ergebnissen der Volkswahl des Staatsoberhaupts deuten sich Erwägungen des Machtausgleichs unter den Wählern an. Allerdings stellte die Wahl von Sozialisten keinen Hebel zur Herstellung von divided government dar. Eine stabile Regierung und die parteienstaatliche Prägung des demokratischen Prozesses ließen die Bundespräsidenten Abstand nehmen vom Gebrauch zentraler Verfassungskompetenzen: Sie übten sich trotz direkter Legitimation durch das Wahlvolk im „Rollenverzicht“19. Lediglich im Rahmen der schwierigen Regierungsbildungen 1953 und 1959 (relative

Die gewichtige Ergänzung betrifft die Verfassungskontinuität. D.M. Wineroither, Bundespräsident und Bundeskanzler: Konsens, Konflikt oder Neutralität?, in: A. Khol / G. Ofner / G. Burkert-Dottolo / S. Karner (Hrsg.), Österreichisches Jahrbuch für Politik 2006, München / Wien 2007, S. 603-623. Die Parteiführer waren in der Regierung versammelt und schufen im Verlauf der Jahrzehnte einen mächtigen extrakonstitutionellen Vetospieler: die Sozialpartnerschaft. 18 19

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Stimmenmehrheit der SPÖ, relative Mandatsmehrheit der ÖVP) legte sich das jeweilige Staatsoberhaupt gegen eine – von der ÖVP forcierte – Aufnahme der Exponenten des vormaligen „dritten Lagers“, WdU bzw. FPÖ, in die Regierung quer. Selbst der Bildung einer ÖVP-Alleinregierung im Jahr 1966 waren ernsthafte Koalitionsverhandlungen mit der SPÖ vorangegangen: der Vorsitzende der SPÖ, Bruno Pittermann, bekundete aufrichtiges Bedauern20. Die Regierungszusammenarbeit auf Landesebene lebte ohnehin fort: In den meisten Bundesländern gab es in den Landesverfassungen verankerte Proporzregierungen, in Wien eine junktimierte Beteiligung der ÖVP als Juniorpartner einer übermächtigen SPÖ. Die 1945 begründete Zusammenarbeit der beiden – verbliebenen – Lager, der SPÖ in Nachfolge der SDAP und der ÖVP als bürgerlicher Sammlungsbewegung in Nachfolge der Christlichsozialen Partei (CSP), erscheint als Absage an eine vereinzelt propagierte „Stunde Null“. Der Konsenscharakter der Nachkriegspolitik speiste sich nicht alleine aus institutionellen Weichenstellungen des Bundes-Verfassungsgesetz. Die Initialzündung für die ab 1945 vollzogene Wende weg vom Konflikt und hin zum Konsens hatte ohne Zweifel ein Lernprozess aus dem Scheitern der Ersten Republik geliefert21. Nachdem 20 M. Rauchensteiner, Die Zwei. Die Große Koalition in Österreich 1945-1966, Wien 1987, S. 10-15. Aus anderer, überaus kritischer Warte Bruno Kreisky: „Daß ich zunächst dennoch für Koalitionsverhandlungen mit der ÖVP eintrat, hing mit meinen Erlebnissen aus der Ersten Republik zusammen; ich hielt es für sehr riskant, die Volkspartei allein regieren zu lassen, weil ich die Gefahr eines Rückfalls in vergangene Zeiten nicht ganz ausschließen konnte“; B. Kreisky, Im Strom der Politik. Der Memoiren zweiter Teil, Wien 1988, S. 388. 21 Die eindringlichen Worte (und Rechtfertigungen) zweier langjähriger Spitzenpolitiker verdeutlichen diesen bewussten historischen Lernprozess. Auf Seite der ÖVP Alfred Maleta, Minister, Klubobmann im Nationalrat und Nationalratspräsident: „Was soll also die Beschuldigung politischer Gegner, sie hätten eine peinliche politische Vergangenheit, für Nutzen bringen? Jeder Angehörige unserer Generation hatte infolge der höheren Gewalt eines turbulenten Zeitgeschehens eine solche, wenn nicht sogar – mehrere politische Vergangenheiten! Maßstab für die Bewertung einer Person kann doch nicht sein, daß sie eine solche hatte, sondern nur die Art und Weise, wie sie von ihr innerlich bewältigt wurde. Deshalb konnte ich in der Zweiten Republik, trotz meiner sogenannten austrofaschistischen Vergangenheit, hohe Staatsfunktionen aus tiefem demokratischen Verantwortungsgefühl innehaben. Ganz einfach deshalb, weil ich Demokratie nicht in einem langweiligen Lehrbuch des Verfassungsrechts erlernte, sondern aus dem Lehrbuch des Lebens, nämlich des persönlichen Schicksals und der persönlichen Erfahrung eines totalitären Regimes. Wie wäre es auch anders denkbar?“; A. Maleta, Bewältigte Vergangenheit. Österreich 1932-1945, Graz 1981, S. 118-119. Aus sozialistischer Perspektive äußerte sich Adolf Schärf, Parteivorsitzender, Vizekanzler und – später – Bundespräsident: „Wenn man bedenkt, daß fast jedes sozialistische Mitglied der Provisorischen Staatsregierung während der autoritären Zeit im Gefängnis oder Anhaltelager gesessen war, dann begreift man, welch seelisches Opfer es für die Sozialisten war, mit den Faschisten von einst in der Regierung beisammenzusitzen“; A. Schärf, Österreichs Erneuerung 1945-1955, 7. Aufl., Wien 1960, S. 44.

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bereits die linke Opposition unter der konservativen Ständediktatur (1933/341938) unterdrückt worden war, litten Sozialdemokraten und Christkonservative (und Kommunisten) ab März 1938 gemeinsam unter den Verfolgungen durch das NS-Regime. Zu trauriger Berühmtheit gelangten die sogenannten „Österreicher-Transporte“, die in den auf den „Anschluss“ folgenden Monaten überwiegend hohe Funktionäre des Ständestaates, aber auch politische Repräsentanten der Linken in das Konzentrationslager Dachau verbrachten. Das politische Führungspersonal von Sozial- und Christdemokraten des Jahres 1945 deckte sich zu einem guten Teil mit den Führungskadern der Parteien vor den Jahren 1933/34 bzw. 1938. Die Kontinuität der Eliten war in sämtlichen Lagern, auch dem sich ab 1949 neu formierenden „dritten Lager“22, hochgradig gegeben: Beispiele auf der Führungsebene in Bund und Ländern sind die ÖVP-Kanzler und Parteiobmänner Leopold Figl und Julius Raab; die ÖVP-Landeshauptleute Heinrich Gleißner und Josef Reither; die SPÖ-Bundespräsidenten Karl Renner und Adolf Schärf; der FPÖParteiobmann Anton Reinthaller23. Einige Spitzenvertreter beider nach 1945 tonangebenden Parteien hatten zeitweise gemeinsam in Konzentrationslagern und unter Gestapo-Haft gelitten. In seiner Rede zur Angelobung als erster Nachkriegskanzler beschwor ÖVP-Obmann Figl den „Geist der Lagerstraße“, der sich durch geteiltes Leid und dem Ringen mit der eigenen Verantwortung an der jüngsten Geschichte herausgebildet hätte24. Die Relevanz dieser speziellen biografischen, das Kollektiv betreffenden Gemeinsamkeit lässt sich an der Person des ersten SPÖ-Kanzlers in der Zweiten Republik ablesen: Bruno Kreisky entging – als Sozialdemokrat und als Jude – durch Emigration im Sommer 1938 den Konzentrations- und Vernichtungslagern. Er hatte aber, zusammen mit inhaftierten illegalen Nationalsozialisten, den Kerker unter dem Ständestaatregime erdulden müssen. Kreiskys Berührungsängste gegenüber ehemaligen Nationalsozialisten waren gering: er verständigte sich mit dem Bundesparteiobmann der FPÖ und SS-Offizier im Zweiten Weltkrieg Friedrich Peter auf eine Tolerierung seiner Minderheitsregierung. Mehrere Mitglieder seines Kabinetts erwiesen sich als Angehörige von Nationalsozialistischer Deutscher Arbeiterpartei (NSDAP), Schutzstaffel (SS) bzw. Sturmabteilung (SA)25. Demgegenüber blieb bei ihm aus den Erfahrungen der 1930er Jahre hängen, dass die „Dollfuß-Straße … unweigerlich zu Hitler

22 L. Höbelt, Von der vierten Partei zur dritten Kraft. Die Geschichte des VdU, Graz 1999. 23 G. Stimmer, Eliten in Österreich. 1848-1970, Wien 1997, S. 955-1009. 24 StProt, 2. Sitzung des Nationalrates der Republik Österreich, 21. Dezember 1945, S. 20. 25 Dieser Umstand löste die Kreisky-Wiesenthal-Affäre aus, die sich zur KreiskyWiesenthal-Peter-Affäre ausweiten sollte.

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führen [musste]“26. Folgerichtig bilanzierte Kreisky den historisch begründeten Lerneffekt der politischen Eliten, ihre dauerhafte Regierungszusammenarbeit nach 1945 nüchtern, mit großer Distanz in allen Belangen: „In den Konzentrationslagern, auf der sogenannten ,Lagerstraße‘, war es tatsächlich zu Annäherungen gekommen zwischen Exponenten der alten Sozialdemokratie und den Revolutionären Sozialisten einerseits und Vertretern der Vaterländischen Front und des Heimwehrfaschismus andererseits. Wenn man großzügig sein wollte, konnte man dies dahingehend interpretieren, daß das gleiche Schicksal zu einer gewissen Läuterung geführt hatte; anscheinend hatte man aus der Geschichte gelernt, und es war zu einer Art Solidarität der Opfer des Nazismus gekommen“27.

Kreisky hatte, so schreibt er in seinen Memoiren, „von dieser Entwicklung auf Umwegen [erfahren] …“28. Eindeutig und ausdauernd wurde der Devise „forgive and forget“ Vorrang eingeräumt gegenüber der Alternative „punish and prosecute“29. Bürgermeister Koref bekräftigte für die SPÖ: „Wir wollen nicht in alten Wunden wühlen“30. Eine Devise, die man auf Seite von ÖVP und SPÖ aus machtstrategischen Überlegungen bald auch auf den Umgang mit der Gruppe der (ehemaligen) Nationalsozialisten ausdehnte. Nur selten durchbrach die wechsel- und unheilvolle jüngere Geschichte, die Frage der geteilten, aber ungleichen Verantwortung zuerst am Niedergang der demokratischen Republik und wenig später des Staates Österreich, den Schild des Schweigens. Eine erste Eruption vergangener Ereignisse im Nationalrat spülte sich in der 28. und 29. Sitzung am 24. bzw. 25. Juli 1946 an die Oberfläche. Am ersten Tag entfachten sich die Konflikte an der Debatte um das Nationalsozialistengesetz, am zweiten lieferte ein Verfassungsgesetz mit dem Zweck der Eliminierung des Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetztes von 1917 Anlass für sehr emotionale Redebeiträge. Der ÖVP-Abgeordnete Anton Frisch, selbst ehemaliger Insasse im Konzentrationslager Dachau, warf den Sozialdemokraten in der Sitzung am 24. Juli vor, die eigentlichen Totengräber der Ersten Republik gewesen zu sein: „Torpediert wurde ja die Republik, die demokratische Republik, sie wurde aber nicht torpediert von den Faschisten, von den ,Austrofaschisten‘, torpediert wurde sie von den Rotfaschisten!“31. In derselben Sitzung, rund um den Beschluss des Verbots des Nationalsozialismus, streicht der betreffende Abgeordnete die angebliche 26 B. Kreisky, Zwischen den Zeiten. Erinnerungen aus fünf Jahrzehnten, 2. Aufl., Berlin 1986, S. 265. 27 B. Kreisky, Strom der Politik, S. 51. 28 Ebd. 29 S.P. Huntington, The Third Wave, S. 211-230. 30 StProt, 2. Sitzung des Nationalrates der Republik Österreich, 21. Dezember 1945, S. 28. 31 StProt, 28. Sitzung des Nationalrates der Republik Österreich, 24. Juli 1946, S. 609.

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Höherwertigkeit des konservativen Widerstands gegen den Nationalsozialismus hervor: „Wenn wir heute hier das erste Mal davon sprechen, so geschieht es aus ganz bestimmten Gründen. Sie sollen nicht glauben, daß wir für die Zukunft dulden, daß Österreicher, die im Kampfe gegen den Nazismus, den hier ein Gesetz verbieten soll, gekämpft und geblutet haben, verunglimpft werden. Uns sind eben diese Männer als Österreicher wertvoll, wertvoller als die, die in dem Kampf abseits gestanden sind oder in der großen Gefahr in die Emigration gingen. Wir müssen Ihnen das einmal mit aller Deutlichkeit sagen und dann machen wir einen Strich“32.

Tags darauf tritt der Abgeordnete Eduard Weikhart für die SPÖ an, um die Haltung seiner Partei zur Verantwortung am Untergang zu verdeutlichen: „Das kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz hat dem Faschismus in Österreich Tür und Tor geöffnet, und viele Herren, die es damals mit Freude gutgeheißen haben oder aber auch zu feige waren, dagegen aufzutreten, stehen heute wieder im öffentlichen Leben und tun so, also ob sie stets die Demokratie mit dem Großen Löffel gegessen hätten, und sie sind sehr verschnupft, wenn man ihren beteuerungsvollen demokratischen Versicherungen nur wenig glauben schenken will … Wenn gestern erklärt wurde, daß sich die Mehrheit des Hauses ein für allemal verbeten haben will, davon zu reden, so nehmen Sie von uns schlicht und einfach zur Kenntnis, daß wir im Kampf gegen den Faschismus für das demokratische Österreich schon seit Februar 1934 die größten Opfer gebracht haben“33.

Bereits im Mai des Jahres hatte der Sozialdemokrat Heinrich Widmayer revisionistische Tendenzen beklagt: „Ich bin selbst während des elfjährigen Faschismus zur Genüge durch die KZ und Gefängnisse gewandert“34. Und weiter: „Ich denke, man hätte schon zwischen Kzlern und Kzlern unterscheiden müssen“35. Weitere Anlässe für eine konflikthafte Erörterung der jüngeren Polithistorie lieferten die Rückkehr des „dritten Lagers“ auf die parlamentarische Bühne im Jahr 1949 und die Kür Julius Raabs als eines ehemaligen hohen Funktionärs des Ständestaates zum Bundeskanzler 1953, diesmal unter lebhafter Beteiligung der KPÖ. An die Regierungserklärung im November 1949 schloss sich, wie der langjährige ÖVP-Minister Fritz Bock verwundert bemerkte, „eine Debatte über ganz andere Dinge“ an. Bock bekundet, dass er „als Vertreter derer in meiner Partei zu sprechen habe, die ebenfalls zwischen 1938 und 32

StProt, 28. Sitzung des Nationalrates der Republik Österreich, 24. Juli 1946,

S. 610. 33

StProt, 29. Sitzung des Nationalrates der Republik Österreich, 25. Juli 1946,

S. 687. 34

StProt, 17. Sitzung des Nationalrates der Republik Österreich, 23. Mai 1946,

S. 293. 35

S. 294.

StProt, 17. Sitzung des Nationalrates der Republik Österreich, 23. Mai 1946,

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1945 hinter Stacheldraht und Kerkermauern gesessen sind“36. Der sozialistischen Abgeordneten Rosa Jochmann blieb es vorbehalten, dezent auf die längere Leidensgeschichte von Sozialdemokraten hinzuweisen: „… daß wir gerade in den Jahren der Unterdrückung von 1934 bis 1945 gelernt haben, die Demokratie zu achten und die Demokratie zu schätzen“37. In den betreffenden Sitzungen führten ÖVP und SPÖ politische Verfolgung als moralisches Faustpfand ins Treffen und traten beinahe ausschließlich Abgeordnete mit KZ-Vergangenheit als Wortführer in Erscheinung. Eine Rede Raabs zur Versicherung der Parteigefolgschaft an Figl illustriert diesen instrumentellen Zusammenhang unter Verwendung seltsam anmutender Diktion: „Die österreichische Volkspartei wird unsere nette Regierung bei allen schwierigen Fragen der kommenden Tage getreu unterstützen. Vor allem aber will sie dem Kanzler, den die Feinde Österreichs nicht beugen noch brechen konnten, der 68 Monate in den Straflagern dieses Untermenschentums verbringen mußte, treue Gefolgschaft halten“38.

Der KPÖ-Abgeordnete Johann Koplenig replizierte Jahre später bissig: „Wir erinnern uns daran, wie 1945/46, ja noch 1949 die ÖVP den Kanzler Figl als den Kanzler von Dachau auf den Schild gehoben hat, um den Anschein eines antifaschistischen demokratischen Regierungskurses zu erwecken“. Nun sei, mit dem erfolgten Wechsel von Figl auf Raab, gleichsam die Maske gefallen: „Raab repräsentiert nicht für die faschistische Vergangenheit, sondern auch die kapitalistische Gegenwart“39. Das Stehenbleiben vor einer generalisierenden Zuschreibung gleichwertiger Verantwortung für den Niedergang der jungen Demokratie verstellte den Blick auch auf die Tatsache, dass die Vorgängerparteien der nunmehrigen Staatsparteien keine vorbehaltlose Akzeptierung demokratischer Grundregeln gepflegt hatten. Sie war Teil des „großen Tabus“40, das sich sowohl auf die Jahre 1933/34-1938 als auch auf die Verstrickung vieler Österreicher in die Verbrechen des Nationalsozialismus erstreckte (der Mythos von Österreich

36 StProt, 2. Sitzung des Nationalrates der Republik Österreich, 9. November 1949, S. 46. 37 StProt, 2. Sitzung des Nationalrates der Republik Österreich, 9. November 1949, S. 44. 38 StProt, 2. Sitzung des Nationalrates der Republik Österreich, 21. Dezember 1945, S. 35. 39 StProt, 4. Sitzung des Nationalrates der Republik Österreich, 16. April 1953, S. 29. 40 A. Pelinka / E. Weinzierl, Das große Tabu: Österreichs Umgang mit seiner Vergangenheit, Wien 1987; A. Pelinka, Von der Funktionalität von Tabus. Zu den „Lebenslügen“ der Zweiten Republik, in: W. Kos / G. Rigele (Hrsg.), Inventur 45/55. Österreich im ersten Jahrzehnt der Zweiten Republik, Wien 1996, S. 23-32.

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als erstem Opfer Hitler-Deutschlands41), und es reichte überdies tief in die akademische Wissenschaft und den diesbezüglichen Platzhirsch Geschichtswissenschaft hinein. Die Beschäftigung mit dem Scheitern der Ersten Republik und dem Ständestaat erfolgte spät und selbst dann überwiegend in den schmalen Bahnen einer „Koalitionsgeschichtsschreibung“42. Die zur Staatsdoktrin erhobene These von Österreich als erstem Opfer des Dritten Reiches, die einen re-education-Ansatz von vornherein vereitelte, ging mit einer Tabuisierung der jüngeren Historie des Landes einschließlich der Jahre ständestaatlicher Diktatur einher und bewirkte eine späte Etablierung von Politischer Bildung als Schulfach und Politikwissenschaft als akademischer Disziplin43. Dass der propagierte „antifaschistische Grundkonsens“, im Jahr 1945 rasch zur Staatsräson erhoben, dem „Geist der Lagerstraße“ entsprungen sein soll, ist eher den Gründungsmythen der Zweiten Republik zuzurechnen: Die Existenz eines äußeren Gegners oder einer außenpolitischen Abhängigkeit, der alle Gesellschaftssegmente gleichermaßen ausgeliefert sind, gehört mit zu den wichtigsten Faktoren, welche die Hervorbringung einer Konkordanzdemokratie begünstigen44. Das warnende Beispiel der deutsch-deutschen Teilung alleine mahnte zu außenpolitischer Einigkeit und geschlossenem Auftreten der Führung der bis 1955 unter Souveränitätsvorbehalten agierenden Republik. Die schlussendlich Episode bleibende Debatte um die Verstaatlichung der Zistersdorfer Ölquellen in den Anfangsjahren der Zweiten Republik verdeut-

41 Bundesregierung und gesellschaftliche Eliten beriefen sich auf die Moskauer Deklaration der Außenminister der alliierten Mächte vom 1. November 1943. Die Alliierten bekannten sich darin zur Wiederherstellung der staatlichen Souveränität Österreichs in den Grenzen von 1938. Den Umstand eines ebenfalls festgehaltenen Anteils von Österreich bzw. Österreichern an NS-Verbrechen ignorierte das offizielle Nachkriegsösterreich. Selbst die linke Intelligenz verharrte in weitgehender Abschottung gegenüber den politischen und kulturellen Vorgängen in Westdeutschland, T. Kroll, Kommunistische Intellektuelle in Westeuropa, Frankreich, Österreich, Italien und Großbritannien im Vergleich (1945-1956), Köln 2007, S. 270. 42 T. Angerer, An Incomplete Discipline: Austrian Zeitgeschiche und Recent History, in: G. Bischof / A. Pelinka / R. Steininger (Hrsg.), Austria in the Nineteen Fifties, New Brunswick NJ / London 1995, S. 207-251, S. 222-223. Die wissenschaftliche Bearbeitung des politischen Nieder- und Untergangs der Ersten Republik erfolgte wesentlich durch die publizierten Tagungsbeiträge im Rahmen von Sitzungen der „Wissenschaftlichen Kommission des Theodor-Körner-Stiftungsfonds und des LeopoldKunschak Preises zur Erforschung der Österreichischen Geschichte der Jahre 1927 bis 1938“. 43 W. Sander, Aufgaben und Probleme politischer Bildung in Österreich, in: L. Helms / D.M. Wineroither (Hrsg.), Die österreichische Demokratie im Vergleich, S. 403-422. 44 M. Bogaards, The Favourable Factors for Consociational Democracy: A Review, in: European Journal of Political Research, 33 (1998), S. 475-496.

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licht diesen Zusammenhang: Schärf schreibt von einer „Schicksalsfrage“45 und einer „Entscheidung über die Zukunft unseres Landes“46. Die Sowjetunion hatte zu einer Ausbeutung der Vorkommen in Kooperation mit der österreichischen Seite gedrängt, die eine einseitige Bindung des Landes an die Besatzungsmacht aus dem Osten heraufbeschworen hätte. Den Ausschlag gegen die „russische“ Lösung gaben dabei – in Anbetracht gespaltener Meinungen innerhalb der Parteien – Allianzen über die Parteigrenzen hinweg47. Die als Folge des Staatsvertrages in die Verfassung aufgenommene Verpflichtung zur „immerwährenden Neutralität“ (26. Oktober 1955) des Landes schließlich ebnete den Weg zu einem tragfähigen außenpolitischen Grundkonsens über das Datum der Wiedererlangung vollständiger Staatssouveränität hinaus48. Überhaupt dominierte in den allerersten Monaten der Zweiten Republik eine Unübersichtlichkeit der politischen Lage, die eingefahrene Interessengegensätze in Bewegung gerieten ließ: Unsicherheit der politischen Führung über den Rückhalt in der Bevölkerung (den eigenen oder vor allem jenem der KPÖ) und über die Politik der Besatzungsmächte, das Fehlen der Sichtweisen aus dem Westen Österreichs49. Schärf zeigte sich im Rückblick verwundert über manchen Inhalt der „Programmatischen Leitsätze“, denen sich die ÖVP im Juni 1945 verschrieben hatte und denen, wie sich bald herausstellen sollte (konkret im September desselben Jahres), eine kurze Dauer beschieden war: das Begehren eines zentralistischen Einheitsstaats, die Forderung nach Zulassung – nicht aber Erhaltung – konfessioneller Schulen durch die öffentliche Hand sowie die „Sozialisierung und Kommunalisierung lebenswichtiger Betriebe“50. Die außen- und sicherheitspolitische Neutralität, ursprünglich ein Erfordernis der damaligen weltpolitischen Lage, das aber rasch politisch sinnstiftend und identitätsbildend wirkte, sollte nicht den Blick auf die schon bald nach dem Wiederentstehen Österreichs ganz entschiedene prowestliche Haltung von ÖVP und SPÖ sowie der ganz überwiegenden Mehrheit in der Bevölkerung verstellen. Bezeichnenderweise herrschte in Washington (wo die Regierung des Landes eine Zusammenarbeit der moderaten Parteien forciert hatte) die A. Schärf, Österreichs Erneuerung, S. 68. Ebd., S. 71. 47 Ebd., S. 68-71. 48 Die ungebrochene Popularität der Neutralität im österreichischen Volk forderte den damaligen Bundeskanzler Wolfgang Schüssel (ÖVP) in einer Rede vor dem Nationalrat am Nationalfeiertag 2001 zu einer häufig zitierten Provokation heraus: „Die alten Schablonen – Lipizzaner, Mozartkugeln oder Neutralität – greifen in der komplexen Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts nicht mehr“; StProt, 97. Sitzung des Nationalrates der Republik Österreich, 26. Oktober 2001, S. 138. 49 M. Rauchensteiner, Die Zwei, S. 18-40. 50 A. Schärf, Österreichs Erneuerung, S. 74. 45 46

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Einschätzung vor, dass in den Staatsvertragsverhandlungen der Österreicher mit der sowjetischen Seite in Moskau „vor allem der sozialdemokratische Vizekanzler Adolf Schärf und SPÖ-Staatssekretär Bruno Kreisky als Garanten für die Einbringung der US- und westalliierten Vorstellungen“51 taugten. Das Vertrauen in die Haltung von Bundeskanzler Raab und Außenminister Figl (beide ÖVP) fiel demgegenüber geringer aus. Oliver Rathkolb nennt den weit verbreiteten Antikommunismus treffend „eine verdrängte Komponente der österreichischen Identität“52 im Reifungsprozess jener Jahre. Im Zeichen des sich verschärfenden Ost-West-Konflikts hatte die österreichische Sozialdemokratie nicht nur ihren traditionellen staatsaffirmativen Kurs beibehalten, sondern für klare Fronten in der Beziehung zur radikalen Linken gesorgt: Die Kommunisten hatten bereits 1947 aus Protest gegen die von der Regierung verabschiedete Währungsreform (in Erfüllung einer Vorbedingung für die Inanspruchnahmen von Mitteln aus dem Marshallplan) ebendiese verlassen. Das entschiedene Auftreten sozialdemokratischer Gewerkschafter gegen Streikaktivitäten im Herbst 1950, die mit einer historisch fragwürdigen „Putsch-Metapher“ belegt wurden, brachte angesichts des weit verbreiteten Antikommunismus die strategisch überaus willkommene Gelegenheit für die SPÖ hervor, sich „endgültig vom Verdacht freizuspielen, sie plane eine Einheitsfront mit der KPÖ“. Die Partei galt fortan „endgültig als antikommunistische Gruppierung“53. Ihre Vorbehalte und Ablehnung formalisierte die SPÖ schließlich durch eine Versagung von Zusammenarbeit auf allen politischen Ebenen in der Eisenstädter Erklärung vom 2. Oktober 1969 – eine Reaktion auf die Niederschlagung des Prager Frühlings im Jahr davor und auch auf die negativen Folgen der Nichtzurückweisung einer Wahlempfehlung durch die KPÖ im Nationalratswahlkampf 1966, welche der Partei viele Stimmen gekostet und nicht unwesentlich zur Erringung der absoluten Mandatsmehrheit durch die ÖVP beigetragen haben dürfte.

51

O. Rathkolb, Die paradoxe Republik. Österreich 1945 bis 2005, Wien 2005,

S. 269. Ebd., S. 31. Ebd., S. 127. Folgt man den Schilderungen Franz Olahs (SPÖ), später Innenminister und Präsident des Österreichischen Gewerkschaftsbundes (ÖGB), war ein Graben zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten selbst entlang der Lagerstraße im Konzentrationslager Dachau verlaufen: Es habe den „Geist der Lagerstraße“ gegeben „[z]wischen bestimmten Gruppen. Bei den Österreichern war er sehr stark ausgeprägt, den Roten und den Schwarzen. Nicht bei den Kommunisten! Wenn sie was ergattert haben, hat man keinen Bissen abgekriegt. Sie waren unkameradschaftlich, gehässig bis zum Letzten. Als wir in Dachau angekommen sind, haben sie gesagt: Na endlich, wir haben schon gewartet, dass ihr kommt! In manchen Dingen waren sie nicht besser als die SS.“ http://diepresse.com/home/kultur/news/354363/Schuschniggwar-ein-armer-Mann (Stand: 3. April 2013). 52 53

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Außen- und staatspolitische Lage im Verbund mit machtpolitischen Erwägungen der Regierungsparteien hatten die Weichen damit frühzeitig und entschieden in Richtung eines großkoalitionären Interventions- und Proporzstaates gestellt54. Hartnäckiges wechselseitiges Misstrauen lebte hingegen fort: Das Koalitionsleben wurde in eng sitzende Korsette besonders umfangreicher Koalitionsabkommen gezwängt; häufig und abschnittweise inflationär erfolgte die Verabschiedung von Gesetzen im Verfassungsrang; und man unterwarf die Aktivitäten in der ersten Parlamentskammer einer Regulierung, die entschieden dichter war als in den deutschsprachigen Nachbarländern55. Hier schließt sich gleichsam der Kreis: Die beiden annähernd gleich großen Lager (Sozialdemokratie und Christdemokratie) mussten im Sinne der cleavage theory die Möglichkeit in Rechnung stellen, dass ihnen durch bereits geringfügige gesellschaftliche Veränderungen nicht alleine zur strukturellen Mehrheit verholfen würde. Auf gleicher Grundlage waren sie bedroht, in die Position einer strukturellen Minderheit manövriert zu werden. Das Schicksal der Sozialdemokratie in der Ersten Republik, das zum Trauma werden sollte: Noch 1932 hatte die Sozialdemokratie die Gelegenheit zur Bildung einer Großen Koalition und die kommende Bedrohung einer Suspendierung der Demokratie mit festem marxistischem Blick auf das natürliche Anwachsen zur Mehrheit verkannt. Auf der Ebene konkreter Handlungslogiken beförderte diese Konstellation nach 1945 aber die Einsicht der maßgeblichen politischen Akteure in eine übergeordnete Aufgabe der wechselseitigen gesellschaftlichpolitischen Integration in Form einer Absage an eine Wahrnehmung von Politik ausschließlich oder zuvorderst als „Nullsummenspiel“56. Das neue Credo lautete demgegenüber, dass durch kooperatives Verhalten ein Mehrwert für alle Beteiligten geschaffen werden kann. Allerdings hatte die Konstellation zweier in etwa gleich starker Blöcke auch die politische Re-Integration ehemaliger Nationalsozialisten befeuert. Die Befriedung des Klassenkonfliktes beschritt die Große Koalition im Parteienstaat auch auf dem Weg der Nationalisierung von Schlüsselindustrien und des Aufbaus eines moderat umverteilenden Wohlfahrtsstaates. Als organisatorisches Vehikel diente die Sozialpartnerschaft, die eine deutliche 54 A. Pelinka, Koalitionen in Österreich: Keine westeuropäischen Normalität, in: S. Kropp / S.S. Schüttemeyer / R. Sturm (Hrsg.), Koalitionen in West- und Osteuropa, Opladen 2002, S. 69-87, hier S. 75, 79, 81. 55 U. Sieberer / W.C. Müller / M.I. Heller, Reforming the Rules of the Parliamentary Game: Measuring and Explaining Changes in Parliamentary Rules in Austria, Germany, and Switzerland, 1945-2010, in: West European Politics, 34 (2011), S. 948975, hier S. 960. 56 G. Lehmbruch, Das konkordanzdemokratische Modell in der vergleichenden Analyse politischer Systeme, in: H. Michalsky (Hrsg.), Politischer Wandel in konkordanzdemokratischen Systemen, Vaduz 1991, S. 13-24.

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Absage an den „alten“ autoritären Korporatismus verkörperte. Ab 1953 vereinigte Raab bezeichnenderweise das Amt des Bundeskanzlers, des ÖVPBundesparteiobmannes und des Präsidenten der Bundeswirtschaftskammer. Die beiden großen Parteien trieben den Aufbau der Sozialpartnerschaft mit Elan voran (u.a. Einrichtung der „Paritätischen Kommission für Lohn- und Preisfragen“ 1957). Die sozialpartnerschaftliche Achse funktionierte selbst während der Alleinregierungsphase 1966 bis 1983 weitgehend reibungslos. Die Sozialpartnerschaft bildete historisch gesehen keineswegs einen Fremdkörper oder ein neu eingeführtes Element institutionalisierter Verhandlungen. In Gerhard Lehmbruchs Arbeiten findet sich unter anderem der Verweis auf ein gemeinsames historisches Erbe: angesiedelt auf dem Gebiet Westmitteleuropas und angereichert durch spezifische staatsrechtliche Traditionen, die Erfahrungen mit Religionskonflikten, Formen des Zunftwesens und ständischer Einrichtungen57. Hinzu kommt auf österreichischer Seite das Moment der habsburgischen „Doppelmonarchie“ mit einer außergewöhnlich hohen Staatsquote58, die ein Naheverhältnis zu dem später ausgiebig gepflegten Etatismus der Sozialpartnerschaft anzeigt und eine Kontinuität des Staatsinterventionismus greifbar macht, die ihren Höhepunkt in der mobilisierten Gesellschaft und dem mobilisierten Staat im Dritten Reich erreichte.

III. Die Zweite Republik Österreich als Prototyp? Die Zweite Republik war von ihren Anfängen bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts eine eindeutige Vertreterin einer Konkordanz- und auch einer Konsensdemokratie. Das politikwissenschaftliche Konzept der Konsensusdemokratie ist eng mit jenem der Konkordanzdemokratie verwandt, aber breiter definiert59. Es umfasst drei Dimensionen der Verhandlungsdemokratie: 57 G. Lehmbruch, Die korporative Verhandlungsdemokratie in Westmitteleuropa, in: Swiss Political Science Review, 2 (1996), S. 19-44. Maleta befand in einem vielsagenden – auch geschichtsrevisionistischen – Rückblick den „Grundgedanke[n] der Parität zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern richtig“, so wie er grundsätzlich bereits im Ständestaat vorgesehen war, „weil er einem echten demokratischen Prinzip entsprach“. Und er schlägt den Bogen zur Einrichtung der Sozialpartnerschaft: „Ich verweise bloß auf die ,Paritätische Lohn- und Preiskommission‘ in der Zweiten Republik, die ich einmal, natürlich nur im Spaß, als das Organ eines modernen ,marxistischen Ständestaates‘ bezeichnete …“; A. Maleta, Bewältigte Vergangenheit, S. 114. 58 H. Obinger, Das Staatstätigkeitsprofil der Zweiten Republik im internationalen Vergleich, in: L. Helms / D.M. Wineroither (Hrsg.), Die österreichische Demokratie im Vergleich, Baden-Baden 2012, S. 317-338. 59 A. Lijphart, Democracies. Patterns of Majoritarian and Consensus Government in Twenty-One Countries, New Haven CT 1984, sowie ders., Patterns of Democracy. Lijphart selbst verwendet mittlerweile „,power-sharing‘ as a synonym for consociational

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parteipolitische Konkordanz, ein neo-korporatistisches System der Interessenvermittlung und institutionelle Vetospieler60. Anders als der Übergang vom Konflikt zum Konsens in der parteipolitischen Arena, der paradigmatische Züge trägt, konnte die österreichische Demokratie nach 1945 allerdings in keiner Lebensphase beanspruchen, den Prototyp einer solchen Demokratieform darzustellen. Das Musterbeispiel einer Konsensdemokratie verkörperte bis ungefähr zur Jahrtausendwende die Schweiz, scheint seitdem aber durch das in dieser Hinsicht exponiertere Belgien abgelöst worden zu sein61. Einige Kernelemente der Konsensdemokratie repräsentierte die Zweite Republik par excellence und wie keine andere westliche Demokratie, während andere Wesenszüge nur höchst eingeschränkt oder überhaupt nicht vorhanden waren. Zweites betrifft die Art und Weise gesellschaftlicher Fragmentierung und Polarisierung, die es zu überwinden bzw. zu befrieden gilt. Aus der Bewältigung dieser Herausforderung und bereits dem Versuch dazu bezieht Konkordanz ihre Legitimation. Die Erste und Zweite Republik Österreich weisen in dieser Hinsicht ein ganz und gar nicht konkordantes Profil auf: Während im Einklang mit der cleavage theory die Zahl der Parlamentsparteien über Jahrzehnte und Generationen hinweg in Belgien, den Niederlanden und der Schweiz konstant hoch geblieben ist, dominierten in Österreich zwischen 1945 und Mitte der 1980er Jahre zwei Parteien die parlamentarische Bühne, die neun von zehn gültigen Stimmen in Nationalratswahlen (bei jeweils hoher Wahlbeteiligung) auf sich vereinten62. Im Anschluss an die Rückkehr eines dezimierten „dritten Lagers“ in das Parteiensystem nach Wiedererlangung des Wahlrechts durch Minderbelastete, zunächst als VdU und WdP, ab 1956 in Form der FPÖ, handelte es sich um ein stabiles und vom Machtwechsel 1970/71 bis zur „kritischen“ Wahl 1986 um ein hyperstabiles Zweieinhalbparteiensystem. Trotz Konzentrationsprozessen in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten, welche die Entwicklung in der Schweiz charakterisieren, und Dekonzentrationsprozessen, die in diesem Zeitraum in Österreich stattfanden, heben sich Zahl und Größenschichtung der Parlamentsparteien hierzulande noch immer markant vom Rest der Bezugsgruppe (den übrigen kontinentalen democracy“, ders., Definitions, Evidence, and Policy. A Response to Matthijs Bogaards’ Critique, in: Journal of Theoretical Politics, 12 (2000), S. 425-431, hier S. 426. 60 K. Armingeon, The Effects of Negotiation Democracy: A Comparative Analysis, in: European Journal of Political Research, 41 (2003), S. 81-105. 61 A. Vatter, Vom Extremtyp zum Normalfall? Die Schweizerische Konsensusdemokratie im Wandel. Eine Re-Analyse von Lijpharts Studie für die Schweiz von 1997 bis 2007, in: Swiss Political Science Review, 14 (2008), S. 1-47. 62 D.M. Wineroither / H.K. Kitschelt, Die Entwicklung des Parteienwettbewerbs in Österreich im internationalen Vergleich, in: L. Helms / D.M. Wineroither (Hrsg.), Die österreichische Demokratie im Vergleich, S. 193-221, hier S. 209-210.

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Konkordanzdemokratien) ab63. Gleichzeitig handelt es sich um eine Auffälligkeit in der Gesamtschau westlicher Demokratien als Folge des Anwendung findenden Wahlrechts: Es existieren nur sechs Länder, in denen Zweieinhalbparteiensysteme in langfristiger Perspektive das dominante Format des Parteienwettbewerbs darstellen, und alleine in Deutschland und Österreich ist dies angesichts eines Verhältniswahlrechts mit schwach ausgeprägten Effekten der Disproportionalität der Fall. Für die hyperstabile Phase der 1970er Jahre resümiert Alan Siaroff diese spezifische Komposition eines Parteiensystems dann überhaupt als „a ,Germanic‘ (including Austrian) and ,British legacy‘ (Australia, Canada, Ireland) phenomenon“64. Die konkordanten Kernkriterien einer Großen Koalition und einer tripartistischen Interessen- und Verbändepolitik erfüllte die Zweite Republik hingegen wie kein zweiter Staat. Im Rahmen einer beachtlichen Bandbreite an realisierten Koalitionsformen – zu Beginn einer Allparteienregierung (1945-1947), später Alleinregierungen mit und 1970/71 ohne Mehrheitsstatus (1966-1983), kleine Koalitionen in den Jahren 1983-1987 und 2000-2007 – beschreibt sie doch die ganz überwiegend gebildete Variante, die in keinem anderen Land derart dominant ist: Zwischen 1947 und Mitte 2014 regierten die beiden österreichischen Volksparteien in unterschiedlichen Konstellationen für mehr als 37 Jahre miteinander – innerhalb der Familie der parlamentarischen Demokratien Europas der unangefochtene Spitzenwert65. Die Praxis der Bildung Großer Koalitionen in Österreich stellt darüber hinaus, isoliert von anderen Kriterien, einen vorzüglichen Indikator für konkordante Substanz im politischen System dar. Im internationalen Vergleich zeigt sich, dass Große Koalitionen meist deshalb eingegangen werden und damit ein Regieren auf Augenhöhe in Kauf genommen wird, um ein Gegengewicht gegenüber externen Vetospielern im politischen System zu schaffen bzw. die Regierung als machtpolitisches Gravitationszentrum zu festigen. Erst die Existenz eines starken externen Vetopunkts ergänzend zum parlamentarischen Regierungssystem und Mehrparteiensystem macht „ein stabiles Muster inklusiver Kabinette wesentlich wahrscheinlicher“66. Im Falle einer 63 D.M. Wineroither, Windstille oder Fahrtwind? Wandel und Zukunftsfähigkeit österreichischer Konkordanz, in: S. Köppl / U. Kranenpohl (Hrsg.), Konkordanzdemokratie – ein Demokratietyp der Vergangenheit?, Baden-Baden 2012, S. 73-97, hier S. 75. 64 A. Siaroff, Two-and-a-Half-Party Systems and the Comparative Role of the Half, in: Party Politics, 9 (2003), S. 267-290, hier S. 287. 65 L. Helms / D.M. Wineroither, Demokratischer Prozess und Koalitionsbildung in der Zweiten Republik Österreich, in: F. Decker / E. Jesse (Hrsg.), Die deutsche Koalitionsdemokratie vor der Bundestagswahl 2013, Baden-Baden 2013, S. 561-576. 66 S. Ganghof, Resiliente Demokratietypen: Eine vergleichende Analyse, in: Zeitschrift für Vergleichende Politikwissenschaft, 4, 2010, S. 5-27, hier S. 23.

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Kombination aus einem vergleichsweise konzentrierten Parteiensystem und wenigen oder schwachen regierungsexternen Vetopunkten, wie dies in der österreichischen Realverfassung der Fall ist, findet eine großkoalitionäre Praxis in der Familie der liberalen Demokratien de facto einzig in diesem Land statt67. Damit ist allerdings nicht mehr gesagt, als dass bis in die Mitte der 1980er Jahre (oder Mitte der 1970er Jahre, falls man die Programmkonvergenz von SPÖ und ÖVP in Rechnung stellt) das grand coalition-Kriterium für sich genommen Österreich unzweifelhafter als beispielsweise Belgien und die Niederlande als eine Konkordanzdemokratie auswies. Von den 1960er Jahren bis zur Jahrtausendwende, konkret bis zur Etablierung der schwarz-blauen „Wende“ im Februar 2000, war Österreich „the country of corporatism“68. Auch in dieser Hinsicht hat die politikwissenschaftliche Forschung handfeste makroökonomische Gründe für die Etablierung dieser Form ausgedehnter politischer Kooperation festgehalten. So besagt die zu großer Bekanntheit gelangte These von Peter Katzenstein, dass kleinere Staaten, deren Volkswirtschaft eng mit dem Weltmarkt verflochten und damit von diesem abhängig sind, bewusst auf neokorporatistische Interessenvermittlung setzten, um den internationalen Stürmen zu trotzen – gleichermaßen mit Blick auf die Interessen von Arbeitnehmern in „geschützten“ und „ungeschützten“ Sektoren69. Erst ein flexibles, einstudiertes und bewährtes Interessenausgleichsystem ermöglichte demnach notwendige Anpassungen an sich verändernde Wettbewerbsbedingungen. Ständische und etatistische Traditionen gingen unter sozialistischer Hegemonie in den 1970er Jahren in eine stark nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik über: den Austrokeynesianismus.

IV. Von der Zeitenwende zur Windstille – Die „goldene Ära“ des Wohlfahrtsstaates Zum Zeitpunkt der Reifung des politikwissenschaftlichen Konzepts waren die Konkordanzdemokratien ihrer elementarsten Grundlage bereits mehr oder weniger beraubt gewesen: Die Lagerkultur hatte sich bis zu den 1960er Jahren weit zurückgezogen. Die zu befriedenden gesellschaftlichen Konflikte waren weitgehend verschwunden „not, it is worth emphasizing, as a result of the failure of consociation democracy, but because consociationalism by its very Ebd., S. 18. F. Traxler, Austria: Still the Country of Corporatism, in: A. Ferner / R. Hyman (Hrsg.), Changing Industrial Relations in Europe, 2. Aufl., Oxford / Malden 1998, S. 239-261; A. Siaroff, Corporatism in 24 Industrial Democracies: Meaning and Measurement, in: European Journal of Political Research, 36 (1999), S. 175-205. 69 P.J. Katzenstein, Small States in World Markets: Industrial Policy in Europe, Ithaca NY 1985. 67 68

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success has begun to make itself superfluous“70. Tatsächlich bedeuten auch jüngere empirische Studien in umfassenden Ländervergleichen eine höhere politische Systemzufriedenheit der Bürger in Konsensdemokratien gegenüber Mehrheitsdemokratien71. Für die in jenen Jahren noch junge Zweite Republik bedeutet dies, zumal angesichts der wenig günstigen Ausgangsbedingungen auch der 1945 wiederbegründeten Republik, eine ökonomische wie politische Erfolgsgeschichte, die sich in den ersten Jahren ihres Bestehens nicht erahnen ließ. Freilich fand diese Entwicklung nicht vollständig losgelöst vom internationalen Umfeld statt: Die westlichen Demokratien insgesamt bewegten sich in der Nachkriegszeit auf die „Goldene Ära des Wohlfahrtsstaates“ zu, die ihren Höhepunkt rund um das Jahr 1980 finden sollte. Seit der Wiedererringung seiner vollständigen Souveränität im Jahre 1955 und den ersten großen Machtwechseln von 1966 und 1970/71 nimmt Österreich nach allen gängigen Kriterien einen festen Platz im Kreis der konsolidierten liberalen Demokratien ein. Gewandelt hatte sich in den Jahrzehnten zuvor nicht ausschließlich das Verhältnis der politischen Eliten zueinander. Auch die politische Kultur in der breiten Bevölkerung nahm neue Züge an, wenngleich diese Veränderungen an der Basis auf ein seltsames Unentschieden zwischen Untertanenmentalität und kritischem Bürgerdasein zuliefen: Eine berühmte ländervergleichende Studie „found Austrians generally to see their government as having low responsiveness and their individual potential for influence as low in both an absolute and relative sense, this did not appear to lead to a serious feeling of dissatisfaction with the policy performance of the government“72.

Die Verhaftung im Milieu, der lebensweltliche und oftmals segregierende Anteil an der Lagerkultur hatte sich trotz parteienstaatlicher Überformung wie der Mitgliedschaft in Vorfeldorganisationen der Parteien (u.a. Autofahrerclubs, Sport- und Freizeitvereine) weitgehend aufgelöst. Über die Jahrzehnte hinweg verschoben sich die Gewichte zwischen jenen Faktoren, die Anteil an der Bildung, und jenen Faktoren, die Anteil an der Aufrechterhaltung sozial und kulturell homogener Milieus hatten. Im Zeitverlauf nahm die vertikale Integration von oben nach unten zu: In einer bahnbrechenden politischen Kulturstudie für sieben Länder und den Zeitraum 1967 bis 1971 hielten die Autoren fest, dass Österreich und die Niederlande die „two countries in our 70 A. Lijphart, Unequal Participation: Democracy’s Unresolved Dilemma, in: American Political Science Review, 91 (1997), S. 1-14, hier S. 1-2. 71 J. Bernauer / A. Vatter, Can’t get no Satisfaction with the Westminster Model? 72 S.H. Barnes u.a., Political Action: Mass Participation in Five Western Democracies, Beverly Hills CA 1979, S. 490.

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study with the most dominant institutional systems“73 waren. Während die soziologischen Grundlagen der Lagerkultur in den 1960er Jahren weitgehend erodiert waren, lebte der organisatorische Überbau fort. So heißt es in der erwähnten Studie: „The Austrian sample stands out in this respect, indicating a more politicized organizational system than found elsewhere“74. Gleiches gilt für historisch bedingte Repräsentationsmuster: Weite Teile der Arbeiterschaft blieben der Sozialdemokratie ebenso als Stammwählerschaft erhalten wie Gewerbetreibende und Landwirte auf Seite der ÖVP – eine Folge auch, aber nicht ausschließlich, des weitreichenden Parteienstaates und der Dominanz beider Parteien darin. Der deutschnationale Landbund war bereits 1945 in der ÖVP aufgegangen, während die Arbeiterschaft ganz überwiegend und einschließlich der wirtschaftlich sehr schwierigen Anfangsjahre die SPÖ unterstützt hatte: Trotz der starken Verankerung und privilegierten Rolle der KPÖ in den zum USIA-Konzern gehörigen Betrieben, einem Konglomerat von ca. 300 Konzernen unter Kontrolle der sowjetischen Besatzungsmacht, hatten sich die Kräfteverhältnisse zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten, wie sie Ausdruck in Arbeiterkammer- und Betriebsratswahlen fanden, im Vergleich von Erster und Zweiter Republik kaum verändert. Schärf75 nennt für die Jahre um 1950 relativ stabil bleibende Zahlen, welche die SPÖ für beide Wahlgänge jeweils bei knapp über 60% und die KP knapp unter 10% sehen. Dabei handelt es sich zwar um nichtverifizierte Zahlen, aber die Abstimmung der gesamtösterreichischen Betriebsrätekonferenz, die den Streik vom September/Oktober 1950 beenden sollte, spricht ein ähnlich klares Urteil über die schwache bis marginale Rolle der radikalen Linken: 400 Stimmen für ein Ende, drei Stimmen für eine Fortsetzung des Streiks76. Dieser Streik fand als vermeintlicher Putschversuch kommunistischer Kräfte Eingang in das kollektive Gedächtnis der Österreicher und hält sich dort in dieser Form hartnäckig. Als Folge des vierten Lohn- und Preisabkommens – des bereits in einem korporatistischen Modus verhandelt und implementiert wurde, und das primär der Bekämpfung von Inflation diente – trat eine von kommunistisch gesinnten Arbeitern getragene Streikbewegung an, um deutliche Lohnerhöhungen und eine generelle Verbesserung der Lebensbedingungen von Lohnabhängigen durchzusetzen. So hatte etwa das 73 S. Verba / N.H. Nie / J.O. Kim, Participation and Political Equality: A Seven Nation Comparison, Cambridge 1978, S. 154; K.R. Luther / K. Deschouwer (Hrsg.), Party Elites in Divided Societies. Political Parties in Consociational Democacy, London / New York 1999. 74 S. Verba / N.H. Nie / J.O. Kim, Participation and Political Equality, S. 102 (eigene Hervorhebung D.W.). 75 A. Schärf, Österreichs Erneuerung, S. 392-393. 76 Das überdeutliche Ergebnis war auch der Ablehnung einer weiteren Eskalation durch die sowjetische Führung in Moskau geschuldet.

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Wirtschaftsforschungsinstitut noch 1948 festgestellt, „daß der Lebensstandard des überwiegenden Teiles der Arbeiter und Angestellten absolut gesehen noch immer äußerst bescheiden ist und im allgemeinen noch bedeutend unter dem Vorkriegsniveau liegt“77 – das Land lag damit durchaus im westeuropäischen Trend, ohne dass die Kommunisten aber in Österreich auch nur ansatzweise solchen Zulauf wie in Frankreich oder Italien erhalten hätten. „Es spricht einiges dafür, dass der Erwartungshorizont großer Teile der Arbeiterschaft zum einen – weitgehend im Einklang mit der Führung der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften – auf die Sicherung des ,Überlebens‘ (Ernährung, Wohnung, Gleichklang von Löhnen und Preisen, Anpassung der Leistungen der sozialen Sicherung) sowie auf die Wiederherstellung des in der Ersten Republik erreichten sozialpolitischen Standards ausgerichtet war“78.

Die Große Koalition der Jahre 1918 bis 1920 hatte auf sozialdemokratischen Druck hin Arbeiterkammern geschaffen und in der Sozialgesetzgebung in kurzen Intervallen expansive Meilensteine gesetzt, womit Österreich „unter den bürgerlich-kapitalistischen Ländern an der Spitze“79 stand. Im Gegensatz zur Ersten Republik gab man nun das Industriegruppenprinzip auf und hob eine Einheitsgewerkschaft aus der Taufe: Im Österreichischen Gewerkschaftsbund (OGB) dominierte zwar nicht formal, aber doch realpolitisch die Fraktion Sozialdemokratischer Gewerkschafter (FSG). Insgesamt war das ideologische Konfliktniveau in breiten Bevölkerungsschichten weniger ausgeprägt als auf Ebene der politischen Eliten bzw. dürfte sich das Verhalten der Funktionäre an einer Überschätzung dieses Niveaus orientiert haben80. Das gilt auch für das Binnenverhältnis der moderaten Großparteien. Nicht zuletzt hatten viele Bürger den Weg in die Parteien weniger aus ideologischer Überzeugung sondern vielmehr deshalb gesucht und gefunden, um persönlichen materiellen Nachteilen im beinahe allumfassenden Parteien- und Proporzstaat zu entgehen. 77 Wifo-Monatsberichte, 8 (1948), S. 283, zitiert nach E. Tálos, Sozialpolitik und Arbeiterschaft 1945 bis 1950, in: M. Ludwig / K.D. Mulley / R. Streibel (Hrsg.), Der Oktoberstreik 1950. Ein Wendeunkt der Zweiten Republik, Wien 1991, S. 25-40, hier S. 26. 78 Ebd., S. 33. 79 H. Hautmann, Ferdinand Hanusch, der Staatssekretär, in: O. Staininger (Hrsg.), Ferdinand Hanusch. Ein Leben für den sozialen Aufstieg, Wien 1973, S. 75-104, hier S. 94. 80 B.G. Powell jr, Social Fragmentation and Political Hostility: An Austrian Case Study, Stanford 1970. Ausschlüsse prominenter Vertreter von ÖVP und SPÖ aufgrund „radikaler“ politischer Überzeugungen blieben jedoch selten. Eine dieser Ausnahmen stellt Erwin Scharf dar, SPÖ-Zentralsekretär im Jahr 1948, dessen Partei Plädoyers für eine intensivere Zusammenarbeit mit der Kommunistischen Partei Österreichs (KPÖ) sanktionierte. Eine kaum gestellte und daher unbeantwortete Frage bleibt jene nach der Gültigkeit von May’s Law of Curvilinearity: Zeichneten sich die mittleren Funktionärskader in ÖVP und SPÖ in den ersten Jahrzehnten der Zweiten Republik durch relativen ideologischen Extremismus aus?

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Die Aufweichung der Lagerkultur stellte keinen konkordanzdemokratischen „Betriebsunfall“ sondern vielmehr eine folgerichtige Entwicklung dar. Ab den 1960er Jahren zeigte sich der Parteienwettbewerb selbst zusehend „entpolitisiert“ als Konsequenz des Wegfalls von Konflikten an der Basis und angesichts fortgesetzter Elitenkooperation; eine Entwicklung, die Lijphart frühzeitig für dieses Szenario prognostiziert hatte bzw. eine Beobachtung, die er aus der niederländischen Praxis ableitete81. Einen kolportierten Ausspruch Papst Paul VI. („Isola felice“ = „glückliche Insel“) über die überschaubaren österreichischen Verhältnisse formulierte Bundeskanzler Bruno Kreisky (19701983; SPÖ) zur „Insel der Seligen“ um – nichts anderes als eine Chiffre für ebenjene Entpolitisierung. Der Ausspruch fand in dieser Version Eingang in das kollektive Gedächtnis der Österreicher. SPÖ und ÖVP versuchten sich zwar in Wählermobilisierung durch Überhöhung der tatsächlichen Konflikte zwischen beiden Parteien, und sie verteidigten den aktiven, intervenierenden und ihren Interessen förderlichen Staat. Ein gezielter Einsatz zur politischen Mobilisierung latenter gesellschaftlicher Konfliktlinien, die Überschreitung einer „roten Linie“ der Konkordanzdemokratie, unterblieb aber82: Anders als die Konsensdemokratie, welche nicht auf Beseitigung gesellschaftlicher Segmentierung, sondern auf Integration und Fairness durch Machtteilung zielt, läuft das Regime der Konkordanz zumindest indirekt auf deren Aufhebung hinaus. Anderswo Parteiensysteme strukturierende gesellschaftliche Bruchlinien fehlten in Österreich zum Teil bereits zu Zeiten der Republikgründung 1918. Das gilt für sprachliche, ethnisch oder konfessionell definierte Minderheiten. Die Konflikte zwischen Religion und Säkularismus, Anschlussgedanke und Österreich-Patriotismus (jeweils in der Gegenüberstellung von Christlichsozialen einerseits sowie Sozialdemokraten und Deutschnationalen andererseits) oder Zentrum und Peripherie (das „Rote Wien“ gegen die „schwarzen“ Bundesländer; deutschnationale Hochburgen in einigen Landeshauptstädten) strukturierten zum Teil den Parteienwettbewerb, waren aber Teil eines übergeordneten weltanschaulichen Konflikts, der sich im Verlauf der 1920er Jahre rasch zu einer Frontstellung von Sozialdemokratie und „Bürgerblock“ verdichtete. Aufgrund der weitreichenden Diskreditierung von Exponenten des „dritten Lagers“, dem Verlust an Menschenleben im Zweiten Weltkrieg allgemein und dem forcierten Aufbau eines Parteien- und Patronagestaates kam es in der A. Lijphart, The Politics of Accommodation. Politische Parteien sind sehr wohl – auch heute noch – in der Lage „[to] restructure the social and attitudinal underpinnings of a party system …“; Z.S. Enyedi, The Role of Agency in Cleavage Formation, in: European Journal of Political Research, 44 (2007), S. 697-720, hier S. 714. 81 82

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Zweiten Republik zum Verschwinden der allermeisten verbliebenen Gegensätze im Zuge der Hervorbringung von „catch all parties“ mit gemäßigtem politischen Programm: es entwickelte sich ein österreichisches Nationalbewusstsein83, ÖVP und Katholische Kirche (Mariazeller Manifest 1952) trugen den politischen Katholizismus frühzeitig zu Grabe, in den Jahren darauf kam es zur Aussöhnung zwischen Sozialdemokratie und katholischer Kirche und zur Beteiligung von ÖVP und SPÖ an Regierungen in sämtlichen Ländern84. Freilich kam der politische Wettbewerb damit nicht zum Erliegen. Im Gegenteil setzten die Parteien nun, da die Gefahr einer desaströsen Entwicklung analog zu jener in der Ersten Republik gebannt war, zwecks Wählermobilisierung und vor dem Hintergrund einander ähnlich gewordener Programmatik auf drastische Rhetorik: „Wahlkampfschlachten“ dominierten die Szenerie. Im Gegensatz dazu hatte es 1945 einen maßvollen Wahlkampf gegeben: „Die Reminiszenzen an die ,Lagerstraße‘ spielten in diesem Zusammenhang schon überhaupt keine Rolle mehr, und es wurde lediglich die durch Besetzung und Not abgeleitete Zweckmäßigkeit einer engen Zusammenarbeit herausgestrichen“85. Die erzielten politischen und ökonomischen Erfolge ließen vergleichsweise rasch den zumindest partiellen Verzicht auf politische Legitimation aus Geschichte zu. Aus der Sicht der Proporzparteien sollte eine das zwischenparteiliche Konfliktniveau verzerrende, deutlich überhöhende Darstellung die Mobilisierung von Stammwählern und vertikale Integration des Lagers sicherstellen: kämpferische, mitunter sogar feindliche Parolen und schrille Töne der Verachtung, als stünden sich zugleich Vertreter zweier kriegsführender Parteien oder zumindest im Misstrauen verhafteten Staaten gegenüber – „governing 83 Die Herausbildung einer österreichischen Identität in Verdrängung einer wahrgenommenen Zugehörigkeit zur deutschen Nation erfolgte durchaus rasant: Dürften sich beide Identitätsentwürfe Mitte der 1950er Jahre gemäß demoskopischer Befunde noch die Waage gehalten haben, sollte zehn Jahre später das Österreichbewusstsein dominieren; E. Bruckmüller, Nation Österreich. Kulturelles Bewußtsein und gesellschaftlich-politische Prozesse, 2. Aufl., Wien 1996, S. 61-76. Seither zeichnet sich die österreichische Bevölkerung durch breite Identifikation sowohl mit Österreich als Ganzes wie auch mit seinen Ländern und den enger gefassten jeweiligen Heimatregionen aus; F. Plasser / P.A. Ulram, Regionale Mentalitätsdifferenzen in Österreich. Empirische Sondierungen, in: H. Dachs (Hrsg.), Der Bund und die Länder. Über Dominanz, Kooperation und Konflikte im österreichischen Bundesstaat, Wien 2003, S. 421-440, hier S. 433. 84 Für das nicht immer friktionsfreie Verhältnis zur ÖVP in den frühen Jahren der Zweien Republik siehe M. Liebmann, Die ÖVP im Spiegel der Bischofskonferenzakten von 1945 bis zur staatlichen Anerkennung des Konkordates, in: R. Kriechbaumer / F. Schausberger (Hrsg.), Volkspartei – Anspruch und Realität. Zur Geschichte der ÖVP seit 1945, Wien / Köln / Weimar 1995, S. 253-280. 85 M. Rauchensteiner, Die Zwei, S. 65.

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by diplomacy“, wie das Frederick Engelmann86 elegant formulierte, das eine jedwede (partei-)politische Opposition erdrückende Dominanz heraufbeschwor. Dieses Verhalten war nur auf der Grundlage tiefreichender, um perfektionierte Kontrollmechanismen angereicherter Machtteilung denkbar. Stimmengewinne konnten im Proporzstaat jedoch ohnehin kaum in Machtzuwächse umgemünzt werden. Ein Wesenszug von Konkordanz: „Das entscheidende Merkmal von Verhandlungsdemokratien liegt also allein in der Bedeutung politischer Handlungsressourcen, die nicht aus Wahlen und Abstimmungen hervorgehen“87. Österreich gehört (gemeinsam mit Deutschland und Spanien) sogar zu jenen Ländern, in denen Parteien, die weniger Sitze gewannen als bei der vorausgehenden Wahl ihre Chancen, an der Regierung beteiligt zu werden, erhöhten88. Keine einzige Regierung in Österreich zerbrach am Verlust ihrer parlamentarischen Mehrheit. Symptomatisch für die beschriebene Ambivalenz der politischen Kultur mag der Umstand sein, dass die erdrückende parlamentarische Dominanz der Großen Koalition in der BRD in den Jahren 1966 bis 1969 eine hochaktive und teils gewaltbereite außerparlamentarische Opposition hervorbachte, die sich in dieser Form in Österreich zu keinem Zeitpunkt entwickeln sollte89. Selbst im Parlament mangelte es „wie im politischen System allgemein und für Konkordanzdemokratien nicht untypisch, bis weit in die 1980er Jahre hinein an einer Oppositionskultur“90. Klassische oppositionelle Kontrolltätigkeit verlagerte sich zu Zeiten der Großen Koalition in die Fraktionen der Regierungsparteien: Die „Bereichsopposition“ der Abgeordneten gegenüber einem Minister des Koalitionspartners stellte die parlamentarische Entsprechung der regierungsinternen Kontrolle vermittels Ernennung „fremder“ 86 F.C. Engelmann, Government by Diplomacy: The Austrian Coalition 19451966, Wien 2002. 87 R. Czada, Der Begriff der Verhandlungsdemokratie und die vergleichende Policy-Forschung, in: R. Mayntz / W. Streeck (Hrsg.), Die Reformierbarkeit der Demokratie. Innovationen und Blockaden, Frankfurt a.M. / New York 2003, S. 173203, hier S. 173-174. 88 M. Mattila / T. Raunio, Does Winning Pay? Electoral Success and Government Formation in 15 West European Countries, in: European Journal of Political Research, 43 (2004), S. 263-285. Den kritischen Fall par excellence verkörperte freilich Italien bis 1994: Dort war der Zusammenhang zwischen elektoralen Zugewinnen einer Partei und deren Chance auf eine Regierungsbeteiligung praktisch vollständig aufgelöst. 89 Zum Spezialfall „wilder Streiks“ siehe F. Karlhofer, „Wilde“ Streiks in Österreich. Entstehungs- und Verlaufsbedingungen industrieller Konflikte in den siebziger Jahren, Wien / Köln 1983. 90 A. Pelinka, Zur Entwicklung einer Oppositionskultur in Österreich: Bedingungen politischen Erfolges in den achtziger Jahren, in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft, 18 (1989), S. 141-149.

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Staatssekretäre dar. Das belegt etwa die Praxis parlamentarischer Befragungen im Nationalrat91. Im politischen Machtgefüge der Republik agierten politische Exekutiven und Parteiführungen in weitgehender Verzahnung – die parteienstaatliche Dimension der Konkordanzdemokratie. Institutionalisierte Machtzirkel, informale Runden, die den Spielraum des Regierungskabinetts beschränkten, rekrutierten sich aus den Parteiführungen92. Österreichische Bundesminister hatten in den meisten Fällen beachtliche Parteikarrieren vorzuweisen und entstammten als policy experts vielfach den Reihen der Sozialpartner, der österreichischen Version des (Neo-)Korporatismus, die über weite Strecken der Zweiten Republik Politik de facto ein Entsendungsmonopol für bestimmte Ministerien (vor allem Wirtschaft, Soziales/Arbeit und Landwirtschaft) genossen. Während der Umfang dieser Koalitionsabkommen dem westeuropäischen Durchschnitt entspricht, weichen die inhaltlichen Anteile deutlich vom Mainstream ab (Stand: Mitte der 1990er Jahre): Verfahrensregeln (zweiter Platz in Westeuropa), insbesondere aber Präzisierungen über die Verteilung von Ämtern und Kompetenzen (erster Platz), genießen einen weit überdurchschnittlich prominenten Status; die dritte Kategorie (policies) hingegen beansprucht in quantitativer Hinsicht weniger als die Hälfte des Platzes, während dieser Wert in der Mehrzahl der übrigen Länder bei über 90% liegt93. Die Besetzung von Ministerien nach parteipolitischen Gesichtspunkten in Koalitionsregierungen entspricht weitgehend der Logik der Interessenrepräsentation auf sozialstruktureller Grundlage: Die Ressorts des Sozialen und der Landwirtschaft etwa werden von Parteien benützt, um klientelistische Netzwerke zu pflegen94. In der Tat behandelten SPÖ und ÖVP einzelne Ministerien jahrzehntelang als ihre „Erbpacht“. Wenig verwunderlich ist daher weder die teils exzessive klientelistische Praxis noch das hohe Effizienzniveau der beiden „ausdauernden“ Regierungsparteien SPÖ und ÖVP bei der Aufrechterhaltung und Ausnutzung solcher Arrangements95. Die 91 M. Jenny / W.C. Müller, Die Arbeit im Parlament, in: W.C. Müller u.a. (Hrsg.), Die österreichischen Abgeordneten: Individuelle Präferenzen und politisches Verhalten, Wien 2001, S. 261-370, hier S. 314. 92 W. Rudzio, Informelles Regieren: Zum Koalitionsmanagement in deutschen und österreichischen Regierungen, Wiesbaden 2005. 93 W.C. Müller / K. Strøm, Conclusion, in: dies. (Hrsg.), Coalition Governments in Western Europe, Oxford 2000, S. 559-592, hier S. 575-578. 94 P.V. Warwick / J.N. Druckman, Portfolio Salience and the Proportionality of Payoffs in Coalition Governments, in: British Journal of Political Science, 31 (2001), S. 627-649. 95 H.K. Kitschelt / K. Freeze / K. Kolev / Yt. Wang, Measuring Democratic Accountability: An Initial Report on an Emerging Data Set, in: Revista de Ciencia Politica, 29 (2009), S. 741-773, hier S. 766.

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lange Regierungszeit und die stabile Kontrolle über Unternehmen mit großer Belegschaft begünstigten Klientelismus. Spezifisch für den österreichischen Umgang mit Klientelismus und Patronage war die offizielle Natur der parteilichen Postenbesetzungen im Staatssektor nach dem Proporzprinzip, das dem wechselseitigen Misstrauen wie auch der Dominanz der beiden Lagerparteien entsprang96. Erst im Verlauf der 1980er Jahre wurden die volkswirtschaftlichen Kosten von Klientelismus Teil des politischen Diskurses. Die „Verstaatlichtenkrise“ zwang die Partner der Großen Koalition zum Handeln und löste eine – erste – Privatisierungswelle aus.

V. Von der Windstille zum Fahrtwind – Die „Entaustrifizierung“ der demokratischen Praxis Der erneute und größte Wahltriumph Kreiskys in der Nationalratswahl 1979, ein Jahr nach der verloren gegangenen Volksabstimmung über die Inbetriebnahme des AKW Zwentendorf, markiert den Stabilitätshöhepunkt des Wahlverhaltens. Die historische Legitimation österreichischer Konkordanz erreichte ihren Scheitelpunkt. Es deuteten sich in den Folgejahren Verwerfungen an, die den Aufstieg neuer Parteien ermöglichten: die Friedens-, Antiatom- und Umweltbewegung als Vorläufer der Grünen; zunehmende Kritik am Proporz- und Patronagestaat als Beweggründe zur Protestwahl, die vor allem einer rechtspopulistischen Alternative zugutekommen sollte. Der Durchbruch zu einem neuen Parteiensystem vollzog sich in der Nationalratswahl 1986: Die rechtspopulistisch transformierte vormalige Honoratiorenpartei FPÖ griff unter ihrem neuen Parteiobmann Jörg Haider die Trägheit der „Altparteien“, den „Parteienfilz“, indirekt aber auch die Konkordanzdemokratie selbst auf ganzer Breite an97. Dazu gehörte eine Politik der Tabubrüche: So nannte Haider die österreichische Nation im ORF-Inlandsreport 1988 eine „ideologische Missgeburt“ und lobte – bereits als Kärntner Landeshauptmann – eine „ordentliche Beschäftigungspolitik im Dritten Reich“98. Die gesellschaftliche Resonanz für derartige „Deutschtümmelei“ war allerdings dermaßen eng begrenzt99, dass diese alsbald durch einen prononcierten Österreich-Patriotismus ersetzt wurde. Überhaupt entledigte sich die FPÖ W.C. Müller, Privatising in a Corporatist Economy: The Politics of Privatisation in Austria, in: West European Politics, 11 (1988), 4, S. 101-116. 97 F. Plasser / P.A. Ulram, Konstanz und Wandel im österreichischen Wählerverhalten, in: W.C. Müller / F. Plasser / P.A. Ulram (Hrsg.), Wählerverhalten und Parteienwettbewerb. Analysen zur Nationalratswahl 1994, Wien 1995, S. 341-406, hier S. 387-388. 98 Rede im Kärntner Landtag am 13. Juni 1991. 99 Vgl. oben Anm. 84. 96

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zwischen Ende der 1980er Jahre und 1997/98 aller wesentlichen historischen Merkmale ihrer Programmatik (bzw. jener des deutschnationalen Lagers): So wich nicht alleine die deutschnationale Identität einem Österreich-Patriotismus, sondern machte der Antiklerikalismus einem „wehrhaften Christentum“ Platz und wurde die Vorreiterrolle hinsichtlich einer Beteiligung am europäischen Einigungsprozess zugunsten einer Fundamentalkritik an den Institutionen der Europäischen Union aufgegeben100. Endgültig mit der Lebenslüge als „erstes Opfer Hitlers“ wurde die Republik in jenen Jahren durch den einsetzenden Bundespräsidentschaftswahlkampf (1986) konfrontiert, der rasch in der Waldheim-Affäre kulminierte: Der ehemalige ÖVP-Außenminister und Generalsekretär der Vereinten Nationen trat für seine Partei an, um die Hofburg den Sozialisten erstmals seit 19451951 zu entreißen. Obwohl Waldheim ad personam keine Kriegsverbrechen nachgewiesen wurden, blieb der Makel unrichtiger Behauptungen über seine Verwendungen in der Wehrmacht und vor allem seine Mitgliedschaft in der SA und im Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund (NSDStB) während seiner Amtszeit als Bundespräsident und darüber hinaus an ihm haften. Als Staatsoberhaupt war Waldheim und damit indirekt die Republik Österreich außenpolitisch weitgehend isoliert. Dunkle und dunkelste Geschichtsperioden aus der Periode 1918-1945, vormals verdrängt oder beschönigt, wurden nun allerdings vor den Vorhang gezogen, wurden zum Gegenstand von Politik und damit einem Ringen um Deutungshoheit. Waldheim, der sich mit Blick auf seine Zeit als Wehrmachtssoldat – wie viele Andere auch – hinter dem Begriff „Pflichterfüllung“ verschanzt hatte, drückte etliche Jahre später sein Bedauern über das erneute Aufgreifen bzw. die betriebene Prolongation der „Opferthese“101 aus: „Es war notwendig, ja unverzichtbar, dass wir Österreicher uns von der reinen Opferrolle verabschiedet haben. Sie war zwar Grundlage unseres inneren Friedens nach 1945, des Wiederaufbaus und unserer Nachkriegsidentität, aber doch nur Teil der Wirklichkeit“102.

Es war dem Bundeskanzler jener Jahre, Franz Vranitzky (SPÖ), oblegen, in öffentlicher Rede ein Bekenntnis „zu allen Daten unserer Geschichte und zu den Taten aller Teile unserer Volkes, zu den guten wie zu den bösen“ abzulegen: Er betonte eine „Mitverantwortung 100 Seit der Übernahme der Parteiobmannschaft durch Heinz-Christian Strache (2005) legt die Partei, die jahrzehntelang eine NATO-Mitgliedschaft Österreichs propagiert hatte, auch ein eindeutiges Bekenntnis zur „immerwährenden Neutralität“ ab. 101 H. Uhl, Das „erste Opfer“. Der österreichische Opfermythos und seine Transformation in der Zweiten Republik, in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft, 30, 2001, S. 19-34. 102 Interview in: Kurier, 5. März 2006.

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für das Leid, das zwar nicht Österreich als Staat, wohl aber Bürger dieses Landes über andere Menschen und Völker gebracht haben“103.

Alle diese Faktoren haben gemein, dass sie klassisch gewobene Beziehungsgeflechte zwischen Parteien und Wählerschaften herausfordern, insbesondere deren paternalistische Züge. Besonders die Abkehr der Arbeiterschaft von der Sozialdemokratie als ihrer generationenübergreifenden natürlichen politischen Heimat und ihre Hinwendung zur vormaligen Honoratiorenpartei FPÖ hat spektakuläre Ausmaße angenommen und erfolgte in den 1990er Jahren unter dramatischer Geschwindigkeitszunahme: Innerhalb von anderthalb Jahrzehnten gelang der Aufstieg zur stimmenstärksten Partei unter Arbeitern104. Überhaupt wich das historische Bündnis von Berufsgruppen und Konkordanzparteien in den Nationalratswahlen seit der Jahrtausendwende einem Nichtverhältnis: SPÖ und ÖVP schnitten unter ehemaligen Kernwählerschichten zum Teil sogar unterdurchschnittlich ab. Sämtliche traditionellen Kernwählerschichten in (überwiegend) privaten Sektoren gingen verloren: ungelernte ebenso wie angelernte und Facharbeiter auf Seiten der SPÖ, Selbstständige und Freiberufler auf Seiten der ÖVP. Es blieb alleine der ÖVP die privilegierte Vertretung der zahlenmäßig arg geschrumpften Gruppe der Landwirte, die in hohem Maße von öffentlichen Transferleistungen abhängig ist. Die veränderten Stimmengewichte zwischen den Trägerparteien der Konkordanz (SPÖ, ÖVP) und jenen (Oppositions-)Parteien, die in ihren Wahlkampagnen mit Kritik an Eigenheiten ebendieser warben, schlugen sich – spät, aber doch – im Anschluss an die Nationalratswahl 1999 auf Ebene der Regierungsbildung nieder: Die seit 1987 amtierende Große Koalition wurde abgelöst durch eine Mitte-rechts-Regierung gebildet aus FPÖ und ÖVP. Die mehrheitsdemokratische Wende vollzog sich damit im und aus dem Kern der Bestimmung des vorherrschenden Demokratietyps heraus. Sie sollte rasch alle drei maßgeblichen Dimensionen der Konsensdemokratie erfassen: die parteipolitische Konkordanz, die neokorporatistische tripartistische Interessenvermittlung und eine plurale Vetospielerstruktur105. Im Gesetzgebungsprozess zog – in den Worten des damaligen ÖVP-Mastermind und Klubobmannes Andreas Khol – „speed kills“ ein, womit insbesondere ein Bedeutungsverlust des vorparlamentarischen Raumes im Rahmen des Begutachtungsverfahrens

103 StProt, 35. Sitzung des Nationalrates der Republik Österreich, 8. Juli 1991, S. 3282-3283. 104 GfK Austria, Repräsentative Wahltagsbefragungen (Exit Polls) zu den Nationalratswahlen 1986-2006; GfK Austria, Repräsentative Wahltagsbefragung 2008. http:// members.chello.at/zap-forschung/download/Analyse_NRW_2008_Plasser_Ulram.pdf (Stand: 2. März 2012). 105 D.M. Wineroither, Windstille oder Fahrtwind.

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Ausdruck fand, den am weitreichendsten die Arbeiterkammer und Gewerkschaften zu tragen hatten106. Eine Politik der Tabubrüche lässt sich auf Regierungsebene nachvollziehen: Für erhebliche Irritationen bei der Sozialdemokratie sorgte die „geschichtsblinde“ Vergabe der Regierungsportfolios, konkret die Zusammenführung der Agenden Arbeit und Wirtschaft (Kabinett Schüssel I) und die Besetzung sowohl des Innen- als auch des Verteidigungsministeriums durch ÖVPPolitiker (Schüssel II). In den Kabinetten der Großen Koalition seit 1945 hatte man als Folge historischer Reminiszenzen (Einsatz des Bundesheeres gegen den Aufstand der Sozialdemokratie im Februar 1934) ausnahmslos eine parteipolitische Separation dieser beiden Gewaltenministerien vereinbart. Dies entspricht auch der Handhabung in den drei seit dem Jahr 2007 gebildeten großkoalitionären Kabinetten. VI. Die Substanz der österreichischen Konsensdemokratie – Gegenwart und Zukunft Die Zweite Republik hat viele ihrer austriakischen Eigenheiten im Verlauf der vergangenen drei Jahrzehnte abgeworfen. Sie wurde im Rahmen dieser Entwicklung durchaus ein Stück internationaler (nicht unbedingt „westlicher“ oder „amerikanischer“): Das Parteiensystem dehnt sich aus und wird an seinen Rändern bevölkert, der Parteienstaat bewegt sich leise und langsam im Rückwärtsgang, die Sozialpartnerschaft ist mit globalen Einflüssen, neuen (atypischen) Beschäftigungsformen und steigender Beschäftigungslosigkeit konfrontiert, die Neutralität des Landes wurde durch den Beitritt zur EU und den anhaltenden Ausbau der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik bzw. Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GASP/ESVP) obsolet107. Eine Demokratie wie jede andere oder gar eine „durchschnittliche“ Demokratie ohne Ecken und Kanten, ohne Besonderheiten und Eigenschaften, ist sie damit keineswegs. Sie ist freilich kaum mehr Konkordanzdemokratie, immer noch aber eine Vertreterin der Konsensdemokratie, die Welten vom politischen System der Westminster-Konfliktdemokratie trennt. 106 E. Tálos / C. Stromberger, Verhandlungsdemokratische Willensbildung und korporatistische Entscheidungsfindung am Ende? Einschneidende Veränderungen am Beispiel der Gestaltung des österreichischen Arbeitsrechtes, in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft, 33 (2004), S. 157-174. 107 Die Regierungsparteien SPÖ und ÖVP ermöglichten für Februar 2013 eine Volksbefragung über ein Abgehen von der allgemeinen Wehrpflicht verbunden mit der Einführung eines Berufsheeres, für die sich die Sozialdemokraten einsetzen – ein Akt doppelter geschichtlicher Ironie bedenkt man historische Aversionen der Partei gegenüber Berufsheeren (das Trauma des Februar 1934) und der direktdemokratischen Umschiffung von Parlamenten.

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Die österreichische Konkordanzdemokratie als Ausdruck des Gewichts von Geschichte für politische Legitimation und ein bestimmtes Handlungsrepertoire politischer Eliten steht unter Druck von mehreren Seiten: die fehlende Reichweite nationalstaatlichen Handelns und die einseitige Aufkündigung von Branchen-Kollektivverträgen; der Aufstieg der Identitätspolitik; die makroökonomischen und parteispezifischen Kosten von Klientelismus; die vom Wähler herbeigeführte Verbreiterung des Parteiensystems; die Medienlogik von Darstellungspolitik, ihre Personalisierung im Ganzen108. Colin Crouch hat einige der aufgeführten strukturellen Herausforderungen für konkordante Politikmuster zur These der „Post-Democracy“ verdichtet: eine politisch desillusionierte und teilweise apathische Masse steht einer professionalisierten Wettbewerbsmaschine der Parteien gegenüber, die in einem personalisierten und von der Logik der massenmedialen Politikvermittlung bestimmten Umfeld Politik betreiben. In global agierenden Unternehmen erblickt Crouch gar „the key institution of the post-democratic world“109 – das trifft den Neokorporatismus ins Mark. Politisch-institutionell und politisch-kulturell steht Österreich aber weiterhin mit anderthalb Beinen im Lager der Konsensdemokratie. Das Institutionensystem ist komplex und weist das Land als „compound democracy“110 aus. In einer Reihe von politischen Fragen, die den Parteienwettbewerb in anderen westeuropäischen Demokratien strukturieren, herrscht weitgehender Konsens zwischen allen Parlamentsparteien: Das betrifft am prominentesten die einhellige Ablehnung von Kernkraftwerken und Gentechnik sowie die Stammzellenforschung111. Ethisch brisante Fragen („governance of life“) finden sich an die – im Bundeskanzleramt angesiedelte – Bioethikkommission ausgelagert112. Mit Abstrichen gilt diese ausgeprägte Konsensorientierung für die Straffreiheit von Abtreibung unter bestimmten Bedingungen (die „Fristenlösung“ der 1970er Jahre). Einen diesbezüglichen evergreen stellt die Neutralitätspolitik des Landes dar, an der sich nur etappenweise tiefere Konflikte entspannen (etwa im EU-Wahlkampf 1999) und die im Zuge der 108 Ein öffentlicher Leserbrief das damaligen SPÖ-Kanzlers Alfred Gusenbauer und des Parteivorsitzenden Werner Faymann, adressiert an den Herausgeber der größten Tageszeitung des Landes (Kronen Zeitung), Hans Dichand, sprengte die Große Koalition im Jahr 2008. 109 C. Crouch, Post-Democracy, Cambridge 2004, S. 31. 110 S. Fabbrini, Compound Democracies: Why the United States and Europe Are Becoming Similar, Oxford 2010. 111 S. Fink, An den Grenzen der Konkordanz? Die Bilanz von Konkordanzdemokratien in der Biopolitik, in: S. Köppl / U. Kranenpohl (Hrsg.), Konkordanzdemokratie – ein Demokratietyp der Vergangenheit?, Baden-Baden 2012, S. 317-334. 112 U.H.J. Körtner, Wider die Tabuisierung der Hirntod-Debatte, in: Der Standard, 15. November 2012.

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Mitgliedschaft in der EU und mit Ausbau der GSVP stillschweigend zu Grabe getragen wurde. Wenige Demokratien verdankten in einem Ausmaß wie die österreichische Demokratie ihre Eigenheiten einem historischen Lernprozess, einem kollektiven Lernprozess allen voran der politischen Eliten. Das Lernen an der Geschichte war von einer solchen außerordentlichen Bedeutung gewesen, dass es die Etablierung einer Form von Demokratie ermöglichte, welche die Praxis der Demokratie in der Ersten Republik in allen entscheidenden Punkten kontrastierte. So folgte auf politischen Zank, Bürgerkrieg und doppelte Diktaturerfahrung eine Konkordanz- und Konsensdemokratie. Stand die austriakische Demokratie im Zeichen der Lehre aus der Vergangenheit, so führte ihr politischer und wirtschaftlicher Erfolg in Konfliktarmut und Verblassen von Geschichte. Erst eine Politik der Tabubrüche in den 1980er Jahren zog den Ausschnitt des selektiven Umgangs mit der Geschichte des Landes in den Jahren von 1918-1945 ins Rampenlicht, auf den sich politische Eliten und Bürger stillschweigend verständigt hatten. Legitimitätsbildend wirken die Weichenstellungen der frühen Jahre der Zweiten Republik seit Ende der 1980er Jahre nur mehr, oder aber immerhin, im Rahmen von Vergleichen politischer Leistungsfähigkeit – sowie an hohen republikanischen Feiertagen, zuletzt 2005 im Gedenkjahr und „Gedankenjahr“ (Wolfgang Schüssel). Verhaltensprägend können die Erfahrungen jener Epoche angesichts ganz neuer und unterschiedlicher Herausforderungen an nationale Politik nicht mehr wirken. Und dennoch wirkt Geschichte nach und blitzen historische Bezüge auf, die sich – vermeintlich – in politische Legitimation ummünzen lassen: So nahm sich ausgerechnet die „Wenderegierung“ unter Beteiligung des Geschichtsrevisionisten Haider der Frage der finanziellen Entschädigung von NS-Zwangsarbeitern und der Restitution arisierten Vermögens im öffentlichen Besitz an. Freilich nicht ohne sich auf Drängen der FPÖ in beinahe gleichem Atemzug den Vermögensverlusten „Volksdeutscher“ auf Grundlage der Beneš-Dekrete zu widmen und „Trümmerfrauen“ eine finanzielle Anerkennung bereit zu stellen113. Die Bildung politischer Legitimation aus der jüngeren Geschichte des Landes war in den Jahren nach 1945 von entscheidender Bedeutung für die Stabilität der Zweiten Republik gewesen; eine ergiebige Quelle, die erstaunlich lange nicht zur Neige gehen wollte und welche der österreichischen 113 Weitere historische Kapitel schloss die seit 2007 bzw. 2008 amtierende Große Koalition: die Rehabilitierung zuerst von Wehrmachtsdeserteuren (2009) und später jene von Personen, die aus politischen Gründen vom Ständestaat „angehalten“ bzw. ausgebürgert wurden (Aufhebungs- und Rehabilitierungsgesetz 2011).

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Demokratie eine unverkennbare Gestalt gegeben hat. Als die Quelle bereits im Begriff war zu versiegen, eröffneten die geopolitischen Umwälzungen der Jahre 1989-1991, der Fall des Eisernen Vorhangs, die Möglichkeit zur Zusammenführung zweier Enden. Die zuerst angestrebte, dann erworbene Mitgliedschaft in der Europäischen Union und später deren Erweiterung um eine Reihe osteuropäischer Länder begründeten ein neues politisches Narrativ: ein Rücken Österreichs vom Rande Europas in seine Mitte.

Geschichte als Handlungsoption Ein vergleichendes Resümee Von Günther Pallaver

Das Jahr 1945 bedeutete keine „Stunde Null“1, verstanden als historische Schnittstelle zwischen dem Ende des blutigsten Krieges der bisherigen Geschichte und einem Neuanfang auf den Trümmern der Zerstörung, aber auch verstanden als Metapher für das moralische und materielle Ende autokratischer Regime und einen demokratischen Neubeginn. Aber nicht nur für die Besiegten, auch für die Sieger bedeutete das Kriegsende keine „Stunde Null“. Und dennoch steht das Jahr 1945 für eine Phase des Bruchs und der Erneuerung in der westlichen Welt, weil es den Übergang von autokratischen zu demokratischen politischen Systemen bedeutete. Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges erfolgte bereits die zweite Demokratisierungswelle, die von den alliierten Siegermächten eingeleitet wurde und die Demokratisierung der politischen Systeme in Westdeutschland, Italien, Österreich und Japan forcierte. Die erste Demokratisierungswelle war in Europa bereits im Laufe des langen 19. Jahrhunderts eingeleitet worden und endete 1918. Unmittelbar nach dem Ende des Ersten Weltkrieges hatte sich in Europa eine Reihe neuer demokratischer Systeme etabliert, aber diese erste Welle endete schon bald mit dem Marsch auf Rom 1922, der eine autoritäre Gegenwelle einläutete. Die dritte Demokratisierungswelle in Europa begann Mitte der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts, als die letzten autokratischen Systeme von Portugal, Griechenland und Spanien abgelöst wurden, bis zu Beginn der 90er Jahre auch die autokratischen Regime in Mittel- und Osteuropa ihr Ende fanden2. Eine Analyse der Demokratisierungswellen wird über unterschiedliche theoretische Ansätze versucht. Die systemorientierte Modernisierungstheorie sucht Antworten für die Gründe, Erfolge und Misserfolge in erster Linie in der Wirtschaft und Gesellschaft, die Strukturtheorie im Staat und in den 1 Vgl. H. Braun / E. Holtmann / U. Gerhardt (Hrsg.), Die lange Stunde Null. Gelenkter sozialer Wandel in Westdeutschland nach 1945, Baden-Baden 2007; W. Schieder / D. Papenfuß (Hrsg.), Deutsche Umbrüche im 20. Jahrhundert, Köln 2000. 2 Vgl. S.P. Huntington, The Third Wave: Democratization in the Late Twentieth Century, London 1991.

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sozialen Klassen, die Kulturtheorie in der Konfession und Kultur sowie in den daraus resultierenden sozialen Beziehungen, die Akteurstheorie in der politischen Handlungssphäre3. Innerhalb der Kulturtheorien hat Samuel P. Huntingtons „The Clash of Civilizations“4 für neue Debatten gesorgt, zumal religiös-kulturelle Zivilisationstypen und soziales Kapital die Demokratiefähigkeit einer Gesellschaft mitbestimmen und einen bedeutenden Einfluss bei politisch-gesellschaftlichen Transformationsprozessen spielen können. Was das soziale Kapital betrifft, so spielen gesellschaftliche Werte, soziale Traditionen und ganz besonders auch historische Erfahrungen für den Unterbau einer demokratischen Gesellschaft eine bedeutende Rolle. Dies bedeutet, dass es neben den formalen politischen Institutionen eine demokratiefreundliche Zivilkultur benötigt, sollen politische Systeme im Übergang von autokratischen zu demokratischen Erfahrungen Bestand haben5. Verfassungen, politische Institutionen und politische Akteure können relativ kurzfristig konstituiert werden, während Werte demokratischer politischer Kultur und Verhaltensweisen der Gesellschaft einen längeren Sozialisationsprozess benötigen6. Bei allen Systemtransformationen, mit denen wir uns hier beschäftigen, waren die Rahmenbedingungen unterschiedlich, die strukturellen Ursachen genauso wie die Verlaufsformen, die Anzahl, die Art und die Bedeutung der beteiligten Akteure und ihrer Handlungen. Dabei bilden Strukturen und Handlungen die beiden zentralen Dimensionen, die aufeinander bezogen, Systemtransformationen beeinflussen. Die Strukturen bilden den „Handlungskorridor“, in dem unterschiedliche Akteure versuchen, ihre Interessen mit entsprechenden Handlungsstrategien durchzusetzen. Handlungsstrategien können diesen Handlungskorridor vergrößern, aber auch verengen oder neue Handlungsoptionen eröffnen7. Zu Handlungsoptionen führt auch die Geschichte, deren Bedeutung in den vier behandelten Fallbeispielen Deutschland, Italien, Österreich und Frankreich als kulturelles Gepäck auf den demokratischen Neuanfang wesent3 W. Merkel, Systemtransformation. Eine Einführung in die Theorie und Empirie der Transformationsforschung, Wiesbaden 2010, S. 67. 4 S.P. Huntington, The Clash of Civilizations, in: Foreign Affairs, 72 (1993), S. 22-49, sowie ders., The Clash of Civilizations and the Remarking of World Order, New York 1996. 5 Vgl. O.W. Gabriel, Sozialkapital und Demokratie. Zivilgesellschaftliche Ressourcen im Vergleich (Schriftenreihe des Zentrums für Angewandte Politikforschung, 24), Wien 2002. Zu Italien vgl. R. Putnam, Making Democracy Work. Civic Tradition in Modern Italy, Princeton NJ 1993. 6 W. Merkel, Systemtransformation, S. 83. 7 Ebd., S. 97.

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lich eingewirkt hat. In dieser Logik präsentieren sich die hier behandelten Länderstudien, die innerhalb eines breiten theoretischen und methodischen Rahmens die Bedingungen untersuchen, welche die Entwicklung der historischen Abläufe beim demokratischen Wiederaufbau nach 1945 mitgeprägt haben. Es geht somit um die Analyse der politischen Geschichte in ihrer sozialen Wirklichkeit und nicht um die Art und Weise, wie Geschichte im Sinne einer Erinnerungskultur in den jeweiligen Ländern aufgearbeitet worden ist8. Im Mittelpunkt der Arbeiten stehen Akteure im „Handlungskorridor“ der Geschichte, wie sie historische Erfahrungen verarbeitet und wie diese Erfahrungen auf die politische Kultur und die darauf aufbauende politische Neuordnung eingewirkt haben9. Vergleichend betrachtet wurde Geschichte zur Legitimation von Kontinuitäten (z.B. Österreich) wie zur Legitimation von Brüchen (z.B. Italien) herangezogen, wobei es aber immer um die Legitimation eines politischen Diskurses geht, mit dem von den unterschiedlichen, oft antagonistischen Akteuren in allen vier untersuchten Ländern eine Interpretations- und Deutungshoheit der historischen Vergangenheit, aber auch der sozialen Wirklichkeit zu erreichen versucht wurde. Die dazu verwendet Methode in den Länderstudien ist der Vergleich, der uns die Möglichkeit bietet, den „Weg aus dem Ethnozentrismus“ zu beschreiten10. Die Ablösung der autokratischen Systeme und die Einführung, Institutionalisierung sowie Konsolidierung der Demokratie betrifft alle vier Länder fast zeitgleich, wenngleich auf unterschiedliche Art und Weise und mit unterschiedlichen Akteuren. Im Fall Deutschlands (1945) erfolgte das Ende des NS-Regimes als Folge einer militärischen Niederlage gegen demokratische Länder wie die USA und Großbritannien, aber auch gegen ein autokratisches Regime wie die UdSSR. Österreich, ab 1934 ein autoritäres Regime, wurde 1938 von der Deutschen Wehrmacht besetzt und befand sich mit dem Deutschen Reich bis zu dessen Ende in einer Art symbiotischen Einheit11. Die militärische Niederlage bedeutete das Ende eines totalitären Regimes und die Neugeburt zweier souveräner, demokratischer Staaten. Auch der Zusammenbruch der faschistischen Herrschaft in Italien ging auf die militärische Niederlage des autoritären Regimes zurück, zeitlich 8 Vgl. P. Nora (Hrsg.), Les lieux de mémoire, Paris 1997; M. Csáky, Die Mehrdeutigkeit von Gedächtnis und Erinnerung. Ein kritischer Beitrag zur historischen Gedächtnisforschung. Beitrag aus dem Digitalen Handbuch zur Geschichte und Kultur Russlands und Osteuropas, 2004; http://epub.ub.uni-muenchen.de/603/ (Stand: 14. August 2012). Zu Italien vgl. M. Isnenghi, I luoghi della memoria, Rom / Bari 1997. 9 Vgl. hierzu F. Barbagallo, Stato, masse e partiti nell’Italia democratica, in: A. Giovagnoli (Hrsg.), Interpretazioni della Repubblica, Bologna 1998, S. 67-68. 10 M. Dogan / D. Pélassy, How to Compare Nations, Chatham NJ 1984. 11 Vgl. E. Tálos u.a. (Hrsg.), NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch, Wien 2002.

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verlängert auf die Jahre 1943 und 1945, wobei es eine aktive Widerstandsbewegung im bewaffneten Kampf gegen die Repubblica di Salò und gegen die NS-Besatzung gab12. Mit dem militärischen Ende des NS-Regimes hängt auch die politische Wiedergeburt Frankreichs (1944) zusammen, nachdem Frankreich nach der militärischen Niederlage gegen Hitler 1940 in mehrfacher Hinsicht geteilt war, in den von der Deutschen Wehrmacht besetzen Teil Frankreichs und in das mit Berlin kollaborierende Vichy-Regime. Beiden Regimen stand die provisorische Regierung Frankreichs in London gegenüber, bis das Land durch die Invasion der Alliierten mit Unterstützung der französischen Resistance und der Befreiungsarmee unter de Gaulle befreit wurde13. In allen vier Ländern war es zu einem Regimekollaps gekommen, der im Wesentlichen von externen Akteuren verursacht worden war, wie insgesamt beim demokratischen Neubeginn die externen Einflussfaktoren eine bedeutende Rolle spielten, wozu die ideologische und materielle Unterstützung der Demokratisierung von außen sowie die Wirtschaftsentwicklung während der Demokratisierungsperiode zählen14. Aber es waren in ganz erheblichem Maße die historischen Entwicklungen in allen vier Ländern, welche die Weichen für die Demokratisierungsprozesse nach 1945 (neu) gestellt haben. Diese präsentierten sich im Mai 1945 mit einem jeweils unterschiedlichen historischen Gepäck, das von allem Anfang an politische Verantwortung und politische Zuordnungen unterschiedlich gewichtete. Deutschland lag als besiegtes Land in materiellen und moralischen Trümmern und benötigte Jahre, um wieder als souveräner Staat anerkannt zu werden. Wie Deutschland war auch Österreich in vier Besatzungszonen aufgeteilt worden, hatte aber durch die Moskauer-Erklärung von 1943 einen anderen Status als Deutschland. Der Anschluss Österreichs durch das Deutsche Reich 1938 wurde darin als ungültig erklärt, Österreich sollte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges als souveräner Staat wieder hergestellt werden. Vor allem wurde in der Deklaration festgestellt, dass „Österreich das erste freie Land war, das der Angriffspolitik Hitlers zum Opfer gefallen war und deshalb von deutscher Herrschaft befreit werden sollte“15. Dieser Passus sollte von 12 Vgl. Dizionario della Resistenza, hrsg. von E. Collotti / R. Sandri / F. Sessi, 2 Bde., Turin 2000 und 2006. 13 Vgl. M.O. Baruch, Le Régime de Vichy, Paris 1996; H. Rousso, Frankreich und die „dunklen Jahre“. Das Regime von Vichy in Geschichte und Gegenwart, Göttingen 2010. 14 W. Merkel, Systemtransformation, S. 139. 15 Vgl. Moscow Conference. October, 1943. Joint Four-Nation Declaration (Declaration on Austria), http://www.ibiblio.org/pha/policy/1943/431000a.html (Stand: 12. April 2013).

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österreichischer Seite für den eigenen „Opfermythos“ herangezogen werden, um sich der Verantwortung der begangenen NS-Verbrechen zu entziehen. Hingegen wurde der zweite Teil der Moskauer-Erklärung, in der Österreich erinnert wurde, für die Teilnahme am Krieg Hitler-Deutschlands eine Verantwortung zu tragen, sehr bald unterschlagen16. Das Ende der Besatzung Deutschlands und Österreichs durch die vier Siegermächte erfolgte erst zehn Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Allerdings mit einem Unterschied: Die Alliierten behandelten Deutschland als besiegtes Land, Österreich hingegen als besiegtes, aber auch als befreites Land. Im Gegensatz zu Deutschland und Österreich war Italien, das 1939 mit dem Deutschen Reich den Stahlpakt abgeschlossen und ab 1943 mit der Repubblica di Salò bis zum Ende des Krieges an Hitlers Seite gekämpft hatte, von den Alliierten nicht besetzt geblieben und erhielt ab 1946 wieder seine volle staatliche Souveränität, wenngleich der de facto Einfluss der USA während der Zeit des Ost-West-Konflikts durchaus bestehen blieb17. Dies hatte mit dem Bruch des Stahlpakts 1943 zu tun, mit der Kriegserklärung des monarchischen Italien an das Deutsche Reich sowie mit dem breiten inneritalienischen Widerstand18. Von den Österreichern war durch die Alliierten in der Moskauer-Deklaration Widerstand gegen Hitler eingefordert worden, in Italien war der Widerstand in Norditalien gegen das faschistische und nationalsozialistische Regime auch tatsächlich erfolgt. Frankreich wurde von allem Anfang an gemeinsam mit den USA, Großbritannien und der Sowjetunion zu den Siegermächten gezählt, beteiligte sich als Besatzungsmacht in Deutschland und Österreich und wurde zu einem der fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates mit Vetorecht. Dem Frankreich der Kollaboration in Vichy stand das Nationalkomitee des Freien Frankreich gegenüber. Und genauso wie in Italien leistete der interne Widerstand gegen die Deutsche Besatzung und gegen die Kollaborationisten Vichys einen bedeutenden Beitrag für die Befreiung des Landes19. Die Alliierten als externe Akteure und die sich im Widerstand gegen Faschismus und Nationalsozialismus befindlichen Parteien als interne Akteure bildeten die tragende Achse für den demokratischen Neuanfang. Für die Bundesrepublik Deutschland waren anfänglich weniger die internen, als vielmehr

16 G. Bischof, Die Instrumentalisierung der Moskauer Erklärung nach dem 2. Weltkrieg, in: Zeitgeschichte, 20 (1993), S. 345-366. 17 Vgl. E. Galli della Loggia, L’identità nazionale nella storia repubblicana, in: A. Giovagnoli (Hrsg.), Interpretazioni della Repubblica, Bologna 1998, S. 37-39. 18 Für einen geschichtlichen Überblick siehe: resistenzaitaliana.it. il portale della guerra della liberazione, http://www.resistenzaitaliana.it/ (Stand: 12 April 2013). 19 Vgl. J.-F. Muracciole, Histoire de la résistance en France, Paris 2003.

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die externen Akteure ausschlaggebend, auch wenn deren Bedeutung im Laufe der demokratischen Institutionalisierung immer mehr abnahm. Etwas weniger präsent als in Deutschland waren die externen Akteure in Österreich, wo die Parteien das Heft noch kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges selbst in die Hand nahmen, während in Italien die Neugründung des demokratischen Staates am geringsten von außen beeinflusst worden war20. Auch in Frankreich spielten externe Akteure bei der Ausgestaltung und Definierung der wieder erstandenen demokratischen Republik nach 1945 kaum eine Rolle. In diese Neugestaltung brachten sich die politischen Akteure massiv ein, deren Aktivitäten der staatlichen Ordnung vorgelagert waren. Alle vier Staaten entstanden als Parteienstaaten. Aber es bestanden signifikante Unterschiede, als 1945 das demokratische Leben wieder begann und der Parteienwettbewerb entweder die Einparteiensysteme oder die kriegsbedingte Parteienkonzentration mit eingeschränktem Wettbewerb ablöste. Die Republik Italien und die Republik Österreich wurden von den politischen Parteien (wieder) gegründet. Zuerst waren die Parteien da, dann kam die Republik. Nicht der Staat bediente sich der Parteien, sondern umgekehrt, die Parteien bedienten sich des Staates, nachdem sie diesen geschaffen hatten21. Und da sie den Staat geschaffen hatten, übernahmen sie staatliche Aufgaben, die bald weit über ihre Funktion gingen22. Auch Frankreich knüpfte 1945 am Parteienstaat der Vorkriegszeit an, aber als Antithese zur Dritten Republik und zum Regime von Vichy. Die Vierte Republik (1946-1958) sollte sehr schnell unter die Dominanz der Parteien fallen, die erstmals ganz klar in der charte du tripartisme zum Ausdruck kam. Aber das parlamentarische Regierungssystem war durch die dominierende Stellung des Parlaments gekennzeichnet und die starke Parteienzersplitterung führte zu einer extrem hohen politischen Instabilität23. Die Kolonisierung des Staates und die dominierende Rolle der Parteien sollte erst 1958 mit der neuen Verfassung der Fünften Republik aufgefangen werden. Damit kam es im Gegensatz zu Italien und Österreich zu einer Rückbildung der Überfunktion der Parteiendominanz. Der in de Gaulles Augen schädliche Einfluss der Parteien und der Parteienherrschaft in der Dritten und in der

Vgl. W. Merkel, Systemtransformation, S. 151. A. Pelinka, Vom Glanz und Elend der Parteien. Struktur- und Funktionswandel des österreichischen Parteiensystems (Österreich – Zweite Republik. Befund, Kritik, Perspektive, 6), Innsbruck / Wien / Bozen 2005, S. 15. 22 Vgl. P. Scoppola, La Repubblica dei partiti. Evoluzione e crisi di un sistema politico (1945-1996), Bologna 1997; A. Pappalardo, Politische Herrschaft über Gesellschaft und Institutionen in Österreich und in Italien, in: M. Morass / G. Pallaver, Österreich/Italien. Was Nachbarn voneinander wissen sollten, Wien 1992, S. 36-53. 23 U. Kempf, Das politische System Frankreichs, Wiesbaden 2007, S. 119. 20 21

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Vierten Republik wurde mit Beginn der Fünften Republik stark zurückgedrängt24. Im Unterschied zu den Parteien und zum Parteiensystem der anderen drei Länder erfolgte die Neugründung in Deutschland nicht durch die Parteien, die sich nach dem Ende des NS-Regimes nur unter der Kontrolle der Besatzungsmächte bilden konnten. Nur in der Bundesrepublik Deutschland gab es bis zum Jahre 1950 einen Lizenzzwang für Parteigründungen. Auch standen die Parteien des Jahres 1945 längst nicht mehr in einer bruchlosen Kontinuität zu den Parteien der Weimarer Republik25, wie dies in den drei anderen Ländern zum Teil der Fall war. Trotz aller Unterschiede befanden sich die vier Länder, so anachronistisch dies klingen mag, in einer historisch günstigen Phase. Es gab eine völlige Diskreditierung der faschistischen und militärischen Herrschaftsideologien, es kam zur (wie immer dann auch umgesetzten) Bestrafung der führenden Kriegsverbrecher durch die Alliierten, im Zuge des aufkommenden Ost-WestKonflikts zur besonderen Unterstützung der westlichen Demokratien durch die USA, zu Demokratisierungskampagnen, zur Realisierung des Marshallplans als effizienter ökonomischer Hilfe zum Wiederaufbau der westlichen Ökonomien, zur Einbindung der ehemaligen Kriegsgegner in internationale Wirtschaftskooperationen und westliche Militärbündnisse26. Die negativen historischen Erfahrungen mit den autokratischen Regimen und den daraus wachsenden Folgen haben den Transformationsprozess in allen vier Ländern, aber auch die Konsolidierung der neuen politischen Systeme sicherlich gefördert. Allerdings waren die Verfahren und die darin zur Debatte stehenden Inhalte zur Institutionalisierung der Demokratie wiederum recht unterschiedlich. Dies kam in erster Linie bei der Ausarbeitung der neuen Verfassungen zum Ausdruck. In Italien und in Frankreich waren die Parteien die führenden Akteure bei der Ausgestaltung der neuen Charta. In Österreich waren es die Parteien gewesen, die die Verfassung der Ersten Republik wieder zum Leben erweckten. In Deutschland hingegen standen die Parteien nur indirekt an der Wiege der „überwachten Verfassung“, zumal das Zustandekommen unter Aufsicht der Alliierten stand27. Die italienische Verfassung wurde von der Verfassunggebenden Nationalversammlung (Costituente) ausgearbeitet, die 1946 zugleich mit der Abstimmung 24 Vgl. D. Horwarth / G. Varouxakis, Contemporary France. An Introduction to French Politics and Society, London 2003, S. 35 passim. 25 E. Holtmann, Der Parteienstaat in Deutschland. Erklärungen, Entwicklungen, Erscheinungsbilder, Bonn 2012, S. 77 ss. 26 W. Merkel, Systemtransformation, S. 139. 27 Ebd., S. 153.

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über die Staatsform gewählt wurde. Die Costituente verabschiedete den Verfassungsentwurf, der 1948 in Kraft trat, aber keiner Volksabstimmung unterzogen wurde. Lediglich die Staatsform ging auf eine plebiszitäre Entscheidung zurück, als sich die Mehrheit der Italiener am 2. Juni 1946 für die Republik und gegen die Monarchie aussprachen28. In Frankreich wurde die neue Verfassung der Vierten Republik einer Volksabstimmung unterworfen. Eine Rückkehr zur Verfassung der Dritten Republik war ausgeschlossen worden, da man diese mitverantwortlich für das Desaster von 1940 ansah, gleich wie in Deutschland, wo die Weimarer Verfassung (zum Teil jedenfalls) für den politischen Aufstieg des Nationalsozialismus verantwortlich gemacht wurde29. Die von der Verfassungsgebenden Nationalversammlung ausgearbeitete Konstitution wurde in einem ersten Durchgang von einer knappen Mehrheit der Bevölkerung bei einem Referendum abgelehnt, erst der überarbeitete Entwurf fand, ebenfalls über ein Referendum, eine Mehrheit30. In Österreich hatte 1945 die Provisorische Staatsregierung die Unabhängigkeit ausgerufen und führte die Bundesverfassung von 1920 in der Fassung von 1929 wieder ein. Erst nach den Nationalratswahlen vom Oktober 1945 übergab die provisorische Staatsregierung ihre Zuständigkeiten dem neu gewählten Parlament, der Bundesregierung und dem Bundespräsidenten. Bis dahin hatte die Provisorische Staatsregierung sowohl die Funktion der Exekutive wie der Legislative ausgeübt31. In Deutschland fand die neue Verfassung nur indirekt eine demokratische Legitimation. Das Grundgesetz geht auf den Vorschlag einer Expertengruppe zurück, die von den Ministerpräsidenten der Länder bestellt worden war. Der Verfassungsvorschlag wurde anschließend vom Parlamentarischen Rat beraten und verabschiedet. Dieser Rat war im Gegensatz zur italienischen Costituente keine verfassungsgebende Versammlung. Anschließend stimmten die Landtage zu (mit Ausnahme Bayerns, das mehrheitlich dagegen stimmte). Eine definitive Legitimation durch eine Volksabstimmung wurde als nicht opportun angesehen, weil das Grundgesetz lediglich als provisorische Verfassung für den Teilstaat des Westens angesehen wurde32. So gesehen kam es nur in Frankreich zu einer direktdemokratischen Legitimation der neuen Verfassung, in Italien war diese Legitimation ex ante durch die Wahl einer Verfassungsgebenden Versammlung erfolgt. In Österreich setzte eine AllparVgl. G. Ambrosini, Referendum, Turin 1993, S. 20-24. Vgl. M.G. Schmidt, Das politische System Deutschlands, München 2007, S. 24. 30 U. Kempf, Das politische System Frankreichs, S. 117. 31 Vgl. A. Pelinka / S. Rosenberger, Österreichische Politik. Grundlagen – Strukturen – Trends, Wien 2007, S. 59. 32 Vgl. F.R. Pfetsch, Ursprünge der Zweiten Republik: Prozesse der Verfassungsgebung in den Westzonen, Opladen 1990. 28 29

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teienregierung, die erst später durch demokratische Wahlen legitimiert wurde, die untergegangene Verfassung der Ersten Republik wieder in Kraft, während es in Deutschland nur zu einer indirekten demokratischen Legitimation des Grundgesetzes über die Zustimmung durch die Landtage kam. Der Krieg und der darauf folgende Neubeginn hatten schließlich den Ausschluss der Frauen von der politischen Partizipation definitiv beseitigt. Sowohl in Italien als auch in Frankreich nahmen die Frauen 1946 erstmals an demokratischen Wahlen teil, während das Frauenwahlrecht in Österreich und Deutschland bereits 1918 unmittelbar nach dem Ende des Ersten Weltkrieges eingeführt worden war. Schon allein aus diesem Grund beruhten die Verfassungen der Nachkriegszeit auf einer breiteren Legitimationsbasis. Jenseits der formalen Legitimation gründeten die Verfassungen in Italien, Frankreich und Österreich auf der politischen Kultur des Widerstandes gegen Faschismus und Nationalsozialismus. In Österreich floss diese Kultur des Widerstandes in der gemeinsamen Erfahrung der Lagerstraße und der Legitimation durch die Alliierten in der Moskauer Erklärung zusammen, erstes Opfer des Nationalsozialismus gewesen zu sein. In Wahrheit rehabilitierte Österreich nach 1945 sehr schnell wieder die Täter beider Faschismen, des Austrofaschismus und des Nationalsozialismus, und ersetzte den Wert des Widerstandes mit dem Wert der Pflichterfüllung33. Erst mit der Kandidatur des ehemaligen UN-Generalsekretärs Kurt Waldheim für das Amt des Bundespräsidenten im Jahre 1986 kam es zu einer selbstkritischen Aufarbeitung der Vergangenheit34. In Deutschland spielte der Widerstand gegen den Nationalsozialismus für die Legitimation des neuen politischen Systems hingegen keine Rolle. Die These der Kollektivschuld überlagerte vorerst den Widerstand, den es unter äußerst schwierigen Verhältnissen auch gegen den Nationalsozialismus gegeben hatte35. Im Gegensatz dazu bildete in Italien und Frankreich der Widerstand von allem Anfang an eine zentrale Grundlage für die politische Widergeburt der beiden Länder. Der Widerstand übte in beiden Ländern unterschiedlich intensive Funktionen aus. In Italien wurde der Widerstand als nationaler Befreiungskampf auf breiter Basis zelebriert36, wodurch die politische Verant33 G. Botz, Österreich und die NS-Vergangenheit. Verdrängung, Pflichterfüllung, Geschichtsklitterung, in: D. Diner (Hrsg.), Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Zu Historisierung und Historikerstreit, Frankfurt a.M. 1987, S. 141-152. 34 A. Pelinka / E. Weinzierl (Hrsg.), Das große Tabu. Österreichs Umgang mit seiner Vergangenheit, Wien 1987. 35 Vgl. P. Steinbach / J. Tuchel (Hrsg.), Widerstand gegen die nationalsozialistische Diktatur 1933-1945, Berlin 2004. 36 Vgl. S. Peli, Storia della Resistenza in Italia, Turin 2006; O. Massari, La Resistenza, in: G. Pasquino (Hrsg.), La politica in Italia. Dizionario critico 1945-95, Rom / Bari 1995, S. 507-519.

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wortung für den faschistischen Ventennio und die Kriegsverbrechen genauso wie für die Zeit zwischen 1943-1945 minimisiert und in die Verantwortung des Nationalsozialismus abgeleitet wurde. Aber schon bald nach Kriegsende mutierte die Interpretation des Widerstandes als kollektiver Volksaufstand zur parteipolitischen Legitimation der eigenen Positionen und zur Delegitimierung der politischen Gegner37. Der Widerstand wurde in der Logik des Kalten Krieges nicht zum einigenden Bindeglied der politischen Akteure, sondern verlief längs des politischen Gegensatzes zwischen der Freiheit des Westens und der sozialer Revolution des Ostens, wenngleich es trotz aller tiefgreifenden politischen Gegensätze nie zu einem völligen Bruch unter den Parteien des Verfassungsbogens kam. Die erst zu einem späteren Zeitpunkt erfolgte politische Fragmentierung des italienischen Widerstandes war in Frankreich von allem Anfang an in einen internen und einen externen Widerstand zweigeteilt. Der interne Widerstand wurde ab 1941 von den Kommunisten hegemonisiert, der externe durch General de Gaulle. Der kommunistische wie auch der sozialistische Widerstand war von internen Widersprüchen gekennzeichnet, der in seiner Rhetorik der Wirklichkeit lange nicht immer entsprach, währen der Widerstand aus dem Lager de Gaulles in einen Widerstand gegen die Vierte Republik umfunktioniert wurde, der man vorwarf, den Erneuerungswillen des Widerstandes verraten zu haben. Diese Widersprüche und gegenseitige Delegitimierung haben den Wert des Widerstandes Schritt für Schritt ausgehöhlt und sukzessive delegitimiert38. Unterschiede gab es nicht nur bei der demokratischen Legitimation der neuen Verfassungen, die auf dem Widerstand gegen Faschismus und Nationalsozialismus aufbauten, sondern auch, was deren inhaltlich-konzeptuelle Ausgestaltung betraf. Gerade in diesem Punkt zeigten sich unterschiedliche Standpunkte nicht nur zwischen den einzelnen Ländern, sondern auch zwischen den Parteien in den jeweiligen Ländern. Die historischen Erfahrungen machten sich hier besonders bemerkbar. In Italien gingen die Parteien von einem Bruch mit der Vergangenheit aus. Die Frage blieb allerdings, wo demokratiepolitisch angeknüpft werden und was von der Vergangenheit gerettet werden sollte. Während das liberale Lager die Zeit vor der Machtergreifung des Faschismus als Zäsur ansah und dort anknüpfen wollte, gab es im linken und republikanisch-laizistischen Lager Vorbehalte, die liberale Ära überhaupt als demokratische Ära anzuerkennen39. 37 A. Di Michele, Storia dell’Italia repubblicana (1948-2008), Mailand 2008, S. 9-31. 38 Vgl. G. Quagliariello, De Gaulle e il gollismo, Bologna 2003, S. 123-142. 39 Vgl. P. Pombeni, Il peso del passato. Storia d’Italia e strategie costituzionali all’Assemblea Costituente, in: G. Miccoli / G. Neppi Modona / P. Pombeni (Hrsg.),

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Trotz einer allgemeinen rechtstheoretischen Neuorientierung lassen sich dennoch eine ganze Reihe von Anknüpfungspunkten mit den Konzepten und Modellen vor 1945 feststellen, auch wenn sie nicht immer Eingang in die Verfassung fanden, wie etwa Fragen des Korporatismus40. Auffällig ist, dass in Italien bei der Debatte über die neue Verfassung auch immer wieder auf Erfahrungen der Weimarer Verfassung zurückgegriffen wurde, was darauf hindeutet, dass es in Italien weit weniger Berührungsängste mit Weimar gab als im Deutschland der Nachkriegszeit41. Solche Vorbehalte gab es hingegen in der Bundesrepublik Deutschland, wo das Grundgesetz als Antithese nicht nur zur NS-Diktatur, sondern auch zur Weimarer Reichsverfassung angesehen wurde42. In dieser Hinsicht gab es argumentative Gleichklänge mit Frankreich (stärker) und Italien (schwächer), wo die autoritäre bzw. totalitäre Machtübernahme auch als Folge der Schwäche der jeweiligen Verfassungen angesehen wurde. Daraus resultiert auch das im Grundgesetz verankerte Prinzip der „wehrhaften Demokratie“, das in Abgrenzung zu Weimar zu einem konstitutiven Element der politischen Kultur Deutschlands nach 1945 aufsteigen sollte. Diese Kultur der „wehrhaften Demokratie“ bildete die rechtspolitische Grundlage für Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts bei der Beurteilung über das Verbot oder die Zulassung von Parteien nach Prinzipien der Verfassungstreue und Verfassungsfeindlichkeit. Wenn Deutschland nach 1945 ein stabiles politisches System entwickelte, das eine starke Parteienfragmentierung verhinderte, dann hängt dies nicht zuletzt mit dem verfassungsrechtlichen Verbot von Antisystemparteien zusammen43. Eine solche rechtspolitische Kultur gab es trotz Verbotsgesetzen in Italien, Österreich und Frankreich nicht. Im Gegensatz zu den drei anderen Ländern wählte Österreich einen anderen Weg. In einer klaren politischen Weichenstellung setzte Österreich auf Kontinuität, ganz im Sinne der Moskauer Erklärung, erstes Opfer des Nationalsozialismus gewesen zu sein. Mit dem Verfassungsüberleitungsgesetz wurde in der Fassung von 1929 auf die Verfassung von 1920 angeknüpft. Es gab zwar unterschiedliche Rechtsauffassungen, ob Österreich durch die NS-Besetzung lediglich okkupiert worden und somit als Staat nicht untergegangen, sondern nur handlungsunfähig geworden sei, oder ob Österreich La grande censura. La memoria della guerra e della resistenza nella vita europea del dopoguerra, Bologna 2001, S. 392. 40 Vgl. M. Cau, Un nuovo ordine tra stato e società. Recenti ricerche sul corporativismo, in: Storica, 16, (2010), 48, S. 138-163. 41 Vgl. C. Mortati (Hrsg.), La costituzione di Weimar, Florenz 1946. 42 Vgl. F.K. Fromme, Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz, Tübingen 1960. 43 G. Sartori, Ingegneria costituzionale comparata, Bologna 2004, S. 31-32.

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durch die Annexion ans Deutsche Reich als souveräner Staat aufgehört habe zu existieren. Auffällig ist, dass unter anderem verfassungsrechtliche Debatten über die staatsrechtliche Kontinuität oder den staatsrechtlichen Bruch Auswirkungen auf das Verhältnis zum Heiligen Stuhl hatten. Beide Male ging es um das Konkordat, in Italien abgeschlossen 1929, in Österreich abgeschlossen 1933, und dessen Überleitung in die jeweils neue Verfassung. Die Kontroversen zwischen DC und KPI (und anderen laizistischen Parteien) wie die Kontroversen zwischen ÖVP und SPÖ endeten sowohl in Rom wie in Wien mit einem politischen Kompromiss44. Frankreich vollzog einen doppelten konstitutionell-politischen Bruch mit der Vergangenheit, einmal mit der Dritten Republik sowie mit dem Regime von Vichy. Anfängliche Vorstellungen, die Verfassung der Dritten Republik lediglich einer Revision zu unterziehen, wurden bald verworfen, um einer grundsätzlichen konstitutionellen Erneuerung den Vorzug zu geben. Allerdings präsentierte sich der inhaltliche Bruch weniger radikal als der formale, zumal auch die verfassungsrechtliche Architektur der Vierten Republik an der Zentralität des Parlaments im politischen System und an politischen Praktiken festhielt, die typisch für die Dritte Republik waren45. Der definitive Bruch mit der Dritten Republik sollte erst rund zehn Jahre später erfolgen, als auch die politischen Kulturen der politischen Akteure tiefgreifende Änderungen erfahren hatten, die den Weg zur Fünften Republik ebneten und das politische System der extensiv konzipierten parlamentarischen Demokratie mit einem sempräsidentiellen System ersetzten46. Die historischen Erfahrungen mit autokratischen Systemen kamen in den demokratischen und republikanischen Verfassungen in Italien und Deutschland sehr klar zum Ausdruck und lassen erkennen, wo man die Schwachpunkte der alten Ordnung gesehen hatte. Als Antithese zum Führerprinzip kam es in beiden Ländern zur Entmachtung des Staatsoberhauptes. In Italien wurde mit der Wahl der Verfassunggebenden Nationalversammlung auch über die Monarchie abgestimmt. Das Ergebnis führte zur Einführung der Republik, weil man die Monarchie für das Naheverhältnis mit dem Faschismus mitverantwortlich machte. Die republikanische Verankerung des Staatsoberhauptes weist sehr klar darauf hin, wie sehr dessen Rolle zurückgenommen wurde. Dasselbe gilt für die Bundesrepublik Deutschland. In beiden Ländern spielt das Staatsoberhaupt jenseits von seinen (relativ geringen) Zuständigkeiten 44 A. Pelinka / S. Rosenberger, Österreichische Politik, S. 210-213. Vgl. P. Feltrin, Introduzione. La nascita della Repubblica: 1946-1948, in: L. Ricolfi / B. Loera / S. Testa (Hrsg.), Italia al voto. Le elezioni politiche della Repubblica, Turin 2012, S. 12. 45 Vgl. S. Guerrieri, Due costituzioni e tre referendum: la nascita della IV Repubblica francese, Mailand 1998. 46 Vgl. D. Thomson, Democracy in France. The Third and Fourth Republics, London 2006.

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vor allem als moralische Figur eine Rolle, als „Reservegewalt“, nicht als politischer Königsmacher47. Mit der verfassungsrechtlichen Zurücknahme des Staatsoberhauptes sollte nämlich alles vermieden werden, was zu einer starken leadership führen könnte. In Italien ging das sogar so weit, dass nicht nur das Staatsoberhaupt stark auf repräsentative Funktionen eingeschränkt, sondern auch die Rolle des Ministerpräsidenten schwach gehalten wurde, die von allem Anfang an der Macht der Parteien untergeordnet wurde. Nicht umsonst galt der Ministerpräsident der Ersten Republik nur als primus inter pares, als erster unter Gleichen. Umgekehrt wurde in Deutschland dem Bundeskanzler eine Richtlinienkompetenz eingeräumt, um seine Durchsetzungskraft gegenüber den anderen Regierungsmitgliedern zu stärken, und die ihn zum primus supra pares machten48. In Österreich blieb es bei einem politischen Verfassungssystem, das sich nach außen hin als semipräsidentielles System präsentierte, wegen des Rollenverzichts des Bundespräsidenten und seiner Fesseln, die ihm von den Parteien in der novellierten Bundesverfassung von 1929 angelegt worden waren, sich aber als parlamentarisches verfestigte49. Dennoch kam es in Österreich gerade auf Grund der historischen Erfahrung mit Austrofaschismus und Nationalsozialismus zu einer radikalen Änderung des politischen Systems. Österreich hatte zwei Diktaturen erlebt. 1934 bis 1938 fanden sich Sozialdemokraten und Nationalsozialisten in denselben Gefängnissen, in die sie das austrofaschistische Regime geworfen hatte. Nach der Annexion Österreichs 1938 fanden sich Sozialdemokraten und Austrofaschisten gemeinsam in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern wieder. Vor allem diese traumatische Erfahrung, die sich in Österreich in der Erinnerung an das gemeinsame Erlebnis der Jahre 1938-1945 und im „Geist der Lagerstraße“50 äußerste, führte dazu, dass in der Zweiten Republik die Wettbewerbsdemokratie der Ersten Republik durch die Konkordanzdemokratie ersetzt wurde51. Kontinuität hinM.G. Schmidt, Das politische System Deutschlands, S. 176-177. Vgl. G. Sartori, Ingegneria costituzionale comparata, S. 116-117. Als verfassungsrechtliche Besonderheit sei auch noch auf das im Grundgesetz eingeführte konstruktive Mißtrauensvotum verweisen, um negative Mehrheiten wie in der Weimarer Republik (Nationalsozialisten und Kommunisten) zu vermeiden. 49 G. Pallaver, Austria: la centralità del cancelliere, in: G. Pasquino (Hrsg.), Capi di governo, Bologna 2005, S. 13-40. 50 O. Rathkolb, Demokratiegeschichte Österreichs im europäischen Kontext, in: L. Helms / D.M. Wineroither (Hrsg.), Die österreichische Demokratie im Vergleich, Baden-Baden / Wien 2012, S. 70. 51 A. Pelinka, Austria. Out of the Shadow of the Past, Boulder CO 1998, S. 27-29; vgl. auch A. Lijphart, Democracy in Plural Societies: A Comparative Exploration, New Haven CT 1977, sowie G. Lehmbruch, Proporzdemokratie. Politisches System und politische Kultur in der Schweiz und in Österreich, Tübingen 1967. 47 48

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sichtlich der Zeit vor 1933 und nicht ein radikaler Antifaschismus standen im Zentrum der Überlegungen 194552. Dieses politische System überdauerte die Zeiten, selbst als die historischen Rahmenbedingungen der Zwischenkriegszeit im Lande nur mehr eine blasse Erinnerung waren und realpolitisch keinen Einfluss mehr ausübten. Gerade an diesem Beispiel zeigt sich aber, welche Kraft Geschichte ausübt und mit welcher Sprengkraft historische Erfahrungen die „Handlungskorridore“ bestimmten. Im Gegensatz zu Italien und Deutschland, die eine formell und inhaltlich neue Verfassung einführten, oder zu Österreich, das eine Kurskorrektur in der politischen Praxis vornahm, legte Frankreich mit der neuen Verfassung der IV. Republik lediglich eine Zwischenstufe ein. Der radikale Bruch erfolgte erst im Übergang zur V. Republik mit der Einführung eines semipräsidentiellen Systems, das allerdings nicht mehr eine historische Konsequenz des Zweiten Weltkrieges war, sondern eine Folge der Kolonialkriege und des damit einhergehenden Entkolonialisierungsprozesses53. Was die politische Legitimation der Akteure betrifft, die an der Ausarbeitung oder Bestätigung der (neuen) Verfassungen beteiligt waren, lassen sich weitere Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten in den vier Ländern feststellen, genauso, was deren Rolle in den jeweiligen Parteiensystemen betrifft. In Wien hatten 1945 drei Parteien, die Österreichische Volkspartei, die Sozialistische und die Kommunistische Partei Österreichs, die Unabhängigkeit Österreichs ausgerufen und eine Provisorische Staatsregierung gebildet. Trotz der im Oktober 1945 erfolgten Wahlniederlage der KPÖ blieb es bis 1947 bei der Drei-Parteien-Koalition aus ÖVP, SPÖ und KPÖ. Obgleich eine Antisystempartei, wurde die KPÖ, die bis 1959 im österreichischen Nationalrat vertreten war, als Staatsgründungspartei nie verboten54. Die Kommunistische Partei Italiens, die den größten Beitrag im Widerstand gegen Faschismus und Nationalsozialismus geliefert hatte, war bereits 1944 in die Regierung der nationalen Einheit aller Parteien des Comitato di Liberazione Nazionale (CLN) eingetreten und war in der Consulta Nazionale vertreten. Erst nach den Parlamentswahlen von 1948 blieb die KPI von der Regierung ausgeschlossen, blieb aber ein integrierender Teil der Parteien des Verfassungsbogens55. Die Antisystempartei KPI war Teil des Systems und wirkte im Rahmen der italienischen Konkordanzdemokratie an der Gestaltung des O. Rathkolb, Demokratiegeschichte Österreichs, S. 70. Vgl. D. Horwarth / G. Varouxakis, Contemporary France, S. 36-37. 54 Vgl. B. Liegl, Kleinparteien, in: H. Dachs u.a. (Hrsg.), Politik in Österreich. Das Handbuch, Wien 2006, S. 403-405; vgl. auch M. Mugrauer, Die Politik der KPÖ in der Provisorischen Regierung Renner, Innsbruck / Wien / Bozen 2006. 55 Vgl. P. Spriano, Storia del Partito Comunista Italiano, 5 Bde., Turin 1967-1975. 52 53

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Staates mit56. Dasselbe geschah in Frankreich, wo die KPF ebenfalls einen ganz wesentlichen Beitrag bei der Befreiung des Landes im Widerstand gegen die NS-Militärmacht geleistet hatte. Auch in Frankreich blieb die KPF, welche die stärkste Partei in der Verfassungsgebenden Nationalversammlung gewesen war, bis 1947 mit an der Regierung, bis sie im Laufe der Spannungen im Zuge des sich zuspitzenden Kalten Krieges davon ausgeschlossen wurde. Aber auch die Antisystempartei KPF blieb ein konstitutiver Teil des französischen Parteiensystems und dadurch des politischen System57. Anders in der Bundesrepublik Deutschland. Das Prinzip der „wehrhaften Demokratie“ führte dazu, dass die KPD als Antisystempartei vom Deutschen Bundesverfassungsgerichtshof 1956 verboten wurde. In den Ländern Österreich, Frankreich und Italien war die Kommunistische Partei durch ihre antifaschistische Rolle im Kampf gegen das faschistische und nazistische Regime legitimiert. In Deutschland wurde der KPD, obgleich ebenfalls im NS-Widerstand stark präsent, die politische Legitimation im demokratischen Rechtsstaat auf Grund des antagonistischen Verhältnisses zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik entzogen58. Daran anknüpfend kann auf die Kontinuität der politischen Eliten verwiesen werden, die den radikalen historischen Bruch mit den politischen Systemen und mit den politischen Kulturen der Vorkriegszeit widerlegen. In allen vier Ländern befanden sich politische Akteure in den ersten Reihen der neuen Parteien, die bereits vor den autokratischen Intervallen politisch aktiv gewesen waren. In Italien symbolisierte diese Kontinuität Alcide De Gasperi, der bereits in der liberalen Ära eine wichtige Rolle innerhalb des Partito Popolare, im Anschluss daran bei der Democrazia Cristiana spielte. Dasselbe gilt für den Österreicher Karl Renner, der 1918 zum Staatskanzler gewählt wurde und 1945 diese Funktion ein zweites Mal übernahm, um den Staat in eine neue demokratische Ära zu führen. In Deutschland war dies Konrad Adenauer, der bereits in der Weimarer Republik parteipolitisch aktiv gewesen war und 1949 zum ersten deutschen Bundeskanzler gewählt wurde59. Das Ende des Zweiten Weltkrieges hatte zwar eine neue demokratische Kultur in Europa eingeleitet, aber noch lange nicht die alte politische Kultur des Nationalismus überwunden. Der Umstand, dass Frankreich über alle ideologischen Differenzen hinweg die Gründung der Europäischen VerteidiG. Mammarella, L’Italia contemporanea (1943-1985), Bologna 1985, S. 111-118. Vgl. M. Lazar / S. Courtois, Histoire du parti communiste français, Paris 1995. 58 O. Niedermayer, Die Entwicklung des bundesdeutschen Parteiensystems, in: F. Decker / V. Neu (Hrsg.), Handbuch der deutschen Parteien, Bonn 2007, S. 122. 59 P. Koch / K. Körner, Konrad Adenauer, Düsseldorf 2004. 56 57

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gungsgemeinschaft ablehnte, hing mit der jahrhundertelangen Erbfeindschaft zwischen Frankreich und Deutschland zusammen60, genauso wie diese Erbfeindschaftsideologie zwischen Österreich und Italien aufrecht blieb und sich in den Auseinandersetzungen rund um die Südtirolfrage entlud61. Die Geschichte war die ständige Begleiterin der politischen Akteure im „Handlungskorridor“ der Nachkriegszeit. Sie bildete den Ausgangspunkt für einen demokratischen Neustart, sie bildete die These bzw. Antithese für politische Brüche und Kontinuitäten, wurde zur Legitimation eines politischen Zustandes wie auch von politischen Prozessen und für die Deutungshoheit des politischen Diskurses und somit für die Durchsetzung von Macht eingesetzt. Legitimität als Zustand beschreibt die spezifische, variable Ausprägung der Anerkennungswürdigkeit einer bestimmten Ordnung. Legitimität als Prozess verweist auf einen permanenten Vorgang, der sich gegenüber Alternativen behaupten muss. In beiden Fällen spielt Geschichte eine bedeutende Rolle. Und schließlich: Wenn Legitimität die Kapazität des Systems ist, den Glauben zu erzeugen und zu erhalten, dass die aktuellen politischen Institutionen die am meisten geeigneten für die Gesellschaft sind, so können politische Systeme selbst zu ihrer Legitimität beitragen, da Legitimität kein normativ statisches, sondern ein dynamisches Konzept ist62. Die Wege in eine demokratische Ära waren in den vier hier untersuchten Ländern unterschiedlich, jedes Land bildet für sich genommen einen Sonderfall. Doch alle Besonderheiten flossen in den großen Strom der politischen Erneuerung, die sich an Aufklärung, Demokratie und Frieden orientierte. Diese Bruchlinie der Erneuerung bildete den Ausgangspunkt für jenes große Projekt, das als Antithese zum innereuropäischen Konflikt, zu Krieg und Zerstörung angesehen wurde, das den nationalistischen Expansionsdrang der europäischen Staaten überwand63. Die Europäische Union ist aus den negativen Erfahrungen der Zeit bis 1945 entstanden, aus den Erfahrungen zweier Weltkriege und aus dem Zivilisationsschock des Holocaust. Daraus müsste man schließen, dass die Europäische Union ein Produkt der Geschichte ist. Aber so paradox dies auch klingen mag, die Europäische Union hat nichts mit Geschichte zu tun, weil sie sich nicht als Fortsetzung von irgendwelchen

60 C. Bloch, Vom Erbfeind zum Partner: Die deutsch-französischen Beziehungen vor und nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Jahrbuch des Instituts für Deutsche Geschichte, 10 (1981), S. 363-398; Aus Politik und Zeitgeschichte, 63 (2013), 1-3: Deutschland und Frankreich. 61 C. Gatterer, Erbfeindschaft Italien-Österreich, Wien 1972. 62 Vgl. U. Sarcinelli, Legitimität, in: O. Jarren / U. Sarcinelli / U. Saxer (Hrsg.), Politische Kommunikation in der demokratischen Gesellschaft. Ein Handbuch mit Lexikonteil, Opladen / Wiesbaden 1998, S. 253, 267. 63 W. Weidenfeld, Die Europäische Union, München 2010, S. 61-65.

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untergegangenen Reichen versteht und somit in keiner historischen Kontinuität steht. Die Geschichte ist in Europa lebendig, aber nicht mehr als Vorbild, sondern als Lehrstück aus der Geschichte64.

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A. Pelinka, Europa. Ein Plädoyer, Wien 2011, S. 12-16.

Verzeichnis der Autoren Maurizio Cau, Trient Michele Marchi, Bologna Günther Pallaver, Innsbruck Paolo Pombeni, Bologna / Trient David M. Wineroither, Innsbruck / Budapest