Demokratisierung nach Auschwitz. Eine Geschichte der westdeutschen Sozialwissenschaften in der Nachkriegszeit [1. ed.] 9783835351981, 9783835348738

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Demokratisierung nach Auschwitz. Eine Geschichte der westdeutschen Sozialwissenschaften in der Nachkriegszeit [1. ed.]
 9783835351981, 9783835348738

Table of contents :
Umschlag
Titel
Impressum
Inhalt
Vorwort
Einleitung: Sozialwissenschaften in Westdeutschland nach 1945: Verschwiegenheit – Kooperation – Konflikt
A. Die westlichen Sozialwissenschaften im frühen Kalten Krieg
1. Die Sozialwissenschaften im nachkriegszeitlichen Westdeutschland
1.1. Die »Stunde Null« der Sozialwissenschaften
1.2. Das soziale Feld der Sozialwissenschaften in Westdeutschland nach 1945
1.3. Rückkehrer und Dabeigewesene: Die Akteursgruppen um Horkheimer und Schelsky
2. Der Aufstieg der Sozialwissenschaften als »Demokratisierungswissenschaften« nach 1945
2.1. Die Etablierung der Sozialwissenschaften in Westdeutschland durch Kooperationen
2.2. Sozialwissenschaftler als Produzenten von Demokratisierungswissen
2.3. Fragmentierungen sozialwissenschaftlichen Erkennens in der Nachkriegszeit
3. Rekonfigurationen: Netzwerke, Übersetzung und Zirkulation sozialwissenschaftlichen Wissens im frühen Kalten Krieg
3.1. Denkstile, Idiome, Übersetzungen
3.2. Allianzen und Institutionalisierungen
3.3. Produktion und Zirkulation sozialwissenschaftlichen Wissens
4. Das Quellenkorpus
B. Wandel und Neukonstitution der deutschen Sozialwissenschaften (1931–1957)
5. Transatlantische Übersetzungen und ihre Grenzen: Das IfS von 1931 bis 1949
5.1. Die Herausbildung von Denkstil und Idiom des Denkkollektivs um Horkheimer in Frankfurt
5.2. Ein neuer deutsch-amerikanischer Denkstil
6. Bildung und Aufspaltung des Leipziger soziologischen Denkstils (1931–1949)
6.1. Der Leipziger soziologische Denkstil und seine Bedeutung für Helmut Schelskys wissenschaftlich-politisches Denken
6.2. Die Neukonfiguration von Schelskys sozialwissenschaftlichem Denken nach 1945
7. Sozialwissenschaften und Demokratisierung: Empirische Sozialforschung, Orientierungswissen und Erziehungspolitik
7.1. Frankfurt am Main
7.2. Hamburg
7.3. Ausgangslage um 1950
7.4. Neue und alte Allianzen: Kooperationsverhältnisse – Konkurrenzlagen – Konfliktpotenziale
8. Die sozialempirische Wissensebene: Experimentelle Praxis in Nachkriegsdeutschland
8.1. Das »Gruppenexperiment« des IfS: Demokratisierung durch kritische Sozialforschung (1950 /51)
8.2. Helmut Schelskys sozialempirische Analysen sozialen Wandels
9. Orientierungswissen: Philosophisch-soziologische Gesellschaftskritik, Institutionen- und Techniksoziologie
9.1. Ich-Stärke und Nonkonformismus gegen totalitäre Barbarei
9.2. Von der »nivellierten Mittelstandsgesellschaft« zur »wissenschaftlichen Zivilisation«
10. Die erziehungspolitische Wissensebene: Der kritisch-autonome Intellektuelle gegen die Funktionselite
10.1. Gesellschaftskritische Individuen für Politik und Verwaltung
10.2. Die Erziehung zum Wirklichkeitsbewusstsein und die Ausbildung der zukünftigen Verwaltungselite
C. Das Erstarken von Theorie und Erziehungspolitik in den Sozialwissenschaften und die Latenz der NS-Vergangenheit (1957–1961)
11. Das Auseinanderbrechen der Allianzen: Die epistemischen Transformationen in den Sozialwissenschaften Ende der 1950er Jahre
11.1. Ein Treffen in Frankfurt am Main am 1. März 1957
11.2. Schelskys Ortsbestimmung der deutschen Soziologie 1959
12. Zweierlei Vergangenheitsbewältigung: Kritik und Ignoranz
12.1. Auschwitz als Angelpunkt demokratischer Erziehung
12.2. Technischer Sachzwang und Bildungsreform
13. Der »Positivismusstreit«: Die westdeutschen Sozialwissenschaften zwischen Emanzipation und Reprovinzialisierung
13.1. Poppers Thesen
13.2 Adornos Erwiderung
13.3 Emanzipation oder Reprovinzialisierung?
D. Schlussbetrachtungen: Fragmentierte Sozialwissenschaften, unvollständige Demokratisierung
E. Anhang
1. Abkürzungsverzeichnis
2. Quellen- und Literaturverzeichnis
Personenregister

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Fabian Link Demokratisierung nach Auschwitz

Fabian Link

Demokratisierung nach Auschwitz Eine Geschichte der westdeutschen Sozialwissenschaften in der Nachkriegszeit

Wallstein Verlag

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungsfonds Wissenschaft der VG WORT

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Wallstein Verlag, Göttingen 2022 www.wallstein-verlag.de Vom Verlag gesetzt aus der Stempel Garamond und der Thesis Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorf © SG-Image unter Verwendung folgender Abbildungen (v.o.n.u./v.l.n.r.): 1) Ehemalige »Akademie für Gemeinwirtschaft« in Hamburg-Rotherbaum (Universität Hamburg). – 2) Niklas Luhmann, Helmut Schelsky und Dietrich Storbeck bei einer Konferenz der Soziologie-Fakultät an der Universität Bielefeld, 1969 (Bernhard Preker/Universitätsarchiv Bielefeld, FOS 00235). – 3) Deutsche Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer, 1960 (DUV-Archiv). – 4) Ehemaliges »Institut für Soziologie« an der Goethe-Univeristät Frankfurt, 1950er Jahre (Universitätsarchiv Frankfurt). – 5) Theodor W. Adorno und Gretel Adorno in Bergmannskleidung, mit einem Betriebsleiter und Wolfgang Schneider von der Mannesmann AG (Zeche Consolidation), 1954 (Akademie der Künste, Berlin). – 6) Max Horkheimer, 1968 (Universitätsarchiv Frankfurt). ISBN (Print) 978-3-8353-5198-1 ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4873-8

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung: Sozialwissenschaften in Westdeutschland nach 1945: Verschwiegenheit – Kooperation – Konflikt . . . . . . . . . . . . . . . .

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A. Die westlichen Sozialwissenschaften im frühen Kalten Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Die Sozialwissenschaften im nachkriegszeitlichen Westdeutschland . .

32

1.1. Die »Stunde Null« der Sozialwissenschaften . . . . . . . . . . . . . 1.2. Das soziale Feld der Sozialwissenschaften in Westdeutschland nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3. Rückkehrer und Dabeigewesene: Die Akteursgruppen um Horkheimer und Schelsky . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

32

2. Der Aufstieg der Sozialwissenschaften als »Demokratisierungswissenschaften« nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . 2.1. Die Etablierung der Sozialwissenschaften in Westdeutschland durch Kooperationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Sozialwissenschaftler als Produzenten von Demokratisierungswissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3. Fragmentierungen sozialwissenschaftlichen Erkennens in der Nachkriegszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3. Rekonfigurationen: Netzwerke, Übersetzung und Zirkulation sozialwissenschaftlichen Wissens im frühen Kalten Krieg . . . . . . . 3.1. Denkstile, Idiome, Übersetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3.3. Produktion und Zirkulation sozialwissenschaftlichen Wissens . . . .

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4. Das Quellenkorpus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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B. Wandel und Neukonstitution der deutschen Sozialwissenschaften (1931 – 1957) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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5. Transatlantische Übersetzungen und ihre Grenzen: Das IfS von 1931 bis 1949 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3.2. Allianzen und Institutionalisierungen . . . . . . . . . . . . . . . . .

5.1.

Die Herausbildung von Denkstil und Idiom des Denkkollektivs um Horkheimer in Frankfurt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

5.2. Ein neuer deutsch-amerikanischer Denkstil . . . . . . . . . . . . .

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6.

Bildung und Aufspaltung des Leipziger soziologischen Denkstils (1931–1949) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149

6.1. Der Leipziger soziologische Denkstil und seine Bedeutung für Helmut Schelskys wissenschaftlich-politisches Denken . . . . . 152 6.2. Die Neukonfiguration von Schelskys sozialwissenschaftlichem Denken nach 1945 . . . . . . . . . . . . . 202

7. Sozialwissenschaften und Demokratisierung: Empirische Sozialforschung, Orientierungswissen und Erziehungspolitik . . . . . 219 7.1

Frankfurt am Main . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222

7.2

Hamburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235

7.3 7.4

Ausgangslage um 1950 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Neue und alte Allianzen: Kooperationsverhältnisse – Konkurrenzlagen – Konfliktpotenziale . . . . . . . . . . . . . . . 261

8. Die sozialempirische Wissensebene: Experimentelle Praxis in Nachkriegsdeutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 8.1. Das »Gruppenexperiment« des IfS: Demokratisierung durch kritische Sozialforschung (1950/51) . . . . . . . . . . . . . . 306 8.2. Helmut Schelskys sozialempirische Analysen sozialen Wandels . . 347

9. Orientierungswissen: Philosophisch-soziologische Gesellschaftskritik, Institutionen- und Techniksoziologie . . . . . . . 376 9.1. Ich-Stärke und Nonkonformismus gegen totalitäre Barbarei . . . . 386 9.2. Von der »nivellierten Mittelstandsgesellschaft« zur »wissenschaftlichen Zivilisation« . . . . . . . . . . . . . . . . . 407

10. Die erziehungspolitische Wissensebene: Der kritisch-autonome Intellektuelle gegen die Funktionselite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424 10.1 Gesellschaftskritische Individuen für Politik und Verwaltung . . . . 430 10.2. Die Erziehung zum Wirklichkeitsbewusstsein und die Ausbildung der zukünftigen Verwaltungselite . . . . . . . . 458

C. Das Erstarken von Theorie und Erziehungspolitik in den Sozialwissenschaften und die Latenz der NS-Vergangenheit (1957 – 1961) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471 11. Das Auseinanderbrechen der Allianzen: Die epistemischen Transformationen in den Sozialwissenschaften Ende der 1950er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 474 11.1. Ein Treffen in Frankfurt am Main am 1. März 1957 . . . . . . . . . 484 11.2. Schelskys Ortsbestimmung der deutschen Soziologie 1959 . . . . . 496

12. Zweierlei Vergangenheitsbewältigung: Kritik und Ignoranz . . . . . . 510 12.1. Auschwitz als Angelpunkt demokratischer Erziehung . . . . . . . . 516 12.2. Technischer Sachzwang und Bildungsreform . . . . . . . . . . . . . 521

13. Der »Positivismusstreit«: Die westdeutschen Sozialwissenschaften zwischen Emanzipation und Reprovinzialisierung . . . . . . . . . . . . 538 13.1 Poppers Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 543 13.2 Adornos Erwiderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 547 13.3 Emanzipation oder Reprovinzialisierung? . . . . . . . . . . . . . . 557

D. Schlussbetrachtungen: Fragmentierte Sozialwissenschaften, unvollständige Demokratisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 559 E. Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 571 1. Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 571 2. Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 573 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 627

Vorwort Im September 2018 ist das Rohmanuskript dieses Buches als Habilitationsschrift im Fachbereich 08 Philosophie und Geschichte an der Goethe-Universität Frankfurt am Main eingereicht und im Februar 2019 angenommen worden. Dies wäre ohne die Unterstützung durch zahlreiche Menschen kaum möglich gewesen, die mich bei der Arbeit in den Archiven und mit den publizierten Quellen sowie bei der Ausarbeitung des Manuskripts begleiteten. Allen voran danke ich Moritz Epple, der die Habilitationsschrift stets mit kritischem Blick betreut hat. Vier weitere Gutachten, deren Kritik und Anregungen für die Überarbeitung ausgesprochen hilfreich waren, verfassten Christoph Cornelißen, Andreas Fahrmeir, Axel Honneth und Stephan Moebius. Christian Simon und Philipp Sarasin lasen und kritisierten die ersten Exposés. Auf Einladung Carsten Reinhardts konnte die Projektidee im Bielefelder Kolloquium zur Wissenschaftsforschung 2012 erstmals vorgestellt werden. Erste Ergebnisse und Kapitel wurden im wissenschaftshistorischen Kolloquium in Frankfurt und in weiteren Kolloquien zur Diskussion gestellt, so am Institut für Sozialforschung bei Axel Honneth und Sidonia Blättler, im Fachbereich Wissenschaftsgeschichte der LMU München bei Kärin Nickelsen, am Züricher Zentrum Geschichte des Wissens bei Svenja Goltermann und Philipp Sarasin sowie im Luzerner Seminar für Kulturwissenschaften und Wissenschaftsforschung bei Christoph Hoffmann. Die zahlreichen Gespräche mit Ruben Marc Hackler trieben die Weiterentwicklung des Projekts voran, ebenso die Diskussionen mit Mitchell G. Ash, Michael Becker, Britta Behm, Dirk Braunstein, Steffen Bruendel, Alex Demirović, Uwe Dörk, Will Gray, Raphael Gross, Norbert Grube, Michael Hagner, Verena Halsmayer, Daniel Hausmann, Martin Herrnstadt, Mark W. Hornburg, Werner Konitzer, Scott H. Krause, Falk Müller, Gerhard Schäfer, Laurens Schlicht, Christa Sonnenfeld, Benjamin Steiner und Jan Surman. Ihnen allen sei herzlich gedankt. Weiterer Dank gilt den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der besuchten Archive, allen voran Matthias Jehn und Stephen Roeper vom Archivzentrum der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main sowie Christa Sonnenfeld vom Archiv des Instituts für Sozialforschung. Als Sonnenfeld 2015 verstarb, war dies ein sowohl fachlich als auch persönlich schwerer Verlust. Danken möchte ich auch dem Förderungsfonds Wissenschaft der VG Wort, der die Publikation des Buchs ermöglicht hat. Daniel Ristau hat das Manuskript dankenswerterweise sorgfältig lektoriert und den Verfasser auf manchen Lapsus hingewiesen. Für die gute Zusammenarbeit mit dem Wallstein Verlag sei Ina Lorenz und Anna-Theresa Kölczer herzlich gedankt. Besonders möchte ich Nelli Kisser danken: Ohne ihre kreativen Einwände und ihre immerzu freundlich vorgetragene Kritik wäre das Projekt nicht zum Abschluss gekommen. Ihr widme ich dieses Buch.

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vorwort

Schließlich noch zwei Hinweise zu den zitierten Quellen und zur geschlechtergerechten Sprache: Zeichen- und offensichtliche Schreibfehler habe ich stillschweigend korrigiert, gesperrte oder in den Quellen besonders hervorgehobene Wörter und Sätze kursiv gesetzt. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die durchgängige Benennung beider Geschlechter verzichtet. Bei der Verwendung männlicher Bezeichnungen ist deshalb im Allgemeinen die weibliche Form stets mitgedacht, sofern nicht explizit auf Letztere verwiesen wird.

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Einleitung: Sozialwissenschaften in Westdeutschland nach 1945: Verschwiegenheit – Kooperation – Konflikt Das akademische und intellektuelle Feld Westdeutschlands von 1945 bis gegen Ende der 1950er Jahre war geprägt durch den demokratischen Neuanfang, die deutliche Absetzung vom Nationalsozialismus und das Schweigen über die NS Vergangenheit deutscher Wissenschaftler. Diese spezifische Konstellation von demokratischem Aufbruchswillen, Kritik an den Fehlentwicklungen der deutschen Geschichte und verschwiegener Vergangenheit war in den Sozialwissenschaften besonders ausgeprägt. Denn erstens galten die Sozialwissenschaften als Inbegriff moderner und demokratienaher Wissenschaften, zweitens hatte insbesondere die Soziologie schon seit dem späten 19. Jahrhundert den Ruf als reflexivgesellschaftskritische Wissenschaft und drittens führten viele Sozialwissenschaftler in Westdeutschland nach 1945 Karrieren fort, die sie im NS-Regime begonnen hatten. Zu dieser, im Hinblick auf das Funktionieren der westdeutschen postnationalsozialistischen Gesellschaft, die Rolle der Sozialwissenschaftler bei der demokratischen Neuerziehung der Deutschen und ihren Umgang mit der NS-Vergangenheit höchst problematischen Konstellation trugen zwei soziale Gruppen maßgebend bei: einerseits die aus ihrem jeweiligen Emigrationsland Zurückgekehrten, andererseits jene, die nach 1933 in Deutschland geblieben waren und in der Nachkriegszeit ihre Laufbahnen weiterverfolgten. Die vorliegende Studie erzählt die Geschichte von zwei zentralen Vertretern dieser beiden Gruppen – Max Horkheimer und Helmut Schelsky – sowie von deren Umfeld, wozu insbesondere Theodor W. Adorno und Arnold Gehlen gehören. Die Untersuchung verfolgt zwei Anliegen: Zum einen behandelt sie die Geschichte der Sozialwissenschaften in der Bundesrepublik im historischen Kontext des frühen Kalten Krieges. Zum anderen geht sie den Verflechtungen zwischen zurückgekehrten und ›dabeigewesenen‹ Sozialwissenschaftlern nach, die mit Blick auf den sozialwissenschaftlichen Umgang mit der NS -Vergangenheit analysiert werden.1 Um 1950 kehrten Horkheimer, Friedrich Pollock und Adorno, die Kerngruppe des Instituts für Sozialforschung (IfS), aus der amerikanischen Emigration nach Frankfurt am Main zurück. 1951 öffnete Horkheimer die Tore des neuen IfS, das mit Mitteln der Stadt Frankfurt, des Landes Hessen, des McCloy Funds (aus 1 Eine ähnliche Perspektive, allerdings nicht spezifisch auf Sozialwissenschaftler bezogen, nimmt Atina Grossmann ein. Vgl. Atina Grossmann, Juden, Deutsche, Alliierte. Begegnungen im besetzten Deutschland, aus dem Englischen v. Ulrike Bischoff (Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden, Bd.34). Göttingen 2012, S.12-33.

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einleitung: sozialwissenschaften in westdeutschland nach

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dem Special Projects Program) und weiterer privater Unterstützer errichtet worden war.2 In den 1950er Jahren führte das IfS zahlreiche empirische Forschungsprojekte in Frankfurt und anderen, teils auch ländlichen Gemeinden Westdeutschlands durch. Diese behandelten Themen, die für die demokratische Erziehungspolitik in der postnationalsozialistischen Gesellschaft zentral waren. Zudem hielten Horkheimer und Adorno im Dienst der demokratischen Neuerziehung zahlreiche öffentliche Vorträge, gestalteten Radio- und Fernsehsendungen mit. Ihr Engagement für eine emanzipatorisch-demokratische Erziehung übte spätestens ab den 1960er Jahren auf die bundesrepublikanische Bildungspolitik großen Einfluss aus.3 In der öffentlichen Wahrnehmung war die Nachkriegsgeschichte der »Frankfurter Schule«4 eine Erfolgsgeschichte. Nicht nur Remigranten wie Horkheimer und seine engsten Mitarbeiter betrieben in den 1950er Jahren empirische Sozialforschung, sondern auch solche Sozialwissenschaftler, die ihre Laufbahnen während des NS-Regimes begonnen oder weitergeführt hatten und spätestens in den frühen 1950er Jahren wieder in Amt und Würden waren. Unlängst haben Historiker der Sozialwissenschaften wie Carsten Klingemann die von Rainer M. Lepsius und Uta Gerhardt geprägte Vorstellung, eine Sozialforschung nach ernst zu nehmenden wissenschaftlichen Kriterien habe es in Deutschland erst nach 1945 gegeben,5 widerlegt. Ihren Praktiken nach seien als Sozialwissenschaftler so bereits Akteure zu bezeichnen, die als Statistiker, Staatswissenschaftler, Ökonomen, Soziografen und Meinungsforscher arbeiteten und möglicherweise sogar eine »deutsche Soziologie« befürwortet hatten. Sie alle hatten am NS-Regime auf vielfältige Weise partizipiert und von der NS-Politik profitiert, indem sie Expertisen für die bevölkerungspolitische Neuordnung des von den Nationalsozialisten besetzten Europas aus2 Rolf Wiggershaus, Die Frankfurter Schule. Geschichte. Theoretische Entwicklung. Politische Bedeutung, 7. Aufl. München 2008, S.492; Johannes Weyer, Westdeutsche Soziologie 1945-1960. Deutsche Kontinuitäten und nordamerikanischer Einfluss (Soziologische Schriften, Bd.41). Berlin 1984, S.355. 3 Vgl. Clemens Albrecht u.a., Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule. Frankfurt am Main/New York 1999. 4 Laut Klaus Lichtblau stammte der Ausdruck »Frankfurter Schule« zuerst von Franz Oppenheimer, der seinen Ansatz von der »Kölner« und der »Heidelberger Schule« der Soziologie abzugrenzen suchte. Vgl. Klaus Lichtblau, Einleitung, in: Franz Oppenheimer, Schriften zur Soziologie, hrsg. v. Klaus Lichtblau. Wiesbaden 2015, S.7-24, hier: S.22. Erst im Laufe der 1960er Jahre etablierte sich diese Bezeichnung für den Kreis um Max Horkheimer und das IfS. 5 Vgl. M. Rainer Lepsius, Die Entwicklung der Soziologie nach dem Zweiten Weltkrieg 1945 bis 1967, in: Günther Lüschen (Hrsg.), Deutsche Soziologie seit 1945. Entwicklungsrichtungen und Praxisbezug (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderhefte, Bd.21). Köln 1979, S.25-70; Uta Gerhardt, Soziologie im zwanzigsten Jahrhundert. Studien zu ihrer Geschichte in Deutschland. Stuttgart 2009.

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einleitung: sozialwissenschaften in westdeutschland nach

1945

stellten oder völkische Theoreme propagierten.6 Zu ihnen gehörte Helmut Schelsky. Und doch war auch Schelsky in den 1950er und 1960er Jahren ein ausgesprochen erfolgreicher Sozialwissenschaftler, Wissenschaftspolitiker und meinungsbildender Intellektueller, der wie Horkheimer, Pollock und Adorno für die westdeutsche Demokratie einstand.7 Die Geschichten beider Gruppen sind eng verflochten. Ihre Akteure standen nicht nur miteinander im Konflikt – sei es auf persönlicher, wissenschaftlicher, wissenschaftspolitischer und politisch-ideologischer Ebene –, sondern sie arbeiteten bei Projekten empirischer Sozialforschung auch zusammen und diskutierten Methoden wie theoretische Ansätze der Sozialwissenschaften. Während sich für die frühen 1950er Jahre mehrheitlich Kooperationsverhältnisse feststellen lassen, traten in den späten 1950er Jahren Konflikte zunehmend an die Oberfläche. Mit dem »Positivismusstreit« ab 1961 brach sich der schwelende Konflikt im sozialwissenschaftlichen Diskurs endgültig öffentlich Bahn. Allerdings standen sich bei diesem langjährigen Disput nicht die Hauptvertreter der beiden hier behandelten Gruppen gegenüber, vielmehr wiesen Adornos und Schelskys Ansichten in theoretischer Hinsicht um 1960 vielschichtige Übereinstimmungen aus, die gegen Karl R. Popper in Stellung gebracht wurden. Wie es dazu kam und welchen Einfluss das lange Verschweigen der Vergangenheit der Beteiligten und die Frage nach der Schuld der Deutschen an den NS-Verbrechen auf diese Debatte hatte, wird die vorliegende Studie zu erhellen suchen. Der »Positivismusstreit« beschließt den zeitlichen Rahmen dieser Untersuchung. In ihrem Mittelpunkt stehen die Sozialwissenschaftler der Gruppen um Horkheimer und Schelsky sowie deren Umfeld, nicht jedoch die Exponenten der jeweils zweiten Generation dieser Gruppen wie Jürgen Habermas und Niklas Luhmann. Dieses Vorgehen bedingen die Schutzfristen für persönliche Daten: Protagonisten, die noch leben oder deren Nachlässe größtenteils nicht zugänglich sind, können nur schwer mit ausreichender kritischer Distanz historisiert werden. Für die Wahl, die vorliegende Untersuchung in den frühen 1960er Jahren enden zu lassen, sprechen auch wissenschafts- und zeithistorische Gründe. Christoph Weischer sieht im Jahr 1965 die Gründungsphase der empirischen Sozialforschung in Westdeutschland abgeschlossen.8 Joachim Fischer bezeichnet die Zeit zwischen 1950 und 1960 als Aufbaujahrzehnt der westdeutschen Sozio6 Carsten Klingemann, Soziologie und Politik. Sozialwissenschaftliches Expertenwissen im Dritten Reich und in der frühen westdeutschen Nachkriegszeit. Wiesbaden 2009, S.19-21. 7 Alexander Gallus, Schillernder Schelsky. Zur Einführung, in: ders. (Hrsg.), Helmut Schelsky – der politische Anti-Soziologe. Eine Neurezeption. Göttingen 2013, S.7-16, hier: S.9-11. 8 Christoph Weischer, Das Unternehmen ›Empirische Sozialforschung‹. Strukturen, Praktiken und Leitbilder der Sozialforschung in der Bundesrepublik Deutschland (Ordnungssysteme, Bd.14). München 2004, S.37-234.

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logie, gefolgt vom Ausbaujahrzehnt in den Jahren zwischen 1960 und 1970.9 Der Beginn des »Positivismusstreit« 1961 war dabei mehr als bloß ein fachinterner Einschnitt: Mit ihm verbanden sich weitere einschneidende Umbrüche in der bundesrepublikanischen Gesellschaft und darüber hinaus. Ulrich Herbert schreibt, dass wirtschaftlicher Aufbau und Westintegration der Bundesrepublik die prägenden Entwicklungen der Zeit bis 1961 waren.10 Zudem erreichte die Radikalisierung zwischen »Ost-« und »Westblock« im Kalten Krieg um 1961/62 mit Mauerbau und Kubakrise einen vorläufigen Höhepunkt.11 In der Bundesrepublik markierten diese Zäsur die vom Berliner regierenden Bürgermeister Willy Brandt eingeleitete Entspannungspolitik ab 1961 sowie die im gleichen Jahr einsetzende westdeutsche Studentenbewegung, die ihren Anlass im Ausschluss des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS) aus der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) hatte.12 Morten Reitmayer sieht die Nachkriegsjahre bis etwa 1960 »als eine Phase der intensiven Suche nach neuen politisch-ideellen Grundlagen für Politik und Gesellschaft«. In dieser Zeit habe sich ein demokratischer, am Westen orientierter Meinungshorizont konstituiert, der in den Folgejahren geöffnet und durch vermehrte journalistische Zeitkritik erweitert worden sei.13 Mit der nach 1960 häufiger geäußerten Kritik verknüpfte sich eine Intensivierung der Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen und den daran beteiligten Akteuren. Im Fernsehen lief von Oktober 1960 bis Mai 1961 die 14-teilige Dokumentation »Das Dritte Reich«, die, so Herbert, »von bis zu sechzig Pro9 Joachim Fischer, Philosophische Anthropologie – Ein wirkungsvoller Denkansatz in der deutschen Soziologie nach 1945, in: Zeitschrift für Soziologie 35 (2006) 5, S.322-347, hier: S.337. Vgl. Jennifer Platt, Sociology, in: Roger E. Backhouse/Philipp Fontaine (Hrsg.), The History of the Social Sciences since 1945. Cambridge 2010, S.102-135, hier: S.105, 111. Vgl. auch Weyer, Westdeutsche Soziologie, S.29-31. 10 Ulrich Herbert, Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert. München 2014, S.643, 783. 11 John Lewis Gaddis, Der Kalte Krieg. Eine neue Geschichte, aus dem Amerikanischen v. Klaus-Dieter Schmidt. München 2007, S.17-107. Spezifisch zu den Entwicklungen in der Bundesrepublik und der DDR siehe Herbert, Geschichte Deutschlands, S.747-782. 12 Cornelia Kühn, »Kunst ohne Zonengrenzen«. Zur Instrumentalisierung der Volkskunst in der frühen DDR , in: David Eugster/Sibylle Marti (Hrsg.), Das Imaginäre des Kalten Krieges. Beiträge zu einer Kulturgeschichte des Ost-West-Konfliktes in Europa (Frieden und Krieg. Beiträge zur Historischen Friedensforschung, Bd.21). Essen 2015, S.187-211, hier: S.210f. 13 Morten Reitmayer, Elite. Sozialgeschichte einer politisch-gesellschaftlichen Idee in der frühen Bundesrepublik (Ordnungssystem, Bd.28). München 2009, S.29; Herbert, Geschichte Deutschlands, S.762. Vgl. auch A. Dirk Moses, German Intellectuals and the Nazi Past. Cambridge 2007, S.160-172, und Noah Benezra Strote, Lions and Lambs: Conflict in Weimar and the Creation of Post-Nazi Germany. New Haven/London 2017, S.3.

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zent aller Erwachsenen gesehen wurde«.14 Zwischen dem 11.  April und dem 15. Dezember 1961 fand der Eichmann-Prozess in Jerusalem statt, der als mediales Ereignis ab 1963 von den Frankfurter Auschwitz-Prozessen15 gewissermaßen verlängert wurde. War die wissenschaftliche Aufarbeitung der NS-Verbrechen bis dahin eher das »Metier von Einzelgängern«, begann nun »die akademische Geschichtsschreibung, vor allem in den zeitgeschichtlichen Instituten in München und Hamburg, mit intensiveren Forschungen über die NSZeit.«16 In diesen Zusammenhang gehört auch Fritz Fischers Buch Griff nach der Weltmacht von 1961 mit seiner These von der deutschen Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkrieges, die später zur sogenannten Fischer-Kontroverse führte. Das Unheil der deutschen Geschichte ließ Fischer am Vorabend des Ersten Weltkrieges beginnen. Außerdem scheute er sich nicht, die Frage nach der Schuld der Deutschen zu thematisieren.17 Um 1960 zeichnete sich demnach auch ein Umbruch im Umgang mit der deutschen NS-Vergangenheit ab. Dass die westlichen Besatzungszonen beziehungsweise die frühe Bundesrepublik Schauplatz dieser Studie sind, bedingt sich durch die Konstellationen des Kalten Krieges: Sowohl westdeutsche Politiker, Wissenschaftler und Intellektuelle als auch ihre alliierten, meist amerikanischen Verbündeten sahen Westdeutschland als geostrategische Frontspitze gegen die sowjetische Machtexpansion in Europa. Demokratisierungspraktiken von Sozialwissenschaftlern gleich welcher Couleur standen deshalb hier immer im gesellschaftspolitischen Kontext des westlichen Kampfes gegen den »totalitären« Feind im Osten. Erst mit dem Ende der DDR und dem Zusammenbruch der Sowjetunion büßte die Bundesrepublik diese zentrale Stellung ein.18 Schließlich waren sozialwissenschaftliche Praktiken gerade in Westdeutschland aufs Engste mit Demokratisierungspolitik verknüpft und trugen so zur Eingliederung des Landes in den »Westblock« bei. Im östlichen Deutschland hingegen vermochten es die Sozialwissenschaften und insbesondere die Soziologie nicht, ein vergleichbar enges Verhältnis mit dem Sozialismus einzugehen. Im Gegenteil stellt Thomas Mergel fest, dass das von den Sozialwissenschaftlern generierte Wissen hier nur einem eingeweihten Kreis von politischen Funktionären zugänglich war und meist als streng vertraulich behandelt wurde. In der Anfangszeit der DDR galt die Soziologie aufgrund ihres gesellschaftskritischen Potenzials als politisch unzuverlässige Wissenschaft, die 14 Herbert, Geschichte Deutschlands, S.772. 15 Ronen Steinke, Fritz Bauer. Oder Auschwitz vor Gericht, mit einem Vorwort v. Andreas Voßkuhle. München/Zürich 2013, S.178-219. 16 Herbert, Geschichte Deutschlands, S.773-774. Vgl. Dirk van Laak, Gespräche in der Sicherheit des Schweigens. Carl Schmitt in der politischen Geistesgeschichte der frühen Bundesrepublik. Berlin 1993, S.176f. 17 Gangolf Hübinger, Engagierte Beobachter der Moderne. Von Max Weber bis Ralf Dahrendorf. Göttingen 2016, S.203f. 18 Herbert, Geschichte Deutschlands, S.520, 1092.

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hinter der marxistisch-leninistischen Philosophie zurückstehen musste. Erst mit der Entstalinisierung in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre verbesserten sich die Bedingungen für soziologische Forschung: DDR-Funktionäre erkannten, dass soziologisches Wissen zu einem reibungsloseren Funktionieren des Sozialismus beitragen konnte. Die DDR-Soziologie der 1960er Jahre zog aus dieser Anwendung ihre Legitimation. Sie blieb jedoch, wie Mergel betont, weiterhin eine eher marginale Wissenschaft.19 Maßgebliche historische Themenfelder einer Geschichte der Sozialwissenschaften Westdeutschlands im frühen Kalten Krieg sind demnach der Wiederaufbau der deutschen Gesellschaft, Demokratisierung und Westintegration, die Etablierung der Sozialwissenschaften im Allgemeinen und der empirischen Sozialforschung im Besonderen sowie die Radikalisierung der politischen Ideologien, insbesondere im Hinblick auf den Antikommunismus. Ziel dieser Untersuchung ist, die Zusammenhänge zwischen den epistemischen Praktiken und Diskursen in den westdeutschen Sozialwissenschaften und den gesamtgesellschaftlichen historischen Prozessen wie Problemkonstellationen am Beispiel der zwei angeführten Gruppen von Sozialwissenschaftlern im frühen Kalten Krieg aufzuzeigen. Der in dieser Studie verwendete Terminus »Sozialwissenschaften« ist ein analytischer, also kein zeitgenössischer Quellenbegriff. Dass eine kohärente Verwendung der Begriffe »Sozialwissenschaften«, »Soziologie« oder »Sozialforschung« in der hier untersuchten Zeit nicht auszumachen ist, liegt wohl in erster Linie daran, dass ›die‹ Sozialwissenschaften als wissenschaftliches Feld mit mehr oder weniger klar konturierten Grenzen in Westdeutschland zu dieser Zeit institutionell und epistemisch noch nicht existierten. Vielmehr handelte es sich dabei um ein ausgesprochen heterogenes Gebilde aus Methoden, Theorien, Praktiken, Themen und ideologischen Vorannahmen, die unterschiedlichen Disziplinen und Fächern entstammten. Auch in der aktuellen Forschungsliteratur gibt es keinen Konsens, welche Wissenschaften als Sozialwissenschaften gelten sollen. Das ist durch die unterschiedlichen disziplinären Grenzziehungen im englisch-, französisch- und deutschsprachigen Wissenschaftsfeld bedingt.20 Un19 Thomas Mergel, Soziale Ungleichheit als Problem der DDR-Soziologie, in: Christiane Reinecke/ders. (Hrsg.), Das Soziale ordnen. Sozialwissenschaften und gesellschaftliche Ungleichheit im 20. Jahrhundert (Eigene und fremde Welten. Repräsentationen sozialer Ordnung im Wandel, Bd.27). Frankfurt am Main/New York 2012, S.307-336. Zur Soziologie in der DDR siehe auch Vera Sparschuh/Ute Koch, Sozialismus und Soziologie. Die Gründergeneration der DDR-Soziologie. Opladen 1997. 20 Roger E. Backhouse und Philippe Fontaine fassen unter »Social Sciences« Psychologie, Wirtschaftswissenschaft, Politikwissenschaft, Soziologie, Sozialanthropologie/Ethnologie und Humangeografie. Theodore M. Porter und Dorothy Ross fügen noch die Statistik hinzu. Vgl. Roger E. Backhouse/Philippe Fontaine, Introduction, in: dies. (Hrsg.), History of the Social Sciences, S.1-15, hier: S.3-5; Theodore M.

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ter »Sozialwissenschaften« werden in der vorliegenden Untersuchung die für die untersuchten Akteure maßgebenden wissenschaftlichen Ansätze subsumiert. Hierunter zählen die qualitative und quantitative empirische Sozialforschung einschließlich Sozialstatistik, die eher theoretisch ausgerichtete Soziologie, die wiederum verschiedene Subkategorien wie Rechts-, Industrie- und Organisationssoziologie umfasst, sowie Sozialphilosophie, Sozialpsychologie und Sozialanthropologie. Wirtschafts-, Politik- und Geschichtswissenschaften sowie Humangeografie werden nicht zu den Sozialwissenschaften gerechnet. Die Untersuchung gliedert sich in vier Teile (A-D), denen ein Anhang (E) folgt. Teil A umfasst einen Forschungsüberblick, die Entwicklung von Fragestellung und Thesen, den methodisch-theoretischen Ansatz sowie eine Einführung zum Dokumentenkorpus. Teil B analysiert die Entwicklung der Gruppe um Horkheimer und deren Institut sowie Schelskys intellektuelle Sozialisation und Laufbahn von den frühen 1930er Jahren bis 1957. Zur Zäsur des Jahres 1957 kam es einerseits deshalb, weil sich ab etwa 1955 Konflikte zwischen den beiden Sozialwissenschaftler-Gruppen intensivierten, die Akteure andererseits aber auch eine zunehmend kritische Haltung gegenüber der empirischen Sozialforschung einnahmen. Deutlicher Ausdruck dessen war eine am 1. März 1957 am IfS abgehaltene Diskussion »Zum Verhältnis von Soziologie und empirischer Sozialforschung«.21 Teil C ist den Auseinandersetzungen zwischen den beiden Gruppen gewidmet. Die Konklusion in Teil D führt die Ergebnisse der Untersuchung zusammen.

Porter/Dorothy Ross (Hrsg.), The Cambridge History of Science, Bd.7: The Modern Social Sciences. Cambridge 2008. Vgl. Roberto Sala, Die Karriere eines erfolgreichen Konstrukts: Die Genese der »Sozialwissenschaften« in Deutschland und den USA, in: Reinecke/Mergel (Hrsg.), Das Soziale ordnen, S.253-280, hier: S.261f. Für weitere Definitionen siehe S.271, und Mark Solovey, Cold War Social Science: Specter, Reality, or Useful Concept?, in: ders./Hamilton Cravens (Hrsg.), Cold War Social Science: Knowledge Production, Liberal Democracy, and Human Nature. New York 2012, S.1-22, hier: S.6f. Zur disziplinären Gliederung und Benennung der Sozialwissenschaften in Frankreich siehe Johan Heilbron, French Sociology. Ithaca/ London 2015. 21 Archiv des Instituts für Sozialforschung (Archiv IfS), S 1: Tagungen 1950-1961, Ordner 1: 1950-1952: Protokoll der Sitzung vom 01.03.1957 »Zum Verhältnis von Soziologie und empirischer Sozialforschung«, Bl.1-29.

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A. Die westlichen Sozialwissenschaften im frühen Kalten Krieg Zu den Besonderheiten der Hochphasen des Kalten Krieges zwischen den 1950er und den frühen 1970er Jahren zählte der massive Ausbau der universitären und außeruniversitären Wissenschaft.1 Diese »Goldenen Jahre«2 (Eric Hobsbawm) basierten entscheidend auf wissenschaftlich-technischer Innovation. Gerade die Verbindung von Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Technik und Militär sowie der zu einem beachtlichen Teil dadurch bedingte Wohlstand begründeten maßgeblich den sich herausbildenden Überlegenheitsanspruch der westlichen Gesellschaften gegenüber den »Ostblock«-Staaten. Neben Physik, Biochemie, Informatik,3 der Wirtschafts- und Politikwissenschaft erlebten in dieser Zeit die Sozialwissenschaften einen besonders starken Auftrieb. Sozialwissenschaftler avancierten zu gefragten Experten der politischen und militärischen Entscheidungsträger.4 Sozialwissenschaftliches Wissen war nicht nur für die Konstitution von politischer Ordnung, Wirtschaftssystem und demokratischen Werten in den westlichen Ländern ein wichtiger Baustein, sondern auch für die globale demokratische Mission des von den Vereinigten Staaten angeführten Westens im Kalten Krieg. 1 Bernd Greiner, Macht und Geist im Kalten Krieg. Bilanz und Ausblick, in: ders./Tim B. Müller/Claudia Weber (Hrsg.), Macht und Geist im Kalten Krieg (Studien zum Kalten Krieg, Bd.5). Hamburg 2011, S.7-27, hier: S.9. 2 Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, aus dem Englischen v. Yvonne Badal, 10.Aufl. München 2010 [1994], S.324-362. Vgl. Roger E. Backhouse, Economics, in: ders./Fontaine (Hrsg.), History of the Social Sciences, S.38-70, hier: S.46. 3 Patrick Bernhard/Holger Nehring/Anne Rohstock, Der Kalte Krieg im langen 20.  Jahrhundert. Neue Ansätze, Befunde und Perspektiven, in: Patrick Bernhard/ Holger Nehring (Hrsg.), Den Kalten Krieg denken. Beiträge zur sozialen Ideengeschichte seit 1945 (Frieden und Krieg. Beiträge zur Historischen Friedensforschung, Bd.19). Essen 2014, S.11-39, hier: S.17f.; David Reynolds, Science, Technology, and the Cold War, in: Melvyn P. Leffler/Odd Arne Westad (Hrsg.), The Cambridge History of the Cold War, Bd.3: Endings. Cambridge 2010, S.378-399. 4 Bernhard Plé, Wissenschaft und säkulare Mission. »Amerikanische Sozialwissenschaft« im politischen Sendungsbewusstsein der USA und im geistigen Aufbau der Bundesrepublik Deutschland. Stuttgart 1990, S.212; Solovey, Cold War Social Science, S.1f.; Reet Tamme, »Promoting Racial Harmony«: Race relations-Forschung und soziale Ungleichheit in Großbritannien in den 1950er bis 1960er Jahren, in: Reinecke/Mergel (Hrsg.), Das Soziale ordnen, S.183-217, hier: S.200. Vgl. auch Ariane Leendertz, Experten  – Dynamiken zwischen Wissenschaft und Politik, in: Reinecke/Mergel (Hrsg.), Das Soziale ordnen, S.337-369.

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Angesichts des rapiden Ausbaus der Sozialwissenschaften im Kalten Krieg erstaunt es nicht, dass ihre Geschichte in den letzten Jahren vermehrte Aufmerksamkeit gefunden hat. Institutionalisierungsprozesse und Praktiken werden in neueren Arbeiten zur Geschichte der Sozialwissenschaften genauso in den Blick genommen wie die oftmals am Beispiel einzelner herausragender Exponenten erzählte Geschichte sozialwissenschaftlicher Ideen.5 Die Reihe Cambridge History of Science hat den Modern Social Sciences einen eigenen Band gewidmet.6 Dies zeigt, dass die Wissenschaftsgeschichte die Sozialwissenschaften inzwischen als eigenständige Wissenschaftskultur wahrnimmt. Schon Mitte der 1980er Jahre hatte Wolf Lepenies betont, dass es sich bei diesen und insbesondere bei der Soziologie um eine »dritte Kultur« handele, die zwischen »einer szientifischen Orientierung, die auf die Nachahmung der Naturwissenschaften hinausläuft, und einer hermeneutischen Einstellung, die das Fach in die Nähe zur Literatur rückt«,7 mäandriere. Die Frage nach der epistemischen Spezifizität der Sozialwissenschaften ist damit allerdings noch nicht beantwortet und deshalb Aufgabe einer kritischen historischen Untersuchung.8 Die Historiografie der Sozialwissenschaften stellt ein disziplinär und epistemisch heterogenes Feld dar, in dem Ideen-, Neuzeit- und Wissenschaftshistoriker sowie Wissens-, Kultur- und Wissenschaftssoziologen agieren. Entsprechend breit fallen die Arbeiten ihrer Forschungen aus. Ein wissenschaftshistorischer Standard, wie er für die Geschichte der technischen und der Naturwissenschaften durch einen mehr oder weniger etablierten Kanon an theoretischen Perspektiven und methodischen Ansätzen vorliegt, ist für die Geschichte der Sozialwissenschaften bislang nicht gefunden. Christian Fleck etwa betrachtet die Soziologiegeschichte als konstitutiven Teil der Soziologie. Der Vorteil eines solchen fachgeschichtlichen Ansatzes liegt für ihn darin, »dass die Soziologen vergangene Perioden ihrer eigenen Disziplin besser beurteilen können« als Historiker. Gleichwohl stünden Soziologiegeschichten oft nicht auf der Höhe wissenschaftshistorischen Arbeitens und eine genuin soziologische Soziologiegeschichte sei bislang kaum in Angriff genommen worden.9 Nach Lothar Peter bleibe ein Verständnis für die Geschichte der Soziologie ohne wissenschaftshistorische Perspektive zwangsläufig defizitär.10 Vor allem ältere soziologiehistorische Arbeiten – 5 Vgl. Christian Dayé/Stephan Moebius (Hrsg.), Soziologiegeschichte. Wege und Ziele. Berlin 2015. 6 Porter/Ross (Hrsg.), The Modern Social Sciences. 7 Wolf Lepenies, Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft. München 1985, S.I , IX. 8 Lothar Peter, Warum und wie betreibt man Soziologiegeschichte?, in: Dayé/Moebius (Hrsg.), Soziologiegeschichte, S.112-146, hier: S.123f. 9 Christian Fleck, Skizze einer Methodologie der Geschichte der Soziologie, in: Dayé/ Moebius (Hrsg.), Soziologiegeschichte, S.34-111, hier: S.42. Vgl. auch ebd., S.87f. 10 Peter, Warum und wie betreibt man Soziologiegeschichte?, S.122.

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dies lässt sich jedoch generell für Fachgeschichten verallgemeinern – kennzeichnet eine Mischung aus historischer Darstellung, Einführung in die Sozialwissenschaften zur Generierung eines historischen Verständnisses der jeweiligen Fächer und Hervorhebung der jeweils als kanonisch angesehenen Denkrichtungen.11 Zwischen der epistemischen Position der Verfasser entsprechender Studien und den epistemischen Haltungen der von ihnen untersuchten Akteure bestehen demnach enge Verbindungen. Beispiele hierfür bilden die »Frankfurter Schule«, wobei sich vor allem bei den Schülern der dritten Generation ein lebhaftes Interesse an der Geschichte ihrer Vorgänger entwickelte,12 und die »Weberianer«.13 Im Gegensatz dazu nehmen neuere wissenschaftshistorische Arbeiten die konstruktivistische Dimension sozialwissenschaftlichen Wissens in den Blick. Sie untersuchen Praktiken und Diskurse von Sozialwissenschaftlern im Wechselverhältnis zu ihren jeweiligen gesellschaftshistorischen Lagen.14 Sarah Igo hebt in ihrer methoden- und zugleich ideologiekritischen Studie zur statistisch-quantitativen Konstruktion von sozialwissenschaftlichen Durchschnittswerten in der amerikanischen Gesellschaft im 20. Jahrhundert den performativen und konstruktiven Charakter sozialwissenschaftlicher Praxis hervor.15 In eine ähnliche Richtung argumentiert Theodore M. Porter, der die Konstruktivität mathematisch-quantitativer Verfahren der Statistik im 19. und 20. Jahrhundert untersucht hat.16 Auch Kerstin Brückweh hat die Materialität von Fragebögen und Interviewtechniken kritisch analysiert und wissenshistorisch in die soziokultu11 Vgl. Raymond Boudon/Mohamed Cherkaoui/Jeffrey Alexander (Hrsg.), The Classical Traditional Sociology: The European Tradition, 4 Bde. London/Thousand Oaks/New Dehli 1997; Alex Callinicos, Social Theory: A Historical Introduction. Cambridge 1999; Wolf Lepenies (Hrsg.), Geschichte der Soziologie, 4 Bde. Frankfurt am Main 1981; George Ritzer, Classical Sociological Theory, 5. Aufl. Boston u.a. 2007; Alan Swingewood, A Short History of Sociological Thought, 3. Aufl. Houndmills/London 2000; Jonathan H. Turner/Leonard Beeghley/Charles H. Powers, The Emergence of Sociological Theory, 5. Aufl. Stamford, CT 2002. 12 Vgl. stellvertretend die gegensätzlichen Positionen von Alex Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle. Die Entwicklung der Kritischen Theorie zur Frankfurter Schule. Frankfurt am Main 1999, und Albrecht u.a., Die intellektuelle Gründung. 13 Vgl. z.B. Gerhardt, Soziologie im zwanzigsten Jahrhundert. 14 So Christiane Reinecke/Thomas Mergel, Das Soziale vorstellen, darstellen, herstellen: Sozialwissenschaften und gesellschaftliche Ungleichheit im 20. Jahrhundert, in: dies. (Hrsg.), Das Soziale ordnen, S.7-30, hier: S.11f. 15 Sarah Igo, The Averaged American: Surveys, Citizens, and the Making of a Mass Public. Cambridge, MA/London 2007. Siehe auch dies., Subjects of Persuasion: Survey Research as a Solicitous Science; or, The Public Relations of the Polls, in: Charles Camic/Neil Gross/Michèle Lamont (Hrsg.), Social Knowledge in the Making. Chicago/London 2011, S.285-306. 16 Theodore M. Porter, Trust in Numbers: The Pursuit of Objectivity in Science and Public Life. Princeton 1995, S.33-48.

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rellen wie politischen Entstehungskontexte eingeordnet. »Umfragen«, so Brückweh, spiegelten »nicht wirklich die Meinung der Befragten« wider, sondern generierten »vielmehr aufgrund vorgegebener Fragen Meinungen«.17 Historisch-epistemologisch untersuchen die Beiträge eines von Charles Camic, Neil Gross und Michèle Lamont herausgegebenen Bands die Praxis der Wissensgenerierung in den Sozialwissenschaften.18 Jamie Cohen-Cole und Joel Isaac zeigen in ihren wissens- und wissenschaftshistorischen Arbeiten zudem, dass die lokale institutionelle Situierung sozialwissenschaftlicher Praktiken, die Involvierung sozialwissenschaftlicher Akteure im politischen Feld, ihre politische Haltung sowie die Art des so generierten sozialwissenschaftlichen Wissens untrennbar miteinander verschränkt waren.19 Die vorliegende Untersuchung schließt an diese Arbeiten an. Sie stellt einen wissenschaftshistorischen Beitrag zur Geschichte der Sozialwissenschaften Westdeutschlands im frühen Kalten Krieg dar. Ihr Autor ist Historiker, der kein Studium der Soziologie absolviert hat. Seine erste Aufgabe ist es deshalb, seinen Gegenstand in den historischen Konstellationen zu verorten. Der Kalte Krieg, jener meist auf die Jahre zwischen 1947 und 1990 datierte Dauerkonflikt zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion sowie ihren jeweiligen Verbündeten, wird in der Forschungsliteratur als Systemantagonismus bezeichnet.20 Jüngere Arbeiten zeigen, dass sich die antagonistische Weltordnung nicht nur auf politische, wirtschaftliche und militärische Belange reduzieren lässt, sondern sich aufgrund der politischen Prämissen auch im kulturellen und wissenschaftlichen Feld niederschlug.21 Diese Studien betrach17 Kerstin Brückweh, Menschen zählen. Wissensproduktion durch britische Volkszählungen und Umfragen vom 19.  Jahrhundert bis ins digitale Zeitalter (Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London, Bd.76). Berlin/Boston 2015, S.8. 18 Camic/Gross/Lamont (Hrsg.), Social Knowledge in the Making. 19 Jamie Cohen-Cole, The Open Mind: Cold War Politics and the Sciences of Human Nature. Chicago/London 2014; Joel Isaac, Working Knowledge: Making the Human Sciences from Parsons to Kuhn. Cambridge, MA/London 2012. 20 Vgl. Gaddis, Der Kalte Krieg; Bernd Stöver, Der Kalte Krieg. Geschichte eines radikalen Zeitalters 1947-1991. München 2007; Odd Arne Westad, The Cold War and the International History of the Twentieth Century, in: Melvyn P. Leffler/ders. (Hrsg.), The Cambridge History of the Cold War, Bd.1: Origins, S.1-19, hier: S.3f. 21 David Eugster/Sibylle Marti, Einleitung. Das Imaginäre des Kalten Krieges, in: dies. (Hrsg.), Das Imaginäre des Kalten Krieges, S.3-16; Siegfried Weichlein, Representation and Recoding: Interdisciplinary Perspectives on Cold War Cultures, in: Konrad H. Jarausch/Christian F. Ostermann/Andreas Etges (Hrsg.), The Cold War: Historiography, Memory, Representation. Oldenbourg 2017, S.19-66, hier: S.19f. In Bezug auf Kulturbereiche spricht Christoph Classen nicht mehr von einer »Cold War culture«, sondern in der Mehrzahl von »Cold War cultures«, die in ihrer nationalen, regionalen und lokalen Ausprägung jeweils unterschiedliche

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ten das Politische des Kalten Krieges entsprechend als konstituierendes Element wissenschaftlichen Wissens in Ost und West. Dies unterscheidet sie von den meisten der in den letzten zwei Dekaden erschienen Studien zur Wissenschaftsgeschichte und -soziologie, deren Schwerpunkt vor allem auf der Politisierung der Wissenschaften und den zunehmend engeren Kopplungen von Wissenschaft und Politik lag.22 Nach Bernd Greiner war der Kalte Krieg auch »ein Kampf um Ideen und eine Konfrontation antagonistischer Weltanschauungen«.23 Zu den durch Theorien fundierten Ideen und politischen Ideologien traten Methoden, Techniken und Praktiken, mit denen Wissenschaftler und Intellektuelle die Gegenseite von der Richtigkeit des jeweils propagierten Wissenssystems überzeugen wollten.24 Insofern ist nicht bloß für den »Ostblock« nach dem Grad der Politisierung sozialwissenschaftlichen Wissens zu fragen, sondern auch für den Westen. Unbestreitbar machten viele Sozialwissenschaftler im sowjetisch dominierten Osten weit mehr Zugeständnisse an die offizielle politische Doktrin als ihre Kollegen im Westen oder unterstellten ihre Wissenschaft der herrschenden sozialistischen Ideologie.25 Verweigerten sich Sozialwissenschaftler in den Staaten des »Ostblocks« dem Klassenparadigma der sozialistischen Gesellschaft,26 erfuhren sie staatliche Repressionen, wie etwa Zygmunt Baumann oder Ágnes Heller.27 Von solchen Maßnahmen waren politisch unbequeme westliche Sozialwissenschaftler weit weniger betroffen. Aufgrund der allumfassenden Politisie-

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ken hatten. Siehe Christoph Classen, Enemies, Spies, and the Bomb: Cold War Cinema in Comparison: Germany and the US, 1948-1970, in: Jarausch/Ostermann/Etges (Hrsg.), The Cold War, S.152-176, hier: S.152f. Siehe auch Annette Vowinckel/Marcus M. Payk/Thomas Lindenberger (Hrsg.), Cold War Cultures: Perspectives on Eastern and Western European Societies. New York/Oxford 2014 [2012], sowie die Beiträge in: Silvia Berger Ziauddin/David Eugster/Christa Wirth (Hrsg.), Themenheft: Der kalte Krieg. Kältegrade eines globalen Konflikts (Nach Feierabend. Zürcher Jahrbuch für Wissensgeschichte, Bd.13). Zürich 2017. Vgl. Peter Weingart, Die Stunde der Wahrheit? Zum Verhältnis der Wissenschaft zu Politik, Wirtschaft und Medien in der Wissensgesellschaft. Göttingen 2001; ders./ Martin Carrier/Wolfgang Krohn, Nachrichten aus der Wissensgesellschaft. Analysen zur Veränderung der Wissenschaft. Weilerswist 2007. Greiner, Macht und Geist im Kalten Krieg, S.9. Udi Greenberg, The Weimar Century: German Émigrés and the Ideological Foundations of the Cold War. Princeton 2014, S.19. Michael Voříšek, Sociology in Soviet Europe: Perspectives on the Historiography of Sociology and its Problems, in: Ulf Brunnbauer/Claudia Kraft/Martin Schulze Wessel (Hrsg.), Sociology and Ethnography in East-Central and South-East Europe: Scientific Self-Description in State Socialist Countries (Bad Wiesseer Tagungen des Collegium Carolinum, Bd. 31). München 2011, S.29-58, hier: S.42f., 50. Greiner, Macht und Geist im Kalten Krieg, S.317f. Ulf Brunnbauer/Claudia Kraft/Martin Schulze Wessel, Introduction in: dies. (Hrsg.), Sociology and Ethnography, S.1-27, hier: S.11.

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rung im Kalten Krieg ist aber gleichwohl zu fragen, ob sie mit ihrem Wissen bewusst die westlich-demokratische Politik stützten und welche diskursiven Überlappungen zwischen herrschendem Politiksystem und sozialwissenschaftlichem Wissen bestanden. Eine zentrale Aufgabe einer Geschichte der Sozialwissenschaften der westlichen Länder während des Kalten Krieges besteht demnach darin, das von Sozialwissenschaftlern generierte Wissen mit den politisch-ideologischen Diskursformationen der westlichen Demokratien in eine Beziehung zu setzen. So gaben sich gerade die Sozialwissenschaften nach 1945 als »Demokratisierungs-« oder »Demokratiewissenschaften« und erlangten besonders beim Aufbau demokratischer Strukturen in Westdeutschland politische Relevanz.28 In Analogie zu den östlichen Sozialwissenschaftlern, die den historischen Materialismus in ihre sozialwissenschaftlichen Denksysteme integrierten, erscheint für ihre westlichen Kollegen plausibel, dass diese mit ihren demokratiefördernden Forschungen maßgeblich zur Konstitution der westlichen Demokratien beitrugen. Begriffe wie »Freiheit«, »Individuum«, »Demokratie«, »Emanzipation«, »Rationalität«, »Vernunft«, »Kreativität« und »Innovation« dienten der diskursiven Absetzung gegenüber Faschismus und Kommunismus gleichermaßen.29 Die Verbindung sozialwissenschaftlichen Wissens und demokratischer Politik begründete zugleich jenen Überlegenheitsdiskurs, der eine Kategorisierung der »Ostblock«Staaten als »unfrei« und wissenschaftlich rückständig ermöglichte.30 Vor allem zwei Elemente charakterisierten das wissenschaftliche Wissen im Westen während des Kalten Krieges: technische Rationalität und intellektuelle Offenheit. So identifizieren Paul Erickson und andere eine sich im Wissenschafts28 Michael A. Bernstein, Die Transformation der amerikanischen Wirtschaftswissenschaft, in: Greiner/Müller/Weber (Hrsg.), Macht und Geist, S.180-200; Johan Heilbron/Nicolas Guilhot/Laurent Jeanpierre, Auf dem Weg zu einer transnationalen Geschichte der Sozialwissenschaften [2008], in: Dayé/Moebius (Hrsg.), Soziologiegeschichte, S.400-428, hier: S.417-420. 29 Vgl. Michael Bycroft, Psychology, Psychologists, and the Creativity Movement: The Lives of Method Inside and Outside the Cold War, in: Solovey/Cravens (Hrsg.), Cold War Social Science, S.197-214; Jamie Cohen-Cole, The Creative American: Cold War Salons, Social Science, and the Cure for Modern Society, in: Isis 100 (2009) 2, S.219-262. Vgl. Hunter Heyck, Producing Reason, in: Solovey/Cravens (Hrsg.), Cold War Social Science, S.99-116, hier: S.100, 102. 30 Michael Hochgeschwender, Freiheit in der Offensive? Der Kongress für kulturelle Freiheit und die Deutschen (Ordnungssysteme, Bd.1). München 1998, S.253-264; Giles Scott-Smith, The Politics of Apolitical Culture: The Congress of Cultural Freedom, the CIA and Post-War American Hegemony. London 2002; Peter Coleman, The Liberal Conspiracy: The Congress for Cultural Freedom and the Struggle for the Mind of Postwar Europe. New York/London 1989; Solovey, Cold War Social Science, S.10f.

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feld der Vereinigten Staaten festsetzende spezifische »Cold War Rationality«. Ihre Vertreter ersetzten einen an der Aufklärung orientierten emanzipativen und in diesem Sinne idealisierten Vernunftbegriff durch eine mathematisierte, technische Rationalität. Mit Rekurs auf die Spieltheorie John von Neumanns und Oskar Morgensterns entwickelten sie ein behavioristisch abgestütztes Handlungsmodell.31 Cohen-Cole wiederum hat herausgearbeitet, dass ideologisch einheitliche Diskurse die westliche, im Speziellen die amerikanische Intellektuellen- und Wissenschaftskultur im Kalten Krieg gerade nicht charakterisierten. Vielmehr seien die Offenheit von Gedanken und Theorien sowie die dadurch erwarteten kreativen Lösungsvorschläge aktueller gesellschaftlicher Probleme richtungsweisend gewesen.32 In den Sozialwissenschaften manifestierten sich diese beiden epistemischen Ausrichtungen in der empirischen Sozialforschung: Diese griff einerseits auf quantifizierende Methoden zurück, um die Nachprüfbarkeit ihrer Forschungsergebnisse zu gewährleisten. Andererseits gestalteten sich ihre Methoden in den 1950er Jahren experimentell und tendenziell offen.33 Die Nähe der Sozialwissenschaften zu anderen gesellschaftlichen Bereichen, vor allem zur Erziehungs- und Bildungspolitik, sowie zu Industrie und Militär resultierte aus ihren spezifischen Forschungspraktiken: Die Verwissenschaftlichung des Sozialen im Wissenschaftsfeld des späten 19. und des 20. Jahrhunderts wirkte nachhaltig auf die Entwicklung der Gesellschaft zurück.34 Zur Erarbeitung von Lösungen für soziale Problemlagen sollten diese mit bestimmten Methoden und unter Rückgriff auf spezifische Theorien analysiert werden. Die Sozialwissenschaften generierten dabei allerdings nicht nur Wissen, das soziale Phänomene vermeintlich objektiv erfasste und reflektierte, sondern eben auch Ordnungsvorstellungen festigte. Sozialwissenschaftler fanden sich einerseits in einer Beobachterposition, schufen andererseits aber auch soziale Realitäten mit. Sie waren Vertreter einer beschreibenden Wissenschaft und Produzenten gesellschaftlicher Normen zugleich.35 Für die Sozialwissenschaften im frühen Kalten Krieg stellt Siegfried Weichlein fest: »Rather than being purely academic and scholarly objective, the social sciences of the early Cold War recoded the polit-

31 Paul Erickson u.a., How Reason Almost Lost Its Mind: The Strange Career of Cold War Rationality. Chicago/London 2013. 32 Cohen-Cole, The Open Mind. 33 Roger E. Backhouse/Philippe Fontaine, Toward a History of the Social Sciences, in: dies. (Hrsg.), The History of the Social Sciences, S.184-233, hier: S.199. 34 Vgl. Lutz Raphael, Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996) 2, S.165-193. 35 Reinecke/Mergel, Das Soziale vorstellen, darstellen, herstellen, S.8f., 11. Vgl. Weischer, Das Unternehmen ›Empirische Sozialforschung‹, S.18. Vgl. Brückweh, Menschen zählen, S.9-13.

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ical antagonism in a scholarly fashion.«36 Diese Normen dienten einer Optimierung der bestehenden Gesellschaftsverhältnisse, woran Vertreter des Logischen Empirismus oder der Kritischen Theorie ebenso beteiligt waren wie solche des historischen Materialismus.37 Trotz Max Webers Diktum, dass »es niemals Aufgabe einer Erfahrungswissenschaft sein kann, bindende Normen und Ideale zu ermitteln, um daraus für die Praxis Rezepte ableiten zu können«,38 entfaltete sozialwissenschaftliches Wissen – gerade weil es oftmals methodisch verbürgte Objektivität versprach  – durch seine Zirkulation in der Gesellschaft normenkonstituierende Wirkung in Politik und Wirtschaft sowie im Hinblick auf die Herausbildung einer kritischen Öffentlichkeit.39 In den 1950er und frühen 1960er Jahren, so argumentiert Paul Nolte, ging es in Westdeutschland und den Vereinigten Staaten vor allem darum, eine »nivellierte Mittelstandsgesellschaft« – ein prominentes Theorem Schelskys – zu beschreiben und zu konstruieren. Die »Middle Class« sollte gewissermaßen zum Ordnungsmodell eines gedachten sozialen Normzustands erhoben werden.40 Dabei handelte es sich um ein normanweisendes Ordnungsideal, denn Schelskys Diagnose war empirisch nicht belegbar. Vielmehr wiesen die statistischen Daten in die entgegensetzte Richtung, denn sie legten die Beständigkeit großer sozialer Differenzen zwischen den sozialen Klassen und Schichten offen.41 Eine Geschichte der Sozialwissenschaften Westdeutschlands im Kalten Krieg muss der zweifelsfrei realen amerikanischen Dominanz in Wissenschaft und Technik Rechnung tragen. In den Sozialwissenschaften zeigte sich diese insbesondere an der zentralen Stellung der empirischen Sozialforschung und der strukturfunktionalistischen Theorie sowie an der mathematisierten Theorie36 Weichlein, Representation and Recoding, S.62. 37 Katharina Neef, Die Entstehung der Soziologie aus der Sozialreform. Eine Fachgeschichte. Frankfurt am Main 2012, S.15f. 38 Zitiert nach: Sala, Die Karriere eines erfolgreichen Konstrukts, S.275. Diesem Grundsatz folgte Weber selber in mehreren Fällen nicht. Vgl. George Steinmetz, Neo-Bourdieusche Theorie und die Frage wissenschaftlicher Autonomie: Deutsche Soziologen und der Imperialismus zwischen 1890 und 1945, in: Dayé/Moebius (Hrsg.), Soziologiegeschichte, S.336-399, hier: S.355. Vgl. Michael Löwy, La cage d’acier. Max Weber et le marxisme wébérien. Paris 2013, S.61f. 39 Benjamin Ziemann u.a., Introduction: The Scientization of the Social in Comparative Perspective, in: Kerstin Brückweh u.a. (Hrsg.), Engineering Society: The Role of the Human and Social Sciences in Modern Societies, 1880-1980. Basingstoke 2012, S.1-40, hier: S.18. 40 Paul Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft. Selbstentwurf und Selbstbeschreibung im 20.  Jahrhundert. München 2000. Vgl. Eva Barlösius, Bilder der amerikanischen und der deutschen Sozialstruktur, in: Reinecke/Mergel (Hrsg.), Das Soziale ordnen, S.91-120; Reitmayer, Elite, S.10. 41 Herbert, Geschichte Deutschlands, S.689f.

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bildung besonders in den Wirtschaftswissenschaften ab den 1960er Jahren.42 Sie resultierte aus einer verstärkten Förderung vieler sozialwissenschaftlicher Forschungsbereiche  – etwa der Sozialpsychologie  – während des amerikanischen Kriegseinsatzes gegen das NS-Regime und seine Verbündeten.43 Für die Sozialwissenschaften sowie die besonders mit der Sozial- und Moralphilosophie eng verbundene Ideengeschichte, aber auch für etliche natur- und technikwissenschaftliche Fächer, war der Einsatz wissenschaftlicher Experten im Zweiten Weltkrieg ein Take-Off-Moment für die Dominanz amerikanischer wissenschaftlicher Ansätze im Kalten Krieg.44 Bedeutenden Anteil neben amerikanischen Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftlern wie Margaret Mead oder Gregory Bateson45 hatten daran liberale und politisch links stehende Emigranten deutsch-jüdischer Herkunft. Die Mitarbeit von Assoziierten und Vertretern des IfS, so Arkadij Gurland, Otto Kirchheimer, Franz Neumann, Herbert Marcuse sowie Friedrich Pollock, und Emigranten wie Kurt Lewin im 1941 gegründeten Research and Analysis Branch (R&A Branch) des Office of Strategic Services (OSS), einer Vorgängerorganisation der Central Intelligence Agency (CIA), erachtet die Forschungsliteratur für den späteren Einsatz dieses Personenkreises für die Demokratisierung Westdeutschlands und ihre politikberatende Tätigkeit als ausschlaggebend.46 Die amerikanische Dominanz und die 42 Für die Sozialwissenschaften siehe Platt, Sociology, S.125; Tamme, »Promoting Racial Harmony«, S.214. Vgl. Solovey, Cold War Social Science, S.1f. 43 Ziemann u.a., Introduction, S.22. Bereits der Erste Weltkrieg brach die Dominanz des deutschen akademischen Systems. Der Zweite Weltkrieg zementierte dann die Überlegenheit des amerikanischen Wissenschaftssystems, das im frühen Kalten Krieg in eine weltweite Hegemonie ausgebaut wurde. Vgl. Andrew Abbott, Library Research Infrastructure for Humanistic and Social Scientific Scholarship in the Twentieth Century, in: Camic/Gross/Lamont (Hrsg.), Social Knowledge in the Making, S.43-87, hier: S.44. 44 So das Argument von David C. Engerman, The Rise and Fall of Wartime Social Science: Harvard’s Refugee Interview Project, 1950-1954, in: Solovey/Cravens (Hrsg.), Cold War Social Science, S.25-43, hier: S.25. Vgl. auch Platt, Sociology, S.103. 45 Christian Fleck, Transatlantische Bereicherungen. Zur Erfindung der empirischen Sozialforschung. Frankfurt am Main 2007, S.428; Adam Kuper, Social Anthropology, in: Backhouse/Fontaine (Hrsg.), The History of the Social Sciences, S.136-154, hier: S.150. Eine Liste weiterer am amerikanischen Kriegseinsatz beteiligter Geistes- und Sozialwissenschaftler findet sich in Barry M. Katz, Foreign Intelligence: Research and Analysis in the Office of Strategic Services, 1942-1945. Cambridge, MA /London 1989, S. xiv f., 9-13, 23f. 46 Raffaele Laudani (Hrsg.), Secret Reports on Nazi Germany: The Frankfurt School Contribution to the War Effort. Princeton/Oxford 2013; Alfons Söllner, Archäologie der deutschen Demokratie. Eine Forschungshypothese zur theoretischen Praxis der Kritischen Theorie im amerikanischen Geheimdienst, in: ders. (Hrsg.), Zur Archäologie der Demokratie in Deutschland. Analysen politischer Emigranten im

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demokratieorientierte Politisierung sozialwissenschaftlichen Wissens waren demnach eng miteinander verknüpft. Aus seiner Analyse des Faschismus und des Nationalsozialismus, dem Behemoth (1942, 1944), leitete Neumann die Ansicht ab, dass eine politische Theorie und Ideengeschichte keine distanziert-neutralen, sondern normenorientierte Positionen vertreten müsse, die der Bevölkerung eine demokratische Haltung vermittelten. Dies beinhalte eine Politisierung der Menschen im Sinne einer Sensibilisierung für politische Fragen im Rahmen einer kritischen Debattier- und Diskussionskultur. Eine politisch neutrale Haltung betrachtete Neumann kritisch, sei sie doch eine der Ursachen für die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 gewesen.47 In den frühen 1940er Jahren weiteten viele Analytiker des Faschismus und des Nationalsozialismus ihre Forschungsergebnisse auf den Stalinismus aus. Auch in den Augen vieler linker Wissenschaftler und Intellektueller war dieser spätestens seit den Moskauer Prozessen von 1936 bis 1938 und dem Hitler-Stalin-Pakt von 1939 diskreditiert.48 In scharfer Abgrenzung zur demokratischen Gesellschaftsordnung entwickelten diese Denker eine Vorstellung von »totalitärer« Herrschaft. Die von Emigranten wie Hannah Arendt, Franz Borkenau, Hans Maier oder Karl R. Popper mitentwickelte Totalitarismustheorie richtete sich sowohl gegen den sowjetkommunistischen als auch gegen den faschistischen Gesellschaftsentwurf. Beide totalitären Regime unterschieden sich dadurch, dass das eine – NS-Deutschland – zerschlagen wurde, während das andere – die über die Sowjetunion hinausreichende stalinistische Herrschaft  – bestehen blieb. Ideologisch setzte sich der Krieg deshalb auch nach 1945 fort. Er wurde nun als Kalter Krieg der Denksysteme und politischen Haltungen geführt. Dies führte im Westen nicht nur zu einem gesteigerten wissenschaftlichen Ausstoß und einer intensivierten Innovationskraft, sondern begründete auch ein normatives Sendungsbewusstsein demokratischer Werte. Diese Dualität – kriegerisch-imperiale Haltung einerseits, Demokratisierungsbestrebungen andererseits – lässt sich am Beispiel der Modernisierungstheorie besonders gut veranschaulichen, die im Kalten Krieg einen ideologisch aufgeladenen Orientierungsdiskurs der Geistes-

amerikanischen Geheimdienst, aus dem Amerikanischen übers. v. Sabine Gwinner, Manfred Paul Buddeberg und Niko Hansen, Bd.1: 1943-1945. Frankfurt am Main 1982, S.7-37, hier: S.23. Vgl. Kaya Tolon, Futures Studies: A New Social Science Rooted in Cold War Strategic Thinking, in: Solovey/Cravens (Hrsg.), Cold War Social Science, S.45-62, hier: S.45f. Vgl. Backhouse/Fontaine, Toward a History of the Social Sciences, S.186f., 189, 209; Katz, Foreign Intelligence, S.15, 29-61. 47 Tim. B. Müller, Krieger und Gelehrte. Herbert Marcuse und die Denksysteme im Kalten Krieg. Hamburg 2010, S.317-339. 48 Exemplarisch Arthur Koestler, Darkness at Noon. London 1940. Siehe dazu Sean A. Forner, German Intellectuals and the Challenge of Democratic Renewal: Culture and Politics after 1945. Cambridge 2014, S.209.

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und Sozialwissenschaften im Westen bildete:49 Die »hochgradig stilisierte Abfolge der gesellschaftlichen Entwicklung in der Modernisierungstheorie« und ihre behavioristisch-gesetzesartigen Grundannahmen verschleierten die Tatsache, »dass deren ideologische Ursprünge in der anglo-amerikanischen Erfahrung der Gesellschaftsentwicklung lagen«.50 Diese wurde als anzustrebender Zustand auf andere Gesellschaften und Kulturen projiziert. Für Westdeutschland finden sich viele der skizzierten Tendenzen der Sozialwissenschaften im frühen Kalten Krieg wieder. Es avancierte zeitgleich zum Laboratorium für demokratische Aufbau- und Erziehungspolitik wie für sozialwissenschaftliche, vor allem sozialempirische Forschung. Beides folgte einem dezidiert antikommunistischen politischen Kurs.51 Die amerikanischen Besatzer betrachteten die westdeutschen Sozialwissenschaftler als Verbündete im Kampf gegen den Kommunismus – und diese wiederum suchten Anschluss an die Amerikaner. Das Spezifikum der westdeutschen Sozialwissenschaften war jedoch das Aufeinandertreffen von aus der Emigration zurückgekehrten Wissenschaftlern und solchen mit NS-Vergangenheit, von Menschen, die als Juden, als Linke oder Liberale verfolgt wurden und deshalb aus Deutschland flohen, und ehemaligen NSDAP-Mitgliedern oder Sozialforschern, die oft noch bis weit in den Kalten Krieg hinein nationalsozialistischen, völkischen oder jungkonservativen Werthaltungen und Ideologemen nachhingen. Diese Konstellation erzeugte im westdeutschen Wissenschaftsfeld nach 1945 ein latentes Konfliktpotenzial, hervorgegangen aus Schweigen, Nichtkonfrontation und Unfähigkeit, die eigene Position zu artikulieren und zur kritischen Diskussion zu stellen.52 49 Lutz Raphael, Embedding the Human and Social Sciences in Western Societies, 1880-1980: Reflections on Trends and Methods of Current Research, in: Brückweh u.a. (Hrsg.), Engineering Society, S.41-56, hier: S.52. Vgl. Nils Gilman, Mandarins of the Future: Modernization Theory in Cold War America. Baltimore/London 2003. Den Zusammenhang zwischen amerikanischer Sozialwissenschaft, Modernisierungstheorie und Imperialismus stellt Michael E. Latham für die Kennedy-Ära dar. Siehe Michael E. Latham, Modernization as Ideology: American Social Science and »Nation Building« in the Kennedy Era. Chapel Hill/London 2000. 50 Heilbron/Guilhot/Jeanpierre, Auf dem Weg, S.419. Vgl. auch David Ekbladh, The Great American Mission: Modernization and the Construction of an American World Order. Princeton/Oxford 2010, S.14-39, 111-113. 51 Nicolas Guilhot, Reforming the World: George Soros, Global Capitalism, and the Philanthropic Management of the Social Sciences, in: Critical Sociology 33 (2007) 3, S.447-479, hier: S.453. Vgl. auch Joachim Fischer/Stephan Moebius, Soziologische Denkschulen. Zur Archäologie der bundesrepublikanischen Soziologie, in: dies. (Hrsg.), Soziologische Denkschulen in der Bundesrepublik Deutschland. Wiesbaden 2019, S.1-14. 52 Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht, Nach 1945. Latenz als Ursprung der Gegenwart. Frankfurt am Main 2012, S.47-50. Michael Schüring meint, dass die offene Artikulation der eigenen Demütigung und Enttäuschung durch die Remigranten für die

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Die Forschungsliteratur zum intellektuellen und wissenschaftlichen Feld in Nachkriegsdeutschland zeichnet für die Dabeigewesenen zwei zentrale Strategien nach, mittels derer Karrieren nach 1945 erfolgreich weitergeführt wurden: Zum einen die Pflege der Netzwerke, die während der NS-Herrschaft gefestigt worden waren und nach dem Zweiten Weltkrieg gegenseitige Unterstützung im Wissenschaftsfeld garantierten, zum anderen das behutsame Knüpfen neuer Verbindungen mit solchen Wissenschaftlern, die als nicht kompromittiert galten.53 Für Letzteres suchten Wissenschaftler mit NS-Vergangenheit nicht selten den Kontakt zu Rückkehrern. Diese wiederum brachten aus ihrem Emigrationsland Verbindungen zu amerikanischen, britischen oder französischen Wissenschaftlern und Wissenschaftspolitikern mit, die ihnen den Neuanfang in Westdeutschland nach 1945 erleichterten. Sean A. Forner, Udi Greenberg und Noah Strote arbeiten in ihren Studien die Relevanz dieser Kontakte für die Demokratisierungspolitik und die gleichzeitige Etablierung der Sozialwissenschaften und der Politikwissenschaft in Westdeutschland heraus. Politik- und Sozialwissenschaftler wie Carl J. Friedrich, Ernst Fraenkel, Waldemar Gurian, Karl Loewenstein oder Hans J. Morgenthau rekonfigurierten dabei in ihren Exilländern Demokratisierungstheorien, die sie bereits in der Weimarer Republik entwickelt hatten.54 Dies gilt auch für die Wirtschaftswissenschaftler, besonders aber für die Nationalökonomen, die ihr Fachgebiet in Westdeutschland nach 1945 infolge der intensivierten Rezeption amerikanisch-englischer Modelle, etwa des Keynesianismus, und der Weiterentwicklung eigener Ansätze als akademisches Fach etablierten.55 Zunächst fanden sich Remigranten oftmals in einer prekären Situation wieder – besonders dann, wenn ihnen Kontakte zu alliierten Besatzungsoffizieren fehlten. Zum einen war der Antisemitismus im westdeutschen Wissenschaftsfeld keineswegs verschwunden, auch wenn er meist nur hinter vorgehaltener Hand artikuliert wurde. Zum anderen galten Juden, die nach 1945 wieder in Deutschland lebten, in Israel oder bei amerikanischen jüdischen Verbänden als Verräter eigene Karriere durchaus riskant sein konnte, wenn man zugleich mit dem Arbeitgeber um materielle und symbolische Anerkennung verhandelte. Vgl. Michael Schüring, Minervas verstoßene Kinder. Vertriebene Wissenschaftler und die Vergangenheitspolitik der Max-Planck-Gesellschaft (Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus, Bd.13). Göttingen 2006, S.28f. 53 Bernd Weisbrod, Dem wandelbaren Geist. Akademisches Ideal und wissenschaftliche Transformation in der Nachkriegszeit, in: ders. (Hrsg.), Akademische Vergangenheitspolitik. Beiträge zur Wissenschaftskultur der Nachkriegszeit (Veröffentlichungen des Zeitgeschichtlichen Arbeitskreises Niedersachsen, Bd.20). Göttingen 2002, S.1135. Vgl. Mitchell G. Ash, Wissenschaftswandel in Zeiten politischer Umwälzungen: Entwicklungen, Verwicklungen, Abwicklungen, in: NTM 3 (1995) 1, S.1-21. 54 Greenberg, Weimar Century; Strote, Lions and Lambs; Forner, German Intellectuals. 55 Jan-Otmar Hesse, Wirtschaft als Wissenschaft. Die Volkswirtschaftslehre in der frühen Bundesrepublik. Frankfurt am Main/New York 2010.

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und wurden teilweise sogar geächtet.56 Hans-Joachim Schoeps, Jacob Taubes, Peter Szondi, Karl Löwith und andere standen unter Legitimationsdruck gegenüber Israel und den jüdischen Gemeinden außerhalb Deutschlands. Gleichzeitig mussten sie sich im nachkriegszeitlichen Westdeutschland behaupten. Das implizierte, sich gegen antisemitische Netzwerke durchzusetzen sowie mit jenen Wissenschaftlern und Intellektuellen neue Bündnisse einzugehen oder an frühere Verbindungen anzuknüpfen, von denen sie – wenn auch nie mit letzter Sicherheit – wussten, dass sie den Nationalsozialismus und seine antisemitische Vernichtungspraxis nicht unterstützt hatten.57 Die gebrochene Identität blieb. So fühlten sich Arnold Zweig und Ernst Bloch, die beide in die DDR remigierten, als Deutsche und eben auch als Juden. Trotz zahlreicher Ehrungen seitens der ostdeutschen Kulturpolitik stand Zweig dem Antizionismus der Sozialistischen Einheitspartei Deutschland (SED) und der staatlichen Ignoranz gegenüber den jüdischen Opfern des NS-Regimes ambivalent gegenüber. Bloch, der anfänglich auf eine moralisch bessere Zukunft in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) hoffte, lehnte die Israelkritik der Sowjetunion ab und trat den ost- und westdeutschen Linken geradezu feindlich gegenüber.58 In diesem Spannungsfeld der Rückkehrer und Dabeigewesenen agierten auch die in der vorliegenden Studie behandelten Akteure der Gruppen um Horkheimer und Schelsky. Das Spezifische dieser beiden Akteursgruppen war, dass sie – und dies war nicht selbstverständlich – äußerst erfolgreich waren. Zum IfS und besonders zu Horkheimers herausragender Karriere nach seiner Rückkehr nach Frankfurt betont Monika Boll, dass es keineswegs so war, »dass die Rück56 Werner Bergmann, ›Wir haben Sie nicht gerufen‹. Reaktionen auf jüdische Remigranten in der Bevölkerung und Öffentlichkeit der frühen Bundesrepublik, in: Irmela von der Lühe/Axel Schildt/Stefanie Schüler-Springorum (Hrsg.), ›Auch in Deutschland waren wir nicht wirklich zu Hause‹. Jüdische Remigration nach 1945 (Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden, Bd.34). Göttingen 2008, S.19-39, hier: S.24; Monika Boll/Raphael Gross, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), ›Ich staune, dass Sie in dieser Luft atmen können‹. Jüdische Intellektuelle in Deutschland nach 1945 (Schriftenreihe des Fritz Bauer Instituts, Frankfurt am Main. Studienund Dokumentationszentrum zur Geschiche und Wirkung des Holocaust, Bd. 28). Frankfurt am Main 2013, S.9-20, hier: S.12; Michael Brenner, Jüdische Geistesgeschichte zwischen Exil und Heimkehr: Hans-Joachim Schoeps im Kontext der Wissenschaft des Judentums, in: Boll/Gross (Hrsg.), ›Ich staune, dass Sie in dieser Luft atmen können‹, S.21-39, hier: S.27f. 57 Vgl. Boll/Gross, Einleitung, S.13-15. 58 Adi Gordon, Widersprüchliche Zugehörigkeiten: Arnold Zweig in Ostdeutschland, in: Boll/Gross (Hrsg.), ›Ich staune, dass Sie in dieser Luft atmen können‹, S.171204; Henning Tegtmeyer, Exodus und Heimkehr. Ernst Bloch, Philosoph der Hoffnung, in: Boll/Gross (Hrsg.), Ich staune, dass Sie in dieser Luft atmen können‹, S.205-232.

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kehr der Emigranten im Bewusstsein der verantwortlichen Stellen von Anfang an Priorität besessen hätte«. Vielmehr sei Horkheimers Karriere »als ein außerordentlicher Glücksfall zu bezeichnen.«59 Wie Michael Schüring für die zwischen 1946 und 1949 als Max-Planck-Gesellschaft neu gegründete ehemalige Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V . zeigt, ermöglichten solche Karrieren eher persönliche Kontakte als ein einheitliches Vorgehen vonseiten der wissenschaftspolitischen Stellen Westdeutschlands hinsichtlich vertriebener früherer Mitarbeiter.60 Gerhard Schäfer wiederum bezeichnet Schelsky als »Starsoziologen« im Hamburg der 1950er Jahre, der nicht nur als Soziologe die Etablierung und Institutionalisierung der westdeutschen Sozialwissenschaften vorantrieb, sondern als Intellektueller auch die öffentliche Meinung wesentlich beeinflusste.61 Wie diese Laufbahnen angesichts der oben beschriebenen Latenzen und Problemkonstellationen möglich waren, arbeitet die vorliegende Untersuchung heraus.

1. Die Sozialwissenschaften im nachkriegszeitlichen Westdeutschland Der nachfolgende Abschnitt behandelt die Sozialwissenschaften in Westdeutschland im frühen Kalten Krieg. Das erste Unterkapitel widmet sich den sozialen, politischen und epistemischen Entwicklungen von der Zeit der NS-Herrschaft bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges, die für die Neukonstitution der westdeutschen Sozialwissenschaften nach 1945 ausschlaggebend waren. Das zweite Unterkapitel skizziert das Feld der Sozialwissenschaften im nachkriegszeitlichen Westdeutschland, um die Gruppen um Horkheimer und Schelsky darin zu situieren.

1.1. Die »Stunde Null« der Sozialwissenschaften Die Vorstellung einer »Stunde Null« fand sowohl in der deutschen Gesellschaft als auch den Wissenschaften großen Widerhall.62 Ein »Klima kollektiven Be59 Monika Boll, Max Horkheimers zweite Karriere, in: dies./Gross (Hrsg.), ›Ich staune, dass Sie in dieser Luft atmen können‹, S.345-374, hier: S.345. 60 Schüring, Minervas verstoßene Kinder. 61 Gerhard Schäfer, Soziologie ohne Marx. Helmut Schelsky als »Starsoziologe« und Intellektueller im Hamburg der 1950er Jahre (Supplement der Zeitschrift Sozialismus, Heft 1/2015). Hamburg 2015. 62 Forner, German Intellectuals, S.8f.; Karl-Siegbert Rehberg, Auch keine Stunde Null. Westdeutsche Soziologie nach 1945, in: Walter H. Pehle/Peter Sillem (Hrsg.),

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schweigens«63 im Wissenschafts- und Intellektuellenfeld Westdeutschlands nach 1945 ermöglichte es, einen radikalen Neuanfang im Sinne einer erinnerungspolitischen Amnesie zu proklamieren. Daran hatten nicht nur diejenigen Sozialwissenschaftler mit NS-Vergangenheit, sondern auch jüdische, liberale oder politisch links stehende Remigranten ihren Anteil.64 Die Geschichte der westdeutschen Sozialwissenschaften im frühen Kalten Krieg setzte jedoch bereits mit dem Jahr 1933 ein. Die durch die Machtübertragung an die Nationalsozialisten ausgelöste und forcierte Emigration rassisch, politisch und religiös unliebsamer Sozialwissenschaftler beeinflusste das Gefüge des deutschen sowie ab 1938 des österreichischen Wissenschaftsfelds und der Wissenschaften in den Emigrationsländern nachhaltig. Obschon ein quantitativer Vergleich zu anderen Wissenschaften kaum möglich ist und lediglich konstatiert werden kann, dass durch die NS-Wissenschaftspolitik »ganze Forschungsmilieus getilgt wurden«, wie Ulrike Kändler schreibt,65 kann durchaus festgehalten werden, dass die Sozialwissenschaften hiervon besonders drastisch betroffen waren. Nicht wenige Sozialwissenschaftler Deutschlands und Österreichs hatten einen jüdischen Hintergrund oder verstanden sich als Soziologen mit linker politischer Haltung und hatten sich für Sozialreformen eingesetzt.66 Jene, denen die Emigration gelang, gingen mehrheitlich in die Vereinigten Staaten, wo ein Neuanfang einfacher möglich war als etwa in England. In Amerika bestand Verwendung für deutsche Wissenschaftler, von denen man sich einen Zugewinn an intellektueller Kapazität für die Hochschulen erwartete. Außerdem wurden die restriktiven Immigrationsgesetze nach den Präsidentschaftswahlen von 1936 gelockert. Das System

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Wissenschaft im geteilten Deutschland. Restauration oder Neubeginn nach 1945? Frankfurt am Main 1992, S.26-44. Allgemein für die Universitäten in den westlichen Besatzungszonen vgl. Barbara Wolbring, Trümmerfeld der bürgerlichen Welt. Universität in den gesellschaftlichen Reformdiskursen der westlichen Besatzungszonen (1945-1949) (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd.87). Göttingen 2014, S.14f. Weischer, Das Unternehmen ›Empirische Sozialforschung‹, S.54. Alex Demirović, Die Hüter der Gesellschaft. Zur Professionalisierung der Soziologie in Westdeutschland 1945-1950, in: Christoph Cobet (Hrsg.), Einführung in Fragen an die Soziologie in Deutschland nach Hitler 1945-1950. Mit einem Beitrag Soziologie in Österreich nach 1945 (HDG, Reihe: Soziologie, Beihefte 1). Frankfurt am Main 1988, S.48-75, hier: S.50, 70f. Ulrike Kändler, Entdeckung des Urbanen. Die Sozialforschungsstelle Dortmund und die soziologische Stadtforschung in Deutschland, 1930 bis 1960 (Histoire, Bd.58). Bielefeld 2016, S.29f. Konstantin von Freytag-Loringhoven, Erziehung im Kollegienhaus. Reformbestrebungen an den deutschen Universitäten der amerikanischen Besatzungszone 19451960 (Pallas Athene, Bd.45). Stuttgart 2012, S.132; Backhouse/Fontaine, Toward a History of the Social Sciences, S.185.

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der Hilfs- und Förderorganisationen war auch deutlich besser ausgebaut als in anderen Emigrationsländern.67 In den Vereinigten Staaten mussten sich die deutschen und österreichischen Sozialwissenschaftler mit den dortigen universitären Gepflogenheiten arrangieren und sich auf Forschungsförderung durch philanthropische Stiftungen wie die Rockefeller, die Ford oder die Carnegie Foundation einstellen.68 Für ihren beruflichen Neustart mussten sie sich zudem der Methoden und theoretischen Ansätze bemächtigen, die mehrheitlich der empirischen Sozialforschung und der Sozialpsychologie entstammten. Stärker als in Deutschland verband sich die amerikanische Sozialforschung mit sozialer Arbeit und Sozialreform. Ein wichtiges Element für ihre in den 1930er Jahren bereits relativ breite akademische Institutionalisierung war – im Sinne eines Fortschrittsdenkens – die Bereitstellung von Wissen für Politik und Industrie.69 Nach 1945 fand diese Art sozialwissenschaftlicher Praxis ihren Weg nach Westdeutschland und trug hier wesentlich zur Etablierung des Faches bei.70 Auch im nationalsozialistischen Deutschland entwickelte sich die sozialwissenschaftliche Praxis weiter. Neben der theoretisch-philosophisch ausgerichteten Soziologie eines Hans Freyer oder dem philosophisch-anthropologischen Ansatz Arnold Gehlens standen empirische Forschungen, die teils gezielt gefördert wurden. Dieses sozialwissenschaftliche Expertenwissen galt aufgrund seiner Anwendungsorientierung letztlich als wichtiger für die NS-Politik als die Sozialphilosophie Freyers oder die Anthropologie Gehlens. Insbesondere nach Abschluss der inneren Konsolidierung des NS-Staates um 1936 und den gleichzeitig einsetzenden direkten Kriegsvorbereitungen im Rahmen des »Vierjahresplans«71 zeigten NS-Politiker vermehrt Interesse für Wissensbestände, die für das Regime instrumentell verwendet werden konnten: Einzelne SS-Abteilungen und die NSRaumplanungsstellen interessierten sich für demografische Expertisen über zukünftig zu »germanisierende« Gebiete oder für Lösungsvorschläge zu Fragen 67 Gordon Fraser, The Quantum Exodus: Jewish Fugitives, the Atomic Bomb, and the Holocaust. Oxford 2012, S.119-127. 68 Backhouse, Economics, S.46; Volker Berghahn, Transatlantische Kulturkriege. Shepard Stone, die Ford-Stiftung und der europäische Antiamerikanismus (Transatlantische Historische Studien, Bd.21). Stuttgart 2004 [2001], S.183-185. Vgl. Donald Fisher, Fundamental Development of the Social Sciences: Rockefeller Philanthropy and the United States Social Science Research Council. Ann Arbor 1993. 69 David Paul Haney, The Americanization of Social Science: Intellectuals and Public Responsibility in the Postwar United States. Philadelphia 2008, S.59f.; Weischer, Das Unternehmen ›Empirische Sozialforschung‹, S.45. 70 Fleck, Transatlantische Bereicherungen; Platt, Sociology, S.119. 71 Sören Flachowsky, Von der Notgemeinschaft zum Reichsforschungsrat. Wissenschaftspolitik im Kontext von Autarkie, Aufrüstung und Krieg (Studien zur Geschichte der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Bd.3). Stuttgart 2008, S.232.

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der Agrarpolitik.72 Die Mehrzahl der daran beteiligten Sozialwissenschaftler gehörte zu einer Weltanschauungselite (Lutz Raphael), die keineswegs nur technokratisches und sinnentleertes Wissen generierte. Vielmehr verzahnten sie die vom NS-Regime ventilierten und von ihnen befürworteten Ideologeme »Rasse«, »Volk« und »Raum« mit wissenschaftlich glaubwürdigem Expertenwissen.73 Diese praktisch-empirische Wende im Verlauf des NS-Regimes sowie die Umdeutung und Verwerfung völkisch-rassischer Ordnungsideen nach 1945 beeinflussten die Weiterführung der Karrieren dieser Sozialwissenschaftler im frühen Kalten Krieg gleichermaßen.74 Hinzu kam, dass einige der in Deutschland gebliebenen Sozialwissenschaftler die Entwicklungen der Sozialwissenschaften in den englischsprachigen Ländern durchaus verfolgt hatten. Nach 1945 konnten sie an diese, nun nach Westdeutschland importierten Methoden anschließen. Gleichwohl konnte dieser Umstand nicht über die durch die NS-Politik bewirkte intellektuelle Isolation und Provinzialisierung der deutschen Sozialforscher hinwegtäuschen.75 Trotz aller Unterschiede hinsichtlich ihrer Biografien, ihres politischen Selbstverständnisses und ihrer Methodik einte die westdeutschen Sozialwissenschaftler ihre Ausrichtung auf einen gesellschaftlich, ökonomisch und politisch antizipierten Soll-Zustand. Sowohl Rückkehrer als auch Dabeigewesene beteiligten sich an der Konstituierung der Sozialwissenschaften und der westdeutschen Demokratie insgesamt. Gemeinsame politische und wissenschaftspolitische Ziele sowie epistemische Übereinstimmungen ermöglichten diese Zusammenarbeit. Die insbesondere von den amerikanischen Besatzungsbehörden geförderte em72 Vgl. Klingemann, Soziologie und Politik, S.33-191. Vgl. auch ders., Soziologie, in: Jürgen Elvert/Jürgen Nielsen-Sikora (Hrsg.), Kulturwissenschaften und Nationalsozialismus (Historische Mitteilungen, Bd.72). Stuttgart 2008, S.390-444. Zur Entwicklung der Demografie von der Weimarer Republik bis in die Nachkriegszeit am Beispiel Friedrich Burgdörfers siehe Florence Vienne, Der prognostizierte Volkstod. Friedrich Burgdörfer, Robert René Kuczynski und die Entwicklung demographischer Methoden vor und nach 1933, in: Michael Fahlbusch/Ingo Haar (Hrsg.), Völkische Wissenschaften und Politikberatung im 20.  Jahrhundert. Expertise und »Neuordnung« Europas. Paderborn 2010, S.251-272; Otthein Rammstedt, Deutsche Soziologie 1933-1945. Die Normalität einer Anpassung. Frankfurt am Main 1986, S.133f. 73 Vgl. Lutz Raphael, Radikales Ordnungsdenken und die Organisation totalitärer Herrschaft: Weltanschauungseliten und Humanwissenschaftler im NS-Regime, in: Geschichte und Gesellschaft 27 (2001) 1, S.5-40. 74 Vgl. Demirović, Die Hüter der Gesellschaft, S.49; Rehberg, Auch keine Stunde Null, S.37. 75 Johanna A. Brumberg, »Fact Finder for the Nation«. Die Entdeckung des Babybooms im U.S. Census von 1940, in: Reinecke/Mergel (Hrsg.), Das Soziale ordnen, S.123-154, hier S.132.

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pirische Sozialforschung bot hierfür ein ideales Feld: Einerseits wollten die Amerikaner die Forschungsergebnisse für die Demokratisierung der westdeutschen Bevölkerung nutzen. Bereits im März 1948 hatte das Berliner Amt der amerikanischen Militärregierung für das Hochschulwesen eine Tagung zur Förderung der Sozialwissenschaften in Seeshaupt organisiert, auf der das Demokratisierungspotenzial der Sozialwissenschaften diskutiert wurde.76 Ihre Arbeit im Bereich der empirischen Sozialforschung eröffnete den unterschiedlichen Gruppen von Sozialwissenschaftlern andererseits aber auch die Aussicht, ihre wissenschaftspolitischen Ziele zu verwirklichen. Dies wurde durch die methodischen Gemeinsamkeiten vielfach erleichtert. Insgesamt ermöglichte die Entwicklung jenen, die mit NS-Organisationen zusammengearbeitet hatten, sich hinter vorgeblich neutralen Methoden zu verstecken. Außerdem bereitete sie den Weg zur Festsetzung internationaler Standards in den Sozialwissenschaften.77

1.2. Das soziale Feld der Sozialwissenschaften in Westdeutschland nach 1945 Das soziale Feld der Sozialwissenschaften Westdeutschlands in den frühen 1950er Jahren war ausgesprochen heterogen. Es konstituierte sich aus Lehrstühlen und Instituten, die bereits vor 1945 existiert hatten – zwischen 1919 und 1932 waren das zwölf Lehrstühle im Deutschen Reich78  – sowie solchen, die 1933 abgeschafft oder umgewidmet und mit der Neueröffnung der westdeutschen Universitäten in den späten 1940er Jahren wieder in sozialwissenschaftliche Lehrstühle umgewandelt worden waren. Hinzukamen Neugründungen von Lehrstühlen und Instituten sowie neue, außerakademische Sozial- und Meinungsforschungsinstitute. Ähnlich vielfältig sahen die Laufbahnen der westdeutschen Sozialwissenschaftler aus: Neben den Remigranten fanden sich dort Akteure wie Alfred Weber, die nach 1933 ihren Posten verloren und das NS-Regime in der »inneren Emigration« überdauert hatten, Neueinsteigerinnen wie Elisabeth Noelle-Neumann, die vor 1945 Journalistin war und in den späten 1940er Jahren mit sozialwissenschaftlichen Forschungen begann, und sogenannte Reichssoziologen, die, obwohl sie das NS-Regime ideologisch und wissenschaftspolitisch

76 Demirović, Die Hüter der Gesellschaft, S.57, 60. 77 Rehberg, Auch keine Stunde Null, S.27-32. 78 Uta Gerhardt, Die Wiederanfänge der Soziologie nach 1945 und die Besatzungsherrschaft. Ein Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte, in: Bettina Franke/Kurt Hammerich (Hrsg.), Soziologie an deutschen Universitäten. Gestern – heute – morgen. Wiesbaden 2006, S.31-114, hier: S.31.

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begrüßt hatten, ihre Laufbahnen nach 1945  – wie Gunther Ipsen und Karl Valentin Müller – relativ unbeschadet weiterführen konnten. Zur Verortung der Personenkreise um Max Horkheimer und Helmut Schelsky in diesem Feld bedarf es zunächst eines kursorischen Überblicks über die wichtigsten sozialwissenschaftlichen Lehrstühle, Institute und Einrichtungen in Westdeutschland zwischen 1945 und 1961. Wie in anderen Bereichen des intellektuellen Lebens Westdeutschlands79 versuchten einige, dem Nationalsozialismus feindlich gegenüberstehende Sozialwissenschaftler nach 1945 an die deutschen Sozialwissenschaften von vor 1933 anzuknüpfen. Einige von ihnen hatten bereits vor der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten einen Lehrstuhl inne. Sie waren nach 1933 entweder in die »innere Emigration« gegangen oder mussten ihre Lehrtätigkeit niederlegen. Zu ihren wichtigsten Vertretern zählten Alfred Weber in Heidelberg, Alfred von Martin in München und Leopold von Wiese in Köln. Die Forschungsschwerpunkte dieser drei Sozialwissenschaftler bildeten geisteswissenschaftliche historische Soziologie, formale und Kultursoziologie sowie Beziehungslehre. Weber war stark beeinflusst von seinem Bruder Max Weber und Friedrich Gundolf, aber auch vom Vitalismus Hans Drieschs. Die Weimarer Republik hatte Weber befürwortet. 1924 hatte er mit Unterstützung durch die Rockefeller Foundation das Institut für Sozial- und Staatswissenschaften gegründet, über das er eine elitäre Form der Demokratie propagierte. Das Institut hatte sich die Herausbildung der zukünftigen bürokratischen Funktionselite zum Ziel gesetzt, die den Erhalt der Weimarer Demokratie garantieren sollte. Nach der Machtübergabe an Hitler trat Weber freiwillig vom Lehramt zurück. Diesen sozialwissenschaftlichen Ansatz vertrat Weber auch nach 1945, als er erneut das Institut für Sozial- und Staatswissenschaften an der Universität Heidelberg leitete.80 Der Historiker und Soziologe von Martin war von 1931 bis 1933 Direktor des Soziologischen Seminars der Universität Göttingen. Als richtungsweisend erachtete er vor allem den geistesgeschichtlichen Ansatz Friedrich Meineckes. Die Soziologie verstand er als moralische Orientierungswissenschaft.81 79 Vgl. Sean A. Forner, Reconsidering the ›Unpolitical German‹: Democratic Renewal and the Politics of Culture in Occupied Germany, in: German History 32 (2014) 1, S.54-78; ders., German Intellectuals, S.1-5, 10f. Vgl. Greenberg, The Weimar Century. 80 Forner, German Intellectuals, S.24; Greenberg, The Weimar Century, S.37, 39f., 68. Hübinger bezeichnet das in der Weimarer Republik von Alfred Weber, Emil Lederer und Joseph Alois Schumpeter herausgegebene Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik als »Institution des ökonomischen und soziologischen ›Vernunftrepublikanismus‹.« Siehe Hübinger, Engagierte Beobachter, S.42. 81 Archiv der Sozialforschungsstelle Dortmund (Archiv SFS), Bestand I , Karton 1/3, Ordner 1: Sozialforschungsstelle an der Universität Münster, Sitz Dortmund: Bericht für die Zeit vom 1. April 1950 bis 31. März 1951, 29.03.1951, S.3. Vgl. Volker Kruse, Historisch-soziologische Zeitdiagnosen in Westdeutschland nach 1945. Eduard

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Von 1948 bis 1958 vertrat von Martin als außerplanmäßiger Professor das Fach Soziologie an der Universität München, wo er diese Ideen weiterentwickelte.82 Von Wiese schließlich war 1919 zum Direktor des Forschungsinstituts für Sozialwissenschaften in Köln ernannt worden und erhielt an der dortigen Universität eine ordentliche Professur für wirtschaftliche Staatswissenschaften. Nach der Auflösung des Forschungsinstituts für Sozialwissenschaften durch die Nationalsozialisten ging von Wiese 1934 ein Jahr lang in die Vereinigten Staaten und lehrte nach seiner Rückkehr Volkswirtschaft im geschlossenen Hörerkreis. Er war eher von Georg Simmel, Alfred Vierkandt und teilweise auch von Karl Mannheim beeinflusst. Sein Anliegen, so Johannes Weyer, sei es gewesen, »den Methodenstreit in der Soziologie zu überwinden und die Soziologie durch ihre Formalisierung zu einer exakten, positiven Wissenschaft zu entwickeln.«83 Nach dem Krieg lehrte er bis zu seiner Emeritierung 1949 noch kurzzeitig Volkswirtschaft in Köln. Seine Stellung als einer der Doyens der deutschen Soziologie wird daran ersichtlich, dass er nach 1945 wieder den Vorsitz der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) übernahm.84 Eine weitere philosophisch-historische und zugleich biologisch-vitalistisch orientierte Forschungsrichtung in den westdeutschen Sozialwissenschaften nach 1945 war die Philosophische Anthropologie, wie sie in der Weimarer Republik der 1928 verstorbene Max Scheler sowie Helmuth Plessner und Arnold Gehlen vertreten hatten. Plessner hatte als Emigrant in Groningen ein Ordinariat für Philosophie erhalten. 1951 nahm er eine Professur für Soziologie am neu gegründeten Institut für Soziologie an der Universität Göttingen an.85 Er beeinflusste

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Heimann, Alfred von Martin, Hans Freyer. Frankfurt am Main 1994, S.11f., 24f., 38-42, 100-140; Reinhard Blomert, Intellektuelle im Aufbruch. Karl Mannheim, Alfred Weber, Norbert Elias und die Heidelberger Sozialwissenschaften der Zwischenkriegszeit. München/Wien 1999, S.177-182; Heine von Alemann, Leopold von Wiese (1876 bis 1969), in: Friedrich Wilhelm Henning (Hrsg.), Kölner Volkswirte und Sozialwissenschaftler. Über den Beitrag Kölner Volkswirte und Sozialwissenschaftler zur Entwicklung der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften (Studien zur Geschichte der Universität Köln, Bd.7). Köln/Wien 1988, S.97-138, hier: S.100130. Vgl. auch Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft, S.255-258. M. Rainer Lepsius, Soziologie als Profession. Autobiographische Skizzen, in: Adalbert Hepp/Martina Löw (Hrsg.), M. Rainer Lepsius. Soziologie als Profession. Frankfurt am Main/New York 2008, S.83-149, hier: S.86; Kruse, Historisch-soziologische Zeitdiagnosen, S.27, 35f., 40. Weyer, Westdeutsche Soziologie, S.158. Henning Borggräfe/Sonja Schnitzler, Die Deutsche Gesellschaft für Soziologie und der Nationalsozialismus. Verbandsinterne Transformationen nach 1933 und nach 1945, in: Michaela Christ/Maja Suderland (Hrsg.), Soziologie und Nationalsozialismus. Positionen, Debatten, Perspektiven. Berlin 2014, S.445-479, hier: S.446. Carola Dietze, Nachgeholtes Leben. Helmuth Plessner, 1892-1985. Göttingen 2006, S.351-360, 366-382.

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zahlreiche jüngere Industrie- und Betriebssoziologen wie Heinrich Popitz oder Hans Paul Bahrdt. Gehlen wiederum diente besonders seinem ihm persönlich eng verbundenen Schüler Schelsky als zentrale intellektuelle Referenz.86 Er gehörte zu jenen Sozialwissenschaftlern mit NS-Vergangenheit an deutschen und österreichischen Universitäten, die nach dem Krieg zunächst ihre Ämter verloren hatten, aber bereits Ende der 1940er Jahre wieder eine universitäre Anstellung erlangten. Gehlen erhielt an der von der französischen Militärregierung 1947 gegründeten Staatlichen Akademie für Verwaltungswissenschaften Speyer eine ordentliche Professur für Philosophie, Psychologie und Soziologie.87 Ähnliches gelang weiteren NS-Belasteten: Hans Freyer kehrte 1945 auf seinen Leipziger Lehrstuhl zurück, der nun wieder in »Professur für Soziologie« (vormals »Politische Wissenschaft«) umbenannt war. Aufgrund starken politischen Drucks reichte er 1948 ein Entlassungsgesuch ein. Danach arbeitete er als leitender Lexikonredakteur im Brockhaus-Verlag in Wiesbaden. Sein früherer Assistent Schelsky unterstützte die Berufung Freyers als emeritierten Professor 1953 an die Universität Münster. Dort lehrte Freyer noch für zehn Jahre.88 Der nationalsozialistische Soziologe und Sozialanthropologe Karl Valentin Müller setzte seine Karriere nach 1945 bruchlos fort. Er baute ab 1946 mit Unterstützung des niedersächsischen Kultusministers ein Institut für Begabtenförderung in Hannover auf, das 1949 in Institut für Empirische Soziologie umbenannt wurde. Später war er Mitbegründer der Forschungsgesellschaft für das Weltflüchtlingsproblem.89 Nach einem ersten Lehrauftrag 1952 an der PhilosophischTheologischen Hochschule Bamberg erhielt er 1955 einen Lehrstuhl für Soziologie und Sozialanthropologie an der Hochschule für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften Nürnberg.90 Auch Wilhelm Emil Mühlmann hatte sich als enthusiastischer Nationalsozialist hervorgetan. Stark beeinflusst von den Rassenanthropologen Hans F.K. Günther und Eugen Fischer sowie dem Ethnologen Richard Thurnwald hatte er als aktives SA-Mitglied für das Amt Rosenberg und das Institut für Grenz- und Auslandsstudien in Berlin-Steglitz gearbeitet. Mühlmann erhielt 1950 eine Diätendozentur und 1957 eine ordentliche Professur für 86 Vgl. Fischer, Philosophische Anthropologie – Ein wirkungsvoller Denkansatz. 87 Julia Kurig, Bildung für die technische Moderne. Pädagogische Technikdiskurse zwischen den 1920er und 1950er Jahren in Deutschland. Würzburg 2015, S.418; Karl-Siegbert Rehberg, Hans Freyer (1887-1960), Arnold Gehlen (1904-1976), Helmut Schelsky (1912-1984), in: Dirk Kaesler (Hrsg.), Klassiker der Soziologie, Bd.2: Von Talcott Parsons bis Pierre Bourdieu, 3. Aufl. München 2002, S.72-104, hier: S.79. 88 Rehberg, Hans Freyer, S.74. 89 Weischer, Das Unternehmen ›Empirische Sozialforschung‹, S.61. 90 Dirk Kaesler, Müller, Karl Valentin, in: Neue Deutsche Biographie, Bd.18. Berlin 1997, S.445-447, URL: http://www.deutsche-biographie.de/pnd117608076.html (Stand: 19.05.2021).

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Ethnologie an der Universität Mainz. 1960 folgte er einem Ruf nach Heidelberg, wo er das Institut für Soziologie und Ethnologie aufbaute.91 Ein weiterer, eindeutig nationalsozialistisch kompromittierter Sozialwissenschaftler war Karl Heinz Pfeffer. Er stammte wie Schelsky aus dem Umfeld der »Leipziger Schule« Freyers. Pfeffer war ab 1946 für verschiedene Institute für Landesplanung und ab 1952 am Hamburgischen Welt-Wirtschafts-Archiv (HWWA) tätig. Auf Betreiben Schelskys erhielt er 1962 eine Professur für Soziologie der Entwicklungsländer an der Universität Münster und wurde Abteilungsleiter an der von demselben geleiteten Sozialforschungsstelle der Universität Münster in Dortmund (SFS).92 Zu den Institutionen, die erheblichen Einfluss auf die westdeutschen Sozialwissenschaften nach Kriegsende hatten, gehörte das bereits erwähnte HWWA. Es wurde 1908 als Forschungs- und Koordinationsstelle des Kolonialinstituts in Hamburg gegründet. Unter dem NS-Regime setzte es seine Tätigkeit fort und betrieb ab 1946 vermehrt eigenständige Forschung.93 Eine ähnliche Institution stellte das Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW) dar, das 1934 aus dem 1914 gegründeten Königlichen Institut für Weltwirtschaft und Seeverkehr hervorgegangen war.94 Der Ökonom Andreas Predöhl, von 1942 bis 1944 Rektor der Universität Kiel und überzeugter Nationalsozialist,95 leitete die Einrichtung von 1934 bis 1945. Nach 1945 war Predöhl kurzzeitig kommissarischer Direktor des HWWA.96 Beide Institutionen boten wirtschaftspolitische Beratung an. Sie waren sowohl an der Einrichtung eines nationalsozialistischen Wirtschaftsraums als auch an der wirtschaftspolitischen Neuordnung der Bundesrepublik beteiligt. In Kiel lehrte ab 1956 auch Gerhard Wurzbacher, ehemaliger Assistent Schelskys an der Hamburger Akademie für Gemeinwirtschaft, Soziologie und Sozial91 Klingemann, Soziologie und Politik, S.363-364; Rammstedt, Deutsche Soziologie 1933-1945, S.42; Ute Michel, Wilhelm Emil Mühlmann (1904-1988) – ein deutscher Professor. Amnesie und Amnestie: Zum Verhältnis von Ethnologie und Politik im Nationalsozialismus, in: Carsten Klingemann u.a. (Hrsg.), Jahrbuch für SoziologieGeschichte 1991. Opladen 1992, S.69-117. 92 Klingemann, Soziologie und Politik, S.270-272, 351f. 93 Vgl. Helmut Leverknecht, 90 Jahre HWWA. Von der Zentralstelle des Hamburgischen Kolonialinstituts bis zur Stiftung HWWA. Eine Chronik, mit einem Ausblick v. Hans-Eckart Scharrer, hrsg. v. Hamburgischen Welt-Wirtschafts-Archiv (HWWA). Hamburg 1998, S.13, 24-33, 36-45. 94 Ebd., S.17, 26; Alexander Wierzok/Sebastian Klauke, Das Institut für Weltwirtschaft und Seeverkehr als Wegbereiter einer Politikwissenschaft aus Kiel?, in: Wilhelm Knelangen/Tine Stein (Hrsg.), Kontinuitäten und Kontroverse. Die Geschichte der Politikwissenschaft an der Universität Kiel. Essen 2013, S.293-323, hier: S.293. 95 Michael Grüttner, Biographisches Lexikon zur nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik. Heidelberg 2004, S.134. 96 Leverknecht, 90 Jahre HWWA, S.35.

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wissenschaften. Nach dem Tod Müllers übernahm Wurzbacher 1965 dessen Nürnberger Lehrstuhl und leitete fortan das gleichnamige Institut für Soziologie und Sozialanthropologie.97 Wurzbacher war im NS-Regime Gaueinsatzreferent des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes (NSDStB). Er promovierte 1939 an der Universität Berlin, unterrichtete anschließend an AdolfHitler-Schulen und kooperierte mit der Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung der deutschen Hochschulen (RAG).98 Neben HWWA und IfW, die ihre Arbeit nach 1945 fortsetzten, war die Hamburger Akademie für Gemeinwirtschaft eine Neugründung mit dezidiert sozialdemokratischer Ausrichtung. Gewerkschaften, Genossenschaften und die Stadt Hamburg schufen die Akademie 1948 zur Realisierung eines »freiheitlichen Sozialismus« sowie zur Ausbildung des Führungspersonals für Sozial- und Wirtschaftsorganisationen.99 Schelsky vertrat dort ab 1948 die Professur für Soziologie. 1949 wurde er zum ordentlichen Professor und zum Leiter der Akademie (1949-1950) berufen.100 Das einflussreichste und größte Sozialforschungsinstitut Westdeutschlands war jedoch die 1946 gegründete SFS, die ihre Arbeitsschwerpunkte auf Stadt- und Industriesoziologie legte. In der Forschungsliteratur gilt die SFS als Auffangbecken für nationalsozialistisch kompromittierte deutsche Sozialwissenschaftler.101 Zu diesen zählten etwa der Soziologe und Bevölkerungswissenschaftler Gunther Ipsen, der von 1951 bis 1961 die Abteilung Soziografie und Sozialstatistik leitete, der langjährige Assistent Ipsens, Rainer Mackensen, der schließlich in Münster für Soziologie und Bevölkerungslehre habilitiert wurde, und die Stadtsoziologin Elisabeth Pfeil.102 Einen ähnlichen Ruf hatten das Forschungsinstitut der Gewerkschaften und das Deutsche Industrie-Institut, das von den Unternehmerverbänden finanziert wurde, 97 Reinhard Wittenberg, Soziologie in Nürnberg. Forschung und Lehre zwischen 1919 und 2000, 2., völlig überarb. und aktual. Aufl. (Theorie und Forschung, Bd.733, Soziologie, Bd.27). Regensburg 2001, S.48; Klingemann, Soziologie und Politik, S.280. 98 Klingemann, Soziologie und Politik, S.23, 99-101. 99 Bärbel von Borries-Pausback, Keine Hochschule für den Sozialismus. Die Gründung der Akademie für Gemeinwirtschaft in Hamburg 1945-1955 (Schriftenreihe der HWP – Hamburger Universität für Wirtschaft und Politik, Hamburg, Bd.9). Wiesbaden 2002, S.9f., 45. 100 Rehberg, Hans Freyer, S.86. 101 Jens Adamski, Ärzte des sozialen Lebens. Die Sozialforschungsstelle Dortmund 1946-1969 (Veröffentlichungen des Instituts für soziale Bewegung. Schriftenreihe A: Darstellungen, Bd.41). Essen 2009, S.128; Kändler, Entdeckung des Urbanen. Siehe auch Weyer, Westdeutsche Soziologie, S.207-214. 102 Adamski, Ärzte des sozialen Lebens, S.14, 22, 114-117, 131, 179. Zu Ipsen siehe David Hamann, Gunther Ipsen in Leipzig. Die wissenschaftliche Biographie eines »Deutschen Soziologen« 1919-1933 (Zivilisation & Geschichte, Bd.19). Frankfurt am Main 2013.

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sowie die Münchner Forschungsgesellschaft.103 Zudem war an der Hochschule für Arbeit, Politik und Wirtschaft in Wilhelmshaven eine 1949 mit Max Ernst Graf Solms besetzte Professur für Soziologie angesiedelt.104 Zu den Sozialwissenschaftlern, die in der Nachkriegszeit eine dezidiert empirisch ausgerichtete Sozialwissenschaft betrieben, gehörten zahlreiche Remigranten, allen voran René König, der neben Schelsky und Horkheimer einer der »drei zentralen, wirkmächtigen Soziologen der Nachkriegszeit« war.105 1949 wurde König als ordentlicher Professor für Soziologie aus seinem Züricher Exil an die Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät der Universität Köln berufen. Dort leitete er das 1947 neu gegründete Forschungsinstitut für Sozial- und Verwaltungswissenschaften.106 1954 übernahm er die Schriftleitung der wichtigen Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, die zuvor von Wiese innehatte.107 König verstand Soziologie als »Gegenwartswissenschaft«, die – empirisch fundiert – sowohl über eine rein nomothetische methodische Ausrichtung als auch über ideografische Ansätze hinausgehen und stattdessen konkrete, beobachtbare gesellschaftliche Lagen in den Blick nehmen sollte.108 Er arbeitete in einem Umfeld, das noch weitere sozialwissenschaftliche Forschungsinstitute beherbergte, wie das Seminar für Genossenschaftswesen/Seminar für Sozialpolitik (gegr. 1926), das Otto-Blume-Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik e.V . (gegr. 1952), das Institut für Selbsthilfe (gegr. 1952) und die Forschungsstätte für öffentliche Unternehmungen (gegr. 1955).109 In Berlin exponierte sich Otto Stammer als Mitbegründer einer politischen Soziologie in Westdeutschland, die ältere deutsche Staatslehre mit Ansätzen der marxistischen und amerikanischen Politikwissenschaft verknüpfte.110 1933 war Stammer von seinem Posten als Bildungssekretär der SPD im Bezirk Mittelschlesien und als Mitarbeiter verschiedener sozialistischer Zeitschriften entlassen worden. Er schlug sich zunächst als Kellner und schließlich als technischer Betriebsleiter einer Pharmafirma durch. Im Oktober 1949 wurde er an der Wirt103 Weischer, Das Unternehmen ›Empirische Sozialforschung‹, S.61. 104 Lepsius, Die Entwicklung der Soziologie, S.33. 105 Stephan Moebius, René König. Wegbereiter der bundesrepublikanischen Soziologie. Wiesbaden 2016, S.1. Umfassender ist Königs Lebensweg und Wirkung dargestellt in: ders., René König und die »Kölner Schule«. Eine soziologiegeschichtliche Annäherung. Wiesbaden 2015. 106 Weischer, Das Unternehmen ›Empirische Sozialforschung‹, S.91; Moebius, René König, S.8. 107 Alemann, Leopold von Wiese, S.101. 108 René König, Soziologie heute. Zürich 1949, S.9-12, 119-123. 109 Weischer, Das Unternehmen ›Empirische Sozialforschung‹, S.93. 110 Karl-Heinz Hillmann, Stammer, Otto, in: Wilhelm Bernsdorf/Horst Knospe (Hrsg.), Internationales Soziologenlexikon, Bd.2.2., neu bearb. Aufl. Stuttgart 1984, S.819-821, hier: S.821.

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schafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Freien Universität Berlin für das Fach Soziologie habilitiert.111 Stammer übernahm den Lehrstuhl für Soziologie und Politische Wissenschaft an der Freien Universität und wurde 1958 mit der Leitung des dortigen Instituts für politische Wissenschaft beauftragt. Diese Einrichtung war mit Geldern der Deutschen Hochschule für Politik, der Freien Universität sowie der Ford und der Rockefeller Foundation 1948 gegründet worden.112 Ähnlich wie das IfS in Frankfurt erarbeitete das Berliner Institut unter anderem wissenschaftliche Expertisen für den demokratischen Aufbau Westdeutschlands. Ebenfalls in Berlin tätig war Hans-Joachim Lieber, der 1955 eine außerordentliche, zwei Jahre später dann eine ordentliche Professur an der Freien Universität erhielt.113 Seine Arbeitsschwerpunkte waren Wissenssoziologie und Ideologietheorie. Zur Gruppe der politikwissenschaftlich ausgerichteten Soziologen zählte auch Arnold Bergstraesser. Der eher konservative Bergstraesser ging 1937 ins amerikanische Exil. 1950 kehrte er nach Deutschland zurück und erhielt 1954 den an der Universität Freiburg im Breisgau neu eingerichteten Lehrstuhl für Wissenschaft von der Politik und Soziologie, wo er zum Kopf der »Freiburger Schule« wurde.114 Neben Köln entwickelte sich Frankfurt am Main zu einem Zentrum der deutschen Sozialwissenschaften. Das wiedereröffnete IfS betrieb in den 1950er Jahren vornehmlich empirische Sozialforschung und sah sich als Ausbildungsstätte für Studierende der Sozialwissenschaften.115 Auf Betreiben des remigrierten Historikers Hajo Holborn bestand in Frankfurt 1947/48 zudem eine Hochschule für Politik.116 Das ebenfalls in der Mainmetropole ansässige Soziographische Institut war noch in der NS-Zeit als empirische Forschungseinrichtung gegründet worden. Geleitet wurde es von Ludwig Neundörfer, der unter anderem für Heinrich Himmler als Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums Planungsforschung betrieben hatte. In den 1940er und 1950er Jahren praktizier111 Jürgen Fijalkowski, Otto Stammer, in: ders. (Hrsg.), Politologie und Soziologie. Otto Stammer zum 65. Geburtstag. Köln/Opladen 1965, S.7-13, hier: S.9-11. 112 Siegward Lönnendonker, Das Institut für politische Wissenschaft/Zentralinstitut für sozialwissenschaftliche Forschung, in: Karol Kubicki/ders. (Hrsg.), Gesellschaftswissenschaften an der Freien Universität Berlin. Erziehungswissenschaft, Psychologie, Hochschuldidaktik, Politikwissenschaft, Forschungsverbund SED-Staat, Kommunikationswissenschaften, Soziologie und Tourismus (Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte der Freien Universität Berlin, Bd.6). Göttingen 2013, S.189-216, hier: S.189. 113 o.A., Lieber, Hans-Joachim, in: Bernsdorf/Knospe (Hrsg.), Internationales Soziologenlexikon, Bd.2.2., S.493f., hier: S.493. 114 Alfons Söllner, Fluchtpunkte. Studien zur politischen Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts. Baden-Baden 2006, S.190. Vgl. Greenberg, The Weimar Century, S.69. 115 Weischer, Das Unternehmen ›Empirische Sozialforschung‹, S.81-91. 116 Söllner, Fluchtpunkte, S.184.

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ten seine Mitarbeiter sozialwissenschaftliche Strukturforschung und führten Untersuchungen zu Flüchtlingsfragen durch.117 An der Universität Frankfurt existierte neben der philosophisch ausgerichteten Soziologie, die Max Horkheimer und Theodor W. Adorno vertraten, eine Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät (WiSo-Fakultät). An dieser hatte Friedrich Pollock zunächst eine außerplanmäßige und ab 1958 eine planmäßige Professur für Volkswirtschaftslehre und Soziologie inne. In der WiSo-Fakultät lagen Ökonomie und Soziologie thematisch eng beieinander. So leitete der Ökonom Heinz Sauermann, seit 1946 Professor für Wirtschaftliche Staatswissenschaften, bis 1951/52 regelmäßig eine soziologische Arbeitsgemeinschaft.118 Neben einigen Gastprofessoren lehrte seit 1956 Walter Sulzbach als Honorarprofessor für Soziologie an der WiSo-Fakultät. Von 1958 bis 1964 bot außerdem Gottfried Salomon-Delatour als entpflichteter ordentlicher Professor für Soziologie Lehrveranstaltungen an. Schließlich wurde 1961 Walter Rüegg auf die neu geschaffene Professur Soziologie I der Fakultät berufen und leitete ab diesem Zeitpunkt auch das Seminar für Gesellschaftslehre.119 Auch in Mannheim war ein Institut für Soziologie angesiedelt. Eduard Baumgarten, der 1940 Gehlen auf dessen Lehrstuhl an der Universität Königsberg gefolgt war,120 hatte das Institut für Vergleichende Sozialwissenschaften 1955 zunächst in Karlsruhe als Nachfolgeeinrichtung des ursprünglich von Bergstraesser und Baumgarten gemeinsam geleiteten George-Washington-Instituts für Amerikakunde gegründet. Mit seinem Ruf als Professor für Empirische Soziologie an die Wirtschaftshochschule Mannheim verlagerte er 1957 auch sein Institut dorthin, das fortan Institut für Empirische Soziologie hieß.121 Eine Neuentwicklung stellte der maßgeblich durch die amerikanischen Besatzungsbehörden geförderte starke Ausbau der privatwirtschaftlichen Institute für 117 Heinz Brakemeier, Die Wiedereinrichtung der Sozialwissenschaften in Frankfurt nach 1945, in: Heinz Steinert (Hrsg.), Die (mindestens) zwei Sozialwissenschaften in Frankfurt und ihre Geschichte. Ein Symposion des Fachbereichs Gesellschaftswissenschaften aus Anlass des 75-Jahre-Jubiläums der J.W. Goethe-Universität Frankfurt, 11./12.  Dezember 1989. Frankfurt am Main 1989, S.128-152, hier: S.130; Klingemann, Soziologie und Politik, S.20, 306-310. 118 Brakemeier, Die Wiedereinrichtung, S.130f. 119 o.A., Chronik zur Geschichte der Soziologie in Frankfurt, in: Felicia Herrschaft/ Klaus Lichtblau (Hrsg.), Soziologie in Frankfurt. Eine Zwischenbilanz. Wiesbaden 2010, S.509-519, hier: S: 513f. 120 Gerhard Schäfer, Soziologie als politische Tatphilosophie. Helmut Schelskys Leipziger Jahre (1931-1938), in: Das Argument 222 (1997), S.645-665, hier: S.657. 121 Lepsius, Soziologie als Profession, S.101; Gisela Strunz, American Studies oder Amerikanistik? Die deutsche Amerikawissenschaft und die Hoffnung auf Erneuerung der Hochschulen und der politischen Kultur nach 1945 (Forschung und Politik, Bd.26). Wiesbaden 1999, S.249-256.

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Sozial-, Markt- und Meinungsforschung dar.122 Die amerikanische Militärregierung maß der Meinungsforschung eine wichtige Verwaltungsfunktion zu. Sie führte deshalb schon früh Meinungsumfragen durch. Mit diesen war unter anderem der von Leo P. Crespi geleitete Opinion Survey Staff beauftragt, der später als Reaction Analysis Staff (RAS) im High Commissioner for Germany (HICOG) neu gegründet wurde.123 Der RAS bildete deutsche Interviewer und Meinungsforscher aus, um aus Kostengründen amerikanisches Personal durch deutsche Mitarbeiter zu ersetzen. Im Juli 1951 entstand aus dieser Förderung das Deutsche Institut für Volksumfragen (DIVO) mit Sitz in Frankfurt.124 Ein umfassendes sozialempirisches Projekt der amerikanischen Militärregierung war der Darmstadt Community Survey von 1949 bis 1952. Es stand unter der Leitung von Nels Anderson. Max Rolfes und Adorno gehörten zum Mitarbeiterstab. Das eigens zu diesem Zweck gegründete Institut für sozialwissenschaftliche Forschung in Darmstadt wurde nach Abschluss der Studie 1952 wieder geschlossen.125 Zu den prominentesten Neugründungen von Markt- und Meinungsforschungsinstituten zählte das 1947 von Elisabeth Noelle-Neumann und Erich Peter Neumann ins Leben gerufene Institut für Demoskopie Allensbach (IfD). Die Journalistin Noelle-Neumann (damals noch Elisabeth Noelle) hatte sich 1940 in Berlin bei dem Zeitungswissenschaftler Emil Dovifat über die unter anderem von George Gallup angewandte Methode der Repräsentativbefragungen promoviert und in diesem Rahmen einen längeren Studienaufenthalt in den Vereinigten Staaten absolviert.126 In den 1950er und frühen 1960er Jahren war das IfD als 122 Vgl. Gerhardt, Die Wiederanfänge der Soziologie nach 1945. 123 Max Kaase, Politische Meinungsforschung in der Bundesrepublik Deutschland, in: Politische Vierteljahresschrift 18 (1977) 2/3, S.452-475, hier: S.453f. 124 Weyer, Westdeutsche Soziologie, S.315-317. Der spätere IfS-Mitarbeiter Hans Sittenfeld war ehemaliger RAS-Mitarbeiter. 125 Alexia Arnold, Reorientation durch Wissenschaftstransfer. Eine wissenschaftsgeschichtliche Rekonstruktion der Darmstadt-Studie (1948-1954) aus soziologischer Perspektive (Schriftenreihe Theorie und Geschichte der Soziologie, Bd.1). BadenBaden 2010, S.71-199; Weyer, Westdeutsche Soziologie, S.323f. 126 Elisabeth Noelle, Wer informiert Amerika? Journalisten, Radiosprecher, Filme, in: Das Reich, Nr.23 vom 08.06.1941, S.7; Elisabeth Noelle, Meinungs- und Massenforschung in U.S.A. Umfragen über Politik und Presse. Frankfurt am Main 1940, S.63, 67, 94. Zu zwei Lesarten der kontrovers diskutierten Biografie von Elisabeth Noelle vgl. Kasisomayajula Viswanath, Elisabeth Noelle-Neumann (1916-), in: Nancy Signorelli (Hrsg.), Women in Communication. Westport, CT 1996, S.300f. und Christopher Simpson, Elisabeth Noelle-Neumann’s »Spiral of Silence« and the Historical Context of Communication Theory, in: Journal of Communication 46 (1996) 3, S.149-173. Vgl. zu ihrer Funktion als Zellenleiterin in der Arbeitsgemeinschaft nationalsozialistischer Studentinnen Elisabeth Noelle-Neumann, Die Erinnerungen. München 2006, S.51.

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Zufluchtsort für NS-belastete Sozialwissenschaftler bekannt.127 Auch aufgrund des 1950 geschlossenen und bis heute bestehenden Vertrags mit dem Presse- und Informationsamt der Bundesregierung etablierte sich das IfD als wichtige Institution für demoskopische Politikberatung.128 Vergleichbare Einrichtungen entstanden mit dem Institut zur Erforschung der öffentlichen Meinung, Marktforschung, Nachrichten, Informationen und Dienstleistungen (EMNID), das Karl-Georg von Stackelberg 1945 in Bielefeld gründete,129 dem GETAS-Institut in Bremen (gegr. 1957), dem Institut für angewandte Sozialwissenschaft in Bonn (gegr. 1959), dem Institut zur Erforschung der Wirkung publizistischer Mittel in München (gegr. 1947) und dem auf britische Initiative zurückgehenden Meinungsforschungsinstitut MARPLAN (gegr. 1959) in Offenbach.130 Gleichzeitig setzten Institute, die bereits vor 1945 Meinungs- und Marktforschung betrieben hatten, ihre Arbeit fort. Zu diesen zählten das Institut für Wirtschaftsbeobachtung der deutschen Fertigware (gegr. 1925), die Hamburger Untersuchungsstätte für Auslands-Marktforschung (gegr. 1929), die Forschungsstelle für allgemeine und textile Marktwirtschaft an der Universität Münster (gegr. 1941)131 und die Nürnberger Gesellschaft für Konsumforschung e.V ., die der späteren Wirtschaftsminister und Bundeskanzler Ludwig Erhard 1934/35 gegründet hatte.132 Die westdeutschen Sozialwissenschaften wurden nicht nur von den Besatzungsbehörden und Stiftungen wie der Rockefeller Foundation133 finanziell gefördert, sondern auch von der UNESCO mit ihrem Social Science Department. Dadurch erweiterte sich das institutionelle Spektrum zusätzlich. Daraus gingen verschiedene UNESCO-Institute für Sozialwissenschaften hervor: Neben dem Münchner Institut für Sozialarbeit und dem Hamburger Institut für Jugendforschung bestand von 1951 bis 1958 das Kölner Institut für Sozialwissenschaften, das von Jan-Juriaan Schokking als Instituts- und Conrad M. Arensberg als Forschungsdirektor geleitet wurde. An den Dorf- und Gemeindestudien des Kölner Instituts

127 Archiv IfS, P 14, Bundeswehr, Akte 1.1: Entwurf eines Auswahlplans für das Projekt »Auswahlstudie« vom 15.02.1953, Bl.1-2. 128 Norbert Grube, Deutschlandkonzepte des Journalisten und demoskopischen Politikberaters Erich Peter Neumann 1938-1949, in: Gunther Nickel (Hrsg.), Literarische und politische Deutschlandkonzepte 1938-1949. Beiträge zu einer Tagung des Deutschen Literaturarchivs Marbach und der Evangelischen Akademie Tutzing in Verbindung mit der Arno-Schmidt-Stiftung und der Carl-ZuckermayerGesellschaft (Zuckermayer-Jahrbuch, Bd.7). Göttingen 2004, S.309-347, hier: S.310. 129 Weyer, Westdeutsche Soziologie, S.355. 130 Weischer, Das Unternehmen ›Empirische Sozialforschung‹, S.137f. 131 Ebd., S.133. 132 http://www.berufsstart.de/unternehmen/gfk/firmengeschichte.php (Stand: 27.04.2021). 133 Weyer, Westdeutsche Soziologie, S.383-385.

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waren Erich Reigrotzki, Renate Mayntz und Gerhard Wurzbacher beteiligt, dem von 1952 bis 1954 die wissenschaftliche Leitung des Instituts oblag.134 Eine weitere Gruppe empirisch arbeitender Sozialwissenschaftler rekrutierte sich aus den föderal organisierten statistischen Ämtern, dem statistischen Bundesamt und der universitären Wirtschafts- und Sozialstatistik. Zu den führenden Statistikern an den Hochschulen gehörten Gerhard Mackenroth, Paul Flaskämper und Charlotte Lenz. Ihre wichtigsten Institutionen waren die Deutsche Statistische Gesellschaft und der 1948 neu gegründete Verein für Socialpolitik. Auch kommunale Ämter erhoben Statistiken und organisierten sich im Verband für Städtestatistiker.135 Ihrem Selbstverständnis nach generierte die Statistik »neutrales« empirisches Wissen. Ihre epistemische Praxis als »theorielose Datensammelei« zu bezeichnen, verkennt allerdings den Ordnungscharakter des statistisch erhobenen Wissens. Vielmehr, so Christoph Weischer, lieferte die amtliche Statistik »in ihren verschiedenen historischen Entwicklungsphasen ein mehr oder weniger geordnetes System von Kategorien und trug so zur Herausbildung einer gemeinsamen Sprache zur Beschreibung der sozialen Welt bei«.136 Einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Entwicklung der westdeutschen Sozialwissenschaften hatten schließlich die übergreifenden Fachgesellschaften. Die 1909 gegründete zentrale DGS war 1934 unter dem Vorsitz Freyers stillgelegt worden. 1946 erfolgte ihre Neukonstituierung unter dem Vorsitz von Wieses.137 Im Vorstand der DGS saßen dabei sowohl Remigranten wie Plessner, Adorno, Horkheimer und König, Akteure wie Stammer, die nach 1933 ihre Stelle verloren hatten, als auch im NS-Regime tätige Sozialwissenschaftler wie Mühlmann, Schelsky oder Pfeil.138 Es erstaunt daher nicht, dass innerhalb dieser Gesellschaft entscheidende Debatten in der westdeutschen Soziologie stattfanden, darunter der »Positivismusstreit«.139 Internationale Bedeutung erlangte darüber hinaus die unter der Schirmherrschaft des Social Science Department der UNESCO 1949 gegründete International Sociological Association (ISA), die in Westdeutschland durch von Wiese vertreten wurde.140 Die American Social Science Associa134 Ebd., S.379; Klingemann, Soziologie und Politik, S.266, 276; Lepsius, Die Entwicklung der Soziologie, S.35. 135 Weischer, Das Unternehmen ›Empirische Sozialforschung‹, S.146-148, 150f. 136 Ebd., S.152. 137 Borggräfe/Schnitzler, Die Deutsche Gesellschaft für Soziologie, S.445-449. Vgl. Neef, Die Entstehung der Soziologie, S.182-192; Weyer, Westdeutsche Soziologie, S.38-42. 138 Borggräfe/Schnitzler, Die Deutsche Gesellschaft für Soziologie, S.55. 139 Vgl. Jürgen Ritsert, Der Positivismusstreit, in: Georg Kneer/Stephan Moebius (Hrsg.), Soziologische Kontroversen. Beiträge zu einer anderen Geschichte der Wissenschaft vom Sozialen. Berlin 2010, S.102-130. 140 Weyer, Westdeutsche Soziologie, S.378. Vgl. Heilbron/Guilhot/Jeanpierre, Auf dem Weg, S.405, 408.

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tion (ASSA, gegr. 1867)141 gewann vor allem für jene westdeutschen Sozialwissenschaftler an Bedeutung, die sich von einer Mitgliedschaft den Anschluss an die amerikanischen Sozialwissenschaften versprachen. Mit gänzlich anderen Absichten konstituierten westdeutsche Sozialwissenschaftler – vornehmlich solche, die als ehemalige Nationalsozialisten bezeichnet werden können, wie Max Hildebert Boehm, Gehlen, Ipsen, Carl Brinkmann, Müller, Mühlmann und Freyer – 1951 eine deutsche Sektion innerhalb des 1949 wiederbelebten Institut International de Sociologie (IIS, gegr. 1893). Dessen Leitung hatte in der Nachkriegszeit der dem Faschismus nahestehende italienische Bevölkerungswissenschaftler Corrado Gini inne.142 Zwischen der deutschen Sektion und der ab den späten 1950er Jahren von remigrierten Sozialwissenschaftlern dominierten DGS entspannten sich heftige Konflikte um die NS-Vergangenheit der Disziplin.143

1.3. Rückkehrer und Dabeigewesene: Die Akteursgruppen um Horkheimer und Schelsky Als die drei wichtigsten Akteursgruppen in den westdeutschen Sozialwissenschaften nach 1945 gelten heute Horkheimer, Schelsky und König mit ihrem jeweiligen Umfeld. Als vierte Gruppe, die allerdings kaum eigene theoretische Ansätze entwickelte, werden die Vertreter der SFS genannt. Zu diesen und zu König liegen je zwei, den aktuellen Forschungsstand reflektierende Arbeiten vor.144 Für die Akteursgruppen um Horkheimer und Schelsky gilt dies nicht, obwohl es an Abhandlungen zu beiden Gruppen nicht mangelt. Dies überrascht deshalb, weil beide Akteursgruppen in theoretischer Hinsicht die westdeutschen Sozialwissenschaften entscheidend beeinflussten: Während die Gruppe um Horkheimer ihre Kritische Theorie vertrat, entwickelte Schelsky eine Institutionenund Rechtssoziologie, deren Wissen systemstabilisierend eingesetzt werden konnte. Vertreter beider Gruppen waren zudem in der empirischen Sozialforschung der 1950er Jahre aktiv, deren Ergebnisse als unabdingbar für die Demokratisierung Westdeutschlands angesehen wurden. Schließlich repräsentierten sie zwei entgegengesetzte Positionen der westdeutschen Vergangenheitspolitik und -bewältigung: Auf der einen Seite standen die zurückgekehrten Emigranten mit jüdischem Hintergrund, auf der anderen Seite ein ehemals überzeugter Na-

141 Heilbron/Guilhot/Jeanpierre, Auf dem Weg, S.401. 142 Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle, S.771; Platt, Sociology, S.104; Weyer, Westdeutsche Soziologie, S.79. 143 Borggräfe/Schnitzler, Die Deutsche Gesellschaft für Soziologie, S.462-467. 144 Moebius, René König und die »Kölner Schule«.; ders., René König; Adamski, Ärzte des sozialen Lebens; Kändler, Entdeckung des Urbanen.

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tionalsozialist. Beide setzten sich nach 1945 für die Konsolidierung der westdeutschen Demokratie ein. Bisher liegt keine wissenschaftshistorische Studie vor, die die Geschichte der westdeutschen Sozialwissenschaften nach 1945 aus der doppelten Perspektive der Rückkehrer und der Dabeigewesenen sowie ihrer vielschichtigen Verbindungen erzählt. Weyer sowie Henning Borggräfe und Sonja Schnitzler behandeln zwar die Konflikte zwischen beiden Akteursgruppen im Kontext des sogenannten »Bürgerkriegs in der Soziologie« (Ipsen) in den 1950er Jahren. Auf die grundlegenden epistemischen und vergangenheitspolitischen Hintergründe dieser Debatten gehen sie jedoch kaum ein.145 Die wichtigsten Vertreter beider Gruppen waren im Untersuchungszeitraum zwischen 1950 und 1961 Horkheimer und Adorno auf der einen sowie Schelsky und Gehlen auf der anderen Seite. Zahlreiche Arbeiten sind mittlerweile erschienen, wobei Horkheimer und ganz besonders Adorno die meiste Aufmerksamkeit erfahren haben. Neben Überblickswerken,146 Einführungen und Sammelbänden,147 biografischen Abrissen148 sowie ideen-, selten auch wissenschaftshistorischen Studien149 liegen zahlreiche Arbeiten über das IfS und seine bekann145 Johannes Weyer, Der ›Bürgerkrieg in der Soziologie‹. Die westdeutsche Soziologie zwischen Amerikanismus und Restauration, in: Sven Papcke (Hrsg.), Ordnung und Theorie. Beiträge zur Geschichte der Soziologie in Deutschland. Darmstadt 1986, S.280-304; Borggräfe/Schnitzler, Die Deutsche Gesellschaft für Soziologie. 146 Emil Walter-Busch, Geschichte der Frankfurter Schule. Kritische Theorie und Politik. München 2010; Wiggershaus, Die Frankfurter Schule. Zur Geschichte der Soziologie in Frankfurt siehe Herrschaft/Lichtblau (Hrsg.), Soziologie in Frankfurt. 147 Nigel Gibson (Hrsg.), Adorno: A Critical Reader. Malden, MA 2002; Peter E. Gordon/Espen Hammer/Axel Honeth (Hrsg.), The Routledge Companien to the Frankfurt School. New York/London 2020 [2019]; Thomas Huhn (Hrsg.), The Cambridge Companion to Adorno. Cambridge 2004; Axel Honneth/Albrecht Wellmer (Hrsg.), Die Frankfurter Schule und die Folgen. Referate eines Symposiums der Alexander von Humboldt-Stiftung vom 10.-15. Dezember 1984 in Ludwigsburg. Berlin/New York 1986; Zvi Rosen, Max Horkheimer. München 1995; Brian O’Connor, Adorno. Abingdon/Oxford 2013; Gerhard Schweppenhäuser, Theodor W. Adorno zur Einführung, 5., vollständig überarb. Aufl. Hamburg 2009; Rolf Wiggershaus, Theodor W. Adorno, 3., überarb. und erw. Aufl. München 2006; ders., Max Horkheimer zur Einführung. Hamburg 1998. 148 Lorenz Jäger, Adorno. Eine politische Biographie. München 2009 [2003]; Philipp Lenhard, Friedrich Pollock. Die graue Eminenz der Frankfurter Schule. Berlin 2019; Stefan Müller-Dohm, Adorno. Eine Biographie. Berlin 2011; Rolf Wiggershaus, Max Horkheimer. Unternehmer in Sachen »Kritische Theorie«. Frankfurt am Main 2013; ders., Max Horkheimer. Begründer der »Frankfurter Schule«. Frankfurt am Main 2014. 149 John Abromeit, Max Horkheimer and the Foundations of the Frankfurt School. Cambridge 2011; Seyla Benhabib/Wolfgang Bonß/John McCole (Hrsg.), On Max

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testen Vertreter im amerikanischen Exil vor.150 Während ältere Arbeiten vor allem den institutionellen Zusammenhang der Frankfurter Emigranten untersuchten, zweifeln jüngere Studien die lange Zeit vertretene Ansicht einer relativen Isoliertheit des IfS in den Vereinigten Staaten an. Sie arbeiten stattdessen das weitreichende Netzwerk Horkheimers als Institutsdirektor zu amerikanischen Sozialwissenschaftlern und Wissenschaftspolitikern sowie deutschen und österreichischen Emigranten heraus.151 Auch ein von Detlev Claussen, Oskar Negt und Michael Werz herausgegebener Sammelband betont die ausschlaggebende Erfahrung im amerikanischen Exil für die Entwicklung der Kritischen Theorie.152 In der Forschungsliteratur zur Geschichte der Gruppe um Horkheimer und des IfS in der Vor- und der Nachkriegszeit zeichnen sich drei Tendenzen ab: Erstens neigen viele Arbeiten dazu, einen engen Zusammenhang zwischen Horkheimer und seinen Mitarbeitern zur Stadt Frankfurt herzustellen.153 Die traditionell liberale Kultur Frankfurts sei sowohl für die Etablierung des IfS als marxistisch orientiertes Institut in den 1920er Jahren konstitutiv gewesen als auch ausschlaggebend dafür, dass Horkheimer, Adorno und Pollock in den

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Horkheimer: New Perspectives. Cambridge, MA/London 1993; Detlev Claussen, Theodor W. Adorno. Ein letztes Genie. Frankfurt am Main 2003; Stefan MüllerDohm (Hrsg.), Adorno-Portraits. Erinnerungen von Zeitgenossen. Frankfurt am Main 2007; Helmut Dubiel, Wissenschaftsorganisation und politische Erfahrung. Studien zur frühen Kritischen Theorie. Frankfurt am Main 1978. Hier sollen nur die wichtigsten Arbeiten genannt werden: Jay Bernstein, The Frankfurt School (Critical Assessments, Bd.5). London 1994; Martin Jay, The Dialectical Imagination: A History of the Frankfurt School and the Institute of Social Research, 1923-1950. Berkeley/Los Angeles/London 1996 [1973]; Stuart Jeffries, Grand Hotel Abyss: The Lives of the Frankfurt School. London/New York 2016; Zoltán Tar, The Frankfurt School: The Critical Theories of Max Horkheimer and Theodor W. Adorno, with a Foreword by Michael Landmann and a New Introduction by the Author. New Brunswick 2011; Thomas Wheatland, The Frankfurt School in Exile. Minneapolis/London 2009; Richard Wolin, The Frankfurt School Revisited and Other Essays in Politics and Society. New York/London 2006; EvaMaria Ziege, Antisemitismus und Gesellschaftstheorie. Die Frankfurter Schule im amerikanischen Exil. Frankfurt am Main 2009. So Wheatland, The Frankfurt School in Exile; Ziege, Antisemitismus und Gesellschaftstheorie. Detlev Claussen/Oskar Negt/Michael Werz (Hrsg.), Keine Kritische Theorie ohne Amerika (Hannoversche Schriften, Bd.1). Frankfurt am Main 1999. Vgl. Detlev Claussen, Intellectual Transfer: Theodor W. Adorno’s American Experience, in: New German Critique 33 (2006) 1, S.5-14. Monika Boll/Raphael Gross (Hrsg.), Die Frankfurter Schule und Frankfurt. Eine Rückkehr nach Deutschland. Frankfurt am Main 2009; Wolfgang Schivelbusch, Intellektuellendämmerung. Zur Lage der Frankfurter Intelligenz in den zwanziger Jahren. Frankfurt am Main 1982.

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späten 1940er Jahren nach Frankfurt zurückkehrten. Zweitens zeigen die beiden umfassendsten Studien zur Nachkriegsgeschichte des IfS und der Kritischen Theorie von Alex Demirović sowie Clemens Albrecht und anderen deutlich,154 dass die Historisierung der Gruppe um Horkheimer von wissenschaftspolitischen Agenden begleitet wird. Ausnahmen stellen die Arbeit von Helmut Dubiel zum Forschungsprogramm des IfS, Johannes Platz’ Untersuchung der empirischen Forschungsprojekte des IfS in den 1950er Jahren und die Studien von Thomas Wheatland und Eva-Maria Ziege über die Forschungsprojekte des IfS in den Vereinigten Staaten dar.155 Demirović vertritt die These, dass Horkheimer und vor allem Adorno ihren marxistischen Prämissen treu geblieben seien und diese nur deshalb zeitweise verdeckten, weil im konservativ-restaurativen Westdeutschland der Nachkriegszeit solche Positionen als anstößig galten. Dagegen heben Albrecht und andere hervor, dass insbesondere Horkheimer seine marxistischen Überzeugungen in der Nachkriegszeit längst aufgegeben und mit Politikern aller Couleur kooperiert habe. Er habe auf diese Weise die bundesrepublikanische Erziehungs- und Hochschulpolitik zu beeinflussen versucht. Drittens orientiert sich die Mehrzahl der Arbeiten zur Geschichte der Gruppe um Horkheimer eng an den Akteuren selbst. Netzwerke zwischen Horkheimer, Pollock, Adorno und weiteren Sozialwissenschaftlern und Hochschulpolitikern werden dabei zwar aufgezeigt.156 Jedoch wird die Nachkriegsgeschichte des IfS zu wenig in die historischen Diskurse des frühen Kalten Krieges eingebunden.157 Im Unterschied zur Gruppe um Horkheimer geriet Schelsky lange in Vergessenheit. Erst mit Paul Noltes Studie Die Ordnung der deutschen Gesellschaft erlangten dessen soziologische Analysen größere Aufmerksamkeit.158 Jens Hacke stellt die These auf, dass die »liberalkonservative Begründung der Bundesrepub154 Albrecht u.a., Die intellektuelle Gründung; Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle. 155 Dubiel, Wissenschaftsorganisation und politische Erfahrung; Johannes Platz, Die Praxis der kritischen Theorie. Angewandte Sozialwissenschaft und Demoskopie in der frühen Bundesrepublik 1950-1960, Diss. Universität Trier. Trier 2012; Wheatland, The Frankfurt School in Exile; Ziege, Antisemitismus und Gesellschaftstheorie. 156 So Carsten Klingemann, Die Verweigerung der Analyse des Nationalsozialismus in der westdeutschen Soziologie. Zur Kontinuität empirischer Soziologie vor und nach dem Ende des NS-Regimes, in: Christ/Suderland (Hrsg.), Soziologie und Nationalsozialismus, S.480-507. 157 Anders sieht es mit der Rezeption und Funktionalisierung der sozialphilosophischen Ansätze Horkheimers und Adornos durch die Studentenbewegung Ende der 1960er Jahre aus. Vgl. Wolfgang Kraushaar (Hrsg.), Frankfurter Schule und Studentenbewegung. Von der Flaschenpost zum Molotowcocktail, 1946-1995, 3 Bde. Hamburg 1998. 158 Vgl. Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft, S.208-390. Reitmayer kritisiert Nolte dahingehend, dass dieser die politisch-gesellschaftlichen Äußerungen Schelskys, so vor allem die Zeitdiagnose, dass sich die westdeutsche Gesellschaft von einer

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lik« durch die Münsteraner Schule um Joachim Ritter entscheidender war als die von Albrecht und anderen vertretene linksintellektuelle Gründung der Bundesrepublik durch Horkheimer, Pollock und Adorno.159 Auch Schelsky stand mit der Gruppe um Ritter in Kontakt, zu der außerdem Robert Spaemann, Martin Kriele, Ernst-Wolfgang Böckenförde, Hermann Lübbe und Odo Marquard zählten. Zu diesen unterhielt Schelsky nach seiner Berufung nach Münster teils enge Beziehungen. Insbesondere die Abkehr von einer als idealistisch betrachteten Philosophie verband jene Gruppe von Philosophen mit dem Soziologen Schelsky intellektuell.160 Erst in den letzten Jahren hat sich nachgerade eine Welle der Schelsky-Rezeption Bahn gebrochen. Die neu vorgelegten Arbeiten changieren zwischen Intellektuellenbiografien, die zugleich Einführungen in und Neurezeptionen von dessen Werk sein wollen, Fest- und Gedächtnisschriften, Darstellungen bestimmter Aspekte von Schelskys Soziologie und einer distanzierteren Historisierung der Rolle desselben als sozialwissenschaftlicher Akteur.161 Hierbei sind vor allem zwei Tendenzen hervorzuheben: Zum einen beabsichtigen viele dieser Studien eine Revision der Geschichte der westdeutschen Sozialwissenschaften nach 1945. Joachim Fischer argumentiert, dass die Klassengesellschaft zur »nivellierten Mittelstandsgesellschaft« gewandelt habe, unkritisch als feststehende empirische Befunde behandelt. Vgl. Reitmayer, Elite, S.19f. 159 Jens Hacke, Philosophie der Bürgerlichkeit. Die liberalkonservative Begründung der Bundesrepublik (Bürgertum Neue Folge. Studien zur Zivilgesellschaft, Bd.3). Göttingen 2006. 160 Ebd., S.29f. 161 Gallus (Hrsg.), Helmut Schelsky; Thomas Gutmann/Christoph Weischer/Fabian Wittreck (Hrsg.), Helmut Schelsky. Ein deutscher Soziologe im zeitgeschichtlichen, institutionellen und disziplinären Kontext  – Interdisziplinärer Workshop zum 100. Geburtstag (Rechtstheorie, Beiheft 22). Berlin 2017; Volker Kempf, Wider die Wirklichkeitsverweigerung. Helmut Schelsky. Leben  – Werk  – Aktualität. München 2012; Patrick Wöhrle, Zur Aktualität von Helmut Schelsky. Einleitung in sein Werk. Wiesbaden 2015. Vgl. die Fest- und Gedächtnisschriften von Horst Baier (Hrsg.), Helmut Schelsky – ein Soziologe in der Bundesrepublik. Eine Gedächtnisschrift von Freunden, Kollegen und Schülern (Soziologische Gegenwartsfragen, Bd.46). Stuttgart 1986; Friedrich Kaulbach/Werner Krawietz (Hrsg.), Recht und Gesellschaft. Festschrift für Helmut Schelsky zum 65. Geburtstag. Berlin 1978; Janpeter Kob/Karlheinz Messelken, In Memoriam Helmut Schelsky. Gedenkreden, gehalten auf einem Treffen der Hamburger Soziologen am 22. Juni 1984 in der Universität der Bundeswehr. Hamburg 1987; Rosemarie Pohlmann (Hrsg.), Person und Institution. Helmut Schelsky gewidmet. Würzburg 1980; Recht und Institution. Helmut Schelsky-Gedächtnissymposion Münster 1985, hrsg. v. der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Münster (Münsterische Beiträge zur Rechtswissenschaft, Bd.15). Berlin 1985; Ota Weinberger/Werner Krawietz (Hrsg.), Helmut Schelsky als Soziologe und politischer Denker. Grazer Gedächtnisschrift zum Andenken an den am 24. Februar 1984 verstorbenen Gelehrten. Stuttgart 1985.

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starke soziologiehistorische Fokussierung auf die Gruppe um Horkheimer und das IfS ein Ergebnis wissenschaftspolitischer Vorgänge der 1960er Jahre sei, die sich von der tatsächlichen Lage der Sozialwissenschaften in den 1950er Jahren unterscheide. In den 1950er Jahren hätten vielmehr philosophisch-anthropologisch geschulte Sozialwissenschaftler wie Schelsky, Heinrich Popitz und Hans Paul Bahrdt die westdeutschen Sozialwissenschaften dominiert, was besonders die aufkommende Industriesoziologie belege.162 Zum anderen bemühen sich Soziologiehistoriker und Soziologen seit längerer Zeit um eine reflektierte Darstellung der »Leipziger Schule« um Freyer und Gehlen, in der auch Schelsky akademisch sozialisiert worden war.163 Freyer und Gehlen gelten als Exponenten eines jungkonservativen Ordnungsdenkens, das intellektuelle Kongruenzen mit der NS-Weltanschauung aufwies. Beide, besonders aber Gehlen, hatten zudem aus Karrieregründen Eingeständnisse an die NSWissenschafts- und Kulturpolitik gemacht.164 Schelsky gehörte zur jüngeren Generation dieser Schule und trat in den frühen 1930er Jahren entsprechend radikal auf. Seine Aktivitäten in verschiedenen NS-Organisationen wie dem NSDStB sind seit Längerem bekannt.165 Die Selbstdeutung, dass der National162 Fischer, Philosophische Anthropologie  – Ein wirkungsvoller Denkansatz. Vgl. Schäfer, Soziologie ohne Marx. 163 Hans Linde, Soziologie in Leipzig 1925-1945, in: M. Rainer Lepsius (Hrsg.), Soziologie in Deutschland und Österreich 1918-1945. Materialien zur Entwicklung, Emigration und Wirkungsgeschichte (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 23). Opladen 1982, S.102-130; Rehberg, Hans Freyer; ders., Philosophische Anthropologie und die »Soziologisierung« des Wissens vom Menschen. Einige Zusammenhänge zwischen einer philosophischen Denktradition und der Soziologie in Deutschland, in: Lepsius (Hrsg.), Soziologie in Deutschland und Österreich, S.160-198; Elfriede Üner, Jugendbewegung und Soziologie. Wissenschaftssoziologische Skizzen zu Hans Freyers Werk und Wissenschaftsgemeinschaft bis 1933, in: Lepsius (Hrsg.), Soziologie in Deutschland und Österreich, S.131-159; dies., Der Einbruch des Lebens in die Geschichte. Kultur- und Sozialtheorie der ›Leipziger Schule‹ zwischen 1900 und 1945, in: Hartmut Lehmann/ Otto-Gerhard Oexle (Hrsg.), Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften, Bd.1: Fächer – Milieus – Karrieren (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd.201). Göttingen 2004, S.211-239. 164 Rammstedt, Deutsche Soziologie 1933-1945, S.55-63; Gabriele Althaus, Zucht  – Bilder, in: Urs Jaeggi u.a. (Hrsg.), Geist und Katastrophe. Studien zur Soziologie im Nationalsozialismus. Berlin 1983, S.60-78; Gerwin Klinger, Die Modernisierung des NS-Staates aus dem Geist der Anthropologie. Die Konzepte »Zucht« und »Leistung« bei Arnold Gehlen, in: Wolfgang Bialas/Manfred Gangl (Hrsg.), Intellektuelle im Nationalsozialismus (Schriften zur politischen Kultur der Weimarer Republik, Bd.4). Frankfurt am Main u.a. 2000, S.299-324. 165 Vgl. Rolf Seeliger, unter Mitarbeit v. Dieter Schoner und Helmut Haasis, Braune Universität. Deutsche Hochschullehrer gestern und heute. Dokumentation und

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sozialismus Schelskys wissenschaftliche Erzeugnisse kaum beeinflusst habe, widerlegt Gerhard Schäfer, der an einer umfassenden Biografie des Sozialwissenschaftlers arbeitet. Im Gegenteil betrachtete der junge, frisch habilitierte Schelsky den Faschismus nicht nur als Ordnungsmacht einer neuen Gesellschaft und den Nationalsozialismus als spezifisch deutsche Ausformung derselben. Vielmehr habe er als Soldat auch enthusiastisch im Zweiten Weltkrieg gekämpft. Schäfer weist in seinen Arbeiten insbesondere auf die Transformationen von bestimmten NS-Ideologemen in Deutungsbilder der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft hin. So tauchte etwa die Vorstellung von einer NS-Volksgemeinschaft in Schelskys Postulat einer »nivellierten Mittelstandsgesellschaft« wieder auf, mit dem er die soziale Entwicklung der Bundesrepublik charakterisierte.166

2. Der Aufstieg der Sozialwissenschaften als »Demokratisierungswissenschaften« nach 1945 In der Nachkriegszeit wurden die Sozialwissenschaften in Westdeutschland massiv ausgebaut. Grund hierfür war einerseits die Verwendbarkeit sozialwissenschaftlichen Wissens für den Aufbau eines demokratischen Staates. Andererseits zählten Demokratisierung und Liberalisierung im westlichen Sinne zu den erziehungspolitischen Grundanliegen sowohl der alliierten Besatzer als auch der Mehrzahl der westdeutschen Politiker167 und der Akteursgruppen um Horkheimer und Schelsky. Mit Methoden und Instrumenten der modernen Sozialwissenschaften generierten Letztere Wissen zur Förderung von Demokratisierungsprozessen. Vor diesem Hintergrund verfolgt die vorliegende Studie drei Zielstellungen: Erstens rekonstruiert sie die Etablierungsprozesse der Sozialwissenschaften in Westdeutschland nach 1945 am Beispiel der genannten Gruppen, zweitens analysiert sie, wie und in welchen historischen Kontexten Stellungnahmen III (Dokumentenreihe, Heft3). München 1965, S.79. 166 Gerhard Schäfer, Ein lange verschüttetes Dokument – Helmut Schelskys Habilitationsvortrag vom 22.2.1939 – eine biographische und wissenschaftsgeschichtliche Einordnung, in: Martin Endreß/Klaus Lichtblau/Stephan Moebius (Hrsg.), Zyklos 1. Jahrbuch für Theorie und Geschichte der Soziologie. Wiesbaden 2014, S.313-328; ders., Der Nationalsozialismus und die soziologischen Akteure der Nachkriegszeit: am Beispiel Helmut Schelskys und Ralf Dahrendorfs, in: Christ/Suderland (Hrsg.), Soziologie und Nationalsozialismus, S.119-161. 167 »Westernisierung« umfasst hier vor allem die politische und ideologische Ebene. In Bezug auf Musikstile wie den Jazz und die Populärkultur hat eine partielle »Westernisierung« bereits während des NS-Regimes eingesetzt. Vgl. Herbert, Geschichte Deutschlands, S.507.

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die Akteure sozialwissenschaftliches Wissen von 1945 bis 1961 generierten, und drittens fragt sie nach dessen historisch-epistemologischer Charakterisierung.

2.1. Die Etablierung der Sozialwissenschaften in Westdeutschland durch Kooperationen Im nachkriegszeitlichen Westdeutschland entwickelten sich die Sozialwissenschaften zu einer Großdisziplin mit mehreren spezialisierten Subfächern. Obwohl sich bereits in der Weimarer Republik ein Aufschwung sozialwissenschaftlicher Forschungen abzeichnete, die zumindest in Teilen im NS-Regime weitergeführt wurden, vollzogen sich Etablierung und disziplinärer Ausbau der Sozialwissenschaften in Deutschland größtenteils erst in der Zeit nach 1945. Die Forschungsliteratur zeigt, dass in den frühen 1950er Jahren ein Aufschwung der empirischen Sozialforschung im Rahmen staatlicher und privater Forschungsinstitute erfolgte.168 Gegen 1960 lassen sich auch die Entwicklung neuer beziehungsweise die Erweiterung bereits bestehender theoretischer Ansätze feststellen. Bei den theoretischen Ansätzen der beiden hier betrachteten Akteursgruppen handelt es sich um die Kritische Theorie einerseits sowie um die strukturfunktionalistisch basierte »Soziologie von Recht, Institution und Planung« – so Schelskys spätere Benennung – andererseits.169 Es stellt sich die Frage, wie und durch welche Faktoren diese erfolgreiche Etablierung der westdeutschen Sozialwissenschaften zustande kam. Etablierungsund Institutionalisierungsprozesse von wissenschaftlichen Feldern verlangen ein Mindestmaß an Übereinstimmung und Kooperationsformen zwischen den verschiedenen Akteursgruppen im Rahmen einer Kommunikationsgemeinschaft, die sich über Form, Inhalte, Methoden, Lehrpläne etc. einer zu bestimmenden

168 Weischer, Das Unternehmen ›Empirische Sozialforschung‹, S.35f. Vgl. Joel Isaac, Epistemic Design: Theory and Data in Harvard’s Department of Social Relations, in: Solovey/Cravens (Hrsg.), Cold War Social Science, S.79-95, hier: S.80. 169 Vgl. Helmut Schelsky, Die Soziologen und das Recht. Abhandlungen und Vorträge zur Soziologie von Recht, Institution und Planung. Opladen 1980. Thomas Mergel stellt fest, dass für die Sozialwissenschaften Westdeutschlands nach 1945 vor allem hinsichtlich des Transfers amerikanischer Ansätze empirischer Sozialforschung in die Bundesrepublik in der Forschungsliteratur Konsens besteht, wohingegen die Frage nach dem Transfer theoretischer Ansätze weitgehend unerforscht ist. Vgl. Thomas Mergel, Zählbarkeit, Stabilität und die Gesellschaft als solche. Zur Rezeption der US-Sozialforschung in der Bundesrepublik nach 1945, in: Axel Schildt (Hrsg.), Von draußen. Ausländische intellektuelle Einflüsse in der Bundesrepublik bis 1990 (Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte, Bd.55). Göttingen 2016, S.105-127, hier: S.105.

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Disziplin verständigt.170 Eine solche Zusammenarbeit zwischen den hier behandelten Gruppen ist deshalb nicht selbstverständlich, weil beide konfliktbehaftete Dispositionen aufwiesen. Die einen waren zurückgekehrte Emigranten mit jüdischem Hintergrund und nach links tendierender politischer Haltung, die den Holocaust im amerikanischen Exil nicht nur überlebt, sondern auch philosophisch, soziologisch und sozialpsychologisch erforscht und reflektiert hatten.171 Die anderen hatten ihre Karrieren im NS-Regime vielfach nicht nur weitergeführt, sondern sich auch Elemente der NS-Weltanschauung zu eigen gemacht. Beide wussten ziemlich genau um die Vergangenheit der jeweils anderen.172 Insofern ist zu fragen, auf welche Weise trotzdem Kooperationen zustande kamen und ob dadurch ein Thematisieren der deutschen NS-Vergangenheit zumindest in den 1950er Jahren unterbunden wurde.173 Anzunehmen ist, dass die späteren, in der Öffentlichkeit ausgetragenen Konflikte auf diese Kooperationsverhältnisse der frühen Nachkriegszeit und die Unterdrückung der Auseinandersetzung mit den jeweiligen Vergangenheiten zurückgingen. Diese Perspektive erklärt noch nicht das Verhältnis der Sozialwissenschaften zu Politik, Wirtschaft, Besatzungsmacht und Öffentlichkeit. Jene Verhältnisse bezeichnen einen grenzüberschreitenden diskursiven Raum, in dem Erwartungen seitens der gesellschaftlichen Akteure auf das von Sozialwissenschaftlern generierte Wissen – oftmals übersetzt in Metaphern als Basis der Verständigung – trafen und durch gemeinsame Interessen Resonanzen erzeugten.174 Zu fragen ist deshalb, wie die Etablierung der westdeutschen Sozialwissenschaften mit Angeboten von Sozialwissenschaftlern an Politiker, Industrielle, Offiziere der Besatzungsbehörden und Medienleute zusammenhing und welche Erwartungen Letztere umgekehrt an die wissenschaftlichen Akteure herantrugen. Zwar weise 170 Vgl. Weingart/Carrier/Krohn, Nachrichten aus der Wissensgesellschaft, S.41; Wolfgang Krohn/Günter Küppers, Die Selbstorganisation der Wissenschaft. Frankfurt am Main 1989, S.26. Vgl. Terry N. Clark, Die Stadien wissenschaftlicher Institutionalisierung, in: Peter Weingart (Hrsg.), Wissenschaftsoziologie II . Determinanten wissenschaftlicher Entwicklung. Frankfurt am Main 1974, S.105-122. 171 Mitchell Ash, Wissenschaft und Politik als Ressourcen für einander, in: Rüdiger vom Bruch/Brigitte Kaderas (Hrsg.), Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts. Stuttgart 2002, S.32-52, hier: S.48-50. 172 Michaela Christ/Maja Suderland, Der Nationalsozialismus – (k)ein Thema für die Soziologie?, in: dies. (Hrsg.), Soziologie und Nationalsozialismus, S.13-30, hier: S.17. 173 Vgl. Hermann Lübbe, Vom Parteigenossen zum Bundesbürger. Über beschwiegene und historisierte Vergangenheiten. München 2007. 174 Das Konzept der »Resonanzkonstellationen« lehnt sich an die wissenschaftshistorische Arbeit Gerhard Kaisers an, der das Verhältnis der Literaturwissenschaft zum NS-Regime untersucht hat. Vgl. Gerhard Kaiser, Grenzverwirrungen. Literaturwissenschaft im Nationalsozialismus. Berlin 2008, S.8-10.

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die Soziologie, wie Lothar Peter feststellt, im Unterschied zu anderen Wissenschaften »keinen klaren funktionalen und institutionell ausdifferenzierten Praxisbezug zur Gesellschaft« auf. Sie habe es jedoch geschafft, spezifische Berufsfelder in der Gesellschaft zu besetzen, was auf ein stetiges, legitimitätsschaffendes und allianzbildendes Handeln der Soziologen hinweise.175 Vielfach konstatiert ist die Verwendbarkeit von sozialwissenschaftlichem und insbesondere empirischem Wissen für die Reeducation-Politik der alliierten Besatzungsbehörden, aber auch für die Anwendbarkeit industriesoziologischen Wissens zur Optimierung der westdeutschen Wirtschaft.176 Die vorliegende Untersuchung folgt der Arbeitshypothese, dass die Etablierungsprozesse der westdeutschen Sozialwissenschaften vornehmlich auf Kooperationen zwischen den beiden benannten Gruppen von Sozialwissenschaftlern zurückgingen. Diese wurden in den späten 1940er Jahren geschlossen und verfestigten sich im Laufe des folgenden Jahrzehnts, ehe ab den späten 1950er Jahren die bis dahin wenig artikulierten Differenzen wieder aufbrachen. Die neuen Bündnisse hatten zwei Folgen: Erstens führten sie zur Etablierung einer institutionellen, wissenschaftspolitischen und epistemischen Allianz zwischen Westdeutschland und den Vereinigten Staaten. Zweitens ermöglichten sie sowohl die Kontinuität von NS-belasteten Karrieren als auch die Wiederaufnahme von Laufbahnen ehemals emigrierter Sozialwissenschaftler. Beide Gruppen und ihre Denkansätze konnten dadurch in die transatlantische wissenschaftliche Diskursgemeinschaft des von den Vereinigten Staaten dominierten »Westblocks« im Kalten Krieg integriert werden. Diese Arbeitshypothese berührt drei Ebenen, a) eine ideologische, b) eine strategische und c) eine epistemische: a) Auf ideologischer Ebene war das wichtigste Vermittlungselement zwischen den am Etablierungsprozess der westdeutschen Sozialwissenschaften beteiligten Gruppen die Idee der Abwehr des »Totalitarismus« in dessen unterschiedlichen Ausformungen. Auch die Gruppe um Horkheimer, obwohl theoretisch nicht eingehend reflektiert, eignete sich in der amerikanischen Emigration eine Vorstellung von »Totalitarismus« an, die faschistische wie kommunistische Regime gleichermaßen umfasste.177 Dies ging mit der Distanzierung vor allem Horkheimers von marxistischen Grundannahmen in den Vereinigten Staaten einher.178 175 Peter, Warum und wie betreibt man Soziologiegeschichte?, S.138. 176 Vgl. Uta Gerhardt, Die amerikanischen Militäroffiziere und der Konflikt um die Wiedereröffnung der Universität Heidelberg 1945-1946, in: Jürgen C. Heß/Hartmut Lehmann/Volker Sellin (Hrsg.), Heidelberg 1945. Stuttgart 1996, S.30-54; dies., Die Wiederanfänge der Soziologie nach 1945, S.384-386. 177 So Archivzentrum – Universitätsbibliothek Frankfurt am Main (UBA Ffm), Na 1, 21, Bl.26-27: Max Horkheimer an Hans Honegger vom 12.01.1940. 178 Jack Jacobs, Horkheimer, Adorno, and the Significance of Anti-Semitism: The Exile Years, in: David Kettler/Gerhard Lauer (Hrsg.), Exile, Science, and Bildung:

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Jungkonservative und nationalsozialistische deutsche Sozialwissenschaftler entradikalisierten hingegen ihre Ansichten: Sie verwarfen oder verdeckten den vor 1945 auch unter ihnen verbreiteten Antisemitismus und rückten vom revolutionären Aktivismus ab. Vor allem aber wandelten sie den vor 1945 ideologisch verbreiteten Antibolschewismus in einen Antikommunismus um. Dieser war als Feindbild mit der Idee einer Demokratie westlich-amerikanischen Zuschnitts nicht nur kompatibel, sondern legitimierte auch die amerikanische Antikommunismus-Politik der McCarthy-Ära.179 Der Antikommunismus der frühen Nachkriegsjahre schloss dabei unmittelbar an das Bedrohungsszenario von NSPropagandisten nach der Niederlage der Wehrmacht in Stalingrad und an die »Abendland«-Ideologie nach 1945 an. Die durch die Rote Armee herbeigeführte Niederlage Deutschlands im Osten deuteten sie als gesamteuropäische Katastrophe.180 Seinen ideologischen Niederschlag fand dies etwa bei dem ehemals völkisch orientierten Historiker Hermann Aubin in der Vorstellung von einer »abendländischen Kulturgemeinschaft«. In Deutschland sah er das Schild gegen die Sowjetunion, die Deutschen fungierten als Kernvolk des abendländischen Gedankens.181 Der »Totalitarismus«, der sich im Verlauf des Kalten Krieges im kulturellen Gedächtnis des Westens als Kampfbegriff gegen Faschismus und Kommunismus etablierte,182 kann demnach als ein Konzept mit Mediationscharakter zwischen divergenten Positionen von Sozialwissenschaftlern gesehen werden. Für ehemals nationalsozialistisch gesinnte Sozialwissenschaftler ermög-

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The Contested Legacies of German Emigré Intellectuals. New York 2005, S.157168, hier: S.157. Vgl. Jerry Z. Muller, The Other God That Failed: Hans Freyer and the Deradicalization of German Conservatism. Princeton 1987; Anson Rabinbach, Restoring the German Spirit: Humanism and Guilt in Post-War Germany, in: Jan-Werner Müller (Hrsg.), German Ideologies since 1945: Studies in the Political Thought and Culture of the Bonn Republic. New York 2003, S.23-39; ders., Anti-Totalitarianism as Anti-Communism, in: Norbert Frei/Dominik Rigoll (Hrsg.), Der Antikommunismus in seiner Epoche. Weltanschauung und Politik in Deutschland, Europa und den USA (Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts, Vorträge und Kolloquien, Bd.21). Göttingen 2017, S.111-123. Wilfried Loth/Bernd-A. Rusinek, Verwandlungspolitik. NS-Eliten in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft. Frankfurt am Main/New York 1998; Axel Schildt, Antikommunismus von Hitler zu Adenauer, in: Frei/Rigoll (Hrsg.), Der Antikommunismus in seiner Epoche, S.186-203; Weisbrod, Dem wandelbaren Geist. Zu den jungkonservativen Modernisten in den 1920er und 1930er Jahren siehe Jeffrey Herf, Reactionary Modernism: Technology, Culture, and Politics in Weimar and the Third Reich. Cambridge 1984. Herbert, Geschichte Deutschlands, S.691. Anson Rabinbach, Begriffe aus dem Kalten Krieg. Totalitarismus, Antifaschismus, Genozid (Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts. Vorträge und Kolloquien, Bd.5). Göttingen 2009.

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lichte er die Plausibilisierung einer ernst gemeinten Umkehr bei gleichzeitiger Verdeckung ihrer NS-Vergangenheit.183 Der antitotalitäre Antikommunismus bildete damit »das einigende ideologische Band« zwischen den hier untersuchten Akteursgruppen.184 Tatsächlich begünstigte die positive Entwicklung des Demokratisierungsprozesses in Westdeutschland vielfach eine Annäherung unter den Sozialwissenschaftlergruppen. Bei der Gruppe um Horkheimer verstärkte diese Entwicklung die bereits in der amerikanischen Emigration einsetzende Distanzierung von marxistisch-sozialistischen Haltungen, bei Schelsky die Überzeugung von der Überlegenheit des demokratischen Systems westlichen Zuschnitts gegenüber dem nationalsozialistischen Gesellschaftsmodell. Es kann also davon ausgegangen werden, dass die westdeutschen Sozialwissenschaftler trotz ihrer unterschiedlichen Vergangenheiten über das westliche Demokratiekonzept zunächst eine Verständigungsbasis fanden. b) In strategischer Hinsicht stellten die Sozialwissenschaften für die alliierten Besatzungsbehörden ein wichtiges Instrument zur Demokratisierung der westdeutschen Bevölkerung, also auch der Wissenschaftler und besonders der Studierenden dar. Dessen waren sich die Akteursgruppen um Horkheimer und Schelsky bewusst. Die Demokratisierungsbemühungen boten aus ihrer Sicht somit einerseits die Möglichkeit, ihre Karrieren weiterzuführen (Schelsky und sein Umfeld) oder institutionell in Westdeutschland neu anzufangen (Horkheimer und seine engsten Mitarbeiter). Ehemalige NS-Kollaborateure und Remigranten jüdischer Herkunft profitierten also gleichermaßen von der alliierten Besatzungspolitik und den später von westdeutschen Politikern fortgesetzten Demokratisierungsbestrebungen. Daneben sahen sie aber auch die Chance einer flächendeckenden Etablierung moderner, vor allem amerikanisch geprägter Sozialwissenschaften in Westdeutschland. Um diese Zielsetzungen für sich und ihre Disziplin zu erreichen, kooperierten die beiden Akteursgruppen miteinander. c) Auch in epistemischer Hinsicht taten sich in der Nachkriegszeit Vermittlungsebenen auf. Die Amerikaner betrachteten sozialempirische Methoden als Mittel zur Erhebung der Stimmungslage der westdeutschen Bevölkerung, um so die Vermittlung demokratischer Werte wie individuelle Freiheit besser zu steuern.185 Zugrunde lag dem die stärkere Anwendungsorientierung der amerikanischen Sozialwissenschaften. Remigranten wie Horkheimer, Adorno und Pollock waren mit solchen Methoden vertraut. Sie wandten sie nach ihrer Rückkehr an 183 Konrad H. Jarausch, Die Umkehr. Deutsche Wandlungen 1945-1995. München 2004; Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit. München 1996. 184 Ian Kershaw, Achterbahn. Europa 1950 bis heute, aus dem Englischen v. KlausDieter Schmidt, 2. Aufl. München 2019 [2018], S.74, 98f. 185 Weischer, Das Unternehmen ›Empirische Sozialforschung‹, S.2-5.

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und verwiesen immer wieder darauf, um die Relevanz des IfS politisch und öffentlich hervorzuheben.186 Auf diese Weise untermauerten sie auch den Anspruch der Sozialwissenschaften, gesellschaftspolitisches Orientierungswissen187 zur Verfügung zu stellen. Im Gegensatz zur älteren Akademikerelite konnten sich jüngere deutsche Sozialwissenschaftler auf die »methodische Amerikanisierung« auch deshalb einlassen, weil sie ähnliche empirische Herangehensweisen in der Zeit des Nationalsozialismus entwickelt und angewandt hatten. Im Resultat führte dieser Prozess zu einer transatlantisch-epistemischen Ausrichtung der westdeutschen Sozialwissenschaften in den 1950er Jahren.

2.2. Sozialwissenschaftler als Produzenten von Demokratisierungswissen Die gesellschaftsorientierte Ausrichtung der Sozialwissenschaften wirft die Frage auf, welche politischen, insbesondere erziehungs- und wirtschaftspolitischen Implikationen mit dem gewonnenen Wissen verbunden waren. Bezogen auf die von alliierten Besatzungsbehörden, westdeutschen Politikern und Sozialwissenschaftlern jeglicher Richtung angestrebte demokratische Neuerziehung der westdeutschen Bevölkerung erscheint die Annahme plausibel, dass es sich um Demokratisierungswissen im weitesten Sinne handelte; Sozialwissenschaftler generierten ein Wissen, das der Demokratisierung der Bevölkerung diente und im erziehungspolitischen Sinne demokratische Werte vermittelte. Zu diesem Zweck musste es die Richtigkeit demokratisch-freiheitlicher Politik gegenüber Faschismus und Kommunismus plausibilisieren. Der Freiheitsbegriff, der sich in der westlichen Wissenschaftskultur im Kalten Krieg zu einem Kampfbegriff gegen »totalitäre« Regime und Denksysteme entwickelte, spielte hierbei eine zentrale Rolle.188 Der Begriff der »Demokratisierung« ist mit den Konzepten »Westernisierung« und »Amerikanisierung« eng verbunden. Unter »Westernisierung« versteht die Forschungsliteratur den Prozess des Kultur- und Wissenstransfers vor allem zwischen den Vereinigten Staaten und Europa etwa in der Zeit zwischen 1945 und 1970. »Westernisierung« und »Amerikanisierung« sind dabei ineinander überlaufende Konzepte, weil dieser Transfer  – gerade im Fall Westdeutsch186 Ziege, Antisemitismus und Gesellschaftstheorie, S.278. 187 Der hier verwendete Begriff »Orientierungswissen« ist an Jürgen Mittelstraß’ Ansicht über die Orientierungsfunktion wissenschaftlichen Wissens in und gegenüber der Gesellschaft angelehnt. Wissenschaft als »Orientierungsinstanz« ist als »besondere Wissensform« eng mit der »Rationalitätsidee der europäischen Wissenschaftsund Gesellschaftsentwicklung verbunden, als Institution, in der sich diese Wissensform mit dem Begriff der Bildung verbindet, und als Idee, mit der der Begriff einer bildenden Wissenschaft zur Lebensform wird.« Siehe Jürgen Mittelstraß, Wissen und Grenzen. Philosophische Studien. Frankfurt am Main 2001, S.28. 188 Vgl. Hochgeschwender, Freiheit in der Offensive?, S.253-264.

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lands  – mehrheitlich amerikanische politische Ideen, wissenschaftliche Konzepte und Methoden sowie weitere Kulturelemente umfasste. Weniger ausgeprägt umfasste er jedoch auch Elemente, die von Ländern wie Frankreich und Großbritannien übernommen wurden.189 Die vorliegende Untersuchung zieht den Begriff »Westernisierung« vor, weil damit gerade in Bezug auf Demokratisierungsvorstellungen ein breiteres Spektrum westlicher Ideengehalte beschrieben werden kann. Gesamtgesellschaftlich bedeutet »Westernisierung« die fortschreitende Hinwendung zu und Anpassung an politische und ökonomische Ordnungsvorstellungen der Vereinigten Staaten, Großbritanniens und Frankreichs zur Überwindung undemokratischer Systeme. Unter diese fielen vor allem der Nationalsozialismus, aber auch der Faschismus Italiens und anderer autoritär geführter Länder. Mit dieser antifaschistischen Westernisierungspolitik sollte eine Immunisierung europäischer Länder gegen kommunistische Einflüsse aus dem »Ostblock« erreicht werden.190 Die Resonanzkonstellationen zwischen Sozialwissenschaften und westdeutscher Gesellschaft bilden die Grundlage für die Annahme, dass sozialwissenschaftliches Wissen maßgebend zur intellektuellen Konstitution der normativen Haltung einer Überlegenheit des Westens gegenüber dem als unfrei kategorisierten »Ostblock« beigetragen habe. Westdeutsche Sozialwissenschaftler legitimierten diese Entwicklung unabhängig von ihrer Vergangenheit und politischen Haltung, indem sie amerikanische Methoden wie Theorien erschlossen und demokratisch-liberale Werthaltungen vermittelten. Die enge Verbindung von sozialwissenschaftlichem Wissen und der Gesellschaft beruhte schließlich auch darauf, dass politische, wirtschaftliche und erzieherische Elemente den sozialwissenschaftlichen Erkenntnisweisen eingeschrieben waren. Die Sozialwissenschaften hatten sich aus der Grundidee heraus entwickelt, Wissen zur Optimierung der Gesellschaft zu entwickeln. Diese Eigenschaft zeigte sich etwa in Frankreich verstärkt mit und nach der Französischen Revolution. Als Beispiele gelten die liberal-frühsozialistische physiologische Sozialwissenschaft Henri de Saint-Simons und die Sozialstatistik. In England entwickelte der politische Ökonom John Stuart Mill einen Staatsbegriff, der mittels liberal-aufklärerischer Erziehung und repräsentativer Demokratie eine Gesellschaft Gleichberechtigter erschaffen wollte. Die englische Fabian Society, das Progressive Movement in den Vereinigten Staaten und der Verein für Social189 Vgl. Anselm Doering-Manteuffel, Wie westliche sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20.  Jahrhundert. Göttingen 1999; Theodore H. von Laue, The World Revolution of Westernization: The Twentieth Century in Global Perspective. New York/Oxford 1988; Tony Smith, America’s Mission: The United States and the Worldwide Struggle for Democracy in the Twentieth Century. Princeton 1994. 190 Doering-Manteuffel, Wie westliche sind die Deutschen?; Reitmayer, Elite, S.24-26.

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politik in Deutschland versammelten laut Gangolf Hübinger »eine Reformelite von Intellektuellen, Beamten und Politikern in der Absicht, durch das wissenschaftliche Studium ökonomischer Prozesse und sozialer Konfliktbeziehungen« Klassenkonflikte zu entschärfen.191 Die Sozialtechnik, die am Ende des 19. Jahrhunderts in ganz Europa und den Vereinigten Staaten aufkam, war zwar ebenfalls progressiv. Sie überschritt jedoch gerade in Deutschland den liberal-aufklärerischen Rahmen zugunsten einer unter anderem rassenhygienisch orientierten technokratischen Gesellschaftsvorstellung.192 Der sozialwissenschaftlichen Forschungspraxis waren demnach Elemente des Politischen, Wirtschaftlichen und Erzieherischen inhärent. Eine solche Perspektive geht davon aus, dass sozialwissenschaftliches Wissen als ›reines‹ wissenschaftliches Wissen niemals existierte.193 Laut Helmut Dubiel hatte Horkheimer dies bereits in den frühen 1930er Jahren reflektiert, als er betonte, dass es »zwischen Wissenschaft und Politik keine Indifferenzschwelle« gebe, »Wissenschaft schon von ihrem Inhalt her, d.h. von ihrer Themenwahl, ihrer Problemdefinition, Methodologie und Forschungstechnik politische Implikationen hat.«194 Die westdeutschen Sozialwissenschaften im frühen Kalten Krieg waren also eine Wissenschaftskultur, die sich durch ihre Anwendungsbezogenheit im Sinne einer Gesellschaftsoptimierung auszeichnete. Schubkraft gewannen sie im 20. Jahrhundert in Analogie zu Naturwissenschaften und Techniken195 aus dem militärisch-technisch-wissenschaftlichen Komplex und der Arbeit in Think-Tanks. Die Ursprünge dieser Formen sozialwissenschaftlicher Praxis lagen im Zweiten Weltkrieg. Sie trugen maßgeblich zur Mitarbeit von Sozialwissenschaftlern an Aufga191 Hübinger, Engagierte Beobachter, S.45. 192 Georges Canguilhem, Auguste Comtes Philosophie der Biologie und ihr Einfluss im Frankreich des 19.  Jahrhunderts [1970], in: Lepenies (Hrsg.), Geschichte der Soziologie, Bd.3, S.209-226, hier: S.216, 223-225; Wolf Lepenies, Normalität und Anormalität. Wechselwirkungen zwischen den Wissenschaften vom Leben und den Sozialwissenschaften im 19. Jahrhundert, in: ders. (Hrsg.), Geschichte der Soziologie, Bd.3, S.227-251, hier: S.229-231, 242-247; Nicholas Capaldi, John Stuart Mill: A Biography. Cambridge 2004. Vgl. Thomas Etzemüller (Hrsg.), Die Ordnung der Moderne. Social Engineering im 20. Jahrhundert. Bielefeld 2009. 193 Vgl. Bruno Latour, Science in Action: How to Follow Scientists and Engineers through Society. Cambridge, MA 1987. Vgl. ders., Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen, aus dem Französischen v. Gustav Roßler. Berlin 2014 [2012], S.40, 67. 194 Dubiel, Wissenschaftsorganisation und politische Erfahrung, S.72. 195 Vgl. Paul Forman, Behind Quantum Electronics: National Security as Basis for Physical Research in the United States, 1940-1960, in: Historical Studies in the Physical and Biological Sciences 18 (1987) 1, S.149-229, hier: S.150-152, 156, 173, 177200, 224-229. Vgl. auch Naomi Oreskes, Science in the Origins of the Cold War, in: dies./John Krige (Hrsg.), Science and Technology in the Global Cold War. Cambridge, MA/London 2014, S.11-30, hier: S.12-14, 16-23.

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ben der nationalen Sicherheit und wissenschaftlich-technologischen Überlegenheit mit antikommunistischer Absicht bei.196 Der sozialwissenschaftliche Sinn für Fortschritt, Aufklärung, Politikberatung und Verbesserung von Gesellschaftsprozessen legt nahe, dass sozialwissenschaftliches Wissen, ob nun emanzipativ-aufklärerisch oder technokratisch orientiert, in jedem Fall Herrschaftswissen darstellte.

2.3. Fragmentierungen sozialwissenschaftlichen Erkennens in der Nachkriegszeit Nach Wolf Lepenies handelt es sich bei den Sozialwissenschaften um eine dritte Kultur. Diese habe sich nach der zuerst von Wilhelm Dilthey in den 1880er Jahren begonnenen, dann 1894 von Wilhelm Windelband befeuerten Diskussion um die Differenz zwischen nomothetischen Naturwissenschaften und ideografischen Geisteswissenschaften zwischen beiden Wissenschaftskulturen herausgebildet.197 Die zahlreichen Auseinandersetzungen um die epistemologische Ausrichtung der Sozialwissenschaften besonders im deutschen Wissenschaftsfeld – vom Disput um den Geltungsanspruch von nomothetischen und ideografischen Verfahren über den Psychologismus-Streit, den Methodenstreit in der Nationalökonomie und den Werturteilsstreit bis hin zum »Positivismusstreit«198 – legen die Annahme nahe, dass keine Einigkeit unter den Akteuren über die beste Methode und den Zweck der Erforschung des Sozialen bestand. Sie waren jedoch nicht bloß auf die epistemologische Heterogenität der Sozialwissenschaften zurückzuführen, sondern auch mit der Frage verbunden, wohin, für wen und zu welchem Zweck Gelder für sozialwissenschaftliche Forschung vonseiten der Politik, der 196 Vgl. Solovey, Cold War Social Science, S.3f.; Engerman, The Rise and Fall of Wartime Social Science, S.28, 36, 38. Vgl. Joy Rohde, From Expert Democracy to Beltway Banditry: How the Antiwar Movement Expanded the Military-Academic-Industrial Complex, in: Solovey/Cravens (Hrsg.), Cold War Social Science, S.137-153; Backhouse/Fontaine, Toward a History of the Social Sciences, S.190-192, 207. 197 Lepenies, Die drei Kulturen, S.I , V , IX. Vgl. Wilhelm Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und Geschichte (Gesammelte Schriften, Bd.1). Göttingen 2006 [1883]; Wilhelm Windelband, Geschichte und Naturwissenschaft. Rede zum Antritt des Rectorats der Kaiser-Wilhelms-Universität Strassburg, geh. am 1. Mai 1894. Straßburg 1894. Zu den »zwei Kulturen« siehe Charles Percy Snow, The Two Cultures and the Scientific Revolution. London 1959. 198 Albert Gert, Der Werturteilsstreit, in: Kneer/Moebius (Hrsg.), Soziologische Kontroversen, S.14-45; Harald Homann, Gesetz und Wirklichkeit in den Sozialwissenschaften. Vom Methodenstreit zum Positivismusstreit, Diss. Universität Tübingen. Tübingen 1989; Fritz Söllner, Die Geschichte des ökonomischen Denkens, 2., verb. Aufl. Berlin 2001, S.276.

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Wirtschaft sowie akademischer und außerakademischer Einrichtungen fließen sollten. Demnach muss davon ausgegangen werden, dass auch während des Kalten Krieges epistemologische Spannungen innerhalb der Sozialwissenschaften bestanden. Diese kamen in der Suche nach der »objektiveren« Methode oder der für die westdeutsche Demokratie »richtigeren« Theorie zum Ausdruck.199 Will man den Grundsätzen wissenschaftlichen Erkennens der hier behandelten Akteure in den 1950er und frühen 1960er Jahren folgen, sind mehrere Deutungsvarianten möglich: Bei der von den Personenkreisen um Horkheimer und Schelsky vertretenen Sozialwissenschaft könnte es sich um eine Synthesewissenschaft gehandelt haben. Diese hätte dann eine Klammer zwischen Natur-, Technik- und Geisteswissenschaften gebildet oder als Dachwissenschaft die anderen Wissenschaften anleiten, nach westlich-amerikanischem Modell modernisieren und in die westliche Intellektuellen- und Wissenschaftskultur einbinden sollen. Eine weitere Möglichkeit wäre, dass sich die Vorstellung von der dritten Kultur bei näherer Analyse gar nicht bewahrheitet. Vielmehr könnte es sich beim Komplex »Sozialwissenschaften« auch um ein Konglomerat ganz unterschiedlicher Arten sozialwissenschaftlichen Erkennens handeln.200 Wäre dies zutreffend, müsste nach den Gründen für das vielfach propagierte Einheitslogo »Sozialwissenschaften« gefragt werden. Diese hingen dann womöglich mit Institutionalisierungsabsichten und karrierestrategischen Intentionen der Akteure zusammen. Die vorliegende Untersuchung folgt der Hypothese, dass es sich bei den Sozialwissenschaften Westdeutschlands im frühen Kalten Krieg um ein Bündel verschiedener Arten sozialwissenschaftlichen Erkennens handelte.201 Nicht wenige deutsche Sozialwissenschaftler hatten vor 1945 Konzepte entwickelt, die mehrere theoretische und methodische Ansätze integrierten. Spätestens seit der im deutschsprachigen Raum von Dilthey und Windelband veranschlagten Trennung von Natur- und Geisteswissenschaften standen die Sozialwissenschaften entweder für den Versuch einer Synthese zwischen diesen Wissenschaftsbereichen oder für den einer ganzheitlichen Konzeption. In letzterem Fall traten die Sozialwissenschaften nicht als Metawissenschaft auf, sondern betonten das mehr oder weniger gleichberechtigte Nebeneinander von natur- und geisteswissenschaftlichen Ansätzen. Hier können einheitswissenschaftliche Konzepte wie Comtes Positivismus, Karl Marx’ historischer Materialismus oder später der 199 Thomas F. Gieryn, Cultural Boundaries of Science: Credibility on the Line. Chicago/London 1999, S.65-107. 200 Vgl. ebd., S.107f. Vgl. Peter Galison, Introduction: The Context of Disunity, in: ders./David J. Stump (Hrsg.), The Disunity of Science: Boundaries, Contexts, and Power. Stanford 1996, S.1-33, hier: S.24. 201 Auf die tiefen Fragmentierungen, die aus dem erkenntnistheoretischen Konflikt zwischen Natur und Kultur in den Sozialwissenschaften herrühren, weist auch Roberto Sala hin. Siehe Sala, Die Karriere eines erfolgreichen Konstrukts, S.256.

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Logische Empirismus Wiener und Berliner Prägung genannt werden.202 Auch Max Weber versuchte, »die Spaltung zwischen Historismus und Positivismus zu überwinden, zwischen interpretierender Beschreibung und kausaler Erklärung« zu vermitteln.203 Horkheimer entwickelte in seiner Antrittsvorlesung an der Universität Frankfurt ebenfalls eine verschiedene Methoden und Ansätze vereinigende Konzeption sozialwissenschaftlicher Forschung.204 Schließlich konnten einheitswissenschaftliche oder kollektiv-holistische Entwürfe sozialwissenschaftlichen Erkennens auch völkisch ausgerichtet sein, wie sie deutsche Soziologen um Freyer, Pfeffer und Ipsen vertraten. Diese wiederum waren mit philosophisch-anthropologischen Ansätzen Gehlens und anderer verbunden.205 Programmatische Grundsätze und praktische Handlungsebene konnten dabei durchaus divergieren. Derartige Vorschläge für ganzheitliche oder einheitswissenschaftliche Programme in den Sozialwissenschaften verloren mit den durch den Machtwechsel 1933 in Gang gesetzten intellektuellen und epistemischen Umbrüchen an Bedeutung. Mit der NS-Herrschaft erfolgten personelle Verlagerungen, eine Neuverteilung der ökonomischen Ressourcen und eine Neuausrichtung der deutschen Wissenschaftspolitik. Die emigrierten Sozialwissenschaftler erlebten zunächst eine Ressourcenverknappung, während die Mittel für kooperative deutsche Soziologen und »neutrale« Empiriker im nationalsozialistischen Deutschland anstiegen.206 Die Emigranten mussten sich alternative Finanzierungsmöglichkeiten suchen. Doch gerade in den Vereinigten Staaten herrschte eine andere wissen202 Backhouse/Fontaine, Introduction, S.2; Friedrich Stadler, Studien zum Wiener Kreis. Ursprung, Entwicklung und Wirkung des Logischen Empirismus im Kontext. Frankfurt am Main 1997. Siehe auch David A. Hollinger, The Unity of Knowledge and the Diversity of Knowers: Science as an Agent of Cultural Integration in the United States between the Two World Wars, in: Harmke Kamminga/Geert Somsen (Hrsg.), Pursuing the Unity of Science: Ideology and Scientific Practice from the Great War to the Cold War. London/New York 2016, S.207-222. 203 Steinmetz, Neo-Bourdieusche Theorie, S.364f. 204 Max Horkheimer, Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben eines Instituts für Sozialforschung [1931], in: Werner Brede (Hrsg.), Max Horkheimer. Sozialphilosophische Studien. Aufsätze, Reden und Vorträge 1930-1972. Frankfurt am Main 1981, S.33-46, hier: S.41. Vgl. Dubiel, Wissenschaftsorganisation und politische Erfahrung, S.137-203; Walter-Busch, Geschichte der Frankfurter Schule, S.47-52; Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, S.71. 205 Vgl. Anne Harrington, Reechanted Science: Holism in German Culture from Wilhelm II to Hitler. Princeton 1996, S.46; Muller, The Other God That Failed, S.29f., 94, 104f. 206 Vgl. Mitchell G. Ash/Alfons Söllner, Introduction: Forced Migration and Scientific Change after 1933, in: dies. (Hrsg.), Forced Migration and Scientific Change: Emigré German-Speaking Scientists and Scholars after 1933. Cambridge 1996, S.1-19.

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schaftspolitische Förderstruktur: Forschung zahlten dort traditionell private Geldgeber, die anwendungsorientiertes Wissen bevorzugten.207 Entsprechend sahen emigrierte Sozialwissenschaftler tendenziell von theoretischen Arbeiten zugunsten einer anwendungsorientierten empirischen Sozialforschung ab. Eine ähnliche Entwicklung, allerdings unter gänzlich anderen gesellschaftlichen Umständen, vollzog sich im NS-Regime: Während zu Beginn der NSHerrschaft Soziologen Orientierungs- und Legitimationswissen im Sinne einer »deutschen Soziologie« propagierten, förderten NS-Wissenschaftspolitiker mit den Kriegsvorbereitungen ab 1936 vor allem anwendungsorientierte Technikund Naturwissenschaften, aber auch statistisch und soziografisch arbeitende Sozialforscher.208 Theoretische sozialwissenschaftliche Arbeiten traten auf beiden Seiten des Atlantiks in den Hintergrund, weil sie spätestens ab Mitte der 1930er Jahre nicht mehr ausreichend gefördert wurden. Dies führte in den Sozialwissenschaften zu epistemologischen Brüchen zwischen Theorie und empirischer Forschung, die nach 1945 fortbestanden. Während die 1950er Jahre vor allem vom Ausbau der empirischen Sozialforschung gekennzeichnet waren, entwarfen Sozialwissenschaftler in Westdeutschland ab den 1960er Jahren verstärkt theoretische Modelle und Entwürfe, die von der empirischen Basis relativ abgekoppelt waren. Diese Entwicklung spitzte sich in den frühen 1960er Jahren zu und mündete im »Positivismusstreit«.209 Hierbei bestand ein Zusammenhang zwischen diesen Fragmentierungen sozialwissenschaftlicher Erkenntnisweisen und den Konflikten um vergangenheitspolitische Positionen innerhalb der westdeutschen Sozialwissenschaften um 1960.

3. Rekonfigurationen: Netzwerke, Übersetzung und Zirkulation sozialwissenschaftlichen Wissens im frühen Kalten Krieg Aus den Fragestellungen und den daraus abgeleiteten Arbeitshypothesen ergeben sich drei analytische Forschungsansätze: Der erste Ansatz dient der sozialen und epistemischen Charakterisierung der beiden hier behandelten Gruppen von Sozialwissenschaftlern. Hierzu wird Ludwik Flecks Idee der Denkkollektive und Denkstile mit dem Konzept der Idiome nach Bernhard Waldenfels kombiniert. Übersetzungen sozialwissenschaftlichen Wissens, vor allem von der 207 Weischer, Das Unternehmen ›Empirische Sozialforschung‹, S.45. 208 Klingemann, Soziologie und Politik, S.112f., 120f.; Leendertz, Experten, S.341-343. 209 Vgl. Theodor W. Adorno u.a., Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie (Soziologische Texte, Bd.58), 2. Aufl. Darmstadt/Neuwied 1972 [1969].

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Wissenschaftskultur der Vereinigten Staaten in diejenige Westdeutschlands, spielen dabei eine zentrale Rolle. Der zweite Ansatz erfasst die Etablierungsprozesse der Sozialwissenschaften im nachkriegszeitlichen Westdeutschland. Hierfür waren vielseitige Allianzen zwischen den Vertretern der unterschiedlichen Sozialwissenschaftlergruppen sowie zwischen diesen und anderen gesellschaftlichen Akteuren ausschlaggebend. Der dritte Ansatz berührt die Frage nach der Produktion sozialwissenschaftlichen Wissens und dessen Wirkungskreis. Dabei rückt die Frage nach der Wissenszirkulation in andere Gesellschaftsbereiche und wissenschaftliche Disziplinen in den Fokus.

3.1. Denkstile, Idiome, Übersetzungen Nach Flecks Theorie vom wissenschaftlichen Denkkollektiv und dem davon abgeleiteten Denkstil sind Erkenntnis und Wissen Ergebnisse sozialer und kultureller Prozesse.210 Ein Denkkollektiv wird durch eine Gemeinschaft von Wissenschaftlern oder Intellektuellen gebildet, die in einem Gedankenaustausch miteinander stehen. Diese Gemeinschaft entwickelt im Laufe ihrer Zusammenarbeit einen spezifischen Denkstil, der aufgrund der kognitiven Voraussetzungen der Mitglieder des Kollektivs zu bestimmten Erkenntnissen führt. In der Konzeption Flecks ist ein Denkstil ein »ausgebautes, geschlossenes Meinungssystem«, eine stilgemäße Einheit, die, einmal geformt, beharrlich weiterwirkt. Erst durch sie wird wissenschaftliches Erkennen überhaupt möglich.211 Als Orte eines solchen Denkkollektivs hatte Fleck mikrobiologische Labore im Blick. Für die hier im Zentrum stehenden Akteursgruppen muss dieses Konzept auf Institute wie das IfS, die Akademie für Gemeinwirtschaft und die SFS erweitert werden, wobei vor allem der lokal und örtlich begrenzte Rahmen von Flecks Theorie zu erweitern ist. Am IfS bildete sich eine nahezu geschlossene Kerngruppe an Sozialwissenschaftlern mit relativ einheitlichen theoretischen wie methodischen Grundannahmen und politisch-weltanschaulichen Überzeugungen spätestens um 1940. Sie bestand bis zum Tod Adornos 1969 fort. Dagegen handelte es sich bei jenem Denkkollektiv, zu dem Schelsky gehörte, um ein deutlich loseres, nach 1945 vielfach verändertes Geflecht an Akteuren. Dies lag an den häufigeren Wechsel von Schelskys Wirkungsstätten. Außerdem wollte er sich selbst stärker als eigenständiger Denker präsentieren, als es die Mitarbeiter 210 Ludwik Fleck, Denkstile und Tatsachen. Gesammelte Schriften, hrsg. und kommentiert v. Sylwia Werner und Claus Zittel. Frankfurt am Main 2011, S.11. 211 Ludwik Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, mit einer Einleitung hrsg. v. Lothar Schäfer und Thomas Schnelle. Frankfurt am Main 1980 [1935], S.40. Siehe auch ebd., S.55f.

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des IfS konnten, die unter der epistemischen und sozialen Autorität Horkheimers standen.212 Dennoch wurde Schelsky in einem spezifischen Denkkollektiv sozialisiert, dessen Grundannahmen und Ansätze sein sozialwissenschaftliches Denken auch in der Zeit nach 1945 prägten. Mit dessen Hauptprotagonisten Freyer, Gehlen und Carl Schmitt stand er auch nach dem Krieg in Kontakt.213 Das stilgebundene spezifische Wissen der Sozialwissenschaftler manifestiert sich in der Sprache respektive den sprachlichen Eigenarten, den Idiomen. Ein Idiom bezeichnet eine der Muttersprache ähnliche Eigenart, eine Mundart, woraus »eine Singularität der Denkungsart« entspringt.214 Es umfasst voranalytische, nicht dekonstruierbare, noch wenig konturierte Denkelemente, die sich beispielsweise während einer Sozialisationsphase gebildet und im entsprechenden Denkkollektiv festgesetzt haben.215 Als Konzept bleibt es unscharf, hat jedoch den Vorteil, für andere methodische Ansätze anschlussfähig zu sein. Das Idiom kann sowohl Grenzen von Denkstilen als auch Grenzüberschreitungen markieren. Zudem lässt sich mit diesem Konzept fragen, ob sich so etwas wie eine sozialwissenschaftliche Tiefengrammatik, die unterschiedlichen Idiomen gemeinsam war, in den westdeutschen Sozialwissenschaften im frühen Kalten Krieg herausbildete.216 Steht der Denkstil mehr für eine wissenssoziologische Perspektive auf sozialwissenschaftliches Wissen, erschließt das Idiom auch die vorbegrifflich-sprachliche Dimension desselben. Dies ist gerade bei den hier behandelten Akteuren nicht zu vernachlässigen. In einem Vortrag vor dem Jewish Club Los Angeles am 27. Mai 1945 argumentierte Adorno, dass von den deutschen Emigranten wohl kein einziger die englische Sprache »wirklich so zu schreiben vermag, wie wenigstens einige von uns deutsch schrieben«. Sprachliche Anpassung führe wiederum zu Vergröberungen und zur Verdinglichung des Dargestellten, weil man die 212 Vgl. Dubiel, Wissenschaftsorganisation und politische Erfahrung, S.193-197. 213 Vgl. Karl-Siegbert Rehberg, Vom soziologischen Neugründungs-Pragmatismus zur »Anti-Soziologie«. Helmut Schelskys Position in der Nachkriegsgeschichte des Faches, in: Gallus (Hrsg.), Helmut Schelsky, S.17-36. 214 Bernhard Waldenfels, Idiome des Denkens. Deutsch-Französische Gedankengänge II. Frankfurt am Main 2005, S.11, 310, 318f. Vgl. Nicole Falkenhayner u.a., Idioms of Stability and Destabilization: Introducing the Concept of ›Idiom‹ to the Epistemology of Social Analysis, in: dies. (Hrsg.), Rethinking Order: Idioms of Stability and Destabilization. Bielefeld 2015, S.9-28, hier: S.12. 215 Alex Gruber, Leiblichkeit und Triebbegriff. Zum Schicksal des Körpers im poststrukturalistischen Dekonstruktivismus, in: Christine Kirchhoff/Falko Schmieder (Hrsg.), Freud und Adorno. Zur Urgeschichte der Moderne (LiteraturForschung, Bd.19), 2., unver. Aufl. Berlin 2015, S.63-89, hier: S.69. 216 Vgl. Andreas Langenohl, Der voranalytische Moment der Analyse. Zugänge zu ›Idiomen der Gesellschaftsanalyse‹, in: Uwe Dörk/Fabian Link (Hrsg.), Geschichte der Sozialwissenschaften im 19. und 20. Jahrhundert. Idiome – Praktiken – Strukturen (Sozialwissenschaftliche Schriften, Bd.51). Berlin 2019, S.39-54.

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Dinge »in kleine Bröckchen« schneide und sie »in einer allgemeinen Sauce der geistigen Verständigung« verrühre.217 Sprache und Denken waren für Adorno untrennbar miteinander verknüpft. Für ihn gab es ein deutsches philosophisches und soziologisches Idiom, welches sicher ein »wahnhafte[s] Moment« in sich berge. Dessen spezifisch philosophisch-spekulative Kraft blieb für Adorno aber auch in der amerikanischen Emigration richtungsweisend.218 Ähnlich dem stilbedingten Denkzwang bei Fleck sind und bleiben die Akteure ihren Idiomen verhaftet, weil sich die einmal erlernte, sprachlich vermittelte Beziehung zwischen einer spezifischen Art der wissenschaftlichen Reflexion und eines konkreten Forschungsgegenstands als ausgesprochen wirkungsmächtig erweist.219 Obwohl eine gewisse Prägung jeweils bestehen bleibt und Idiome anderer Sprachen als geborgte und fremde Elemente erscheinen,220 können sich die Akteure einzelner idiomatischer Elemente anderer Denkstile bedienen oder sich diese aneignen. Idiome stellen also keine fixen Entitäten dar, sondern können kontextspezifisch modifiziert werden.221 Hierzu bedarf es allerdings der Fähigkeit zur Übersetzung und zur Mehrsprachigkeit. Die Verknüpfung von Denkstilen und Sprachgewohnheiten ist für die Geschichte der westdeutschen Sozialwissenschaften sowohl aus der Perspektive der Rückkehrer als auch aus der der Dabeigewesenen relevant, weil beide Denkkollektive auf die eine oder andere Weise mit vor allem einer Sprache und – damit verbunden – einem Denkstil konfrontiert waren: dem amerikanischen Englisch und dem in den amerikanischen Sozialwissenschaften vorherrschenden Denken. Das Denkkollektiv um Horkheimer musste sich im Exil mit den amerikanischen Sozialwissenschaften auseinandersetzen. Es brachte neues, aus dieser Erfahrung hervorgegangenes sozialwissenschaftliches Wissen um 1950 nach Frankfurt, um es dort ins deutsche sozialwissenschaftliche Idiom zu übersetzen. Schelsky und sein Lehrer Gehlen fingen bereits in den 1930er Jahren und dann intensiver nach 1945 damit an, amerikanische Ansätze in ihr Denken zu integ-

217 Theodor W. Adorno, Fragen an die intellektuelle Emigration [1945], in: ders., Vermischte Schriften I. Theorien und Theoretiker. Gesellschaft, Unterricht, Politik, hrsg. v. Rolf Tiedemann, unter Mitwirkung v. Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz (Gesammelte Schriften, Bd.20.1). Frankfurt am Main 2003, S.352-358, hier: S.356f. 218 Ebd., S.358. Zum Zusammenhang von Sprache und Nation vgl. Joseph Jurt, Sprache, Literatur und nationale Identität. Die Debatten über das Universelle und das Partikuläre in Frankreich und Deutschland (Romanische Literaturen der Welt, Bd.58). Berlin/Boston 2014. Vgl. Gerhard R. Koch, Theodor W. Adorno. Philosoph, Musiker, pessimistischer Aufklärer. Frankfurt am Main 2013, S.106f. 219 Falkenhayner u.a., Idioms of Stability and Destabilization, S.14. 220 Klaus Reichert, Die unendliche Aufgabe. Zum Übersetzen. München/Wien 2003, S.1, 240. 221 Falkenhayner u.a., Idioms of Stability and Destabilization, S.15.

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rieren.222 Sie beabsichtigten, mit ihrem in der Weimarer Republik und im NSRegime herausgebildeten Denkstil an das vorherrschende sozialwissenschaftliche Denken und die sozialwissenschaftlichen Praktiken in den Vereinigten Staaten anzuknüpfen. Beide Denkkollektive transformierten ihre Denkstile in vielschichtigen Übersetzungsprozessen, indem sie Elemente des amerikanischen Denkstils in ihren jeweils eigenen Ansatz einbauten. Die »Westernisierung« der westdeutschen Sozialwissenschaften nach 1945 könnte eine sprachlich-intellektuelle Verständigungsbasis zwischen den beiden Denkkollektiven ermöglicht oder erleichtert haben. Diese Mittlerposition im Sinne einer technischen Verständigung weist Bernhard Waldenfels einer »idiomfreien Sprache« zu.223 Insofern ließe sich vermuten, dass die amerikanisch-englische Sprache für westdeutsche Sozialwissenschaftler einen idiomfreien Charakter hatte. Daraus wiederum könnten Kooperationsverhältnisse resultiert haben, weil auf dieser Ebene die unterschiedlichen philosophisch-idiomatischen Grundlegungen des eigenen Denkstils und die weltanschaulich-politischen Haltungen, die hohes Konfliktpotenztial bargen, in den Hintergrund traten. Einzelne Elemente des nach Westdeutschland importierten amerikanischen Denkstils bildeten zusammen mit Elementen traditionell deutscher Denkhorizonte eine Art Pidgin, über das sich Rückkehrer und Dabeigewesene womöglich verständigen konnten.224 Epistemische Übersetzungen erfassen linguistische und kulturelle Veränderungsprozesse ebenso wie die Wandlung einzelner Elemente von Denkstilen und Idiomen. Letztere werden während des Transfers über sprachliche und kulturelle Grenzen hinweg in neue Konstellationen eingebunden. Sie sind nicht mehr mit den ursprünglichen Objekten identisch und zu etwas Neuem geworden.225 Übersetzungen beschreiben Wandel, Veränderung, Bewegung, De- und Rekontextualisierung.226 Selbst Unübersetzbarkeit, Missverständnisse und Nichtkom222 Stellvertretend Universitäts- und Landesbibliothek Münster (ULB Münster), N. Schelsky 26,004: Arnold Gehlen an den Dekan der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Hamburg vom 07.02.1949, Bl.1-4, hier: Bl.1. 223 Waldenfels, Idiome des Denkens, S.313. 224 Vgl. Galison, Introduction, S.14f. 225 Waldenfels, Idiome des Denkens, S.320. 226 Sven Dupré, Doing It Wrong: The Translation of Artisanal Knowledge and the Codification of Error, in: Matteo Valleriani (Hrsg.), The Structures of Practical Knowledge. Cham 2017, S.167-188, hier: S.168. Helmut Lethen, Der GraciánKick im 20.  Jahrhundert, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 7 (2013) 3, S.59-76, hier: S.61. Vgl. auch Walter Benjamin, Die Aufgabe des Übersetzers, in: ders., Gesammelte Werke I. Berliner Kindheit um neunzehnhundert, Berliner Chronik, Einbahnstraße und andere Schriften. Frankfurt am Main 2011 [1923], S.383-393; Alexandra Lianeri, A Regime of Untranslatables: Temporalities of Translation and Conceptual History, in: History and Theory 53 (2014) 4, S.473-497, hier: S.474;

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munikation bewirken die Transformation (sozial)wissenschaftlichen Wissens.227 Dabei verfolgen die Akteure jeweils eigene Strategien. Hinter einer Übersetzung kann die Absicht stecken, eine möglichst mächtige Position im Wissenschaftsfeld zu erlangen. Importierte Kultur- oder Wissensgüter werden dadurch zu Elementen strategischen Kalküls.228 Damit finden Übersetzungen im Rahmen sozialer Machtverhältnisse statt. Sie können daher nicht als neutral oder unpolitisch gelten.229 Die Übersetzung »becomes political by re-articulating meaning in the target language and instituting this meaning as valid vis-à-vis other possible meanings«.230

3.2. Allianzen und Institutionalisierungen Die Sozialwissenschaften Westdeutschlands wurden in den 1950er und 1960er Jahren neuformiert und etabliert. Akademische und außerakademische Institute, Lehrstühle und Fachgesellschaften wurden gegründet, wiederbelebt oder ausgebaut. Diese Entwicklung ist maßgeblich auf den Unternehmergeist und die karrieristischen Absichten der beteiligten Akteure zurückzuführen. Hierfür waren Verbindungen zu Politikern auf Bundes- und Länderebene, zu Industriellen, einflussreichen Hochschul- und Erziehungspolitikern sowie Journalisten unabdingbar.

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Hélène Buzelin, Sociology and translation studies, in: Carmen Millán/Francesca Bartrina (Hrsg.), The Routledge Handbook of Translation Studies. London/New York 2013, S.186-200, hier: S.189. Zum Verhältnis von Sprache und Identität siehe Reichert, Die unendliche Aufgabe, S.13. Vgl. auch Peter Burke, Exiles and Expatriates in the History of Knowledge, 1500-2000. Waltham, MA 2017, S.1-33. Vgl. Edna Andrews, Introduction, in: Juri Lotman, Culture and Explosion, hrsg. v. Marina Grishakova, übers. v. Wilma Clark (Semiotics, Communication and Cognition, Bd.1). Berlin/New York 2009 [1992, 2004], S. xix-xxvi, hier: S. xxii: Vgl. Lotman, Culture and Explosion, S.22. Vgl. Michael Schreiber, Zur Übersetzungspolitik während der Französischen Revolution. Versuch eines Forschungsberichts, in: Peter Holzer/Cornelia Feyrer/Vanessa Gampert (Hrsg.), »Es geht sich aus …« zwischen Philologie und Translationswissenschaft. Translation als Interdisziplin. Festschrift für Wolfgang Pöckl (InnTrans. Innsbrucker Beiträge zu Sprache, Kultur und Translation, Bd.5). Frankfurt am Main u.a. 2012, S.267-278. Vgl. Michel Espagne, Die Rolle der Mittler im Kulturtransfer, in: Hans-Jürgen Lüsebrink/Rolf Reichardt (Hrsg.), Kulturtransfer und Epochenumbruch Frankreich-Deutschland 1770-1815 (Deutsch-Französische Kulturbibliothek, Bd.9.1). Leipzig 1997, S.309-329, hier: S.313; Michael Wintroub, Translations: Words, Things, Going Native, and Staying True, in: The American Historical Review 120 (2015) 4, S.1185-1217, hier: S.1185-1187, 1192, 1196. Michaela Wolf, The Sociology of Translation and its »Activist Turn«, in: Translation and Interpreting Studies 7 (2012) 2, S.129-143, hier: S.132. Martin Müller, What’s in a Word? Problematizing Translation between Languages, in: Area 39 (2007) 2, S.206-213, hier: S.208.

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Nach der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) nach Michel Callon und Bruno Latour erscheint sozialwissenschaftliches Wissen als ein Element, durch das Akteure aus anderen gesellschaftlichen Bereichen an die Forschungsinteressen der Sozialwissenschaftler gebunden werden konnten. Letztere vermittelten ihr Wissen Industriellen oder Politikern, interessierten diese für ihre Sache und gingen auf dieser Basis Allianzen ein. Auch hier spielt der Übersetzungsbegriff eine wichtige Rolle, denn »vermitteln« heißt in der Begriffswelt der ANT nach Latour und Callon »übersetzen«. Forschungsinteressen und wissenschaftspolitische Absichten wurden mithin in die Interessen von Politikern oder Industriellen übersetzt, woraus neue, gemeinsame Zielsetzungen resultierten. Die dadurch zustande gekommenen Bündnisse mussten die Wissenschaftler laufend pflegen, um den Zerfall der erfolgreichen Übersetzung zu verhindern.231 Insgesamt verfügten wissenschaftliche und gesellschaftliche Akteure potenziell über gleich große Anteile an Macht und Handlungsspielräumen. Mitchell G. Ash spricht daher von einem wechselseitigen Ressourcen- und Interessenaustausch.232 Gleichwohl standen die Sozialwissenschaftler in ökonomischer Hinsicht immer in Abhängigkeit von ihren Geldgebern.233 Bei der Etablierung wissenschaftlicher Felder nehmen Institutionen eine zentrale Stellung ein. Diese werden hier nicht im Sinne der Institutionensoziologie verstanden, sondern aus historischer Perspektive als konkrete Einrichtungen – als Institute, Seminare, Fachgesellschaften oder Think Tanks –, die einen wichtigen Teil der disziplinären Identität einer jeden Wissenschaft bilden. Sie stellen zudem Verhandlungs- und Vermittlungsorte des Ressourcenaustauschs zwischen Wissenschaftlern und Industriellen, Politikern sowie Medienleuten dar.234 In Institutionen üben Wissenschaftler epistemische und soziale Macht im eigenen Forschungsfeld aus. Gleichzeitig trägt eine Institution wissenschaftliche Macht in die Gesellschaft hinein. Auf dieser Basis konnten die »discipline builders«235 der westdeutschen Sozialwissenschaften in der Nachkriegszeit  – Akteure wie Horkheimer, Schelsky, König, Stammer oder Noelle-Neumann – in ihren Instituten sowohl disziplinierend auf die Sozialwissenschaften als auch auf die Ge231 Michel Callon, Einige Elemente einer Soziologie der Übersetzung. Die Domestikation der Kammmuscheln und der Fischer der St. Brieuc-Bucht [1986], in: Andréa Belliger/David J. Krieger (Hrsg.), ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie. Bielefeld 2006, S.135-174, hier: S.135f.; Latour, Science in Action, S.111-121. 232 Ash, Wissenschaft und Politik als Ressourcen. 233 Vgl. Pierre Bourdieu, Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, aus dem Französischen v. Achim Russer, unter Mitwirkung v. Hélène Albagnac und Bernd Schwibs. Frankfurt am Main 2001 [1997], S.30. 234 Vgl. Timothy Lenoir, Instituting Science: The Cultural Production of Scientific Disciplines. Stanford 1997, S.46f. 235 Ebd., S.239-292.

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sellschaft wirken. Sozialwissenschaftliche Institutionen waren demnach Träger von Professionalisierungs- und Demarkationsprozessen. Sie standen für die von den Akteuren als professionell angesehenen Sozialwissenschaften und hoben diese von Sozialarbeit, Sozialpolitik, privatwirtschaftlicher Meinungsforschung und selbst akademisch sanktionierter empirischer Sozialforschung ab.236 Allerdings konkurrierten die Einrichtungen auch miteinander, denn die frühen Institute für empirische Sozialforschung in Westdeutschland waren von den Geldern politischer und industrieller Auftraggeber abhängig. Institutionen wirken auch disziplinierend auf das jeweilige Idiom respektive den Denkstil der in denselben arbeitenden Sozialwissenschaftler. Erst durch die Institutionalisierung von Idiomen und Denkstilen schreibt sich die Denkweise und wissenschaftliche Praxis den Mitarbeitenden ein.237 Die institutionelle Mitarbeit prägte den nachkriegszeitlichen Sozialwissenschaftlern ihren eigenen Stempel auf. Es ließ sich etwa erkennen, wer für wie lange an den Wirkungsorten Schelskys oder am IfS tätig war.238 Das in Institutionen generierte Wissen ist demnach zweierlei: Zum einen definiert es, wie das darin tätige Denkkollektiv die Welt als Wirklichkeit wissenschaftlich wahrnimmt und konstruiert. Zum anderen zeigt es, wie die Gesellschaft die Welt durch den jeweiligen Denkstil der entsprechenden Institution sehen soll.239

3.3. Produktion und Zirkulation sozialwissenschaftlichen Wissens Die beiden angeführten methodischen Ansätze erfassen noch nicht die epistemische Praxis der Sozialwissenschaftler. Für die Analyse dessen, wie die Akteure sozialwissenschaftliches Wissen herstellten, wird auf das Konzept der historischen Epistemologie nach Hans-Jörg Rheinberger Bezug genommen. Nach dessen, anhand molekularbiologischen Laborgemeinschaften entwickelter Methode sind zunächst sich wiederholende Produktionssequenzen wissenschaftlichen Wissens herauszuarbeiten, sogenannte epistemischen Einheiten, die materiell, lokal, individuell, sozial, institutionell, technisch und instrumentell definiert werden können.240 236 Vgl. Thomas F. Gieryn, Boundary-Work and the Demarcation of Science from Non-Science: Strains and Interests in Professional Ideologies of Scientists, in: American Sociological Review 48 (1983) 6, S.781-795; Lenoir, Instituting Science, S.47. 237 Vgl. Mary Douglas, How Institutions Think. Syracuse, NY 1986. 238 Vgl. Dania Achermann, Institutionelle Identität im Wandel. Zur Geschichte des Instituts für Physik der Atmosphäre in Oberpfaffenhofen. Bielefeld 2016, S.18-28. 239 Lenoir, Instituting Science, S.8. 240 Hans-Jörg Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas. Frankfurt am Main 2006 [2001], S.9;

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Wie schon im Fall der Fleckschen Theorie müssen auch bei diesem Ansatz methodische Anpassungen an die sozialwissenschaftlichen Forschungsgegenstände vorgenommen werden. Die von Rheinberger untersuchten Molekularbiologen arbeiteten in der Regel räumlich geschlossener als sozialwissenschaftliche Denkkollektive. Letztere standen stärker mit der öffentlichen Sphäre in Kontakt. Außerdem arbeiteten sie sowohl außerhalb (Interviews, Beobachtung) als auch innerhalb eines Instituts (Auswertung, Diskussion). Forschungsstil und Schreibpraktiken waren auch weniger genormt und verglichen zu den Naturwissenschaften individueller. Dies hing mit dem relativ hohen Grad an persönlicher Identifikation der Wissenschaftler mit dem von ihnen generierten Wissen zusammen. Das galt besonders für die Sozialphilosophie, in der sich Idiome des Denkens oft eng mit persönlichen Einstellungen auf weltanschaulicher Ebene verschränkten.241 In Bezug auf qualitative und quantitative Herangehensweisen zur Bearbeitung empirischen Materials waren aber auch Sozialwissenschaftler in den 1950er und frühen 1960er Jahren an der Ausarbeitung universell und unabhängig von geografischen und lokalen Faktoren anwendbarer, festgelegter Arbeitsschritte folgender Methoden interessiert.242 Vorrangig ging es hierbei um Instrumente und technische Verfahren, wie die für die empirische Sozialforschung wichtigen IBM-Rechenmaschinen, Lochkartenverfahren und FragebogenSchemata.243 Die Etablierung standardisierter Verfahren in der Wissensproduktion war für die Generierung verwertbaren und auf transatlantischer Ebene diskutierbaren sozialwissenschaftlichen Wissens entscheidend. Schließlich konnte nur Wissen, das innerhalb der westlichen Kultur als stabil galt, in der Phase des frühen Kalten Krieges an Politik, Industrie sowie Medien herangetragen und gesellschaftswirksam eingesetzt werden. Sarah Igo weist unter Bezugnahme auf Ian Hacking außerdem darauf hin, dass zwischen sozialwissenschaftlichen Akteuren und deren Forschungsgegenständen ein anderes Verhältnis bestehe als dies in den technischen und Naturwissenschaften der Fall sei. Die »natural kinds« der Naturwissenschaftler wie Gold, Elektronen oder Tiger reagieren nicht aktiv auf die Kategorien, Techniken und Theorien der Sozialwissenschaftler, die »human kinds« wie Arbeitslose, Industriearbeiter oder Homosexuelle erforschen. Vielmehr nehmen sozialwissenschaftliche Untersuchungsgegenstände ein Recht auf Mitbestimmung über jene Praktiken in Anspruch, die zur Erforschung ihrer selbst angewandt werden. ders., Epistemologie des Konkreten. Studien zur Geschichte der modernen Biologie. Frankfurt am Main 2006, S.351. 241 Vgl. auch Frieder Wolf, Ist eine historische Epistemologie der ›Sozialwissenschaft‹ möglich?, in: Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte (Hrsg.), Preprint 434. Conference »Epistemology and History from Bachelard and Canguilhem to Today’s History of Science«. Berlin 2012, S.205-211. 242 Weischer, Das Unternehmen ›Empirische Sozialforschung‹, S.193-199, 213f. 243 Fleck, Skizze einer Methodologie, S.72-78.

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Dies geschehe mal mehr, mal weniger, mal zustimmend und ein anderes Mal kritisch oder sogar ablehnend. Die Untersuchten bestimmen so die Art des gewonnenen sozialwissenschaftlichen Wissens aktiv mit.244 Die Adaption von Rheinbergers Methode auf sozialwissenschaftliche Praktiken birgt weitere Probleme: Die Experimentalsysteme erscheinen in seiner Interpretation als »Spiel der Möglichkeiten«,245 deren epistemisches Produkt aufgrund des herantastenden Charakters naturwissenschaftlicher Experimentalpraktiken wenig determiniert ist. Demgegenüber spielten in den sozialwissenschaftlichen Praktiken des frühen Kalten Krieges Hypothesenbildung, Fragestellung und Zielgerichtetheit der Forschung eine entscheidende Rolle. Am ehesten wies noch die empirische Sozialforschung in Westdeutschland in den frühen 1950er Jahren einen experimentellen Charakter auf.246 Das epistemische Produkt der Sozialwissenschaften ist in der Regel weniger offen und stärker durch Vorannahmen determiniert als dies bei den naturwissenschaftlichen Experimentalkulturen der Fall ist. Zudem basiert die historische Epistemologie nach Rheinberger auf einer materiellen Grundlage. Dieser Ansatz kann zwar für die Analyse sozialempirischer Forschungspraktiken adaptiert werden. Allerdings sind die für Sozialwissenschaftler wichtigen Theorien und philosophischen Grundlegungen damit kaum zu erfassen. Theorien als bloße Zeichenansammlungen und Zeichenfolgen zu betrachten, die sich materiell in Medien wie Büchern und Aufsätzen manifestieren, ist unzureichend. Auf diese Weise können theoretische Wissensformationen und deren Genealogien nicht untersucht werden. Zweifelsohne geben Notizbücher von Sozialwissenschaftlern, Skizzen theoretischer Entwürfe und überlieferte Exzerpte Aufschlüsse über Schreibtechniken, ja vielleicht sogar über die Kreativität des Schreibenden und damit über Entstehungsprozesse von sozialwissenschaftlichen Theorien.247 Auf solche Aspekte des »Paperwork« (Bruno Latour) wird deshalb auch in der vorliegenden Studie ein Augenmerk gelegt. Für die Betrachtung von Denkinhalten und deren Bezügen zu anderen Wissensformationen bedarf es dagegen einer diskursanalytischen Perspektive. Diese setzt die Theoriebildung als spezifisch-sozialwissenschaft244 245 246 247

Igo, Subjects of Persuasion, S.288f. Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge, S.91. Weischer, Das Unternehmen ›Empirische Sozialforschung‹, S.200. Vgl. Christoph Hoffmann/Barbara Wittmann, Introduction: Knowledge in the Making: Drawing and Writing as Research Techniques, in: Science in Context 26 (2013) 2, S.203-213, hier: S.204-206, 208. Vgl. Friedolin Krentel u.a., Library Life. Werkstätten kulturwissenschaftlichen Forschens. Lüneburg 2015. Für die Sozialwissenschaften ist diese praxeologische und historisch-epistemologische Herangehensweise kaum angewandt worden. Vgl. Camic/Gross/Lamont, Introduction, S.1, 11; Rebecca Lemov, Filing the Total Human: Anthropological Archives from 1928 to 1963, in: Camic/Gross/Lamont (Hrsg.), Social Knowledge in the Making, S.119-150, hier: S.124-126. Vgl. auch Igo, Subjects of Persuasion, S.286f.

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liche Episteme in den Zusammenhang mit anderen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Wissenseinheiten. Als Episteme bezeichnet Michel Foucault die »Gesamtheit der Beziehungen, die in einer gegebenen Zeit die diskursiven Praktiken vereinigen können, durch die die epistemologischen Figuren, Wissenschaften und vielleicht formalisierten Systeme ermöglicht werden«.248 Eine Ordnungsstruktur, die Episteme klassifizierbar macht und dadurch miteinander in ein Verhältnis setzt, verband lokal hergestelltes sozialwissenschaftliches Wissen und gesamtgesellschaftlich-kulturelle Diskursformationen im frühen Kalten Krieg.249 Wissen ist bei Foucault immer mit Macht verbunden. Diskurse und Subdiskurse unterliegen der »Kontrolle der durch sie selbst produzierten Macht, die durch Praktiken des Ausschlusses, des Verbots, der Tabuisierung, Ritualisierung usw. verhindern, dass die Diskurse aus den ›Mechanismen‹ der Macht ausbrechen können.«250 Wissen und Macht bilden als Verschränkungen von vordiskursiven Strukturen sowie institutionellen, politischen, wirtschaftlichen und öffentlichen Verhältnissen Dispositive.251 Nach diesen ist konkret für die Etablierung der Sozialwissenschaften und den Anspruch der Sozialwissenschaftler, Orientierungswissen für die westdeutsche Demokratie bereitzustellen, zu fragen. Bezogen auf den Aufstieg der westdeutschen Sozialwissenschaften ist zu vermuten, dass das Wissen der Sozialwissenschaftler mit einer allgemeinen Deutungs- und Orientierungsebene auf Basis der kulturellen Codes der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft verschränkt war. Auf einer intermediären Ebene verband sich sozialwissenschaftliches Wissen so mit gesellschaftlich-politischen Machtverhältnissen.252 Sie spiegelte sich in Literatur- und Kulturzeitschriften, auch Monatsschriften, Qualitätsmagazinen und der gehobenen Publizistik wider.253 Als Raum einer intellektuellen Öffentlichkeit bestimmte sie die Grenzen des sozialwissenschaftlichen Diskurses entscheidend mit. Daraus wiederum leiteten sich das gesellschaftlich Sagbare und das für die Hervorbringung epistemischer

248 Michel Foucault, Archäologie des Wissens, übers. v. Ulrich Köppen. Frankfurt am Main 1981 [1969], S.272f. 249 Vgl. Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses, aus dem Französischen v. Walter Seitter, mit einem Essay v. Ralf Konersmann, 15. Aufl. Frankfurt am Main 2019 [1972]. 250 Peter, Warum und wie betreibt man Soziologiegeschichte?, S.135. 251 Achim Landwehr, Historische Diskursanalyse (Historische Einführungen, Bd.4), 2. Aufl. Frankfurt am Main/New York 2009, S.76-79; Philipp Sarasin, Michel Foucault zur Einführung, 2., überarb. Aufl. Hamburg 2006 [2005], S.103, 113. 252 Vgl. Raphael, Embedding the Human and Social Sciences, S.44. 253 Vgl. Reitmayer, Elite, S.47-68. Vgl. Friedrich Kießling, Die undeutschen Deutschen. Eine ideengeschichtliche Archäologie der alten Bundesrepublik 1945-1972. Paderborn u.a. 2012, S.18-23.

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Objekte Konstitutive ab.254 Besonders hinsichtlich der Positionierungen Horkheimers, Adornos, Schelskys und Gehlens als öffentlich in Erscheinung tretende Intellektuelle ist nach Lothar Peter darauf zu achten, dass »die gesellschaftliche Relevanz der Soziologie historisch mit dem Grad des politisch-intellektuellen Engagements von Soziologen kovariiert.«255 Diese mittlere, zwischen der allgemeinen gesellschaftlichen Wissensordnung um Entnazifizierung, Demokratisierung, Modernisierung sowie Liberalisierung und der spezifischen sozialwissenschaftlichen um Aufklärung, wissenschaftliche Rationalität, Ideologiekritik und Emanzipation diskursiv formierte Ebene ist zu rekonstruieren. Hierzu zählt etwa, dass die Motivation der Nachkriegssoziologen, die westdeutsche Gesellschaft nach demokratischen Prinzipien durch sozialwissenschaftliches Wissen aufzuklären, mit einer Abwehrhaltung gegen diejenigen Kräfte und Entwicklungen einherging, die in den Nationalsozialismus geführt hatten. Dies trug gleichzeitig aber auch zur Unterdrückung der Aufarbeitung der Rolle deutscher Sozialwissenschaftler im Nationalsozialismus bei.256 Es ist davon auszugehen, dass der institutionelle Erfolg der Sozialwissenschaften im nachkriegszeitlichen Westdeutschland mit gesamtgesellschaftlichen Resonanzkonstellationen verbunden war. Sozialwissenschaftliches Wissen musste in der Gesellschaft zirkulieren, migrieren, nomadisieren und unterschiedliche Bedeutungen für die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen annehmen, um von diesen in veränderter Form verwendet zu werden.257 Mit Ludwik Fleck können die Allianzpartner aus Politik, Wirtschaft, Militär und Medien als exoterischer Kreis der Sozialwissenschaften bezeichnet werden, der den esoterischen Kreis der Fachwissenschaftler stützte.258 Die Größe des exoterischen Kreises ist für den gesellschaftlichen Erfolg einer Wissenschaft ausschlaggebend. Um sich in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft als Sozialwissenschaftler zu etablieren, mussten genügend Rezipienten sozialwissenschaftlichen Wissens zur Stabilisierung der Sozialwissenschaften beitragen. Ein besonderes Augenmerk gilt dabei der Medialität sozialwissenschaftlichen Wissens in Buchreihen, Radiosendungen, Fernsehdiskussionen und Feuilletonbeiträgen, die Rückschlüsse auf dessen Reichweite erlaubt.259 Die Zirkulation dieses jeweils unterschiedlich wirkmäch254 Foucault, Die Ordnung des Diskurses; Sara Mills, Der Diskurs. Begriff, Theorie, Praxis, aus dem Englischen v. Ulrich Kriest. Tübingen/Basel 2007 [1997], S.75-77; Peter, Warum und wie betreibt man Soziologiegeschichte?, S.136; Sarasin, Michel Foucault, S.108. 255 Peter, Warum und wie betreibt man Soziologiegeschichte?, S.131. 256 Vgl. Weischer, Das Unternehmen ›Empirische Sozialforschung‹, S.127. 257 Vgl. Philip Sarasin, Was ist Wissensgeschichte?, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 36 (2011) 1, S.159-172. 258 Fleck, Entstehung und Entwicklung, S.148-150. 259 Philipp Sarasin, Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse. Frankfurt am Main 2003, S.38-41. Vgl. Frédéric Darbellay, Introduction générale, in: ders. (Hrsg.), La

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die westlichen sozialwissenschaften im frühen kalten krieg

tigen Wissens in andere Gesellschaftssphären zog immer auch eine Veränderung desselben nach sich. Nach Fleck ist deshalb »der Kreislauf eines Gedankens grundsätzlich immer mit dessen Umgestaltung verbunden«.260 Konkretes Beispiel hierfür ist die Rezeption der Kritischen Theorie in den Erziehungswissenschaften und Programmen der Bildungsreform ab den 1960er Jahren: In Hessen verwendeten Erziehungswissenschaftler die Prämissen der Kritischen Theorie, um ihren eigenen gesellschaftlichen Machtanspruch zu artikulieren, ohne dass sie sich mit den komplexen Gedankengängen Horkheimers und Adornos vertieft auseinandergesetzt hätten.261 Wenn laut Fleck esoterische Denkkollektive jedes Wissen festigen, so sind es wiederum exoterische Kollektive, die die popularisierte Version dieses Wissen tragen. Beide konkurrieren mit jeweils anderen, alternativen Denkkollektiven.262 Die teils radikalen Positionen und Auseinandersetzungen zwischen der intellektuellen Linken und den von ihr als bürgerlich oder rechtskonservativ apostrophierten Gegnern waren in diesem Sinne politisierte Konfrontationen zweier oder mehrerer exoterischer Kollektive. Mit den Instrumenten des zum Weltanschauungswissen gewordenen sozialwissenschaftlichen Wissens rangen beide miteinander um die Deutungshoheit.263

4. Das Quellenkorpus Eine grundlegende Herausforderung dieser Studie war die Eingrenzung des zugrunde gelegten Quellenkorpus auf einen zu bewältigenden Umfang. Nicht nur verfassten die Protagonisten allesamt sehr viele Monografien, Aufsätze und Essays. Auch die Quellenlage vor allem zur Geschichte des IfS, aber teilweise auch den Wirkungsstätten Schelskys ist so umfangreich, dass sie gleich für mehrere

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Circulation des Savoirs. Interdisciplinarité, Concepts Nomades, Analogies, Métaphores. Bern u.a. 2012, S.9-24; Charles Camic, Das Verschwinden des »Charakters«: Eine Fallstudie der neuen Ideensoziologie, in: Dayé/Moebius (Hrsg.), Soziologiegeschichte, S.308-335, hier: S.313f.; Peter, Warum und wie betreibt man Soziologiegeschichte?, S.141. Vgl. James A. Secord, Knowledge in Transit, in: Isis 95 (2004), S.654-672. Ludwik Fleck, Das Problem einer Theorie des Erkennens [1936], in: ders., Erfahrung und Tatsache. Gesammelte Aufsätze, mit einer Einleitung hrsg. v. Lothar Schäfer und Thomas Schnelle. Frankfurt am Main 1983, S.84-127, hier: S.92. Günter C. Behrmann, Die Erziehung kritischer Kritiker als neues Staatsziel, in: Albrecht u.a., Die intellektuelle Gründung, S.448-496. Fleck, Das Problem einer Theorie, S.112. Vgl. Fleck, Entstehung und Entwicklung, S.148-150.

quellenkorpus

wissenschaftshistorische Studien genügend Stoff geboten hätte. Für das Denkkollektiv um Horkheimer lag der Schwerpunkt der Auswertung deshalb einerseits auf den Unterlagen zu den größeren empirischen Forschungsprojekten im Westdeutschland der 1950er Jahre. Hierzu gehörten das »Gruppenexperiment« (1950-1951), die betriebssoziologische Mannesmann- und die BundeswehrStudie (beide 1955), die Untersuchung über die Universitäten und das Verhältnis von Student und Politik (1957) sowie einige weniger umfangreiche Projekte.264 Sitzungsprotokolle, Memoranden zum methodischen Vorgehen und zum strategischen Verhalten der Sozialforscher gegenüber ihren Geldgebern, Rohfassungen und Entwürfe von Auswertungen sowie Protokolle der Gruppeninterviews aus dem Archiv des IfS wurden hierzu ausgewertet.265 Die verschiedenen Bündnisse und Allianzen, die Horkheimer, Pollock und Adorno mit Geldgebern, westdeutschen Politikern sowie Vertretern der amerikanischen Besatzungsbehörden, aber auch mit Wissenschaftlern und Intellektuellen von ihrer Emigrationszeit bis in die frühen 1960er Jahre geschlossen hatten, lassen sich aus der – in Teilen bereits veröffentlichten – Korrespondenz Adornos während seiner Zeit als (zweiter) Direktor des IfS und den im Nachlass Horkheimers vorhandenen Briefen am deutlichsten nachzeichnen. Die Adorno-Korrespondenz befindet sich im Archiv des IfS, der Horkheimer-Nachlass im Archivzentrum der Universitätsbibliothek Frankfurt (UBA Ffm). Das Verhältnis Horkheimers, Pollocks und Adornos zu Kollegen an der Universität Frankfurt erschließt sich durch die im Universitätsarchiv Frankfurt am Main (UAF) aufbewahrten Fakultätsakten. Hintergrundinformationen zur NS-Vergangenheit einzelner Frankfurter Professoren, mit denen das IfS kooperierte, sowie Dokumente zur Bildungs- und Demokratisierungspolitik der amerikanischen Besatzungsbehörden bieten Quellenbestände des Hessischen Hauptstaatsarchivs in Wiesbaden (HHStAW), die bis auf wenige, wegen Personenschutzfristen gesperrte Akten zugänglich waren. Die publizierten Korrespondenzen von Adorno mit Horkheimer, Siegfried Kracauer, Peter Suhrkamp, Siegfried Unseld und Gershom Scholem ergänzen diese Quellengrundlage. Die nicht publizierte private Korrespondenz Adornos, die im Theodor W. Adorno Archiv in Frankfurt am Main liegt, wurde nur mit Bezug auf Korrespondenzpartner berücksichtigt, als sie für die Bildung von wissenschaftspolitischen Allianzen für das IfS relevant waren. Im Archiv des Instituts für Stadtgeschichte Frankfurt am Main (ISG) finden sich einige wenige Unterlagen zur Verflechtung des Denkkollektivs um Horkheimer mit Institutionen der Stadt Frankfurt. Für die Diskursanalyse der Schriften Horkheimers und Adornos wurden alle ihre hierfür relevanten Schriften von den 1930er bis in die frühen 1960er Jahre ausgewertet. 264 Institut für Sozialforschung an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, Forschungsarbeiten (Mitteilungen, Heft 10). Frankfurt am Main 1999, S.17-46. 265 Vgl. Christa Sonnenfeld, Das Archiv des Instituts für Sozialforschung, in: Endreß/ Lichtblau/Moebius (Hrsg.), Zyklos 1, S.241-248.

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die westlichen sozialwissenschaften im frühen kalten krieg

Diese Auswertung setzt deshalb so früh an, weil ihre intellektuelle Entwicklung in der Nachkriegszeit ohne die Kenntnis des unmittelbar vor und vor allem während der Emigration Geschriebenen nicht verständlich ist. Pollock, der nur wenige Schriften verfasste, ist in der Auswertung ebenfalls berücksichtigt. Für Helmut Schelsky wurden folgenden Aktenbestände genutzt: Schelskys Laufbahn von der Zeit des Nationalismus bis in die frühen 1960er Jahre lässt sich am besten über seinen Nachlass in der Universitäts- und Landesbibliothek Münster (ULB Münster) rekonstruieren, der größtenteils für die Forschung zugänglich ist. Im Mittelpunkt der Auswertung standen dabei Schelskys Korrespondenzen, die seine Allianzen vor und nach 1945 abbilden.266 Diese Unterlagen werden durch die Personalakte Schelskys im Universitätsarchiv Münster (UA MS) ergänzt. Im Hamburger Staatsarchiv (StAHH) liegen wenige, zudem unvollständige Akten zu Schelskys erster akademischer Position als Professor an und Leiter der Akademie für Gemeinwirtschaft in Hamburg sowie seiner Professur an der Universität Hamburg ab 1953. Sie geben lediglich ein unvollständiges Bild seines Wirkens in der Hansestadt. Insbesondere Akten zu den von ihm geleiteten empirischen Forschungsprojekten sind nicht mehr vorhanden. Um diese wenigstens ansatzweise zu rekonstruieren, wurde auf die Ergebnisse zurückgegriffen, die allerdings eine detaillierte, historisch-epistemologische Aufschlüsselung von Schelskys Forschungspraxis kaum zulassen. Insofern liegt ein qualitatives Ungleichgewicht in der Quellenlage zwischen den beiden Denkkollektiven vor. Für die Diskursanalyse von Gehlens und Schelskys Schriften wurden ebenfalls alle relevanten Publikationen sowie nicht publizierte Vorträge und Manuskripte in Schelskys Nachlass von den 1930er Jahren bis 1961 berücksichtigt.267 Der letzte Teil dieser Studie zu den zunehmenden Konflikten zwischen den beiden Denkkollektiven basiert auf der Analyse der hierzu von den Akteuren veröffentlichten Texte. Schelskys und Adornos konkurrierende Rollen innerhalb der DGS wurden durch die digitalisierten Akten der DGS im Sozialwissenschaftlichen Archiv Konstanz (SAK) erschlossen.

266 Reinhard Feldmann, »Reflexionsüberschuss«: Der Nachlass Helmut Schelskys in der Universitäts- und Landesbibliothek (ULB) Münster, in: Gutmann/Weischer/ Wittreck (Hrsg.), Helmut Schelsky, S.3-16. 267 Karlheinz Messelken, Helmut Schelsky homo politicus. Nachruf auf ein Vorbild, in: Kob/ders., In Memoriam Helmut Schelsky, S.4-35, hier: S.5.

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B. Wandel und Neukonstitution der deutschen Sozialwissenschaften (1931 – 1957)

Einen wichtigen Schlüssel zum Verständnis der sozialwissenschaftlichen Praktiken der Denkkollektive um Max Horkheimer und Helmut Schelsky in der Phase des frühen Kalten Krieges bieten die Lebenswege der beteiligten Akteure, ihre sozialen Netzwerke, ihre Emigration1 oder Anpassung in der NS-Zeit sowie ihre epistemischen und politisch-weltanschaulichen Entwicklungen. Im Folgenden werden die durch das Jahr 1933 ausgelösten Transformationen bis 1945 dargestellt sowie die neuen Allianzen, veränderten Denkstile, Idiome und ideologischen Haltungen beider Denkkollektive bis 1957 nachgezeichnet. Die Kapitel  5 und 6 verfolgen diese Aspekte von den frühen 1930er Jahren bis um 1950/51, als Horkheimer, Pollock und Adorno das IfS in Frankfurt wiedereröffneten und Schelsky sich in Hamburg etabliert hatte. Sie erläutern die philosophischidiomatischen Grundannahmen der untersuchten Wissenschaftler, ihre methodischen Konzepte und Praktiken sowie die in der amerikanischen Emigration und im NS-Regime erfolgten epistemischen Wandlungen. Die Kapitel 7 bis 10 nehmen die Forschungspraxis in den frühen 1950er Jahren in den Blick, die im Zeichen der Sozialwissenschaften als »Demokratisierungswissenschaften« standen. Nachgezeichnet werden die neu geschlossenen Allianzen der beiden Denkkollektive in der Nachkriegszeit vor dem Hintergrund früherer Konflikt- und Konkurrenzlagen. Es wird gezeigt, dass in der empirischen Sozialforschung in Westdeutschland Akteure mit ganz unterschiedlichen Lebenswegen zusammenarbeiteten. Auch auf der Ebene sozialwissenschaftlichen Wissens als Orientierungswissen und der sozialwissenschaftlichen Erziehungspolitik bestanden Schnittmengen zwischen den Akteuren. In den entsprechenden Abschnitten steht dabei das öffentliche Engagement Horkheimers und Adornos einerseits sowie Schelskys und Gehlens andererseits im Vordergrund. Während die beiden ersten als kritische Intellektuelle für einen emanzipatorischen Individualismus und eine demokratische Neuerziehung eintraten, gab sich Schelsky als Sozialwis1 Die Mitglieder des Denkkollektivs um Horkheimer werden als »Emigranten« bezeichnet, weil zum Zeitpunkt ihrer Flucht aus Deutschland keineswegs klar war, ob sie jemals nach Deutschland zurückkehren würden. Nur in der Retrospektive kann die Zeit in der Schweiz, in Paris, England und den Vereinigten Staaten als »Exil« bezeichnet werden. Vgl. dazu Mitchell G. Ash, Forced Migration and Scientific Change after 1933: Steps towards a New Overview, in: Edward Timms/Jon Hughes (Hrsg.), Intellectual Migration and Cultural Transformation: Refugees from National Socialism in the English-Speaking World (Veröffentlichungen des Instituts Wiener Kreis, Bd.12). Wien/New York 2003, S.241-263, hier: S.250.

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wandel und neukonstitution der deutschen sozialwissenschaften

senschaftler, der der westdeutschen Demokratie Orientierungswissen im Sinne eines expertokratischen Ordnungsmodells anbot.

5. Transatlantische Übersetzungen und ihre Grenzen: Das IfS von 1931 bis 1949 Schon vor der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten bestanden Verbindungen zwischen deutschen und amerikanischen Sozialwissenschaftlern. Max Weber etwa hatte starken Einfluss auf Talcott Parsons. Dieser hatte mit Unterbrechungen von 1925 bis 1927 an der Universität Heidelberg Nationalökonomie studiert und war dort zum Dr. phil. promoviert worden.1 Auch Howard P. Becker, der von 1947 bis 1948 als Universitätsoffizier im Military Government Office in Wiesbaden arbeitete, hatte sich bereits 1926/27 als Austauschstudent an der Universität Köln mit den Lehren Max Schelers und Leopold von Wieses befasst und führte diese in die amerikanische Soziologie ein.2 Tatsächlich bedingten jedoch erst die NS-Wissenschaftspolitik ab 1933 und die daraus resultierende Emigration zahlreicher linker, liberaler und jüdischer Sozialwissenschaftler eine Intensivierung der transatlantischen Verbindungen in den Sozialwissenschaften.3 Unter den Emigranten befanden sich auch die Mitglieder des Denkkollektivs um Max Horkheimer. Horkheimer und Pollock waren mit ihren Frauen schon vor der NS-Machtübernahme nach Genf gereist. Von dort pendelte Horkheimer für den Rest des Semesters zu seinen Lehrveranstaltungen in Frankfurt am Main. Im März 1933 besetzte die SA das Institut, das wegen »staatsfeindlichen Tendenzen« geschlossen wurde. Ihnen folgten kurze Zeit später Kriminalbeamte der Ab1 Uta Gerhardt, Talcott Parsons: An Intellectual Biography. Cambridge 2002, S.x; dies., Much More than a Mere Translation – Talcott Parsons’s Translation into English of Max Weber’s Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus: An Essay in Intellectual History, in: The Canadian Journal of Sociology 32 (2007) 1, S.41-62, hier: S.42, 47; dies., »Max Weber im Exil«. Talcott Parsons und die USamerikanische Weberrezeption, in: Margrit Seckelmann/Johannes Platz (Hrsg.), Remigration und Demokratie in der Bundesrepublik nach 1945. Ordnungsvorstellungen zu Staat und Verwaltung im transatlantischen Transfer (Historie, Bd.116). Bielefeld 2017, S.23-45, hier: S.23-34. 2 UBA Ffm, Na 1, 26, Bl.299: Fritz Karsen an Max Horkheimer vom 13.02.1948. Vgl. o.A., News and Announcements: Howard Becker (1899-1960), in: American Sociological Review 25 (1960) 5, S.743f.; Helmut Schoeck/Kurt H. Wolff, Becker, Howard, in: Wilhelm Bernsdorf/Horst Knospe (Hrsg.), Internationales Soziologenlexikon, Bd.1. Stuttgart 1980, S.25f., hier: S.25. 3 Vgl. Burke, Exiles and Expatriates, S.148-181.

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teilung Ia, die die Institutsräume versiegelten.4 Norbert Elias, der als Assistent Karl Mannheims am Soziologischen Seminar im Untergeschoss des Gebäudes arbeitete, erinnerte sich daran 1983: »Dann wurde ich eines Tages von einer Gruppe von zwei Uniformierten abgeholt, um ihnen die Seminarräume ordnungsgemäß zu übergeben. Ich tat das unter Übergabe der Schlüssel und wurde angewiesen, das Gebäude nicht mehr zu betreuen.«5 Dies war das Ende des IfS in Deutschland. Von Genf aus migrierten Horkheimer, Pollock und weitere Mitarbeiter des IfS nach Paris, bis sie 1934 schließlich in New York ankamen. Bis 1949 blieben sie in den Vereinigten Staaten. Durch die in der Emigration erzwungene Neuausrichtung der sozialwissenschaftlichen Forschungspraktiken dieses Denkkollektivs zerfiel das von Horkheimer in den frühen 1930er Jahren entwickelte holistisch-kollektive Leitkonzept6 am IfS.7 Durch die Anpassung an das amerikanische Forschungssystem spaltete sich das bisherige Wissenschaftskonzept in eine sozialempirische, eine dialektisch-geschichtsphilosophische und eine erziehungspolitische Wissensebene auf. Grund hierfür war, dass nur einzelne Elemente des in Frankfurt entwickelten sozialwissenschaftlichen Idioms und Denkstils in das amerikanische Wissenschaftsfeld übersetzt werden konnten. Zu den unter thematischen Anpas4 Aus der Forschungsliteratur geht nicht klar hervor, ob die SA das Institut bereits am 05. oder erst am 13. März besetzte. Siehe Jörg Später, Siegfried Kracauer. Eine Biographie. Berlin 2016, S.349; Lenhard, Friedrich Pollock, S.140-141. Wiggerhaus, Die Frankfurter Schule, S.147f. Das IfS sollte fortan vom NS-Studentenbund treuhänderisch verwaltet werden. 5 Deutsches Literaturarchiv Marbach (DLA Marbach), A Norbert Elias, No. 46.2.2: Norbert Elias an Bertram Schefold vom 03.05.1983, Bl.1-5, hier: Bl.1f. 6 In der Forschungsliteratur wird dieses Konzept vielfach als »interdisziplinär« bezeichnet. Gregor-Sönke Schneider, mit Verweis auf die Quellen und auf Äußerungen Leo Löwenthals, umschreibt es treffender als »kollektiv«. Vgl. Gregor-Sönke Schneider, Keine Kritische Theorie ohne Leo Löwenthal. Die Zeitschrift für Sozialforschung (1932-1941/42) (Philosophie in Geschichte und Gegenwart, Bd.5). Frankfurt am Main u.a. 2014, S.9f. In dieser Studie wird der Ausdruck »holistisch-kollektiv« verwendet, um zusätzlich den Impetus Horkheimers wiederzugeben, eine neue Form einer »reenchanted science« zu schaffen. Zum Holismus in der deutschen Geistesgeschichte siehe Harrington, Reechanted Science. 7 Auf die sich in den 1940er Jahren öffnende Kluft zwischen Geschichtsphilosophie und den empirischen Arbeiten weist auch Martin Jay hin. Siehe Martin Jay, Positive und negative Totalität. Adornos Alternativentwurf zur interdisziplinären Forschung, in: Wolfgang Bonß/Axel Honneth (Hrsg.), Sozialforschung als Kritik. Zum sozialwissenschaftlichen Potential der Kritischen Theorie. Frankfurt am Main 1982, S.6786, hier: S.68.

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sungen und methodischen Erweiterungen erfolgreich übersetzten Elementen gehörten die bereits in Frankfurt begonnenen, dann in Genf weitergeführten sozialempirischen Untersuchungen. Bei anderen Elementen hingegen, insbesondere beim hegelianisch-freudianisch-marxistischen philosophischen Idiom, scheiterte die Übersetzung in die amerikanische Sozialphilosophie. In der Folge koppelte sich die sozialphilosophische von der sozialempirischen Ebene ab. Die dritte Schwerpunktsetzung auf Erziehungspolitik ergab sich aus der Anwendungsorientierung sozialempirischen Wissens: Es sollte insbesondere im Kontext des sozialwissenschaftlichen Kriegseinsatzes für die Vereinigten Staaten Grundlage einer demokratischen Erziehungspolitik werden. Die Ausrichtung auf die drei in der Emigration herausgebildeten Wissensebenen behielten Horkheimer, Pollock und Adorno auch nach ihrer Rückkehr nach Frankfurt bei. Sie bestimmten ihre sozialwissenschaftliche Praxis im Westdeutschland der frühen 1950er Jahre.

5.1. Die Herausbildung von Denkstil und Idiom des Denkkollektivs um Horkheimer in Frankfurt Über die Anfänge des IfS in Frankfurt und die Zeit nach Max Horkheimers Amtsantritt 1930 als dessen Direktor ist viel geschrieben worden. Die Darstellung konzentriert sich im Folgenden deshalb auf die Genese jener Elemente, die den spezifischen Denkstil am IfS ausmachten. Das IfS wurde 1923 durch eine Stiftung des jüdischen, sozialistisch gesinnten Kaufmanns sowie Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlers Felix Weil und seines Vaters Hermann Weil gegründet. Nach der offiziellen Eröffnung im Folgejahr8 konzentrierte sich die Arbeit des IfS – in Anlehnung an das Moskauer Marx-Engels-Institut – zunächst auf den Aufbau einer Bibliothek sowie eines Archivs für Geschichte und Theorie des Sozialismus und der Arbeiterbewegung. Zudem wurde eine Schriftenreihe ins Leben gerufen, deren zwölf Bände unter anderem Arbeiten von Henryk Grossmann, Pollock, Karl August Wittfogel, Horkheimer und Julian Gumperz umfassten. Weitere Mitarbeiter des IfS waren Paul Massing (seit 1927) und Leo

8 Die Weils finanzierten den Bau und die Einrichtung des Instituts, zahlten einen jährlichen Betrag von 120.000 Mark an das IfS aus, unterhielten den mit dem Direktorium des Instituts verbundenen Lehrstuhl, der an der WiSo-Fakultät der Frankfurter Universität angesiedelt war, und überließen der Fakultät die untere Etage des Gebäudes. Siehe Helmut Dahmer, Faschismustheorie(n) der »Frankfurter Schule«, in: Christ/Suderland (Hrsg.), Soziologie und Nationalsozialismus, S.76-118, hier: S.77f.; Jeffries, Grand Hotel Abyss, S.74-76; Wiggershaus, Max Horkheimer, S.57f.; ders., Die Frankfurter Schule, S.22f., 30.

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Löwenthal, der seit 1926 als Literatursoziologe am Institut wirkte.9 Als Trägerin des IfS fungierte die Gesellschaft für Sozialforschung e.V ., zu deren Gründungsmitgliedern zählten Felix und Hermann Weil, der sozialistische Wirtschaftswissenschaftler Kurt Albert Gerlach, der 1922 einen Ruf an die Universität Frankfurt erhalten hatte und zunächst als Institutsdirektor vorgesehen war, Richard Sorge und Horkheimer.10 Die engere Institutsgruppe bestand aus Horkheimer, Felix Weil und Pollock. Die beiden Letzteren, aber auch Wittfogel und Gumperz, hatten 1923 an der von Weil und Karl Korsch initiierten Marxistischen Arbeitswoche in Thüringen teilgenommen.11 Da Gerlach im Oktober 1922 verstarb, übernahm Carl Grünberg das Direktorat des IfS, ein rumänisch-österreichischer austromarxistischer Jurist und politischer Ökonom mit jüdischem Hintergrund.12 Als dieser nach einem Schlaganfall arbeitsunfähig wurde, ging die Leitung im Oktober 1930 an Horkheimer über, der zu diesem Zeitpunkt seit zwei Monaten den Lehrstuhl für Sozialphilosophie an der Universität Frankfurt innehatte.13 Obwohl das IfS institutionell zur Universität Frankfurt gehörte, blieb es als Forschungsinstitut weitgehend autonom. Dies begünstigte, dass das dort angesiedelte Denkkollektiv einen relativ scharf konturierten Denkstil entwickelte. Zur Konsolidierung des Denkkollektivs trugen auch die Anfeindungen gegen das IfS aus Kreisen innerhalb der Universität und der Stadt Frankfurt bei. Universitätsintern galt das Institut als »ungeliebter Nestling«.14 Obwohl sich die Institutsmitarbeiter als sozialistische Intellektuelle und nicht als Parteifunktionäre verstanden,15 ermittelte die politische Polizei gegen Grünberg, Eduard Fuchs, der zusammen mit der Gesellschaft für Sozialforschung den Aufbau eines sozialwissenschaftlichen Archivs in Berlin initiiert hatte, Weil und Pollock wegen kommunistischer Umtriebe. Auch Weils und Pollocks Verbindungen zur Berliner Zentrale der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) waren Gegen-

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Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main (ISG), S5/421 Bd. a Bl./S.301: Felix Weil, MS. Erinnerungen, 1. Fassung, undatiert, Bl.67-70; Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, S.42-44. Weil, Erinnerungen, Bl.66. Zur Gründungsgeschichte des IfS siehe Jeanette Erazo Heufelder, Der argentinische Krösus. Kleine Wirtschaftsgeschichte der Frankfurter Schule. Berlin 2017, S.42-55. Siehe auch Lenhard, Friedrich Pollock, S.77-84. Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, S.33-36. Ebd., S.49. Vgl. Heufelder, Der argentinische Krösus, S.70-72. Wiggershaus, Max Horkheimer, S.42f. Vgl. Später, Siegfried Kracauer, S.178. Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, S.25-27. Vgl. Leo Löwenthal, Ich will den Traum von der Utopie nicht aufgeben, in: Hajo Funke, Die andere Erinnerung. Gespräche mit jüdischen Wissenschaftlern im Exil. Frankfurt am Main 1989, S.168-185, hier: S.177.

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stand polizeilicher Untersuchungen.16 Der Frankfurter Polizeipräsident sprach sich 1926 gegen die Zulassung Grossmanns zur Habilitationsprüfung aus, da er ihm »linksradikale Bestrebungen« unterstellte. Tatsächlich war Grossmann politischer Aktivist, der sich als junger Mann in seiner Heimatstadt Krakau in der Jüdischen Sozialdemokratischen Partei engagiert und Streiks jüdischer Arbeiter mitorganisiert hatte. Besonders häufig tauchte auch Pollocks Name in den Ermittlungsakten zur möglichen Unterwanderung des IfS durch die KPD auf.17 Vertretern des radikal linken politischen Spektrums wiederum galt das IfS als nicht links genug und zu bürgerlich. Später mokierte sich etwa Berthold Brecht, der nach Kalifornien emigriert war, über den bürgerlichen Habitus des Denkkollektivs um Horkheimer.18 Diese Anfeindungen führten zu einer engen Verbindung der Institutsmitarbeiter untereinander. Mit Horkheimers Antritt als Direktor veränderte sich das wissenschaftliche Profil des IfS.19 Zwar diskutierten die Institutsmitarbeiter mit anderen Frankfurter Wissenschaftlern wie Kurt Riezler, Paul Tillich, Adolf Löwe und Mannheim, mit deren Arbeiten sie sich kritisch auseinandersetzten.20 Doch bereits in seiner Antrittsvorlesung von 1931 skizzierte Horkheimer ein Idealprogramm, das sich bewusst von anderen Ansätzen in den Sozialwissenschaften und der Philosophie abgrenzte. Er setzte sich von der als Bestätigung des Status quo apostrophierten Wissenssoziologie Mannheims und Schelers ab. Außerdem verwarf er sowohl das erkenntnistheoretische Modell des Logischen Empirismus Wiener und Berliner Prägung als auch Lenins Festlegung auf materialistische Wahrheit. Auch Entwürfe einer neuen Metaphysik, wie sie Fundamentalontologen und Lebensphilosophen veranschlagten, sowie die Philosophische Anthropologie kritisierte Horkheimer scharf.21 Diese Abgrenzungen resultierten aus Horkheimers eigener intellektueller und ideologischer Entwicklung. Zunächst hatte er, wie sein engster Freund Pollock, 16 Heufelder, Der argentinische Krösus, S.58-62, 108. Die Gesellschaft für Sozialforschung ließ im Dezember 1925 das Berliner Archiv schließen. 17 Vgl. Jeffries, Grand Hotel Abyss, S.52f.; Lenhard, Friedrich Pollock, S.101-103. 18 Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, S.45f.; Weil, Erinnerungen, S.93-95. Vgl. Jäger, Adorno, S.156-169. 19 Dubiel, Wissenschaftsorganisation und politische Erfahrung, S.193-197. So auch die Aussage Löwenthals in einem 1980 veröffentlichten Interview mit Dubiel. Vgl. Leo Löwenthal, Mitmachen wollte ich nie. Ein autobiographisches Gespräch mit Helmut Dubiel (edition suhrkamp, Neue Folge, Bd.14). Frankfurt am Main1980, S.65f. 20 Amalia Barboza, Das utopische Bewusstsein in zwei Frankfurter Soziologien: Wissenssoziologie versus Kritische Theorie, in: Herrschaft/Lichtblau (Hrsg.), Soziologie in Frankfurt, S.161-178, hier: S.163; Wheatland, The Frankfurt School in Exile, S.97f. 21 Abromeit, Max Horkheimer, S.143-156, 249-251; Jay, The Dialectical Imagination, S.62; Jeffries, Grand Hotel Abyss, S.21.

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eine kaufmännische Laufbahn eingeschlagen. Beide waren die Söhne jüdischer Industrieller. So lebte man zu Hause »nach den Regeln des Judentums, war aber zugleich Württemberger und Deutscher« von nationalliberaler Gesinnung, wie Zvi Rosen schreibt.22 Erst später begannen beide mit einem Studium der Ökonomie und Psychologie in München, das sie in Freiburg im Breisgau und Frankfurt fortsetzten.23 Horkheimer wählte als zusätzliches Fach Philosophie und ließ sich insbesondere von Arthur Schopenhauers Lehre stark beeinflussen.24 Mit dieser Entscheidung erteilte er den Plänen des Vaters eine endgültige Absage, der ihn für den Posten als Direktor der familieneigenen Kunstbaumwollfabrik vorgesehen hatte.25 Obwohl er sich in den 1920er und frühen 1930er Jahren gegen die Welt seiner Eltern richtete, blieb Horkheimer dennoch lebenslang seiner großbürgerlichen Sozialisation verhaftet. Die durch Schopenhauer akzentuierte pessimistisch-existenzialistische Komponente in Horkheimers Denken war bereits durch frühe schriftstellerische Ambitionen vorgeprägt. Während des Ersten Weltkrieges, also noch vor dem Studium, nahm Horkheimer eine pazifistische Position ein. Den Krieg sah er als Resultat kapitalistisch-patriarchalen Besitzstrebens, das Glück, Liebe, individueller Freiheit und sozialer Gerechtigkeit entgegenstand.26 In seiner Novelle Eva betonte er den Zusammenhang des Schaffens eines sich von der bürgerlichen Welt emanzipierenden Künstlers mit Wahrheit und Glück. Dieser Sichtweise blieb er treu. Sie sollte sich später mit Adornos und Löwenthals Haltungen kreu-

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Rosen, Max Horkheimer, S.13. Wiggershaus, Max Horkheimer, S.31. Jeffries, Grand Hotel Abyss, S.41f. Ebd., S.36f., 42f.; Wiggershaus, Max Horkheimer, S.11. Zur Sozialisation Pollocks und seines besten Freundes Horkheimer siehe Lenhard, Friedrich Pollock, S.18-27, 34, 37, 43, 45. 26 Max Horkheimer, Krieg. Ein Briefwechsel, in: ders. ›Aus der Pubertät. Novellen und Tagebuchblätter‹ 1914-1918, hrsg. v. Alfred Schmidt (Gesammelte Schriften, Bd.1). Frankfurt am Main 1988, S.21-64, hier: S.60-63; ders., Sehnsucht. Novellen [1915], in: ders., ›Aus der Pubertät. Novellen und Tagebuchblätter‹, S.100-157, hier: S.100, 130, 140; ders., Vier Tagebuchblätter [1915-1916], in: ders.‚ ›Aus der Pubertät. Novellen und Tagebuchblätter‹, S.158-169, hier: S.162-169. Vgl. Wiggershaus, Max Horkheimer, S.24f., 30. Siehe auch Max Horkheimer, Dämmerung. Notizen in Deutschland [1931/34], in: ders., Philosophische Frühschriften 1922-1932, hrsg. v. Gunzelin Schmid Noerr (Gesammelte Schriften, Bd.2). Frankfurt am Main 1987, S.312-452, hier: S.332. Siehe auch Rosen, Max Horkheimer, S.16, 19. Horkheimer wurde 1917 zum Militärdienst eingezogen, wurde allerdings als frontuntauglich eingestuft und leistete den Kriegsdienst als Sanitäter. Vgl. Alfred Schmidt, Max Horkheimer’s Intellectual Physiognomy, in: Benhabib/Bonß/McCole (Hrsg.), On Max Horkheimer, S.25-47, hier: S.25f. Pollock dagegen begrüßte den Ersten Weltkrieg anfangs frenetisch. Siehe Lenhard, Friedrich Pollock, S.46.

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zen.27 Philosophie und Kunst hatten für Horkheimer einen gesellschaftskritischen Impetus.28 Aus der 1931/34 zu Papier gebrachten Aphorismensammlung Dämmerung geht hervor, dass Horkheimer das Bürgertum nicht schlechthin verurteilte, sondern dessen Pervertierung durch den Kapitalismus, sei doch ursprünglich »die bürgerliche Lehre vom reinen Trieb nach Wahrheit als Gegensatz gegen die Unterordnung des Denkens unter religiöse Zwecksetzungen verkündet worden«.29 Für die Wissenschaft datierte er diesen Wandel bürgerlichfreiheitlichen Wahrheitsstrebens als Kampfmittel gegen das scholastische Dogma zu einer rationalistischen Ideologie mit dem Eintritt des Bürgertums in die Phase des Hochkapitalismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Letztere verabsolutiere die Ewigkeit der gegenwärtigen Herrschaftsverhältnisse mit wissenschaftlichen Argumenten.30 1922 promovierte Horkheimer bei dem Neukantianer Hans Cornelius in Frankfurt und wurde dessen Assistent. In seiner Dissertation und der 1925 abgeschlossenen, ebenfalls durch Cornelius betreuten Habilitationsschrift beschäftigte sich Horkheimer kritisch mit Kants Prinzipien der Erkenntnisgewinnung. Er erläuterte darin das Problem der »Erkenntnis organischen Geschehens«, die bei Kant mit der mechanistisch-naturwissenschaftlichen Methode erfolge, sowie die Frage, wie sich die Teile und das Ganze zueinander verhielten.31 Horkheimer schlussfolgerte, dass menschliche Erkenntnis »ein Zusammengesetztes aus empirischen und nichtempirischen Bestandteilen« sei, das nicht einfach gegeben, sondern vom menschlichen Verstand selber zu leisten wäre. Das empirische Material ergebe sich aus der Sinnlichkeit und dem Reflexionsvermögen des Menschen.32 Horkheimer nahm die Existenz einer materiellen oder dinglichen Wirklichkeit zwar an. Er betonte jedoch, dass die Beziehung zwischen Bewusstsein und Dingen entschiedener als bei Kant bestimmt werden könne, da es weder 27 Max Horkheimer, Eva. Eine Novelle [1915], in: ders., ›Aus der Pubertät. Novellen und Tagebuchblätter‹, S.65-99, hier: S.66; Löwenthal, Ich will den Traum von der Utopie nicht aufgeben, S.175f. 28 Wiggershaus, Max Horkheimer, S.9-32. Vgl. Horkheimer, Vier Tagebuchblätter, S.158-162. 29 Horkheimer, Dämmerung, S.364f. Vgl. auch ebd., S.388, 403. 30 Max Horkheimer, Bemerkungen über Wissenschaft und Krise [1932], in: ders., Schriften 1931-1936, hrsg. v. Alfred Schmidt (Gesammelte Schriften, Bd.3). Frankfurt am Main 1988, S.40-47, hier: S.42. 31 Max Horkheimer, Über Kants Kritik der Urteilskraft als Bindeglied zwischen theoretischer und praktischer Philosophie [1925], in: ders., Philosophische Frühschriften 1922-1932, S.75-146, hier: S.131f. Vgl. auch ders., Zur Antinomie der teleologischen Urteilskraft [1922], in: ders., Philosophische Frühschriften 1922-1932, S.13-72, hier: S.22f. 32 Horkheimer, Zur Antinome der teleologischen Urteilskraft, S.50. Vgl. auch ebd., S.53-57.

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Dinge »an sich« noch »ewige Ideen« gäbe.33 Wie Hegel und im Sinne des neuzeitlichen Empirismus schlussfolgerte er, dass der Prozess der Wissensgenerierung vielmehr ein Erfahrungsprozess sei, den das Bewusstsein durchlaufen müsse.34 Mit der Erweiterung Kants und unter Rückgriff auf die Gestaltlehre Adhémar Gelbs, Max Wertheimers und Kurt Goldsteins35 kritisierte Horkheimer die mechanistische Methodologie. Ein Ganzes hatte für ihn Eigenschaften, die bei der Zerlegung in seine Teile verlorengingen, weil diese nur der ursprünglichen Einheit zukamen, sich aber nicht in die Einzelteile transdisponierten. Es sei daher nicht durch die Analyse seiner Bestandteile zu erschließen.36 Dies galt, wie er 1927 in einer kurzen Würdigung Hans Drieschs deutlich machte, auch für Organismen37 und verstärkte seine Ablehnung des Positivismus. Die Welt aufzulösen »in Tatsachen und mechanische Beziehungen von Tatsachen« bedeute deshalb, dass es »keine kontinuierliche Menschengeschichte im Sinn eines durch die Geschlechterabfolge hindurch sich verwirklichenden geistigen Gehaltes« gegeben habe, was »den Bestand der Kultur in steigendem Maß« gefährde.38 Im Gegensatz zu Thomas Hobbes war für Horkheimer die »natürliche Wirklichkeit« nicht die einzig wahre Erkenntnis. Sozial komplexe Gebilde wie Staat und Gesellschaft stellten für ihn keine natürlichen Wirklichkeiten dar. Denn wie könne, so Horkheimer, der mechanistische Ansatz erklären, »wie die moralischen, metaphysischen, religiösen Vorstellungen überhaupt zustande gekommen sind, wie die Überzeugung von der Existenz unnatürlicher und jenseitiger Gegenstände die Menschen Jahrtausende lang beherrschen konnte«?39

Kunst, Religion, Moral und Philosophie sah er als Elemente des Geisteslebens. Aufgabe der Philosophie sei es hierbei, zu erfassen, »wie das ›Geistesleben‹ durch die menschliche Tat hindurch sich auf allen Kulturgebieten schöpferisch ent33 Horkheimer, Über Kants Kritik der Urteilskraft, S.139-144. 34 Vgl. Herbert Schnädelbach, Hegel zur Einführung. München 1999, S.49. 35 Gelb war ab 1929 Direktor des Frankfurter Psychologischen Instituts. 1931 erhielt er einen Ruf an die Universität Halle und leitete dort das von ihm aufgebaute Psychologische Seminar. Siehe Mitchell G. Ash, Gestalt Psychology in German Culture, 1890-1967: Holism and the Quest for Objectivity. Cambridge 1998 [1995], S.275-283. 36 Horkheimer, Zur Antinomie der teleologischen Urteilskraft, S.67f. 37 Max Horkheimer, Hans Driesch. Zum 60. Geburtstag [1927], in: ders., Philosophische Frühschriften 1922-1932, S.158-161, hier: S.159. 38 Max Horkheimer, Rudolf Eucken. Ein Epigone des Idealismus [1926], in: ders., Philosophische Frühschriften 1922-1932, S.154-157, hier: S.155. 39 Max Horkheimer, Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie [1930], in: ders., Philosophische Frühschriften 1922-1932, S.179-268, hier: S.222.

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wickelt.«40 Dies jedoch müsse mit der »Praxis der realen Existenz« verbunden werden, da der Ansatz sonst rein äußerlich bleiben würde.41 Am IfS arbeiteten auch Gelehrte wie Löwenthal, der ähnlich wie Martin Buber, Franz Rosenzweig, Walter Benjamin und Ernst Bloch eine Erneuerung des deutschen Judentums anstrebte. Ziel war eine neue und andere deutschjüdische Identität, die weder von Assimilation noch Zionismus, weder von traditioneller mosaischer Religiosität noch vollständig von Säkularität und auch nicht vom Leitmuster eines rationalistisch-liberalen Bildungsideals geprägt sein sollte.42 Als »modern Jewish messianism: radical, uncompromising, and comprised of an esoteric intellectualism that is as uncomfortable with the Enlightenment as it is enamored of apocalyptic visions – whether revolutionary or purely redemptive in the spiritual sense«43 beschreibt Anson Rabinbach dieses Konzept deutsch-jüdischer intellektueller Identität. Anders als bei Buber, Rosenzweig oder Löwenthal drückte sich der theologische Aspekt bei Horkheimer nur in moralischer Hinsicht aus: In den 1920er und frühen 1930er Jahren wollte dieser mit Marx Hegelschen Geist und Freudsche Psyche an die materiellen politisch-ökonomischen Bedingungen binden, jedoch nicht nach theologischen Denkmöglichkeiten suchen. Dennoch hielt er religiös-moralische Werte wie Nächstenliebe und Solidarität hoch, die er in einer historischen Zeit situierte, als diese noch nicht zur Ideologie geworden seien.44 Der »Traum von der Utopie«, die, wie Löwenthal retrospektiv schrieb, »die unmenschliche in eine menschliche Gesellschaft umwandelt, wozu auch die Befreiung mit der Natur zu gehören hätte«,45 sowie Glück und Liebe als Grundvoraussetzungen für eine gerechte Gesellschaft durch die Abschaffung der durch den Kapitalismus bedingten sozialen Ungerechtigkeit waren auch für Horkheimer richtungsweisend.46 Als Ziel hatte er eine »rational organisierte sozialisti40 41 42 43

Horkheimer, Rudolf Eucken, S.156. Ebd., S.157. Reichert, Die unendliche Aufgabe, S.159f. Anson Rabinbach, In the Shadow of Catastrophe: German Intellectuals between Apocalypse and Enlightenment. Berkeley/Los Angeles/London 2000 [1997], S.28. Vgl. Später, Siegfried Kracauer, S.83-87. Zu Löwenthals jüdischer Sozialisation und der anderer IfS-naher Gelehrter siehe Jack Jacobs, The Frankfurt School, Jewish Lives, and Antisemitism. Cambridge 2015, 12-42. 44 Horkheimer, Dämmerung, S.314, S.414f.; ders., Geschichte und Psychologie [1932], in: ders., Schriften 1931-1936, S.48-69, hier: S.63. Zu Horkheimers jüdischem Hintergrund siehe Jacobs, The Frankfurt School, S.7-12. 45 Löwenthal, Ich will den Traum von der Utopie nicht aufgeben, S.175. 46 Horkheimer, Dämmerung, S.315f., 318-320, 361.

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sche Gesellschaft«47 vor Augen. Dazu habe eine Veränderung der politisch-ökonomischen Verhältnisse der gegenwärtigen Gesellschaft zu erfolgen,48 die deshalb möglich sei, weil diese historisch seien und keinem Naturgesetz unterlägen.49 Dass die Menschen diese bessere Seinsmöglichkeit nicht erkannten, lag für Horkheimer an der Verschleierung ihres Bewusstseins durch Ideologie. Seine frühe Ideologiekritik argumentierte entsprechend historisch-materialistisch: Ideologie verdeckte für Horkheimer die historisch-sozialen Zusammenhänge von ökonomisch-politischen Herrschaftskonstellationen, die ans Licht zu bringen seien.50 Er sah in ihr nicht nur einfache Verblendung in dem Sinne wie etwa Hobbes, also als von Menschen erfundene Glaubenssätze zur Beherrschung der Ungebildeten, die mit Vernunft, Wissenschaft und Naturrecht entkräftet werden könne.51 Vielmehr betonte er im Rückgriff auf Hegel, dass es sich hierbei um religiöse, metaphysische, moralische Vorstellungen handele, die der Struktur der jeweiligen Gesellschaft entstammten und deshalb systematisch nur aus ihr heraus erklärt werden müssten.52 Aufgabe der Wissenschaft war Horkheimers Ansicht nach, »diese Kulturprodukte als Oberflächenerscheinung der Geschichte wahrzunehmen und die naturhaften, triebmäßigen, sozialen Zusammenhänge zu begreifen, aus denen sie hervorgegangen sind und die sich in ihnen reflektieren.«53 Aus dieser Perspektive wird verständlich, weshalb sich Horkheimer so vehement gegen Mannheims Ideologiebegriff wandte. Für ihn verkehrte der wissenssoziologische Ideologiebegriff denjenigen von Marx ins Gegenteil, weil sich dem Wissenssoziologen im »Wandel der geistigen Gestaltungen« allmählich »das Wesen des Menschen« offenbare.54 Seine Kritik an Mannheim richtete sich dabei nicht nur gegen dessen teleologische Geschichtsphilosophie, die er als »Nachfolgerin der klassischen idealistischen Philosophie« aburteilte, sondern auch gegen dessen, von Max Scheler beeinflusste Sprache, die Spuren »göttlichen Gehaltes« aufweise.55 Mannheims Konzept sei deshalb widersprüchlich, weil einerseits die »Möglichkeit eines ewigen, in sich ruhenden jenseitigen Wesens« heftig bestritten werde – für Mannheim gab es keine Wahrheiten, alle Theorien, so auch diejenigen Marx’ und Hegels, betrachtete er als historisch geprägte und daher rela-

47 Ebd., S.362. 48 Max Horkheimer, Ein neuer Ideologiebegriff? [1930], in: ders., Philosophische Frühschriften 1922-1932, S.271-294, hier: S.271. 49 Horkheimer, Dämmerung, S.321f., 325f.; ders., Materialismus und Moral [1933], in: ders., Schriften 1931-1936, S.111-149, hier: S.126. 50 Vgl. Horkheimer, Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie, S.191. 51 Ebd., S.222-226, 229. 52 Ebd., S.233. 53 Ebd., S.264. 54 Horkheimer, Ein neuer Ideologiebegriff?, S.276. 55 Ebd., S.279f.

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tive Wahrheitslehren56 –, andererseits der Geschichte ein einheitlicher, positiv bewertbarer Sinn zugesprochen und damit auf einer christlichen Gotteslehre aufgebaut werde. Mannheims Lehre könne deshalb nicht »ohne den Halt einer dogmatischen Metaphysik« auskommen.57 Damit deuteten sich bereits jene idiomatischen und voranalytisch-sozialphilosophischen Elemente an, aus denen der spätere Denkstil am IfS hervorging: Einer vorgeblich neutralen Wissenschaft sollte abgeschworen werden. Stattdessen sollten die als das unwahre Ganze bezeichnete gesellschaftliche Totalität in ihrer Widersprüchlichkeit sowie die daraus resultierenden Fragen nach den Mechanismen und Ursachen für soziale Ungleichheit kritisch erforscht werden58 – oder in den Worten Horkheimers: »Als ihr letztes Ziel gilt danach die philosophische Deutung des Schicksals der Menschen, insofern sie nicht bloß Individuen, sondern Glieder einer Gemeinschaft sind.«59 Der Generierung sozialwissenschaftlichen Wissens sollte eine mögliche Veränderung der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse durch dasselbe inhärent sein.60 Schließlich seien in der Moderne »die Hilfsmittel der Menschheit groß genug geworden, daß ihre angemessene Verwirklichung als unmittelbare geschichtliche Aufgabe gestellt ist.«61 Dieser Ansatz, der im Kern ein solidarisches Verhältnis unter den Menschen antizipierte, ist nicht zu verwechseln mit der Lehre des Pragmatismus. Horkheimer sah klar, dass die »Prüfung der Wahrheit eines Urteils […] etwas anderes [ist] als die Prüfung seiner Lebenswichtigkeit.« Denn keinesfalls »haben gesellschaftliche Interessen über die Wahrheit zu entscheiden, sondern es gelten Kriterien, die

56 In seiner Kritik gab Horkheimer die Argumente Mannheims arg verkürzt wieder. Letzterer versuchte in seiner Studie Ideologie und Utopie darzulegen, dass Denken situativ, d.h. generationell und sozial gebunden war. In diesem Sinne gab es in Mannheims Wissenssoziologie nur einen relativen Wahrheitsbegriff. Vgl. Karl Mannheim, Ideologie und Utopie, 8. Aufl. Frankfurt am Main 1995 [1929], S.7f. Horkheimer wird sich daran gestört haben, dass Mannheim die Existenz eines wahren, über der Ideologie stehenden Denkens verneinte. Siehe auch Adornos 1937 geschriebener, aber erst 1953 publizierter kritischer Aufsatz über Mannheims Wissenssoziologie, der einer ähnlichen Argumentationsstruktur folgt. Vgl. Theodor W. Adorno, Das Bewusstsein der Wissenssoziologie [1937/53], in: ders., Kulturkritik und Gesellschaft I. Prismen, Ohne Leitbild, hrsg. v. Rolf Tiedemann, unter Mitwirkung v. Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz (Gesammelte Schriften, Bd.10.1). Frankfurt am Main 2003, S.31-46. 57 Horkheimer, Ein neuer Ideologiebegriff?, S.280f. 58 Dahmer, Faschismustheorie(n) der »Frankfurter Schule«, S.79f. 59 Horkheimer, Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie, S.33. 60 Walter-Busch, Geschichte der Frankfurter Schule, S.47-52; Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, S.71. 61 Horkheimer, Materialismus und Moral, S.138.

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sich im Zusammenhang mit dem theoretischen Fortschritt entwickelt haben.«62 Er rekurrierte auf eine Autonomie der geistigen Wahrheitsfindung und verknüpfte diese mit einer Analyse ihrer materiell-ökonomischen Bedingungen. Das philosophische Idiom des Denkkollektivs um Horkheimer konstituierte sich demnach aus der Grundannahme, die bürgerlich-moderne Gesellschaft sei von einer Ungleichheit der Herrschaftsverhältnisse gekennzeichnet. Diese wiederum sei aus der kapitalistischen Korrumpierung eines ehemals freiheitlich-individualistischen Bewusstseins hervorgegangen, ihre Ausprägungen seien im Rückgriff auf die Freudsche Psychologie als durch die bürgerlich-kapitalistische Ideologie unterdrückte Triebhaushalte zu erkennen. Die genannten Elemente bestimmten auch die idiomatischen Rückbindungen der Institutsmitarbeiter. Übersetzt in die Flecksche Theoriesprache handelt es sich hierbei um »aktive Kopplungen« des Denkkollektivs um Horkheimer, um Anschauungen, die als denkstilgebundene Setzungen nicht mehr hinterfragt wurden.63 Ihren sprachlichen Niederschlag fanden sie in Aufsätzen der Mitglieder dieses Denkkollektivs in der hauseigenen Zeitschrift für Sozialforschung. Horkheimer brachte diese mit dem Begriff »Sozialforschung« auf einen Nenner, sollten sie doch »die Theorie der gegenwärtigen Gesellschaft als ganzer fördern«.64 So untersuchte im ersten Jahrgang der Zeitschrift Pollock den Prozess der »Zerrüttung der Kapitalmärkte« im gegenwärtigen Kapitalismus und lotete die Möglichkeit einer »planwirtschaftlichen Neuordnung« aus.65 Erich Fromm publizierte ein Grundsatzpapier über »Methode und Aufgabe einer analytischen Sozialpsychologie«, in dem er insbesondere darauf hinwies, dass mit der Psychoanalyse »private und kollektive Ideologien als Ausdruck bestimmter, trieblich verankerter Wünsche und Bedürfnisse entlarvt und auch in den ›moralischen‹ und ideellen Motiven verhüllte und rationalisierte Äußerungen von Trieben«

62 Horkheimer, Bemerkungen über Wissenschaft und Krise, S.40. Siehe auch Lenhard, Friedrich Pollock, S.33, 60, 283f. 63 Fleck, Entstehung und Entwicklung, S.41. Siehe dazu Robert S. Cohen/Thomas Schnelle, Introduction, in: dies. (Hrsg.), Cognition and Fact: Materials on Ludwik Fleck (Boston Studies in the Philosophy of Science, Bd.87). Dordrecht u.a. 1986, S. ix-xxi, hier: S. xxx. 64 Max Horkheimer, Vorwort [zu Heft 1/2 des I .Jahrgangs der Zeitschrift für Sozialforschung] [1932], in: ders., Schriften 1931-1936, S.36. Vgl. Wolfgang Bialas, Geschichtsphilosophie in kritischer Absicht im Übergang zu einer Teleologie der Apokalypse. Die Frankfurter Schule und Geschichte. Frankfurt am Main u.a. 1994, S.11-15, 23-25, 52f. 65 Friedrich Pollock, Die gegenwärtige Lage des Kapitalismus und die Aussichten einer planwirtschaftlichen Neuordnung, in: Zeitschrift für Sozialforschung 1 (1932) 1/2, S.8-27.

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ausgemacht werden könnten.66 Grossmann wiederum zeigte mit Marx das Illusorische des vorgeblich die Preise der Waren bestimmenden Zirkulationsprozesses in der kapitalistischen Wirtschaftsform auf, deren konkrete Erscheinungen er herausarbeitete.67 Geistes- und kulturwissenschaftliche, sozial- und gestaltpsychologische sowie historisch-materialistische Ansätze – Philosophie, Psychologie, Soziologie, Ökonomie und Geschichte, also »wirtschaftliches Leben der Gesellschaft«, »psychische Entwicklung der Individuen« und »Veränderungen auf den Kulturgebieten«68 – sollten in eine fruchtbare Beziehung zueinander gebracht werden.69 Aus der Retrospektive scheint Horkheimer damit eine Antwort auf die von Kurt Riezler (1928) und Ludwik Fleck (1929) formulierte Frage gegeben zu haben, worauf wissenschaftliches Erkennen nach den neuesten physikalischen und geisteswissenschaftlichen Entwicklungen basieren sollte.70 Er selbst wandte sich von Relativismus wie Historismus ab und einer neuen Wertlehre zu, die nicht geschichtsphilosophisch-teleologisch oder metaphysisch,71 sondern geistesgeschichtlich-psychologisch, soziologisch und materialistisch-ökonomisch angelegt sein sollte. Eine Verengung der zeitgenössischen Wissenschaft auf die Teilrationalitäten ihrer ausdifferenzierten Disziplinen und Fächer wollte er damit vermeiden. Der »chaotische[n] Spezialisierung der Fachdisziplinen« setzte Horkheimer eine Zusammenführung von Philosophie und Wissenschaften entgegen, wobei er philosophisches Denken von Wissenschaft als systematischmethodologischer Erkenntnispraxis unterschied. Nur durch die Kombination

66 Erich Fromm, Über Methode und Aufgabe einer analytischen Sozialpsychologie, in: Zeitschrift für Sozialforschung 1 (1932) 1/2, S.28-54, hier: S.28. 67 Henryk Grossmann, Die Wert-Preis-Transformation bei Marx und das Krisenproblem, in: Zeitschrift für Sozialforschung 1 (1932) 1/2, S.55-84, hier: S.55f. 68 Horkheimer, Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie, 43. Vgl. Hans-Joachim Dahms, Positivismusstreit. Die Auseinandersetzungen der Frankfurter Schule mit dem logischen Positivismus, dem amerikanischen Pragmatismus und dem kritischen Rationalismus. Frankfurt am Main 1994, S.45. 69 Vgl. Horkheimer, Dämmerung, S.367f. 70 Siehe dazu Otto Gerhard Oexle, Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit. Eine Problemgeschichte der Moderne, in: ders. (Hrsg.), Krise des Historismus  – Krise der Wirklichkeit. Wissenschaft, Kunst und Literatur 1880-1932 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd.228). Göttingen 2007, S.11116. Nicht zuletzt hatte Horkheimer einen seiner programmatischen Aufsätze »Bemerkungen über Wissenschaft und Krise« benannt, der 1932 in der Zeitschrift für Sozialforschung abgedruckt wurde. Siehe Wolfgang Bonß/Norbert Schindler, Kritische Theorie als interdisziplinärer Materialismus, in: Bonß/Honneth (Hrsg.), Sozialforschung als Kritik, S, 31-66, hier: S.33f. 71 Horkheimer, Dämmerung, S.328, 442.

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beider Denksysteme könne ihrer Ideologisierung begegnet werden.72 Sein Forschungsprogramm durfte deshalb nicht positivistisch sein. Denn wie es Niels Bohr mit seinem »Quantenpostulat« und Gaston Bachelard aus historischepistemologischer Perspektive mit dem Begriff der »Phänomenotechnik« auf den Punkt brachten,73 forderte »jede Beobachtung atomarer Phänomene eine nicht zu vernachlässigende Wechselwirkung mit dem Messungsmittel«. Es könne also weder »den Phänomenen noch dem Beobachtungsmittel« eine »selbständige physikalische Realität im gewöhnlichen Sinne zugeschrieben werden«.74 Die Techniken der Sozialforschung formten die Untersuchungsgegenstände, jene »passiven Kopplungen« nach Ludwik Fleck, mit, weil sie immer mit der subjektiven Position des Forschers selbst verbunden waren.75 Wie dies – allerdings mit anderen Akzenten – schon das Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik unter Edgar Jaffé, Werner Sombart und Max Weber 1904 postuliert hatte,76 umfasste Horkheimers holistisch-kollektive Erforschung der modernen Gesellschaft und insbesondere der gesellschaftlichen Funktion von Ideologie77 mehrere Erkenntnisziele:78 Unter dem Dach einer linkshegelianischen, die Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft einschließenden Philosophie wollte er Repräsentanten der Nationalökonomie, Soziologie, empirischen Sozialforschung, Psychologie, Geschichte, Literaturwissenschaft sowie Kunst- und Medienkritik zu einer dauernden Arbeitsgemeinschaft zusammenbinden. Diese sollte »anhand der feinsten wissenschaftlichen Metho-

72 Zitiert nach: Wolfgang Bonß, Kritische Theorie und empirische Sozialforschung: Anmerkungen zu einem Fallbeispiel, in: Erich Fromm, Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches. Eine sozialpsychologische Untersuchung, bearb. und hrsg. v. Wolfgang Bonß. Stuttgart 1980 [1929], S.7-46, hier: S.23. 73 Vgl. Gaston Bachelard, Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes. Beitrag zu einer Psychoanalyse der objektiven Erkenntnis, übers. v. Michael Bischoff, mit einer Einleitung v. Wolf Lepenies. Frankfurt am Main 1987 [1938], S.111, 309. Vgl. HansJörg Rheinberger, Gaston Bachelard und der Begriff der ›Phänomenotechnik‹, in: Marc Schalenberg/Peter Th. Walther (Hrsg.), »…  immer im Forschen bleiben!« Rüdiger vom Bruch zum 60. Geburtstag. Stuttgart 2004, S.297-310. 74 Ludwik Fleck, Zur Krise der »Wirklichkeit« [1929], in: ders., Erfahrung und Tatsache, S.46-58, hier: S.52. 75 Max Horkheimer, Materialismus und Metaphysik [1932], in: ders., Schriften 19311936, S.70-105, hier: S.88. 76 Hübinger, Engagierte Beobachter, S.32-35. 77 Horkheimer, Dämmerung, S.328. 78 Wolfgang Bonß nennt Horkheimers Wissenschaftsprogramm »interdisziplinärer Materialismus«. Vgl. Wolfgang Bonß, The Program of Interdisciplinary Research and the Beginning of Critical Theory, in: Benhabib/ders./McCole (Hrsg.), On Max Horkheimer, S.99-125, hier: S.100, 111-115.

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den« die »aufs Große zielenden philosophischen Fragen« verfolgen.79 Dies erlaube, sich der gesellschaftlichen Wirklichkeit so präzise wie möglich anzunähern. Für Horkheimer bestand »in der Gegenwart die Möglichkeit, die Abhängigkeiten des Charakters aus den gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen ein bestimmtes Individuum sich vorfindet und entwickelt, wissenschaftlich weitgehend zu erklären.«80 Falsches Bewusstsein der Menschen konnte seiner Ansicht nach »am Stand der wirklichen Wissenschaft entlarvt« werden. Die habe jedoch nicht im Sinne eines Szientismus vorzugehen, der bestimmte Ideen als bloße Irrtümer aburteile, sondern durch eine historisch-strukturelle Analyse des gesellschaftlichen Zusammenhangs dieser Ideologeme.81 Nach diesen methodisch-epistemologischen Grundlinien richteten die Wissenschaftler am IfS ihre Erkenntnisinteressen und Praktiken aus.82 Sie orientierten sich dabei an dem, was Horkheimer 1934 unter »Theorie« verstand, nach der sich das »vernünftige Handeln richtet« und mit der unter Einbeziehung »aller Einzelwissenschaften ein Bild des gesellschaftlichen Lebensprozesses« nachgezeichnet werden könne, »das zur tiefgreifenden Erkenntnis des kritischen Weltzustands und der Ansatzmöglichkeiten für eine vernünftigere Ordnung führen kann.«83 Die Frankfurter Institutsmitarbeiter – neben Horkheimer und Pollock waren das unter anderem Fromm, Löwenthal, Grossmann, Herbert Marcuse, Otto Kirchheimer, Franz Neumann und Karl August Wittfogel  – begannen, dieses Programm umzusetzen. Auch dem IfS nahestehende Wissenschaftler lieferten Beiträge für die 1933 erstmals erschienene Zeitschrift für Sozialforschung, so Theodor Wiesengrund, der seinen Namen mit der Erlangung der amerikanischen Staatsbürgerschaft 1943 in Theodor W. Adorno umwandeln sollte, um nicht als Jude erkannt zu werden,84 und Walter Benjamin. Die dabei zutage tretenden unterschiedlichen Auffassungen von Sozialforschung wurden »durch die Absicht zusammengehalten, daß sie die Theorie der gegenwärtigen Gesellschaft als ganzer fördern sollen.«85 Dabei handelte es sich um philosophisch-ästhetische Studien wie Adornos Aufsatz »Zur gesellschaftlichen Lage der Musik«, literatursoziologische Arbeiten Löwenthals sowie philosophische, 79 Horkheimer, Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie, S.41. Vgl. Dubiel, Wissenschaftsorganisation und politische Erfahrung, S.149; Jay, The Dialectical Imagination, S.21, 25. 80 Horkheimer, Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie, S.202. 81 Ebd., S.233. 82 Vgl. Fleck, Entstehung und Entwicklung, S.124. 83 Max Horkheimer, Zum Rationalismusstreit in der gegenwärtigen Philosophie [1934], in: ders., Schriften 1931-1936, S.163-220, hier: S.214. 84 David Jenemann, Adorno in America. Minneapolis/London 2007, S.183; Lenhard, Friedrich Pollock, S.148f. 85 Horkheimer, Vorwort [zu Heft 1/2 des I .Jahrgangs der Zeitschrift für Sozialforschung], S.36.

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sozialpsychologische, ökonomische und soziologische Untersuchungen von Andries Sternheim, Grossmann und Gumperz.86 Die Zeitschrift für Sozialforschung fungierte als Medium dieser kollektiv verbindlichen idiomatischen, den Denkstil am IfS formierenden aktiven und passiven Kopplungen. Die darin publizierten Artikel spiegelten die enge Zusammenarbeit der IfS-Mitarbeiter, die ihre Aufsätze gegenseitig lasen, kritisierten und diskutierten.87 Das IfS führte auch sozialempirische Untersuchungen durch, so etwa die von Fromm, dem Leiter der sozialpsychologischen Abteilung des IfS, von 1929 bis 1932 betreute und von Hilde Weiß unterstützte Berliner Arbeiter- und Angestelltenstudie. Wie Weil schrieb, bezog sich diese »nicht bloß auf Fragen wirtschaftlicher Natur«, sondern erfasste auch »in erheblichem Umfang psychologische und weltanschauliche Tatbestände«, um »neue soziologische Typen zu bilden« und über die »Beziehungen zwischen materieller Lage und Bewußtseinsstruktur Auskunft« zu geben.88 Bei dieser ersten sozialempirischen Studie des IfS sollten laut Horkheimer die »veröffentlichten Statistiken, Berichte von Organisationen und politischen Verbänden, das Material der öffentlichen Körperschaften« durchgesehen werden. Darüber hinaus waren auch Zeitungsartikel und Belletristik zu analysieren, die Rückschlüsse auf die psychische Lage der Arbeiter und Angestellten zuließen. Dem sollten sich die »verschiedenartigsten Enquêteverfahren« anschließen, wobei die »Fragebogenmethoden auf mannigfache Weise in unsere Untersuchungen eingegliedert werden und wertvolle Dienste leisten, wenn man nur immer weiß, daß induktive Schlüsse aus ihnen allein voreilig sind.«89 Jede dieser Methoden sei für sich allein unzureichend, nur »sie alle zusammen können in Jahren geduldiger und ausgedehnter Forschungen vielleicht […] fruchtbar werden«.90 Der für die späten 1920er und frühen 1930er Jahre ausgesprochen ambitionierten Arbeiter- und Angestelltenstudie folgten weitere Studien des IfS.91 Ihre zentrale Frage war laut Fromm, »in welcher Weise der seelische Apparat verursachend oder bestimmend auf die gesellschaftliche Entwicklung oder Gestaltung der Gesellschaft gewirkt hat«.92 Sie drängte sich deshalb auf, weil einerseits durch die Integration der SPD in die Staatsregierung das »Proletariat als naturwüchsiger Träger der gesellschaftlichen Veränderung scheinbar verloren« gegangen war. Andererseits wirkten im Erhebungszeitraum zunehmend nationalistische und faschistische Tendenzen auch auf die Arbeiter86 Zeitschrift für Sozialforschung 1 (1932), Inhaltsverzeichnis. Vgl. Horkheimer, Vorwort [zu Heft 1/2 des I .Jahrgangs der Zeitschrift für Sozialforschung], S.37. 87 Vgl. Schneider, Keine Kritische Theorie ohne Leo Löwenthal, S.7f., 17-25. Vgl. auch Löwenthal, Mitmachen wollte ich nie, S.94-96. 88 Weil, Erinnerungen, Bl.77. 89 Horkheimer, Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie, S.44. 90 Ebd. S.45. 91 Bonß, Kritische Theorie und empirische Sozialforschung, S.7, 16-23. 92 Zitiert nach: ebd., S.7.

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klasse ein.93 Fromm leitete aus dieser Studie drei mit der jeweiligen gesellschaftlichen Lage in Beziehung stehende Charaktertypen ab: den zum Konservatismus neigenden »autoritär-masochistische[n]«, den genital orientierten, dem Sozialismus zusprechenden revolutionären und den ambivalenten Charakter, dem er eine liberale Haltung attestierte.94 Zwar betonte Pollock später, dass das IfS bei dieser Untersuchung Methoden anwandte, die in den Vereinigten Staaten gängig gewesen seien, wie zum Beispiel ausgefeilte Fragebögen.95 Diese Einschätzung traf jedoch eher auf die 1930 begonnene und wegweisende sozialempirische Untersuchung Die Arbeitslosen von Marienthal von Marie Jahoda, Paul F. Lazarsfeld und Hans Zeisel zu.96 Für die Arbeiter- und Angestelltenstudie knüpfte Fromm methodisch eher an deutsche Forschungstraditionen an, deren Verfahren er produktiv weiterentwickelte. Ein umfangreicher Fragebogen mit 271 Positionen wurde entworfen und von diesem 3.300 Exemplare verteilt. Allerdings kamen bis 1931 nur 1.100 Fragebögen zurück. Durch die Emigration gingen von diesen weitere verloren. 1934 waren nur noch 584 vorhanden.97

5.2. Ein neuer deutsch-amerikanischer Denkstil Das Denkkollektiv um Horkheimer erkannte durch die Untersuchung der ideologischen Lage der deutschen Arbeiter und Angestellten früh, dass sich der Faschismus in Deutschland etablieren würde.98 In ihrem Hauptergebnis wies die Studie eine Diskrepanz zwischen den politischen Einstellungen und den latenten Charakterstrukturen nach. Politische Einstellungen korrelierten nicht mit den von Fromm herausgearbeiteten psychologischen Charaktertypen.99 Gerade der aus marxistischer Sicht positiv konnotierte revolutionäre Charaktertyp war zu schwach ausgeprägt und seine politische Einstellung zu unklar, als dass er dem als radikale Ausformung des Autoritarismus angesehenen Nationalsozialismus 93 94 95 96 97 98

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Ebd., S.10. Ebd., S.35, 37. Abromeit, Max Horkheimer, S.282, 215. Bonß, Kritische Theorie und empirische Sozialforschung, S.22. Ebd., S.7f. UBA Ffm, Na 1, 36, Bl.216f.: Leo Löwenthal an Heinrich Meng vom 19.01.1937, Bl.216. Vgl. Burkhard Bierhoff, Erich Fromm. Analytische Sozialpsychologie und visionäre Gesellschaftskritik. Opladen 1993, S.38. Nach Ulrich Herbert waren die Arbeiter als Gruppe innerhalb der NSDAP zwar unterrepräsentiert, sie bildeten aber insgesamt die größte Gruppe unter den Parteimitgliedern. Retrospektiv erwies sich die Einschätzung der ideologischen Lage der deutschen Arbeiter und Angestellten durch das IfS als zutreffend. Vgl. Herbert, Geschichte Deutschlands, S.286. Bonß, Kritische Theorie und empirische Sozialforschung, S.35, 37.

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hätte Einhalt gebieten können.100 Anders gesagt: Nur der Autoritarismus konnte die Stabilität der bürgerlichen Gesellschaft noch garantieren.101 Laut Löwenthal fiel die Entscheidung für Vorbereitungen zur Emigration am 14.  September 1930. Bei den an diesem Tag stattfindenden Reichstagswahlen kamen die Nationalsozialisten auf 107 Mandate  – ein massiver Stimmengewinn, der die sozialempirischen Untersuchungsergebnisse aus der Arbeiter- und Angestelltenstudie bestätigte. Bereits 1931 transferierten Weil, Horkheimer, Pollock und Löwenthal das Stiftungsvermögen des IfS in die Niederlande.102 Horkheimer und seine engeren Mitarbeiter sowie, als einer der letzten, Löwenthal verließen in den Folgemonaten Frankfurt.103 Die finanzielle Unabhängigkeit des Instituts sowie das weit verzweigte soziale Netzwerk Horkheimers und Pollocks  – etwa zur in Genf ansässigen Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) – ermöglichten die Gründung von Zweigstellen des IfS in Genf und, mithilfe des Centre de Documentation der École Normale Supérieure, in Paris. Ein in London eröffnetes Büro galt als Ausweichort für den Fall, dass sich die politische Situation auch in der Schweiz und in Frankreich verschärfen würde.104 Adorno, der von der Flucht der IfS-Mitarbeiter nicht unterrichtet war, blieb auch nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten in Deutschland. Obwohl er am 11. September 1933 seine Lehrbefugnis verlor und die Polizei im Sommer gleichen Jahres seine Wohnung durchsuchte, sah er sich als »Halbjude«  – so seine Kategorisierung nach den »Rassegesetzen« von 1935  – noch nicht unmittelbar gefährdet.105 Er habe die politische Lage, so Adorno retrospektiv, 1933 schlicht falsch eingeschätzt, weshalb er seine Emigration nur zögerlich und widerwillig vorbereitete.106 Noch 1934 diente er sich dem NS-Regime an: Für Baldur von Schirachs Amtliches Mitteilungsblatt der Reichsjungendführung verfasste er eine wohlwollende Musikrezension. Dies machte ihm 1962/63 Claus Christoph Schroeder in einem offenen Brief in der Frankfur100 Ebd., S.38. 101 Carsten Schmidt, Der autoritäre Charakter. Erich Fromms Beitrag zu einer politischen Psychologie des Nationalsozialismus (Politikwissenschaft, Bd.162). Berlin 2009, S.14. Vgl. Jeffries, Grand Hotel Abyss, S.126. 102 Löwenthal, Mitmachen wollte ich nie, S.67f. Die sichere Verlagerung des Institutsvermögens nach dessen Emigration in die Vereinigten Staaten war nicht ohne Schwierigkeiten und Querelen abgelaufen, die u.a. aus Erbstreitigkeiten zwischen Felix Weil und seinen Verwandten herrührten. Vgl. dazu detailliert Heufelder, Der argentinische Krösus, S.130-138; Lenhard, Friedrich Pollock, S.124. 103 Später, Siegfried Kracauer, S.282. 104 Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, S.147-153. Vgl. Heufelder, Der argentinische Krösus, S.116f.; Löwenthal, Mitmachen wollte ich nie, S.71; Lenhard, Friedrich Pollock, S.105, 124, 126, 138f., 141, 145. 105 Jäger, Adorno, S.114f. 106 Jacobs, The Frankfurt School, S.56f.; Jäger, Adorno, S.128.

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ter Studierendenzeitschrift Der Diskus zum Vorwurf.107 Adorno reagierte darauf im Januar 1963, indem er seine Rezension bedauerte: »Anstößig ist vor allem, dass es sich um Gedichte von Schirach handelt. […] Der wahre Fehler lag in meiner falschen Beurteilung der Lage; wenn Sie wollen, in der Torheit dessen, dem der Entschluss zur Emigration unendlich schwer fiel.«108 Nach Drangsalierungen durch die Geheime Staatspolizei (Gestapo) ging Adorno schließlich 1934 mithilfe des Academic Assistance Councils ans Merton College an der Oxford University. Hier begann er als Advanced Student mit der Arbeit an einer zweiten Dissertation in englischer Sprache.109 In Genf arbeiteten Horkheimer, Fromm und Löwenthal mit zahlreichen weiteren Wissenschaftlern wie dem niederländischen Soziologen Andries Sternheim, Marie Jahoda-Lazarsfeld, Herbert Marcuse, Hans Mayer, Paul Honigsheim, Gottfried Salomon und Karl August Wittfogel an einer neuen sozialempirischen Untersuchung, den Studien über Autorität und Familie.110 Diese folgte dem methodischen Konzept Horkheimers und umfasste historische, ökonomische, pädagogische und juristische Analysen sowie Vergleiche zwischen verschiedenen europäischen Staaten.111 Ziel war die autoritätskritische Herausarbeitung der Rolle der Familienverhältnisse bei der »Stärkung des Glaubens«, dass es in der Gesellschaft »immer ein Oben und Unten geben muß und Gehorsam notwendig ist«.112 Bei der 107 Universitätsarchiv Frankfurt, Goethe-Universität (UAF), Abt. 134, Nr.4, Bl.128: Der Diskus 1 (1963): Claus Chr. Schroeder, stud. phil. nat., Bad Homburg, vom 31.12.1962: Ein offener Brief. Siehe auch Jäger, Adorno, S.120f. 108 UAF, Abt. 134, Nr.4, Bl.128: Theodor W. Adorno, Offener Brief vom 03.01.1963. 109 Theodor W. Adorno an Siegfried Kracauer vom 05.07.1935, in: Theodor W. Adorno  – Siegfried Kracauer. Briefwechsel 1923-1966, hrsg. v. Wolfgang Schopf (Theodor W. Adorno. Briefe und Briefwechsel, Bd.7). Berlin 2008, S.314-318, hier: S.316. Vgl. Matthias Benzer, The Sociology of Theodor Adorno. Cambridge 2011, S.151; Müller-Dohm, Adorno, S.267, 271, 274f., 283-295; Später, Siegfried Kracauer, S.73. Vgl. Heufelder, Der argentinische Krösus, S.115; Jeffries, Grand Hotel Abyss, S.194. Adorno hatte über seinen Onkel Bernard Wingfield Kontakte nach Oxford geknüpft. Siehe Jäger, Adorno, S.126. 110 Vgl. Studien über Autorität und Familie. Forschungsberichte aus dem Institut für Sozialforschung (Schriften des Instituts für Sozialforschung, Bd.5), Reprint der Ausgabe Paris 1936, 2. Aufl. Lüneburg 1987, Inhaltsverzeichnis. Horkheimer hatte bereits 1931 Möglichkeiten sondiert, mit der IAO in Genf zusammenzuarbeiten. Vgl. Heufelder, Der argentinische Krösus, S.101f. 111 Vgl. Studien über Autorität und Familie, Inhaltsverzeichnis. 112 Max Horkheimer, Vorwort [zu den Studien über Autorität und Familie] [1936], in: ders., Schriften 1931-1936, S.329-335, hier: S.330.

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»Bedeutung für die Autorität in der gegenwärtigen Gesellschaft hat die Familie stets einen zwischen materieller und geistiger Kultur vermittelnden Faktor gebildet und bei dem regelmäßigen Ablauf und der Erneuerung des allgemeinen Lebens in der gegebenen historischen Form eine unvertretbare Rolle gespielt.«113

Das Denkkollektiv um Horkheimer sah die Auswirkung patriarchalischer Strukturen in der bürgerlichen Familie als »entscheidende Vorbereitung auf die Autorität in der Gesellschaft, die der Einzelne im späteren Leben anerkennen soll«.114 Neben der Schule, Kirche, dem Verbandswesen, dem Theater und der Presse betrachteten die Institutsmitarbeiter die Familie als Institution, die gesellschaftliche, die seelische Verfassung der Menschen bestimmende Zwänge vermittelte.115 Horkheimer betonte, dass dem IfS bei den Enqueten die »amerikanische Sozialforschung weitgehend als Vorbild gedient« habe, was sich konkret auf die Studie Middletown (1929) von Robert S. Lynd und Helen Merrell Lynd bezog.116 Aus ihren sozialempirischen, von den politischen Tagesereignissen scheinbar bestätigten Ergebnissen zogen die IfS-Mitarbeiter den Schluss, dass der Faschismus als radikalisierte autoritär-patriarchale Herrschaftsstruktur nicht nur in spezifischen nationalen Kontexten auftrat, sondern sich in ganz Europa auf dem Vormarsch befinde.117 »Bescheidung und Gehorsam« in Bezug auf die »Struktur des Wirtschafts- und Gesellschaftssystems«, vermittelt durch die patriarchalen Verhältnisse in der Familie, würden »Gruppen der Arbeiter und Angestellten« genauso wie die großbürgerlichen Schichten durchdringen.118 Die Institutsleitung suchte daraufhin Kontakt zu möglichen Allianzpartnern in den Vereinigten Staaten. Fromm und Gumperz berichteten, dass dort keine politische Machtübernahme durch faschistisch-autoritäre Bewegungen zu erwarten war.119 Dabei dürfte Horkheimer auch die Kenntnis um die deutlich stärkere Verankerung der Sozialwissenschaften an den amerikanischen Universi113 Ebd., S.335. 114 Ebd., S.330. 115 Max Horkheimer, Autorität und Familie [1936], in: ders., Schriften 1931-1936, S.336-417, hier: S.346, 355, 387f., 396. 116 Max Horkheimer, Vorwort [zu den Studien über Autorität und Familie], S.332. Zu den sozialwissenschaftlichen Methoden, die bei der Middletown-Studie angewandt wurden, siehe Igo, The Averaged American, S.23-67. 117 Horkheimer, Autorität und Familie, S.373. Vgl. Jacobs, The Frankfurt School, S.43; Jay, The Dialectical Imagination, S.37; Wiggershaus, Max Horkheimer, S.79. 118 Horkheimer, Autorität und Familie, S.398. 119 Jay, The Dialectical Imagination, S.38-40; Lenhard, Friedrich Pollock, S.86-89, 148; Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, S.161-165. Vgl. Heufelder, Der argentinische Krösus, S.78, 125.

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täten angetrieben haben. In Deutschland standen diese Anfang der 1930er Jahre noch unter der Vormundschaft der Nationalökonomie. Auch die methodologische Entwicklung der empirischen Sozialforschung fiel hier hinter den amerikanischen Standard zurück.120 Fromm und Gumperz, der amerikanischer Staatsbürger war, nahmen Kontakt mit Sozialwissenschaftlern der angesehenen Columbia University in New York auf. Es gelang ihnen, Nicholas Murray Butler, den Präsidenten der Universität, sowie Robert Lynd und Robert McIver für das IfS zu interessieren. Von dessen Angliederung an die Graduate Faculty for Political Science, der ehemaligen University in Exile, versprach sich vor allem Lynd eine disziplinäre Stärkung der Soziologie an der Columbia University,121 die zu dieser Zeit noch keinen eigenständigen Fachbereich bildete. Dies sollte durch die Forcierung von Forschungen gelingen, in denen neue sozialwissenschaftliche Verfahren zur Anwendung kamen. Da die Soziologen der Columbia University in politischer Hinsicht zudem eher linksliberale und sozialreformerische Einstellungen vertraten, begrüßten sie die gesellschaftskritischen Untersuchungen des IfS in besonderem Maße und erhofften sich, davon zu profitieren.122 Hinzu kam, dass die Universitäten der Vereinigten Staaten »von der Weltwirtschaftskrise, die dort Great Depression genannt wurde und wird, derart massiv betroffen [waren], dass es zu Entlassungen, Lohnkürzungen und Aufnahmestopps in fast allen öffentlichen und privaten Universitäten kam«, wie Christian Fleck festhält.123 Ein europäisches Institut, das finanziell autonom war und der Columbia University nicht zur Last fiel, stellte also einen klaren Zugewinn dar. Die Vertreter des Denkkollektivs um Horkheimer ließen sich schließlich auf Allianzen mit amerikanischen Sozialwissenschaftlern der Columbia University ein. Zwei Übersetzungsleistungen lagen dem zugrunde: Erstens konnte Horkheimer seine sozialempirischen Forschungen und die dafür verwendeten Methoden in die amerikanische Sozialforschung übersetzen. Erleichtert wurde dies 120 Fleck, Transatlantische Bereicherungen, S.49, 186. 121 Jeffries, Grand Hotel Abyss, S.196; Ziege, Antisemitismus und Gesellschaftstheorie, S.86. Die »University in Exile« wurde unter Federführung von Alvin Johnson an der 1919 gegründeten liberalen New School for Social Research als Exiluniversität eingerichtet. Am 1.  Oktober 1933 wurde die University in Exile in Graduate Faculty of Political Science umbenannt. Sie gehörte zwar zur Columbia University, war jedoch eine autonome Institution. Siehe Später, Siegfried Kracauer, S.419f. Vgl. auch Peter M. Rutkoff/William B. Scott, New School: A History of the New School for Social Research. New York/London 1986. 122 George Steinmetz, American Sociology before and after World War II: The (Temporary) Settling of a Disciplinary Field, in: Craig Calhoun (Hrsg.), Sociology in America: A History. Chicago/London 2007, S.314-366, hier: S.324-327. 123 Christian Fleck, Etablierung in der Fremde. Vertriebene Wissenschaftler in den USA nach 1933. Frankfurt am Main/New York 2015, S.13.

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durch den positiven Bezug der IfS-Mitarbeiter auf die wegweisende Middletown-Studie in den Studien über Autorität und Familie. Zweitens wurden politische Anschauungen übersetzt. Die gesellschaftskritisch-marxistische Haltung des Denkkollektivs um Horkheimer konvergierte zwar nicht vollständig mit den linksliberalen Einstellungen der Columbia-Soziologen. Doch der dem Geist des New Deal verpflichtete Reformwille der Lynds124 ermöglichte partielle Konvergenzen mit Horkheimer. Unterstützt wurde dies durch die sowohl von Horkheimer als auch von Butler, Lynd und MacIver geteilte humanistische, die Wissenschafts-, Sprach- und Nationalkulturen übergreifende Einstellung, der zufolge Wissenschaftler und Intellektuelle zur Hilfe für in Not geratene Kollegen verpflichtet waren. Vor allem in Großbritannien und den Vereinigten Staaten halfen bereits unmittelbar nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten Wissenschaftler wie Sir William Beveridge ihren entlassenen deutschen Kollegen, indem sie Geld sammelten, Komitees gründeten und die öffentliche Meinung wie Außenpolitik ihrer Ländern zu beeinflussen suchten.125 Christian Fleck sieht in diesen Hilfshandlungen den Ausdruck einer englischen Gildensolidarität, einer auf Berufen und bestimmten Werthaltungen beruhenden Solidarmoral, mit der ein universalistisch gedachter Liberalismus verbunden sei.126 Das IfS versuchte unter Bezug darauf schon 1933 – wenn auch ohne Erfolg – die wertvollsten Bücher seiner Bibliothek an die von Beveridge geleitete London School of Economics and Political Science (LSE) zu verlagern.127 Neben der Hilfe für in Not geratene Wissenschaftler und Intellektuelle verpflichtete diese Einstellung die Sozialwissenschaftler zudem, mit ihren Forschungen das Ziel einer besseren, gerechteren und demokratischeren Gesellschaft zu verfolgen.128 Auch hierin stimmten das Denkkollektiv um Horkheimer und die ColumbiaSoziologen überein. So schrieb Horkheimer kurz nach seiner Ankunft in den Vereinigten Staaten in ausgesprochen positivem Ton an Hans Cornelius, dass den amerikanischen Wissenschaftlern »zum grossen [sic] Teil die Skepsis und das grundsätzliche Misstrauen […] jedem neuen Gedanken« gegenüber fehle. »Während dort [in Europa, F.L.] der Glaube an einen möglichen Fortschritt zur Verbesserung der menschlichen Verhältnisse fast verschwunden ist, hat hier der Durchschnitt der Menschen den Willen zu einer immer vernünftige124 Vgl. Robert S. Lynd/Helen M. Lynd, Middletown: A Study in Contemporary American Culture. New York 1965 [1929]. 125 Fleck, Etablierung in der Fremde, S.24-44, 56-66. 126 Ebd., S.46. 127 Heufelder, Der argentinische Krösus, S.107f. 128 Diese Einstellung war schon in der frühen Kritischen Theorie als Verpflichtung auf die Einrichtung einer vernünftigen Gesellschaft angelegt. Vgl. Bialas, Geschichtsphilosophie in kritischer Absicht, S.40.

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ren Einrichtung aller Verhältnisse und das Vertrauen darauf, dass es auch möglich ist, diesen Willen zu verwirklichen.«129 Ein entscheidender transatlantischer Vermittler zwischen den IfS-Mitarbeitern und den Sozialwissenschaftlern der Columbia University war der Österreicher Paul F. Lazarsfeld. Lazarsfeld kam 1933 als Stipendiat der Rockefeller Foundation, die schon die von ihm gegründete Wirtschaftspsychologische Forschungsstelle in Wien finanziert hatte, an die Columbia University.130 Der österreichisch-jüdische Sozialforscher beabsichtigte, sich in den Vereinigten Staaten mit den neuesten Methoden der amerikanischen Sozialforschung, vor allem aber mit den verfeinerten Erhebungsinstrumenten der sozialpsychologischen Marktforschung vertraut zu machen, um diese in Wien anwenden zu können. Im Juni 1934 verlängerte die Rockefeller Foundation sein Stipendium um ein weiteres Jahr.131 Als Emigrant kam Lazarsfeld, der einem vagen Jobangebot der University of Pittsburgh folgte, erst 1935 in die Vereinigten Staaten. Im Sommer des Jahres war er nochmals nach Europa zurückgekehrt. Nachdem er am 1. Oktober 1935 wieder in New York eingetroffen war, knüpfte er zunächst von Chicago aus mit verschiedenen Institutionen und Personen an der Ostküste Kontakte.132 Hierbei half ihm das IfS, das Lazarsfeld für den amerikanischen Generalkonsul in Wien eine Art Arbeitsbestätigung ausstellte, die belegte, dass er als »technical advisor for our field studies during the year 1935/36« fungieren und dafür 1.400 Dollar erhalten würde.133 Lazarsfeld, Fromm und Horkheimer hatten im Rahmen der sozialempirischen Untersuchungen des IfS in den frühen 1930er 129 UBA Ffm, Na 1, 10, Bl.351f.: Max Horkheimer an Hans Cornelius vom 15.06.1934, hier: Bl. 151. Schon Ernst Troeltsch sah zu Beginn der 1920er Jahre und in Bezug auf H.H. Wells’ Outline of History das angelsächsische Wissenschaftsverständnis ausgesprochen positiv, da dieses auf »Demokratie und Sozialismus, Volkserziehung und Selbstverantwortung, Freiheit und Organisation, positive Wissenschaft und brüderliches Weltgefühl« aufbaue. 130 Paul Neurath, Paul Lazarsfeld und die Institutionalisierung der empirischen Sozialforschung: Ausfuhr und Wiedereinfuhr einer Wiener Institution, in: Ilja Srubar (Hrsg.), Exil, Wissenschaft, Identität. Die Emigration deutscher Sozialwissenschaftler 1933-1945. Frankfurt am Main 1988, S.67-105, hier: S.77f. Vgl. Fleck, Etablierung in der Fremde, S.337. 131 Fleck, Etablierung in der Fremde, S.339, 348, 351f. 132 Ebd., S.341, 354-358. 133 Zitiert nach: ebd., S.356. Vgl. UBA Ffm, Na 1, 2, Bl.281-283: Max Horkheimer an Raymond Aron vom 30.12.1936, hier: Bl.281; UBA Ffm, Na 1, 31, Bl.235: Max Horkheimer an Paul Lazarsfeld vom 16.05.1935. Siehe auch Günter C. Behrmann, Die Theorie, das Institut, die Zeitschrift und das Buch: Zur Publikations- und Wirkungsgeschichte der Kritischen Theorie 1945 bis 1965, in: Albrecht u.a., Die intellektuelle Gründung, S.247-311, hier: S.279f.

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Jahren zusammengearbeitet. Unter anderem beriet Lazarsfeld Fromm bei der statistischen Materialerhebung für die Arbeiter- und Angestelltenstudie.134 Lazarsfeld, Jahoda und Käthe Leichter schrieben zudem an den 1936 veröffentlichten Studien über Autorität und Familie mit.135 Als ausgewiesener sozialwissenschaftlicher Empiriker, der sich in New York bereits einen Namen gemacht hatte, warb Lazarsfeld für die Aufnahme des IfS an der Columbia University.136 Er zeichnete den amerikanischen Soziologen, besonders aber seinem Mentor Robert Lynd, ein Bild dessen, was man sich unter der sozialwissenschaftlichen Forschung des IfS vorstellen müsse, nämlich handfeste sozialempirische Untersuchungen, mit denen soziale Missstände bekämpft werden sollten. Schließlich siedelte das IfS nach New York über, wo es sich nun Institute, zeitweilig auch International Institute of Social Research nannte.137 Zunächst kam es nur zu geringfügigen epistemische Veränderungen. Die finanzielle Unabhängigkeit ermöglichte dem IfS, die Zeitschrift für Sozialforschung, deren zweiter Jahrgang beim Alcan-Verlag in Paris erschien,138 weiterhin in deutscher Sprache zu publizieren. Neu war, dass die Zeitschriftenredaktion nun auch englische Literatur zur Planwirtschaft zur Kenntnis nahm und Aufsätze französischer Autoren abgedruckt wurden.139 Erst 1939/40, mit dem achten Jahrgang, änderte Horkheimer den deutschen Titel in Studies in Philosophy and Social Science um. Zugleich erschien die Mehrzahl der Arbeiten fortan ebenfalls in englischer Sprache.140 In der letzten Ausgabe der Zeitschrift von 1941 wurden auch Beiträge von Emigranten und Amerikanern wie Herta Herzog, Lazarsfeld, Charles A. Siepman und Harold D. Lasswell veröffentlicht.141 Während Horkheimer zunächst die in Europa begonnenen sozialphilosophischen Arbeiten und sozialempirischen Studien weiterführte, suchte Fromm bereits den intellektuellen Austausch mit der amerikanischen Wissenschafts134 Fromm, Arbeiter und Angestellte, Vorbemerkung. 135 Fleck, Etablierung in der Fremde, S.356. 136 Wheatland, The Frankfurt School in Exile, S.37-60. Vgl. Anthony R. Oberschall, Paul F. Lazarsfeld und die Geschichte der empirischen Sozialforschung [1978], in: Lepenies (Hrsg.), Geschichte der Soziologie, Bd.3, S.15-30, hier: S.15; Fleck, Transatlantische Bereicherungen, S.110, 250. 137 Fleck, Etablierung in der Fremde, S.131. 138 Max Horkheimer, Vorwort [zu Heft 2 des II. Jahrgangs der Zeitschrift für Sozialforschung] [1933], in: ders., Schriften 1931-1936, S.110. 139 Gerhard Meyer, Neue englische Literatur zur Planwirtschaft, in: Zeitschrift für Sozialforschung 2 (1933), S.257-268. Vgl. ebd., Inhaltsverzeichnis. Vgl. Jay, The Dialectical Imagination, S.114; Gunzelin Schmid Noerr, Flaschenpost. Die Emigration Max Horkheimers und seines Kreises im Spiegel des Briefwechsels, in: Srubar (Hrsg.), Exil, Wissenschaft, Identität, S.252-280, hier: S.255f. 140 Studies in Philosophy and Social Science 8 (1939/40), Inhaltsverzeichnis. 141 Studies in Philosophy and Social Science 9 (1941), Inhaltsverzeichnis.

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kultur, vor allem aber mit dem befreundeten Lynd.142 Horkheimer, Löwenthal, Marcuse und andere – Adorno emigrierte nach einem ersten Besuch 1937 erst 1938 nach New York und arbeitete dann für Lazarsfeld143  – waren zudem verpflichtet, Kurse in englischer Sprache an der Columbia University abzuhalten. So lehrte Horkheimer 1937 über das Verhältnis von autoritären Doktrinen und modernen europäischen Institutionen, Neumann wiederum 1936/37 über den totalitären Staat. Dies war nicht unproblematisch, verfügten doch die Frankfurter Emigranten zu dieser Zeit nur über eher rudimentäre Englischkenntnisse. Noch 1941 schrieb Horkheimer an Harold Laski in London: »[I ]t will take us some time before we are able to express our ideas adequately in English – that is to say in such a way that language per se conveys some of the meaning we hope to attach to it.«144 Inhaltlich jedoch schlossen die Kurse an die in Europa durchgeführten Studien und entwickelten Ansätze an.145 Der sich neu herausbildende deutsch-amerikanische Denkstil beruhte demnach vor allem auf einer wechselseitigen Profiterwartung und einem Vertrauensverhältnis, zu dessen Zustandekommen Lazarsfeld als Vermittler maßgeblich beigetragen hatte.146 Entscheidende soziale und epistemische Verschiebungen am IfS erfolgten Ende der 1930er Jahre. Pollock verlor bedeutende Teile des von Felix Weil zur Verfügung gestellten Kapitals des Instituts durch Fehlinvestitionen an der amerikanischen Börse. Belief sich das Vermögen am 1.  Januar 1937 noch auf 4.560.000 Schweizer Franken, so Jeanette Erazo Heufelder, »waren es ein Jahr später nur noch 3.560.000 Schweizer Franken. Die Million, die in den Bilanzen fehlte, hatte sich beim Börsencrash 1937 in Luft aufgelöst, der seinerseits die Folge einer plötzlichen Wirtschaftsrezession war.«147 Pollock hatte Aktien zu lange gehalten, die schließlich 75 Prozent ihres Werts verloren. Immerhin gab Weil auf sein Bitten im Sommer des Jahres nochmals 130.000 Dollar für den Stiftungsfonds.148 Auch der Beginn des Zweiten Weltkrieges verschlechterte 142 Wheatland, The Frankfurt School in Exile, S.65-78. 143 Theodor W. Adorno, Wissenschaftliche Erfahrungen in Amerika [1968/69], in: ders., Kulturkritik und Gesellschaft II. Eingriffe, Stichworte, Anhang, hrsg. v. Rolf Tiedemann, unter Mitwirkung v. Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz (Gesammelte Schriften, Bd.10.2). Frankfurt am Main 2003, S.702-738, hier: 703-709; Ziege, Antisemitismus und Gesellschaftstheorie, S.45. 144 Max Horkheimer an Harold Laski vom 10.03.1941, in: Max Horkheimer. Briefwechsel 1941-1948, hrsg. v. Gunzelin Schmid Noerr (Gesammelte Schriften, Bd.17). Frankfurt am Main 1996, S.17-20, hier: S.17f. 145 Wheatland, The Frankfurt School in Exile, S.357; Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, S.256. 146 Vgl. Michel Callon, Techno-ökonomische Netzwerke und Irreversibilität [1991], in: Belliger/Krieger (Hrsg.), ANThology, S.309-342, hier: S.329. 147 Heufelder, Der argentinische Krösus, S.143. 148 Ebd., S.143, 149.

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die finanzielle Situation des IfS. Der liquide Teil des Stiftungskapitals belief sich 1941 auf nur noch 220.000 Dollar bei einem Institutsmindestbedarf von 30.000  Dollar pro Jahr.149 Als Reaktion kürzten Horkheimer und Pollock die Gehälter der IfS-Mitarbeiter und reduzierten den Personalbestand in den folgenden Jahren auf ein Minimum:150 Als erster zog sich Wittfogel im Sommer 1939 vom IfS zurück. Der noch von Grünberg übernommene Assistent Henryk Grossmann wurde pensioniert, womit die ökonomische Forschung zum Erliegen kam. Marcuse, Kirchheimer und Neumann gingen 1943 zum OSS. Löwenthal begann seine Arbeit für das Office of War Information und arbeitete ab 1944 für das Bureau of Overseas Intelligence.151 Fromm wurde entlassen, was einen Streit mit Pollock und Horkheimer um dessen Abfindungssumme nach sich zog.152 Differenzen zwischen Fromm und Horkheimer bestanden seit Längerem in Bezug auf den Umgang mit der Psychoanalyse Freuds. Maßgeblich ging dies auf den Einfluss Adornos zurück, der seit 1934 engeren Kontakt zu Horkheimer pflegte, 1937 als Institutsvertreter in Europa agierte und ab 1938 offizieller Mitarbeiter des IfS war.153 Adorno problematisierte insbesondere das Menschenbild Fromms, jene »bruchlose Übertragung der individuellen Psychologie auf die Sozialtheorie«.154 Fromm hatte in einem Aufsatz von 1935 Freuds »patrizentrisch-autoritäre« Einstellung Patienten gegenüber kritisiert. Er hatte vorgeschlagen, dass diesen bejahende Haltung und Güte entgegenzubringen sei, die Vorrang vor der psychoanalytischen Methode haben müssten. Adorno wandte sich nicht nur vehement gegen die Auffassung, Freud sei autoritär, sondern hegte Fromm gegenüber auch persönliche Antipathien.155 Fromm hatte sich in den Vereinigten Staaten zunehmend von der orthodoxen Psychoanalyse, insbesondere von Freuds Libido-Theorie, entfernt.156 Er erachtete fortan individuelle und 149 Fleck, Etablierung in der Fremde, S.136, 140; Lenhard, Friedrich Pollock, S.152f. 150 Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, S.257. 151 Löwenthal, Mitmachen wollte ich nie, S.111; Später, Siegfried Kracauer, S.428. Vgl. Fleck, Etablierung in der Fremde, S.143-145. 152 Fleck, Etablierung in der Fremde, S.144. Fromm wurde im Frühjahr 1939 mitgeteilt, dass ihm ab Oktober kein Gehalt mehr gezahlt werden könne. Er stritt daraufhin mit Horkheimer und Pollock über eine von ihm verlangte und ihm anfangs auch zugesagte »Abfindung«. Das IfS bot Fromm ein Jahresgehalt in Höhe von 4.000 Dollar. Er beharrte aber auf einer Summe von 10.000 Dollar. 153 Später, Siegfried Kracauer, S.339. 154 Zitiert nach: Stefan Breuer, Kritische Theorie. Schlüsselbegriffe, Kontroversen, Grenzen. Tübingen 2016, S.147. 155 Jochen Fahrenberg/John M. Steiner, Adorno und die autoritäre Persönlichkeit, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 56 (2004), S.127-152, hier: S.131. Vgl. Bierhoff, Erich Fromm, S.36f. 156 Vgl. Bierhoff, Erich Fromm, S.38.

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familiäre Bedingungen im Sinne einer behavioristischen Psychologie für die Herausbildung bestimmter Charaktereigenschaften und Verhaltensweisen für wichtiger als gesellschaftlich-überindividuelle Einflüsse.157 Dies kritisierte Horkheimer als pseudo-naturwissenschaftlich und warf ihm »positivistische« Verabsolutierung vor. In seinen und Adornos Augen war Fromm schlicht ein »Revisionist«.158 Auch Differenzen hinsichtlich der Arbeiter- und Angestelltenstudie trugen wohl zum Zerwürfnis bei. Zum einen war Horkheimer mit der Durchführung der Untersuchung nicht zufrieden, während zum anderen Fromm beanspruchte, dass die Studie  – im Widerspruch zu Horkheimers holistischkollektiven Prinzip  – ihm als Initiator und Forschungsleiter voll zugerechnet werden solle.159 Im Winter 1945/46 führte die soziologische Fakultät der Columbia University eine Evaluation des IfS durch. Sie kam zum Schluss, das Institut publiziere zu wenig und müsse seine Forschungsergebnisse der amerikanischen Leserschaft stärker zugänglich machen.160 Die Vertreter der Columbia University legten Horkheimer nahe, das IfS mit Lazarsfelds Bureau of Applied Social Research zusammenzulegen, um den Ausstoß an Publikationen zu erhöhen. Doch obwohl beide bei sozialempirischen Untersuchungen zusammengearbeitet hatten, galt Lazarsfeld Horkheimer als Vertreter einer »positivistischen« Sozialwissenschaft, mit deren Denkstil das IfS nicht vermengt werden sollte.161 Die Veränderung der ökonomischen und personellen Situation sowie die sich abzeichnenden Brüche zwischen dem Denkkollektiv um Horkheimer und den Columbia-Soziologen spalteten den neuen deutsch-amerikanischen Denkstil in drei Wissensebenen auf: Einen ersten, aus verschiedenen Übersetzungsprozessen sozialempirischer Forschungspraktiken resultierenden Teilbereich bildeten die Allianzen des IfS mit zwei amerikanisch-jüdischen Interessenverbänden, dem American Jewish Committee (AJC) und dem Jewish Labor Committee (JLC). Während das AJC sich vornehmlich aus deutschsprachigen Emigranten zu157 Fahrenberg/Steiner, Adorno und die autoritäre Persönlichkeit, S.132. 158 UBA Ffm, Na 1, 30, Bl.215-218: Max Horkheimer an Karl Landauer vom 22.12.1939, hier: Bl.218. Vgl. Fahrenberg/Steiner, Adorno und die autoritäre Persönlichkeit, S.132. Dieses Urteil wiederholte Adorno in seiner Kritik an der amerikanischen psychoanalytischen Sozialpsychologie von 1946/52. Siehe Theodor W. Adorno, Die revidierte Psychoanalyse [1952], in: ders., Soziologische Schriften I , hrsg. v. Rolf Tiedemann, unter Mitwirkung v. Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz (Gesammelte Schriften, Bd.8). Frankfurt am Main 2003, S.20-41, hier: S.29-32. 159 Bierhoff, Erich Fromm, S.37. 160 Wheatland, The Frankfurt School in Exile, S.72, 81-85; Ziege, Antisemitismus und Gesellschaftstheorie, S.25, 43f. 161 Jäger, Adorno, S.211; Wheatland, The Frankfurt School in Exile, S.86; Wiggershaus, Max Horkheimer, S.165-173.

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sammensetzte, die politisch konservativ, religiös wenig traditionell und antizionistisch gesinnt waren, vertrat das JLC linksliberale Positionen von jüdischen Emigranten aus Europa und unterstützte den Kampf gegen antidemokratische Kräfte in den Vereinigten Staaten.162 Einen zweiten relativ autonomen esoterischen Bereich prägten Horkheimer, Adorno und beiläufig auch Pollock. Er war durch geschichtsphilosophische Elemente gekennzeichnet. Hier setzte sich das philosophische Idiom Horkheimers und Adornos nicht nur fort, sondern verwandelte sich in eine universalisierende, anthropologisch-philosophische Totalitarismustheorie. Einen dritten Bereich stellten die Verbindungen von IfSMitarbeitern zu amerikanischen und jüdischen Wissenschafts- und Erziehungspolitikern dar. Übersetzungen sozialwissenschaftlichen Wissens in die Öffentlichkeit bildeten hierbei eine der Aufklärung und Demokratisierung verpflichtete erziehungspolitische Praxis heraus. 5.2.1. Antisemitismus- und Autoritarismusstudien in den Vereinigten Staaten Der Verlust der relativen ökonomischen Unabhängigkeit des Instituts und der sich allmählich verstärkende Druck seitens der Columbia University bedingten, dass sich das IfS an die vorherrschenden Wissenschaftsstrukturen anpassen und Forschungsgelder einwerben musste. Vor allem vier Merkmale charakterisierten die amerikanischen Sozialwissenschaften in den späten 1930er und frühen 1940er Jahren: (1) Die Amerikaner verstanden unter »Social Science« eine an naturwissenschaftlichen Verfahren des Erkennens orientierte empirische Sozialforschung. Einerseits waren darunter statistisch-quantitative und sozialpsychologische Arbeiten subsumiert, wobei klinische Ansätze zunehmend an Gewicht gewannen. Andererseits standen qualitative Untersuchungen urbaner Gebiete, sogenannte Surveys, im Fokus. Zwischen 1895 und 1940 dominierte die Chicago School of Sociology unter Robert Ezra Park163 die Soziologie in den Vereinigten Staaten. Ihre Mitarbeiter wandten prozessanalytische Methoden auf die tiefgreifenden strukturellen Veränderungen der amerikanischen Gesellschaft am Beispiel Chicagos an und waren stark von George Herbert Meads und John Deweys Hand-

162 Fleck, Etablierung in der Fremde, S.195. Vgl. Mitchell G. Ash, Learning from Persecution: Émigré Jewish Social Scientists’ Studies of Authoritarianism and Antisemitism after 1933, in: Marion Kaplan/Beate Meyer (Hrsg.), Jüdische Welten. Juden in Deutschland vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart (Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden, Bd.XXVII). Göttingen 2005, S.271294, hier: S.284. 163 Park hatte bei Georg Simmel studiert. Siehe Später, Siegfried Kracauer, S.503.

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lungstheorie des amerikanischen Pragmatismus beeinflusst.164 Einer Grundannahme der Chicago School zufolge stand »die strukturelle Differenzierung der Gesellschaft mit einer Demokratisierung und Reflexivierung sozialer und kultureller Ordnung in Wechselwirkung«.165 (2) Teilergebnisse der Forschungen mussten regelmäßig in entsprechenden Zeitschriften publiziert werden. Auch die Columbia University erwartete vom IfS veröffentlichte Ergebnisse zu deren sozialempirischen Untersuchungen. (3) Sozialwissenschaftliche Forschung hing in den Vereinigten Staaten besonders stark von der Unterstützung durch philanthropische Stiftungen wie der Rockefeller Foundation, der Carnegie Corporation oder der in den 1930er Jahren noch kleinen Ford Foundation ab.166 Um Geld einzuwerben, mussten Sozialwissenschaftler in ihren Anträgen die jeweiligen Forschungsintentionen in die Interessen der Stiftungen übersetzen. Das Verhältnis zwischen Wissenschaftler und Forschungsgegenstand war in den Vereinigten Staaten damit stärker von Angebot und Nachfrage bestimmt als in Deutschland.167 (4) Sozialwissenschaftliche Forschungsunternehmen waren in der Regel als Projekte angelegt, die durch ein Beratergremium beaufsichtigt wurden, was eine Zusammenarbeit mehrerer Forscher mit Vertretern der Öffentlichkeit sowie in der Folge eine Einebnung hierarchischer Strukturen implizierte.168 Die Aufspaltung des deutsch-amerikanischen Denkstils in drei unterschiedliche Wissensebenen war Folge des problematischen Verhältnisses der verbliebenen IfS-Mitarbeiter zur amerikanischen Sozialforschung. Ihr dialektisch-philosophisches Idiom ließ sich nicht in die amerikanische empirische Sozialforschung und Sozialpsychologie übersetzen. Letztere waren vor allem handlungstheoretisch-pragmatisch ausgerichtet. Eine kollektiv-holistische Herangehensweise an soziale Probleme aus dialektisch-philosophischer Perspektive, wie sie Horkheimer 1931 zum Programm erhoben hatte, existierte kaum. Offenkundig war dies schon seit 1938, als Adorno bei Lazarsfelds »Princeton Radio Research Pro-

164 Hans-Joachim Schubert, The Chicago School of Sociology. Theorie, Empirie und Methode, in: Carsten Klingemann (Hrsg.), Jahrbuch für Soziologiegeschichte. Soziologisches Erbe: Georg Simmel  – Max Weber – Soziologie und Religion  – Chicagoer Schule der Soziologie. Wiesbaden 2007, S.119-164, hier: S.120, 137-160. 165 Ebd., S.122f. In ihrer Gründungsphase in den 1890er Jahren war die Chicago School eng mit der religiösen und sozialreformerischen Settlement-Bewegung und mit dem Engagement von Jane Addams und dem amerikanischen Progressive Movement verbunden. Siehe Hübinger, Engagierte Beobachter, S.17, 48-51, 59-62. 166 Vgl. Berghahn, Transatlantische Kulturkriege, S.183-185. Die Ford Foundation wurde 1936 gegründet. Siehe ebd., S.182. 167 Vgl. Harald Homann, Die Frankfurter Schule im Exil, in: Albrecht u.a., Die intellektuelle Gründung, S.57-77, hier: S.73f. 168 Fleck, Transatlantische Bereicherungen, S.41f., 229, 237-255.

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ject« an der University of Newark mitarbeitete.169 Obwohl er die Arbeit mit großem Eifer begann, konnte oder wollte er sich nicht an den dort herrschenden Denkstil anpassen.170 Lazarsfeld, ein studierter Mathematiker sowie erfahrener Mathematik- und Physiklehrer,171 vertrat eine quantitativ orientierte Methodik empirischer Sozialforschung. Er teilte die Grundthese Horkheimers nicht, »daß unter der chaotischen Oberfläche der Ereignisse eine dem Begriff zugängliche Struktur wirkender Mächte zu erkennen sei.«172 Adorno hatte in seinen musiksoziologischen Studien der 1930er Jahre vor allem an einer Kritik des Radiohörens gearbeitet, das aus seiner Sicht durch die massenhafte Reproduktion den Einzelnen um das Glück seines Musikerlebnisses brächte.173 Im »Princeton Radio Research Project« ging es jedoch darum, Persönlichkeitstypen der Radiohörer durch die Analyse ihrer Hörgewohnheiten zu ermitteln. Dadurch sollten einerseits die Hörerquoten transparent gemacht und andererseits Auswirkungen des Radiohörens auf die Bevölkerung erforscht werden. Eine gesellschaftskritische Reflexion des Radiohörens und der Radiohörer war für Lazarsfeld und seine Mitarbeiter zwar nicht uninteressant. In der Hauptsache aber generierten sie ein Wissen, das auf beobachtbaren und messbaren Erscheinungen basierte sowie ökonomisch verwertet werden konnte.174 Die Adorno gestellte Aufgabe bestand nach Lazarsfeld in der Operationalisierung der Deutungen leichter und ernster Musik, sodass sie »als ein System von Hypothesen einer Überprüfung im empirischen Forschungsprozess zugänglich« gemacht werden konnten. Dies setzte die Erarbeitung eines systematischen theoretischen Deutungsrahmens der empirischen Forschungsergebnisse voraus.175 Zusätzlich bestanden methodische Differenzen: Zum einen musste nach Adornos Auffassung die Theorie die Techniken zur Erfassung der Meinung der Radiohörer leiten. Empirisch erhobene Fakten ohne eine im Vorfeld festgelegte theoretische Ausrichtung waren in seinen Augen wertlos. Zudem verstand er das Zusammenspiel von Theoriebildung und Faktenerhebung als dialektischen Prozess.176 Im Gegensatz dazu leitete Lazarsfeld seine Typen und Kategorien aus dem empirischen Material ab. 169 170 171 172 173 174

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Müller-Dohm, Adorno, S.375. Adorno, Wissenschaftliche Erfahrungen, S.707. Neurath, Paul Lazarsfeld, S.70. Horkheimer, Vorwort [zu Heft 1/2 des I . Jahrgangs der Zeitschrift für Sozialforschung], S.36. Vgl. Dirk Braunstein, Adornos Kritik der politischen Ökonomie. Bielefeld 2011, S.99f. Wolfgang Bonß, Kritische Theorie und empirische Sozialforschung  – ein Spannungsverhältnis, in: Richard Klein/Johann Kreuzer/Stefan Müller-Dohm (Hrsg.), Adorno-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart/Weimar 2011, S.232-247, hier: S.238f. Vgl. Adorno, Wissenschaftliche Erfahrungen, S.708f. Müller-Dohm, Adorno, S.376. Ebd., S.378.

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Er tat dies jedoch nicht begrifflich-historisch, sondern auf Basis verallgemeinerbarer, durch das empirische Material abgesicherter Ergebnisse. Die Akteure des Denkkollektivs um Horkheimer erachteten dagegen eine induktiv-philosophische, also nicht deduktiv-quantitative Ableitung der Begriffe als entscheidend. So waren auch für Adorno die »Phänomene, mit denen die Soziologie der Massenmedien zumal in Amerika sich abzugeben hat, […] als solche von Standardisierung, von der Verwandlung künstlerischer Gebilde in Konsumgüter, von kalkulierter Pseudo-Individualisierung und ähnlichen Erscheinungsformen dessen, was man in deutscher philosophischer Sprache Verdinglichung nennt, nicht zu trennen.«177 Diese Grundannahme hätte von Lazarsfeld eine kritische Reflexion seiner methodischen Verfahren verlangt, die jedoch der ökonomischen Verwendbarkeit des von ihm generierten Wissens abträglich gewesen wäre. Eine Übersetzung des kritisch-philosophischen Denkens in empirisch-methodologische Entitäten wiederum, in »research terms«, wie Adorno sagte, »kam einer Quadratur des Zirkels gleich.«178 Es erstaunt daher nicht, dass sich die Rockefeller Foundation als Finanzier des Radio-Projekts nach zweieinhalbjähriger Tätigkeit gegen eine Weiterbeschäftigung Adornos aussprach.179 Gegenüber Siegfried Kracauer äußerte sich Adorno im März 1939 kritisch und beinahe abfällig gegenüber dieser Form des »social research«. Dieser Denkstil laufe demnach »auf ein strikt gehandhabtes Denkverbot hinaus. Infolgedessen werden diese Projekte einander immer ähnlicher und immer sinnloser, und ein Bewußtsein davon beginnt sich zu verbreiten.«180 Diese Kritik am »Positivismus«, wie ihn Adorno bei Lazarsfelds Forschungsansatz gegeben sah, findet sich in seinen Schriften bereits ab der Mitte der 1920er, so etwa seiner Dissertation von 1924 und einem in den 1930er Jahren in Oxford verfassten Buch  – beide Arbeiten hatten Edmund Husserls Phänomenologie zum Thema.181 Auch seine Habilitationsschrift über Sören Kierkegaard, die er 177 Adorno, Wissenschaftliche Erfahrungen, S.711. 178 Ebd., S.712f. Vgl. auch Benzer, The Sociology, S.62-64, 101-103. 179 Detlev Claussen, Die amerikanische Erfahrung der kritischen Theoretiker, in: ders./Negt/Werz (Hrsg.), Keine Kritische Theorie ohne Amerika, S.27-45, hier: S.32. Vgl. Fleck, Transatlantische Bereicherungen, S.276f., 284-296, 330, 357; Jeffries, Grand Hotel Abyss, S.203-207; Wheatland, The Frankfurt School in Exile, S.86. Vgl. auch Dahms, Positivismusstreit, S.234-253. 180 Theodor W. Adorno an Siegfried Kracauer vom 06.03.1939, in: Theodor W. Adorno – Siegfried Kracauer. Briefwechsel, S.411-414, hier: S.411f. 181 Das in Oxford in den Jahren von 1934 bis 1937 geschriebene Buch publizierte Adorno 1956 in stark überarbeiteter und erweiterter Form. Siehe Theodor W. Adorno, Zur Metakritik der Erkenntnistheorie. Studien über Husserl und die

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1933 als zweiten Band der Reihe »Beiträge zur Philosophie und ihrer Geschichte« veröffentlicht hatte, belegt seine methodenkritische Haltung.182 Peter E. Gordon vertritt die These, dass Adornos Kritik an Husserl und Kierkegaard im Zusammenhang mit seiner Kritik der Fundamentalontologie Martin Heideggers zu lesen ist. Sein Ziel sei demnach gewesen, Phänomenologie, Existenzphilosophie und Fundamentalontologie als Philosophien der bürgerlichen Innerlichkeit herauszustellen, die genau das nicht hielten, was sie versprachen: die Überwindung des Idealismus von Kant und Hegel.183 Diese Annahme lässt sich im Folgenden am Beispiel von Adornos Kierkegaard-Studie belegen. Als er dieses Werk verfasste, gehörte er noch nicht zum engeren Denkkollektiv um Horkheimer und teilte somit auch dessen Denkstil nur bedingt. Seine früheren, teilweise erst später in überarbeiteter und erweiterter Form publizierten Schriften sind von einem bilderstürmerisch-überheblichen Gestus geprägt. Sie legen Adornos ambivalente Haltung gegenüber seiner erhofften Stellung als Teil der akademischen Elite und seiner Bewunderung für kulturkritische Außenseiter offen, die auch bei seiner Antrittsvorlesung mit dem Titel »Aktualität der Philosophie« in Frankfurt am Main am 8. Mai 1931 zum Ausdruck kam. Mit einem Anflug von Stolz berichtete er Kracauer seine Eindrücke: »Wertheimer bekam vor Wut und Aufregung einen Weinkrampf; Tillich [Adorno war dessen Assistent in Frankfurt und hatte sich bei ihm habilitiert, F.L.] fand die Form anstößig wegen ihres bestimmten Tones; Mannheim schimpfte und Horkheimer (samt Leo, der sich völlig zu dessen Tsetser und Trabanten entwickelt hat) war es nicht marxistisch genug. Von dem Ärger, der Flut von Haß, Widerstand und Bosheit, die mir der Vortrag eingetragen hat, kannst Du Dir keinen Begriff machen.«184 nomenologischen Antinomien, hrsg. v. Gretel Adorno und Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main 1990 [1956, 1970]. Zu den Husserl-Studien siehe Peter E. Gordon, Adorno and Existence. Cambridge, MA/London 2016, S. xi, 13. 182 Die Kierkegaard-Studie erschien in überarbeiteter Form nochmals 1962. Sie war um den Aufsatz »Kierkegaards Lehre von der Liebe« erweitert worden, der 1939/40 auf Englisch in den Studies in Philosophy and Social Science erschienen war. Eine dritte Auflage des Kierkegaard-Buchs sollte 1966 erscheinen. In ihr findet sich ein weiterer Aufsatz »Kierkegaard noch einmal«. Vgl. Editorische Nachbemerkungen [1979], in: Theodor W. Adorno, Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen, hrsg. v. Rolf Tiedemann, unter Mitwirkung v. Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz (Gesammelte Schriften, Bd.2). Frankfurt am Main 2003 [1933, 1962, 1966], S.265f., hier: S.265. 183 Gordon, Adorno and Existence, S. xi. 184 Theodor W. Adorno an Siegfried Kracauer vom 29.05.1931, in: Theodor W. Adorno  – Siegfried Kracauer. Briefwechsel, S.274-280, hier: S.274f. Siehe auch Später, Siegfried Kracauer, S.244f. Vgl. auch Jäger, Adorno, S.108-110.

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In Adornos Augen hatte Kierkegaard zwar die »Not des beginnenden hochkapitalistischen Zustands« erkannt, der »er sich entgegen[stellt] im Namen der verlorenen Unmittelbarkeit, die er in Subjektivität behütet.« Allerdings analysiere er »weder Notwendigkeit und Recht der Verdinglichung noch die Möglichkeit ihrer Korrektur.«185 Statt die wirkliche Welt der Waren durch Praxis zu erfahren, die idealistische Philosophie durch Soziologie zu erweitern, ziehe er sich in die existentielle Innerlichkeit zurück.186 Kierkegaard ging es laut Adorno also nicht um die Wirklichkeit. Die »Funktion des Reflexionsspiegels« sei vielmehr, »die endlose Straßenlinie solcher Mietshäuser in den abgeschlossenen bürgerlichen Wohnraum hineinzuprojizieren; zugleich der Wohnung sie unterwerfend und die Wohnung mit ihr begrenzend – wie in Kierkegaards Philosophie die ›Situation‹ der Subjektivität unterworfen ist und sie doch begrenzt.«187

Dieses Intérieur sei »die leibhafte imago von Kierkegaards philosophischem ›Punkt‹: alles wirkliche Außen hat sich zum Punkt zusammengezogen. Die gleiche Raumlosigkeit läßt sich an der Struktur seiner Philosophie erkennen. Sie ist nicht im Nacheinander entfaltet, sondern ein vollkommenes Zugleich aller Momente, die in einem Punkt, dem des ›Existierens‹, zusammenfallen.«188

Adorno schlussfolgerte: »Kierkegaards absolutes Selbst ist bloßer Geist.«189 Weil dieser astrologische, spiritualistische und mythisch-archaische Denkfiguren in seine Existenzlehre einfließen lasse, falle seine Philosophie sogar hinter Hegel zurück, der »nach innen geschlagen [ist]: was diesem die Weltgeschichte, ist für Kierkegaard der einzelne Mensch«.190 Schließlich habe Kierkegaard »gegenüber Hegel die historische Konkretion – die einzig echte – verfehlt, ins blinde Selbst gezogen, in die leeren Sphären verflüchtigt: damit aber den zentralen Wahrheitsanspruch von Philosophie preisgegeben, den der Interpretation von Wirklichkeit, und eine Theologie zuhilfe geholt, der doch seine eigene Philosophie alles Mark aussaugte.«191

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Adorno, Kierkegaard, S.59. Ebd., S.72. Ebd., S.62f. Ebd., S.66. Vgl. Gordon, Adorno and Existence, S.26. Adorno, Kierkegaard, S.75. Ebd., S.107f. Vgl. ebd., S.127f. Siehe Gordon, Adorno and Existence, S.24. Adorno, Kierkegaard, S.133. Vgl. ebd., S.152, 173.

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Die Fehler von Husserl, Kierkegaard und Heidegger begingen nach Adornos Ansicht nun auch empirische Sozialwissenschaftler wie Lazarsfeld. Während sich die »bürgerlichen Philosophen« in die Innerlichkeit zurückzogen, würden Letztere mit ihren quantitativen Methoden und Techniken der sozialen Wirklichkeit deshalb nicht gerecht, weil sie ihre Instrumente nicht an den Objekten der sozialen Wirklichkeit selbst, sondern in der abstrakten Sphäre mathematischer Kalkulation in ihren Büroräumen entwickelt hätten. Eine kritische Inbezugsetzung von Methode und Untersuchungsobjekt hätte nicht stattgefunden.192 Statt soziale Problemlagen zu erfahren, pfropften sie den Untersuchungsgegenständen ihre Methoden auf.193 Vor diesem Hintergrund lesen sich weitere Äußerungen Adornos zu Kierkegaard, der »zwischen ästhetischen und nicht-ästhetischen Inhalten [unterscheidet]. Das nimmt den Inhalten alle spezifische Substanz: in der Auswahl wird Subjektivität zum herrschenden Moment bereits mit der Prädisposition des Materials, und es entfallen die Inhalte, die dagegen ihren eigenen Anspruch erheben würden.«194 Kierkegaard spreche »wohl den Gegenständen Eigenrecht zu, handhabt es aber derart, daß die dringlichsten um ihrer selbst willen von der Bearbeitung ausgeschlossen bleiben: die der gesellschaftlichen Erfahrung.«195 In diesen Punkten sah Adorno bürgerliche Philosophie und empirische Sozialwissenschaft auf einer Stufe: Beide unterwarfen die Natur, taten ihr Schaden an und konnten deshalb nie die historisch-materialistischen Eigenheiten und Entwicklungen der Objekte selbst ergründen.196 Es lagen also zunächst Übersetzungshindernisse auf der sozialempirischen Ebene vor, die Horkheimer und seine Mitarbeiter jedoch bald überwanden. Trotz der Abneigung gegen »administrative research« und Marktforschung197 richtete Horkheimer Projektanträge an die Rockefeller Foundation und weitere Organisationen wie das American Council for Learned Societies (ACLS). Zu diesen gehörte ein Projekt über »Cultural Aspects of National Socialism«, das unter Mitarbeit Franz L. Neumanns und in Kooperation mit Eugene N. Ander192 Benzer, The Sociology, S.56, 86f. 193 Vgl. Ulrich Oevermann, Adorno als empirischer Sozialforscher im Blickwinkel der heutigen Methodenlage, in: Andreas Gruschka/ders. (Hrsg.), Die Lebendigkeit der kritischen Gesellschaftstheorie. Dokumentation der Arbeitstagung aus Anlass des 100. Geburtstages von Theodor W. Adorno, 4.-6. Juli 2003 an der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am Main. Wetzlar 2003, S.189-234, hier: S.189f. 194 Adorno, Kierkegaard, S. 29. 195 Ebd., S.29. 196 Ebd., S.167. Siehe dazu auch Benzer, The Sociology, S.40f. 197 Fleck, Transatlantische Bereicherungen, S.50-64, 307-309.

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son, der zwischen 1943 und 1945 als Direktor der Central European Section im R&A Branch des OSS wirkte,198 sowie eines Gremiums bekannter amerikanischer Wissenschaftler durchgeführt werden sollte.199 Hier zeigten sich Horkheimers und Pollocks Fähigkeiten als Netzwerker, die sie schon in Frankfurt intensiv nutzten.200 Sie konnten die eigenen Forschungsthemen und methodischen Herangehensweisen so in die amerikanische Sozialwissenschaft übersetzen, dass dadurch Allianzen mit anderen Sozialwissenschaftlern entstanden. In einem Brief an das ACLS vom Juni 1941 schrieb Pollock, dass das »Institute has long had in mind to utilize for American interests its experience and knowledge of growth of totalitarianism in Germany.« Das Projekt, so Pollock weiter, solle »elucidate the cultural processes that have transformed a democratic society into a totalitarian one and to show the ideological, sociological, and psychological elements that hold National Socialist society together.«201 In weiteren Anträgen schlug Horkheimer auch ein Thema vor, das die Institutsmitarbeiter bis dahin nur am Rand und mit Fokus auf den europäischen Kontinent behandelt hatten: den Antisemitismus. Mitte der 1940er Jahre arbeitete bereits eine ganze Reihe von mehrheitlich jüdisch-amerikanischen Sozialwissenschaftlern und Sozialpsychologen – teils in Kooperation mit emigrierten Wissenschaftlern – zu Faschismus und Antisemitismus.202 Horkheimer übersetzte 198 Söllner, Archäologie der deutschen Demokratie, S.27. 199 UBA Ffm, Na 1, 1, Bl.83-88: Friedrich Pollock an das American Council for Learned Societies vom 27.06.1941. Christian Fleck gibt als Titel dieses Projekts »cultural problems […] for an understanding of National Socialism« an. Horkheimer hatte sich in einem Schreiben an das American Committee for Refugee Scholars, Writers & Artists, der Nachfolgeorganisation des Emergency Committee in Aid of Displaced Foreign Scholars, gewandt, in dem er diesen Titel verwendete. Vgl. Fleck, Etablierung in der Fremde, S.146f., 150. 200 Vgl. Jürgen Habermas, Remarks on the Development of Horkheimer’s Work, in: Benhabib/Bonß/McCole (Hrsg.), On Max Horkheimer, S.49-65, hier: S.53. 201 UBA Ffm, Na 1, 1, Bl.83-88: Friedrich Pollock an das American Council for Learned Societies vom 27.06.1941, hier: Bl.86f. 202 Ziege, Antisemitismus und Gesellschaftstheorie, S.177. Vgl. dies., Arendt, Adorno und die Anfänge der Antisemitismusforschung, in: Fritz Bauer Institut/Liliane Weissberg (Hrsg.), Hannah Arendt, Theodor W. Adorno und die Frankfurter Schule (Jahrbuch zur Geschichte und Wirkung des Holocaust 2011). Frankfurt am Main/New York 2011, S.85-102, hier: S.95f. Vgl. Robert C. Bannister, Principle, Politics, Profession: American Sociologists and Fascism, 1930-1950, in: Stephen P. Turner/Dirk Käsler (Hrsg.), Sociology Responds to Fascism. London 1992, S.172213, hier: S.175f., 196-205; Sven Papcke, Deutsche Soziologie im Exil. Gegenwartsdiagnose und Epochenkritik 1933-1945. Frankfurt am Main/New York 1993, S.121-140. Auch in England beschäftigten sich Sozialwissenschaftler mit sozialstrukturellen Analysen von Faschismus und Antisemitismus, um einer Festsetzung faschistischer Strukturen in der englischen Gesellschaft mit wissenschaftlichen

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also ein aktuelles Forschungsthema der amerikanischen Sozialwissenschaften in die Forschungsagenda des IfS.203 1941 kündigte er in der letzten Ausgabe der Studies in Philosophy and Social Science ein Forschungsprojekt zu einer Typologie der antisemitischen Persönlichkeit an.204 Zudem wurde ein Preisausschreiben in der Emigrantenzeitschrift Aufbau in New York veröffentlicht, das die Bevölkerung dazu aufforderte, in Briefen ihre persönlichen Erfahrungen mit dem Antisemitismus der Nationalsozialisten zu schildern.205 Ein Projekt zur »jüdischen Psychologie«, das Horkheimer und Adorno in den frühen 1940er Jahren konzipierten, gaben sie jedoch nach einiger Zeit wieder auf. Darin ging es um die Frage, ob antisemitische Stereotype »mit bestimmten jüdischen Verhaltensweisen und Charakterzügen korrespondierten«.206 Solche Ansichten sollten sich auch in der Dialektik der Aufklärung niederschlagen, in der Horkheimer und Adorno zu erklären versuchten, weshalb bestimmte Verhaltensweisen und Charakterzüge als »jüdisch« wahrgenommen wurden. Diesen Ansätzen einen antisemitischen Unterton zu unterstellen, ist sicher nicht gerechtfertigt. Die Annahme, dass der Antisemitismus aus der Dialektik von jüdischer Eigenheit und antisemitischer Projektion hervorgehe, lief jedoch auf eine »Indifferenz zwischen antisemitischer Projektion und jüdischem Verhalten« hinaus, wie Philipp von Wussow festhält: Horkheimer und Adorno seien demnach von einer auf irgendeine Weise im Vorhinein existierenden jüdischen Eigenart ausgegangen und hätten damit die Vorstellung untermauert, dass jüdische und antisemitische Verhaltensweisen komplementär seien.207

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strumenten entgegenzuwirken. Siehe Peter Lassman, Responses to Fascism in Britain, 1930-1945: The Emergence of the Concept of Totalitarianism, in: Turner/Käsler (Hrsg.), Sociology Responds to Fascism, S.214-240. Siehe auch DLA Marbach, A Elias, No. 1494 (Mappe 4): Notizen Norbert Elias, undatiert [wohl 1940er und 1950er Jahre]: »Redl XII: Compley group psychological pattern rather than escape into group psychological mysticism«; Notizen Norbert Elias: »Types of Leaders V : Agitator or Charismatic Leader«; Notizen Norbert Elias, »Leadership X «; Jacobs, The Frankfurt School, S.62f. Adorno hatte in einem Brief an Horkheimer vom 15.  Februar 1938 bereits die Ansicht geäußert  – lange bevor die Nationalsozialisten mit der systematischen Ermordung der europäischen Juden begannen  –, dass das europäische Judentum durch den Faschismus »ausgerottet« werde. Siehe Jacobs, The Frankfurt School, S.53. Fleck, Transatlantische Bereicherungen, S.358; Platz, Die Praxis der kritischen Theorie, S.54. Institute of Social Research, B, Attitudes of the German People: The Institute’s Contest on the German People and Antisemitism under Hitler, in: Robert McIver/ Frederick Pollock (Hrsg.), Studies in Anti-Semitism. New York 1944, S.240-276. Philipp von Wussow, Horkheimer und Adorno über »jüdische Psychologie«. Ein vergessenes Theorieprogramm der 1940er Jahre, in: Naharaim 8 (2014) 2, S.172209, hier: S.172. Ebd., S.188. Vgl. auch Jacobs, The Frankfurt School, S.78.

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Horkheimers Projektanträge hatten zunächst keinen Erfolg.208 Auch die frühen Vorschläge zur Erforschung des Antisemitismus um 1940 wollten die großen philanthropischen Stiftungen nicht finanzieren. Schließlich fanden sich zwei private Organisationen bereit, die sozialempirischen Forschungen des IfS mitzufinanzieren, die über den wachsenden Antisemitismus in den Vereinigten Staaten besorgt waren: das AJC (ab 1943) und das JLC (1944/45). Die »Studies in Antisemitism«, die das IfS 1943/44 in Kooperation mit dem AJC durchführte, dienten zunächst als Pilotprojekt für die bereits geplante umfangreichere Untersuchung.209 Mit der Fokussierung auf die kulturellen Aspekte des NS-Staats und den Antisemitismus als Phänomen moderner Gesellschaften vollzogen die IfSMitarbeiter einen grundlegenden Richtungswechsel: War für Horkheimer in den späten 1920er und frühen 1930er Jahren die historisch-materialistische Analyse der politischen und ökonomischen Verhältnisse der Gesellschaft noch forschungsleitend, distanzierte er sich in der Emigration vom Marxismus. Fortan folgte er stärker ideengeschichtlichen und geschichtsphilosophischen Ansätzen und Interpretationsweisen. Die neuen Allianzen mit den amerikanisch-jüdischen Interessenverbänden AJC und JLC ermöglichten dem IfS um 1944/45, seine Verbindung mit der Columbia University zu lockern. Sie bedeuteten aber gleichzeitig, dass sich die sozialempirischen Forschungen nunmehr nach den Wünschen und Bedürfnissen der Geldgeber zu richten hatten,210 was größere Übersetzungsbemühungen erforderte. Die Sozialwissenschaftler des IfS waren so gezwungen, die richtige Balance zwischen »administrative research« im Stile Lazarsfelds und der kritischen Erforschung eines gesellschaftlich brisanten Problems zu finden. So hatte sich Horkheimer bei seinen Forschungsanträgen zwar von marxistischen Ansätzen distanziert, doch wollten er und seine Mitarbeiter nicht auf eine gesellschaftskritische Interpretation des empirischen Materials verzichten. Eine weitere Übersetzung löste dieses Problem: Ihre marxistisch-dialektische und gesellschaftskritische Grundperspektive auf historisch gewachsene soziale und ideologische Lagen überführten die Institutsmitarbeiter in jene amerikanische Deutung, nach der wissenschaftliches Wissen im demokratischen Sinne zu einer besseren Gesellschaft beitragen müsse.211 Dies gelang Horkheimer und seinen Mitarbeitern bei der gesellschaftskritischen Erforschung des Antisemitismus deshalb so leicht, weil derselbe »heute eine Lebensfrage für die jüdische Gemeinschaft in allen Ländern« 208 Walter-Busch, Geschichte der Frankfurter Schule, S.126. Vgl. Jay, The Dialectical Imagination, S.169. 209 Institute of Social Research, Studies in Antisemitism: A Report to the American Jewish Committee, Bd.I -IV. New York 1944. Vgl. Jacobs, The Frankfurt School, S.58, 66-70; Müller-Dohm, Adorno, S.440, 444. 210 Wiggershaus, Max Horkheimer, S.165-173. 211 Vgl. Robert B. Westbrook, John Dewey and American Democracy. Ithaca/London 1991, S. xv, 319-373.

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geworden sei.212 Horkheimer übersetzte damit letztlich seinen, in einem Aufsatz von 1933 materialistisch begründeten und strikt gegen den Idealismus gerichteten Moralbegriff213 in das Problem des Antisemitismus in den Vereinigten Staaten. Dies ließ Zugeständnisse an den politisch liberal-konservativen AJC zu, ohne dass die IfS-Mitarbeiter ihre kritischen Ansätze vollends aufgeben mussten.214 Parallel dazu veränderten sich die politischen Einstellungen und wissenschaftlichen Ansichten Horkheimers. In einem Entwurf für das Antisemitismus-Projekt konstatierte er, dass die »bürgerliche Stellung der Juden in Amerika […] freilich nur behauptet werden [kann], wenn man dem Antisemitismus mit allen theoretisch und praktisch zu Gebote stehenden Mitteln zu Leibe rückt.«215 Das waren andere Worte als in seinem 1939 erschienenen Essay »Die Juden und Europa«, den er noch vor der Veröffentlichung als »faux pas« bezeichnet hatte.216 Darin hatte Horkheimer die liberal-bürgerliche Haltung vieler Juden scharf angegriffen. Schließlich sei der bürgerliche Liberalismus in seiner Vollendung nichts anderes als der faschistische Staat geworden. Zugleich kritisierte er das Denken und Verhalten der Juden, insbesondere derjenigen jüdischen Intellektuellen, die emigriert waren: »Sie weinen der Vergangenheit viele Tränen nach. Daß es ihnen im Liberalismus besser ging, verbürgt nicht seine Gerechtigkeit.«217 Er wandte sich dabei gegen jenen Vernunftglauben der Juden, die nicht gesehen hätten, dass gerade diese moderne Vernunft in Faschismus umgeschlagen sei: »Vernünftigkeit, die den spezifischen Verwertungsbedingungen auf der je erreichten Stufe zuwiderläuft, hat auch der jüdische Unternehmer für verstiegen oder subversiv gehalten. Diese Art von Rationalität wendet sich jetzt gegen 212 UBA Ffm, Na 1, 5, Bl.29-34: Draft, Projektbeschreibung, Beilage zum Memorandum zum Antisemitismus-Projekt, undatiert [vermutlich Frühjahr 1940], hier: Bl.29. 213 Vgl. Horkheimer, Materialismus und Moral, S.120f. 214 Löwenthal, Ich will den Traum von der Utopie nicht aufgeben, S.172, 176. Ähnlich wie der Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens in Deutschland unterstützte auch der AJC jüdische Assimilationsbestrebungen. Vgl. auch Ziege, Antisemitismus und Gesellschaftstheorie, S.28, 69, 80f., 234. 215 UBA Ffm, Na 1, 5, Bl.29-34: Draft, Projektbeschreibung, Beilage zum Memorandum zum Antisemitismus-Projekt, undatiert [vermutlich Frühjahr 1940], hier: Bl.30. 216 von Wussow, Horkheimer und Adorno, S.176. Gershom Scholem übte gegenüber Adorno scharfe Kritik an diesem Aufsatz. Vgl. Gershom Scholem an Theodor W. Adorno vom 15.04.1940, in: Theodor W. Adorno – Gershom Scholem. Briefwechsel 1939-1969, hrsg. v. Asah Angermann (Theodor W. Adorno. Briefe und Briefwechsel, Bd.8). Berlin 2015, S.20-23, hier: S.21f.; Gershom Scholem an Theodor W. Adorno vom 28.10.1943, in: Theodor W. Adorno – Gershom Scholem. Briefwechsel, S.54-57, hier: S.55. Siehe auch Jacobs, The Frankfurt School, S.44-47. 217 Max Horkheimer, Die Juden und Europa [1939], in: ders., Schriften 1936-1941, hrsg. v. Alfred Schmidt (Gesammelte Schriften, Bd.4). Frankfurt am Main 1988, S.308-331, hier: S.323.

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ihn.«218 Von Wussow sieht darin eine groteske »Reduktion des Antisemitismus auf eine Veranstaltung für das nichtjüdische Publikum«.219 Dan Diner erkennt darin »massive Residuen traditioneller marxistischer Denkweisen«,220 vor allem aber einen rigorosen Ökonomismus, der »die Juden mit der Sphäre der Zirkulation schlechthin identifiziert.«221 Ab den frühen 1940er Jahren wandte sich Horkheimer von einer historischmaterialistischen Vorstellung von Autoritarismus ab und einer stärker ideengeschichtlich begründeten Faschismus- und Antisemitismustheorie zu. Faschismus galt fortan nicht mehr ausschließlich als »Vermachtung« von Ökonomie.222 Auch Pollocks 1941 erschienene Aufsätze »State Capitalism« und »Is National Socialism a New Order?« bestätigten diesen Wandel. Bereits darin legte Pollock die später mit Horkheimer und Adorno weiter erforschten strukturellen Ähnlichkeiten zwischen NS-Regime, Sowjetunion und New-Deal-Amerika offen.223 Letztlich uferte diese Faschismustheorie in eine geschichtsphilosophische Totalitarismustheorie aus, in deren Zentrum der Antisemitismus stand: »[A]ntisemitism has always been totalitarian« schrieb Horkheimer entsprechend in einem Brief an Pollock vom April 1943.224 Dem lag Horkheimers Annahme zugrunde, dass »die Judenfrage die Frage der gegenwärtigen Gesellschaft ist«.225 Die Neuorientierung erfolgte dabei als ein Prozess von »Nebeneinander und gelegentlich auf verworrene Weise Miteinander verschiedener Ideen und Pläne, Erklärungen und Argumentationsstrategien«, die sich im Zeitraum von 1940 bis 1945 im Denkkollektiv um Horkheimer sukzessive festsetzten. Seinen Ausdruck fand dies auf theoretischer Ebene in der Dialektik der Aufklärung und auf empiri218 Ebd., S.324. 219 von Wussow, Horkheimer und Adorno, S.176. 220 Dan Diner, Angesichts des Zivilisationsbruchs – Max Horkheimer’s Aporien der Vernunft, in: ders., Gedächtniszeiten. Über jüdische und andere Geschichten. München 2003, S.152-179, hier: S.157. 221 Ebd., S.159 222 Vgl. ebd., S.153, 159. 223 Lenhard, Friedrich Pollock, S.203-214. Horkheimers Text, insbesondere aber Pollocks Aufsätze, führten zu einem Bruch zwischen dem engeren Denkkollektiv um Horkheimer und den ehemaligen IfS-Mitarbeitern Franz Neumann, Otto Kirchheimer, Arkadij Gurland und – mit Abstrichen – auch Herbert Marcuse. Letztere glaubten, das NS-Regime breche in sich selbst zusammen und würde durch die Arbeiter entmachtet werden, während Horkheimer, Pollock und Adorno die Ansicht vertraten, es würde stabile Strukturen ausbilden und dabei durch die Arbeiter unterstützt werden. 224 Max Horkheimer an Friedrich Pollock vom 11.04.1943, zitiert nach: Zvi Rosen, Max Horkheimer. Über die gesellschaftliche Rolle des Judaismus, in: Boll/Gross (Hrsg.), Die Frankfurter Schule und Frankfurt, S.128-135, hier: S.132. 225 Zitiert nach: von Wussow, Horkheimer und Adorno, S.179.

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scher in The Authoritarian Personality.226 So findet sich noch im Kapitel »Elemente des Antisemitismus« in der Dialektik der Aufklärung neben religionshistorischen und geschichtsphilosophischen Herleitungen die Vorstellung, die Juden seien Träger des kapitalistischen Systems.227 Es waren also zwei Dinge, die Veränderungen im Denkkollektiv um Horkheimer bewirkten: Eine epistemische und eine politisch-ideelle Übersetzung, wobei bei Letzterer linkskritische Ansichten in eine antizipierte bürgerlichdemokratische Haltung in den Vereinigten Staaten übertragen wurden; außerdem eine durch die Annäherung an die amerikanisch-jüdische Identitätspolitik des AJC erfolgte Neukonfiguration der eigenen Identität als Juden, die sich in den Selbstwahrnehmungen Horkheimers, Pollocks und Adornos niederschlug.228 Erst die durch die antisemitische Rassenpolitik der Nationalsozialisten verursachte Emigration erzeugte bei der Gruppe um Horkheimer jenes progressivaufklärerische Bewusstsein, dem Judentum als global verfolgter Minderheit per se anzugehören.229 Es konstituierte sich aus einer »überlegenen Zugehörigkeit an die Stelle einer möglichen jüdischen Zugehörigkeit« und sollte »etwaige Reste einer jüdischen Zugehörigkeit in einem kritischen Bewusstsein auflösen und alle äußeren Anzeichen des Jüdischen unsichtbar machen«.230 Dies erklärt auch, weshalb Horkheimer und Adorno ihre jüdischen Geldgeber beim AJC und JLC nach dem Krieg als »die Juden« bezeichneten – nicht aber sich selbst, obwohl sie sich »zu diesem Zeitpunkt bereits in einem eminenten Maß selbst als jüdisch zu erkennen gaben.«231 Von Wussow charakterisiert diese jüdische Identität nach Isaak Deutscher mit dem Ausdruck der »nichtjüdischen Juden«, zu denen er auch die beiden sozialwissenschaftlichen Aufklärer rechnete, die sich zu den universalen Werten der Menschheit bekannten.232

226 Ebd., S.178. 227 Ebd., S.185f. 228 Vgl. UBA Ffm, Na 1, 2, Bl.327: Manfred George, Herausgeber der Zeitschrift Der Aufbau, an Max Horkheimer vom 05.12.1940; UBA Ffm, Na 1, 5, Bl.29-34: Draft, Projektbeschreibung, Beilage zum Memorandum zum Antisemitismus-Projekt, undatiert [vermutlich Frühjahr 1940, F.L.]. Vgl. Reichert, Die unendliche Aufgabe, S.37. Auch Siegfried Kracauer legte in seinem in Paris entstandenen Buch Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit von 1937 dar, dass das Jüdische erst durch die Emigration erzeugt worden sei. Siehe Später, Siegfried Kracauer, S.325. 229 Vgl. Ash, Forced Migration and Scientific Change after 1933, S.245, 254f.; ders., Learning from Persecution, S.271. So auch Marie Jahoda, die meinte: »For me my Jewishness became a true identity only because of Hitler«. Vgl. Ash, Forced Migration and Scientific Change after 1933, S.274. 230 von Wussow, Horkheimer und Adorno, S.174. 231 Ebd., S.200. 232 Ebd.

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Die durch die Vertreibung aus Deutschland in der amerikanischen Emigration aktualisierte und rekonfigurierte jüdische Identität wurde durch die von Horkheimer und vor allem Pollock für die Einreise von Emigranten in die Vereinigten Staaten zu erbringenden Geldbeträge und Bürgschaften zusätzlich verstärkt. Das IfS half vielen befreundeten jüdischen Wissenschaftlern sowie Verwandten aus Deutschland und Österreich auf der Flucht vor den Nationalsozialisten, indem es Affidavits (Bürgschaften) ausstellte und Stipendien vergab.233 Das Institut nutze diese Möglichkeiten in solchem Umfang, dass Horkheimer beim amerikanischen Konsul seine Glaubwürdigkeit als Bürge verlor, weil die Mittel des Instituts die garantierten Hilfeleistungen nicht mehr deckten.234 Philipp Lenhard schreibt, dass sich die Aufwendungen des IfS zwischen 1934 und 1944 für Doktoranden und Promovierte in Notlage auf nahezu 200.000 Dollar beliefen.235 Pollock engagierte sich maßgebend in der Flüchtlingshilfe und war Vizepräsident des 1936 von Paul Tillich in New York initiierten Selfhelp of German Emigres from Central Europe, Inc.236 Hierbei erwies sich die Zusammenarbeit des IfS mit dem Emergency Committee in Aid of Displaced Foreign Scholars (EC) als ausgesprochen erfolgreich. Dies galt sowohl für das EC, für welches das IfS eine Maklerfunktion für hilfesuchende Sozialwissenschaftler einnahm, als auch für das Institut selbst, das dadurch Kosten sparte.237 Neumann, der 1936 nach New York kam, war als einer der ersten Sozialwissenschaftler vom EC mit 2.000 Dollar für das beginnende Studienjahr unterstützt worden. Das EC hatte Pollock und Horkheimer jedoch verpflichtet, Neumann als Permanent Member an ihrem Institut anzustellen. Für das Studienjahr 1938/39 gewährte das EC dann auch Fritz Karsen ein Stipendium von 1.000 Dollar, nachdem dieser zusammen mit Horkheimer in dessen Räumlichkeiten vorgesprochen hatte. Für Karsen galten die gleichen Bedingungen wie für Neumann. Das IfS kam diesen allerdings nicht nach. Weitere finanzielle Unterstützung erhielt Karsen vom Special Research Aid for Deposed Scholars der Rockefeller Foundation, ehe er schließlich eine Anstellung am City College in New York fand.238 Nach den finanziellen Ein233 Vgl. stellvertretend UBA Ffm, Na 1, 7, Bl.108: Max Horkheimer an Erwin Cahn vom 06.05.1940; Bl.128: Max Horkheimer an Erwin Cahn vom 06.04.1940. Vgl. Heufelder, Der argentinische Krösus, S.148. 234 UBA Ffm, Na 1, 4, Bl.247: Von Herrn Prof. Horkheimer diktiert, aber nicht unterzeichnet an Trude vom 17.02.1939 [vermutlich Gertrude Bauer, F.L.]. 235 Lenhard, Friedrich Pollock, S.138f., 153. Umgerechnet auf die heutige Kaufkraft würde diese Summe etwa 3,4 Millionen Euro betragen. 236 Ebd., S.162. 237 Fleck, Etablierung in der Fremde, S.131. Das EC wurde maßgeblich von Felix Warburg finanziert, der auch als der Initiator dieses Hilfskomitees gilt. Bis Ende 1936 stellte er über seine New York Foundation 250.000 Dollar zur Verfügung. Vgl. ebd., S.190f. 238 Ebd., S.134-136.

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bußen des IfS Ende der 1930er Jahre sandten Horkheimer und Pollock »stakkatoartig Anträge an das EC« oder schickten Hilfesuchende direkt in dessen Büro. Dies geschah, wie Christian Fleck vermutet, u.a. mit dem Kalkül, mit dieser Zusammenarbeit das Prestige des Instituts zu erhöhen.239 1944 fanden zwei große Tagungen zum Thema Antisemitismus statt, im Mai eine vom AJC in New York, Mitte Juni eine Tagung der Psychoanalytic Society in San Francisco. Bei diesen Tagungen schloss Horkheimer weitere Allianzen mit empirisch arbeitenden Sozialforschern und Sozialpsychologen. Er tat dies auch vor dem Hintergrund, dass mit dem Rauswurf Fromms die sozialpsychologische Abteilung des IfS verwaist war. Horkheimer wiederum betrieb selbst vor allem philosophische Studien und war schon bei den sozialempirischen Untersuchungen in Europa mehr Steuermann als Praktiker gewesen.240 Pollock leitete zwar sozialempirische Studien, kannte sich jedoch nur wenig mit quantitativen Methoden aus. Das galt mehr noch für Adorno, der neben seinen musikwissenschaftlichen Untersuchungen vor allem in qualitativ-interpretativer Soziologie und kritischer Sozialphilosophie geübt war. Umfangreiche sozialempirische Projekte verlangten jedoch ein Team von Feldforschern und wissenschaftlichen Assistenten. Horkheimer übersetzte seine Forschungsziele deshalb in die Ansätze amerikanischer Sozialwissenschaftler und Sozialpsychologen. So konnte er Else Frenkel-Brunswik und Nevitt R. Sanford von der Universität in Berkeley, die an der Psychoanalytikertagung ihre Pilotstudie über die antisemitische Persönlichkeit vorstellten, für die sozialempirischen Projekte des IfS gewinnen. Beide arbeiteten später mit anderen Sozialwissenschaftlern als Berkeley Public Opinion Study Group an den umfangreichen Untersuchungen antisemitischer Einstellungen und autoritärer Persönlichkeitslagen in der amerikanischen Bevölkerung mit.241 Horkheimer wurde 1944 Research Consultant der wissenschaftlichen Abteilung des AJC, die als Schaltstelle für die Auswertung der sozialempirischen Daten aus den Antisemitismusforschungen fungierte. 1945 ernannte ihn das AJC zum Leiter seines wissenschaftlichen Departments in New York.242 Während er vor allem Anträge schrieb und mit den Geldgebern verhandelte, betreuten Pollock und Adorno die Feldforschungen.243 Als Endprodukt dieses Projekts erschien 1949/50 die von Horkheimer und Samuel H. Flowerman herausgegebene fünfbändige Publikationsreihe »Studies in Preju239 240 241 242

Ebd., S.140, 142. Vgl. auch Dahms, Positivismusstreit, S.186. Abromeit, Max Horkheimer, S.211; Jacobs, The Frankfurt School, S.72f. Platz, Die Praxis der kritischen Theorie, S.57. Theodor W. Adorno an Gershom Scholem vom 09.05.1949, in: Theodor W. Adorno – Gershom Scholem. Briefwechsel, S.60-64, hier: S.63: Anmerkung des Herausgebers. Vgl. Jacobs, The Frankfurt School, 83f.; Später, Siegfried Kracauer, S.463. 243 Vgl. UBA Ffm, Na 1, 10, Bl.341f.: Max Horkheimer an Hans Cornelius vom 29.05.1947, hier: Bl.341. Exemplarisch: UBA Ffm, Na 1, 61, Bl.127-130: Max Horkheimer an Samuel H. Flowerman vom 13.03.1948, hier: Bl.127.

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dice« auf dem amerikanischen Buchmarkt.244 Aus dieser erlangte vor allem The Authoritarian Personality von Adorno, Frenkel-Brunswik, Daniel J. Levinson, Sanford und weiteren Mitarbeitern Bekanntheit. Dieser Band, so Mitchell G. Ash, sei Produkt der Verbindung zweier Mechanismen gewesen: der erzwungenen Migration und dem dadurch bedingten wissenschaftlichen Wandel.245 Die neuen Allianzen zwischen den IfS-Mitarbeitern und den amerikanischjüdischen Interessenverbänden stellten die Grundvoraussetzungen zur Fortsetzung ihrer wissenschaftlichen Karrieren in der Emigration dar. Ash und Alfons Söllner zeigen, dass finanzielle Ressourcen und einflussreiche Vermittler in den Emigrationsländern für derartige Kontinuitäten unabdingbar waren. Emigranten, die in die Türkei, nach Lateinamerika oder Palästina flüchteten, hatten – verglichen mit jenen, die es in die Vereinigten Staaten schafften  – weit größere Mühe, Anschluss an die örtlichen akademischen Verhältnisse zu finden. Nicht selten mussten sie ihren Lebensunterhalt jenseits der Universitäten bestreiten.246 Anderen Emigranten wie Ernst Bloch gelang nie wirklich der Einstieg ins amerikanische akademische und intellektuelle Feld, auch weil sie über kein so ausgreifendes internationales Netzwerk verfügten wie Horkheimer. So hatten Edgar Zilsel247 und Siegfried Kracauer größte Schwierigkeiten, ihren Lebensunterhalt in Amerika zu finanzieren. Kracauer wurde zusätzlich zu einem finanziellen Zuschuss der New School for Social Research in New York zwar zeitweise vom IfS unterstützt. Er erhielt vom Institut aber nicht genügend finanzielle Mittel, um seine Existenz dauerhaft zu sichern. Das lag wohl auch an der persönlichen und intellektuellen Antipathie zwischen ihm und Horkheimer, die bereits in Frankfurt bestanden hatte.248 Zudem glaubten sowohl Zilsel als auch Kracauer 244 Ziege, Antisemitismus und Gesellschaftstheorie, S.70, 175. Vgl. Max Horkheimer/ Samuel H. Flowerman (Hrsg.), Studies in Prejudice, 5 Bde. New York 1950. 245 Ash, Learning from Persecution, S.274, 284-292. 246 Ash/Söllner, Introduction, S.9f. Vgl. Ash, Forced Migration and Scientific Change after 1933, S.248. 247 Vgl. Fleck, Etablierung in der Fremde, S.251-287. 248 Martin Jay, Mass Culture and Aesthetic Redemption: The Debate between Max Horkheimer and Siegfried Kracauer, in: Benhabib/Bonß/McCole (Hrsg.), On Max Horkheimer, S.365-383, hier: S.367-380. Vgl. Später, Siegfried Kracauer, S.14-16, 297-320, 342, 367, 373-418. In Paris erhielt Kracauer neben anderen Stipendien und kleineren Beträgen von der New School for Social Research im Februar 1936 2.250 Francs und ab Januar 1938 vom IfS 6.000 Francs für eine Auftragsarbeit über die NS-Propaganda. In den Vereinigten Staaten war Kracauer zunächst Freelancer, wurde dann Forschungsberater an Lazarsfelds Bureau of Applied Social Research an der Columbia University und gefragter Gutachter für amerikanische Stiftungen. Zur Antipathie Horkheimers gegenüber Kracauer in Frankfurt finden sich Hinweise im Briefwechsel zwischen Adorno und Kracauer. Vgl. Theodor W. Adorno an Siegfried Kracauer vom 12.05.1930, in: Theodor W. Adorno –

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in Verkennung der realen Situation, sie bräuchten keinen im amerikanischen Wissenschaftsfeld angesehenen und wissenschaftspolitisch mächtigen Mentor, der ihnen bei der Etablierung hätte helfen können.249 Wieder andere, darunter Walter Benjamin, der sich 1940 an der französisch-spanischen Grenze das Leben nahm, sowie Helene Hintze und Hans Przibram, die von den Nationalsozialisten verhaftet wurden, fanden gar nicht erst aus Europa heraus.250 Aus dieser Perspektive müssen Horkheimer, Pollock und Adorno als Privilegierte unter den NS-Geschädigten gesehen werden. Dass die Columbia University in der Zusammenarbeit mit dem IfS einen wissenschaftspolitischen Gewinn sah, war ein außerordentlich günstiger Umstand.251 Zugleich fungierten Leute wie Horkheimer als Gatekeeper und Wissensmakler bei der Vergabe von Bürgschaften und bei der Vermittlung von Hilfesuchenden an Organisationen wie das EC.252 Über ihre finanziellen und wissenschaftspolitischen Möglichkeiten bestimmten sie demnach darüber mit, wer in die Vereinigten Staaten kam und wer nicht. Sie beeinflussten auf diese Weise auch die Kontinuitäten oder Diskontinuitäten bestimmter Forschungsthemen, Theorien und Methoden.253 Sie verfolgten hierbei nicht nur humanitäre und wissenschaftliche Absichten, sondern nutzten ihre Stellung auch zu persönlichen Protektionen, wobei Sympathien und Antipathien eine nicht zu unterschätzende Rolle spielten.

249 250 251

252 253

Siegfried Kracauer. Briefwechsel, S.206-211, hier: S.209; Siegfried Kracauer an Theodor W. Adorno vom 25.05.1930, in: Theodor W. Adorno – Siegfried Kracauer. Briefwechsel, S.214-216, hier: S.215f.; Theodor W. Adorno an Siegfried Kracauer vom 12.01.1933, in: Theodor W. Adorno – Siegfried Kracauer. Briefwechsel, S.296300, hier: S.297f.; Siegfried Kracauer an Theodor W. Adorno vom 24.10.1936, in: Theodor W. Adorno – Siegfried Kracauer. Briefwechsel, S.319-322, hier: S.320. Siehe auch die nachfolgenden Briefe zwischen Adorno und Kracauer bis Anfang 1937. Zu Bloch vgl. Später, Siegfried Kracauer, S.543. Vgl. Fleck, Etablierung in der Fremde, S.293f. Ebd., S.408. Allgemein zu wissenschaftspolitischen Strategien von Gastinstitutionen in den Emigrationsländern siehe Ash, Forced Migration and Scientific Change after 1933, S.249. Fleck, Etablierung in der Fremde, S.336. Ash/Söllner, Introduction, S.11; Ash, Forced Migration and Scientific Change after 1933, S.252. Ähnliche Mechanismen finden sich am Beispiel der aus Deutschland und Österreich geflohenen Mathematiker. Siehe Reinhard Siegmund-Schultze, Mathematicians Fleeing from Nazi Germany: Individual Fates and Global Impact. Princeton 2009.

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5.2.2. Festigung des dialektisch-geschichtsphilosophischen Idioms Horkheimer plante schon in den frühen 1930er Jahren eine umfassende Arbeit über dialektische Logik. Als er ab 1939 den Personalbestand des IfS reduzierte, arbeitete er enger mit Adorno zusammen. Dadurch erhielt die dialektische Philosophie als intellektuelle Basis seiner Kritischen Theorie wachsendes Gewicht.254 Die zeit- und arbeitsintensive Etablierung des neuen deutsch-amerikanischen Denkstils und dessen Aufspaltung in Sozialempirie und demokratische Erziehungspolitik verhinderten allerdings zunächst eine Vertiefung seiner entsprechenden Forschungen. Erst durch den Austausch mit Adorno, mit dem Horkheimer 1941 nach Pacific Palisades in Kalifornien umgezogen war  – Pollock verblieb als Geschäftsführer des IfS zunächst in New York und zog 1949 erst nach Santa Monica255  –, entwickelte das Denkkollektiv die dialektischen Ansätze weiter, ohne diese bereits durch Allianzen absichern zu können.256 Die Ergebnisse dieses Prozesses sind in Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung (1947) sowie in dem allein von Horkheimer verfassten Werk Eclipse of Reason (1947) veröffentlicht. Auch Adornos zwischen 1944 und 1946/47 verfasste Aphorismensammlung Minima Moralia gehörte dazu, die allerdings erst 1951 auf dem deutschen Buchmarkt erschien. Horkheimers und Adornos philosophisch-dialektisches Idiom konvergierte so stark, dass daraus eine esoterische Wissensebene entstand. Adorno fasste dies in einem Brief an Thomas Mann vom 5.  Juli 1948 so zusammen, dass seine »Beziehung zu diesem Institut und die Freundschaft mit Horkheimer« nicht zu trennen sei »von meiner dialektischen Gedankenrichtung meiner gesellschaftlich-geschichtsphilosophischen Tendenz.«257 Gegenüber der Außenwelt blieben diese Entwicklungen relativ isoliert, da keine Übersetzungen in die gängigen amerikanischen Philosophien und Sozialtheorien erfolgten, zumal beide Denkarten an vielen Punkten nicht in Übereinstimmung zu bringen waren. In theoretischer Hinsicht waren die amerikanischen Sozialwissenschaften in den 1930er und 1940er Jahren ausgesprochen heterogen. In der Theoriebildung fanden sich nebst der Chicago School jüngere, erst im Kalten Krieg dominierende Ansätze des positivistisch-handlungsorientierten Behaviorismus und des Strukturfunk-

254 Abromeit, Max Horkheimer, S.336-341; Jäger, Adorno, S.145, 153-156. 255 Lenhard, Friedrich Pollock, S.225, 249f. 256 UBA Ffm, Na 1, 1, Bl.33: Max Horkheimer an Franz Alexander vom 22.09.1938. Vgl. Abromeit, Max Horkheimer, S.302, 394f. Siehe auch Breuer, Kritische Theorie, S.33-46, 51. 257 Theodor W. Adorno an Thomas Mann vom 05.07.1948, in: Theodor W. Adorno – Thomas Mann. Briefwechsel 1943-1955, hrsg. v. Christoph Gödde und Thomas Sprecher. Frankfurt am Main 2003 [2002], S.33-37, hier: S.33f.

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tionalismus Parsons’.258 Hinzu kamen interpretierend-ideografische Ansätze von Charles Horton Cooley und Howard P. Becker, kulturanthropologische, oft an die Verhaltensbiologie angelehnte Untersuchungen wie diejenigen George Herbert Meads und ältere, auf den Sozialdarwinismus Herbert Spencers zurückgehende Forschungen von William Graham Sumner, Albion Small und Edward A. Ross.259 Stark rezipiert wurden in den Vereinigten Staaten zudem die ethnologisch-strukturfunktionalistischen Arbeiten Bronislaw Malinowskis und Alfred Radcliffe-Browns260 sowie der Logische Empirismus Wiener und Berliner Prägung, der vor allem von Emigranten in den Vereinigten Staaten weiterentwickelt worden war. In vier Aufsätzen, besonders in »Traditionelle und kritische Theorie« (1937), formulierte Horkheimer eine Kritik am amerikanisch-englischen Rationalismus, der empirischen Sozialforschung und der phänomenologischen Erkenntnisgewinnung. Er kritisierte die Geschichtslosigkeit und Statik des Logischen Empirismus, da ohne historisches Bewusstsein die Formulierung einer, den gegenwärtigen Gesellschaftsverhältnissen adäquaten Sozialtheorie nicht möglich sei.261 Ihm zufolge kreierten diese nomothetisch orientierten und hypothesengeleiteten Erkenntnisverfahren lediglich eine neue Metaphysik, die letztlich den Fantastereien völkischer Essenzialisten in nichts nachstehe. Vernunftloser Rationalismus und Irrationalismus liefen für Horkheimer mithin auf dasselbe Ergebnis hinaus.262 Der mit dem technischen Fortschritt des Bürgertums verbundene »Positivismus« hatte in seinen Augen »das Dogma von der Unwandelbarkeit der Naturgesetze« und den »Glauben an die Möglichkeit eines abschließenden Sys-

258 Parsons hatte Max Webers Idealtypen mit der Rational Choice Theory und dem amerikanischen Pragmatismus William James’, Charles S. Peirces und John Deweys verkoppelt. Vgl. Robert C. Bannister, Sociology, in: Porter/Ross (Hrsg.), The Modern Social Sciences, S.329-353, hier: S.344-348; Haney, The Americanization of Social Science, S.71-74; Helmut R. Wagner, Der Einfluss der deutschen Phänomenologie auf die amerikanische Soziologie [1976], in: Lepenies (Hrsg.), Geschichte der Soziologie, Bd.4, S.201-236, hier: S.205f. 259 Gerhardt, »Max Weber im Exil«, S.31f. 260 Steinmetz, American Sociology, S.316-339. Vgl. Jürgen Hartmann, Geschichte der Politikwissenschaft. Grundzüge der Fachentwicklung in den USA und in Europa. Opladen 2003, S.49-99. 261 Max Horkheimer an Friedrich Pollock vom 09.06.1943. Zitiert nach: Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, S.383. Siehe dazu Dahms, Positivismusstreit, S.154-166. 262 Max Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie [1937], in: ders., Traditionelle und kritische Theorie. Fünf Aufsätze, 7. Aufl. Frankfurt am Main 2011, S.205-259, hier: S.209-211, 213, 220, 225, 227f., 246-250. Vgl. Abromeit, Max Horkheimer, S.301-321; Jay, The Dialectical Imagination, S.82f.

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tems« zur »metaphysischen These« erhoben:263 »[S]owohl die Bewußtseinsphilosophie, der cartesianische Rationalismus und der englische Empirismus, als auch die moderne irrationalistische ›Weltanschauung‹ tragen idealistischen Charakter«, denn – dies hatte Horkheimer schon 1934 formuliert – sie »sollen eine ewige Wahrheit offenbaren«.264 In Eclipse of Reason,265 das erst 1967 unter dem Titel Zur Kritik der instrumentellen Vernunft in deutscher Sprache erschien, setzte sich Horkheimer insbesondere mit dem amerikanischen Pragmatismus auseinander. Diese »subjektive Philosophie« besaß für ihn keinen objektiv-wertenden Standpunkt, da sie eine Entscheidung über gut oder schlecht nicht zulasse. Ein solcher sei allerdings nötig, weil nur dadurch dem fortschreitenden Autoritarismus entgegengewirkt werden könne. Tatsächlich jedoch spiele der Pragmatismus dem jeweils herrschenden Politiksystem in die Hände, gleichgültig, ob es sich dabei um den Faschismus oder die totale Technokratie der kapitalistischen Welt handele.266 Er könne, so die Schlussfolgerung, keine vernunft- und wahrheitsorientierte Philosophie sein, sondern bereite lediglich dem Utilitarismus und der Instrumentalisierung des Denkens den Weg. Den gesellschaftlichen Bezug wissenschaftlichen Wissens stellte Horkheimer dabei nicht grundsätzlich in Frage. Schon 1934 hatte er betont, dass »nicht das formale Kriterium der Wahrheit allein« über »den Wert einer Theorie entscheidet«, sondern »ihr Zusammenhang mit den Aufgaben, die im bestimmten historischen Moment von fortschrittlichen sozialen Kräften in Angriff genommen sind«. Dieser Wert gelte jedoch nicht für die gesamte Menschheit, »sondern zunächst bloß für die an der Aufgabe interessierte Gruppe.«267 Erhebe die Wissenschaft jedoch keinen Anspruch mehr auf Wahrheit, mache sie sich zur Helfershelferin der Politik – und diese wiederum ziele im Kontext der zeitgenössischen Situation betrachtet auf Unterdrückung der Menschen und totale Verwaltung ab, egal, ob es sich dabei um Faschismus, Liberalismus oder Sowjetkommunismus handele.268 Die einzige Haltung, die einer solchen Entwicklung entgegenstand, war für Horkheimer – und auch für 263 Dahms, Positivismusstreit, S.57. Vgl. auch Andrea Albrecht/Martin Prager, Angriff oder Erwiderung. Neurath, Horkheimer und die Praxis der Kritik, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 13 (2019) 1, S.20-32, hier: S.20. 264 Horkheimer, Zum Rationalismusstreit in der gegenwärtigen Philosophie, S.169. 265 Das Buch basiert auf Vorlesungen, die Horkheimer 1944 an der Columbia University gehalten hatte. Siehe Dahms, Positivismusstreit, S.191. 266 Max Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, aus dem Englischen v. Alfred Schmidt. Frankfurt am Main 2007 [1967], S.22f., 55-75, 89f. Vgl. kritisch dazu Dahms, Positivismusstreit, S.202-225. 267 Horkheimer, Zum Rationalismusstreit in der gegenwärtigen Philosophie, S.191f. 268 Wolfgang Bialas weist darauf hin, dass bereits in der frühen Kritischen Theorie eine anthropologisch-teleologische Komponente vorhanden war, denn sie »vertraut darauf, dass sowohl der Widerstand gegen die kapitalistische Klassengesellschaft als

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Adorno – die des autonomen, nonkonformistischen, freiheitlich-individualistischen Intellektuellen.269 Stärker als seine Arbeiten aus den späten 1920er und frühen 1930er Jahren zeichnete sich Eclipse of Reason durch geschichtsphilosophische Elemente aus. Horkheimer kritisierte nicht bloß die spezifische Form bürgerlichen Vernunftglaubens, sondern die wissenschaftlich-intellektuellen Bewusstseinslagen westlich-moderner Gesellschaften überhaupt. »[I ]nstrumentelle Vernunft« sah er im Kern bereits in der klassischen Antike angelegt,270 sie sei der westlichen Philosophie von Beginn an eingepflanzt gewesen. Nun, im »Zeitalter des Relativismus«, werde alles und jeder »klassifiziert und mit einem Etikett« versehen:271 »Nach der Philosophie des durchschnittlichen modernen Intellektuellen gibt es nur eine Autorität, nämlich die Wissenschaft, begriffen als Klassifikation von Tatsachen und Berechnungen von Wahrscheinlichkeiten.« Dass »Gerechtigkeit und Freiheit an sich besser sind als Ungerechtigkeit und Unterdrückung«, ließe sich in der Haltung der Vertreter dieser Richtung nicht verifizieren.272 Vielmehr manifestiere sich im Pragmatismus, im Logischen Empirismus, in der strukturfunktionalistischen Systemtheorie und im Behavorismus das Scheitern jener materialistisch-dialektischen Vereinigung von Philosophie und Wissenschaft, die er schon um 1930 herum angestrebt hatte. Weil mit diesen Ansätzen keine Differenzierung zwischen Freiheit/Gerechtigkeit und Unterdrückung/Ungerechtigkeit vorgenommen werden könne, so Horkheimer weiter, würden sie die nun dominante politische Strömung des Faschismus, jene technisierte und verwissenschaftlichte Barbarei, wissenschaftlich untermauern. »[M]ittelalterliche Ontologien« würden so »zum modernen Gebrauch empfohlen«.273 Gleichwohl war Horkheimers Buch nicht frei von Widersprüchen: Auf der einen Seite sah er die Entwicklung der modernen Gesellschaft zur technokratischen Barbarei nicht als unabwendbaren Prozess. Diese sei – bei aller Neigung zur autoritären Persönlichkeit – nicht in der Natur des Menschen angelegt. Der »totalitäre Angriff der menschlichen Gattung auf alles, was sie von sich ausschließt«, leitete sich für ihn vielmehr »aus Beziehungen zwischen Menschen her

269

270 271 272 273

auch das Ziel einer klassenlosen Gesellschaft als Telos jedem Menschen immanent ist.« Siehe Bialas, Geschichtsphilosophie in kritischer Absicht, S.40. Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, S.101, 165, 196-206; Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, hrsg. v. Rolf Tiedemann, unter Mitwirkung v. Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz (Gesammelte Schriften, Bd.4). Frankfurt am Main 2003 [1951], S.42. Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, S.31. Vgl. Abromeit, Max Horkheimer, S.416. Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, S.35f. Ebd., S.37. Vgl. dazu auch Kurig, Bildung für die technische Moderne, S.397f. Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, S.76f., 86f.

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als aus eingeborenen menschlichen Qualitäten.«274 Auch den Gedanken, dass der Nationalsozialismus spezifisch nationalen Bewusstseinslagen der Deutschen entsprungen sei, wies er zurück: »Die Nazis manipulierten die unterdrückten Wünsche des deutschen Volkes. Als die Nazis und ihre industriellen und militärischen Hintermänner ihre Bewegung lancierten, mußten sie die Massen gewinnen, deren materielle Interessen nicht die ihren waren.«275

Auf der anderen Seite nahm er im Buch gleichzeitig eine psychologisch-anthropologische Perspektive ein: »Die Krankheit der Vernunft gründet in ihrem Ursprung, dem Verlangen des Menschen, die Natur zu beherrschen, und die ›Genesung‹ hängt von der Einsicht in das Wesen der ursprünglichen Krankheit ab, nicht von einer Kur der spätesten Symptome.«276

Die »wahre Kritik der Vernunft« musste für Horkheimer »die tiefsten Schichten der Zivilisation aufdecken und ihre früheste Geschichte erforschen.« Letztere datierte er in die »Zeit, da die Vernunft das Instrument der Beherrschung der menschlichen und außermenschlichen Natur durch den Menschen wurde – das heißt seit ihren frühesten Anfängen«.277 Diese universalisierende geschichtsphilosophische, gleichzeitig jedoch ahistorische Sicht führte dazu, dass für Horkheimer die als kollektiver Wahnsinn bezeichneten Konzentrationslager und die »scheinbar höchst harmlosen Wirkungen der Massenkultur« im Keim »schon in der primitiven Objektivation vorhanden« waren, »in des ersten Menschen kalkulierender Betrachtung der Welt als Beute«.278 Gegensätze zwischen materialistisch-historischer Situierung und philosophischanthropologischer Universalisierung finden sich ebenso in Adornos Minima Moralia. Auch dieser vertrat eine dialektische Philosophie des autonomen, kritisch denkenden und nonkonformistischen Individuums,279 dessen Existenz in den Systemen des Liberalismus, Kommunismus und Faschismus jedoch nicht 274 275 276 277 278 279

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Ebd., S.126. Ebd., S.139. Ebd. Ebd., S.195. Ebd. Adorno, Minima Moralia, S.20, 42, 50. Gershom Scholem bezeichnete die in der Minima Moralia zutage tretende Denkart als »in bester esoterischer Tradition in der Dialektik« stehend. Vgl. Gershom Scholem an Theodor W. Adorno vom 22.02.1952, in: Theodor W. Adorno  – Gershom Scholem. Briefwechsel, S.82-84, hier: S.83.

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möglich sei: »Es gibt kein richtiges Leben im falschen.«280 Wie bei Horkheimer standen bei ihm Glück und »die Lehre vom richtigen Leben« als Momente gegen die Konsumkultur, die in einer vergangenen Zeit existiert hätten: »Was einmal den Philosophen Leben hieß, ist zur Sphäre des Privaten und dann bloß noch des Konsums geworden, die als Anhang des materiellen Produktionsprozesses, ohne Autonomie und ohne eigene Substanz, mitgeschleift wird.«281 Philosophie als eine vom Kapitalismus abgekoppelte Sphäre stehe jedoch gegen die instrumentelle Wissenschaft: »Die Verdrängung der Philosophie durch die Wissenschaft hat, wie man weiß, zu einer Trennung der beiden Elemente geführt, deren Einheit Hegel zufolge das Leben von Philosophie ausmacht, Reflexion und Spekulation.« Dabei werde Reflexion als wissenschaftliche Wahrheit gesehen, Spekulation dagegen sei zur bloßen Formulierung von Hypothesen degeneriert.282 Adorno wandte sich strikt gegen die pragmatische Verwendung der Dialektik durch die englische Hegel-Schule und Dewey, die diese für den »sense of proportions, das Einstellen der Dinge in ihre rechte Perspektive« missbrauchen würden.283 Wie für Horkheimer beinhalteten Massen- und Konsumkultur sowie Instrumentalisierung und Technisierung des Denkens auch für Adorno Fortschritt und Barbarei zugleich. Dies sei sowohl im Faschismus als auch im Liberalismus deutlich sichtbar: »Fortschritt und Barbarei sind heute als Massenkultur so verfilzt, daß einzig barbarische Askese gegen diese und den Fortschritt der Mittel das Unbarbarische wieder herzustellen vermöchte.«284 Wo diese Entwicklung hinführe, stand Adorno klar vor Augen: in die Arbeits- und Konzentrationslager der Nationalsozialisten.285 Damit historisierte er einerseits die Entwicklung des Faschismus, weil ein richtiges Leben einmal in der Geschichte möglich gewesen sei. Er zeichnete also eine dialektisch gedachte, materialistisch-historische Entwicklung der total verwalteten Welt nach. Andererseits enthistorisierte er diesen Prozess an verschiedenen Stellen zugleich wieder, indem er ihn in die Menschheitsentwicklung anthropologisch-universalistisch einordnete: »Die Logik der Geschichte ist so destruktiv wie die Menschen, die sie zeitigt: wo immer ihre Schwerkraft hintendiert, reproduziert sie das Äquivalent des vergangenen Unheils.«286

280 Adorno, Minima Moralia, S.43. Vgl. Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle. 281 Adorno, Minima Moralia, S.13. 282 Ebd., S.76. 283 Ebd., S.80. 284 Ebd., S.56. 285 Ebd., S.42. 286 Ebd., S.62.

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Horkheimers Eclipse of Reason war in englischer Sprache verfasst und für den amerikanischen Markt geschrieben.287 Das Werk beinhaltete Teilübersetzungen des dialektisch-philosophischen Idioms Horkheimers und Adornos in philosophische und gesellschaftskritische Ansätze ihrer amerikanischen Fachkollegen. So bestanden auch Überschneidungen zu Werken amerikanischer Autoren, wie etwa David Riesmans, Nathan Glazers und Reuel Denneys The Lonely Crowd von 1950. Dieser Band habe nach Matthias Benzer später auch Einfluss auf Adornos Analysen der Massengesellschaft gehabt.288 Die Autoren von The Lonely Crowd verwendeten Methoden der Sozialpsychologie, um bestimmte Tendenzen der amerikanischen Massengesellschaft, insbesondere der Mittelklasse, zu kritisieren, die die Autonomie des Individuums in der Gesellschaft der Vereinigten Staaten der späten 1940er und frühen 1950er Jahre bedrohten.289 Auch Horkheimer formulierte in Eclipse of Reason vor allem eine Kritik am wissenschaftlichen Denken der Amerikaner. Sein durchaus progressives Buch zielte auf eine Verbesserung der seiner Ansicht nach desolaten Lage der philosophischen und wissenschaftlichen Denkhaltungen in Amerika. Im Gegensatz dazu waren Dialektik der Aufklärung und Minima Moralia in deutscher Sprache verfasst und Übersetzungen ins Englische nicht beabsichtigt.290 Vor allem Adorno stilisierte  – nach einem Bonmot Löwenthals  – die Dialektik der Aufklärung als »Flaschenpost« und deutete damit auf den esoterischen Charakter des Buches hin.291 Das in den Werken repräsentierte dialektisch-geschichtsphilosophische Idiom ließ sich zudem kaum in die amerikanisch-englische, stark von der formalen Logik geprägte Denkweise übersetzen. Über Letztere ging die spekulative Denkart Horkheimers und Adornos hinaus, 287 Robert Zwarg, Die Kritische Theorie in Amerika. Das Nachleben einer Tradition (Schriften des Simon-Dubnow-Instituts, Bd. 27). Göttingen 2017, S.19. 288 Benzer, The Sociology, S.28f. 289 Vgl. David Riesman/Nathan Glazer/Reuel Denney, The Lonely Crowd: A Study of the Changing American Character. New York 1950. 290 Vgl. Martin Jay, Adorno in Amerika, in: Claussen/Negt/Werz (Hrsg.), Keine Kritische Theorie ohne Amerika, S.46-76, hier: S.46-49. Allgemein kann festgehalten werden, dass die engeren IfS-Mitarbeiter nur wenige Publikationen in den angesehenen amerikanischen Zeitschriften für Soziologie, Politikwissenschaft oder Philosophie unterbrachten. Vgl. Ziege, Antisemitismus und Gesellschaftstheorie, S.50, 180. Siehe auch die starke Verhaftung von Adornos Denken in der deutschen Sprache. Vgl. Adorno, Fragen an die intellektuelle Emigration. Vgl. auch Jeffrey Herf, The Displacement of German History in the Dialectic of Enlightenment, in: Moritz Epple u.a. (Hrsg.), »Politisierung der Wissenschaft«. Jüdische Wissenschaftler und ihre Gegner an der Universität Frankfurt am Main vor und nach 1933 (Schriftenreihe des Frankfurter Universitätsarchivs, Bd.5). Göttingen 2016, S.447467, hier: S.448. 291 Vgl. Schmid Noerr, Flaschenpost, S.253.

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für die das gleichzeitige Festhalten von Identität und Nichtidentität im grammatischen Subjekt- und Prädikatsausdruck eines philosophischen Satzes ausschlaggebend war.292 Gerade in den 1930er und 1940er Jahren sprachen sich viele englische und amerikanische Philosophen vehement gegen die idealistische und dialektische Philosophie Hegels aus. Die seit dem Ersten Weltkrieg bestehenden intellektuellen Fronten zwischen »englisch-französischen rationalistischen Empiristen« und »hegelianischen deutschen Metaphysikern« verhärteten sich in dieser Zeit weiter. Politische Philosophen wie Isaiah Berlin sahen Hegels Metaphysik gar als einen der ideenhistorischen Ursprünge des modernen Totalitarismus.293 Dies alles war Horkheimer und Adorno durchaus bewusst. Horkheimer schrieb deshalb bereits 1937, dass seine Kritik der »herrschenden Urteilsweise« in den Vereinigten Staaten als »subjektiv und spekulativ, einseitig und nutzlos« erscheinen müsse.294 Dennoch versuchten sie in der Dialektik der Aufklärung zu zeigen, dass die Aufklärung – konzipiert sowohl als »Kennzeichnung einer historischen Epoche wie einer geistesgeschichtlichen Ideenformation«295 – gleichzeitig die bürgerliche Emanzipation und die Selbstzerstörung des Bürgertums ausgelöst habe. Diese Entwicklung habe zwar nicht in teleologischem Sinne in die unabweisbare Vernichtung der bürgerlichen Welt geführt, resultiere aber doch in ihrer unwahrscheinlichen Errettung.296 Das Werk unterlegte eine dialektisch-psychologische, letztlich ahistorische und anthropologische Geschichtsphilosophie, wenn Horkheimer und Adorno diesen Prozess bereits in der Antike, wenn nicht gar in grauer Urzeit einsetzen ließen und universalisierten.297 Für die Interpretation von der Dialektik der Aufklärung als weitgehend ahis292 Vgl. Schnädelbach, Hegel zur Einführung, S.22f. 293 Arie M. Dubnov, Isaiah Berlin: The Journey of a Jewish Liberal. New York 2012, S.72, 138, 195. 294 Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie, S.235. 295 Bialas, Geschichtsphilosophie in kritischer Absicht, S.94f. 296 Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, 17. Aufl. Frankfurt am Main 2008 [1947], S.7. Bialas betont, dass zwar ein »Adressat dieser Kritik der Aufklärung, vom dem eine Wende der diagnostisierten [sic] Misere, irgendwann, irgendwie, zu erwarten wäre«, nicht benannt wird. Horkheimer und Adorno hätten aber von einem »eingebildeten Zeugen« geschrieben, mit dem nicht ein Einzelner gemeint war, sondern einer, »dem wir es [die Dialektik der Aufklärung, F.L.] hinterlassen, damit es doch nicht ganz mit uns untergeht.« Zitiert nach: Bialas, Geschichtsphilosophie in kritischer Absicht, S.109. 297 Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, S.51. Vgl. Abromeit, Max Horkheimer, S.425-432; Jay, The Dialectical Imagination, S.258-266. Vgl. Herf, The Displacement of German History, S.447, 449; Jäger, Adorno, S.173-181; Söllner, Archäologie der deutschen Demokratie, S.14f. Siehe auch Breuer, Kritische Theorie, S.69-73.

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torische Geschichtsphilosophie spricht, dass die Vorstellung von einer sich radikalisierenden Weiterführung archaisch-mythischer Elemente durch die Aufklärung in eine neue Barbarei der Gegenwart Verwandtschaft zu Ideen des Schweizer Psychiaters und Psychotherapeuten Carl Gustav Jung aufwies. Für diesen stellte der Nationalsozialismus das Erwachen von seit der Urzeit gespeicherten, arteigenen kollektiven Archetypen dar, was er in den frühen 1930er Jahren noch enthusiastisch begrüßte.298 Das bürgerliche Bewusstsein erschien bei Horkheimer und Adorno nicht mehr als Ausdruck einer historisch-materialistischen Lage, sondern als von den Menschen angestrebte Naturbeherrschung schlechthin. Auch der Antisemitismus in seiner ins Extrem getriebenen Konsequenz, der systematischen Massenvernichtung der Juden, resultierte nach ihrer Meinung aus eben jenem aufklärerisch-bürgerlichen Denken.299 Aus dieser geschichtsphilosophischen Perspektive formulierten sie eine Fundamentalkritik der Moderne, an deren westlich-liberalen, faschistischen wie auch sowjetkommunistischen Varianten – und sie verwischten zugleich die Grenzen zwischen denselben.300 Damit erübrigte sich in ihren Augen die Vorstellung, dass nach dem Zweiten Weltkrieg und nach Auschwitz das Leben normal weitergehen oder gar die Kultur wieder hergestellt werden könne. Denkt man die Dialektik der Aufklärung zu Ende, so stand dort die Möglichkeit der totalen Selbstvernichtung der Menschheit im Raum.301 Diese spekulative und pessimistische Geschichtsphilosophie schloss eine Übersetzung in den Theoriediskurs der amerikanischen Sozialwissenschaften und Philosophie aus. 5.2.3. Sozialwissenschaftliche Demokratisierungspraxis Die Transformation gesellschaftskritischen Denkens in eine Form sozialempirischen Wissens zielte auch auf eine fortschrittsorientierte Verbesserung der zeitgenössischen Gesellschaft ab. Hierfür galt es, empirisches Wissen in demokratische Erziehungspolitik zu übersetzen, woraus sich eine weitere Wissensebene aus dem neuen deutsch-amerikanischen Denkstil des Kollektivs um Horkheimer herausschälte. Das setzte Kooperationen mit Vertretern von öffentlichen Institutionen wie Gewerkschaftsfunktionären und -mitgliedern als auch Repräsentanten der jüdischen Interessenverbände voraus. Horkheimer, Pollock und Adorno leisteten diese Übersetzungsarbeit vor allem im Rahmen der Studie »Anti-Semitism among American Labor«. Sie sprachen etwa vor Gewerkschafts298 Vgl. Urs Aeschbacher, C.G. Jung, das »Dritte Reich« und die Gewalt der Seele, in: Aram Mattioli (Hrsg.), Intellektuelle von rechts. Ideologie und Politik in der Schweiz 1918-1939. Zürich 1995, S.73-89, hier: S.76f. 299 Ebd. 300 Vgl. ebd., S.119f. 301 Bialas, Geschichtsphilosophie in kritischer Absicht, S.121.

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versammlungen und vermittelten einem sozialwissenschaftlich ungeschulten Publikum ihr empirisch erhobenes Wissen.302 Horkheimer meinte 1939 und 1941, je »nach Stiftungen oder Privatpersonen, die in Frage kommen, werden die Projekte natürlich mit spezifischen Mantelnoten versehen, die viel populärer und direkter gehalten sind als die Entwürfe selbst.« Denn die Wissenschaft existiere »hier zu Lande nicht wie in Europa aus Staatsmitteln, sondern aus privaten Quellen«303 und lebe so »vom kunstgerechten Bettel«.304 Den Übersetzungen sozialempirischen Wissens in die Interessen von Erziehungspolitikern und Akteuren öffentlicher Institutionen, die sich im Kampf gegen den Antisemitismus in den Vereinigten Staaten engagierten, lagen demnach auch handfeste finanzielle Abwägungen zugrunde. Sie zogen Bemühungen der Vermittlung sozialempirischen Wissens an die Öffentlichkeit nach sich, die im Sinne Ludwik Flecks als Popularisierungen bezeichnet werden können.305 Die »Studies in Prejudice« waren nicht zuletzt deshalb ein Sensationserfolg in den Vereinigten Staaten, weil Horkheimer zusammen mit dem AJC intensive Öffentlichkeitsarbeit betrieb und so für die Verbreitung des darin gesammelten sozialwissenschaftlichen Wissens sorgte.306 5.2.4. Das Wechselverhältnis zwischen den drei Wissensebenen: Epistemische Widersprüche Die drei Wissensebenen standen in einem Wechselverhältnis zueinander,307 das von epistemischen Widersprüchen gekennzeichnet war. Aus dem Briefwechsel zwischen Horkheimer und Adorno geht hervor, dass die beiden auf der dialektisch-geschichtsphilosophischen Wissensebene Lazarsfeld für dessen affirmative Haltung zu gesellschaftlichen Erscheinungen kritisierten. Diese lief ihrer Meinung nach auf eine Reproduktion und Bestätigung der gesellschaftlichen Zustände hinaus. Zugleich aber suchte Horkheimer auf der sozialempirischen Wissensebene für die von ihm geleiteten Untersuchungen die Zusammenarbeit mit eben solchen »positivistisch«, aber eben auch wissenschaftlich zeitgemäß arbeitenden Forscherinnen wie Käthe Leichter, Marie Jahoda und Herta Herzog. 302 Ziege, Antisemitismus und Gesellschaftstheorie, S.192f. 303 Max Horkheimer an Katharina Hirsch vom 14.07.193. Zitiert nach: Ziege, Antisemitismus und Gesellschaftstheorie, S.152. 304 Max Horkheimer an Clara und Siegfried Kander vom 06.03.1941. Zitiert nach: Ziege, Antisemitismus und Gesellschaftstheorie, S.153. 305 Vgl. Fleck, Entstehung und Entwicklung, S.148-163. 306 Vgl. Michael Werz, Untrennbarkeit von Material und Methode. Zur wechselvollen Rezeption der Authoritarian Personality, in: Detlev Claussen/Oskar Negt/ders. (Hrsg.), Philosophie und Empirie (Hannoversche Schriften, Bd.4). Frankfurt am Main 2001, S.40-68, hier: S.55-68. 307 Vgl. Ziege, Antisemitismus und Gesellschaftstheorie, S.101f.

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Ähnliches galt für die Kritik am amerikanischen Pragmatismus und Behaviorismus, der eine fruchtbare Zusammenarbeit mit eben diese Methoden vertretenden Sozialpsychologen aus Berkeley, so mit Sanford und Levinson, gegenüberstand.308 Auch bei der »Laborstudy«, deren Autoren ansonsten ausschließlich Europäer waren,309 engagierte das Denkkollektiv um Horkheimer mit Horace M. Kallen einen Schüler des Pragmatisten William James als Berater.310 Wie die Chicago School erhoben auch die Autorinnen und Autoren von The Authoritarian Personality den Anspruch, mit ihrem Projekt zur Demokratisierung der amerikanischen Gesellschaft beizutragen.311 Zudem postulierten sie eine Methodik, die traditionelle Sozialpsychologie mit jener neuen dynamischen Charakterlehre kombinierte, die gerade Adorno bei Fromm immer kritisiert hatte. Selbst der Titel des Buches ging laut Sanford auf Fromm zurück, obwohl Adorno diesen in seinen Beiträgen lediglich an einer Stelle erwähnt.312 Das Gruppendiskussionsverfahren bei der »Laborstudy« und beim Projekt in Berkeley erinnerte wiederum an Kurt Lewins am Research Center for Group Dynamics des Massachusetts Institute of Technology (MIT) praktizierte gruppendynamische und -experimentelle Psychologie.313 Auch die IfS-Mitarbeiter gingen also davon aus, dass Gruppeninterviews vorurteilsbehaftete Meinungen eher zum Ausdruck bringen könnten als Einzelgespräche. Dies hielt Horkheimer und Adorno auf der dialektisch-geschichtsphilosophischen Ebene jedoch nicht davon ab, Lewins experimentell-klinische Ansätze zu kritisieren. Sie betrachteten diese als Hypostasierung naturwissenschaftlicher Verfahren in der Psychologie. Die Beziehung zwischen dem IfS und Lewin war zusätzlich dadurch belastet, dass auch Lewin für das AJC arbeitete. In dessen Auftrag sollte er eine Commission on Community Interrelations aufbauen.314 Im Februar 1946 schrieb Samuel H. Flowerman an Horkheimer, dass er ein Gespräch mit Bruno Bettelheim und Edward Shils geführt habe. Laut Bettelheim habe »the academic world […] a low regard of us and a high regard for the Lewin group«.315 Dies lässt sich als Indiz für die Konkurrenzsituation zwischen dem IfS und Lewin interpretieren. 308 Fleck, Transatlantische Bereicherungen, S.381f.; Ziege, Antisemitismus und Gesellschaftstheorie, S.48f. Vgl. Jay, The Dialectical Imagination, S.239. 309 Ziege, Antisemitismus und Gesellschaftstheorie, S.180, 182. 310 Ziege, Arendt, Adorno, S.93f. 311 Fahrenberg/Steiner, Adorno und die autoritäre Persönlichkeit, S.132. 312 Ebd., S.133f., 137. 313 Ash, Learning from Persecution, S.282-284. 314 Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, S.412, 415, 485. Zu Lewins Ansätzen siehe Alfred J. Marrow, Kurt Lewin. Leben und Werk. Weinheim/Basel 2002 [1969], S.251-281. Zu Lewins frühen Jahren und zu seiner Variante der Gestaltpsychologie siehe Ash, Gestalt Psychology, S.263-275. 315 UBA Ffm, Na 1, 61, Bl.175-177: Samuel H. Flowerman an Max Horkheimer vom 11.02.1946, hier: Bl.175.

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All diese Widersprüche legitimierte Horkheimer zwar mit den erzwungenen Anpassungen an das amerikanische Wissenschaftsfeld. Er konnte jedoch nicht über die Inkohärenz des am IfS generierten sozialwissenschaftlichen Wissens hinwegtäuschen. Inhaltlich stand etwa der Band von Bruno Bettelheim und Morris Janowitz über Dynamics of Prejudice, der in der Reihe »Studies in Prejudice« erschien, den gesellschaftskritischen Grundannahmen Horkheimers völlig entgegen. Die Autoren vertraten unter anderem eine dreifache Affirmation der herrschenden Verhältnisse in Familienstrukturen, was den Ergebnissen der sozialempirischen Studien des IfS aus den frühen 1930er Jahren deutlicher nicht hätte widersprechen können. Horkheimer kritisierte diesen Sachverhalt zwar, setzte jedoch keine inhaltlichen Änderungen durch.316 In den beiden großen sozialempirischen Projekten zur Erforschung von autoritären Haltungen und antisemitischen Ansichten amerikanischer Bevölkerungsteile, der Studie »Anti-Semitism among American Labor« (unpubliziert, 1945 abgeschlossen) und der im Rahmen der »Studies in Prejudice« durchgeführten Untersuchung The Authoritarian Personality, behielten sich Horkheimer, Pollock und Adorno in Kooperation mit Sanford vor, die empirisch arbeitenden Forscher anzuleiten. Dadurch sollten diese »research-Hengste« und »researchStuten«, wie sie Adorno nannte, vor einem kritiklosen »Drauflosdenken« bewahrt werden.317 Vielmehr sollten sie das sozialempirische Wissen aus einer gesellschaftskritischen Perspektive heraus qualitativ auswerten. Den methodischen Ausgangspunkt bildete nach Adorno »a phenomenology based on theoretical formulations and illustrated by quotations from the interviews […] to exploit the richness and concreteness of ›live‹ interviews to a degree otherwise hardly attainable.«318 Sein eigener Beitrag zu den Untersuchungen bestand in der ideengeschichtlichen und kritisch-psychologischen Interpretation des empirischen Materials. Der psychoanalytische Erklärungsansatz sollte durch eine soziologische Auswertung der Interviews erweitert werden. Ziel der Forschungen war es, eine Typologie der »autoritären Persönlichkeit« zu entwickeln.319 Allerdings blieb die beabsichtigte Verschränkung von empirischer, Indices- und Skalenbasierter Typenbildung mit kritisch-theoretischer Typisierung unsystematisch. So streute Adorno spekulative Annahmen über die psychodynamischen Wurzeln des Antisemitismus in die empirisch-typologischen Schemata ein und vermischte dadurch Real- und Idealtypen. Hinzu kam, dass er die methodologische Grundlegung seiner Typologie fortwährend veränderte.320 Weitgehend un316 317 318 319

Ziege, Antisemitismus und Gesellschaftstheorie, S.239-241. Ebd., S.200, 224. Vgl. Adorno, Wissenschaftliche Erfahrungen, S.723f. Zitiert nach: Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, S.463. Fahrenberg/Steiner, Adorno und die autoritäre Persönlichkeit, S.133; Fleck, Transatlantische Bereicherungen, S.402-404. 320 Vgl. Fleck, Transatlantische Bereicherungen, S.408, 414f.

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geklärt blieb daher die Frage, wie der Typ der »authoritarian personality« vom Begriff der »faschistischen Persönlichkeit« abzugrenzen sei, die Adorno und die anderen Autorinnen und Autoren teils synonym verwendeten.321 Folglich mussten auch die Auswertung der Interviews ein Torso sowie der Zusammenhang zwischen soziodemografischen Variablen und Angaben zur relativen Häufigkeit der Syndrome bei den untersuchten Gruppen unklar bleiben.322 Adorno reflektierte diese Widersprüche retrospektiv, allerdings zu einer Zeit, als er den Glauben an die Möglichkeit eines holistisch-kollektiven Sozialforschungskonzepts längst aufgegeben hatte: »Es scheint die Not jeder empirischen Soziologie, daß sie zu wählen hat zwischen der Zuverlässigkeit und der Tiefe ihrer Befunde.«323 Die aufgezeigten Widersprüche belegen die großen Schwierigkeiten bei der Übersetzung einzelner Elemente in andere Bestandteile der drei Wissensebenen, die erkenntnistheoretische und methodologische Probleme nach sich zogen. Dies galt insbesondere für Übersetzungsleistungen zwischen der gesellschaftlich stark abgestützten sozialempirischen Ebene und der bloß auf den inneren Kern des IfS reduzierten, jedoch dort nicht minder wirkmächtigen dialektischgeschichtsphilosophischen Wissensebene. 5.2.5. Neues Wissen durch epistemische Aufspaltungen Die epistemischen Widersprüche, die aus der dreifachen Fragmentierung des deutsch-jüdisch-amerikanischen Denkstils resultierten, führten zu neuen Formen sozialwissenschaftlichen Wissens. Hierbei handelte es sich um: (a) neue methodische Verfahren wie die Gruppendiskussion und verschiedene Skalen zur Messung autoritär-faschistischer wie antisemitischer Einstellungen in der amerikanischen Bevölkerung; (b) ein psychoanalytisch-therapeutisches Wissen, das autoritär-faschistische und antisemitische Haltungen als potenziell heilbare Syndrome erscheinen ließ; (c) eine geschichtsphilosophisch-universalistische Faschismustheorie, die zur Totalitarismustheorie tendierte, mit der auch Sowjetkommunismus und kapitalistischer Liberalismus gedeutet werden konnten; (d) eine sozialwissenschaftlich basierte demokratische Erziehungspraxis.

321 So auch die Kritik von Edward Shils. Vgl. Jay, The Dialectical Imagination, S.247. 322 Fahrenberg/Steiner, Adorno und die autoritäre Persönlichkeit, S.133f. 323 Adorno, Wissenschaftliche Erfahrungen, S.727. Der besagte Aufsatz Adornos wurde erst im Juli 1969 von Joachim Günther in den Neuen Deutschen Heften publiziert. Zum Auseinanderklaffen zwischen Theorie und empirischer Sozialforschung siehe auch Richard Wolin, The Terms of Cultural Criticism: The Frankfurt School, Existentialism, Poststructuralism. New York 1992, S.57f.

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Diese neuen Wissensformen waren für die Entscheidung Horkheimers ausschlaggebend, 1949 nach Frankfurt am Main zurückzukehren. Sie bestimmten ab 1951 die sozialwissenschaftliche Forschungspraxis am neu eröffneten IfS mit. (a) Gruppendiskussionsmethode und Skalierungsverfahren Die Gruppenmethode kam erstmals bei den Datenerhebungen für die »Laborstudy« zum Einsatz, die das JLC mit 13.000 Dollar finanzierte.324 Die Feldforschungen dauerten von Frühjahr bis November 1944. Sie fanden in New York, Philadelphia-Camden, Newark, kleineren Gebieten in New Jersey, Pittsburgh, Los Angeles, Detroit, San Francisco, Massachusetts, Maryland und Wisconsin statt. Methodisch lag ihnen das Konzept der »Attitude Surveys« zugrunde, das amerikanische Sozialwissenschaftler um 1920 entwickelt hatten. »Attitude« bezog sich dabei auf den »state of mind of the individual toward a value«. Mit Fragebögen ermittelten die Feldforscher die Einstellungen der Bevölkerung, indem sie die Antworten durch Indizes aufschlüsselten und in Skalen eintrugen. Sie orientierten sich dabei an Lazarsfeld, nach dem »zu einer bestimmten zu untersuchenden Dimension eine Zahl von – zumeist Verhalten messenden – Merkmalen festgelegt [wird], und die Versuchspersonen erhalten dann für jeden Treffer einen Punkt. Die Gesamtpunktezahl ist der Indexwert.«325 Die Gruppenmethode erlaubte es, die heikle Frage nach antisemitischen Einstellungen möglichst diskret zu beantworten.326 Ausgewählte Arbeiter sollten mit ihren Kollegen Gespräche führen und die Ergebnisse auf standardisierten Protokollen festhalten. Dadurch sollten die Hürden für ein freies Sprechen niedrig gehalten sowie affektive und spontane Äußerungen provoziert werden.327 Ein Stab von vier Forschungsassistenten, zwei Sekretärinnen und 14 Mitarbeitern stand mit den Interviewern in ständigem Kontakt. Insgesamt waren an der »Laborstudy« etwa 30 Mitarbeiter beteiligt. 4.500 Fragebögen wurden verteilt und 1.000 Arbeiter als mögliche Interviewer angesprochen. Von diesen erklärten sich 500 bereit, an den Erhebungen mitzuwirken, 270 reichten 613 auswertbare Protokolle ein. Die Grundsätze für derartige Interviews hatten Jahoda, Lazarsfeld und Zeisel Anfang der 1930er Jahre entwickelt.328 324 325 326 327

Lenhard, Friedrich Pollock, S.221. Fleck, Transatlantische Bereicherungen, S.400. Jay, The Dialectical Imagination, S.226. Ziege, Antisemitismus und Gesellschaftstheorie, S.188f. Siehe auch Benzer, The Sociology, S.54f. 328 Vgl. Ziege, Antisemitismus und Gesellschaftstheorie, S.189f., 196f.

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Für die Studie The Authoritarian Personality, für die die Interviews auf College-Studenten, Hausfrauen und Handwerker ausgedehnt wurden, waren auch Methoden amerikanischer Psychologen und Sozialforscherinnen richtungsweisend. Als Erweiterung der seit etwa 1940 in den Vereinigten Staaten als Standardmethode etablierten Skalierung entwarfen Sanford und Levinson die erste Antisemitismus-Skala zur Messung von antisemitischen Einstellungen und deren Intensitäten. IfS-Mitarbeiter entwickelten diese durch methodologische Übersetzungen weiter und ergänzten sie um qualitative Verfahren. Dies beinhaltete insbesondere die Formulierung von Fragen, die tiefere psychologische Schichten der Befragten berührten. Erneut führten die Übersetzungen zu zahlreichen Problemen und methodischen Inkonsistenzen. Vor allem die Kombination von technischem Skalierungsverfahren und qualitativ-interpretativer Soziologie gestaltete sich ausgesprochen schwierig. Zu den wichtigsten Ergebnissen zählten die Faschismus-Skala (F-Skala), die Ethnozentrismus-Skala (E-Skala) und die Politico-Economic Conservatism-Skala (PEC-Skala).329 Die F-Skala mit ihren 52 standardisierten Fragen diente der Identifikation antisemitischer und autoritärer Persönlichkeitsstrukturen. Zusätzlich konzipierten Adorno, Levinson, Frenkel-Brunswik und Sanford offene Fragen, die »unusual events or experiences likely to have emotional significance for the individual« einfangen sollten.330 Außerdem führten die Autorinnen und Autoren von The Authoritarian Personality klinische Fallstudien mit ein- bis dreistündigen Einzelinterviews und nutzten thematische Auffassungstests (Thematic Apperception Test), bei denen Bilder von den Interviewten interpretiert werden sollten.331 Die Kombination dieser unterschiedlichen psychologischen und sozialwissenschaftlichen Verfahren war originell, da sie das dynamische Grundkonzept der Untersuchungen berücksichtigte.332 The Authoritarian Personality war überaus erfolgreich und erfuhr in den 1950er Jahren weite Verbreitung in der amerikanischen Sozialpsychologie.333 Leon J. Goldstein schrieb 1954, das Buch sei »certainly the most extensive and sophisticated research on [anti-Semitism] yet contributed by psychologists«.334 329 Ebd., S.174. Vgl. Platz, Die Praxis der kritischen Theorie, S.57f. 330 Daniel J. Levinson, Chapter XV: Projective Questions in the Study of Personality and Ideology, in: Theodor W. Adorno u.a., The Authoritarian Personality (Studies in Prejudice, Bd.1). New York 1950, S.545-600, hier: S.545. 331 Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, S.402. Vgl. Ash, Learning from Persecution, S.289. 332 Vgl. Fahrenberg/Steiner, Adorno und die autoritäre Persönlichkeit, S.135f. 333 Vgl. Ziege, Arendt, Adorno, S.87f., 102. Siehe auch Jacobs, The Frankfurt School, S.91-93. 334 Siehe Leon J. Goldstein, Rezension von »Christie, Richard, and Jahoda, Marie, Eds., Studies in the Scope and Method of ›The Authoritarian Personality‹. Glencoe, Ill. The Free Press. 1954. pp. 279«, in: Jewish Social Studies 18 (1956) 3, S.229. Vgl.

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Allerdings gab es auch harsche Kritik: Der Soziologe Edward A. Shils bemängelte, dass die Autorinnen und Autoren ideologisch links vorgeprägt gewesen seien und durch ihre »fusion of Hegelian Marxism, psychoanalysis and aestheticizing repugnance« ein unrealistisches Bild der ideologischen Einstellungen in der amerikanischen Bevölkerung gezeichnet hätten.335 Für Don Stewart und Thomas Hoult stellte die F-Skala 1959 »in many ways a psychometric nightmare for measurement purists« dar.336 Kritisiert wurde zudem oft, dass die »Instrumente allzusehr auf die highs zugeschnitten wären«, wie Adorno selbst zugab.337 (b) Psychologisch-therapeutisches Wissen: Autoritarismus und Antisemitismus als Syndrome Das Konzept von The Authoritarian Personality übersetzte Ansätze Fromms aus den späten 1920er und frühen 1930er Jahren in die amerikanischen sozialpsychologischen Forschungen der 1940er Jahre. Wie Wolfgang Bonß schreibt, habe Fromm schon bei der Arbeiter- und Angestelltenstudie die These aufgestellt, dass es bei Sublimierung und Verdrängung »zur Ausbildung spezifisch verschobener ideeller Übersetzungen [kommt], die als funktionale Rationalisierungen unbewußter Triebregungen die Widersprüchlichkeit der sozialen Verhältnisse verdecken und eine unabdingbare Voraussetzung für die Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen Herrschaftszusammenhangs darstellen.«338

335

336 337 338

Alfred de Grazia, Rezension von »The Authoritarian Personality. By T.W. Adorno, Else Frenkel-Brunswik, Daniel J. Levinson, R. Nevitt Sanford (New York: Harper & Brothers. 1950. Pp. xxxiii, 990. $ 7.50)«, in: The American Political Science Review 44 (1950) 4, S.1005f.; Don Stewart/Thomas Hoult, A Social-Psychological Theory of the Authoritarian Personality, in: American Journal of Sociology 65 (1959) 3, S.274-279, hier: S.274. Vgl. M. Brewster Smith, The Authoritarian Personality: A Re-Review 46 Years Later, in: Political Psychology 18 (1997) 1, S.159-163, hier: S.160. Siehe Franco Ferrarotti, Beyond the Authoritarian Personality: Adorno’s Demon and Its Liberation, in: International Journal of Politics, Culture, and Society 8 (1994) 1, S.105-127, hier: S.115; Edward Shils, Authoritarianism: ›Right‹ and ›Left‹, in: Richard Christie/Marie Jahoda (Hrsg.), Studies in the Scope and Methods of »The Authoritarian Personality«. Glencoe, Ill. 1954, S.24-49. Ziege, Antisemitismus und Gesellschaftstheorie, S.267f. Siehe auch Benzer, The Sociology, S.65f. Adorno, Wissenschaftliche Erfahrungen, S.730f. Bonß, Kritische Theorie und empirische Sozialforschung, S.29. Vgl. auch Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, S.173.

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Er nahm zudem einen Zusammenhang zwischen Triebbasis und Ideologiebildung an, wonach »die Ideologien aus dem Zusammenwirken von seelischem Triebapparat und sozialökonomischen Bedingungen« entstünden.339 Jochen Fahrenberg und John M. Steiner konstatieren zu Recht, dass ohne Fromms Beiträge aus den frühen 1930er Jahren weder »die spätere theoretische Orientierung des IfS noch der empirische Forschungsansatz« vorstellbar gewesen wären.340 The Authoritarian Personality transformierte den herrschaftskritisch-psychoanalytischen Ansatz Fromms in eine psychotherapeutisch-sozialwissenschaftliche Expertise. Die mentalen Lagen der untersuchten Gruppen und Individuen im Zusammenhang mit der gesamtgesellschaftlichen Lage erschienen als Resultate psychopathogener Entwicklungen. So lautete die Grundhypothese der Studie, »that the political, economic, and social convictions of an individual often form a broad and coherent pattern, as if bound together by a ›mentality‹ or ›spirit,‹ and that this pattern is an expression of deep-lying trends in his personality.«341 Laut Sanford zielte die Untersuchung vornehmlich auf die Messung des Faschismus-Potenzials in den Vereinigten Staaten – und dies gerade, weil hier keine faschistische Regierung an der Macht sei »and since overt antidemocratic actions are officially frowned upon, surveys of what people actually do at the present time are likely to underestimate the danger.« Deshalb sollte die latente Bereitschaft der Bevölkerung zu antidemokratischem Verhalten – etwa im Falle einer Veränderung der politische Situation in den Vereinigten Staaten – abgeschätzt werden, um entsprechenden Tendenzen entgegenwirken zu können. Diese Bereitschaft, »according to the present theory, is integral with the total mental organization here being considered.«342 Antisemitismus wurzelte demnach in der psychischen Konditionierung der Menschen,343 war »part of, and an expression of, a more complex ideology, characterized by political conservatism, by authoritarianism towards anyone with less power, a relation of submission to authority, and above all by an ethnocentric ideology,« wie Franco Ferrarotti 339 Zitiert nach: Fahrenberg/Steiner, Adorno und die autoritäre Persönlichkeit, S.130. 340 Ebd. 341 Theodor W. Adorno, Studies in the Authoritarian Personality [1950], in: ders., Soziologische Schriften II., Bd.1, hrsg. v. Rolf Tiedemann, unter Mitwirkung v. Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz (Gesammelte Schriften, Bd.9.1). Frankfurt am Main 2003, S.143-509, hier: S.149. 342 R. Nevitt Sanford, Chapter II: The Contrasting Ideologies of Two College Men: A Preliminary View, in: Adorno u.a., The Authoritarian Personality, S.31-56, hier: S.40. 343 Ebd., S.41.

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schreibt.344 Nicht antisemitische Einstellungen als solche waren somit entscheidend – sie waren bloß Oberflächenphänomene –, sondern »Einstellungen und Verhaltensweisen, denen jegliche Ehrfurcht für lebendige Wesen, für Menschen, für die Opfer von Diskriminierungen fehlte.«345 Antisemitismus konnte so auch in Verhaltensweisen ausgemacht werden, bei denen vordergründig keine antisemitischen Tendenzen zu beobachten waren. Horkheimer etwa hatte bereits im Vorfeld autoritäre Charaktere dann als »Antisemitoide« kategorisiert, wenn diese selbst in vertraulicher Atmosphäre keinerlei Antisemitismus erkennen ließen.346 Entsprechend hatte auch der Rückgang des Antisemitismus in den Vereinigten Staaten nach 1945 für die Berkeley-Gruppe nichts Beruhigendes, sahen ihre Mitglieder in der Kommunistenhetze besonders der McCarthy-Ära doch das Äquivalent zur faschistischen Charakterstruktur.347 In der Einleitung zu The Authoritarian Personality betonte Sanford, das Buch »is concerned not with individuals as such but with variables and their general relationships«. Jede Variable sei eine Abstraktion und Generalisierung, die individuelle psychische Lagen mit der sozialpsychologischen Gesellschaftssituation verbinden solle.348 Ethnozentrismus galt ihm als psychisch ursächlicher Mechanismus für antisemitische Haltungen. Als Beispiel für jene »ideological patterns« führte er Interviews mit Studenten an. Einer von diesen »expresses negative opinions concerning what the Jews are like (they are clanish, materialistic, etc.), hostile attitudes toward them (it is up to them to do the changing), and definitive values (for courtesy, honesty, good taste, etc.) which shape the opinions and justify the attitudes.«349 Sein Ethnozentrismus sei die Grundstruktur, in der antisemitische Haltungen wurzelten, weil er in »ingroup-outgroup terms« denke: »[H]e seems to think of the Jews as constituting a relatively homogeneous group that is categorically different from the group to which he feels that he belongs.«350 Adorno interpretierte für den Band Antisemitismus und Autoritarismus mittels einer Theorie des Vorurteils. Diese basierte auf der Analyse ideologisch344 Ferrarotti, Beyond the Authoritarian Personality, S.110. 345 Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, S.470. 346 In die gleiche Richtung argumentiert Stefan Breuer, der meint, dass damit die Differenzen zwischen potenziell faschistischen, autoritären und antidemokratischen Charaktertypen verschwammen. Siehe Breuer, Kritische Theorie, S.152. 347 Vgl. Eva-Maria Ziege, Einleitung der Herausgeberin, in: Theodor W. Adorno, Bemerkungen zu The Authoritarian Personality und weitere Texte, hrsg. v. ders. Berlin 2019, S.7-20, hier: S.14. 348 Sanford, Chapter II, S.31. 349 Ebd., S.42. 350 Ebd., S.43.

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psychologischer Muster, politisch-ökonomischer Bedingungen und religiöser Einstellungen. Rückblickend schrieb er 1947: »Wir wollten den – in vielen Beziehungen für unsere Zeit charakteristischen – Typus des Individuums erforschen, dessen allgemeine psychologische Disposition ihn zu einem potentiellen Anhänger totalitärer Bewegungen und fanatischer Ideologien macht.«351 Ihm zufolge sei das antisemitische Vorurteil unter dem Gesichtspunkt einer »automatization« betrachtet worden, als ein konsistentes ideologisches Muster, das von der Gesellschaft akzeptiert werde. Damit sei »some light upon the phenomenon of the whole German people« geworfen, »tolerating the most extreme anti-Semitic measures, although it is highly to be doubted that the individuals themselves were more anti-Semitic than our high-scoring subjects« in den Vereinigten Staaten.352 Die Psychogenese des oft unbewussten antisemitischen Vorurteils der autoritär-faschistischen Persönlichkeit einschließlich ihrer Tiefenstrukturen deutete Adorno allgemein als Resultat gesellschaftlicher Frustration und Triebrepression. Diese »socially diverted its true object« und generierten ein »substitute object through which it may obtain a realistic aspect thus dodge, as it were, more radical manifestations of blocking of the subject’s relationship to reality, e.g. psychosis«. Dieses Bewusstsein fasse die Juden als »substitute object […] of unconscious destructiveness« auf, »far from being a superficial ›scapegoat‹«.353 Mit seinem Zugang deutete Adorno Antisemitismus, Autoritarismus und Faschismus als Erscheinungen gesellschaftlicher Entwicklungen, die sowohl in Deutschland als auch in den Vereinigten Staaten beobachtet werden könnten. Er war sich allerdings nicht vollständig sicher, ob die Psychologie tatsächlich als Waffe gegen die potenzielle Gefahr der faschistischen Ideologie dienen könne. Letztlich sei die psychotherapeutische Behandlung vorurteilsbehafteter Personen problematisch, »because of their large numbers as well as because they are by no means ›ill,‹ in the usual sense, and, as we have seen, at least on the surface level are often even better ›adjusted‹ than the non-prejudiced ones.«354 Vielmehr handele es sich bei der autoritären Persönlichkeit nicht um ein individuelles Syndrom, sondern um ein psychosoziales, durch die allgemeine gesellschaftliche Lage bedingtes. Psychotherapeutische Gegenmaßnahmen seien deshalb »promi351 Theodor W. Adorno u.a., Bemerkungen zu The Authoritarian Personality [1947], in: Theodor W. Adorno, Bemerkungen zu The Authoritarian Personality, S.23-70, hier: S.30. 352 Theodor W. Adorno, Chapter XVI: Prejudice in the Interview Material, in: ders. u.a., The Authoritarian Personality, S.605-653, hier: S.607. 353 Ebd., S.607f. 354 Theodor W. Adorno, Chapter XIX: Types and Syndromes, in: ders. u.a., The Authoritarian Personality, S.744-783, hier: S.748.

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sing only if they are differentiated in such a way that they are adapted to specific groups«. Schließlich basiere der Faschismus auf der Zustimmung der Massen und jede zu allgemein gehaltene psychologische Maßnahme wäre diesen gegenüber wirkungslos.355 Um jene spezifischen Gruppen zu identifizieren, müssten vielmehr zunächst methodisch bestimmte Typen vorurteilsbehafteter Personen herausgearbeitet werden, wie etwa der »conventional anti-Semite« und der »sadomasochistic ›tough guy‹«. Eine solche Typologie biete dann ein »scheme of syndromes«, das aus dem übergreifenden Syndrom und den tiefer liegenden Teilsyndromen bestehe, die anhand jener Personen mit hohem Grad an Ethnozentrismus festgestellt worden seien. Hierunter zählten für Adorno etwa das »surface resentment«, das »conventional syndrome«, das »authoritarian syndrome«, der »rebel«, der »psychopath«, der »crank« oder der »manipulative type«. Diese Typologie lasse sich dann auch auf Personen mit niedrigem Grad an Ethnozentrismus ausweiten, was sich in Typen wie dem »rigid low scorer«, dem »protesting low scorer«, dem »impulsive low scorer«, dem »easy-going low scorer« und dem »genuine liberal« widerspiegele.356 The Authoritarian Personality stellte nicht nur einen Zusammenhang zwischen Faschismus, Autoritarismus, Antisemitismus und gesamtgesellschaftlich bedingten psychopathologischen Entwicklungen her. Die Studie versuchte vielmehr auch darzulegen, dass faschistisch eingestellte Personen zu Kriminalität neigten. William R. Morrow, einer der Autoren, schrieb, dass »the failure in superego integration, inability to establish emotional relationships with others, and over-compensatory reactions to weakness and passivity are among the important sources of potentially fascist trends within the personality«.357 Morrows Interpretationsgrundlage bildeten Interviews mit fünfzehn Häftlingen des San Quentin Gefängnisses. Deren Persönlichkeitsstrukturen deutete er als ausschlaggebend sowohl für ihr kriminelles Verhalten als auch für ihr faschistisches Potenzial.358 Maria Hertz Levinson wiederum versuchte auf der Basis von Gesprächen mit 121 Patienten einer psychiatrischen Klinik darzulegen, dass wenn »differences in ideology are significantly related to personality differences, then one would expect ideology to be related also to various kinds of mental

355 Ebd. 356 Ebd., S, 749-751, 753-783. 357 William R. Morrow, Chapter XXI: Criminality and Antidemocratic Trends: A Study of Prison Inmates, in: Adorno u.a., The Authoritarian Personality, S.817890, hier: S.817. 358 Ebd., S.818f., 890. Vgl. Jäger, Adorno, S.197f.

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disturbance«.359 Demnach habe sie einen Zusammenhang zwischen »certain quantitative relationships […] and psychiatric diagnosis, as well as qualitative differences between high and low scorers with the same diagnostic category« festgestellt, selbst wenn sich keine klare Korrelation zwischen Ethnozentrismus und einem bestimmten psychiatrischen Syndrom habe nachweisen lassen.360 In diesem Sinne war The Authoritarian Personality ein »scientific proof of antisemitism«, der in den Worten Horkheimers »a symptom of deep hostility against democracy« sei, wozu auch Kriminalität als Handeln gegen den Rechtsstaat gehöre.361 Die liberal-demokratische Gesellschaft in den Vereinigten Staaten erschien in dieser Rhetorik nicht mehr als kapitalistische Ausgangsbasis für eine Entwicklung, die unabdingbar im Faschismus enden musste, sondern als Bollwerk gegen Faschismus und Totalitarismus. (c) Eine philosophisch-universalistische Theorie des Faschismus Horkheimer hatte in den frühen 1930er Jahren im vorkapitalistischen Bürgertum und in der »ursprünglich aufklärerischen Vernunftanalyse« Kants etwas Gutes und Richtiges gesehen. Zwar habe sich der philosophische Unterbau von Kants Hoffnung auf Glückseligkeit »beträchtlich dem von ihm bekämpften System einer dogmatischen Metaphysik« genähert.362 Jedoch sei in der den Humanismus einschließenden Aufklärung nicht von Beginn an der Keim eines faschistischtotalitären Potenzials eingepflanzt gewesen, obwohl die »Verkündigung der Gleichheit als Prinzip der Verfassung […] [von] Anfang an für das Denken nicht bloß einen Fortschritt, sondern auch eine Gefahr« dargestellt habe.363 Kritisierte Horkheimer noch 1930 die Philosophische Anthropologie aufgrund ihrer ahistorischen, undialektischen und idealistischen Grundannahmen vehement,364 breiteten er und Adorno in der Dialektik der Aufklärung nun ihre eigene Skizze einer geschichtsphilosophisch-universalistischen und anthropologisch grundierten Faschismustheorie aus. Sie verorteten dazu faschistisches Potenzial in den Anfängen der griechisch-antiken Philosophie. Der Ursprung faschistischen Denkens lag in ihren Augen in dem durch die missglückte Dialektik von Aufklärung und Natur beziehungsweise von Natur und Herrschaft entstandenen Zwang zur Auslöschung jeglicher Individualität von Menschen und 359 Maria Hertz Levinson, Chapter XXII: Psychological Ill Health in Relation to Potential Fascism: A Study of Psychiatric Clinic Patients, in: Adorno u.a., The Authoritarian Personality, S.891-970, hier: S.891. 360 Ebd., S.906. 361 Zitiert nach: Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, S.402. 362 Horkheimer, Materialismus und Metaphysik, S.83. 363 Ebd., S.141. 364 Horkheimer, Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie, S.202; ders., Materialismus und Moral, S.125.

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Naturdingen.365 Neu war dabei nicht, dass »die Möglichkeit des Rückfalls in die Barbarei niemals völlig ausgeschlossen ist«. Das hatte Horkheimer bereits 1930 mit Verweis auf Vico dargelegt.366 Es war vielmehr die philosophische Universalisierung von wissenschaftlichen Denksystemen, die beide als faschistisch ansahen. Gestalten wie Odysseus und Sade wie auch die amerikanische Konsumindustrie galten ihnen als gleichartige Erscheinungen der unabweisbaren Entwicklung moderner Gesellschaften in den Totalitarismus. Die Juden als Opfer des gegenwärtigen Faschismus seien dabei in ihrer Rolle austauschbar, waren sie doch selbst Teil dieses Herrschaftssystems: »Vagabunden, Juden, Protestanten, Katholiken« könnten Opfer sein, aber genauso auch »anstelle der Mörder treten«.367 Den Juden komme eine Sonderstellung nur insofern zu, weil sie eine »künstlich gesteigerte Sichtbarkeit« aufwiesen, die Antisemiten magisch anzöge.368 Allerdings bewirkte die Ermordung der Juden Europas einen Einschnitt, der sich insofern in der Dialektik der Aufklärung niederschlug, als dass der Antisemitismus zur zentralen Metapher westlicher Zivilisation erhoben worden war.369 Die frühe Kritische Theorie hatte sich damit zu einer geschichtsphilosophisch-universalistischen Kritik totalitärer Herrschaft entwickelt, in die alle modernen Gesellschaften unabwendbar münden und die sich in »autoritären Persönlichkeitsstrukturen« manifestieren würde. Horkheimer und Adorno schlussfolgerten, dass Auschwitz jederzeit und in jedem modernen Land unabhängig vom politischen System möglich sei.370 Der Stalinismus, so Horkheimer in einem früheren Aufsatz über den »autoritären Staat«, erscheine dabei als die konsistenteste Form des staatlichen Autoritarismus. Entsprechend sah er den

365 von Wussow, Horkheimer und Adorno, S.187. Vgl. Bialas, Geschichtsphilosophie in kritischer Absicht, S.121. 366 Horkheimer, Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie, S.268. 367 Zitiert nach: von Wussow, Horkheimer und Adorno, S.187f. Siehe auch Thomas Fries, Die transatlantischen Anfänge der Auseinandersetzung mit dem europäischen Judenmord. Franz Neumann, Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Raul Hilberg, Hannah Arendt, in: Georg Gerber/Robert Leucht/Karl Wagner (Hrsg.), Transatlantische Verwerfungen – Transatlantische Verdichtungen. Kulturtransfer in Literatur und Wissenschaft 1945-1989. Göttingen 2012, S.45-69, hier: S.57. 368 Zitiert nach: von Wussow, Horkheimer und Adorno, S.188. 369 Diner, Max Horkheimer’s Aporien der Vernunft, S.163, 167-171; Jacobs, The Frankfurt School, S.76. 370 Siehe Theodor W. Adorno an seine Eltern vom 12.02.1940, in: Theodor W. Adorno  – Briefe an die Eltern 1939-1951, hrsg. v. Christoph Gödde und Henri Lonitz (Theodor W. Adorno. Briefe und Briefwechsel, Bd.5). Frankfurt am Main 2003, S.64-68, hier: S.65-67.

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Faschismus unwiederbringlich in den Staatssozialismus sowjetischer Prägung münden.371 (d) Demokratische Erziehungspolitik: Moralität, Humanität und Individualismus Trotz der zahlreichen Widersprüche zwischen den drei unterschiedlichen Wissensebenen gab es in zwei Punkten Konvergenzen: Zum einen betraf dies die Erkenntnis, dass autoritäre Haltungen, Faschismus und Antisemitismus nicht als spezifisch deutsche oder europäische Phänomene anzusehen, sondern in allen modernen Gesellschaften latent vorhanden seien. Die »autoritäre Persönlichkeit« war eine »anthropological species«,372 die in einem engen Zusammenhang mit Anpassungsleistungen an den »objektiven Geist« der zeitgenössischen modernen Gesellschaft stand.373 Autoritäre Einstellungen sowie daraus abgeleitete faschistisch-totalitäre und antisemitische Haltungen galten demnach als Krankheiten der Moderne.374 Zum anderen existierten Überschneidungen in Bezug auf eine demokratische Erziehungspolitik: Die Frage war nicht, ob Faschismus und Antisemitismus von Grund auf verhindert, sondern wie diese soweit eingedämmt werden konnten, dass sie in modernen Gesellschaften nicht zum Tragen kamen. Abwehrmechanismen meinte man vor allem in der christlich-demokratische Erziehung und Bildung zu erkennen, über die ein humanistisch-moralisches Menschenbild verbreitet werden könne. Wie die »Laborstudy« gezeigt hatte, war die Bereitschaft, sich antisemitischen und rassistischen Stereotypen zu entziehen, bei Arbeitern mit relativ hohem Bildungsgrad und christlicher Erziehung merklich größer.375 Dass der Ausbruch antisemitischer Regungen durch verstärkte Bildung und demokratische Erziehung offenbar verhindert werden konnte, war einer der Hauptgründe für die Rückkehr Horkheimers, Pollocks und Adornos nach Frankfurt am Main Ende der 1940er Jahre. »[T]eaching in Europe during the coming years would indeed offer me the possibility of taking a real part in the case of democratic education«,376 wie Horkheimer 1948 festhielt. Er nahm zudem schon 1941 an, dass im Falle des militärischen Sieges der Vereinigten Staaten mit den deutschen sozialen und politischen Verhältnissen vertraute Experten für die demokratische Umerziehung der Deutschen gebraucht wür-

371 Habermas, Remarks on the Development of Horkheimer’s Work, S.53f. Vgl. auch Breuer, Kritische Theorie, S.153-155. 372 Ziege, Antisemitismus und Gesellschaftstheorie, S.57f., 270f. Vgl. auch Breuer, Kritische Theorie, S.98. Siehe auch Ziege, Einleitung der Herausgeberin, S.7. 373 Adorno u.a., Bemerkungen zu The Authoritarian Personality, S.25. 374 Vgl. Jäger, Adorno, S.200. 375 Ziege, Antisemitismus und Gesellschaftstheorie, S.211, 214f. 376 UBA Ffm, Na 1, 26, Bl.293: Max Horkheimer an Fritz Karsen vom 17.09.1948.

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den.377 Sozialwissenschaft und demokratische Erziehung sollten sich ergänzen, wie dies laut Horkheimer schon in The Authoritarian Personality vorgeschlagen worden sei.378 Hinzu kamen die Erfahrungen als Politikberater in den Vereinigten Staaten, die die Einflussmöglichkeiten sozialwissenschaftlicher Expertise auf politische Entwicklungen aufgezeigt hatten. Zahlreiche aktive und frühere Mitarbeiter des IfS arbeiteten für den amerikanischen Geheimdienst und andere Organisationen, die unmittelbar am Kriegseinsatz der Vereinigten Staaten und der Nachkriegsplanung für Europa beteiligt waren. Pollock war gar Mitbegründer des Research Bureau for Post-War Economics, das dem Weißen Haus Gutachten und Vorschläge für die Gestaltung der Nachkriegswirtschaft unterbreitete. Außerdem wurde er, obwohl er noch auf der Liste der verdächtigen Personen des Federal Bureau of Investigation (FBI) stand, Berater des Board of Economic Warfare und des War Production Board, die 1941/42 gegründet worden waren. Aufgrund dessen wurde er 1943 und 1944 zusammen mit Paul Tillich, Adolph Lowe (Adolf Löwe) und Hans Staudinger mehrmals von Eleanor Roosevelt zu Gesprächen mit ihr und ihrem Mann ins Weiße Haus eingeladen. Die Präsidentengattin und – wenn auch weniger stark – auch der US-Präsident zeigten sich an Pollocks Ausführung ausgesprochen interessiert.379

6. Bildung und Aufspaltung des Leipziger soziologischen Denkstils (1931 – 1949) Während das Denkkollektiv um Max Horkheimer zunächst nach Genf und dann nach New York emigrierte, in den Vereinigten Staaten Elemente seines Denkstils und seiner sozialempirischen Praktiken veränderte sowie sein dialektischgesellschaftsphilosophisches Idiom zuspitzte, entwickelte Helmut Schelsky sein Wissenschaftskonzept größtenteils während der NS-Herrschaft. Diese Entwicklung wird im Folgenden in Analogie zum vorhergehenden Kapitel nachgezeichnet. Es setzt mit dem Beginn von Schelskys Studium 1931 ein und spannt den Rahmen bis 1949, als er eine ordentliche Professur für Soziologie an der Akademie für Gemeinwirtschaft in Hamburg erhielt. Auch in seinem Wissenschaftskonzept sind Wandlungen und Kontinuitäten zu erwarten. Im Unterschied zum Denkkollektiv um Horkheimer erfolgten größere Wissenstransformationen bei Schelsky jedoch vor allem nach 1945, als mit dem Ende der NS-Herrschaft die 377 Max Horkheimer an Herbert Marcuse vom 24.12.1941. Zitiert nach: Schmid Noerr, Flaschenpost, S.254. 378 Fahrenberg/Steiner, Adorno und die autoritäre Persönlichkeit, S.128. 379 Lenhard, Friedrich Pollock, S.14f., 209, 230-236.

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bislang für sein wissenschaftliches und politisches Denken richtungsweisenden gesellschaftlichen Konstellationen zerbrochen waren. Schelsky hatte sich als Student und Dozent für den Umbau der deutschen Wissenschaft zur völkisch orientierten »politischen Wissenschaft« eingesetzt. Mit seiner NS-Vergangenheit rang er bis zum Ende seines Lebens. Noch im Vorwort seiner erst 1981 publizierten Habilitationsschrift Thomas Hobbes. Eine politische Lehre nahm er darauf Bezug. So sei er während der Abfassung dieses Buches zwischen 1938 und 1940 »kein Gegner des Nationalsozialismus, sondern eher einer seiner Anhänger mit sehr subjektiver Deutung seiner Inhalte« gewesen.380 Er habe sich vom »revolutionären Impetus« der Nationalsozialisten geradezu mitreißen lassen. Natürlich, dessen war sich Schelsky bewusst, mache er es mit dieser Veröffentlichung »denen, die bisher nur eine studentische Äußerung eines Zwanzigjährigen [gemeint ist seine Schrift Sozialistische Lebenshaltung von 1934, F.L.] dazu benutzten, mich als alten Nazi zu bezeichnen, leicht, neues publizistisches Material für die Vorwürfe zu gewinnen.«381 Diese zumindest scheinbare Selbstkritik an seinem nationalsozialistischen Engagement kontrastierte er jedoch sofort wieder mit einer offenen Frage an seine Leser: »Hat nicht die liberale Wissenschaftsauffassung im ›Dritten Reich‹ in der Existenz der Gelehrten viel länger durchgehalten, als man aus den partei- und regierungsoffiziellen Dokumenten heute herausstilisiert?«382 Auf diese Weise deutete er seine frühere Zustimmung zum Nationalsozialismus als äußerlich, als politische Haltung eines studentischen Jungsporns, die in der retrospektiven Betrachtung vom Kern seines wissenschaftlichen Denkens getrennt beurteilt werden müsse. Wissenschaftliche Gedanken waren für ihn »nicht als verbrecherisch anzuklagen«.383 Mit der Annahme einer grundsätzlichen Autonomie der Wissenschaft gegenüber anderen Gesellschaftsbereichen sowie insbesondere der Politik konnte Schelsky behaupten, dass die Genese seines wissenschaftlichen Denkens während der NS-Zeit von der politischen Sphäre unberührt geblieben sei. Diese Deutung war ein entscheidender Teil von Schelskys Vergangenheitsbewältigung. Im Folgenden wird gezeigt, wie er sie im Rahmen seiner nach 1945 erfolgten Hinwendung zur amerikanisch-englischen Soziologie und Sozialanthropologie, insbesondere zum Strukturfunktionalismus Bronislaw Malinowskis, entwickelte. Gerade im Rückgriff auf das strukturfunktionalistische Theorem der Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Funktionssysteme war es ihm möglich, Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und Öffentlichkeit als voneinander getrennte Sphären zu behandeln. Tatsächlich jedoch hatte Schelsky sein wissenschaftliches 380 Helmut Schelsky, Thomas Hobbes. Eine politische Lehre. Berlin 1981 [1939/42], S.9. 381 Ebd. S.11. 382 Ebd., S.9. 383 Ebd., S.10.

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Denken vor 1945 in einer symbiotischen Beziehung zur NS-Weltanschauung und im Einklang mit der von NS-Politkern und -Ideologen betriebenen Reform der deutschen Wissenschaft entwickelt. Die Konzipierung einer strukturfunktionalistischen Soziologie nach amerikanisch-englischem Vorbild nach Kriegsende war demnach mit der Bewältigung seiner NS-Vergangenheit aufs Engste verbunden. Das vorliegende Kapitel rekonstruiert zunächst die Entstehung jenes Denkstils, in den Schelsky hineinsozialisiert wurde. Hierfür richtet sich der Blick auf die Universitäten Leipzig und Königsberg sowie Schelskys akademische Lehrer Hans Freyer, Arnold Gehlen und Carl Schmitt. Für die »Grundsätze und Formen« seiner »außerwissenschaftlichen Lebensführung« und sein Verhältnis zum wissenschaftlichen Beruf war außerdem die mit Gehlen geteilte Freundschaft zu dem Psychiater Hans Bürger-Prinz von Bedeutung. Bürger-Prinz wirkte von 1931 bis 1936 als Oberarzt am Universitätsklinikum Leipzig und wechselte dann nach Hamburg.384 Sein Einfluss zeigt sich vor allem in Schelskys familien- und sexualitätssoziologischen Schriften aus den frühen und mittleren 1950er Jahren. Daran anschließend wird die Neukonfiguration dieses Denkstils und seines Idioms nach 1945 in den Blick genommen. Das Ende des Zweiten Weltkrieges und der Zusammenbruch des NS-Regimes spaltete den Leipziger soziologischen Denkstils in dreifacher Weise: Erstens bildete sich eine sozialempirisch-strukturfunktionalistische Wissensebene heraus. Sie definierte sich durch bestimmte, vor 1945 entwickelte philosophisch-anthropologische Elemente und Wissensbestände des amerikanisch-englischen Strukturfunktionalismus. Hierüber fand Schelsky nach Kriegsende den Anschluss an die im westdeutschen Feld der Sozialwissenschaften dominanten amerikanischen Ansätze. Auch seine Hinwendung zur sozialempirischen Forschung, zur »Suche nach Wirklichkeit«,385 ist hier zu verorten. Zweitens formierte sich mit der Integration des amerikanisch-englisch Strukturfunktionalismus in Schelskys Soziologie eine Orientierungswissen generierende, rechtssoziologisch geprägte Wissensebene. Sie resultierte in erster Linie aus der Verschmelzung von partikularistisch-völkischen mit pragmatischen Elementen des amerikanisch-englischen Rechts- und Staatsverständnisses. Die dritte Ebene war erziehungspolitischer Art: Schelsky funktionalisierte sein sozialempirisches und rechtssoziologisches Wissen nach 1945 für die wissenschaftliche Fundierung einer westdeutschen Form der Demokratie. Er konnte dadurch Allianzen mit alliierten Besatzungsbehörden und Politikern schließen, die an diesem Wissen zum Zweck der Demokratisierung Westdeutschlands interessiert waren. 384 Helmut Schelsky, Die Erfahrung vom Menschen. Was ich von Bürger-Prinz gelernt habe, in: ders., Rückblicke eines »Anti-Soziologen«. Opladen 1981, S.109133, hier: S.110. 385 So der Titel einer 1965 veröffentlichten Aufsatzsammlung. Siehe Helmut Schelsky, Auf der Suche nach Wirklichkeit. Gesammelte Aufsätze zur Soziologie der Bundesrepublik. München 1979 [1965].

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6.1. Der Leipziger soziologische Denkstil und seine Bedeutung für Helmut Schelskys wissenschaftlich-politisches Denken Helmut Schelskys wichtigste Lehrer an den Universitäten in Leipzig und Königsberg waren Hans Freyer, Arnold Gehlen und – in geringerem Umfang – Theodor Litt. Sein staatsrechtlich-rechtssoziologisches Denken beeinflusste vor allem Carl Schmitt.386 1931 hatte Schelsky im Rahmen eines »Grenzlandsemesters« sein Studium der Philosophie, Germanistik und Kunstgeschichte an der Universität Königsberg begonnen. Zusätzlich besuchte er ein Seminar des völkisch-nationalistischen Historikers Hans Rothfels sowie Lehrveranstaltungen in Nationalökonomie, Jurisprudenz und Pädagogik. Für das Wintersemester 1931/32 wechselte er an die Universität Leipzig, wo er seinen Studienschwerpunkt auf die Philosophie legte.387 Die Promotion erfolgte 1935. Zwei Jahre später wurde er nach Gotthard Günther Assistent Gehlens. Als Letzterer 1938 auf den renommierten Kant-Lehrstuhl an der Universität Königsberg berufen wurde,388 folgte ihm Schelsky nach. Er habilitierte sich dort 1939 und erhielt auf eigenen Wunsch eine doppelte Lehrbefugnis für Philosophie und Soziologie.389 Das »Königsberger Milieu«, wie Ingo Haar es nennt,390 ist für Schelskys intellektuelle Sozialisation nicht zu unterschätzen. Die »Grenzlanduniversität« galt als ein Zentrum der kulturwissenschaftlichen deutschen Ostforschung, deren Forschungsprogramm nach dem Ersten Weltkrieg im Zeichen von Revisionismus und deutschvölkischem Nationalismus stand.391 Den volksdeutschen Bevölkerungsgruppen widmete sich auch Rothfels,392 dessen Veranstaltungen Schelsky als junger Student besucht hatte. Richtungsweisend war für ihn jedoch der Leip386 Bernhard Schäfers, Helmut Schelsky – ein Soziologe in der Bundesrepublik. Erinnerung aus Anlass seines 25. Todestages, in: Soziologie 38 (2009) 1, S.48-59, hier: S.49f. 387 Rehberg, Hans Freyer, S.85. Vgl. Schäfer, Soziologie als politische Tatphilosophie, S.646; ders., Zur Herausbildung des philosophisch-soziologischen Denkens bei Helmut Schelsky in der Ära des Nationalsozialismus, in: Gutmann/Weischer/ Wittreck (Hrsg.), Helmut Schelsky, S.17-56, hier: S.18-20, 23-25. 388 Heike Delitz, Arnold Gehlen. Konstanz 2011, S.23. 389 Schäfer, Soziologie als politische Tatphilosophie, S.645; Wöhrle, Zur Aktualität von Helmut Schelsky, S.18. 390 Ingo Haar, »Volksgeschichte« und Königsberger Milieu: Forschungsprogramme zwischen Revisionspolitik und nationalsozialistischer Vernichtungsplanung, in: Lehmann/Oexle (Hrsg.), Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften, Bd.1, S.169-210. 391 Vgl. ebd.; Hübinger, Engagierte Beobachter, S.72; Schäfer, Soziologie als politische Tatphilosophie, S.646. 392 Vgl. Jan Eckel, Hans Rothfels. Eine intellektuelle Biographie im 20. Jahrhundert (Moderne Zeit. Neue Forschungen zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Bd.10). Göttingen 2005, S.99-103.

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ziger soziologische Denkstil, der in der Forschungsliteratur als »Leipziger Schule der Soziologie« bekannt ist. Unter dem Einfluss Hans Freyers entstanden, war dieser im Gegensatz zum Denkstil der Gruppe um Horkheimer eher Resultat eines losen sozialen Zirkels. Diesem gehörten Personen mit jungkonservativen politischen Haltungen an wie Freyer, Gehlen und Günther, völkisch-nationalistische Sozialwissenschaftler wie Karl Heinz Pfeffer, Gunther Ipsen und Hugo Fischer, liberale Wissenschaftler wie Theodor Litt und selbst später dem Denkkollektiv um Horkheimer zuneigende Sozialwissenschaftler wie Paul Tillich, Karl August Wittfogel, Arkadij Gurland, Ernest Manheim und Heinz Maus. Träger des Leipziger soziologischen Denkstils war ein relativ weitgreifendes Denkkollektiv. Sein Einfluss resultierte weniger aus Publikationen in Zeitschriften oder kanonischen Lehrbüchern, sondern vor allem aus den außeruniversitären Schriften, die bei dem jugendbewegten Verleger Eugen Diederichs erschienen. Zudem veröffentlichten Freyers Schüler und Mitarbeiter am Institut für Soziologie ihre Aufsätze und Rezensionen mehrheitlich in den Blättern für Deutsche Philosophie. Lose Orientierungspunkte waren ihnen die Werke von Wilhelm Wundt (Psychologie), Karl Lamprecht (Kulturgeschichte) und Hans Driesch (Biophilosophie). Für den Austausch zwischen den Mitgliedern dieses Denkkollektivs sorgte Freyer, der öfters zu Treffen und Festen in sein Haus einlud.393 Auch das intellektuelle Umfeld und dessen Besonderheiten wirkten auf die »Leipziger Schule« zurück: So lässt sich für die um 1871 zweitgrößte sowie nach Berlin und München prestigeträchtigste deutsche Universität394 ein für die deutsche Gelehrtenlandschaft eher ungewöhnlicher Fokus auf materielle Kulturwissenschaften wie mittelalterliche regionale Landesgeschichte, Volkskunde und prähistorische Archäologie feststellen. Auch Medizin, physiologische Psychologie und Sozialwissenschaften bildeten im Gegensatz zu anderen Universitäten Schwerpunkte.395 Roger Chickering, Katharina Neef und Elfriede Üner betonen, dass das innovative intellektuelle Klima an der Universität Leipzig vor allem von einem für das späte 19.  Jahrhundert eher unüblichen Willen zum intellektuellen Austausch zwischen den dort angesiedelten Instituten und Gelehrten herrührte. So trafen sich der Geograf und Volkskundler Friedrich Ratzel, der Chemiker Wilhelm Ostwald, der Landes- und Kulturhistoriker Lamprecht 393 Rehberg, Hans Freyer, S.73; Üner, Jugendbewegung und Soziologie, S.130-132, 141-145. Schelsky publizierte noch in den 1950er und 1960er Jahre zahlreiche seiner Schriften bei Diederichs. 394 Neef, Die Entstehung der Soziologie, S.76. Nach den Studierendenzahlen fiel die Universität Leipzig allerdings schon um 1900 hinter München zurück. Vgl. Ulrich von Hehl, In den Umbrüchen der ersten Hälfte des 20.  Jahrhunderts. Die Universität Leipzig vom Vorabend des Ersten bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges 1909-1945, in: ders. u.a., Geschichte der Universität Leipzig 1409-2009, Bd.3. Leipzig 2010, S.17-329, hier: S.17. 395 von Hehl, In den Umbrüchen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, S.31-33.

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und der Leiter des 1878 gegründeten Instituts für experimentelle Psychologie Wundt etwa beim »Leipziger Positivisten-Kränzchen«. Sie diskutierten ihr Wissen und strebten nach gemeinsamen methodischen Prinzipien, um eine Synthese von philosophisch-historischen und naturwissenschaftlichen Erkenntnisverfahren zu erreichen.396 Lamprecht selbst interpretierte die Geschichte der Deutschen seit dem Mittelalter als teleologischen Prozess, der mit der Gründung des Kaiserreichs 1871 ende. Das deutsche Volk war für ihn jedoch keine historische Kategorie, sondern eine überhistorische Gemeinschaft. Die Verbindung dieses deutschnationalen Ansatzes mit Wundts universalistischer, experimenteller und physiologischer Völkerpsychologie, die eine an Charles Darwin, Herbert Spencer und Ernst Haeckel orientierte Psychogenese des menschlichen, kulturell gebundenen Bewusstseins begründen wollte,397 bildete nebst anderen Ansätzen den intellektuellen Hintergrund für die späteren völkischen Wissenschaften. Allerdings beförderten erst die deutsche Niederlage im Ersten Weltkrieg und der von vielen als Schmach empfundene Friedensvertrag von Versailles die wissenschaftliche Legitimation von Revisionismus und deutscher Superiorität. Die 1926 in Leipzig gegründete Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung, aus der 1931 die Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften (VFG) hervorgehen sollten,398 spielte hierbei eine zentrale Rolle. Sie versammelte revisionistisch und völkisch-nationalistisch gesinnte Historiker, Volkskundler, Sprachwissenschaftler und Geografen wie Wilhelm Volz, Adolf Helbok, Rudolf Kötzschke und Hugo Hassinger. Als Koordinationsstelle der deutschen Volksund Raumforschung unterstützte sie zudem Publikationsprojekte wie das Handwörterbuch des Grenz- und Auslanddeutschtums und den Atlas der deutschen 396 Roger Chickering, Karl Lamprecht: A German Academic Life (1856-1915). Atlantic Highlands 1993, S.114; Neef, Die Entstehung der Soziologie, S.78-80; Üner, Der Einbruch des Lebens in die Geschichte, S.211. Üner bezieht sich auf die Schilderung Émile Durkheims von 1887, der die Vorzüge des Leipziger Forschungsprogramms in der Verknüpfung der Philosophie mit den Einzelwissenschaften sah. Zur Diskussion des positivistischen Weltbilds von Physikern, Chemikern und Wissenschaftsphilosophen, so u.a. auch von Wilhelm Ostwald, siehe Michael Heidelberger, Weltbildveränderungen in der modernen Physik vor dem Ersten Weltkrieg, in: vom Bruch/Kaderas (Hrsg.), Wissenschaften und Wissenschaftspolitik, S.84-96, hier: S.88. 397 Ash, Gestalt Psychology, S.22-25; Chickering, Karl Lamprecht, S.135-136, 195201. Lamprecht bezog sich etwa auf Wundt, als er sein Kausalitätsprinzip 1896 gegen Felix Rachfahl und Friedrich Meinecke verteidigte. 398 Michael Fahlbusch, Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik? Die »Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften« von 1931-1945. Baden-Baden 1999, S.66; Ingo Haar, German Ostforschung and Anti-Semitism, in: ders./Michael Fahlbusch (Hrsg.), German Scholars and Ethnic Cleansing, 1920-1945. New York/ Oxford 2005, S.1-27, hier: S.2.

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Volkskunde.399 Diese Forschungen konnten für die wissenschaftliche Legitimation des Volkstumskampfes und für die Idee eines ›deutschen Kulturbodens‹ genutzt werden, der nach kontinentalimperialistischen Herrschaftsfantasien »beinahe alle ostmitteleuropäischen Staaten umfasste«, wie Willi Oberkrome festhält.400 In diesem Umfeld bildeten sich der Leipziger soziologische Denkstil und sein Idiom heraus, das Schelsky nachhaltig prägte. 6.1.1. Soziologie als »Wirklichkeitswissenschaft« und tatphilosophisches Idiom

Hans Freyer besetzte seit 1925 in Leipzig den ersten exklusiv für Soziologie in Deutschland eingerichteten Lehrstuhl.401 Er leitete außerdem das von Karl Lamprecht gegründete Institut für Kultur- und Universalgeschichte, das seinerzeit größte historische Forschungsinstitut der Welt. Wie bei der experimentellen Psychologie Wilhelm Wundts und der Volkswirtschaftslehre Wilhelm Roschers strebten die Mitarbeiter dieses Institut nach einer Verschränkung von Mathematisierung und Historisierung, indem sie durch die Quantifizierung sozialhistorischer Daten soziohistorische Entwicklungen sichtbar zu machen versuchten. Nach Elfriede Üner wurden in Leipzig »Kulturgebilde wie Volk, Staat, Gemeinschaft, Nation« als »komplexe Synthesen und interdisziplinäre Forschungsprobleme verstanden – von Philosophie und Statistik, von naturwissenschaftlich orientierter Geo399 Carl Petersen u.a., Vorwort, in: dies. (Hrsg.), Handwörterbuch des Grenz- und Auslanddeutschtums, Bd.I . Breslau 1935, S.V . Vgl. Willi Oberkrome, Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918-1945 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd.101). Göttingen 1993, S.28, 75, 84. Generell zur Volkskunde und den verschiedenen Atlaswerken siehe Friedemann Schmoll, Die Vermessung der Kultur. Der »Atlas der deutschen Volkskunde« und die Deutsche Forschungsgemeinschaft 1928-1980 (Studien zur Geschichte der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Bd.5). Stuttgart 2009. 400 Willi Oberkrome, Geschichte, Volk und Theorie. Das ›Handwörterbuch des Grenzund Auslanddeutschtums‹, in: Peter Schöttler (Hrsg.), Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918-1945. Frankfurt am Main 1997, S.104-127, hier: S.107. 401 1919 wurde in Frankfurt am Main der erste ordentliche Lehrstuhl für Soziologie und Nationalökonomie eingerichtet, den Franz Oppenheimer besetzte. Ab April 1919 gab es zudem das Forschungsinstitut für Sozialwissenschaften an der neugegründeten Universität Köln, an dem Max Scheler Wissenssoziologie und soziologische Erkenntnistheorie lehrte. Siehe Später, Siegfried Kracauer, S.110. Freyer bekleidete dagegen den ersten Lehrstuhl an einer deutschen Universität, der ausschließlich der Soziologie gewidmet war.

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grafie und Geschichte, von Volkswirtschaftslehre und Psychologie, von Kulturgeschichte und empirischer Sozialforschung.«402

Dieser ganzheitliche und methodisch übergreifende Ansatz war auch für Freyer ausschlaggebend, der von 1907 bis 1911 bei Lamprecht und Wundt studiert und zwischen 1918 und 1920 unter Walter Goetz eine wirtschaftshistorisch-psychologische Habilitationsschrift verfasst hatte.403 Vor allem fünf Elemente kennzeichneten den sich um Freyer herausbildenden Denkstil, die im Folgenden herausgearbeitet werden:

(a) das Verständnis der Soziologie als »Wirklichkeitswissenschaft«; (b) der partielle Einbau des amerikanischen Pragmatismus; (c) psychologisch-behavioristische und kulturanthropologische Ansätze, die vor allem von Gehlen angewandt und weiterentwickelt wurden; (d) die Anwendung von sozialempirischen und historisch-hermeneutischen Methoden. Wie Horkheimer in seiner Auseinandersetzung mit Kant und der Gestaltpsychologie ging auch Freyer davon aus, dass kollektive Gesetzmäßigkeiten zwar aus dem Zusammenwirken einzelner Phänomene hervorgingen, dass diese Gesetzmäßigkeiten ihrer Wirkung nach aber nicht auf einzelne Phänomene zurückgeführt werden konnten;404 (e) voranalytisch-idiomatische Elemente. (a) Soziologie als »Wirklichkeitswissenschaft«

Als Variante der zuvor von Georg Simmel (1892), Wilhelm Windelband (1894), Ernst Troeltsch (1897) und Max Weber (1904) formulierten Vorstellung von Kultur- und Sozialwissenschaft als »Wirklichkeitswissenschaft« stellte Freyer seinem 1930 erschienenen Buch Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft das Ziel voran, die Strukturen, die Genealogie, die Bewegungsgesetze und die Entwicklungstendenzen der »Klassengesellschaft des Hochkapitalismus« zu erforschen.405 Üner schreibt, dass Freyer damit den Wirklichkeitsbegriff des Hegelschen Idealismus, »der eine Einheit herstellt zwischen ›Wirklichkeit‹ und ›Vernunft‹, insgeheim auch zwischen ›Weltgeist‹ und ›Volksgeist‹, d. h. der nichts weniger beansprucht, als durch die eigene Nation […] Anteil zu haben an der ›menschlichen Wahrheit‹«, umwandeln wollte.406 Denn mit der Niederlage des Deutschen Reichs im Ersten Weltkrieg wären sowohl der deutsche Idealismus (Rudolf Eucken) als auch der idealistische 402 403 404 405 406

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Üner, Der Einbruch des Lebens in die Geschichte, S.212f. Ebd., S.213. Ebd., S.213f. Zitiert nach: Rehberg, Hans Freyer, S.72. Elfriede Üner, Soziologie als »geistige Bewegung«. Hans Freyers System der Soziologie und die »Leipziger Schule«. Weinheim 1992, S.29.

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Sozialismus (Paul Natorp, Hermann Cohen, Johann Plenge, Oswald Spengler), die »existenzielle Verlebendigung« des Geistes (Georg Simmel, Max Scheler) und jegliche patriotische Selbstbesinnung angesichts des westlichen Kapitalismus (Werner Sombart, Alfred Weber, Ernst Troeltsch) an ihr Ende gekommen. Damit einhergehend seien die ehemals in einem teleologischen Gefüge Hegelscher Prägung versammelten Kategorien »Reflexion«, »Handlung«, »Geist« und »Macht« wieder voneinander gelöst worden, was insbesondere der aufkommende Relativismus befördert habe. Es habe also, so Üner, eine Neubestimmung dieses Verhältnisses erfolgen sowie die Frage nach der gesellschaftlichen Anwendung sozial- und kulturwissenschaftlicher Forschung anders gestellt werden müssen. Während so Vertreter des Wiener Kreises »Vernunft«, »Philosophie« und »Wissenschaft« neu zusammenführten, entwickelte Freyer sein Konzept der Politischen Soziologie beziehungsweise Politischen Wissenschaft.407 Eine Möglichkeit, verschiedene Arten des Erkennens mit ihren unterschiedlichen empirischen Grundlagen auf den Begriff zu bringen, sah Freyer in seiner Definition von Soziologie als »Wissenschaft von einem klar bestimmten und begrenzten Objekt: von der gesellschaftlichen Wirklichkeit«.408 Unter dem Begriff »Wirklichkeit« verstand er eine vitalistisch bestimmte »Lebenswirklichkeit«, das heißt die soziale und politische Wirklichkeit der Menschen. Die »gesellschaftlichen Gebilde« waren für ihn »Formen aus Leben«, die sich aus den Menschen »mit ihrem ganzen Wesen und Schicksal« entwickelten.409 Sein soziologischer Ansatz folgte damit einer rechtshegelianischen, von Dilthey und ansatzweise auch von Simmel beeinflussten Sozialphilosophie, die handlungsorientiert-positiv ausgerichtet war. Entsprechend schrieb Freyer 1931: »Bauten und Kunstwerke, Siedlungsformen und Verkehrswege, Geräte und Gebräuche, […] – alle diese Gebilde und Ordnungen tragen, vollständig und getreu, als ihren Sinngehalt den Geist des Menschentums in sich, dessen Welt sie waren«.410 Wie bei Horkheimer in dessen frühen Jahren stand Freyers Soziologie im Spannungsfeld zweier Grundfragen: Einerseits verstand er unter der Wirklichkeit als Problem geistigen Seins »objektiven Geist« oder »Kultur« in ihren jeweiligen Erscheinungen, die durch verschiedene Objektivierungsschritte, jenes »seelischen Kreislaufs des Verstehens«, erfasst werden sollten. Andererseits bezeich-

407 408 409 410

Ebd., S.29f. Linde, Soziologie in Leipzig 1925-1945, S.118. Hans Freyer, Einleitung in die Soziologie. Leipzig 1931, S.7. Ebd., S.5.

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nete er mit Wirklichkeit als Problem gesellschaftlichen Seins die Rückbindung dieser Objektivationen an die Strukturen der Gesellschaft.411 Mit diesem Konzept von Soziologie setzte sich Freyer von der tendenziell nomothetischen, vor allem aber stark empirisch-quantitativ ausgerichteten amerikanisch-englischen Sozialwissenschaft und der von ihm als bürgerlich angesehenen formalen Soziologie mit ihrer Vorstellung von Werturteilsfreiheit ab. Marxistische Modelle kritisierte er als statisch. Die Klassengesellschaft galt ihm lediglich als Durchgangsstadium in einer sozialen Entwicklung, die auf ganz andere Formen sozialer Organisation zulaufen würde.412 Wie beim Denkkollektiv um Horkheimer sollte die Sozialwissenschaft des Leipziger Denkkollektivs einer als »neutral« und »bürgerlich« angesehenen Soziologie und Philosophie entgegenwirken. Im Gegensatz zur individualistisch-emanzipatorischen Zielsetzung des am Frankfurter IfS gebildeten Denkstils sah Freyer sozialwissenschaftliches Wissen als ein Mittel, mit dem die Gesellschaft verändert und im Sinne jungkonservativen Denkens optimiert werden konnte. Wie Horkheimer bezog er damit Position gegen die dem 19. Jahrhundert zugerechneten Erkenntnisweisen des Historismus und Positivismus. »Wirklichkeit« war bei ihm kein empirischer, durch induktive Methoden erschlossener Begriff, sondern ein theoretisch-synthetischer, der laut Üner »gegenständliche Verselbständigung und soziale Konstruktion bereits in sich vereint.«413 Freyer wollte damit die Kluft zwischen geisteswissenschaftlich-psychologischen und naturwissenschaftlichen Ansätzen überwinden und eine Alternative zum deutschen Neukantianismus formulieren.414 411 Hans Freyer, Theorie des objektiven Geistes. Eine Einleitung in die Kulturphilosophie. Stuttgart 1973 [1923/34], S.20-32. Freyer geht von drei Objektivationsschritten aus: 1. Das Erkennen des Zusammenhangs der psychischen Funktionen, in denen den Menschen die gegenständliche Welt gegenübertrete, also nach Dilthey die gegenständliche Auffassung durch den menschlichen Geist, 2. das Erkennen der Richtung einer Zeichenbewegung als »Form«, die sich zu einem sinnhaften Gebilde entwickle, 3. die Analyse der materiellen Spuren der Bewegung. Vgl. Üner, Soziologie als »geistige Bewegung«, S.35-47. 412 Rehberg, Hans Freyer, S.76. 413 Üner, Soziologie als »geistige Bewegung«, S.42. Auf die in der Weimarer Republik entstandenen Homologien zwischen politisch rechtsstehenden und linken Wissenschaftlern wie Intellektuellen verweist Steven Aschheim mit Blick auf das Frankfurter Milieu. Siehe Steven E. Aschheim, The Weimar Kaleidoscope – and, incidentally, Frankfurt’s not Minor Place in it, in: Epple u.a. (Hrsg.), »Politisierung der Wissenschaft«, S.71-93, hier: S.77-80. Vgl. auch Oberkrome, Volksgeschichte, S.111. In eine ähnliche Richtung weist auch Timothy Brown mit Blick auf die allgemeine politisch-ideologische Lage in der Weimarer Republik. Vgl. Timothy S. Brown, Weimar Radicals: Nazis and Communists between Authenticity and Performance. New York/Oxford 2009. 414 Vgl. Üner, Der Einbruch des Lebens in die Geschichte, S.211-213.

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(b) Der partielle Einbau von Elementen des amerikanischen Pragmatismus

Freyers Soziologie stand in wechselseitigen Beziehungen zum amerikanischen Pragmatismus der Zeit vor und während des New Deal. Der amerikanische Jurist Karl N. Llewellyn, Professor an der Columbia University Law School, hielt sich zwischen 1928 und 1933 mehrmals als Gastprofessor an der Universität Leipzig auf. Er entwickelte durch die Rezeption von Freyers Soziologie eine pragmatische soziologische Rechtstheorie, mit der er die formalistische oder reine Rechtslehre Hans Kelsens überwinden wollte. Llewellyns Rechtsrealismus übte entscheidenden Einfluss auf die sozialen Reformbestrebungen des New Deal aus. Später sollte auch Talcott Parsons in seinem Buch The Structure of Social Action (1937) Theoreme von Freyers Soziologie aufnehmen.415 Der Leipziger Soziologe galt mit den von ihm entwickelten Themen und Problemstellungen zu Bevölkerungs- und Berufsaufbau, sozialer Schichtung, Wanderungsverhältnissen und Verkehrsproblemen der verschiedenen Großstadttypen416 als zeitgemäß und auf dem modernen Stand der Wissenschaft stehend. Intellektuelle Verbindungen zwischen Leipzig und den Vereinigten Staaten bestanden bereits im späten 19. Jahrhundert. Sie zeigten sich etwa in der Rezeption der experimentellen Psychologie Wundts an der Harvard University. Nach dem Vorbild von Wundts Institut für experimentelle Psychologie richtete dort der pragmatische Philosoph und Psychologe William James 1876 das erste psychologische Labor ein. Seine auf Laborexperimenten beruhende frühe behavioristische Psychologie setzte sich von der Freudsche Psychoanalyse ab. Sie war zudem eng mit Sozialmedizin, Sozialreform und Erziehung verbunden  – insbesondere hinsichtlich der Bildung und Vermittlung demokratischer Haltungen.417 Ein wichtiger Impulsgeber für James war der deutsch-jüdische physiologische Psychologe Hugo Münsterberg, der 1885 bei Wundt promoviert418 und den James 1889 auf dem Ersten Internationalen Psychologenkongress in Paris getroffen hatte. Münsterberg vertrat eine von evolutionstheoretischen Prämissen, wie etwa der wechselseitigen Anpassung von Zellen, Geweben und Organismen, inspirierte naturwissenschaftliche und experimentelle Psychologie. Diese beruhte auf der Annahme, dass psychische Vorgänge mit wissenschaftlichen Instrumenten und Techniken gemessen werden könnten.419 Auf Ein415 416 417 418

Vgl. ebd., S.224f. Kändler, Entdeckung des Urbanen, S.55, Fußnote 79. Isaac, Working Knowledge, S.92, 94f. Matthew Hale, Jr., Human Science and Social Order: Hugo Münsterberg and the Origins of Applied Psychology. Philadelphia 1980, S.31. 419 Ebd., S.31-33, 74-83. Allerdings warf Münsterberg in Die Willenshandlung (1888) dem amerikanischen Pragmatisten James vor, dieser habe die fundamentalen Prinzipien der Wissenschaft missachtet, wenn er glaube, dass Inhalte des menschlichen Bewusstseins physikalische Prozesse beeinflussen würden. Siehe ebd., S.41.

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ladung James’ baute Münsterberg zwischen 1892 und 1895 ein Labor für physiologische Psychologie nach dem Vorbild seines Freiburger Labors auf.420 1897 ließ er sich nach Schwierigkeiten bei der Etablierung im deutschen Wissenschaftsfeld endgültig in den Vereinigten Staaten nieder und wurde James’ Nachfolger an der Harvard University.421 Bei seinem Tod 1916 war Münsterberg, der an seiner neuen Wirkungsstätte eine strikt angewandte Psychologie entwickelt hatte, wohl der bekannteste Psychologe in den Vereinigten Staaten – nicht zuletzt deshalb, weil er sich mit publizistischen sozialpsychologischen und kulturdiplomatischen Beiträgen auch öffentlich zu Wort gemeldet hatte.422 (c) Psychologisch-behavioristische und kulturanthropologische Ansätze

In Anlehnung an Max Schelers Philosophische Anthropologie baute Arnold Gehlen, Freyers zeitweiliger Assistent und späterer Kollege am Institut für Kultur- und Universalgeschichte, in den 1930er Jahren den amerikanischen Pragmatismus John Deweys und James’ sowie die Sprachanthropologie George Herbert Meads in seine Arbeiten ein. Er gehörte zu den ersten deutschen Wissenschaftlern, die explizit den amerikanischen Pragmatismus rezipierten.423 Gehlen hatte zunächst Philosophie bei Nicolai Hartmann in Köln, Deutsch und Kunstgeschichte studiert. Zusätzlich besuchte er auch Lehrveranstaltungen in Psychologie, Physik und Zoologie. Er promovierte bei Hans Driesch mit dem Werk Zur Theorie der Setzung und des setzungshaften Wissens bei Driesch. Dabei verknüpfte er kultur- und gesellschaftstheoretische mit naturwissenschaftlich-biophilosophischen Ansätzen.424 Gehlens Kombination der experimentellen Psychologie Wundts, der Biophilosophie Drieschs und Jakob von Uexkülls, der Verhaltensbiologie Konrad Lorenz’ und des amerikanischen Pragmatismus ist in der deutschen Intellektuellengeschichte als Philosophische Anthropologie bekannt geworden. Ihre Vertreter machten es sich zur Aufgabe, den Körper-Geist-Dualismus mithilfe der Kategorien »Handlung« und »Leben« zu überwinden.425 Die von Theodor Litt und Scheler begründete, dann 420 Ebd., S.45-55. 421 Karl-Heinz Füssl, Deutsch-amerikanischer Kulturaustausch im 20.  Jahrhundert. Bildung  – Wissenschaft  – Politik. Frankfurt am Main/New York 2004, S.46f.; Jutta Spillmann/Lothar Spillmann, The Rise and Fall of Hugo Münsterberg, in: Journal of the History of the Behavioral Sciences 29 (1993) 1, S.322-338, hier: S.323-326. 422 Hale, Jr., Human Science and Social Order, S.3f., 87-105, 148-163. Münsterberg hatte sich besonders im Zuge des Ersten Weltkrieges in der deutschen diplomatischen Kulturpolitik in den Vereinigten Staaten engagiert. Vgl. ebd., S.164-183. 423 Delitz, Arnold Gehlen, S.12f.; Rehberg, Philosophische Anthropologie, S.176. 424 Delitz, Arnold Gehlen, S.23; Christian Thies, Arnold Gehlen zur Einführung, 2., ergänzte Aufl. Hamburg 2007 [2000], S.11. 425 Vgl. Delitz, Arnold Gehlen, S.37, 39, 42, 50.

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von Helmuth Plessner biologisch-philosophisch, von Erich Rothacker kulturhistorisch sowie von zahlreichen weiteren Kultur- und Sozialwissenschaftlern, Philosophen und Biologen wie Frederik Jacobus Johannes Buytendijk und Adolf Portmann jeweils weiterentwickelte Philosophische Anthropologie kombinierte Verhaltens-, Handlungs- und Interaktionstheorien. Ihr Ziel war es, die Position des Menschen in seiner Lebenswelt neu zu bestimmen.426 Dass nach 1945 in Westdeutschland vor allem Gehlen mit der Philosophischen Anthropologie in Verbindung gebracht wurde, lag unter anderem daran, dass Plessner aufgrund der NS-Rassenpolitik aus Deutschland fliehen musste. In der Emigration in der Türkei und dann in Groningen sah er sein wissenschaftliches Wirken marginalisiert. Er und Gehlen, die sich zeit ihres Lebens als Konkurrenten sahen, gingen von unterschiedlichen Positionen an die Ausformulierung ihrer philosophischen Anthropologien. Plessner war von Hause aus Mediziner und Zoologe. Er hatte unter anderem bei Driesch in Köln studiert. 1920 habilitierte er sich und wurde 1926 zum außerordentlichen Professor für Philosophie an der Universität Köln ernannt. Hier lehrte auch Scheler, der glaubte, Plessner würde seine Ideen nachahmen.427 Dabei sah sich dieser keineswegs als dessen Schüler, sondern entwickelte seinen eigenen Ansatz der Philosophischen Anthropologie, der sich eher an Drieschs Biophilosophie orientierte.428 In Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928) entwickelte Plessner schließlich die »exzentrische Positionalität« des Menschen zu seinem Schlüsselkonzept. Er deutete das Verhältnis des Menschen zum Umweltsystem als ein sensualistisch-exzentrisches, das durch »Phantasie und Einfühlungsfähigkeit« bestimmt, gleichzeitig aber grundsätzlich offen sei und eine Vielfalt menschlicher Existenzweisen ermögliche.429 Dass Plessner für die demokratischen Werte der Weimarer Republik eintrat, unterschied ihn von seinem späteren Kontrahenten Gehlen.430 Auch dieser stand unter dem Eindruck von Schelers Lehre.431 Er orientierte sich an Bergsons und Nietzsches Vitalismus,432 übernahm jedoch Schelers Essenzialismus nicht. Viel426 Vgl. Rehberg, Philosophische Anthropologie. Vgl. Patrick Wöhrle, Metamorphosen des Mängelwesens. Zu Werk und Wirkung Arnold Gehlens (Theorie und Gesellschaft, Bd.71). Frankfurt am Main/New York 2008, S.28f. 427 Joachim Fischer, Philosophische Anthropologie. Eine Denkrichtung des 20.  Jahrhunderts. Freiburg im Breisgau/München 2009 [2008], S.85, 88. 428 Ebd., S.31. 429 Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, hrsg. v. Günter Dux (Gesammelte Schriften, Bd.IV). Frankfurt am Main 1981 [1928], S.59, 81, 86f., 92f., 101-103, 127f., 149-156, 177203, 212-224, 365-425. Vgl. Fischer, Philosophische Anthropologie, S.15, 23; Rehberg, Philosophische Anthropologie, S.171f. 430 Strote, Lions and Lambs, S.74, 78f. 431 Fischer, Philosophische Anthropologie, S.26. 432 Delitz, Arnold Gehlen, S.43.

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mehr, so Heike Delitz, entwickelte er eine sowohl biologisch als auch kulturwissenschaftlich argumentierende historisch-soziologische Anthropologie,433 eine Lebenstheorie, die Fantasie, Sprache und Kunst im Zusammenspiel mit dem menschlichen Körper verstehen wollte.434 Im Unterschied zu Plessner rezipierten Scheler und Gehlen den amerikanischen Pragmatismus in ihren Arbeiten. Für Scheler war die »pragmatische Philosophie« bedeutend, weil sie in seinen Augen eine Neukonzeption des »Positivismus« erlaubte, die auf die Frage nach dem »Arbeits- und Leistungswissen« ausgerichtet sei und der Technik den seiner Ansicht nach gebührenden Stellenwert innerhalb der menschlichen Lebensverhältnisse zuwies.435 Diese Zweckorientierung menschlichen Handelns vertrat auch Gehlen. Dieser stellte jedoch nicht den direkten Gebrauch des Werkzeugs, sondern vielmehr die zweckorientierte Herstellung desselben durch den Menschen ins Zentrum seiner Betrachtungen. Dies unterschied seiner Ansicht nach den Menschen vom Tier.436 Gemeinsam war Scheler, Plessner und Gehlen auch, dass sie vom Idealismus Kants geprägt waren, diesen aber mit ihren Anthropologien neu bestimmen wollten.437 Im Unterschied zu Plessner vertrat Gehlen allerdings eine negative Anthropologie. Er sah den Menschen zwar auch als fantasiebegabtes, seine Zukunft antizipierendes »Kulturwesen«, jedoch mit Herder ebenso als zuchtbedürftiges »Mängelwesen«.438 Die Vielfalt der menschlichen Existenzweisen bei Plessner wurde bei Gehlen zur Vielfalt von Handlungsentwürfen sowie Plänen der produktiven Bewältigung der Weltoffenheit.439 Statt offenen Existenzmöglichkeiten stand ihm Naturbeherrschung durch menschliches Planen vor Augen. Die von Uexküll aufgeworfene Frage, wie das existenzbedrohte, schwankende, stets entartungsbereite und antriebsüberlastete »Mängelwesen« Mensch phylound ontogenetisch überleben könne, bildete dabei den Kern seiner Theorie. Die Aufhebung des selbstzerstörerisch wirkenden Triebhanges konnte für ihn nur gelingen, wenn der Mensch sich an höheren institutionellen Ordnungen orientiere. Gehlens vitalistische Figur des »mehr Lebens« kam diesem menschlichen Begehren nach Ordnung gleich.440 Das menschliche »Wirklichwerden des Selbst«, so formuliert es Karl-Siegbert Rehberg, sah er in der Versachlichung der Welt und der Schaffung von Institutionen als Entlastungseinheiten gegeben.441 433 434 435 436 437 438

Ebd., S.46, 48. Ebd., S.48. Fischer, Philosophische Anthropologie, S.29f. Delitz, Arnold Gehlen, S.59; Wöhrle, Metamorphosen des Mängelwesens, S.16f. Fischer, Philosophische Anthropologie, S.44f. Delitz, Arnold Gehlen, S.50-52. Vgl. Helmut Lethen, Die Staatsräte. Elite im Dritten Reich: Gründgens, Furtwängler, Sauerbruch, Schmitt. Berlin 2018, S.42f. 439 Delitz, Arnold Gehlen, S.61. 440 Ebd., S.60. 441 Rehberg, Hans Freyer, S.79f.; ders., Philosophische Anthropologie, S.175.

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Gehlen vertrat eine spezifische Form »konkreten Ordnungsdenkens«,442 wie es auch Carl Schmitt in der Rechtsphilosophie entwickelt hatte. Der Mensch galt ihm als »Mängelwesen«, das einer ihm vorgelagerten, durch funktionsentlastende Institutionen befestigten, geistigen wie organisatorischen Ordnungsstruktur bedürfe. Orientierung gebende Ideologien sollten dabei als Religionsersatz fungieren. Organisatorisch sollten Institutionen wie der Staat und seine Einrichtungen den Menschen entlasten. Seit dem Machtwechsel 1933 ging das »konkrete Ordnungsdenken« verstärkt zu einer Praxis der »gegensatzaufhebenden Begriffsbildung« über, die zur Vermischung von Norm- und Wirklichkeitsebene führte.443 In Gehlens Anthropologie bestand diese Aufhebung von Norm und Wirklichkeit potenziell bereits vor der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten, wie Patrick Wöhrle festhält: Die »politischen Empfehlungen, die bekanntlich der Institutionenlehre Gehlens anhaften«, erfolgten keineswegs äußerlich im Sinne eines sauberen Schnitts »zwischen wissenschaftlich-kategorialer Objektivität und privater Neigung«. Vielmehr sei dessen Handlungsbegriff »auch mit einem stark gestalterischen und normativen Anspruch aufgeladen«.444 Damit stand Gehlen in der Gesellschaft Freyers, dessen Wirklichkeitsbegriff gerade keine Abgrenzung zwischen praktisch-politischem Wollen und theoretisch-sozialwissenschaftlicher Orientierung beinhaltete.445 Dieses für den Leipziger soziologischen Denkstil zentrale normativ-gestalterische Element sollte auch für den jungen Schelsky richtungsweisend werden.446 (d) Anwendung von sozialempirischen und historisch-hermeneutischen Methoden

Vertreter des Leipziger soziologischen Denkstils nutzten für ihre Forschungen auch Methoden der empirischen Sozialforschung. Während Freyer und Gehlen die Empirie mehr als Instrument gegen utopische Gesellschaftsentwürfe von Soziologen auffassten, wandten der bei Freyer arbeitende Agrarsoziologe und Raumforscher Gunther Ipsen447 und der Bevölkerungswissenschaftler Karl Heinz Pfeffer empirisch-quantitative Methoden der Soziografie an, die unter anderem von der 442 Hierzu Lutz Raphael, ›Ordnung‹ zwischen Geist und Rasse: Kulturwissenschaftliche Ordnungssemantik im Nationalsozialismus, in: Hartmut Lehmann/Otto Gerhard Oexle (Hrsg.), Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften, Bd.2: Leitbegriffe – Deutungsmuster – Paradigmenkämpfe – Erfahrungen und Transformationen im Exil (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd.211). Göttingen 2004, S.115-137. 443 Ebd., S.122; ders., Radikales Ordnungsdenken, S.16. 444 Wöhrle, Metamorphosen des Mängelwesens, S.28f. 445 Üner, Soziologie als »geistige Bewegung«, S.52. 446 Vgl. Fischer, Philosophische Anthropologie  – Ein wirkungsvoller Denkansatz, S.323-327. 447 Üner, Der Einbruch des Lebens in die Geschichte, S.219.

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amerikanischen Rural Sociology inspiriert waren.448 Besonders Pfeffer hatte sich im Rahmen eines Stipendiums der Rockefeller Foundation in den frühen 1930er Jahren in Australien mit amerikanisch-englischen Methoden vertraut gemacht.449 Er vertrat fortan eine zwar theoriegeleitete, jedoch auch empirisch unterfütterte und linguistisch angereicherte »Soziologie des deutschen Volkstums«. Ipsen bezeichnete diese als »Realsoziologie«.450 Er selbst untersuchte in Das Landvolk (1933) die Entwicklung der industriellen Gesellschaft, die für ihn mit der Französischen Revolution 1789 einsetzte und deren Neuartigkeit in der Begegnung von Unternehmertum, Technik und Proletariat bestanden habe.451 Seinem Befund nach war das »Landvolk« im industriellen Zeitalter »gesellschaftlich ausgeschaltet«, »aus dem wirklichen Leben der Nation ausgeschlossen, aus dem Geschehen der Geschichte ausgeschieden«.452 Ländliche und industrielle Gesellschaft hätten sich entfremdet. Die Industriearbeit habe sich ausgesprochen schädlich auf die Landarbeit ausgewirkt: Wo ehemals Großbauernhöfe existiert hätten, habe sich in der Gegenwart der Typ des »bäuerlichen Industriearbeiters« etabliert. Gleichzeitig ging Ipsen jedoch von einer »Beständigkeit des Bauerntums« aus, die er auf »die positive Macht einer gültigen menschlichen Prägung« zurückführte.453 Wie Willi Oberkrome und Carsten Klingemann zu Recht bemerken, finden sich in Ipsens Schriften völkisch-mystizistische und rein spekulative Denkfiguren, die an seine gestaltund ganzheitspsychologischen Anfänge erinnerten. Dies zeigte sich etwa daran, wenn er vom Bauerntum als dem »Mutterschoß der Volkheit« sprach oder den Bauern nach seinem ›Wesen‹ ergründen wollte.454 Ipsen verwendete aber auch durch sozialempirische Methoden generiertes Faktenwissen.455 Letzteres nutzte er in Das Landvolk für die Kapitel »Das Dorf« und »Hof und Hufe«. Für die Charakterisierung von Struktur und Wandel dieser sozialen Organisationsformen bezog er sich auf historisch-archivalische und statistische Daten. Allerdings bereitete er diese 448 Rammstedt, Deutsche Soziologie 1933-1945, S.120, 133f. Vgl. Uwe Mai, »Neustrukturierung des deutschen Volkes«. Wissenschaft und soziale Neuordnung im nationalsozialistischen Deutschland, 1933-1945, in: Isabel Heinemann/Patrick Wagner (Hrsg.), Wissenschaft  – Planung  – Vertreibung. Neuordnungskonzepte und Umsiedlungspolitik im 20.  Jahrhundert (Beiträge zur Geschichte der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Bd.1). Stuttgart 2006, S.73-92, hier: S.73. 449 Weyer, Westdeutsche Soziologie, S.382f. 450 Vgl. Linde, Soziologie in Leipzig 1925-1945, S.106-108, 112f. Vgl. Christian Sehested von Gyldenfeldt, Gunther Ipsen zu VOLK und LAND. Versuch über die Grundlagen der Realsoziologie in seinem Werk (Beiträge zur Geschichte der Soziologie, Bd.14). Berlin 2008, S.64-94. 451 Gunther Ipsen, Das Landvolk. Ein soziologischer Versuch. Hamburg 1933, S.7. 452 Ebd., S.8. 453 Ebd., S.11, 14, 17. 454 Ebd., S.16-26. 455 Oberkrome, Volksgeschichte, S.118-120; Klingemann, Soziologie und Politik, S.43f., 118.

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nicht mit einem analytischen Instrumentarium auf, wie dies etwa in den Surveys der Chicago School geschah. Vielmehr interpretierte er sie mit einer nicht weiter erklärten hermeneutischen Herangehensweise.456 Empirisch erfasste Ipsen statistische Daten städtischer, dörflicher und ländlicher Strukturen, die er teils durch eigene Feldforschungen, teils über publizierte Amtsstatistiken erhob. Ergänzt wurde dies durch kulturhistorischgeografische und linguistische Verfahren. Solche Methoden waren bereits in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg und in der Weimarer Republik etabliert. Theodor Geiger, Gustav Schmoller sowie Max und Alfred Weber nutzten sie in der frühen Arbeiter-, Familien- und Industriesoziologie.457 Ähnlich dem holistischkollektiven Denkstil des Denkkollektivs um Horkheimer – wenn auch politisch völlig gegensätzlich – war diese Kombination von Methoden und theoretischen Ansätzen als Merkmal des Leipziger soziologischen Denkstils durchaus originell. Die sozialempirischen Methoden dienten dabei als Querverstrebungen zwischen den eingebundenen Disziplinen und bildeten eine Form der angewandten Gesellschaftstechnik, die mit der Ausrichtung der NS-Wissenschaftspolitik auf die direkte Kriegsvorbereitung ab 1936 relevant wurde.458 (e) Voranalytisch-idiomatische Elemente

Jene voranalytisch-idiomatischen Annahmen, die nicht mehr artikuliert wurden, konzentrierten sich vor allem auf zwei Bereiche: Einerseits eine völkisch konzipierte, räumlich und ethnisch-kulturell gebundene Form partikularistischen Denkens, deren Endpunkt nicht der Staat, sondern das Volk war. Andererseits zählte hierunter ein Philosophem der Tat. Dieses war eng mit der Sozialisation vieler Mitglieder des Leipziger Denkkollektivs in der Jugendbewegung verbunden und spiegelte den pragmatischen Handlungsbegriff gewissermaßen idiomatisch. Das partikularistisch-völkische Denken Freyers resultierte aus einer jungkonservativen, von nationalrevolutionären, völkisch-nationalistischen und modernitätsbefürwortenden Elementen geprägten Haltung. In der Weimarer Republik stand Freyer jenen Akteuren nahe, die Armin Mohler in seiner Basler Dissertation von 1949 mit deutlich apologetischer Tendenz als Vertreter einer »Konser456 Ipsen, Das Landvolk, S.27-55. 457 Thomas Hahn, Industriesoziologie als Wirklichkeitswissenschaft? Zwischen Empirie und Kult, in: Jaeggi u.a. (Hrsg.), Geist und Katastrophe, S.174-311, hier: S.179-184. Vgl. Hamann, Gunther Ipsen in Leipzig, S.109-120. 458 Rammstedt, Deutsche Soziologie 1933-1945, S.107-127. Siehe für die Agrarsoziologie Klingemann, Soziologie und Politik, S.109-122. Gleiches gilt für Demoskopen, Bevölkerungswissenschaftler und Raumforscher, die u.a. für SS-Stellen sozialwissenschaftliches Wissen generierten. Vgl. Alexander Pinwinkler, Historische Bevölkerungsforschungen. Deutschland und Österreich im 20.  Jahrhundert. Göttingen 2014.

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vativen Revolution« bezeichnete.459 Freyer selbst, so ein Buchtitel von 1931, nannte diese Strömung »Revolution von rechts«.460 Wie andere jungkonservative Denker vor 1933, legte sich auch Freyer parteiideologisch nicht auf eine Linie fest. Zunächst schloss er auch liberale, linke sowie Studierende und Gelehrte jüdischer Herkunft nicht aus.461 In der NS-Zeit distanzierte er sich von diesen allerdings scharf und unterstützte ihren Ausschluss von der Universität Leipzig. Wie Gerhard Schäfer schon 1990 herausgearbeitet hat, hatte Freyer »nicht nur die Entlassungsschreiben für mehrere Kollegen unterzeichnet, die E. Üner zum Kontext der Leipziger Schuler rechnet, sondern er hatte auch mindestens einer Doktorandin [Maria Grollmuß, F.L.], die wegen ihrer politischen Auffassungen im Gefängnis saß, die Unterstützung in der Not verweigert.«462 Zudem verbot Freyer im Kontext der ersten antisemitischen Hetzwellen im NSStaat im April 1933 dem mit ihm zuvor freundschaftlich verbundenen jüdischen Studenten H. Drucker den Zutritt zum Soziologischen Institut. Seinem langjährigen Mitarbeiter Ernest Manheim verweigerte er die Habilitation.463 Freyers Idiom basierte auf einer konsequenten Abgrenzung seiner eigenen Position von Liberalismus und Sozialismus. Ähnlich Carl Schmitt existierte für ihn kein allgemeingültiges Wissen.464 Wissenschaftliche Wahrheiten und Normen seien vielmehr an »Volk« und »Raum« gebunden. Auf juristischer Ebene hatte Schmitt dies als volksgebundene Rechtsordnung begründet, die eine Einheit von Souverän und Volkswillen sowie die kriegerische Absetzung von anderen souveränen Völkern kennzeichne.465 Eine universal verbindliche Rechtsnorm gab es in seinen Augen nicht.466 So konnte auch für Freyer von deutschen Wis459 Armin Mohler, Die konservative Revolution in Deutschland 1918-1932. Grundriß ihrer Weltanschauung. Stuttgart 1950. 460 Hans Freyer, Revolution von rechts. Jena 1931. 461 Vgl. Herf, Reactionary Modernism, S.12, 46. 462 Gerhard Schäfer, Wider die Inszenierung des Vergessens. Hans Freyer und die Soziologie in Leipzig 1925-1945, in: Heinz-Jürgen Dahme u.a. (Hrsg.), Jahrbuch für Soziologiegeschichte 1990. Opladen 1990, S.121-175, hier: S.134. Vgl. auch ebd., S.141-144. 463 Ebd., S.142. Dem marxistischen Osteuropa-Historiker Georg Sacke wurde mit Unterstützung Freyers als Dekan der philosophisch-historischen Abteilung an der Universität Leipzig außerdem die Venia Legendi entzogen. 464 Muller, The Other God That Failed, S.29f. 465 Reinhard Mehring, Carl Schmitt. Aufstieg und Fall. München 2009, S.207. 466 Schmitt erörterte in Politische Theologie (1922) dieses Prinzip anhand des Ausnahmezustands, den er in seine »Philosophie des konkreten Lebens« einbezog. Vgl. Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, 9.

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senschaftlern generiertes Wissen nicht für Amerikaner gelten und die Werte der Französischen Revolution, der französische Nationsbegriff oder der zentralistisch organisierte Machtstaat der Franzosen wiederum für die Deutschen keine Bedeutung haben.467 Bei Freyer verband sich partikularistisches Denken mit einer Entwicklungsteleologie. Soziale Gebilde wie das deutsche Volk liefen für ihn auf ihre historische Endstufe erst zu, was er als »Volkwerdung« bezeichnete. Damit verbunden waren völkische, teils rassische,468 jedoch im Gegensatz zu Schmitt469 weniger explizit antisemitische Elemente. In seinem 1923 erschienenen Buch Prometheus begründete er seine vitalistisch-revolutionäre Machttheorie mit der Hingabe zum eigenen Volk. Er wandte sich damit gegen naives Fortschrittsdenken, den westlichen Zivilisationsbegriff und gegen »eine Wissenschaft, die als System bestünde und die man nur zu lernen brauchte«.470 Dem »System der Zivilisation«471 stellte Freyer das Modell einer dem »vulkanischen Moment« entsprungenen »Volkwerdung« entgegen.472 Diese solle durch die Wirkung männlicher Tatkraft und durch kämpferische Handlungen zur Schaffung eines »organische[n] Bund[s]« führen.473 Die Schlacht leuchte »in der Lebensgeschichte des Staats als der wesenhafte, der hochzeitliche, der festliche Moment«.474 Historisch gesehen hätten sich »aus unsinnigem Mord und Brand vernünftig befestigte Systeme von Macht« entwickelt.475 Sein partikularistisches Denken offenbarte auch, dass für ihn Ideen »ohne natürliche Heimat […] wie ein Organismus ohne Geschlecht« waren: »Nichts kann wirklich gedacht werden, was nicht irgendwo in bestimmtem, vorgefundenem Raum wesentlich gelebt wird.« Für Freyer gab es

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Aufl. Berlin 2009 [1922], S.13-21. Vgl. Heinrich Meier, Die Lehre Carl Schmitts. Vier Kapitel zur Unterscheidung Politischer Theologie und Politischer Philosophie. Stuttgart/Weimar 1994, S.51-53. Vgl. Hans Freyer, Der politische Begriff des Volkes (Kieler Vorträge über Volkstums- und Grenzlandfragen und nordisch-baltischen Raum, Bd.4). Neumünster 1933, S.5, 9f. So etwa, wenn Freyer schrieb: »Aber die Risse sind schon entworfen, nicht als Risse, aber als ein geheimes Wissen unsres Bluts um alles Notwendige und Richtige.« Siehe Hans Freyer, Prometheus. Ideen zur Philosophie der Kultur. Jena 1923, S.90. Zum Antisemitismus Schmitts siehe Raphael Gross, Carl Schmitt und die Juden. Eine deutsche Rechtslehre, durchges. und erw. Ausgabe. Frankfurt am Main 2000. Freyer, Prometheus, S.5. Ebd., S.57. Ebd., S.9. Ebd., S.94. Ebd., S.8. Ebd., S.12.

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»keinen philosophischen Begriff, der nicht aus dem treibenden Geist eines Volkstums entspränge; keine sinnvolle Forderung, die nicht aus einer Kraft, aus seinen Möglichkeiten, aus seiner gegenwärtigen Lage die Hoffnung ihrer Erfüllung zöge«.476 Wie bei Schmitt477 ging sein völkischer Partikularismus mit einer Feindbestimmung einher, die eine grundsätzliche Unversöhnlichkeit zwischen den »Völkern« beinhaltete.478 Der Sozialwissenschaftler arbeitete in Freyers Augen also nicht nur standortgebunden, sondern auch auf ein geschichtsphilosophisch bestimmtes Ziel – das Volk – hin. In seinen zwischen 1930 und 1935 verfassten Schriften konzipierte Freyer das »politische Volk« als »eine historische Erscheinung der Moderne«. Es kennzeichnete, so Üner, eine neue Form der Gemeinschaft, die durch »gemeinschaftliches Handeln und wissenschaftliche Analyse der jeweiligen Entwicklungstrends die ihrer jeweiligen historischen Lage gemäße Staatsform« hervorbringe.479 Freyers Ansatz stand insofern am rechten völkischen Ende einer prozessualen Soziologie und Geschichtsphilosophie, wie sie Karl Mannheim und vor allem dessen zeitweiliger Assistent Norbert Elias entwickelt hatten. Dabei ging es in Mannheims Wissenssoziologie um das Verhältnis von Gewordenem zum anzustrebenden Möglichen, wobei Letzteres eine Gesellschaft gleichberechtigter Individuen implizierte.480 Für Elias dagegen war das Mögliche eine noch nicht erreichte Stufe der Zivilisierung, die er sich als einen Gesellschaftszustand sozialer Gerechtigkeit dachte.481 Freyer und seine Schüler zielten stattdessen auf eine exklusive Gemeinschaft ethnisch-kulturell Artgleicher. Für Lebenshaltung und Weltanschauung wirkten die Erfahrung und das Engagement zahlreicher Vertreter des Leipziger soziologischen Denkstils im rechten Flügel der Jugendbewegung sozial verbindend. Freyer war ab etwa 1910 Mit476 Ebd., S.6. 477 Mehring, Carl Schmitt, S.208. Schmitt leitete in Der Begriff des Politischen (Fassung von 1927) die »spezifisch politische Unterscheidung, auf welche sich die politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen«, von der »Unterscheidung von Freund und Feind« her. 478 Rehberg, Hans Freyer, S.75f. Vgl. Freyer, Prometheus, S.33. 479 Üner, Der Einbruch des Lebens in die Geschichte, S.231. 480 Karl Mannheim, Das Problem einer Soziologie des Wissens, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 53 (1925) 3, S.577-652, hier: S.610-614, 625, 629. 481 Vgl. Norbert Elias, Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Bd.1: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes. Frankfurt am Main 1976 [1939, 1969], Bd.2: Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation. Frankfurt am Main 1997 [1939].

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glied des Serakreises um Eugen Diederichs, den er zu seinen Freunden zählte und dessen Verlag auch sozialreformerische Schriften – etwa der britischen Fabier – verlegte.482 Auch Ipsen neigte der Jugendbewegung zu. Er hielt Vorträge bei Treffen der Schwarzen Hand und der Deutschen Freischar.483 Die in der Jugendbewegung verbreiteten Ideen eines Lebens in Gemeinschaft, von der »Ungespaltenheit echten Lebens in der Totalität aller geistig-seelischen Möglichkeiten«, der »Gestaltung des Volkes aus seinem inneren Wesen heraus«, aber auch die Forderung nach Sozial- und Bildungsreformen sowie der »Ruf zur Tat« bildeten den idiomatischen Hintergrund des Leipziger soziologischen Denkstils.484 Daran orientierte sich auch Gehlens Handlungsbegriff seiner Philosophischen Anthropologie, der als Übersetzung dieses voranalytisch-idiomatischen Tatideologems in seinen analytisch-wissenschaftlichen Denkstil begriffen werden kann. Es barg zugleich ein Gewaltpotenzial, das politische Strafmaßnahmen gegen Andersdenkende moralisch legitimieren konnte.485 Die Leipziger Sozialwissenschaftler verstanden sich daher auch als politische Autoren. Dies wird an der von Freyer 1933 in die Wege geleiteten Umbenennung seines Lehrstuhls für Soziologie in »Politische Wissenschaft« deutlich. Dabei forderte er ein obligatorisches »politisches Semester« zu Beginn des Studiums, das den »Sinn für die Normen politischer Größe« schärfen und den Studierenden Einblicke in die »Dynamik des politischen Geschehens« gewähren sollte.486 Dieses politische Engagement resultierte aus der sozialphilosophischen Lehre Freyers, die auf der Zielgebundenheit des eigenen Schaffens baute. Seiner Ansicht nach waren historische Gemeinschaften in ihrem Handeln und Schaffen vom Willen zum Ziel geleitet. Sie seien folglich nur über die hermeneutische Annahme einer Zielgebundenheit des eigenen Erkennens wissenschaftlich zu ergründen.487 Sprachlich bediente sich Freyer eines expressionistisch-essayistischen Stils, um »aufgrund der Erkenntnis die gesellschaftliche Wirklichkeit mitzugestalten«. Hierzu gehörten die Bevorzugung des »Geistigen« vor dem 482 Hübinger, Engagierte Beobachter, S.54. 483 Sehested von Gyldenfeldt, Gunther Ipsen zu VOLK und LAND, S.34-38. Zu Freistudentenschaft, Jugendbewegung und Wandervogel an der Universität Leipzig siehe Ronald Lamprecht, Studenten in Sachsen 1918-1945. Studien zur studentischen Selbstverwaltung, sozialen und wirtschaftlichen Lage sowie zum politischen Verhalten der sächsischen Studentenschaft in Republik und Diktatur (Geschichte und Politik in Sachsen, Bd.28). Leipzig 2011, S.179-195. 484 Üner, Jugendbewegung und Soziologie, S.131-134; dies., Soziologie als »geistige Bewegung«, S.1-4. 485 Am deutlichsten in: Hans Freyer, Pallas Athene. Ethik des politischen Volkes. Jena 1935. 486 Rehberg, Hans Freyer, S.73f. Siehe auch Wilhelm Bleek, Geschichte der Politikwissenschaft in Deutschland. München 2001, S.238-240. 487 Muller, The Other God That Failed, S.94, 104f.

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»Intellektuellen«, die Erneuerung der Wissenschaft »aus einem Erfassen des Weltgrundes« und eine neue wissenschaftliche Ethik.488 Auf idiomatischexpressionistischer Ebene versuchte er, Mensch und Technik, Geist und Macht, Mensch und Natur sowie die Klassen der Gesellschaft etwa dadurch miteinander zu versöhnen, dass er in seinen Büchern Antäus (1918), Prometheus (1923) und Pallas Athene (1935) Figuren der griechischen Mythologie als Symbole eines modernen Mythos inszenierte. Dieser sollte der neuen Gemeinschaftsform als ideologische Orientierung dienen.489 6.1.2. Das Verhältnis des Leipziger soziologischen Denkstils und Idioms zum Nationalsozialismus

Karl-Siegbert Rehberg nennt für die enge Verbindung des Leipziger soziologischen Denkstils mit Weltanschauung und Politik der Nationalsozialisten drei Gründe: (1) jugendbewegt-völkische Motive, (2) den antibürgerlichen Jungkonservatismus und (3) karrieristische Absichten.490 Die ersten beiden Punkte bedürfen vor dem Wissen um die beschriebene Entwicklung des Denkstils hier keiner näheren Erläuterung. Erklärungsbedürftig sind jedoch die Karriereabsichten der einzelnen Akteure. Wie viele andere Wissenschaftler unterzeichneten auch Freyer und Gehlen das »Bekenntnis der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat«.491 Freyer erlangte 1934 die »Führung« der DGS. Zuvor hatten nationalsozialistisch gesinnte Mitglieder um den Jenaer Soziologen und SD-Mitarbeiter Reinhard Höhn versucht, die DGS entgegen Leopold von Wieses Plänen nach den Vorstellungen der neuen Machthaber umzugestalten. Nach Freyers Wahl wurde die Gesellschaft dann mehr oder weniger stillgelegt.492 Allerdings fiel er spätestens um 1936 mit der Neuausrichtung der NS-Wissenschaftspolitik auf Kriegsvorbereitung bei den NS-Machthabern zunehmend in Ungnade. Wie Otthein Rammstedt richtig sieht, bedurfte die NS-Politik ab diesem Zeitpunkt keiner sozialwissenschaftliche und philosophische Legitimation mehr. Zudem verdächtigten NS-Funktionäre Freyer, »bündisch-reaktionär« zu sein.493 Ab 1937 /38 konzentrierte sich Freyer, der nie in die NSDAP eintrat, 488 Zitiert nach: Üner, Jugendbewegung und Soziologie, S.139f. Vgl. dies., Soziologie als »geistige Bewegung«, S.6. 489 Vgl. Üner, Soziologie als »geistige Bewegung«, S.6f. Vgl. Freyer, Prometheus, S.16, 19. 490 Rehberg, Hans Freyer, S.73. 491 Rammstedt, Deutsche Soziologie 1933-1945, S.25. 492 Borggräfe/Schnitzler, Die Deutsche Gesellschaft für Soziologie, S.449-458. Vgl. Klingemann, Soziologie und Politik, S.452; ders., Social-Scientific Experts  – No Ideologues: Sociology and Social Research in the Third Reich, in: Turner/Käsler (Hrsg.), Sociology Responds to Fascism, S.127-154, hier: S.134f. 493 Rammstedt, Deutsche Soziologie 1933-1945, S.108f. Öffentlichen Angriffen sah sich um 1936 auch der »Totengräber von Weimar« und »Kronjurist des Dritten

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auf die Repräsentation deutscher Kultur und Wissenschaft im Deutschen Kulturinstitut in Budapest. Ab 1941 fungierte er als Präsident des dortigen Deutschen Wissenschaftlichen Instituts.494 Erfolgreicher agierte Gehlen, der mit dem Machtwechsel 1933 seinen Durchbruch erlebte. Wie die meisten Privatdozenten der Leipziger Philosophischen Fakultät trat er am 1. Mai 1933 der NSDAP bei.495 Mit 29 Jahren wurde Gehlen aufgrund der zahlreichen Entlassungen rassisch, religiös und politisch missliebiger Sozialwissenschaftler im Zuge des sogenannten Berufsbeamtengesetzes vom 7. April 1933 an die Universität Frankfurt am Main berufen. Dort »vertrat« er den Lehrstuhl Paul Tillichs. Am 1. April 1934 übernahm er dann »vertretungsweise« den Lehrstuhl seines Doktorvaters Hans Driesch in Leipzig. Dieser hatte die Universität aufgrund seiner pazifistischen Haltung und jüdischen Herkunft verlassen müssen. Noch im November desselben Jahres wurde der Lehrstuhl in ein Ordinariat umgewandelt.496 Gleichwohl war Gehlen keineswegs der Wunschkandidat des Dresdner Kultusministeriums. Seine Berufung erfolgte vielmehr auf Betreiben der Leipziger Fakultät. An seiner »Ergebenheit dem faschistischen Regime gegenüber« ließ er in seiner 1935 gehaltenen Antrittsvorlesung »Der Staat und die Philosophie« jedoch keinen Zweifel. Er engagierte sich anschließend zwei Semester lang als ›Leipziger Führer‹ des Nationalsozialistischen Deutschen Dozentenbunds (NSD-Dozentenbund) und arbeitete als Rezensent für das Amt Rosenberg.497 Der Parteieintritt, das Zugeständnis an den NS-Staat in seiner Antrittsvorlesung, die Mitgliedschaft beim NS-Lehrerbund (NSLB), die Arbeit für den Dozentenbund und für das Amt Rosenberg ermöglichten Gehlen eine beachtliche Karriere: 1937 übernahm er den Lehrstuhl von Litt und wurde 1938 kommissarischer Direktor von dessen Philosophisch-Pädagogischem Institut. Im selben Jahr wechselte er auf den Kant-Lehrstuhl nach Königsberg.498 Er profitierte erneut von der NS-Politik, als er 1940 zusammen mit seinem Leipziger Kollegen Ipsen an die »gesäuberte« Universität Wien berufen wurde.499 Während Ipsen freiwillig in Russland kämpfte, vertrat ihn Gehlen als Leiter des Wie-

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Reiches« Carl Schmitt ausgesetzt. Vgl. van Laak, Gespräche in der Sicherheit des Schweigens, S.23, 28. Kändler, Entdeckung des Urbanen, S.32-34; Rammstedt, Deutsche Soziologie, 1933-1945, S.108. Karl-Siegbert Rehberg, Neuanfang und Geschichtsflucht. Ambivalenzen der Soziologie als einer ›Gründungswissenschaft‹ der Bundesrepublik Deutschland, in: Christ/Suderland (Hrsg.), Soziologie und Nationalsozialismus, S.528-554, hier: S.534. Die im Mai 1933 der Partei beigetretenen Wissenschaftler wurden diffamierend »Maikäfer« genannt, um sie als Opportunisten zu brandmarken. Klinger, Die Modernisierung des NS-Staates, hier: S.299. Rehberg, Hans Freyer, S.78f. Klinger, Die Modernisierung des NS-Staates, S.300. Ebd., S.301f.

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ner Instituts für Psychologie. 1941/42 stellte er in Prag Gutachten für die Psychologische Prüfstelle des Heeres aus, was ihn bis 1943 vom Kriegsdienst befreite.500 Zudem übernahm er 1942 auch den Vorsitz der Deutschen Philosophischen Gesellschaft. Schon 1938 hieß es deshalb in einem Geheimen Lagebericht des SD, Gehlen sei für den NS-Staat »ein wirksamer Faktor zur politischen Aktivierung der Philosophie«.501 Neben den individuellen Motiven wiesen Leipziger soziologischer Denkstil und NS-Weltanschauung in weiteren Punkten ideelle Verknüpfungen auf, am deutlichsten in der Denkfigur der »Volkwerdung der Deutschen«. Für Freyer und Ipsen brach diese 1933 an. Sie hofften, wie Freyer 1933/34 schrieb, diesen Prozess, bei dem »[a]us Ungleichen ein Ganzes«, bestehend aus »Führung und Gefolgschaft, Herrschaft und Dienst«, hervorgebracht werde,502 mitgestalten zu können. Mit dem Regierungsantritt der Nationalsozialisten sei eine neue Wirklichkeit gesetzt worden, an der die Leipziger Sozialwissenschaftler richtungsweisend partizipieren sollten.503 »Volkwerdung« verstand Freyer dabei als Prozess der Formung einer »Willensgemeinschaft« der Deutschen,504 da nur »wahres Wollen […] wahre Erkenntnis« begründe. Davon ausgeschlossen waren in seinen Augen politisch und religiös Oppositionelle, Emigranten und nun auch Juden.505 Die »deutsche Volksgemeinschaft« sah Freyer als Überwindung der Klassengesellschaft, die er ja ohnehin nur als Zwischenstadium der sozialen Entwicklung sah: So seien in der europäischen Neuzeit »die Nationen die Subjekte des politischen Geschehens geworden« und »der Begriff der Nation« sei »nur für diese Epoche überhaupt bestimmbar«.506 Eine Historisierung des Nationsbegriffs müsse diesen deshalb um das Politische erweitern und die Deutschen unter Einbeziehung des politischen Begriffs des Volkes von dem französischen Nationsbegriff absetzen. Völker wie das deutsche »übergreifen, grade mit ihrem politischen Sinn, wesentlich das Prinzip Nation.«507 Mit Herder bestimmte Freyer »Nation« als Begriff der französischen Geschichte. »Volk« und 500 Wöhrle, Metamorphosen des Mängelwesens, S.32f.; Karl-Siegbert Rehberg, »Images of Mankind« and the Notion of Order in Philosophical Anthropology and National Socialism: Arnold Gehlen, in: Wolfgang Bialas/Anson Rabinbach (Hrsg.), Nazi Germany and the Humanities. Oxford 2007, S.178-206, hier: S.196f. 501 Klinger, Die Modernisierung des NS-Staates, S.301. 502 Zitiert nach: Rammstedt, Deutsche Soziologie 1933-1945, S.37. 503 Ebd., S.30, 37, 42, 46. Vgl. auch Wolfgang J. Mommsen, Die Geschichtswissenschaft und die Soziologie unter dem Nationalsozialismus, in: Helmut Coing u.a., Wissenschaftsgeschichte seit 1900. 75 Jahre Universität Frankfurt. Frankfurt am Main 1992, S.54-84, hier: S.55f. 504 Rammstedt, Deutsche Soziologie 1933-1945, S.33. 505 Ebd., S.45. 506 Freyer, Der politische Begriff des Volkes, S.3. 507 Ebd., S.6.

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»Volkstum« sah er dagegen als genuin deutsch an. Beide befänden sich aktuell im Zustand ihrer Vollendung.508 In seiner 1933 veröffentlichten Abhandlung »Herrschaft und Planung« stellte Freyer diese beiden Begriffe in einem »unpolitischen Sinne« ins Zentrum seiner Kategorienlehre zur »politische[n] Wirklichkeit der Gegenwart«.509 Er unterstellte die Technik »einer geschichtlichen Zwecksetzung«, um die allseits zirkulierende Denkfigur von der Neutralität der Technik argumentativ zu konterkarieren: »Sie ist die Rüstung, mit der sich ein bestimmt gerichteter Wille umgibt.«510 Letztere war in Freyers Ethnozentrismus angelegt, der jedem Volk einen solchen Willen unterstellte. Doch erst »der Schritt von der Technik zum Plan transponiert das Tun des Technikers aus der Laboratoriumsexistenz in die geschichtliche Wirklichkeit.«511 Indem er die Konkretheit planender Technik im »geschichtlichen Gang« als eine »geschichtliche Aktion zwischen Gegenwart und Zukunft« einordnete, wies er diese der Vollendung eines bestimmten Volksgeistes zu. Im historischen Moment des Machtwechsels von 1933 war dies der »deutsche Volksgeist«.512 Die Erfüllung dieses »Willens« durch eine »konkrete Macht«513 und die damit zusammenhängende Neuausrichtung des »Plans«, der »gemacht, gewollt, gesetzt werden«514 müsse, sah Freyer unmittelbar nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten verwirklicht. Der Verwirklicher, der »ausgeprägteste Träger des Geistes der Gemeinschaft«, war für ihn der »Führer« als sozialer Archetyp – also nicht Hitler per se.515 Der Nationalsozialismus erschien ihm somit nicht »als eine existentielle Angelegenheit des deutschen Volkes, sondern als ein Durchbruch seines Wesens in der Zeit«. Dieses Geschehen leitete sich Freyer zufolge nicht »aus ökonomischen, politischen oder sozialen Einzelfaktoren« ab, sondern könne »nur als mythologisch« aufgefasst werden.516 Dies bedeutete nicht, dass Freyer mit der diffusen NS-Weltanschauung vollends im Einklang stand. Er selbst, dem Habitus nach viel zu nonkonformistisch, wollte sich keinem politischen Regime unterordnen. Sein Konzept des »politischen Volkes« akzeptierten wiederum NS-Ideologen und NS-Politiker keineswegs als ideologisches Fundament ihrer Weltanschauung. Es war zu historisch 508 Ebd., S.12-23. 509 Hans Freyer, Herrschaft und Planung. Zwei Grundbegriffe der politischen Ethik [1933], in: ders., Herrschaft, Planung und Technik, hrsg. und kommentiert v. Elfriede Üner. Weinheim 1987, S.17-43, hier: S.17. 510 Ebd., S.19. 511 Ebd., S.20. 512 Vgl. ebd., S.23. 513 Ebd., S.29. 514 Ebd., S.24. 515 Rammstedt, Deutsche Soziologie 1933-1945, S.39. 516 Zitiert nach: ebd., S.26.

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und vage, basierte nicht auf vermeintlichen rassischen Eigenschaften des »germanischen Menschen«.517 Schnell ebbte Freyers Anfangsbegeisterung für die NSBewegung ab, weshalb er sich mehr und mehr zurückzog.518 Ähnlich erging es auch Martin Heidegger in Freiburg im Breisgau, der sich wegen mangelnder Unterstützung für sein Konzept der »zwei Führerschaften« – einer politischen und einer intellektuellen519 – Mitte der 1930er Jahre von der NS-Politik abwandte.520 Freyer jedoch hielt trotz aller Konflikte mit der NS-Studentenschaft und obwohl er aufgrund seiner Distanzierung von rassischen Prinzipien in politischen Berichten nationalsozialistischer Organisationen als »Feind des Nationalsozialismus« galt,521 an seiner heroisierenden Willensrhetorik fest. Diese »wurde zur Grundlage gerade seiner Soziologie als Teil einer politisch-willensorientierten neuen Wissenschaft«, wie Rehberg schreibt.522 Auch seine Überlegungen zur für die deutsche »Volksgemeinschaft« nun richtungsweisenden Sozialordnung von »Führer« und »Gefolgschaft« stimmte mit der NS-Weltanschauung überein. Vergleichbares lässt sich für die Philosophische Anthropologie Gehlens feststellen. Ohne Zweifel wich Gehlens Denken in einigen Punkten, etwa dem Vulgärantisemitismus, von der NS-Weltanschauung ab. Dies hieß aber nicht, dass er die antisemitischen Maßnahmen des NS-Regimes grundsätzlich ablehnte. Außerdem stieß Gehlen mit akademischen Parteiideologen zusammen. So schwärzte ihn der Pädagoge und zeitweilige Rektor der Universität Frankfurt Ernst Krieck bei Alfred Rosenberg an. Er kritisierte Gehlens 1940 veröffentlichtes Hauptwerk Der Mensch als eine Anthropologie, die zu wenig rassisch begründet sei. 1943 warf ihm wiederum der Philosoph Gerhard Lehmann vor, dass seine Handlungstheorie zu individualistisch und zu wenig auf die Gemeinschaft ausgerichtet sei.523 Nach Wöhrle ergab sich die Nähe zur NS-Weltanschauung »nicht aus rassistischen oder antisemitischen Motiven«, sondern »aus dem Voluntarismus einer kollektivistischen ›Tathandlung‹, für den paradigmatisch Gehlens faschistische Fichte-Lektüre aus der Mitte der dreißiger Jahre steht.«524 Im Rückgriff auf Fichte und im Anschluss an Freyer identifizierte er die »Volkwerdung der Deut-

517 Üner, Der Einbruch des Lebens in die Geschichte, S.231. 518 Kändler, Entdeckung des Urbanen, S.34. 519 Hans D. Sluga, Heidegger’s Crisis: Philosophy and Politics in Nazi Germany. Cambridge, MA 1993, S.172. 520 Vgl. ebd., S.25f., 219. 521 Klingemann, Soziologie, S.410. 522 Rehberg, Hans Freyer, S.76. 523 Rehberg, Philosophische Anthropologie, S.183; ders., »Images of Mankind«, S.191f. 524 Wöhrle, Metamorphosen des Mängelwesens, S.34, 152f. Vgl. Rehberg, »Images of Mankind«, S.194.

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schen als das eigentliche Problem« der zeitgenössischen Gesellschaftslage525 und stellte damit einen Aktualitätsbezug zum NS-Staat her. Seine faschistisch-völkische Lesart Fichtes ist nicht der einzige Bezug zur NSWeltanschauung in Gehlens Schriften aus den 1930er Jahren. In einer Abhandlung von 1933 ging er etwa der Frage nach der Handlungs- und Willensfreiheit nach. Er versuchte zu plausibilisieren, dass »der Tatbestand des positiven Zwanges selbst durchaus von der Beschaffenheit des Willens, auf den er trifft, abhängt«. Dies führe »über die bloße Handlungsfreiheit hinaus in die Frage der Willensfreiheit«.526 In der Folge sei das »Wählen […] gar kein besonderes Merkmal der Mittelhandlungen, weil zu einem Ziele fast stets verschiedene Wege führen, und im konkreten Leben stets ein solcher Reichtum von Faktoren zusammentritt, daß Wille und Wahl so lange zusammengehören, als der Wille im Dienste des Triebes steht, ja vielleicht selbst nur eine ›Erscheinung‹ des Triebüberschusses ist.«527 Mithilfe eines dialektischen Zugangs konnte er argumentieren, dass Freiheit und Notwendigkeit keine Gegensätze mehr seien, die Menschen deshalb aufgrund der Unselbstständigkeit ihrer Natur eine »freiwillige Aufgabe der Freiheit« zugunsten von Herrschaft begrüßten.528 Gehlens Denkfigur legitimierte damit auch Zwangsmaßnahmen politischer Autoritäten. Diese seien dann positiv zu bewerten, wenn sie mit der »Beschaffenheit des Willens« des deutschen Volkes übereinstimmten, also eine »Wesensgemäßheit« zwischen Sein und Handeln sowie zwischen Führung und Gefolgschaft vorlag.529 Dies sah er in den politischen Umbrüchen des Jahres 1933 offenbar gegeben. Wie das Denkkollektiv um Horkheimer durch die beiden sozialempirischen Untersuchungen des Arbeiter- und Angestelltenbewusstseins aus den frühen 1930er Jahren, kam auch Gehlen zu dem Schluss, dass nur der Autoritarismus das Fortbestehen der bürgerlichen Gesellschaft garantieren könne. Allerdings begrüßte er das Zusammengehen von »Volk« und »Führer« und vertrat eine philosophisch-anthropologisch begründete Führungs- und Gefolgschaftsideologie. Gehlen stellte in den mittleren 1930er Jahren auch rassische und völkische Fragen ins Zentrum seiner Anthropologie. In einem Aufsatz von 1935, in dem er eine »Lehre vom Habitus, d.h. eine aus der Natur des Menschen folgernde 525 Arnold Gehlen, Deutschtum und Christentum bei Fichte [1935], in: ders., Philosophische Schriften II (1935-1938), hrsg. v. Lothar Samson (Arnold Gehlen. Gesamtausgabe, Bd.2). Frankfurt am Main 1980, S.215-293, hier: S.225. 526 Arnold Gehlen, Theorie der Willensfreiheit [1933], in: ders., Philosophische Schriften II (1935-1938), S.1-179, hier: S.14. 527 Ebd., S.20. 528 Ebd., S.34f. Vgl. ebd., S.168-179. 529 Vgl. ebd., S.85f.

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Deskription seines rechten Verhaltens« entwarf, verwies er beispielsweise auf die stoische Ethik. Diese »entwickelte erstens zahlreiche, aus gesellschaftlichen und politischen Situationen abgelesene Konstitutionsbegriffe des menschlichen Verhaltens, und bietet zweitens in gewissen ihrer Gleichungen […] die Möglichkeit, schon hier Grundgedanken der objektiven, nach rassischen und völkischen Merkmalen fragenden Betrachtung sozusagen von innen zu bewähren und in die Ethik aufzunehmen.«530 Jene deskriptiv-pädagogisch gedachte Lehre verstand er als »Habitus«, der sich durch »Einübung, Gewöhnung, Training, Zucht, Disziplin, Vorbild« konstituiere und gegen die »ästhetisch reflektierende objektive Wertlehre« richte.531 Die von Gehlen festgestellten substanziellen Mängel des Menschen bedurften seiner Ansicht nach der »Zucht«, wie Wöhrle schreibt, »um das sachorientierte, endlich ›fertig‹ gewordene Handeln nicht mit weitergehenden, gegebenenfalls utopischen Erwartungen zu überziehen«. Damit war einerseits ein Wechsel von einer »heuristischen in eine essentialistische Lesart« verbunden, die wiederum »mit einer ›höheren Weisheit der Natur‹ argumentiert«.532 Andererseits verdeutlichte diese Denkfigur seine sich selbst zugeschriebene Position im NS-Staat: Er sah sich als Gelehrten, der ethische Morallehre und Handlungsanleitungen der politischen Führung zuarbeitete.533 In den späten 1930er und frühen 1940er Jahren distanzierte sich Gehlen von Deweys Annahme eines unauflöslichen Zusammenhangs zwischen Erkenntnis und Handlung, von dessen instrumentalistischem Handlungsverständnis und seiner Idee, menschliches Bewusstsein bloß als episodische Präzisierung eigent-

530 Arnold Gehlen, Der Idealismus und die Lehre vom menschlichen Handeln [1935], in: ders., Philosophische Schriften II (1935-1938), S.311-345, hier: S.333. Vgl. auch ders., Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. Textkritische Edition unter Einbeziehung des gesamten Textes der 1. Auflage von 1940, Teilbd. 1 (Arnold Gehlen. Gesamtausgabe, Bd.3.1). Frankfurt am Main 1993, S.95. 531 Gehlen, Der Idealismus und die Lehre vom menschlichen Handeln, S.333. 532 Wöhrle, Metamorphosen des Mängelwesens, S.69f. 533 Zur Frage nach einer spezifischen NS-Moral und NS-Ethik, entwickelt und untermauert von Philosophen, Pädagogen und Gelehrten anderer Disziplinen, siehe Wolfgang Bialas, Die moralische Ordnung des Nationalsozialismus. Zum Zusammenhang von Philosophie, Ideologie und Moral, in: Werner Konitzer/Raphael Gross (Hrsg.), Moralität des Bösen. Ethik und nationalsozialistische Verbrechen. Frankfurt am Main/New York 2009, S.30-60. Plakativer und bezogen auf Adolf Hitler siehe Richard Weikart, Hitler’s Ethic: The Nazi Pursuit of Evolutionary Progress. New York/Basingstoke 2009.

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lich bewusstlos ablaufender Prozesse zu betrachten.534 Dieser Wandel schlug sich in seinem zentralen Werk Der Mensch (1940) nieder. Darin verstand er Bewusstsein nunmehr mit Charles S. Peirce, William James und Georges Sorel als eine »Phase der Handlung«.535 Es gäbe deshalb beim Menschen »kein bewußtloses Dasein […], sondern nur bewußtlos gewordenes: Gewohnheiten, die mühsam aus Widerständen herausentwickelt wurden, und nun in die entscheidende neue Funktion eintreten, die Basis eines entlasteten, höheren, aber wieder bewussten Verhaltens zu werden.«536 Gehlen unternahm den Versuch, eine allgemeine Anthropologie zu entwickeln, die »jeder speziellen Anthropologie, vor allem der Rassenlehre, aber auch der Psychologie wie jeder Wissenschaft, vorgeordnet« sein sollte.537 Er konzipierte seine Philosophische Anthropologie als Dachwissenschaft, die die Grenzen zwischen Biologie, Psychologie, Erkenntnislehre, Sprachwissenschaft, Physiologie und Soziologie niederreißen solle, »aber in einer produktiven Weise: aus dieser Zerstörung muß das Material für einen Neubau einer einzigen Wissenschaft gewonnen werden.« Die Synthese erfolgte für ihn über die Philosophie.538 Ähnlich dem holistisch-kollektiven Wissenschaftskonzept Horkheimers Anfang der 1930er Jahre stellte er diese seiner Anthropologie als übergeordnete Denkart voran, die sozialempirisch-soziologische, sprachwissenschaftliche und biologische Methoden verbinden könne. Für Gehlen war der Mensch ein »ideologisches Tier«, das auf von Autoritäten vorgegebenen Bildern seiner selbst – »die Kunst, die Religion, das Recht« – als funktionale Lebensnotwendigkeiten angewiesen sei. Diese fasste er nicht im ausschließlich biologischen Sinne »als bloße Reflexe des organischen Lebens« auf, sondern als »höher[e] Funktionen«.539 Sie könnten lediglich im Vollzug mit dem Biologischen verstanden werden und ergäben sich aus der Betrachtung des Menschen als »Naturentwurf eines handelnden Wesens«.540 Der Mensch sei laut Gehlen nur dann lebensfähig, wenn er »Möglichkeiten erzeugen kann, sich eine 534 Wöhrle, Metamorphosen des Mängelwesens, S.74, 78. 535 Gehlen, Der Mensch, S.65. Wöhrle weist zu Recht darauf hin, dass damit Widersprüche zwischen Gehlens handlungs- und seinen ordnungstheoretischen Prämissen einhergingen, die auch durch eine retrospektive Lektüre des Gesamtwerks nicht eingeebnet werden können. Siehe Wöhrle, Metamorphosen des Mängelwesens, S.81. 536 Gehlen, Der Mensch, S.164. 537 Ebd., S.6. 538 Ebd., S.7. Vgl. Althaus, Zucht – Bilder, S.64f. Klinger, Die Modernisierung des NS-Staates, S.305f.; Rehberg, Philosophische Anthropologie, S.178. 539 Gehlen, Der Mensch, S.14f. 540 Ebd., S.26. Gehlen lehnte daher die Behauptung Schelers und Klages’ ab, der menschliche Geist sei »außerlebendig oder überlebendig«. Siehe ebd., S.19.

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zweite Natur zurechtzumachen, in der er statt in der ›Natur‹ existiert«. Er bezeichnete dies als »Kulturbereich«,541 der Mensch war für ihn »von Natur ein Kulturwesen.«542 In jener zweiten Natur schaffe sich der Mensch Institutionen der »Entlastung«, mit deren Hilfe er »sich orientiert, die Eindrücke ordnet, sich fasslich macht und sie vor allem in die Hand bekommt.«543 Seine Sonderstellung im Tierreich erlange er vor allem dadurch, dass er die »Befreiung zur umsichtigen und vorausschauenden Tätigkeit, die Entlastung aus dem Druck der unmittelbaren Gegenwart, in die das Tier verwickelt bleibt«, als die elementaren Aufgaben des menschlichen Daseins betrachte, die von ihm »in schwierigen Leistungen bewältigt [werden müssen], in mühsamer und Jahre ausfüllender Auseinandersetzung mit der Welt und mit sich selbst.«544 Diese planende Tätigkeit greife auf Technik zurück, um Naturumstände zu verändern.545 Der Kern der menschlichen Handlung lag für Gehlen demnach in der Beherrschung der Natur und der vorausschauenden Planung. Die menschlichen Bedürfnisse »können höher wachsen, welche als ›Dauerinteressen‹ die Bewegung in die Zukunft tragen und gegenüber den wechselnden Gegenwartsbedürfnissen ›innen bleiben‹. Sie sind immer die subjektiven Korrelate objektiver Institutionen.«546 Alle höheren Funktionen des Menschen »auf dem Gebiete des intellektuellen und moralischen Lebens, aber auch der Bewegungs- und Handlungsverfeinerung werden nun dadurch entwickelt«, dass »die Ausbildung fundierender, stabiler Basisgewohnheiten die ursprünglich dort verwendete Motivations-, Versuchs- und Kontrollenergie entlastet und ›nach oben abgibt‹.«547 Hierfür rekurrierte Gehlen insbesondere auf die Sprachfähigkeit des Menschen.548 Die zweite Ordnung des Menschen war in seiner Theorie demnach eine Institutionalisierung sozialer Funktionen.549 Diese »höheren Ordnungen« dachte er sich als Instinktersatz und definierte sie als »oberste Führungssysteme« und verbindliche »Weltanschauungen«,550 die »Material der Zucht, der Erziehung und Selbstzucht«

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Ebd., S.37. Ebd., S.88. Vgl. Fischer, Philosophische Anthropologie, S.181. Gehlen, Der Mensch, S.38. Vgl. Wöhrle, Metamorphosen des Mängelwesens, S.89. Gehlen, Der Mensch, S.52. Vgl. auch ebd., S.65-78. Vgl. Fischer, Philosophische Anthropologie, S.194. Gehlen, Der Mensch, S.87. Ebd., S.58. Ebd., S.70f. Ebd., S.224-385. Jerry Z. Muller, Introduction to Arnold Gehlen, »On Culture, Nature, and Naturalness« and »Man and Institutions«, in: ders. (Hrsg.), Conservatism: An Anthology of Social and Political Thought from David Hume to the Present. Princeton 1997, S.401-404. Rehberg, Hans Freyer, S.80.

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seien.551 Aller Fortschritt der menschlichen Kultur sei demnach daran erkennbar, dass der Mensch »eine neue Form der Zucht stabilisiert hat«.552 Diese wiederum, so Gehlen 1942, erfülle Orientierungsleistungen auf Ebene der zweiten Natur beziehungsweise der sekundären Ordnung, wie etwa »Deutungen, Interpretationen, Interpolationen, vorstellende Neukombinationen usw.«553 Gehlens pragmatische, mit Fichte tat- und handlungsorientierte Variante der Philosophischen Anthropologie war554  – dies hatte Horkheimer in Eclipse of Reason kritisch über den Pragmatismus angemerkt – keinem a priori gesetzten Wahrheitskonzept oder einer im Vorfeld festgelegten ethisch-moralischen Norm verpflichtet. Weil sowohl die religiös-metaphysischen als auch die progressivnaturwissenschaftlich-technischen Deutungsbilder im Sinne zweiter Naturen seit dem späten 19. Jahrhundert und endgültig durch den Ersten Weltkrieg ihre Orientierungsfunktion verloren hatten,555 musste Gehlen die NS-Weltanschauung als neues, den Deutschen artgemäßes Deutungsbild erscheinen. Es bot in seinen Augen dem deutschen Volk durch »Zucht« beziehungsweise das »Zuchtbild« (Alfred Rosenberg) unter einer planenden und wissenschaftlich basierten Herrschaft Orientierung.556 Seiner Ansicht nach existierten keine überhistorischen, göttlichen Wesen als ethisch-moralische Korrektive, schaffe sich doch der Mensch seine Götter selbst.557 Der Nationalsozialismus erschien Gehlen daher als Exekutivmacht für die Installierung eines »wissenschaftlichen Weltbildes«, mittels dessen das »Mängelwesen« Mensch, seine »Unangepasstheiten, 551 Gehlen, Der Mensch, S.408. 552 Ebd., S.480. Vgl. auch ders., Zur Systematik der Anthropologie [1942], in: ders., Philosophische Anthropologie und Handlungslehre, hrsg. v. Karl-Siegbert Rehberg (Arnold Gehlen. Gesamtausgabe, Bd.4). Frankfurt am Main 1983, S.63-112, hier: S.75. 553 Gehlen, Zur Systematik der Anthropologie, S.83. 554 Zur Handlungs- und Praxisorientierung Fichtes siehe Hans-Otto Dill, Einleitung: Wissen und Handeln, Selbst und Ich bei J.G. Fichte, in: ders. (Hrsg.), Denken und Handeln. Philosophie und Wissenschaft im Werk Johann Gottlieb Fichtes. Akten der Interdisziplinären Fichte-Konferenz der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin am 13. November 2014 anlässlich des 200. Todestages des Philosophen im Rathaus Berlin-Mitte. Frankfurt am Main 2015, S.7-18, hier: S.8, 13. Zur FichteRezeption Gehlens siehe Katja V . Taver, Fichte und Arnold Gehlen. Fichtes Philosophie des Rechts von 1796 und 1812 im Fokus von Arnold Gehlens philosophischer Anthropologie, in: Helmut Girndt/Hartmut Traub (Hrsg.), Praktische und angewandte Philosophie II. Beiträge zum vierten Kongress der Internationalen Johann-Gottlieb-Fichte-Gesellschaft in Berlin vom 03.-08.  Oktober 2000 (Fichte-Studien, Bd.24). Amsterdam/New York 2003, S.49-71. 555 Dazu Oexle, Krise des Historismus. 556 Althaus, Zucht  – Bilder, S.65f., 69; Rehberg, »Images of Mankind«, S.195. Vgl. Kurig, Bildung für die technische Moderne, S.419. 557 Muller, Introduction to Arnold Gehlen, S.401.

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Unspezialisiertheiten«558 hinsichtlich Organausstattung, Motorik und Antriebskräften, optimiert werden könne. So gelinge es, den »vegetativen Ordo des Leibes« als industriegesellschaftlichen Arbeitskörper, als »gute Rasse«, zu verbessern. Dazu gehörte für ihn auch die »Durchsetzung germanischer Charakterwerte«.559 Diese Vorstellungen teilte Gehlen mit anderen deutschen Wissenschaftlern und Intellektuellen, die im Nationalsozialismus die genuin deutsche Ordnungskraft sahen. Carl Schmitt dehnte diese unter Bezugnahme auf das mittelalterliche deutsche Reich als politisch-wirtschaftlich-ideologische Identitäts- und Ordnungsmacht Europas später auf den europäischen »Großraum« aus.560 Insofern verwundert es nicht, dass sich Gehlen zusammen mit Erich Rothacker und Schmitt am »Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften« (»Aktion Ritterbusch«) beteiligte, den der Kieler Jurist Paul Ritterbusch leitete. In diesem Kontext entstand 1942 seine Abhandlung »Zur Systematik der Anthropologie«.561 Es handelte sich dabei um einen Beitrag zu dem von Nicolai Hartmann herausgegebenen Sammelband Systematische Philosophie. Alle Autoren des Bandes, so Frank-Rutger Hausmann, »vermieden peinlichst die Nennung von Namen und eindeutig beziehbaren Termini«, vertraten einen Methodenpluralismus und bemühten sich um Begriffsklärung.562 Darüber hinaus legte der philosophische Kriegseinsatz seinen Schwerpunkt auf die Rechtsphilosophie. Hierunter fielen etwa die von Karl Larenz unter dem Titel Reich und Recht in der deutschen Philosophie herausgegebenen Arbeiten in zwei Bänden, darunter Walther Schönfelds Die Geschichte der Rechtswissenschaft im Spiegel der Metaphysik.563 Hartmann, Gehlen, Schmitt und ihre Mitstreiter repräsentierten damit eine ›deutsche Wissenschaft‹ im besetzten Europa und legitimierten den von der ›deutschen Ordnungsmacht‹ geschaffenen »Großraum Europa«. Am Beispiel des Leipziger Denkstils lässt sich die Frage erörtern, was »deutsche Soziologie« war und welche Art sozialwissenschaftlichen Wissens sie im NS558 Gehlen, Der Mensch, S.31. 559 ULB Münster, N. Schelsky 23,060: Arnold Gehlen an Helmut Schelsky vom 11.09.1956. Vgl. Klinger, Die Modernisierung des NS-Staates, S.308, 314, 316-318, 321f. Vgl. Rehberg, »Images of Mankind«, S.188f. 560 Vgl. Carl Schmitt, Staat, Großraum, Nomos. Arbeiten aus den Jahren 1916-1969, hrsg., mit einem Vorwort und mit Anmerkungen versehen v. Günter Maschke. Berlin 1995. Vgl. Vanessa Conze, Das Europa der Deutschen. Ideen von Europa in Deutschland zwischen Reichstradition und Westorientierung (1920-1970) (Studien zur Zeitgeschichte, Bd.69). München 2005, S.49-51. 561 Fischer, Philosophische Anthropologie, S.182. 562 Frank-Rutger Hausmann, »Deutsche Geisteswissenschaft« im Zweiten Weltkrieg. Die »Aktion Ritterbusch« (1940-1945) (Schriften zur Wissenschafts- und Universitätsgeschichte, Bd.12), dritte, erw. Ausgabe Heidelberg 2007, S.242. 563 Ebd., S.232-242.

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Regime generierte. Die Forschungsliteratur zu diesem vieldiskutierten Thema kennzeichnen zwei Interpretationsstränge: Einerseits steht die von Pfeffer und Ipsen in Anlehnung an Freyer postulierte »deutsche Schule der Soziologie« im Fokus, wie sie Andreas Walther in einer Rezension von Freyers Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft 1931 beschrieb. Vor allem Ipsen hatte diese bereits auf dem Soziologentag 1930 vertreten. In der Forschung gilt sie als komplementäres Wissenschaftskonzept zur »Deutschen Physik«, »Deutschen Chemie« und »Deutschen Mathematik«.564 Dagegen fokussiert andererseits vor allem Carsten Klingemann auf jene sozialwissenschaftlichen Praktiker und Experten, die Demografen, Soziografen, Statistiker und Demoskopen, die anwendungsorientiertes Wissen für die bevölkerungspolitische Neuordnung Ost-, Südost- und Westeuropas durch das NS-Regime sowie für die Erforschung der »Judenfrage« generierten.565 Für den sozialwissenschaftlichen Denkstil Leipziger Prägung hat beides Gültigkeit, wenngleich die sozialempirischen Methoden deutscher Sozialwissenschaftler im Vergleich zur empirischen Sozialforschung in den Vereinigten Staaten weit weniger ausgereift waren. Außer Zweifel steht, dass auch außerhalb des Leipziger Denkkollektivs bereits in der Weimarer Republik und im NS-Regime eine Auseinandersetzung mit der Sozialforschung in den Vereinigten Staaten erfolgte. Dies gilt auch für den amerikanischen Pragmatismus und die Sprachanthropologie George Herbert Meads, die Gehlen 1940 in Der Mensch rezipierte.566 In sozialwissenschaftlichen Regional- und Stadtstudien fanden zudem insbesondere Ansätze der Rural Sociology und Survey-Methoden der amerikanisch-englischen Soziologie, allen voran der Chicago School, Verwendung.567

564 Rammstedt, Deutsche Soziologie 1933-1945, S.70f. Eine spezifische Zeitschrift, die diese Bezeichnung trug, oder ein Lehrbuch wie Philipp Lenards vierbändiges Werk Deutsche Physik von 1936 war damit allerdings nicht verbunden. 565 So etwa der Statistiker Friedrich Burdörfer oder die Autoren der Zeitschriften Archiv für Bevölkerungswissenschaft und Bevölkerungspolitik und Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie. Siehe Alan E. Steinweis, Studying the Jew: Scholarly Antisemitism in Nazi Germany. Cambridge, MA/London 2006, S.123132. Zum Thema allgemein siehe Rehberg, »Images of Mankind«, S.182-184. Zu den wissenschaftlich basierten Neuordnungskonzepten im Rahmen des Generalplans Ost siehe Isabel Heinemann, Wissenschaft und Homogenisierungsplanungen für Osteuropa. Konrad Meyer, der »Generalplan Ost« und die Deutsche Forschungsgemeinschaft, in: dies./Wagner (Hrsg.), Wissenschaft – Planung – Vertreibung, S.45-72. Zu den Neuordnungskonzepten innerhalb des Reiches siehe Mai, »Neustrukturierung des deutschen Volkes«. Vgl. auch Klingemann, Social-Scientific Experts – No Ideologues. Vgl. auch Mommsen, Die Geschichtswissenschaft und die Soziologie, S.72f. 566 So z.B. Gehlen, Der Mensch, S.186, 306-308. 567 Vgl. Kändler, Entdeckung des Urbanen, S.40-53.

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Die neue »völkische Gemeinschaft« im NS-Staat erschien vielen Sozialwissenschaftlern als Überwindung der Klassengesellschaft. Eine völkische Sozialwissenschaft oder »Volksforschung« als fächerübergreifende »echte Soziologie« (Pfeffer) zur Erforschung der »volksdeutschen Gruppen« in Europa und der Welt568 diente der Sinnstiftung im NS-Staat. Insofern ist die Rede von einer als »deutsch« postulierten »völkischen Soziologie« mit ganzheitlichem Anspruch gerechtfertigt, zumal ihre Vertreter mit der NSDAP kooperierten und dadurch zur Konsolidierung des NS-Staates beitrugen.569 Unter den Sozialexperten, also Agrarforschern, Amtsstatistikern, Demografen und Wirtschaftswissenschaftlern, fanden sich sowohl weitgehend »unpolitische« Wissenschaftler wie Ludwig Neundörfer als auch stärker nationalsozialistisch und rassistisch eingestellte Sozialwissenschaftler wie Hans Joachim Beyer, Ernst Wilhelm Eschmann, Karl Valentin Müller, Pfeffer und der Volkskundler Heinrich Harmjanz. Darunter fallen auch die dem rassistisch-technokratischen Geist der SS verpflichteten Sozialwissenschaftler Otto Ohlendorf, Reinhard Höhn und Franz Alfred Six.570 Institutionell verwendeten sozialwissenschaftliches Wissen vor allem die RAG, die Reichsstelle für Raumordnung (RfR) und verschiedene SS-Stellen, allen voran das Reichssicherheitshauptamt.571 Sozialwissenschaftler wie Pfeffer agierten sowohl auf der sozialphilosophischweltanschaulichen als auch der empirisch-instrumentellen Ebene. Systemimmanente Differenzen zwischen der »deutschen Schule der Soziologie« und der im NS-Staat besonders während des »Vierjahresplans« Hermann Görings verstärkt 568 Vgl. Klingemann, Soziologie, S.402. 569 Zu Ipsen siehe Sehested von Gyldenfeldt, Gunther Ipsen zu VOLK und LAND. Zu Boehm siehe Carsten Klingemann, Die soziologische Volkstheorie von Max Hildebert Boehm und die nationalsozialistische Germanisierungspolitik, in: Rainer Mackensen/Jürgen Reulecke/Josef Ehmer (Hrsg.), Ursprünge, Arten und Folgen des Konstrukts »Bevölkerung« vor, im und nach dem »Dritten Reich«. Zur Geschichte der deutschen Bevölkerungswissenschaft. Wiesbaden 2009, S.345-361. Vgl. auch Ulrich Prehn, Max Hildebert Boehm. Radikales Ordnungsdenken vom Ersten Weltkrieg bis in die Bundesrepublik. Göttingen 2013. Zu Franz Wilhelm Jerusalem siehe Carsten Klingemann, Entnazifizierung und Soziologiegeschichte: Das Ende der Deutschen Gesellschaft für Soziologie und das Jenaer Soziologentreffen (1934) im Spruchkammerverfahren (1949), in: Dahme u.a. (Hrsg.), Jahrbuch für Soziologiegeschichte 1990, S.239-256. 570 Vgl. Rammstedt, Deutsche Soziologie 1933-1945, S.68, 106, 134f., 142-147, 152158, 160f. 571 Klingemann, Soziologie, S.417. Eines von vielen Beispielen hierfür ist die von Pfeffer und Theodor-Andreas Michaels 1937 verfasste Denkschrift »Die unterbäuerliche Schicht in den Dörfern der Sächsischen Oberlausitz«. Zur RAG und RfR siehe Michael Venhoff, Die Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung (RAG) und die reichsdeutsche Raumplanung seit ihrer Entstehung bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges 1945. Hannover 2000.

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geförderten empirischen Sozialforschung gab es nicht. Klingemann spricht daher von einer »symbiotischen Verschmelzung« von Volksgeschichte, Soziologie, Sozialgeschichte und sozialempirischer Forschung.572 Helmut Schelsky zählte seiner akademischen Sozialisation nach eher zur Gruppe der sozialphilosophisch ausgerichteten Staats- und Sozialwissenschaftler. Diese betrieben in der NS-Zeit zwar kaum empirische Sozialforschung, trugen jedoch wie Freyer mit ihren Schriften zur Formung einer nationalsozialistischen wissenschaftlich-geistigen Ethik und Moralvorstellung bei.573 6.1.3. »Politische Wissenschaft«: Schelskys wissenschaftlich-weltanschauliches Denken im NS-Regime

Helmut Schelskys Konzept der »politischen Wissenschaft« kann mit Per Leo als eine spezifische Ausformung der »deutschen Weltanschauungskultur« interpretiert werden. Damit bezeichnet Leo das charakterologische Denken vom späten 19. Jahrhundert bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges, das auch Rassentheorien und Antisemitismus miteingeschlossen habe. Er bezieht sich dabei auf Helmuth Plessners Die verspätete Nation, eine in den frühen 1930er Jahren entstandene Analyse der geistigen Wurzeln des Nationalsozialismus.574 Laut Plessner nahm die humanistisch-idealistische Philosophie seit dem späten 18. Jahrhundert eine ersatzreligiöse Rolle in Deutschland an. Sie sei durch Marx, Kierkegaard und Nietzsche als Instanz zerstört worden, wodurch sich das philosophische Denken in zwei Richtungen aufgespalten habe: In jene, die das religiöse Erbe radikal abschüttelten, und jene, die ihre Ideen zum offenen Weltanschauungsglauben transformierten, was in den Nationalsozialismus führte.575 Dieser Deutung des Verhängnisses deutschen Geistes bediente sich Schelsky bei der retrospektiven Begründung seiner Abkehr von der idealistischen Philosophie und damit von der NS-Weltanschauung sowie seiner Hinwendung zu einer wirklichkeitsbezogenen Soziologie. Den philosophischen Idealismus deutete er als Versuchung, der er als Student und Doktorand erlegen sei. Er sah sich von den Nationalsozialisten verführt, die den deutschen Ide-

572 Klingemann, Soziologie und Politik, S.340-359. 573 Vgl. Bialas, Die moralische Ordnung des Nationalsozialismus, S.39-47. 574 Per Leo, Der Wille zum Wesen. Weltanschauungskultur, charakterologisches Denken und Judenfeindschaft in Deutschland 1890-1940. Berlin 2013. Vgl. Wolfgang Bialas, Politischer Humanismus und »verspätete Nation«. Helmuth Plessners Auseinandersetzung mit Deutschland und dem Nationalsozialismus (Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung, Bd.42). Göttingen 2010. Siehe Helmuth Plessner, Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes. Stuttgart 1959 [1935]. 575 Leo, Der Wille zum Wesen, S.26.

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alismus für ihre Zwecke instrumentalisiert hätten.576 Nach 1945 griffen auch viele ehemalige NS-Funktionären auf diese Denkfigur zurück. Ihnen »scheint es leicht gefallen zu sein, nach Kriegsende die eigenen Überzeugungen als ›idealistisch‹, ›national‹, ›antikommunistisch‹ oder schlicht ›anständig‹ auszuweisen und damit von den ›verbrecherischen‹ Absichten der Hitler-Clique zu unterscheiden.«577

Tatsächlich wandte sich Schelsky spätestens nach Kriegsende von der Philosophie ab und einer vor allem empirischen Soziologie zu.578 Seine »Suche nach Wirklichkeit«579 begann allerdings bereits mit seiner 1935 publizierten Dissertation über Fichtes Naturrecht.580 Darin versuchte er, idealistische Philosophie und naturrechtliche Fragestellungen für aktuelle gesellschaftliche Gegenwartsfragen anschlussfähig zu machen. Während seiner Habilitation zur politischen Lehre Thomas Hobbes’ interessierte sich Schelsky dann stärker für verfassungsrechtlich-politikwissenschaftliche Fragen. Dabei trat die idealistische Philosophie zugunsten der Philosophischen Anthropologie Gehlens und der staatspolitischen Rechtsphilosophie Schmitts in den Hintergrund.581 In der Zeit des NS-Regimes fasste er »Wirklichkeit« als »politische Wirklichkeit« auf, die er mit einer neuen »politischen Wissenschaft« erfassen wollte. In diesem Sinne ist Schelskys retrospektive Darstellung seines intellektuellen Wandels nach 1945 nicht als radikaler epistemischer und politisch-ideologischer Bruch zu verstehen. Es handelte sich vielmehr um eine Neukonfiguration seiner im Leipziger soziologischen Denkstil verankerten und dessen Idiom verpflichteten »politischen Wissenschaft«, die sich fortan in drei Bereiche untergliederte. Deren Analyse setzt jedoch voraus, die Genese von Schelskys wissenschaftlich-weltanschaulichem Denken in der NS-Zeit nachzuzeichnen. Von 1931 bis 1935 engagierte sich Schelsky im NSDStB als »Volkstumsreferent« in der politischen Schulung. 1932 trat er der SA bei und wurde 1936 – wie sein Lehrer Gehlen – »Lektor an der Reichsstelle zur Förderung deutschen

576 Helmut Schelsky, Soziologie – wie ich sie verstand und verstehe [1980], in: ders., Die Soziologen und das Recht, S.7-33, hier: S.8-10. 577 Leo, Der Wille zum Wesen, S.17. Vgl. auch Raphael Gross, Anständig geblieben. Nationalsozialistische Moral. Frankfurt am Main 2010. 578 Vgl. Schelsky, Soziologie, S.10f. 579 Schelsky, Auf der Suche nach Wirklichkeit. 580 Helmut Schelsky, Theorie der Gemeinschaft nach Fichtes »Naturrecht« von 1796, Inaugural-Dissertation, genehmigt v. der philologisch-historischen Abteilung der Philosophischen Fakultät der Universität Leipzig. Berlin 1935. 581 Schäfer, Der Nationalsozialismus und die soziologischen Akteure der Nachkriegszeit, S.120.

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Schrifttums«.582 Am 1. Mai 1937 trat er der NSDAP und im Folgejahr dem NSLB bei.583 Plessner berichtete 1958 unter Berufung auf Theodor Litt, der junge Schelsky sei in Litts Leipziger Seminar »1933 der einzige gewesen, der in SA-Uniform erschien und die Judenpolitik in aller Schärfe befürwortete.«584 Tatsächlich war Schelsky bereits in den 1920er Jahren mit deutschvölkischem Gedankengut in Kontakt gekommen. Von 1923 bis 1925 gehörte er dem Volksbund für das Deutschtum im Ausland an, einer der Kernorganisationen der 1931 gegründeten VFG.585 Von 1924 bis 1926 engagierte er sich beim jungkonservativ geprägten Deutschen Pfadfinderbund – ohne Rang, wie er in seinem Fragebogen für das Military Government of Germany angab.586 Er begann sein Studium mit einer jugendbewegt-völkischen Haltung, die ein Idealismus prägte, der auf die Auflösung der alten und die Gestaltung einer neuen Gesellschaftsordnung abzielte. 1930, kurz vor dem Beginn seines Studiums, schloss Schelsky ein tagebuchartiges Manuskript ab, das er mit »Mein Kampf um Gott und Freiheit« betitelte. Er habe diesen Text aus »dem inneren Bedürfnis heraus, mir selbst klar zu werden über meine Weltauffassung«, geschrieben.587 Als junger Erwachsener scheint er also religiös beziehungsweise, »fromm« gewesen zu sein, aber nicht christlich-gottgläubig. Vielmehr glaubte er an eine höhere Ordnung, die ethischmoralische Grundsätze festlegen sollte und an den religiösen Sozialismus Paul Tillichs aus den 1920er und frühen 1930er Jahren erinnert.588 Tillich und Carl Richard Wegener postulierten 1919 in Der Sozialismus als Kirchenfrage, dass die Ethik der christlichen Liebe eine neue Ordnung begründen solle, in der das Bewusstsein einer gegen Kapitalismus und Militarismus gerichteten Gemeinschaft 582 Hoover Institution Archives, Deutsche Forschungsgemeinschaft, Box No.5, Accession No.XX086 8M.40, S: NSDDB, Der Reichsamtsleiter, an Dr. W. Greite betr. Helmut Schelsky vom 07.03.1936. 583 Schäfer, Der Nationalsozialismus und die soziologischen Akteure der Nachkriegszeit, S.120; ders., Zur Herausbildung des philosophisch-soziologischen Denkens bei Helmut Schelsky, S.26. 584 Gutachten Helmuth Plessners 1958 über Helmut Schelsky. Zitiert nach: Gerhard Schäfer, Helmut Schelsky und die Soziologie am Ende der 1950er Jahre  – eine »Ortsbestimmung«, in: Gallus (Hrsg.), Helmut Schelsky, S.184-205, hier: S.188. 585 Schäfer, Zur Herausbildung des philosophisch-soziologischen Denkens bei Helmut Schelsky, S.21-23. Vgl. Fahlbusch, Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik?, S.65-73. 586 ULB Münster, N. Schelsky 24,095: Military Government of Germany, Fragebogen: Dr. Helmut Schelsky vom 14.08.1946. 587 ULB Münster, N. Schelsky 17,005: Handschriftliches Manuskript Helmut Schelsky, Mein Kampf um Gott und Freiheit, abgeschlossen im März 1930 [nicht paginiert], Vorwort. 588 Vgl. Werner Schüßler/Erdmann Sturm, Paul Tillich. Leben – Werk – Wirkung, 2., aktual. Aufl. Darmstadt 2015, S.11-16.

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die gesellschaftliche Basis bilde.589 Im Gegensatz zu Tillich verband Schelsky seine moralisch-religiöse Ordnungsvorstellung jedoch mit völkischen Erneuerungsideen und dem Bekenntnis zum »nationalen Kulturwillen«.590 Seine religiöse Suche bestätigte der in Siegfried Kracauers Soziologie als Wissenschaft von 1922 konstatierte Verlust von Glaubensinhalten in der zeitgenössischen Gesellschaft, die den Menschen ein sinnhaftes Leben versprachen. Auch Vorstellungen von der Existenz einer absoluten Wahrheit ließen sich laut Kracauer philosophisch nicht mehr begründen. Den Idealismus betrachtete er als historisch widerlegt. Edmund Husserl stieß in Kracauers Schrift auf fruchtbare Gedanken, wie Jörg Später schreibt, die er für seine Phänomenologie systematisch weiterentwickeln wollte. Er habe diese unter den Begriff der »Wissenschaftskrisis« gestellt, zu dem er 1923 im Zusammenhang mit seinen Rezensionen von Ernst Troeltschs Der Historismus und seine Probleme und Max Webers Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre gelangt sei. Im Mittelpunkt hätten dabei einerseits das Relativismusproblem des Historismus und andererseits das Wertproblem der Wissenschaft gestanden. Diese Problemfälle seien nicht aufzulösen gewesen, sondern würden die Entzauberung und Fragmentierung der Welt, Krisen und »transzendentale Obdachlosigkeit« nach sich ziehen.591 Schelskys Suche nach einem neuen Konzept von Wissenschaft und Weltanschauung bewegte sich in diesen intellektuellen und ethisch-moralischen Problemkonstellationen. Besonders eine Frage beschäftigte den jungen Schelsky: Ihn interessierte, wie ein neuer Glaube als eine Art säkularisierte Religion geschaffen werden könne und mit welchen Inhalten dieser zu füllen sei. »Ich bin Partei, muss sie und will sie auch sein, ich will an die Richtigkeit meiner Weltauffassung glauben […]. Ja, ich glaube, aber an was, weiß ich nicht zu sagen.«592 Diese Sätze zeugen zwar von seinem starken Bedürfnis nach einem Religionsersatz, füllten inhaltlich um 1930 herum jedoch noch kein neues Glaubenssystem. »Wir wollen Freiheit, einzig und allein Freiheit!«593 – es steht zu vermuten, dass für ihn dieser Anspruch mit dem Glaubenssystem des Nationalsozialismus verknüpft war. Als Student und späterer Dozent stellte Schelsky seinen jungkonservativen Idealismus in den Dienst der Schaffung der sogenannten NS-Volksgemeinschaft. Dies zeigte sich 589 Ebd., S.116. Der Sozialismusbegriff Tillichs orientierte sich 1919 am romantischanarchistischen Sozialismus Proudhons und vor allem am Sozialismus-Konzept Gustav Landauers. 590 Zitiert nach: Schäfer, Zur Herausbildung des philosophisch-soziologischen Denkens bei Helmut Schelsky, S.20. 591 Später, Siegfried Kracauer, S.96, 99, 112f. Vgl. Siegfried Kracauer, Soziologie als Wissenschaft. Eine erkenntnistheoretische Untersuchung. Dresden 1922. Vgl. auch Oexle, Krise des Historismus. 592 ULB Münster, N. Schelsky 17,005: Schelsky, Mein Kampf um Gott und Freiheit [nicht paginiert]. 593 Ebd.

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an seinen Reformplänen für eine neue Hochschule und an seinem politischen Aktivismus. Er setzte damit das von Gehlen formulierte Ordnungstheorem der sekundären Natur des Menschen in die Tat um. In seiner Schrift Sozialistische Lebenshaltung von 1934, die der 21-jährige Schelsky im Rahmen seiner Tätigkeit für das Amt für politische Schulung, Kreis IV, des NSDStB und der deutschen Studentenschaft verfasste, betonte er, dass der Nationalsozialismus die »Selbsterkenntnis des wahren Wollens« der Deutschen sei, der »durch das gewaltige Schicksal des Weltkrieges und seiner Folgen« entstanden war. Aus den »echten Kräften des deutschen Volkes« sei der Nationalsozialismus als den Deutschen eigener, »schon immer ersehnte[r] Sozialismus« hervorgegangen.594 Wie Freyer bemerkte dabei auch Schelsky, dass die Behauptung der Nationalsozialisten, ihre Bewegung habe als »Denk- und Lebenshaltung […] eine neue Epoche der Weltgeschichte eingeleitet«, nicht als »historische Tatsache« beweisbar sei. Dies ergäbe sich daraus, dass »der Nationalsozialismus eben noch nicht historisch ist, sondern in Wirklichkeit da.«595 Er erblickte die »Wirklichkeit des Volkes« im »Handeln der Volksgemeinschaft unter einer Idee, die das innerste und ganze Wesen des Volkes erfasst und ausdrückt.« Diese Denkart war für ihn der »Idealismus, der im Kampf gegen den Materialismus im nationalsozialistischen Deutschland wieder erwacht ist, der Idealismus, wie ihn Hitler in seinem Buche und seinen Reden immer wieder fordert, der das Volk nicht in eine Reihenfolge zwischen Einzelmensch und Menschheit einsetzt, sondern in ihm die höchste Wirklichkeit erkennt.«596 Nur diejenigen Völker »kommen in Wirklichkeit zu einer Volksgemeinschaft, die einen bestimmten Zweck in all ihrem Handeln haben, die eine Idee in sich tragen, deren Verwirklichung ihre Aufgabe ist.« Deshalb habe »der Nationalsozialismus in der Idee des Dritten Reiches, die dem deutschen Volke ein bestimmtes Handeln vorschreibt, ihm [dem deutschen Volk, F.L.] diese Idee wieder gegeben.«597 Schelskys Denken war in den frühen 1930er Jahren jedoch auch weiterhin religiös geprägt: »Wie aber das Volk seine Wirklichkeit offenbart in seinen Gliedern, in den Menschen, so wird Gott Wirklichkeit in den Völkern. Die Ideen, die 594 Helmut Schelsky, Sozialistische Lebenshaltung (Bildung und Nation. Schriftenreihe zur nationalpolitischen Erziehung, Bd.11-13). Leipzig 1934, S.29. Von linksintellektuellen Kreisen wurde diese Schrift in den 1960er Jahren heftig kritisiert. Vgl. Seeliger, Braune Universität, S.79. 595 Schelsky, Sozialistische Lebenshaltung, S.5. 596 Ebd., S.14. 597 Ebd., S.15. Diese Idee sei dem deutschen Volk nach dem Ersten Weltkrieg genommen worden.

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in den Völkern leben und wirken, sind Gottes Denken und Wollen.« Das Leben »in der Volksgemeinschaft ist im tiefsten Grunde religiös.«598 Schelsky konzipierte diese »Volksgemeinschaft« als historisch gewachsenes »Volkstum durch Rasse, Sprache, Tradition und Erziehung«. Dabei lasse sich die »Zugehörigkeit zu einer bestimmten Rassengruppe« nicht allein aus körperlichen oder seelischen Anlagen heraus bestimmen. Vielmehr definiere sich diese vor allem über die Handlungen des Einzelnen, »deren Ziel und innerer Sinn auch das Wesen des handelnden Menschen ist, denn dieser handelt auch nicht gemäß der Erkenntnis, zu welcher Rassengruppe er gehört, sondern nach der notwendigen Forderung, die er in sich findet.«599 Diese Freiheit des menschlichen Handelns wiederum erachtete Schelsky als »notwendig für ein echtes Leben in der Gemeinschaft des Volkes.«600 Er orientierte sich dabei an Joseph Goebbels’ Vorstellung von »Sozialismus« als »Gerechtigkeit im Ganzen im Hinblick auf die gegenwärtige Volksgemeinschaft« und forderte die »Pflicht und das Recht zur Leistung« ein. Denn das »Recht zur Arbeit ist für uns Nationalsozialisten die vornehmste sozialistische Forderung.«601 Der Nationalsozialismus als echter Sozialismus »schafft das, was der falsche, materialistische Sozialismus immer als sein Ziel hinstellte: Menschen glücklich zu machen. Glücklich ist nicht der Mensch, der genug hat, um alle seine Bedürfnisse zu befriedigen […], sondern der gesunde Mensch ist glücklich, wenn er mit innerer Sicherheit und Zufriedenheit arbeiten, wenn er nach seinem Gewissen handeln kann.«602 Schelskys philosophischem Idiom lag ein normativer Optimierungsanspruch an die gegenwärtige deutsche Gesellschaft zugrunde. Dieser beruhte auf völkischexklusiven Prinzipien, wobei Arbeit als volksgemeinschaftliche Handlungsnotwendigkeit ein zentrales Element bildete. Folgerichtig konstatierte Schelsky, dass wahrer Sozialismus impliziere, »Leute, die für das Volk ihre Leistung nicht erfüllen oder es gar schädigen, auszuschalten oder […] sogar zu vernichten«. »[D]ie Unfruchtbarmachung von unheilbar erblich belasteten Menschen oder die Erziehung einer Presse, die ihre Aufgaben für die Volksgemeinschaft nicht erfüllte, durch Zensur« sei deshalb eine »sozialistische Tat«.603 Er nahm damit Positionen der negativen Eugenik als rassenhygienische Maßnahmen zur Gesundung des deutschen »Volkskörpers« ein, die lange vor 1933 entwickelt worden 598 599 600 601 602

Ebd., S.18. Ebd., S.21. Ebd., S.22. Ebd., S.23f. Ebd., S.24f. Vgl. auch Schäfer, Zur Herausbildung des philosophisch-soziologischen Denkens bei Helmut Schelsky, S.33-37. 603 Schelsky, Sozialistische Lebenshaltung, S.27f.

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waren und in der Bevölkerungspolitik des NS-Staates umgesetzt wurden.604 Wie Schmitt in den 1920er Jahren605 und in Anlehnung an die Inhalte der in Diederichs Verlag erscheinenden Zeitschrift Die Tat, die das Programm einer »Verschmelzung des Sozialismus mit der nationalen Idee für Deutschland« verfolgte,606 arbeitete auch Schelsky an der Begründung einer genuin deutschen, ethnisch gewachsen Willensbildung jenseits von Liberalismus und Kommunismus, die er religiös-idealistisch herleitete. Schelsky thematisierte die Vorstellung, durch die Tat die völkische Willensbildung einer Gemeinschaft herbeizuführen, auch in seiner 1935 abgeschlossenen Inaugural-Dissertation Theorie der Gemeinschaft nach Fichtes ›Naturrecht‹ von 1796. Als »Beitrag zum deutschen Idealismus«607 legte er auf philosophischabstrakter Ebene dar, dass eine quasinatürliche Gemeinschaft, ein Wir, zwischen zwei vernünftigen Individuen durch das im »Leibesgeschehen«, jener vielfältigen Verbundenheit von »Leibern«, verankerte »objektive Bewußtwerden« des Anderen entstehe.608 »Körper und Geschehen, Notwendigkeit und Freiheit« würden »zu einer höherbewussten Wechselwirkung« zusammenfinden, wie Volker Kempf schreibt.609 Die »Urhandlung in der Form des Aufhörens und Begrenzens« nannte Schelsky das »Sein«, welches sich jedoch nur durch das Gegenüber vergegenwärtige.610 Auf dieser Basis konstruierte er die Theorie einer idealen Bewusstseinsgemeinschaft von Wesen, die aufgrund ihrer biologisch-geistigen Konstitution, der »Ursprünglichkeit ihres Bestimmtseins oder in dem Bestimmtsein ihrer Ursprünglichkeit«, eine anderen Gemeinschaftsformen überlegene Gemeinschaft erschaffen könnten.611 Diese These erinnert stark an ein in Tillichs Vortrag »Das Problem der Geschichte« (1912/13) formuliertes Postulat, dass das sich von der Natur losreißende, die Freiheit erlangende menschliche Bewusstsein die Willkür seines Daseins nur durch einen gemeinschaftsbildenden Geist überwinden könne. Nur die vom Geist geschaffenen Gemeinschaften betrachtete Tillich als Träger der Geschichte. Er ging davon aus, dass der Geist nicht in einzelnen Gemeinschaften aus der Entfremdung zu sich selbst komme, sondern erst in der Gesamtheit aller Gemeinschaften.612 Schelsky dagegen konzipierte sein Ge604 Peter Weingart/Jürgen Kroll/Kurt Bayertz, Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, 2. Aufl. Frankfurt am Main 1996 [1988], S.367-381. 605 Vgl. Mehring, Carl Schmitt, S.198f. 606 Zitiert nach: Später, Siegfried Kracauer, S.268. 607 Schelsky, Theorie der Gemeinschaft, S.7. 608 Ebd., S.51. 609 Kempf, Wider die Wirklichkeitsverweigerung, S.55. Siehe Schelsky, Theorie der Gemeinschaft, S.53-57. 610 Schelsky, Theorie der Gemeinschaft, S.17. 611 Ebd., S.21. Vgl. auch ebd., S.32. 612 Schüßler/Sturm, Paul Tillich, S.83.

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meinschaftstheorem im Sinne des völkisch-partikularistischen Idioms des Leipziger soziologischen Denkstils als ein exklusives, im »Leibesgeschehen« verankertes Prinzip einer auszugestaltenden »Volksgemeinschaft«.613 Am 22.  Februar 1939 hielt der 27-jährige Schelsky in Königsberg seinen Habilitationsvortrag über »Die geistigen Grundlagen des Faschismus«.614 Seine Ausführungen kreisten um zwei Gedanken: Zum einen um die Klärung dessen, was unter Weltanschauung zu verstehen war, zum anderen um einen Vergleich zwischen italienischem Faschismus und deutschem Nationalsozialismus. Im Anschluss an Gehlens philosophisch-anthropologische Denkfigur von der sekundären Natur als vom Menschen erschaffene, ihm vorgelagerte Ordnungs- und Orientierungsstruktur betonte Schelsky, dass die »Selbstanschauung des Menschen in seiner Welt« zu einem »Führungsbild der zu erhaltenden und zu schaffenden Wirklichkeit« werde.615 Er hielt es für möglich, dass die Deutschen ihre eigene, als ihr neues Leitbild fungierende »Wirklichkeit« erschaffen könnten. Die »Weltanschauung« als »Selbstanschauung« des Menschen konzipierte er als Handlungsgrundlage der Menschen. »Wirklichkeit« und »Weltanschauung« könnten nicht mit »logisch-systematischen Lehrgebäuden oder auch nur sachlich-wissenschaftlich gemeinten Aussagen« gleichgesetzt werden. Vielmehr beruhten das spezifisch deutsche Bild des Menschen und die daraus hervorgehende Handlungswirklichkeit auf den geistig-biologischen Konstituenten des Volkes: »Zu diesem Begriff der Weltanschauung gehört ihre geschichtliche Gebundenheit an das Dasein einer wirklichen, gestaltenden Handlungsgemeinschaft, einer Elite, eines Standes oder letzten Endes eines Volkes.«616 Schelsky war sich im Klaren darüber, dass die, »den nordischen Gedanken in sich tragende und auf germanischen Werten sich aufbauende Weltanschauung«,617 die einen urtümlichen und ewigen, biologisch-rassischen Kern des deutschen Volkes veranschlagte, »eine dem sachlich-wissenschaftlichen Gehalt nach selten ungereimte Theorie« darstellte. Die Propagierung dieser Weltanschauung war seiner Meinung nach aber sinnvoll, nicht nur, um sie weiter zu entwickeln und zu verwis613 Schelsky, Theorie der Gemeinschaft, S.57, 65. Vgl. Schäfer, Zur Herausbildung des philosophisch-soziologischen Denkens bei Helmut Schelsky, S.39f. 614 Dieses Dokument war lange Zeit nicht auffindbar gewesen. Schelsky selbst hat den Vortragstext nicht offengelegt, stattdessen hielt er retrospektiv daran fest, dieser Vortrag habe die These seiner Habilitationsschrift von der »liberalen Wissenschaftsauffassung im ›Dritten Reich‹« gestützt. Gerhard Schäfer hat den Text editiert und in den historischen Kontext gesetzt. Siehe Schäfer, Ein lange verschüttetes Dokument, S.313f. 615 Helmut Schelsky, Die geistigen Grundlagen des Faschismus. Habilitationsvortrag am 22. Februar 1939, hrsg. und kommentiert v. Gerhard Schäfer, in: Endreß/Lichtblau/Moebius (Hrsg.), Zyklos 1, S.329-339, hier: S.330. 616 Ebd. 617 Ebd., S.331.

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senschaftlichen. Mehr noch sollten dadurch ihre Grundhinhalte dem einfachen Mann mit dem Ziel einer Verschmelzung von Wirklichkeit und Weltanschauung im deutschen Volk vermittelt werden, biete sie doch »dem Gefühl eines erwachenden völkischen Selbstbewusstseins eine anscheinend objektive Stütze und Berechtigung ihres Stolzes«.618 »Weltanschauung« war laut Schelsky jedem Volk eigen und deshalb partikular: »Weltanschauungen sind in der Tat ihrem Wesen nach keine Exportartikel.« So sei die des geschichtlich gewordenen Nationalsozialismus eine deutsch-germanische, die den nodischen Gedanken in sich trage.619 Sie setze sich einerseits aus einer »politisch-weltanschaulichen Zielsetzung«, die Adolf Hitler in Mein Kampf formuliert habe, und andererseits aus Alfred Rosenbergs Vorstellungen von moralischen Werten und Ordnungen des »germanischen Menschen« zusammen.620 Insofern galt ihm der Nationalsozialismus als eine zur »Lebenswirklichkeit« gewordene genuin deutsch-germanische Weltanschauung, die dem »eigentlichen Wesen« des deutschen Volkes entspräche. Wie Carl Schmitt entwickelte auch Schelsky starkes Interesse am italienischen Faschismus. Im Mai 1933 kam er bei Abendvorträgen mit italienischen Faschisten in Kontakt und organisierte eine Reise von NS-Studenten des Kreises IV – Mitteldeutschland nach Italien, »um studentische Einrichtungen der Gruppi Universitari Fascisti und der faschistischen Partei (Partito Nazionale Fascista) kennenzulernen«, wie Gerhard Schäfer nachweisen konnte. Zudem bot er in Leipzig ein Seminar unter dem Titel seines Habilitationsvortrags an.621 Schmitt hatte 1923 den italienischen Faschismus als »Grundlage einer neuen Autorität, eines neuen Gefühls für Ordnung, Disziplin und Hierarchie« gesehen.622 Schelsky stimmte darin mit ihm überein, sah das »Menschenbild« des Faschismus allerdings auf einer formaleren Ebene angelegt. Als neues Leitbild für eine Gesellschaftsordnung stelle der Faschismus Mussolinis eine Alternative zu Kommunismus und zu Liberalismus dar, könne also als universale Ordnungsstruktur fungieren.623 Der deutschen NS-Weltanschauung entspreche im faschistischen Italien die »Italianità«, auf die das weltanschauliche Wesen des Italienertums zurückgehe.624 Schelsky ging von einer wirklichen Existenz völkisch bestimmter 618 Ebd., S.336. 619 Ebd., S.331. 620 Ebd., S.332. Vgl. Schäfer, Zur Herausbildung des philosophisch-soziologischen Denkens bei Helmut Schelsky, S.48-50. 621 Schäfer, Ein lange verschüttetes Dokument, S.315, 318; ders., Zur Herausbildung des philosophisch-soziologischen Denkens bei Helmut Schelsky, S.28. 622 Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 2. Aufl. München/Leipzig 1926 [1923], S.89, zitiert nach: Mehring, Carl Schmitt, S.160. 623 Schelsky, Die geistigen Grundlagen des Faschismus, S.332-334. 624 Ebd., S.331.

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Weltanschauungen als Selbstbildern aus und lagerte diesen die als universal gedachte sekundäre Ordnungsstruktur des Faschismus vor. Er kombinierte also Freyers geschichtsphilosophisch-soziologisches Idiom mit Gehlens philosophisch-anthropologischer Idee der sekundären Natur des Menschen. Die auf eigenes Betreiben erhaltene Doppelvenia in Philosophie und Soziologie spiegelte sich in Schelskys wissenschaftlich-weltanschaulichem Denken wider: Soziologie galt ihm als Wissenschaft von der Wirklichkeit der »Volkwerdung«, die Philosophie als idealistisch gedachte sekundäre Ordnungs- und Orientierungsstruktur. Beides korrespondierte wiederum mit seiner politischen Haltung: Den Nationalsozialismus verstand er als Realisierung der deutschen »Volkwerdung« und den Faschismus als modernes Leitbild für zeitgenössische Gesellschaften. Auf dieser Basis konzeptualisierte Schelsky eine gegen Neutralität und Werturteilsfreiheit gerichtete »politische Wissenschaft«, die den Kern seiner Reformbestrebungen der deutschen Hochschulen bildete. Im März 1936 schrieb der Reichsamtsleiter des NSD-Dozentenbunds ein Gutachten über den 24-jährigen Schelsky. Dieser hatte sich für ein Stipendium bei der Deutschen Gemeinschaft zur Erhaltung und Förderung der Forschung für sein Projekt »Die Grundlagen einer möglichen Rechts- und Staatsphilosophie« – wohl eine erste Idee für seine spätere Habilitationsschrift – beworben. Der Dozentenbund beurteilte sein nationalsozialistisches Engagement als gut und förderungswürdig. Man verkniff sich aber nicht die Bemerkung, dass der junge, zur Staatslehre und Soziologie neigende Philosoph als eine »vielleicht allzu betriebsame Natur« bekannt sei: Eben sein Studium beendet, beteilige er sich bereits an der nationalsozialistischen Reform der Hochschule »und hat darüber eine umfassende Denkschrift mit großer Reklame in Umlauf gesetzt. Über seine Vorschläge ist man natürlich sehr geteilter Meinung.«625 Tatsächlich war Schelsky umtriebig: Spätestens ab 1935 hatte er sich in der Schulungsarbeit des NSDStB in Leipzig, in der SA und auch in der Hitlerjugend (HJ) engagiert, Vorträge im Außenpolitischen Schulungshaus der NSDAP gehalten und an Tagungen teilgenommen, die von Personen aus dem Umkreis der Zeitschrift Die Tat veranstaltet worden waren.626 Beim Amt Rosenberg, für das er als Zensor arbeitete, galt er als »politischer Philosoph, der sich immer mehr sozial- und politikwissenschaftlichen Fragestellungen gegenüber öffnete.« Zudem hatte ihn Kurt 625 Hoover Institution Archives, Deutsche Forschungsgemeinschaft, Box No.5, Accession No. XX086 8M.40, S: NSDDB, Der Reichsamtsleiter, an Dr. W. Greite betr. Helmut Schelsky vom 07.03.1936. Es kann nur vermutet werden, dass Schelskys »allzu betriebsame Natur« aus seiner Herkunft aus sozial eher einfachen, nichtakademischen Familienverhältnissen herrührte. Vgl. Schelsky, Die Erfahrungen vom Menschen, S.110. 626 Schäfer, Der Nationalsozialismus und die soziologischen Akteure der Nachkriegszeit, S.120; ders., Zur Herausbildung des philosophisch-soziologischen Denkens bei Helmut Schelsky, S.26-33.

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Schilling »zur Mitarbeit für eine geplante ›Lehrgemeinschaft Philosophie‹« im SS-Ahnenerbe vorgeschlagen.627 Ein Dossier des SD beschrieb ihn schließlich als Wissenschaftler, der an einer »nationalsozialistischen Philosophie« arbeite. 1940 äußerte sich der nationalsozialistische Philosoph und Pädagoge Alfred Baeumler, der ebenfalls für das Amt Rosenberg arbeitete, allerdings negativ über Schelsky. Dieser habe den Charakter »eines völlig zuchtlosen, wildwuchernden Intellekts« und gerade der »Intellektualismus Dr. Schelskys« würde besonders negativ ins Gewicht fallen.628 Er war, wie fast alle jungkonservativen Wissenschaftler, den NS-Ideologen und NS-Politikern genehm und unangenehm zugleich. Sie standen ihm ambivalent gegenüber, was ihm für seinen akademischen Neuanfang nach 1945 zugutekommen sollte. Dass ansonsten Gelehrte, die im selben Amt an ähnlichen Konzepten arbeiteten, in gegenseitiger Konkurrenz standen, erstaunt angesichts der im NS-Regime stark ausgeprägten Ämterkonkurrenz und des Geltungsbedürfnisses der jeweiligen Akteure kaum. Für das Amt Rosenberg hat dies Reinhard Bollmus gezeigt.629 Wie Krieck630 und Baeumler arbeitete auch Schelsky an einer Reform der deutschen Universität, die sich an der von Rosenberg als »nationalsozialistische Alternativ-Universität« propagierten »Hohen Schule der NSDAP« orientierte. Ernst Piper zufolge sollten in der »Hohen Schule« Rassenkunde und Vorgeschichte als Inhalte dominieren. Neben »Geschichte und Philosophie der Antike in rassenkundlicher Neuinterpretation sollte vor allem die ›Germanenkunde‹, worunter Rosenberg Vorgeschichte und Volkskunde verstand, zur ›Ausbildung der neuen Schau des Lebens‹ beitragen«.631 Weiterhin waren das Judentum als Rasse und Religion, die Geschichte der Geisteswissenschaften, Kunstgeschichte, die Geschichte der NSDAP, Naturwissenschaften und die Schulung des Außenpolitischen Amts als eine Art nationalsozialistische Politik- oder Staatswissenschaft als Unterrichtsgegenstände vorgesehen.632 Laut Krieck sollte an

627 Schäfer, Ein lange verschüttetes Dokument, S.320f. 628 Zitiert nach: Rehberg, Vom soziologischen Neugründungs-Pragmatismus, S.32. 629 Reinhard Bollmus, Zum Projekt einer nationalsozialistischen Alternativ-Universität: Alfred Rosenbergs »Hohe Schule«, in: Manfred Heinemann (Hrsg.), Erziehung und Schulung im Dritten Reich, Teil 2: Hochschule, Erwachsenenbildung (Veröffentlichungen der Historischen Kommission der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft, Bd.4.2). Stuttgart 1980, S.125-152. 630 Vgl. Ernst Krieck, Wissenschaft, Weltanschauung, Hochschulreform. Leipzig 1934. 631 Ernst Piper, Alfred Rosenberg. Hitlers Chefideologe. München 2015, S. 422. 632 Ebd.

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»die Stelle der humanistischen Universität […] die völkisch-politische Universität [treten], die durch Wissenschaft, durch Erziehung und Bildung der Ausleseschicht ihren Anteil zu leisten hat am Aufbau des völkisch-politischen Gemeinwesens der Deutschen. Nationale Willensbildung und Charakterbildung ist die Aufgabe der neuen Universität«.633 Adolf Rein von der Universität Hamburg vertrat in Die Idee der politischen Universität von 1933 eine weitere Variante jener »politischen Wissenschaft«. Er arbeitete »typische Grundformen der Universitäten« heraus, indem er diese den unterschiedlichen historischen Perioden zuwies. So verortete er die »theologische Universität« in die Zeit vom 14. bis 17.  Jahrhundert, die »philosophischhumanistische Universität« ins Zeitalter der Aufklärung, während er der »politischen Universität« das 20.  Jahrhundert zuwies.634 Letztere solle im Nationalsozialismus nicht im Sinne der Weimarer Republik oder in Anlehnung an amerikanisch-demokratische Volkshochschulen gestaltet sein. Sie solle auch nicht nur Philosophie und Religion lehren, sondern Handeln und Geist als politisches Wollen praktizieren: »Nur wenn der Deutsche sich politisiert  – noch einmal: in einem echten und hohen Sinn – kann er in der Welt bestehen und die Aufgaben ergreifen, zu denen er berufen ist.« Denn die Deutschen müssten sich politisieren, um sich »objektiv« zu beweisen, »das allein kann unsere Antwort auf die deutsche Niederlage sein.«635 Rein vertrat eine deutschvölkische Form wissenschaftlicher Freiheit. Er setzte »Internationalität der Wissenschaft« mit ihrer »Autonomie, ihrer Entpolitisierung, ihrer Neutralisierung«636 gleich, um gegen Liberalismus und Positivismus Stellung zu beziehen und »die deutsche Universität« mit der Vorstellung deutscher Überlegenheit zusammenzuführen.637 Wissenschaft dürfe nicht »neutral« sein. Vielmehr solle sie den NS-Staat mitgestalten und »dem Geist, der Idee, dem Gestaltungsprinzip, dem Schöpfungswillen des Staates Form« geben.638 Auch Schelskys Konzept seiner »politischen Wissenschaft« orientierte sich an der unmittelbaren Verbindung von wissenschaftlichem Wissen und politischer Praxis. Er überwand bereits 1937 mit seinem Aufsatz »Schellings Philosophie des Willens und der Existenz«, der im gemeinsam mit Gotthard Günther publizierten Band Christliche Metaphysik und das Schicksal des modernen Bewusst633 Ernst Krieck, Die Erneuerung der Universität. Rede zur Übergabe des Rektorats am 23. Mai 1933 (Frankfurter Akademische Reden, Bd.5). Frankfurt am Main 1933, S.8. 634 Adolf Rein, Die Idee der politischen Universität. Hamburg 1933, S.5f. 635 Ebd., S.15f. 636 Ebd. S.23. 637 Ebd., S.27. 638 Ebd., S.30.

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seins erschien, seinen in den frühen 1930er Jahren noch dominanten »logischen Idealismus«. Fortan vertrat er eine an Schelling und Fichte orientierte »Lehre von den transzendentalen Möglichkeiten eines absoluten Willens«.639 Das »unvordenkliche Sein« verstand er dabei »als Wille, und zwar, […], als reiner Wille«. Das war transzendental betrachtet ein Wille ohne Bestimmung, der dem auf das empirische Sein bezogenen Willen vorangehe.640 An Schelling kritisierte Schelsky, dass dessen Lehre keine »Wirklichkeitslehre« sei, sondern »Potenzlehre« blieb,641 obwohl »auch diese Philosophie die Einsicht in die Wirklichkeit des Menschen für das einzige Ziel philosophischen Denkens« hätte gewinnen können. Doch »sie resigniert grundsätzlich vor einer wissenschaftlichen Beantwortung dieser Frage, indem sie die Vernunfteinsicht in die Wirklichkeiten des Existierenden zum bloßen Mittel der ›Existenzerhellung‹ des einzelnen macht.«642 Weil sich aber die »Potenz des Willens in der Wirklichkeit befindet, ist eine zweite Wirklichkeit gesetzt«, nämlich jene »des Menschen, der als Wille über dem bloßen Dasein steht, der innerweltlich und außerweltlich zugleich ist, Geschöpf und Herr der Schöpfung, wie sich Schelling ausdrücken würde.«643 Die Wirklichkeit begriff Schelsky »in ihrer Doppelnatur und Doppelexistenz als das Sein werdende hinsichtlich ihrer Welthaftigkeit und als das sein Werdende hinsichtlich ihrer Willenhaftigkeit«. Indem »die Taten der Wirklichkeit, die als Prozess von Wille und Welt geschehen, auf jene zukünftige Wirklichkeit als Einheit verweisen, gewinnt alles Wirkliche für uns nur als Sein Werdendes Existenz und Bedeutung.«644 Schelsky übersetzte die idealistische Philosophie folglich in eine wissenschaftlich-politische Praxis. Er verband dies mit der im Leipziger soziologischen Denkstil angelegten Intellektuellenfeindlichkeit. Der Intellektuelle als »bloß formulierend Danebenstehender« fungierte für ihn als Gegenstück zum tatorientierten »Geistigen«,645 jenem in der Lebenswirklichkeit stehenden, die Realität mitgestaltenden Denker. Das deckte sich nicht nur mit dem aggressiven Antiintellektualismus vieler NS-Politiker und NS-Ideologen, sondern auch mit

639 Helmut Schelsky, Schellings Philosophie des Willens und der Existenz, in: Gotthard Günther/ders., Christliche Metaphysik und das Schicksal des modernen Bewusstseins. Leipzig 1937, S.47-108, hier: S.50. 640 Ebd., S.75-77. 641 Ebd., S.86. 642 Ebd., S.95. 643 Ebd., S.101. 644 Ebd., S.103. 645 Zitiert nach: Üner, Jugendbewegung und Soziologie, S.139. Üner zitiert hier Kurt Hiller. Ob diese Wendung gegen den Intellektuellenbegriff Karl Mannheims gerichtet war, kann nicht gesagt werden.

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der expertokratischen NS-Volkstumspolitik, die mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges an Bedeutung gewann.646 Zwischen Leipzig und Königsberg verfasste Schelsky von 1938 bis 1940 seine Habilitationsschrift über Thomas Hobbes’ politische Lehre. Er erhielt dazu das von ihm 1936 beantragte einjährige Forschungsstipendium.647 Seine Arbeit entstand in der Auseinandersetzung mit der Hobbes-Interpretation Carl Schmitts, der eine Alternative zur angelsächsischen Rezeption des Theoretikers zu formulieren suchte.648 Für Schmitt bildete das Verhältnis von Schutz und Gehorsam den Angelpunkt der Staatskonstruktion Hobbes’. Im Diskurs um die Verfasstheit des zeitgenössischen deutschen »Führerstaats« in seinem Verhältnis zum deutschen Volk stellte dies einen wichtigen Orientierungspunkt dar. Auch Schelsky trug zur Debatte bei, sah Hobbes jedoch im Unterschied zu Schmitt als »Bahnbrecher moderner Naturwissenschaftlichkeit und des ihr zugehörigen Ideals technischer Naturalisierung« sowie des Gesetzespositivismus’ des 19. Jahrhunderts.649 Er stimmte Schmitt zu, dass der im angelsächsischen Raum vor allem als Rationalist und Vertragstheoretiker gedeutete Gelehrte vor dieser Rezeption gerettet werden müsse.650 Sein Ziel war indes, Hobbes’ Sätze und Lehren »nicht mehr schlicht in ihrem Aussagegehalt hinzunehmen, sondern sie in einer Reflexion auf die Handlungen des Menschen zu beziehen«. Schelsky wollte Hobbes »aus den Kräften der Gegenwart« heraus begreifen, ihn mit Gehlens Anthropologie, Sorels Aktionismus und dem amerikanischen Pragmatismus neu verstehen.651 Er strebte eine Neubestimmung des Politischen dergestalt an, dass die Hobbessche »Lehre vom Staat, vom Recht, von der Geschichte […] als politische Lehre […] im Selbstverständnis des Handelnden zur tieferen Begründung 646 Vgl. Michael Grüttner, Wissenschaftspolitik im Nationalsozialismus, in: Doris Kaufmann (Hrsg.), Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus. Bestandsaufnahme und Perspektiven der Forschung (Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus, Bd.1, 1/2). Göttingen 2000, S.557-585, hier: S.565f., 576. Generell zur Intellektuellenfeindlichkeit der Nationalsozialisten vgl. Dietz Bering, Die Epoche der Intellektuellen 1898-2001.  Geburt – Begriff – Grabmal. Berlin 2010, S.85-129. 647 Wöhrle, Zur Aktualität von Helmut Schelsky, S.18. Schelsky war darüber hinaus bis 1939 unbezahlter Volontärassistent in Königsberg. 648 Schelsky, Thomas Hobbes, S.5, 13. 649 Vgl. Carl Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes. Sinn und Fehlschlag eines politischen Symbols. Stuttgart 1995 [1938], S.66, 70. Vgl. Frank Schale, Technische Steuerung und politischer Heros. Schelskys Hobbes-Interpretation, in: Gallus (Hrsg.), Helmut Schelsky, S.139-155, hier: S.141. 650 Schelsky, Thomas Hobbes, S.114f. Vgl. ders., Die Totalität des Staates bei Hobbes, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 31 (1937/38), S.176-193, hier: S.176, 178f. 651 Schelsky, Thomas Hobbes, S.13.

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von Handlungen wird oder werden kann.«652 In seiner an Hobbes orientierten »These von der Totalität der souveränen Herrschaft« setzte er dabei, wie Gerhard Schäfer festhält, »die altgermanische ›Treue der Gefolgschaft‹ voraus«.653 Politische Lehren waren für Schelsky mit konkreten »Menschenbildern« verbunden, die er in optimistisch, pessimistisch, intellektualistisch und aktualistisch unterteilte.654 Hobbes ordnete er dem aktualistischen Menschenbild zu, das Wille und Tat kennzeichneten. Er optimierte damit biologisch-essenzialistische und völkisch-rassische Anschauungen, die davon ausgingen, »das Schicksal eines Menschen oder eines Volkes sei fest bestimmt und unabänderbar festgelegt in den Erbmassen und Volkscharakteren, die nun einmal als feste, eindeutige und bleibende vorhanden seien, ohne daß der Mensch etwas dafür oder dagegen tun könnte«.655 Gleichzeitig sprach er sich gegen »intellektualistische« Haltungen der Philosophen und Priester aus, deren Handlungskonzept »immer in irgendeiner Verwirklichung des Reiches Gottes auf Erden« münde.656 Die vom Aktivisten während seines Handelns antizipierte Zukunft war laut Schelsky offen, da alle Handlungen sich nach der Situation und den konkreten Problemstellungen richteten.657 Das höchste Schaffen des Menschen sei dabei das »staatliche Existieren«. Friede und Zucht sah Schelsky als die Kernelemente der Staatskonstruktion Hobbes’,658 die den »Menschen auf bestimmte Arten dieses planenden Handelns festlegt und bestimmte verbietet, je nachdem diese jene Ordnung und Gemeinschaft der Aktivitäten, die zum menschlichen Leben notwendig ist, gemäß oder zuwiderlaufend sind.«659 Er aktualisierte den Staatsbegriff Hobbes’, indem er ihn aus seiner Gemeinschaftsvorstellung heraus verständlich machte.660 Den Staat begriff er als »Recht«: Zwar bestehe das politische Wesen des Menschen in der »Errichtung von Herr-

652 Ebd., S.19. 653 Schäfer, Zur Herausbildung des philosophisch-soziologischen Denkens bei Helmut Schelsky, S.45. 654 Schelsky, Thomas Hobbes, S.19f. 655 Ebd., S.20f. 656 Ebd., S.29. 657 Ebd., S.35. 658 Ebd., S.72. 659 Ebd., S.73. 660 Ebd., S.108, 119.

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schaftsbezügen«. Seine »staatliche Natur« sei jedoch das Recht.661 Dieses beschreibe die »Natur des Menschen« mit seinem Anrecht auf die Welt und werde durch den Herrscher gesetzt.662 Das Gesetz sei dagegen handlungsorientierte Exekutive des Rechts, also »Pflicht« im Sinne einer »erweckten Handlungsenergie«.663 Es biete dem menschlichen Handeln und Denken die Sicherheit, »die ihm von ›Natur‹ abgeht; erst indem sein Handeln staatlich und sein Erfahrungsdenken wissenschaftlich wird, erhebt er sich zu der seiner Natur aufgegebenen Größe und Vollkommenheit.« Diese Natur des Menschen war nach Hobbes »Macht«, was Schelsky als »Freiheit der Handlungen von Zwang« auffasste.664 »Recht«, »Gesetz« und »Macht« seien dabei nicht wertgebunden.665 Vielmehr fungierten diese Begriffe als Setzungen, die für die jeweilige Gemeinschaft innerhalb eines Staats verbindlich seien. Der allgemeine Bestimmungsgrund der Staatsgemeinschaft, die »Verfassung gebende Planung in Gemeinschaft«, war laut Schelsky der »Vertrag«. Er lotete den Vertragsgedanken in seiner anthropologischen Grundbedeutung aus, um einer demokratisch-rationalistischen Deutung desselben entgegenzutreten: »Definition und Staatsvertrag betreffen nicht die Entstehung von Wahrheit und Gemeinschaftsordnungen, sondern ihre Bewahrung zu größerer Wirksamkeit.« So werde das Handlungsdenken zur Wissenschaft, »die Macht des natürlichen Herrschaftsverhältnisses zum Recht.«666 Hobbes rücke Wissenschaft und Recht in den Mittelpunkt seiner Lehre, weil sie »die einzigen Hilfsmittel [sind], die dem Menschen im Allgemeinen die Möglichkeit eines gesicherten und höheren Daseins bieten, ihre Wirkungsmöglichkeit unter den Menschen durchzusetzen«.667 Daher seien Wahrheit und Recht »in ihrer Wirkung und in ihrem Bestand auf Macht angewiesen.«668 Die Autorität der Gesetze werde somit »zu einer dem Willen vor jeder einzelnen Zielsetzung vorbestimmenden Kraft; die Tugend besteht jetzt im stetigen guten Willen, die Gesetze zu achten«, die vom Herrscher vorgegeben seien.669 Im Gegensatz zum »intellektualistisch denkende[n] politische[n] Philosoph« wollte Schelsky, dass sich der »aktivistisch eingestellte politische Denker« nicht mehr in abstrakten Theorien verliert. Vielmehr solle dieser »Lösung und Gestaltung der konkreten Situation, in der der Mensch seinem generationenhaften und 661 662 663 664 665 666 667 668 669

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Ebd., S.77f. Ebd., S.396. Ebd., S.348. Ebd., S.82. Siehe auch ebd., S.176. Ebd., S.157. Ebd., S.250. Ebd., S.250f. Ebd., S.253. Ebd., S.276. Siehe auch ebd., S.278.

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persönlichen Gewordensein nachsteht«, entwickeln.670 Der politische und wissenschaftliche Mensch »braucht nicht erst von einem allgemeinen Sollen her sein Tun zu erfragen, sondern dies ist ihm durch Rasse, Volkstum, Geschichte, durch persönliches Schicksal, und durch das Gebot der Stunde schon gegeben«.671 Die Wissenschaft habe demnach keinen »bloß theoretischen Wert«, sondern hätte »grundsätzlich dieselbe Leistung zu erfüllen, die Hobbes als die Aufgabe des ›praktischen Verstandes‹ oder der Erfahrungsklugheit aufstellt: ›Voraussicht in die Zukunft‹.«672 Damit gab es Schelsky zufolge bei Hobbes auch keine Wahrheit als rationalistische Essenz. Diese sei vielmehr »im tiefsten und bevor sie überhaupt wissenschaftlich wird, eine soziale, ja eine politische Erscheinung.«673 Die »erste wichtige Frage, die sich für diese Wissenschaft erhebt«, war für Schelsky, »wie es möglich ist, unter Voraussetzung der Existenz von Herrschaftsverhältnissen […] eine allgemeine politische Aktivität oder Beteiligung an der Schöpfung von Gesetzen und Verträgen zu ermöglichen.« Eine solche Wissenschaft habe die Art politischer Betätigung genauso zu erzeugen, »um durch ihre Beweise zu belehren, wie der Mathematiker in seiner Definition die Konstruktion lehrt, um seine Sätze einsichtig zu machen.« Die Politik, »soll sie als Wissenschaft gelehrt werden«, müsse »stets auch gleichzeitig ein politische Schöpfung hervorrufendes politisches Tun sein«.674 Die »politische Wissenschaft« habe zudem die Aufgabe, »den Bürger zur Anerkennung der staatlichen Macht zu bringen, indem sie ein Allgemeinbewußtsein zu erzeugen trachtet, das jene Macht stützt und sich ihr unterwirft. Sie hat die Wirklichkeit des Machtstaates als öffentliches Rechtsbewußtsein zu begründen; damit ist ihre Ausgerichtetheit auf den Bürger deutlich«.675 Hier zeigt sich Schelskys spezifische Vorstellung des »bürgerlichen Staatsbewußtseins der Demokratie«: Der Bürger habe »nur in seinem Bewußtsein, nicht aber als wirklicher Besitzer der Macht den Staat zu tragen«, Demokratie sei »in diesem Sinne Anerkennung, nicht aber Ausübung der Macht durch das Volk«, und zwar der Macht des Herrschers oder  – zeitgenössisch  – des politischen »Führers«.676 Schelsky war sich darüber im Klaren, dass Hobbes ein parlamentarisch-demokratisches Staatswesen vorschwebte. Er versuchte dies umzudeu670 671 672 673 674 675 676

Ebd., S.31. Ebd., S.32. Ebd., S.64f. Ebd., S.239. Ebd., S.262. Vgl. Schale, Technische Steuerung und politischer Heros, S.145. Schelsky, Thomas Hobbes, S.327f. Ebd., S.329.

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ten, indem er – ähnlich wie Schmitt und Mussolini677 – das »parlamentarisch›demokratische‹ Staatswesen« mit »autoritäre[n] Führerstaaten« und»neuzeitliche[n] Diktaturen« auf eine Ebene setzte. Die Demokratie war für ihn die Grundlage der neuzeitlichen Staatlichkeit überhaupt, der »Boden der Volksstaaten«.678 Der Bürger müsse sich demnach mit der als Ausdruck freien Willens getätigten Entäußerung seines Rechts auf Gewaltanwendung zugunsten des Herrschers mit diesem identifizieren. Diese »Selbstherrschaft in der Form einer Identitätsvorstellung ist das Wesen der modernen Demokratie« – und diese sah Schelsky in der auf Führung und Gefolgschaft beruhenden NS-Volksgemeinschaft gegeben.679 1940/41 war Schelsky Freyers Assistent am Deutschen Kulturinstitut in Budapest. Am 1. Juli 1943 erhielt er einen Ruf auf eine außerordentliche Professur an der Reichsuniversität Straßburg. Ausgehandelt hatte dies Ipsen, der über gute Beziehungen zu Heinrich Harmjanz und damit zum Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung (REM) verfügte.680 Auch sein Fachkollege, der Soziologe, Bevölkerungswissenschaftler und Statistiker Gerhard Mackenroth, erhielt einen Ruf nach Straßburg.681 Die Reichsuniversität Straßburg wäre der richtige Ort für Schelskys »politische Wissenschaft« gewesen. Die unter der Obhut des Gauleiters und Reichsstatthalters von Baden Robert Wagner stehende Universität vertrat eine nationalsozialistische Auslegung der »Freiheit der Wissenschaft«, stand für die Überwindung der »abstrakten Fächertrennung« und die Ausrichtung von Forschung auf politische Aufgaben wie Rassenpolitik, Kriegsführung und Autarkieplanung. Für die insgesamt vier Fakultäten waren 129 Ordinariate und Extraordinariate vorgesehen.682 Schelsky sollte das Extraordinariat für Soziologie und Staatsphilosophie antreten. Dazu kam es jedoch nicht, da er bereits seit 1939 als Soldat in der Wehrmacht kämpfte. 677 Jan-Werner Müller, Contesting Democracy: Political Ideas in Twentieth-Century Europe. New Haven/London 2011, S.53, 100, 106, 120-124. 678 Schelsky, Thomas Hobbes, S.329f. 679 Ebd., S.354. Vgl. auch ebd., S.358f. 680 Kempf, Wider die Wirklichkeitsverweigerung, S.61; Wöhrle, Zur Aktualität von Helmut Schelsky, S.18f. Im Personalbogen für die Universität Münster, an die Schelsky 1960 berufen wurde, gab er an, dass er an die Reichsuniversität Straßburg als »planmäßiger außerordentlicher Professor […] in Soziologie« berufen worden sei. Vgl. Universitätsarchiv Münster (UA MS), Bestand 8 (Rektorat (ab 1970), Personalangelegenheiten), Nr.9061, Bd.1: Personalbogen Wilhelm Friedrich Helmut Schelsky, Bl.1f., hier: Bl.1. 681 Rammstedt, Deutsche Soziologie 1933-1945, S.15. 682 Frank-Rutger Hausmann, Wissenschaftsplanung und Wissenschaftslenkung an der Reichsuniversität Straßburg (1940-1944), in: Noyan Dinçkal/Christof Dipper/ Detlev Mares (Hrsg.), Selbstmobilisierung der Wissenschaft. Technische Hochschulen im »Dritten Reich«. Darmstadt 2010, S.187-230, hier: S.192, 196f., 200, 208.

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Mit Unterbrechung war er ab 1941 als Kompanieführer der 1.Infanterie-Division in Polen und Russland im Kriegseinsatz.683 Mehrfach wurde er schwer am Arm verwundet und konnte während seines Lazarettaufenthalts Lehrstuhlvertretungen in Leipzig (1942/43) und Straßburg (1943) wahrnehmen. Ab Herbst 1943 diente er wieder als Offizier in der Wehrmacht. Nach einer Auseinandersetzung mit der NS-Verwaltung in Ostpreußen, bei der er gegen Maßnahmen des ostpreußischen Gauleiters Erich Koch interveniert hatte, wurde er Anfang März 1945 für zwei Wochen in Festungshaft genommen.684 Diesen Umständen hatte er es wohl zu verdanken, dass er ausgeflogen wurde und deshalb nicht in russische Kriegsgefangenschaft geriet.685 Seiner militärischen Karriere schadeten dies und andere Dispute mit NS-Politikern kaum: Er hatte zuletzt den Rang eines Oberleutnants inne, war Träger des Eisernen Kreuzes I. und II. Klasse, des Verwundetenabzeichens in Silber und der Ostmedaille.686 Tat-Ideologem und deutschvölkische Gemeinschaftsvorstellung schlugen sich somit auch in seiner Laufbahn als Wehrmachtsoffizier nieder. In seinem Kriegstagebuch von 1944/45 hielt Schelsky die sich zunehmend verschlechternde Stimmung in seiner Kompanie fest, zunächst: »Schwierige Lage: die Waffen fast verloren, Rumänien springt ab« (Eintrag für den 23. bis 28. August 1944), dann: »Polit.[ische] Lage wird schwierig« (2. bis 9. September 1944) sowie »Weltuntergangsstimmung« (26.  Januar bis zum 20.  Februar 1945) und schließlich: »Wenn die Russen kommen, unbedingt weg« (10. bis 12.  April 1945).687 Mit der deutschen Niederlage im Zweiten Weltkrieg gingen auch Schelskys Weltbild und seine »politische Wissenschaft« zugrunde. Aus seiner Sicht musste sich die deutsche Weltanschauung des Nationalsozialismus im Kampf um die Weltherrschaft gegenüber der liberalen der westlichen Alliierten und dem Sowjetkommunismus als zu schwach erwiesen haben.

683 Lepsius, Die Entwicklung der Soziologie, S.36; Rehberg, Hans Freyer, S.74, 85f. 684 ULB Münster, N. Schelsky 25,106: Anlage I , undatiert; ULB Münster, N. Schelsky 25,110: Generaloberst, Der Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Nord, an Oberleutnant Schelsky, 1. Infanterie-Division, vom 10.03.1945. Vgl. Schäfer, Der Nationalsozialismus und die soziologischen Akteure der Nachkriegszeit, S. 121. 685 Kempf, Wieder die Wirklichkeitsverweigerung, S.65f. 686 ULB Münster, N. Schelsky 24,095: Military Government of Germany, Fragebogen: Dr. Helmut Schelsky vom 14.08.1946. Vgl. Schäfer, Zur Herausbildung des philosophisch-soziologischen Denkens bei Helmut Schelsky, S.51. 687 ULB Münster, N. Schelsky 165,01: Soldatentagebuch Oberleutnant Helmut Schelsky, Frnr: 04089 [nicht paginiert], Flensburg vom 25.04.1945.

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6.2. Die Neukonfiguration von Schelskys sozialwissenschaftlichem Denken nach 1945 Helmut Schelsky kam noch vor Kriegsende als Verwundeter nach SchleswigHolstein, das nach der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht im Mai 1945 zur britischen Besatzungszone (Nordwestzone) gehörte. Das Ende der gesellschaftlichen Ordnungsstruktur des Nationalsozialismus bedeutete, dass seine nationalsozialistische Weltanschauung und seine »politische Wissenschaft« neu konfiguriert werden mussten. Dies umfasste sowohl die Kontinuität alter Elemente seines Denkens als auch die Aufnahme neuer. Durch diese Transformations- und Übersetzungsprozesse brach Schelskys ganzheitliches sozialwissenschaftliches Konzept in drei Bestandteile  – ein sozialempirisch-strukturfunktionalistisches, ein rechtssoziologisch-staatspolitisches und ein erziehungspolitisches – auseinander. Diese repräsentierten zusammengenommen nun nicht mehr den »wahren Sozialismus« des Nationalsozialismus, sondern wurden von ihm für eine spezifisch deutsche Form der Demokratie funktionalisiert. Er konnte hierfür auf neue und alte Verbindungen zurückgreifen. So gelang ihm die berufliche Neupositionierung, die schließlich zur Berufung als Professor der Hamburger Akademie für Gemeinwirtschaft führte. Im Mai 1945 arbeitete Schelsky in Schleswig-Holstein zunächst im Auftrag des Oberkommandos der Marine, dann im Dienst des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) am Aufbau des Flüchtlingshilfswerks (Suchdienst) mit.688 Aufgabe der Einrichtung war es, »die durch Flucht, Krieg und Vertreibung auseinander geworfenen Familien wieder zusammenzuführen.«689 Hier zeigte sich eine Kontinuität von Schelskys Handlungsidiom: Er leistete einen Beitrag im Dienst der deutschen »Volksgemeinschaft«. Seine Arbeit für das DRK beförderte gleichzeitig seine Transformation vom »Volksgenossen« des NS-Staates in einen Bürger des besiegten Deutschlands. Von 1946 bis 1948 hielt sich Schelsky in Jöhlingen auf, einem kleinen Dorf nahe Karlsruhe. In der Wohnung der Eltern seiner Frau Hildegard Bettle, die er 1944 geheiratet hatte, überstand er den Hungerwinter von 1946/47.690 Im Juni zuvor hatte er an einem von der amerikanischen Militärregierung genehmigten Preisausschreiben der Überparteilichen Demokratischen Arbeitsgemeinschaft (ÜDA) in Karlsruhe zum Thema »Die Sicherung der staatsbürgerlichen Freiheiten« teilgenommen. Für sein Grundrechteplädoyer hatte er den ersten Preis 688 Wöhrle, Zur Aktualität von Helmut Schelsky, S.21. 689 ULB Münster, N. Schelsky 24,095: Military Government of Germany, Fragebogen Dr. Helmut Schelsky vom 14.08.1946. Zitiert nach: Clemens Albrecht, Reflexionsdefizit der Sozialstrukturanalyse? Helmut Schelsky und die »nivellierte Mittelstandsgesellschaft«, in: Gallus (Hrsg.), Helmut Schelsky, S.86-99, hier: S.87. 690 Wöhrle, Zur Aktualität von Helmut Schelsky, S.21.

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erhalten.691 Über die ÜDA kam Schelsky in Kontakt mit der SPD. Herbert Zachäus, der Redakteur des sozialdemokratischen Verlags Volk und Zeit, bat ihn um Aufsätze für seine »Schriftenreihe der Überparteilichen Demokratischen Arbeitsgemeinschaft«.692 Schelsky wollte neue Allianzen mit den Sozialdemokraten eingehen, um »erste Signale seiner neuen Demokratiekompatibilität« zu senden, wie Wöhrle dies formuliert. Mitglied der SPD wurde er allerdings nie.693 Er übersetzte seine Idee einer NS-Volksgemeinschaft in sozialdemokratische Gemeinschaftsvorstellungen. Die insbesondere vom Parteivorsitzenden Kurt Schumacher in einer Rede vom 6. Mai 1945 gestellten Forderungen nach Beibehaltung des antikommunistisch-antisowjetischen Kurses der SPD und einem vereinigten Deutschland einschließlich der SBZ694 entsprachen seiner Vorstellung einer deutschen »Volksgemeinschaft« und seinen sozialreformerischen Ambitionen. Entgegen kam ihm auch, dass sich seit dem Spätsommer 1945 die »Zurückweisung des Kollektivschuldvorwurfs, verknüpft mit Kritik an den politischen Gegnern und Besatzern, […] zum argumentativen Kern in Schumachers programmatischen Äußerungen« entwickelt hatte, so Kristina Meyer.695 Zudem ging die SPD in der unmittelbaren Nachkriegszeit vergleichsweise nachsichtig mit ehemaligen und insbesondere jüngeren NSDAP-Angehörigen und Mitgliedern von NS-Organisationen um. Schumacher forderte zwar eine Klärung der »Schuldfrage«, die seiner Ansicht nach die »Ausrottung und Unschädlichmachung« der Verantwortlichen verlangte. Er bezog sich dabei sowohl auf die politisch Schuldigen und die kriminellen Elemente in der NS-Bewegung als auch auf die »große Zahl derjenigen […], die durch ihre freche, zynische und korrupte Haltung die Atmosphäre des Nazismus in den Betrieben, auf der Straße und im Haus geschaffen haben«.696 Bald setzte sich bei den Sozialdemokraten aber die Ansicht durch, dass es gar nicht so einfach war, eindeutig zwischen »Nazi und Nichtnazi« zu unterscheiden. Zu viele Deutsche, ganz besonders die 691 Dieses Grundrechteplädoyer wurde im Verlag Volk und Zeit 1946 veröffentlicht. Vgl. Helmut Schelsky, Das Freiheitswollen der Völker und die Idee des Planstaates (Schriftenreihe der Überparteilichen Demokratischen Arbeitsgemeinschaft, Heft 1). Karlsruhe 1946. Vgl. Klaus Dammann/Dominik Ghonghadze, Helmut Schelskys sozialdemokratische Konversion und seine Einbindung in Leipziger/Königsberger Netzwerke, in: Gallus (Hrsg.), Helmut Schelsky, S.66-85, hier: S.69. 692 ULB Münster, N. Schelsky 26,013: Eidesstattliche Erklärung Helmut Schelsky vom 29.03.1948 [nicht paginiert]. 693 Wöhrle, Zur Aktualität von Helmut Schelsky, S.21. 694 Zur Nachkriegsgeschichte der SPD siehe Heinrich Potthoff/Susanne Miller, Kleine Geschichte der SPD 1848-2002, 8., aktual. und erw. Aufl. Bonn 2003, S.175-190. 695 Kristina Meyer, Die SPD und die NS-Vergangenheit, 1945-1990 (Beiträge zur Geschichte des 20. Jahrhunderts, Bd.18). Göttingen 2015, S.38. 696 Zitiert nach: ebd., S.33.

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jüngeren, seien aus einem falsch verstandenen oder einem »irregeleiteten Idealismus« heraus in die NSDAP eingetreten.697 Auffällig ist die Ähnlichkeit zwischen diesen, in der unmittelbaren Nachkriegszeit geäußerten Ansichten über die von den Nationalsozialisten verführte deutsche Jugend und Schelskys Deutung seines Engagements in NS-Organisationen von 1980. Sie zeigt, dass er solche vergangenheitspolitischen Narrative in die eigene biografische Konstruktion bewusst einbaute. In einer eidesstattlichen Erklärung für die amerikanische Militärregierung hob Schelsky 1948 sein Engagement für den Aufbau der westdeutschen Demokratie besonders hervor. Grund dafür war, dass ihn die amerikanischen Militärbehörden verdächtigten, seine NS-Vergangenheit verschleiert zu haben. Konkret ging es um seine Mitgliedschaft in der SA, die er in einem Fragebogen für das Preisausschreiben der ÜDA angegeben hatte. Er hatte fälschlicherweise angenommen, diese Informationen würden vertraulich behandelt. Weil er diese Angabe im kurze Zeit später ausgefüllten offiziellen Fragebogen der amerikanischen Militärregierung verschwieg,698 hatte er sich zu erklären. Gegenüber den Amerikanern hob er hervor, dass er zwar »1934 unter besonderen Umständen einen Fragebogen zum Eintritt in die SA ausgefüllt«, jedoch niemals eine Bestätigung seiner Aufnahme in diese Organisation erhalten habe, sodass er nicht als Mitglied der SA gelten könne. Für die falsche Angabe »über meine Zugehörigkeit zur SA 1932/33, meiner Tätigkeit im Studentenbund usw. stehen mir Zeugnisse unbelasteter Personen zur Verfügung, die entweder mich in den betreffenden Jahren näher gekannt haben oder andererseits mit den politischen Verhältnissen an der Universität Leipzig eingehend bekannt waren.«699 Im Spruchkammerverfahren vom 14.  September 1948 erklärte Schelsky, dass seine »berufliche Laufbahn allein auf Grund wissenschaftlicher Leistung erfolgt ist und parteiamtliche Maßnahmen, Einflüsse und Rücksichten dabei nicht im Spiel waren«. Hierfür brachte er die Gutachten Hermann Heimpels, ehemaliger Kurator der Universität Leipzig, Arnold Gehlens und Gotthard Günthers, der aufgrund seiner jüdischen Ehefrau in die Vereinigten Staaten ausgewandert war, bei.700 Seine Erklärung an den Öffentlichen Kläger bei der Spruchkammer in 697 Ebd., S.33f., 45, 53. 698 ULB Münster, N. Schelsky 26,013: Eidesstattliche Erklärung Helmut Schelsky vom 29.03.1948 [nicht paginiert]. 699 Ebd. 700 ULB Münster, N. Schelsky 25,102: Helmut Schelsky an den Herrn Öffentlichen Kläger bei der Spruchkammer Karlsruhe vom 14.09.1948, Bl.1-6, hier: Bl.1. Vgl. ULB Münster, N. Schelsky 25,104: Erklärung Gotthard Günther an die

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Karlsruhe zu seiner SA-Mitgliedschaft klang nochmals anders: Er behauptete, aufgrund einer Auseinandersetzung mit seinem behandelnden Arzt nach seiner Armverwundung im Zweiten Weltkrieg zur Mitgliedschaft bei der SA als »Ehrenführer« im Rang eines Sturmführers gedrängt worden zu sein. Eigentlich sei er schon 1934 wieder aus der SA ausgetreten, doch in der Hoffnung auf einen besseren Arzt, der seinen verletzten Arm retten sollte, wäre er dann wieder als »Ehrenführer« eingetreten. »Die Beweise für diesen Vorgang sind insofern schwer zu liefern, als mir die amtlichen Unterlagen (Krankengeschichte) nicht mehr zugänglich sind«.701 Neben einer Lazarettschwester fungierte auch Gehlen als Zeuge für diese Geschichte. Falsch sei auch, so Schelsky in seiner Verteidigung weiter, dass er seit 1933 Mitarbeiter im Amt Rosenberg gewesen sei. Das Amt habe es »parteiamtlich« gar nicht gegeben und eine »konkrete Mitarbeit« seinerseits sei nie erfolgt. Er habe lediglich »im Jahre 1933/34 in meiner Eigenschaft als Famulus im Philos.[ophischen] Institut der Univ.[ersität] einmal Besprechungen wissenschaftlicher Bücher für eine von Reich[s]l.[eiter] Rosenb.[erg] betreute ›Reichsstelle zur Förderung des dtsch. Schrifttums‹ gemacht«.702 Schelsky versuchte mit allen Mitteln, sich vom Nationalsozialismus zu lösen und seine Mitarbeit in NS-Organisationen herunterzuspielen. Sein während des NSRegimes gebildetes soziales Netzwerk war dabei überaus hilfreich. Gehlen und Heimpel führten nach 1945 ohne größere Unterbrechung ihre Karrieren fort. Gehlen erhielt 1947 an der Höheren Verwaltungsakademie Speyer den ersten Soziologie-Lehrstuhl in Westdeutschland. Die Akademie war von den französischen Besatzern zunächst als École Supérieure d’Administration für die Ausbildung der künftigen westdeutschen Beamtenelite gegründet worden.703 Dass in der französischen Besatzungszone bei der Entnazifizierung am mildesten verfahren wurde, führte nach Ulrich Herbert dazu, dass auch höherrangige Nationalsozialisten »unbehelligt blieben, wenn es den pragmatischen Interessen der Franzosen diente«.704 Heimpel, der von 1941 bis 1945 an der Reichsuniversität Straßburg Mittlere und Neuere Geschichte gelehrt hatte und Schelsky sowohl

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kammer beim Amtsgericht Karlsruhe – Land vom 22.10.1946, Bl.1f. Günther war Schelskys Vorgänger als Gehlens Assistent in Leipzig gewesen. ULB Münster, N. Schelsky 25,102: Helmut Schelsky an den Herrn Öffentlichen Kläger vom 14.09.1948, Bl.2. Ebd., Bl.4. Klinger, Die Modernisierung des NS-Staates, S.323. Vgl. Fischer, Philosophische Anthropologie – Ein wirkungsvoller Denkansatz, S.327; Rehberg, Vom soziologischen Neugründungs-Pragmatismus, S.18. Vgl. ders., »Images of Mankind«, S.199. Herbert, Geschichte Deutschlands, S.570.

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aus Leipzig als auch aus dem Straßburger Zusammenhang kannte, galt im westdeutschen Wissenschaftsfeld als einflussreicher Gelehrter.705 Günther, als Emigrant mit jüdischer Ehefrau, untermauerte Schelskys Selbstkonstruktion als dem Nationalsozialismus weitgehend distanziert gegenüberstehender Gelehrter. Er erklärte, dass dieser »in meinen Augen einer der reinsten Menschen ist, die ich je das unverdiente Glück hatte zu treffen, und dass er durch und durch ein echter Wissenschaftler von überragenden Qualitäten ist, der sein Leben lang kein anderes Gesetz über sich anerkannt hat, als das der reinen und unverfälschten Wahrheit.«706 Formal entnazifiziert wurde Schelsky durch die Amnestie von 1947.707 Als nunmehr demokratisch orientierter Sozialwissenschaftler vertrat Schelsky 1948 die Professur für Soziologie an der Akademie für Gemeinwirtschaft in Hamburg.708 Diese war im selben Jahr von Hamburger Gewerkschaften, Genossenschaften und der städtischen Kommune zum Zweck der praktischen Umsetzung eines sozialdemokratischen »freiheitlichen Sozialismus« gegründet worden. Hier sollte das Führungspersonal für Administration sowie Sozial- und Wirtschaftsorganisationen ausgebildet werden.709 1949 wurde er dort zum ordentlichen Professor berufen und hatte bis 1950 auch die Leitung der Akademie inne. 6.2.1. Die Herausbildung einer sozialempirisch-strukturfunktionalistischen Wissensebene

»Blitzschnell«, so Karl-Siegbert Rehberg, hätten sich Schelsky und Gehlen, mit dem er in der Nachkriegszeit intensiven Kontakt pflegte, nach 1945 selbst »amerikanisiert«, »indem sie in einer Karlsruher US-Militärbibliothek wichtige prähistorische, kulturphilosophische und ethnologische Bücher (vor allem aus den USA) lasen und exzerpierten.«710 Beide hatten die Zeichen der Zeit erkannt. Sie sichteten 705 Zu Hermann Heimpel siehe Anne Christine Nagel, Im Schatten des Dritten Reiches. Mittelalterforschung in der Bundesrepublik Deutschland 1945-1970. Göttingen 2005, S.94-100, 103-106, 187-209. Vgl. Pierre Racine, Hermann Heimpel à Strasbourg, in: Winfried Schulze/Otto Gerhard Oexle (Hrsg.), Deutsche Historiker im Nationalsozialismus. Frankfurt am Main 1999, S.142-157. Generell zur wissenschaftlichen Laufbahn Heimpels siehe Hartmut Boockmann, Der Historiker Hermann Heimpel. Göttingen 1990. 706 ULB Münster, N. Schelsky 25,104: Erklärung Gotthard Günther an die Spruchkammer beim Amtsgericht Karlsruhe – Land vom 22.10.1946, Bl.1f., hier: Bl.1. 707 Dammann/Ghonghadze, Helmut Schelskys sozialdemokratische Konversion, S.69. 708 Wöhrle, Zur Aktualität von Helmut Schelsky, S.21. 709 von Borries-Pusback, Keine Hochschule für den Sozialismus, S.9f., 45. 710 Rehberg, Hans Freyer, S.82.

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die kultur- und sozialwissenschaftliche Literatur der American Library in der Karlsruher Stadtbibliothek. Schelsky reiste dazu von Jöhlingen, Gehlen aus Speyer an. Der dadurch erlangte Wissensvorsprung vor anderen deutschen Wissenschaftlern, so Rehberg und Wöhrle, sei für Schelskys Berufung an die Hamburger Akademie für Gemeinwirtschaft nicht unerheblich gewesen.711 Schelsky übersetzte und integrierte also weitere amerikanisch-englische und französische sozialwissenschaftliche Elemente in seinen Denkstil, den vor 1945 vor allem deutsche, aber auch pragmatische und rechtsphilosophische Elemente amerikanisch-englischer Provenienz prägten. Aus dem Briefwechsel zwischen Gehlen und Schelsky aus den späten 1940er und frühen 1950er Jahren geht hervor, dass hierfür eine große Zahl an Autoren und Werken zentral war. Zu diesen zählte Thorstein Veblen, vor allem mit seinem Werk Absentee Ownership (1923), das Gehlen als ein »weitgehend unveraltet[es]«, »ganz theoretisches System« ansah.712 George Herbert Mead hatte Gehlen schon in den frühen 1940er Jahren rezipiert. Er fand dessen »Symboltheorie und die Sache mit dem Gamegeneralized other« brauchbar, schätzte das »Kapitel Society« aber als »ganz schwach« und überhaupt »das ganze Sozialbild [als] zu parlamentarisch« ein.713 Talcott Parsons’ Struktur- und Handlungstheorie wiederum fand weitgehend positive Aufnahme bei beiden – auch, weil dieser sich nicht nur auf den schon in den 1930er Jahren von Vertretern des Leipziger soziologischen Denkstils breit rezipierten Max Weber bezog, sondern auch auf Hans Freyers Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft.714 Für Claude Lévi-Strauss interessierte sich Schelsky sehr und Gehlen sah in ihm »eine Entdeckung 1. Ranges«.715 Enthusiastisch lasen beide auch den amerikanischen Soziologen und Erziehungswissenschaftler David Riesman, der in Zusammenarbeit mit Nathan Glazer und Reuel Denney

711 Wöhrle, Zur Aktualität von Helmut Schelsky, S.21. 712 ULB Münster, N. Schelsky 24,007: Arnold Gehlen an Helmut Schelsky vom 03.09.1947. Vgl. ULB Münster, N. Schelsky 24,006: Arnold Gehlen an Helmut Schelsky vom 11.09.1947. 713 ULB Münster, N. Schelsky 23,151: Arnold Gehlen an Helmut Schelsky vom 17.11.1948. 714 ULB Münster, N. Schelsky 23,130: Arnold Gehlen an Helmut Schelsky vom 19.03.1950. Vgl. Üner, Der Einbruch des Lebens in die Geschichte, S.225f. Vgl. Carsten Klingemann, Zur Rezeption Max Webers durch Helmut Schelsky im Kontext der »Leipziger Schule der Soziologie«, in: Gallus (Hrsg.), Helmut Schelsky, S.39-49, hier: S.40f. Vgl. auch van Laak, Gespräche in der Sicherheit des Schweigens, S.98, 219f. 715 ULB Münster, N. Schelsky 23,102: Arnold Gehlen an Helmut Schelsky vom 31.08.1952; ULB Münster, N. Schelsky 23,095: Arnold Gehlen an Helmut Schelsky vom 08.05.1953.

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mit The Lonely Crowd von 1950716 einen Bestseller veröffentlichte.717 Zu den rezipierten Wissenschaftlern zählten zudem der deutschstämmige amerikanische Ethnologe Franz Boas, der russisch-französische Soziologe und Jurist Georges Gurvitch, der Psychologe Gordon Allport, der Organisationssoziologe österreichisch-jüdischer Herkunft Peter F. Drucker, Gerhard Heard, William F. Ogburn und die Kulturanthropologin Ruth Benedict. Sie alle arbeiteten zu dieser Zeit in den Vereinigten Staaten.718 Gleichzeitig nahmen auch Joseph Schumpeter, Vilfredo Pareto, Nicolai Hartmann sowie Freyer und Gehlens alter Bekannter Konrad Lorenz einen wichtigen Platz in der sozialempirisch-strukturfunktionalistischen und behavioristisch unterlegten Wissensebene ein.719 Für Gehlen, mehr aber noch für Schelsky nahmen die Arbeiten des 1942 in den Vereinigten Staaten verstorbenen polnischen Kulturanthropologen Bronislaw Malinowski, der von 1908 bis 1910 an der Universität Leipzig studiert und bei Karl Bücher und Wilhelm Wundt Vorlesungen besucht hatte,720 in dreifacher Hinsicht einen herausragenden Platz ein:721 Erstens konnte Schelsky Malinowskis Feldforschungsmethode der »teilnehmenden Beobachtung« mit den im Rahmen des Town- und Countryplanning entstandenen Surveys der Chicago School722 sowie damit gleichzeitig mit der Raumforschung und Landesplanung, wie sie Gunther Ipsen während des NS-Regimes praktiziert hatte, kombinieren.723 Für die von Schelsky in Hamburg geleiteten sozialempirischen familien716 Vgl. Riesman/Glazer/Denney, The Lonely Crowd. 717 ULB Münster, N. Schelsky 23,075: Arnold Gehlen an Helmut Schelsky vom 21.05.1955. 718 Rehberg, Vom soziologischen Neugründungs-Pragmatismus, S.18. Für die überarbeiteten Auflagen von Der Mensch nach 1945 war für Gehlen Meads Mind, Self and Society, das 1934 erstmals publiziert und 1947 in der sechsten Auflage erschienen war, besonders wichtig. Weiterhin waren Benedict und Malinowski zentral. Vgl. Wöhrle, Metamorphosen des Mängelwesens, S.194, 306-308, 464f. 719 ULB Münster, N. Schelsky 24,024: Arnold Gehlen an Helmut Schelsky, undatiert [ermutlich vom Dezember 1946 oder Januar 1947]; ULB Münster, N. Schelsky 24,038: Arnold Gehlen an Helmut Schelsky vom 17.06.1946; ULB Münster, N. Schelsky 24,026: Arnold Gehlen an Helmut Schelsky vom 27.11.1946. 720 Michael W. Young, Malinowski: Odyssey of an Anthropologist, 1884-1920. New Haven/London 2004, S.128-148. 721 ULB Münster, N. Schelsky 26,004: Arnold Gehlen an den Dekan der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Hamburg vom 07.02.1949, Bl.1-4, hier: Bl.1. 722 ULB Münster, N. Schelsky 46,005: Vortrag: Helmut Schelsky, Aufgaben der angewandten Soziologie, im Juristenclub Hamburg am 31.01.1950, Bl.2. 723 Ebd., Bl.3. Vgl. Schäfer, Helmut Schelsky und die Soziologie am Ende der 1950er Jahre, S.192f. Diese Kombination war auch für die SFS nach 1945 ausschlaggebend. Vgl. Kändler, Entdeckung des Urbanen, S.91-100. Zur Feldforschung Malinowskis als »teilnehmende Beobachtung« siehe Karl-Heinz Kohl, Bronislaw

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und jugendsoziologischen Untersuchungen der frühen 1950er Jahre war dieser methodische Übersetzungsprozess grundlegend. Zweitens vertrat Malinowski eine strukturfunktionalistische Theorie der Institutionen als gelebte, durch ritualisierte Handlungen gefestigte Organisationen, die soziale Regeln stabilisierten. Er grenzte sich damit von eurozentrischen Sichtweisen ab und sah Kulturen grundsätzlich als gleichwertig an.724 Sein Strukturfunktionalismus bezog sich also nicht auf im Voraus festgelegte ethischmoralische Normen politischer Institutionen wie etwa die parlamentarischdemokratischen amerikanisch-englischer und französischer Rechtsinstitutionen. Deshalb konnte Schelsky ihn auf seine Weise in seine nun im Dienst der westdeutschen Demokratie stehende empirische Soziologie einbauen. Die Gültigkeit von Institutionen begründete er fortan aus den Eigenheiten einer jeden Kultur heraus. Drittens kombinierte Schelsky das sozialanthropologische Theorem symbolischer Funktionssysteme Malinowskis mit Parsons’ Struktur- und Handlungssoziologie aus den 1930er Jahren und dessen Systemtheorie von 1951 zur Struktur westlich-moderner Gesellschaften unter Annahme einer zunehmenden Ausdifferenzierung von Funktionssystemen.725 Zentral für seine Rezeption von Parsons’ Soziologie war Thomas Hobbes’ Problem der Staatsordnung, das beide Sozialwissenschaftler in den 1930er Jahren als Ausgangsproblem ins Zentrum ihrer Abhandlungen gestellt hatten. Zudem überschnitten sich Elemente ihres Denkens, so etwa Parsons’ voluntaristische Handlungstheorie und das pragmatische Handlungstheorem Schelskys, was diese Synthese erleichterte.726 Mit dem Theorem der funktionalen Ausdifferenzierung entzerrte Schelsky sein in den frühen 1930er Jahren entwickeltes Konzept der »politischen Wissenschaft«. Er sprach nun von drei gesellschaftlichen Subsystemen, die symbolisch und arbeitsKaspar Malinowski (1884-1942), in: Wolfgang Marschall (Hrsg.), Klassiker der Kulturanthropologie. Von Montaigne bis Margaret Mead. München 1990, S.227247, hier: S.232-235. Gerhard Schäfer weist darauf hin, dass Schelskys spätere Frau Hildegard Brettle eine Studie für die RAG vorgelegt hatte: Hildegard Schelsky, Die wirtschaftliche Verflechtung des Sudetengaus mit dem Protektorat. o.O. 1944. Schelsky scheint daher auch über diesen Weg über die Arbeiten der Raumforschung gut unterrichtet gewesen zu sein. Siehe Schäfer, Helmut Schelsky und die Soziologie, S.198. 724 Kohl, Bronislaw Kaspar Malinowski (1884-1942), S.236f. 725 Vgl. Talcott Parsons, The Structure of Social Action: A Study in Social Theory with Special Reference to a Group of Recent European Writers. New York 1937; ders., The Social System. Glencoe, IL 1951. Nicht zufällig spielte Parsons eine wichtige Rolle bei der Beratung der US-Regierung in Bezug auf den demokratischen Neuanfang Westdeutschlands. Vgl. Richard Münch, Talcott Parsons (1902-1979), in: Kaesler (Hrsg.), Klassiker der Soziologie, Bd.2, S.24-50, hier: S.24. 726 Vgl. Münch, Talcott Parsons (1902-1979), S.26-28, 31.

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teilig voneinander abgesetzte Sphären bildeten und für eine moderne demokratische Gesellschaft unabdingbar seien: dem aus menschlichen Interaktionen bestehenden sozialen System, dem aus Bedürfnisdispositionen konstituierten Persönlichkeitssystem und dem Symbole umfassenden kulturellen System.727 Er knüpfte damit auch an das von Robert K. Merton, einem Schüler Parsons’ an der Harvard University, 1942 als Kritik am Verhalten deutscher Wissenschaftler im NS-Regime formulierte Diktum an, nach dem gute Wissenschaft nur in einer auf ebendieser Funktionsteilung beruhenden demokratischen Gesellschaft möglich sei.728 Die Amalgamierung deutscher Soziologie und Sozialphilosophie mit amerikanisch-englischen sozialwissenschaftlichen Ansätzen zeigte sich in Schelskys Vorlesungen, Seminaren und Übungen an der Akademie für Gemeinwirtschaft und später an der Universität Hamburg: Parsons, Merton und Gehlen behandelte Schelsky als gleichwertige Ausgangsreferenzen für soziologische Einführungskurse. Seinen Studierenden gab er außerdem Samuel A. Stouffers empirischsozialpsychologische Forschungen über amerikanische Soldaten im Zweiten Weltkrieg und Arbeiten von Lazarsfeld, Leonard S. Cottrell jr. und Edward A. Suchman zu lesen.729 6.2.2. Die staatsrechtliche Begründung der westdeutschen Demokratie Neben der sozialempirisch-strukturfunktionalistischen gliederte sich Helmut Schelskys »politische Wissenschaft« nach 1945 auch in eine Orientierungswissen generierende, rechtssoziologisch-staatspolitische Wissensebene auf. Dabei übersetzte er Elemente der amerikanisch-englischen Rechtsvorstellung in seine vor allem in der Beschäftigung mit Hobbes entwickelten staatsrechtlichen Überlegungen. Auf diese Weise hoffte er, den sich konstituierenden westdeutschen Staat staatsrechtlich und rechtssoziologisch zu legitimieren. Ein wohl in der unmittelbaren Nachkriegszeit entstandenes Notizkonvolut aus seinem Nachlass gibt näheren Aufschluss über seine Haltung zur demokra727 Ebd., S.33. 728 Robert K. Merton, Science and Technology in a Democratic Order, in: Journal of Legal and Political Sociology 1 (1942) 1, S.115-126. Vgl. Lewis A. Coser, Robert K. Merton, in: Kaesler (Hrsg.), Klassiker der Soziologie, Bd.2, S.152-170, hier: S.154f. 729 ULB Münster, N. Schelsky 63,068: Plan Vorlesung: Einführung in die theoretische Soziologie, undatiert [stammt aber sehr wahrscheinlich aus Schelskys Zeit in Hamburg, F.L.]; ULB Münster, N. Schelsky 136,84: ULB Münster, N. Schelsky 63,066: Vorlesungsnotizen: Systematische Soziologie, undatiert, Bl.21f.; Notizen zur Übung: Haltung des amerikanischen Soldaten im letzten Krieg, Sommersemester 1952, Bl.1-4. Vgl. Samuel A. Stouffer, The American Soldier, Bd.1: Adjustment During Army Life, Bd.2: Combat and Its Aftermath. Princeton 1949.

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tischen Gesellschaftsordnung. Schelsky hatte Schriften des ehemaligen preußischen Kultusministers Carl Heinrich Becker, des Rechtspositivisten Hans Kelsen, des rechtsextremen französischen Schriftstellers und politischen Publizisten Charles Maurras sowie des liberalen Soziologen und Nationalökonomen Alfred Weber gelesen. Er machte sich daraus Notizen zum »Neubau der Demokratie«. Demnach müsse das Volk gewonnen, diesem ein »Glaube an Neues« vermittelt werden. Besonders skeptisch sah er die »Schöpfung einer Demokratie unter Besatzung« und unter »Abschaffung der Souveränität (Heer, Außenpol[itik], Finanz, Wirtsch[aft],)«. Auch sollten »individualistische Menschenrechte« sozialistisch begrenzt und durch »Volksrechte« ersetzt werden.730 Schelsky schloss dabei nicht nur an die Rechtsideen Carl Schmitts an, sondern stimmte auch mit Kurt Schumacher überein, wonach »die Westmächte den Deutschen zuerst die Souveränität gewähren« sollten, denn »dann würde eine Bundesregierung sich aus freien Stücken für den Westen entscheiden.«731 Auffällig sind die Zitate von Maurice Barrès, der neben Maurras der bekannteste rechtsradikale Schriftsteller im Frankreich des späten 19. Jahrhunderts war und von dessen Schriften Schelsky ebenfalls Notizen angefertigt hatte. In diesen Notizen rekurrierte er auf Barrès’ Intellektuellenkritik. Ein Intellektueller war für Schelsky »ein Individuum, welches überzeugt ist, daß sich die Gesellschaft auf Logik gründen müsse und welches nicht versteht, daß sie in Wirklichkeit auf Notwendigkeiten beruht, die längst bestehen und vielleicht der individuellen Vernunft fremd sind.«732 Weitere Notizen machte er sich zu Schmitt, Freyer, Sorel und Metternich. Und er zitierte unter der Überschrift »Kritische Motti zur Demokratie« Rousseaus Contrat Social: »Gäbe es ein Volk von Göttern, so würde es sich demokratisch regieren. Eine so vollkommene Regierung passt für Menschen nicht.« Stattdessen verwies Schelsky auf Maurras’ Konzept der »Intelligenz«: »Es wäre notwendig, daß die Intelligenz das Meisterwerk vollbringe und die öffentliche Meinung verpflichte, die tiefe Nichtigkeit ihrer Macht zu empfinden und die Abdankung einer erlogenen Souveränität zu unterzeichnen: […]

730 ULB Münster, N. Schelsky 17,008: Notizkonvolut, undatiert: Helmut Schelsky, Neubau der Demokratie, Thema 1-9, Notizen. 731 Herbert, Geschichte Deutschlands, S.632. Vgl. Forner, German Intellectuals, S.158. 732 ULB Münster, N. Schelsky 17,008: Notizkonvolut, undatiert: Helmut Schelsky, Neubau der Demokratie, Notizzettel: »Maurice Barrès«.

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Die Aufgabe der Intelligenz ist: dem demokratischen Wähler den Glauben an das Wählen zu nehmen.«733 Seine Notizen deuten darauf hin, dass Schelsky in der Nachkriegszeit ein Demokratieprinzip vorschwebte, das mit lediglich geringen Anpassungen an sein Gemeinschaftskonzept der 1930er Jahre anschloss. Eine Demokratie müsse demnach aus den »Notwendigkeiten«, die der »individuellen Vernunft fremd sind«, heraus entstehen. Diese sah er für die Deutschen in ihrem »Volksgeist« angelegt. Der Souverän des westdeutschen Staates konnte in seinen Augen nur das deutsche Volk sein, das von einer Intelligenz geführt werden musste. Jene Funktionselite sollte sich aus Soziologen, Politikwissenschaftlern, Ökonomen und Juristen zusammensetzen. Gleichzeitig war Schelsky bewusst, dass das aktuelle Weltbild in Westdeutschland von der alliierten Ordnungsmacht, allen voran von den Vereinigten Staaten vorgegeben war. Er bemühte sich deshalb, völkisch-partikularistische Demokratieideen mit der amerikanisch-englischen Vorstellung von Demokratie zu verschmelzen. Ein solches Zusammengehen von partikularistischen und universalistischen Ordnungsprinzipien findet sich bereits in seinem Habilitationsvortrag angelegt. Er musste lediglich das universalistisch-faschistische Weltbild gegen das der amerikanisch-englischen liberalen Demokratie ersetzen. Das innere Ordnungsprinzip der deutschen »Volksgemeinschaft« als deutsche Weltanschauung blieb für ihn aber weiterhin richtungsweisend.734 Die Vermutung liegt nahe, dass sich Schelsky diese Notizen auch für seine Abhandlung Das Freiheitswollen der Völker und die Idee des Planstaates gemacht hatte, die er für das von der ÜDA lancierte Preisausschreiben eingereicht hatte.735 Es war seine erste wissenschaftliche Arbeit nach dem Zweiten Weltkrieg, zugleich außerdem ein wichtiger Beitrag zu seiner Rechtssoziologie und Institutionentheorie. Letztere sollte er unter Einbeziehung der maßgebenden Werke amerikanischer, englischer, französischer und deutscher Sozialwissenschaftler, insbesondere der Arbeiten Malinowskis,736 in den nächsten Jahrzehnten ausbauen. Wie Ernst Troeltsch in der frühen Weimarer Republik für eine Kultursynthese angelsächsischer und deutscher Traditionslinien eingetreten war,737 arbeitete Schelsky nun an einer Übersetzung deutschvölkischer Gemeinschaftsvorstellungen in amerikanisch-englische Rechts- und Staatsprinzipien. In Das Freiheitswollen der Völker wandte sich Schelsky dem »abendländischen Freiheitsanspruch« zu. Der Freiheitswille »auf der ganzen Welt« bestand 733 Ebd. 734 Vgl. ULB Münster, N. Schelsky 24,004: Arnold Gehlen an Helmut Schelsky vom 01.10.1947. 735 Schelsky, Das Freiheitswollen der Völker, S.7-90. 736 Schelsky, Soziologie, S.11f. 737 Hübinger, Engagierte Beobachter, S.180.

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für ihn im »Streben nach demokratischer Gestaltung des öffentlichen Lebens«, das er bei den verschiedenen Völkern unterschiedlich ausgeprägt sah.738 Das »gemeinsame Hochziel demokratischer Zusammenarbeit sich frei wissender Menschen und Völker« sei dabei, die »Lebendigkeit der menschlichen Grundkräfte in jedem Volk« zu erkennen und »auf ihr die freiheitlichen Formen des öffentlichen Lebens aufzubauen«.739 Wohl kaum etwas habe »der Gestaltung der politischen Dinge in Deutschland so geschadet […] wie die aus einer denkschwachen Einheitsform völkischer Besinnung entstandene Angewohnheit, von einer westeuropäischen Demokratie schlechthin zu sprechen.«740 Das angelsächsische Freiheitsgefühl sei für Deutschland richtungsweisend, denn die Deutschen hätten »zu unserem Verderb in den letzten hundert Jahren mehr, als wir gemeinhin glauben, an der vom französischen Freiheitswollen ausgehenden Entwicklung teilgenommen«.741 Ähnlich wie Max Weber, der in seiner Freiburger Antrittsvorlesung 1895 die Machtansprüche des Deutschen Reiches zwar untermauert, jedoch in der britischen Weltökonomie ein Vorbild für Deutschland auf dem Weg zu nationaler Weltgeltung erblickt hatte,742 sah Schelsky in der Staatsorganisation Großbritanniens das Leitmuster für die sich nach 1945 konstituierende westdeutsche Demokratie. Der französische Freiheitsanspruch, versinnbildlicht in der Französischen Revolution, galt ihm dagegen als Kopfgeburt, als Grundsatz der Vernunft, »dessen sich die Leidenschaften bemächtigt« hätten. Er trage deshalb »einen zerstörerischen Zwiespalt in sich«, da hier die »Übermacht des Allgemeinen, des abgezogenen Gedankens« wirke.743 Gegen diesen falschen rationalistischen Vernunftglauben würde die Orientierung an der angelsächsischen »Volksherrschaft« die Deutschen »zu den bewährten Formen wesenseigener Selbstregierung« zurückführen.744 Mit dieser Deutung rückte Schelsky die französische Aufklärung und die Französische Revolution in die Nähe totalitärer Staatsideen. Ähnlich hatte dies auch das Denkkollektiv um Horkheimer in einem Projektantrag von 1941 getan, in dem es hieß: »National Socialism has more in common with the French Revolution than is generally assumed.«745 Die »staatsbürgerlichen Freiheiten des Briten der Gegenwart« würden in »Gesetzen und Richterentscheidungen« liegen. Sie hätten ein Rechtsgefühl begründet, das »eine unbedingte Zuversicht auf die Verläßlichkeit des eigenen Gewissens gegenüber jedem vorkommenden Tatbestand mit der Abneigung, sich auf allge738 739 740 741 742 743 744 745

Schelsky, Das Freiheitswollen der Völker, S.10. Ebd. Ebd. Ebd. Hübinger, Engagierte Beobachter, S.101. Schelsky, Das Freiheitswollen der Völker, S.20f. Ebd. Zitiert nach: Jacobs, The Frankfurt School, S.60.

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meine Ideen und grundsätzliche Rechtserklärungen zu verlassen, verbindet.«746 Jenes Gefühl sei durch »einen Willen zu unbedingter Zweckmäßigkeit und Sachlichkeit« charakterisiert.747 Schelsky begründete seine Vorstellungen eines westdeutschen demokratischen Rechtsstaats also nicht aus westlich-demokratischen Normen und Werten heraus. Vielmehr versuchte er, die Bedürfnisse der Deutschen mit dem angelsächsisch-pragmatischen sowie handlungs- und zweckorientierten Demokratieverständnis zusammenzubringen. Er wollte damit selbstverantwortliche Individuen erziehen, die für die westdeutsche Demokratie einstanden.748 Jene »Auffassung der persönlichen Freiheit, die es für recht und billig hält, jedem Manne die gleichen Chancen in der Bewältigung anstehender Aufgabe zu geben«, sollte für die westdeutsche »Aufbaugesellschaft« richtungsweisend sein.749 Eine demokratische Reeducation von oben, die nicht von der westdeutschen Bevölkerung verinnerlicht wurde, war aus Schelskys Sicht nicht für die Etablierung eines demokratisch-rechtsstaatlichen Bewusstseins geeignet.750 Den Westdeutschen könne nur dadurch plausibel vermittelt werden, dass Demokratie im Vergleich zum autoritären Führerstaat die bessere Variante sei, wenn der »Begriff der Demokratie […] durch die Forderung der Bewährung im praktischen Erfolg das Gewissen mit gleichsam heiligem Eifer an die Aufgaben der Wirklichkeit« binde.751 Angesichts der offensichtlichen Desillusionierung der Westdeutschen, die einerseits zu unterdrücktem Ressentiment, andererseits zu politischer Apathie führte, appellierte er an das zupackende Wesen des Individuums: »Diese Gesinnung des wagenden und gutwilligen Versuchens, der Glaube an die sittliche Berechtigung des Experiments[,] beherrscht auch die Stellung, die der Einzelne gegenüber den Maßnahmen der Gemeinschaft und des Staates einnimmt.«752 Die Bereitschaft zur Demokratisierung würde sich bei den Westdeutschen dann einstellen, wenn demokratische Strukturen das Glücksstreben der Bevölkerungsmehrheit besser befriedigten, als dies die NS-Diktatur getan habe. Hierbei bezog er sich auf die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776, in der »neben Leben und Freiheit das Streben nach Glück als unveräußerliches Menschenrecht verkündet wird«.753 746 747 748 749 750 751 752 753

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Schelsky, Das Freiheitswollen der Völker, S.13. Ebd. Ebd., S.13f. Ebd. Ebd., S.14f. Ebd., S.15. Ebd., S.16. Ebd., S.43.

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Der Staat sollte nicht mehr die Aufgabe der Lenkung von Politik haben, sondern die Freiheit des Individuums garantieren, denn »die Freiheit der Einzelperson [ist] die eigentlich zweckvollste Leistung des Planstaates.«754 Eine westdeutsche, die Grundrechte des Einzelnen garantierende Demokratie sei aber nur dann möglich, wenn »sie der Ausdruck einer tatsächlich bestehenden Mehrheit von freiheitsbewußten Menschen und freiheitlichen Lebensführungen ist«. Demnach müsse »in der Gesamtverfassung des öffentlichen Lebens das Ziel einer Begrenzung oder Beseitigung der Massenherrschaft erstrebt werden, soll der Nährboden aller Versuche der Zwangsherrschaft zerstört werden«.755 Fasse man die Grundrechte des Menschen als »sittliche Ordnung« auf, »so bedürfen sie der sittlichen Verkündigung und einer dauernden vom Gewissen demokratischer Menschen getragenen Verwirklichung im geltenden Recht.«756 Dass sich diese Situation auf dem europäischen Festland bisher noch nicht eingestellt hatte, lag für Schelsky an der hier dominanten Verbindung von Recht und Staatsgewalt. Im angelsächsischen Raum werde dagegen die ausgedehnte Selbstständigkeit des Rechts gegenüber der Staatsgewalt betont. Dadurch habe das Recht die Stellung des »überparteilich Dritten auch jeder Totalität der Volkssouveränität« gegenüber erlangt und garantiere so die staatsbürgerlichen Freiheiten. In Anlehnung an den englischen Rechtsstaat forderte Schelsky deshalb »die Unterordnung der Staatsgewalt unter das Recht«, denn nur so könne der »Rechtsstaat wirksam garantiert« werden.757 Das Politische sollte also zugunsten einer Eigengesetzlichkeit sozialer Funktionssysteme wie dem Recht soweit beschnitten werden, dass es nicht mehr als ideelle Orientierungsstruktur erscheinen konnte. In einem Vortrag vor der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Hamburg im Januar 1949 »Über die Stabilität von Institutionen, besonders Verfassungen« wandte sich Schelsky erneut einem rechtssoziologischen Thema zu.758 Der Vortrag befasste sich mit der strukturfunktionalistischen Theorie Malinowskis. Schelsky versuchte die »von dem Begriff des Machttriebes verdeckte Gesetzlichkeit, Hierarchie und Wechselwirkung des menschlichen Verhaltens« so zu erfassen, dass »ein gemeinsamer anthropologischer Untergrund sowohl der individuellen als auch der sozialen Handlungsweisen des Menschen und ihrer Verhältnisse zu

754 755 756 757 758

Ebd., S.82. Ebd., S.75. Ebd., S.87f. Ebd., S.69. Kempf, Wider die Wirklichkeitsverweigerung, S.72.

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den Gebilden der Kultur, in diesem Falle zu den sozialen Institutionen, freigelegt wird.«759 Im Kern ging es ihm um die Frage, wie die Stabilität von Institutionen rechtssoziologisch zu bestimmen sei. Institutionen hätten demnach die »lebendigen Bedürfnisse« der Menschen zu befriedigen, da sie sonst zerfielen.760 Dies könne durch Rechtslehre und Sozialwissenschaft »als unmittelbar praktische, angewandte ›Institutionenwissenschaft‹« erreicht werden.761 Im Ergebnis wies Schelsky Institutionen zweierlei Aufgaben zu: Sie hätten zum einen »bereits vorhandene Bedürfnisse zu befriedigen und diese normierend in Führung und Zucht zu nehmen«, zum anderen aber »den Wandel und die Neubildung von Bedürfnissen, die durch den Bestand jeder Institution hervorgerufen werden, selbst noch zu steuern bzw. sich ihnen formenschöpferisch anzupassen.«762 Nicht solche Verfassungen seien deshalb »die stabilsten, die eine Staats- und Verfassungsform am reinsten verkörpern oder einem bestimmten politischen Willen und Bedürfnis am konsequentesten entsprechen, sondern jene, die von diesen Gesichtspunkten aus als Mischsysteme bezeichnet werden müssen, wofür die britische Verfassung oder in der Vergangenheit die des venezianischen Staates die glänzendsten Beispiele sind.«763 Insofern seien die mit den »Mitteln der modernen Rechts- und Sozialwissenschaft« zu bewältigenden, wichtigsten »heute anstehenden Aufgaben der Staatslehre«, die »Moderata durant« wieder in das Bewusstsein der Bevölkerung zu heben.764 In diesem Denken offenbarte sich eine Schnittstelle, an der sich eine weitere Wissensebene abspaltete. Für Schelsky gaben der anthropologische Pessimismus sowie die Kultur- und Modernekritik Gehlens und Schmitts765 nach 1945 keine zufriedenstellenden Antworten auf die Frage, wie die Herrschaftsinstitutionen selbst inhaltlich und praktisch bestimmt werden sollten. Gehlen stand »den Demokratisierungsprozessen im Nachkriegsdeutschland und vor allem der Konzeption des Wohlfahrtsstaates bis zuletzt in einer unverständigen Fremdheit,

759 Helmut Schelsky, Über die Stabilität von Institutionen, besonders Verfassungen. Kulturanthropologische Gedanken zu einem rechtssoziologischen Thema [1949], in: ders., Auf der Suche nach Wirklichkeit, S.38-63, hier: S.41. 760 Ebd., S.52. 761 Ebd., S.55. 762 Ebd., S.58. 763 Ebd., S.60. 764 Ebd., S.61. 765 Zu Schmitt vgl. Mehring, Carl Schmitt, S.212.

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manchmal gar in offener Feindschaft gegenüber«, wie Wöhrle zeigt.766 Für Schelsky dagegen musste die Institutionenlehre praktiziert werden. Der Soziologe sollte Institutionen also nicht nur erfassen und rechtssoziologisch legitimieren, sondern sie mit Inhalten füllen. Seine Aufgabe sei, die zukünftige Funktionselite Westdeutschlands auszubilden und innerhalb der Institutionen demokratische Erziehungsarbeit zu leisten.767 6.2.3. Die Praxis der Institutionenlehre: Sozialwissenschaftliche demokratische Erziehungspolitik

Die dritte Wissensebene in Schelskys Denken definierte sich demokratischerziehungspolitisch. Demokratie ist dabei nicht mit jenem emanzipativ-autoritätskritischen Erziehungsideal zu verwechseln, mit dem Horkheimer, Pollock und Adorno aus den Vereinigten Staaten nach Frankfurt zurückgekehrt waren. Schelskys Begriff einer sozialen Demokratie beruhte vielmehr auf der Übersetzung der in der Zwischenkriegszeit entwickelten Idee einer deutschen »Volksgemeinschaft« in die amerikanisch-englische Vorstellung einer partizipativen Demokratie. Wie die Mitglieder des Denkkollektivs um Horkheimer praktizierte aber auch Schelsky sozialwissenschaftliche demokratische Erziehungspolitik, wenn er bei Gewerkschaftsveranstaltungen oder an Volkshochschulen sprach. Er stand jedoch gerade nicht in der Tradition der westlichen Aufklärer, sondern repräsentierte einen Typus von Wissenschaftler, der sich als Mitglied der »Intelligenz« verstand. In einem im Oktober 1949 in Hamburg gehaltenen Vortrag kritisierte Schelsky Propagandamittel, »mit denen die moderne industrielle und massenbestimmte Gesellschaft ihre politischen Ideen und Ideale verbreitet« und diese dadurch entwertete: »Wir haben schon einmal erlebt, wie mit einer wertvollen Idee, der der ›Volksgemeinschaft‹, durch ihre Propagierung und Verwendung als Mittel des politischen Kampfes und Zwanges viel Schaden angerichtet wurde.«768 Er stellte nationalsozialistische und demokratisch-liberale »Propagandamittel« auf eine Ebene. Die Reeducation erschien ihm als eine den NS-Propagandamethoden verwandte Technik der modernen Massengesellschaft. Das eigentliche Potenzial für eine genuin deutsche Demokratie sah Schelsky weiterhin in der Volksgemeinschaftsidee gegeben:

766 Wöhrle, Metamorphosen des Mängelwesens, S.198. 767 Wöhrle, Zur Aktualität von Helmut Schelsky, S.47-59; ders., Metamorphosen des Mängelwesens, S.209f., 217f. 768 ULB Münster, N. Schelsky 44,058: Werkmanuskript, Helmut Schelsky, Demokratie und Beruf. Vortrag vor der Deutschen Angestelltengewerkschaft, Hamburg, am 10.10.1949, Bl.1.

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»Wir müssen unser Urteil über das, was Demokratie als Staats- und Gesellschaftsform ist, nicht mehr nur aus Lautsprechern, Zeitungen, Flugzetteln und Wahlbroschüren beziehen, sondern wir müssen es stützen können auf Erfahrungen, die so gründlich unsere eigenen sind, dass uns nichts Gedrucktes darin so leicht irre machen kann.«769 Diese Rückbesinnung auf nationale Werte verband er mit Prinzipien der amerikanischen Reeducation-Politik. Wenn Demokratie bedeute, »Selbstregierung des Volkes, das politische Schicksal, die Regierungsmaßnahmen werden durch die Staatsbürger selbst bestimmt«,770 und wenn sich die Menschen in Bezug auf Ideale meist irrational verhielten, sollten demokratische Erfahrungen am besten im Kleinen, in Gruppen und Organisationen wie den Gewerkschaften gesammelt werden. Der beste Ort sei hierfür jedoch die Arbeitsstelle, denn soziale Kooperation und Gruppenbildung seien die entscheidenden Mechanismen der Demokratisierung.771 Letztlich wollte Schelsky retten, was es aus der Zeit vor 1945 seiner Meinung nach zu retten gab. Dabei war ihm sehr wohl bewusst, dass der NS-Staat ein fehlgeschlagener Behauptungsversuch gegen die westliche Moderne war.772 Troeltsch hatte bereits im Januar 1922 konstatiert, dass sich Europa mit dem Ende des Ersten Weltkrieges selbst entmachtet habe. Der Weltkrieg, so Troeltsch, habe »mit einem furchtbaren Ruck durch Ausschaltung Europas die Weltdimension eng zusammengerückt und ungeheuer erweitert zugleich. Der Weltfriede ist nur möglich als Weltherrschaft oder Weltpolizei eines einzelnen Staates, und dieser Staat kann nur Amerika sein, mit dem das stammverwandte England sich in die Aufgabe teilt.«773 1945 lag Europa ein zweites Mal in Trümmern – und für Schelsky stand fest, dass Europa und Deutschland nur unter der Vorherrschaft der Vereinigten Staaten und Großbritanniens noch lebensfähig sein und sich gegen die Übergriffe des ›sowjetrussischen Totalitarismus‹ behaupten könnten.

769 770 771 772 773

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Ebd., Bl.1. Ebd., Bl.2. Ebd., Bl.1, 8f., 11. Vgl. Herbert, Geschichte Deutschlands, S.693. Zitiert nach: Hübinger, Engagierte Beobachter, S.182.

7. Sozialwissenschaften und Demokratisierung: Empirische Sozialforschung, Orientierungswissen und Erziehungspolitik »Die Gewalt, die eine derart umfassende Zerstörung [in Europa  – F.L.] hervorbrachte«, so Keith Lowe, »ist von einigen Historikern mit Armageddon verglichen worden.«774 Mitten auf diesem wüsten Kontinent lag Deutschland. Die Alliierten hatten die 1943 beschlossene bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht und die Besetzung und Aufteilung Deutschlands in vier Besatzungszonen umgesetzt. Nach Ulrich Herbert gab es »[n]ie zuvor in der deutschen Geschichte der Neuzeit […] einen nachhaltigeren, tiefer greifenden Einschnitt«.775 Neben großen Teilen der Verkehrsinfrastruktur und der Industrie waren rund 3,6 Millionen Wohnungen von der britischen und amerikanischen Luftwaffe zerstört worden, also etwa ein Fünftel des gesamten Wohnraums des ehemaligen Deutschen Reiches.776 Den Zahlen des Statistisches Reichsamts zufolge waren in Hamburg sogar 53,3 Prozent und in Frankfurt am Main über 70 Prozent der Gebäude zerbombt. Noch im Mai 1946 verfügte in Frankfurt nur ein Fünftel der Bevölkerung über genügend Wohnraum. Etwa 400.000 Einwohner teilten ihre Wohnungen mit anderen Familien oder waren in andere Orte evakuiert.777 Insgesamt waren zwischen 18 und 20 Millionen Deutsche obdachlos.778 Hinzu kamen schätzungsweise 12,3 Millionen Flüchtlinge, die aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten nach Westen zogen. Von den ehemals 18 Millionen Wehrmachtsoldaten war mehr als ein Drittel tot oder vermisst. Über zehn Millionen 774 Keith Lowe, Der wilde Kontinent. Europa in den Jahren der Anarchie 1943-1950, aus dem Englischen übers. v. Stephan Gebauer und Thorsten Schmidt. Stuttgart 2014 [2012], S.23f. Vgl. Konrad H. Jarausch, Out of Ashes: A New History of Europe in the Twentieth Century. Princeton/Oxford 2015, S.400; Tony Judt, Postwar: A History of Europe since 1945. London 2010 [2005], S.13, 39f.; Kershaw, Achterbahn, S.15f. 775 Herbert, Geschichte Deutschlands, S.550. Siehe auch Richard Bessel, Germany 1945: From War to Peace. London u.a. 2009, S.385; Forner, German Intellectuals, S.18. 776 Sven Reichardt/Malte Zierenberg, Damals nach dem Krieg. Eine Geschichte Deutschlands 1945 bis 1949. München 2008, S.16-18. Die Zahl der Wohnungsverluste in den Westzonen belief sich auf etwa 2,25 Millionen Einheiten beziehungsweise 20 bis 30 Prozent des Gesamtbestandes. 777 Lowe, Der wilde Kontinent, S.25; Frolinde Balser, Aus Trümmern zu einem europäischen Zentrum. Geschichte der Stadt Frankfurt am Main 1945-1989 (Veröffentlichungen der Frankfurter Historischen Kommission, Bd.20). Sigmaringen 1995, S.9-21. Vgl. Werner Bendix, Die Hauptstadt des Wirtschaftswunders. Frankfurt am Main 1945-1956 (Studien zur Frankfurter Geschichte, Bd.49). Frankfurt am Main 2002, S.9. 778 Lowe, Der wilde Kontinent, S.26.

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Soldaten kamen teils bis 1956 in Kriegsgefangenschaft, ehe sie – so sie diese überlebten – ebenfalls heimkehrten. Zudem waren zwischen acht und zehn Millionen Menschen aus den Konzentrations-, Arbeits- und Vernichtungslagern befreit worden. Viele von ihnen hielten sich als »Displaced Persons« (DPs) zumindest zeitweise im besetzten Deutschland auf.779 Insgesamt lebten zu Beginn der Nachkriegszeit etwa 30 Millionen Deutsche und zehn Millionen Ausländer nicht an ihrem Heimatort, was mehr als die Hälfte der im Sommer 1945 in den vier Besatzungszonen lebenden etwa 75 Millionen Menschen ausmachte.780 Niemals zuvor in der deutschen Geschichte gab es so viele evakuierte, vertriebene, entwurzelte und gefangene Deutsche sowie Angehörige anderer Nationen.781 Es herrschte Knappheit an allem, besonders aber an Nahrungsmitteln, Kleidung und Wohnungen.782 Unter dieses Chaos mischten sich ehemalige NS-Funktionäre und NSDAPMitglieder, Angehörige von SA und SS bis hin zum Flakhelfer. Kurz nach dem Einmarsch der alliierten Truppen verschwanden die vorher äußerlich auf hierarchische Distinktion bedachten Nationalsozialisten. Plötzlich waren alle Deutschen wieder gleich, denn »[m]it einem Mal waren keine Parteiuniformen mehr zu sehen. Hitlerbilder verschwanden. Fahnen wurden verbrannt, Uniformen versteckt, Akten vernichtet, Orden vergraben«, so Herbert.783 Praktisch über Nacht gab es keine Nationalsozialisten mehr784  – und in der unmittelbaren Nachkriegszeit fragte auch kaum jemand nach der möglichen NS-Vergangenheit seiner Mitmenschen. Die meisten konzentrierten sich angesichts der Knappheit an Nahrungsmitteln auf das Überleben. »Die NS-Zeit war noch kaum vorüber, da schien sie schon weit entfernt«, wie Herbert resümiert.785 In Deutschland und in ganz Europa reihten sich nunmehr auch Menschen wieder in die sozialen Gemeinschaften ein, die einerseits vor 1945 Verbrechen begangen und National779 Herbert, Geschichte Deutschlands, S.551-552. Vgl. Kershaw, Achterbahn, S.206; Lowe, Der wilde Kontinent, S.48-55, 134-145, 163-187, 240-265, 287-308. Der Begriff »Displaced Persons« stammt von Eugene M. Kulischer und löste nach 1945 den Begriff »Staatenlose« ab. Kulischer hatte den Begriff im Rahmen seiner Arbeit für das OSS in den Vereinigten Staaten während des Zweiten Weltkrieges entwickelt. Siehe Später, Siegfried Kracauer, S.286. 780 Herbert, Geschichte Deutschlands, S.553. 781 Bessel, Germany 1945, S.247f. 782 Jarausch, Out of Ashes, S.402-404; Judt, Postwar, S.22-27. Für Frankfurt siehe Jutta Heibel, Vom Hungertuch zum Wohlstandsspeck. Die Ernährungslage in Frankfurt am Main 1939-1955 (Studien zur Frankfurter Geschichte, Bd.51). Frankfurt am Main 2002, S.101f. 783 Herbert, Geschichte Deutschlands, S.550. 784 Reichardt/Zierenberg, Damals nach dem Krieg, S.179. Vgl. Bessel, Germany 1945, S.140, 142, 204. 785 Herbert, Geschichte Deutschlands, S.557.

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sozialismus wie Faschismus unterstützt hatten. Hinzu kamen andererseits jene, die Opfer jener Schreckensherrschaft geworden waren. Ein ganzer Kontinent war physisch und psychisch versehrt.786 In der unmittelbaren Nachkriegszeit standen den westlichen Alliierten zwei Ziele vor Augen: die Herstellung von Recht und Ordnung sowie die Etablierung demokratischer Institutionen. Diese sollten durch die »vier großen D’s« erreicht werden: »demilitarization«, »denazification«, »decartellization« und »democratization«.787 Sie waren Ergebnis der Arbeit amerikanischer und nach 1933 auch von in die Vereinigten Staaten und nach Großbritannien emigrierten Sozialwissenschaftlern, insbesondere Soziologen und Politologen. Zu ihnen gehörten auch ehemalige und noch beschäftigte Mitarbeiter des IfS in New York, die für das OSS Berichte zur Nachkriegsordnung im besiegten Deutschland verfassten.788 Talcott Parsons entwickelte als Berater der Foreign Economic Administration (Enemy Branch) (FEA) das Modell des »controlled institutional change« zur Überwindung des Nationalsozialismus.789 Einen ersten Kurs der School for Military Government zur Instruktion von Beamten für die Verwaltung des bald besetzten Deutschlands hielten die Amerikaner bereits im April 1942 an der University of Virginia at Charlottesville ab. Bis 1944 folgten neun weitere Schulungskurse an anderen Universitäten.790 Unklar blieb jedoch zunächst, wie sich die vier »D’s«, allen voran die Entnazifizierung, möglichst effektiv umsetzen ließen. Sowohl der Historiker Marshall M. Knappen, der bis April 1946 als Offizier im Education und Religious Affairs Branch der amerikanischen Militärregierung arbeitete, als auch der 786 Lowe, Der wilde Kontinent, S.76, 323. 787 Hermann-Josef Rupieper, Peacemaking with Germany. Grundlinien amerikanischer Demokratisierungspolitik 1945-1954, in: Arnd Bauerkämper/Konrad H. Jarausch/Marcus M. Payk (Hrsg.), Demokratiewunder. Transatlantische Mittler und die kulturelle Öffnung Westdeutschlands 1945-1970. Göttingen 2005, S.41-56, hier: S.45; Reichardt/Zierenberg, Damals nach dem Krieg, S.63. 788 Raffaele Laudani, Introduction, in: ders. (Hrsg.), Secret Reports on Nazi Germany, S.1-23. 789 Uta Gerhardt, Soziologie der Stunde Null. Zur Gesellschaftskonzeption des amerikanischen Besatzungsregimes in Deutschaldn 1944-1945/1946. Frankfurt am Main 2005, S.18; dies., Talcott Parsons und die Re-Education-Politik der amerikanischen Besatzungsmacht, in: Schweizerische Zeitschrift für Soziologie 24 (1998) 1, S.121-151, hier: S.124-129, 138-144. Parsons war in Cambridge, Massachusetts, schon an der Gründung des Harvard Defence Committees beteiligt gewesen, einer Organisation, die zur Aufgabe hatte, die öffentliche Meinung in den Vereinigten Staaten gegen den Nationalsozialismus zu mobilisieren und Großbritannien im Kampf gegen das NS-Regime beizustehen. Vgl. Bannister, Principle, Politics, Profession, S.202; Füssl, Deutsch-amerikanischer Kulturaustausch, S.128f. 790 Bessel, Germany 1945, S.281f.

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Politologe John D. Montgomery konstatierten retrospektiv ein Scheitern: Die Demokratisierung sei künstlich und äußerlich geblieben, die Entnazifizierung nur unvollständig erfolgt.791 Angesichts der finanziellen Aufwendungen der Amerikaner für die Demokratisierung war die Bilanz ernüchternd. Immerhin stellten die Truman-Doktrin vom März 1947 und der Anfang April 1948 lancierte Marschall-Plan, das European Recovery Program (ERP), die Demokratisierungsbemühungen der westlichen Alliierten auf eine festere ideologische und finanzielle Basis. Die Vereinigten Staaten verpflichteten sich, »freien Völkern beizustehen, die sich der angestrebten Unterwerfung durch bewaffnete Minderheiten oder durch äußeren Druck widersetzen«. Sie förderten den Wiederaufbau Europas mit 12,4 Milliarden Dollar. Joseph Stalin reagierte auf diese Maßnahmen mit der Forcierung des Ausbaus des sowjetisch dominierten »Ostblocks«.792 Schon zu diesem Zeitpunkt stand den politischen Akteuren klar vor Augen, dass sich Europa »in zwei unversöhnliche politische Systeme« spaltete, »die einander feindlich gegenüberstanden und unvereinbare Ideologien vertraten«, wie Ian Kershaw schreibt.793 Nachkriegssituation und politische Zielsetzungen beeinflussten auch die Denkkollektive um Max Horkheimer in Frankfurt am Main und um Helmut Schelsky in Hamburg. Sie bestimmten maßgeblich das jeweilige Wirken der beteiligten Sozialwissenschaftler nach 1948/49 mit.

7.1 Frankfurt am Main Wie andernorts begann das Office of Military Government for Germany, US Zone (OMGUS), auch im Land Groß-Hessen,794 das General Dwight D. Eisenhower am 19. September 1945 proklamierte, mit der Entnazifizierung. Im Fokus standen Angehörige der Staatsbürokratie, vor allem Juristen, aber auch Lehrer und Professoren. Alle nationalsozialistisch gesinnten Individuen sollten aus den Bildungsanstalten des Landes entfernt werden.795 Entlassen wurden zunächst 75 Prozent der 791 Gerhardt, Soziologie der Stunde Null, S.25-29. 792 Gaddis, Der Kalte Krieg, S.46-56; Lowe, Der wilde Kontinent, S.383. Ausschlaggebendes Ereignis hierfür war der griechische Bürgerkrieg. Vgl. Lowe, Der wilde Kontinent, S.381-384. Siehe auch Herbert, Geschichte Deutschlands, S.591. 793 Kershaw, Achterbahn, S.72. 794 Dieter Emig/Alfred G. Frei, Office of Military Government for Hesse, in: Christoph Weisz (Hrsg.), OMGUS-Handbuch. Die amerikanische Militärregierung in Deutschland 1945-1949 (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Bd.35). München 1994, S.320-453, hier: S.320; Heibel, Vom Hungertuch zum Wohlstandsspeck, S.102. 795 Brian M. Puaca, Learning Democracy: Education Reform in West Germany, 19451965. New York/Oxford 2009, S.15; Armin Schuster, Die Entnazifizierung in

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Zivilbeamten, 34 Prozent der Angestellten und 15 Prozent der in öffentlichen Einrichtungen beschäftigten Arbeiter.796 Leiter der Section of Higher Education in der Education and Religious Affairs Division, die »die Hauptlast beim Wiederaufbau Deutschlands nach demokratischen Grundsätzen« trug,797 war der Soziologe Edward Y. Hartshorne jun. Bis Oktober 1945 verantwortete er die Hochschulpolitik im amerikanischen Sektor.798 Ihm unterstellt war ein Offizier, der mit den Professoren an der Frankfurter Universität in direktem Kontakt stand und mit den Vertretern des am 26. Oktober 1945 gebildeten Hessischen Ministeriums für Kultus und Unterricht799 zusammenarbeitete: Zunächst war dies James Hartshorne,800 ab 1947 dann der Soziologe Howard P. Becker und ab Ende 1948 Franz Montgomery.801 Zwar fehlte es noch an einer klaren Konzeption für die Hochschulpolitik. Gleichwohl betrachteten die amerikanischen Offiziere die rasche und gründliche Entnazifizierung der höheren Bildungsanstalten und der Schulen als grundlegend für eine erfolgreiche demokratische Neuerziehung der Deutschen und die Ausbildung zukünftiger Funktionseliten.802 Universitäten und Schulen stellten in

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Hessen 1945-1954. Vergangenheitspolitik in der Nachkriegszeit (Vorgeschichte und Geschichte des Parlamentarismus in Hessen, Bd.29). Wiesbaden 1999, S.1924, 38-44. Vgl. auch James F. Tent, Denazification of Higher Education in U.S. Occupied Germany, 1945-1949, in: Manfred Heinemann (Hrsg.), Hochschuloffiziere und Wiederaufbau des Hochschulwesens in Westdeutschland 1945-1952, Teil 2: Die US-Zone, unter Mitarbeit v. Ullrich Schneider (Geschichte von Bildung und Wissenschaft, Reihe B, Bd.2). Hildesheim 1990, S.9-15. Dominik Rigoll, Staatsschutz in Westdeutschland. Von der Entnazifizierung zur Extremistenabwehr (Beiträge zur Geschichte des 20. Jahrhunderts, Bd.13). Göttingen 2013, S.36-38. Zitiert nach: Emig/Frei, Office of Military Government for Hesse, S.368. Gerhardt, Die amerikanischen Militäroffiziere, S.30-54; Notker Hammerstein, Die Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, Bd.1: Von der Stiftungsuniversität zur staatlichen Hochschule, 1914-1950. Göttingen 2012 [1989], S.587. Emig/Frei, Office of Military Government for Hesse, S.368. Die Zahl der deutschen Mitarbeiter stieg dabei von sieben am 1. Juli 1946 auf 40 am 31. Dezember 1948 an. Ob zwischen Edward Y. Hartshorne jun. und James Hartshorne eine Verwandtschaft bestand, konnte nicht mit Sicherheit ermittelt werden. Es steht zu vermuten, dass sie Cousins waren. Siehe https://www.geni.com/people/Charles-Hartshorne/ 285597090350007299 (Stand: 28.05.2021). Emig/Frei, Office of Military Government for Hesse, S.371. Becker war von 1947 bis 1948 Chief der Higher Education Branch der E&CR-Division beim OMG for Hesse. Siehe Weyer, Westdeutsche Soziologie, S.360. Stefan Paulus, Vorbild USA? Amerikanisierung von Universität und Wissenschaft in Westdeutschland 1945-1976 (Studien zur Zeitgeschichte, Bd.81). München 2010, S.99f., 112.

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ihren Augen die wichtigsten Institutionen zur Vermittlung demokratischer Werte an junge Deutsche dar. Aus diesem Grund wurde die Universität Frankfurt bereits am 1. Februar 1946 wiedereröffnet.803 Unmittelbar nach der deutschen Kapitulation am 8. Mai 1945 und noch vor Beginn der Entnazifizierung am 5. März 1946 wurde in Frankfurt ein Ausschuss ins Leben gerufen, der den personellen Neuanfang an der Frankfurter Universität begleiteten sollte. Ihm gehörten der Mediziner Georg Hohmann und der Literaturwissenschaftler Ernst Beutler – ihm war wegen seiner jüdischen Ehefrau 1937 die Lehrbefugnis entzogen worden  – an.804 Unterstützt wurden sie von dem neu ernannten amtierenden Bürgermeister Wilhelm Hollbach. Das Gremium setzte selbstständig neue Dekane ein, so für die Philosophische Fakultät den Althistoriker Matthias Gelzer und für die WiSo-Fakultät Heinz Sauermann. Auf Vorschlag des Ausschusses bestimmte Hollbach weitere Personalprüfausschüsse für die einzelnen Fakultäten.805 Hohmann und Beutler war bewusst, dass die amerikanischen Hochschuloffiziere, mit denen sie zusammenarbeiteten,806 alle ehemaligen Mitglieder der NSDAP und anderer NSOrganisationen ihrer akademischen Ämter entheben würden. Da auch die Zeit drängte, verfügten sie pauschal, alle die, »die bis 1.5.1937 der NSDAP angehört hatten, zu entlassen.« Der Oberbürgermeister teilte »der Militärregierung d.h. Oberstleutnant Sheehan und der Education Section diese Entscheidung alsbald mit. Einige Tage danach kam der strikte Befehl der Militärregierung zur Entlassung aller bis 1.5.1937 in der NSDAP gewesenen Angehörigen der Universität.«807 Auch politisch aktive NSDAP-Mitglieder, die erst nach diesem Stichtag in die Partei eingetreten waren, wurden auf Veranlassung des Ausschusses von der

803 HHStAW, Abt. 260, BD. 8/19-2/10, Bl.3f.: Quarterly History, Adult Education, 01.01.1948-31.03.1948; HHStAW, Abt. 504, Nr.7618, Bl.11: Der Oberbürgermeister als Vorsitzender des Kuratoriums der Johann Wolfgang Goethe-Universität an den Herrn Minister für Kultus und Unterricht vom 01.02.1946. 804 Hammerstein, Die Johann Wolfgang Goethe-Universität, Bd.1, S.428-431. 805 HHStAW, Abt. 504, Nr.7618, Bl.12-21: Prof. Dr. Hohmann (unter Mitarbeit von Prof. Dr. Beutler): Geschichte der Vorbereitung zur Wiedereröffnung der Frankfurter Universität (1879/46), undatiert, hier: Bl.12. 806 James F. Tent, Mission on the Rhine: Reeducation and Denazification in AmericanOccupied Germany. Chicago/London 1982, S.50f. Vgl. Paulus, Vorbild USA?, S.102f. 807 HHStAW, Abt. 504, Nr.7618, Bl.12-21: Prof. Dr. Hohmann (unter Mitarbeit von Prof. Dr. Beutler): Geschichte der Vorbereitung zur Wiedereröffnung der Frankfurter Universität (1879/46). undatiert, hier: Bl. 14.

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Frankfurter Universität entfernt.808 Die ersten Schritte zur Entnazifizierung der Universität unternahmen also nicht die amerikanischen Besatzungsoffiziere, sondern diese Gruppe von Professoren und Lokalpolitikern.809 Der Ausschuss wies außerdem darauf hin, dass ihm für die Neugründung der Universität Frankfurt »die Soziologie als Lehre von den gesellschaftlichen Beziehungen, wie sie in der Schule von Max und Alfred Weber bearbeitet wurde«, besonders wichtig sei. Hohmann und Beutler benannten zudem einige der Professoren und Dozenten, die eine Wiedergutmachung erfahren sollten, darunter neben Beutler selbst Frank Maximilian Groedel, Albrecht Bethe, Hartmut Michel und der Pädagoge Wilhelm Sturmfels.810 Mittglieder des Denkkollektivs um Horkheimer fanden keine Erwähnung. Ab 1946 oblag es dem neuen Rektor der Universität Frankfurt Walter Hallstein, detaillierte Listen des Universitätspersonals zusammenzustellen. Diese wurden an die amerikanischen Besatzungsoffiziere weitergeleitet und hatten die Entlassung von 104 der insgesamt 398 Universitätsmitarbeiter zur Folge.811 Zu den Professoren, die nach der Wiedereröffnung der Universität weiter beschäftigt wurden, gehörten die Sozialwissenschaftler Ludwig Neundörfer, Direktor des 1943 gegründeten Soziographischen Instituts,812 und der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Heinz Sauermann.813 Beide hatten mit NS-Organisationen zusammengearbeitet, waren jedoch nicht der NSDAP, SA, SS oder dem NSDDozentenbund beigetreten. Zudem gehörten sie zu jener Gruppe sozialwissenschaftlicher Experten, die der »deutschen Schule der Soziologie« eher fern808 Ebd. 809 Vgl. Hammerstein, Die Johann Wolfgang Goethe-Universität, Bd.1, S.567-571. 810 HHStAW, Abt. 504, Nr.7618, Bl.12-21: Prof. Dr. Hohmann (unter Mitarbeit von Prof. Dr. Beutler): Geschichte der Vorbereitung zur Wiedereröffnung der Frankfurter Universität (1879/46), undatiert, hier: Bl.16-19. Zur Wiedergutmachungspolitik Westdeutschlands nach 1945 siehe José Brunner/Constantin Goschler/ Norbert Frei (Hrsg.), Die Globalisierung der Wiedergutmachung. Politik, Moral, Moralpolitik (Beiträge zur Geschichte des 20.  Jahrhunderts, Bd.12). Göttingen 2013; Constantin Goschler, Schuld und Schulden. Die Politik der Wiedergutmachung für NS-Verfolgte seit 1945 (Beiträge zur Geschichte des 20. Jahrhunderts, Bd.3). Göttingen 2005; Claudia Moisel, »weiter leben«. Zur Erfahrungsgeschichte der Wiedergutmachung seit 1945, in: Corine Defrance/Ulrich Pfeil (Hrsg.), Verständigung und Versöhnung nach dem »Zivilisationsbruch«? Deutschland in Europa nach 1945 (L’Allemagne dans les relations internationales/Deutschland in den internationalen Beziehungen, Bd.9). Bruxelles u.a. 2016, S.659-679. 811 Hammerstein, Die Johann Wolfgang Goethe-Universität, Bd.1, S.590. 812 Carsten Klingemann, Soziologie und Politik, S.26. 813 HHStAW, Abt. 260, BD. 8/45-1/46, Bl.3-17: Der Rektor der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main an The Liaison and Security Office, Stadtkreis Frankfurt am Main, vom 26.09.1946, hier: Bl.12-16.

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standen.814 Dies bedeutete nicht, dass sie ihre Forschungen nicht in den Dienst der angestrebten Optimierung der deutschen »Volksgemeinschaft« gestellt hätten  – im Gegenteil: Beide hatten Planungswissen für die Bereiche Agrarund Siedlungspolitik generiert, das der NS-Lebensraum- und Wirtschaftspolitik diente.815 Sauermann war 1937 als Extraordinarius an die Frankfurter Universität berufen worden. In seiner im gleichen Jahr publizierten Habilitationsschrift hatte er den deutschen Unternehmer als Archetyp konzipiert, der sein Expertenwissen zur Steigerung der ökonomischen Produktivität in den Dienst der neuen »wirtschaftlichen Lebensordnung« stellen sollte.816 Zudem hatte er für die RAG und die RfR gearbeitet.817 Neundörfer, der zunächst die städtische Volkshochschule Offenbach geleitet hatte, führte ab den frühen 1930er Jahren für das hessische Kultusministerium empirisch-soziografische Gemeindeuntersuchungen durch und kam dadurch mit NS-Raumplanungsstellen in Kontakt. Anschließend wurde er Planungsdezernent in Heidelberg, wo er am Neuaufbau der Stadt im Sinne einer »richtigen Volksgemeinschaft« mitarbeitete. Außerdem sollte er das ehemals von Alfred Weber geleitete Institut für Sozial- und Staatswissenschaften in ein Zentralinstitut für Volksforschung und Planung umbauen.818 Neundörfer übernahm 1943 einen Forschungsauftrag von der RAG, der die Gründung des Instituts zur Erforschung des deutschen Volksaufbaus, das spätere Soziographische Institut, nach sich zog. Er arbeitete zunächst für Richard Walther Darré und fungierte danach als Politikberater im Umfeld Heinrich Himmlers für dessen Arbeitsbereich als Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums.819 Diese Verzahnung von wissenschaftlicher Expertise und NS-Politik zeigte sich nicht zuletzt an der um 1937 intensivierten Zusammenarbeit von Frankfurter Sozialwissenschaftlern und der Deutschen Arbeitsfront (DAF) unter Robert Ley. 814 815 816 817

Vgl. dazu Klingemann, Soziologie und Politik, S.14. Ebd., S.112f., 120f. Heinz Sauermann, Die Gestalt des Unternehmers. Berlin 1937, S.1-18, 325-327, 332. Johann Wolfgang Goethe-Universität, Personal- und Vorlesungsverzeichnis für das Wintersemester 1944/45. Frankfurt am Main 1944, S.3. Vgl. Klingemann, Social-Scientific Experts – No Ideologues, S.146. Vgl. auch Jan-Otmar Hesse, Die permanente Bewährungsprobe. Heinz Sauermann in der Frankfurter Wirtschaftsund Sozialwissenschaftlichen Fakultät 1937-1945, in: Jörn Kobes/ders. (Hrsg.), Frankfurter Wissenschaftler zwischen 1933 und 1945 (Schriftenreihe des Frankfurter Universitätsarchivs, Bd.1). Göttingen 2008, S.157-181, hier: S.157. 818 Mai, »Neustrukturierung des deutschen Volkes«, S.78-82. Vgl. Klingemann, Social-Scientific Experts – No Ideologues, S.147f. 819 Klingemann, Soziologie und Politik, S.65, 121. Siehe auch ders., Sozialwissenschaften in Frankfurt am Main während der NS-Zeit, in: Steinert (Hrsg.), Die (mindestens) zwei Sozialwissenschaften, S.101-127, hier: S.118-124, 129. Vgl. ders., SocialScientific Experts – No Ideologues, S.145-149.

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1936 benannte sich die von Heinz Marr gegründete Gesellschaft für Werkspolitik in Gesellschaft für Sozialwissenschaft (GfS) um. Sie vermittelte zwischen den Wissenschaftlern der Universität Frankfurt und der DAF, um die Anwendungsorientierung sozialwissenschaftlicher Wissensgenerierung für die NS-Bevölkerungspolitik zu stärken. Mit der Einstellung eines neuen Geschäftsführers erlebte die GfS einen Aufschwung.820 Dies hatte 1940 die Neustrukturierung der WiSo-Fakultät zur Folge, in der die Sozialwissenschaften fortan enger an die Sozialpolitik und Administration im Dienst der neuen »Volksordnung« gebunden wurden.821 Sauermann und Neundörfer berieten bereits vor der Wiedereröffnung der Frankfurter Universität OMGUS-Offiziere im Umgang mit deutschen Professoren.822 Neundörfer spielte dabei seine Erfahrungen mit amerikanischen Institutionen aus, war doch sein Soziographisches Institut maßgeblich mit Geldern der Rockefeller Foundation finanziert worden. Bei dieser philanthropischen Stiftung, so Christian Fleck, konnten selbst »Nazi-Wissenschaftler bis knapp vor Beginn des Zweiten Weltkrieges mir geringer Tarnung Gelder loseisen«.823 Dass das Institut noch 1943 Gelder von der Rockefeller Foundation erhielt, beruhte auf der Hoffnung der amerikanischen Philanthropen, dass das dort generierte sozialempirische Wissen »the latent intention of promoting democracy« implementiere.824 Außerdem verfügte Neundörfer als Soziograf über exklusive Daten zur Sozialstruktur Westdeutschlands im Allgemeinen und der Region Frankfurt im Speziellen. Zudem unterhielt er gute Kontakte zu staatlichen Planungsstellen.825 Sauermanns und Neundörfers Expertisen, insbesondere ihr ökonomisches sowie ihr agrar- und siedlungssoziologisches Wissen, waren entscheidend für die von den amerikanischen Militäroffizieren angestrebte Neuordnung 820 UAF, Abt. 1, Nr.211, Bl.36: Satzung der Gesellschaft für Sozialwissenschaft e.V . Frankfurt am Main, Universität (Mertonstrasse 17-19, Raum 166-170), III. Stock, von 1937. Siehe auch Klingemann, Sozialwissenschaften in Frankfurt am Main, S.108-114. 821 UAF, Abt. 1, Nr.211, Bl.77-81: Gedanken über einen Wiederaufbau der sozialwissenschaftlichen Forschung und Lehre an der Johann Wolfgang Goethe-Universität vom Juli 1940, hier: Bl.78. Siehe auch Klingemann, Social-Scientific Experts – No Ideologues, S.131. 822 Hesse, Wirtschaft als Wissenschaft, S.170. 823 Fleck, Etablierung in der Fremde, S.85f. Diese Förderpolitik war auch deshalb problematisch, weil die Rockefeller Foundation nach 1933 auf der einen Seite vom NS-Regime entlassene Wissenschaftler unterstützte, auf der anderen Seite weiterhin Fördermittel an deutsche Wissenschaftsinstitutionen vergab, die entweder bereits »gleichgeschaltet« waren oder sich auf dem besten Weg dahin befanden. Vgl. ebd., S.177. 824 Zitiert nach: Klingemann, Soziologie und Politik, S.26. 825 Klingemann, Sozialwissenschaften in Frankfurt am Main, S.124.

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der deutschen Gesellschaft.826 Auch der Soziologe Everett C. Hughes von der University of Chicago, der 1948/49 Deutschland bereiste, unterstützte Neundörfers Institut. Seiner Meinung nach seien nur autonome Forschungsinstitutionen wie dieses in der Lage, die stark ausgeprägte und autoritäre Hierarchie der deutschen Ordinarienuniversität aufzubrechen und dadurch zur Demokratisierung der Universitäten beizutragen.827 Die Zusammenarbeit zwischen deutschen Sozialwissenschaftlern und amerikanischen Besatzungsoffizieren erleichterte, dass Edward Y. Hartshorne jun. selbst ein sozialwissenschaftlicher Experte in der Analyse des NS-Staats und vor allem der deutschen Hochschulen war.828 Der seit 1941 als Offizier im American Counter Intelligence Corpse operierende Soziologe von der Yale University hatte in Harvard bei Parsons und Pitirim Sorokin studiert. Dass Sozialwissenschaftler als Politikberater tätig waren, galt ihm als selbstverständlich.829 Auch sein Nachfolger Howard P. Becker war Soziologe und an der University of Wisconsin-Madison tätig. Während seines Studiums besuchte er als Austauschstudent 1920 Lehrveranstaltungen bei Max Weber, Max Scheler und Leopold von Wiese. Er sammelte so Erfahrungen mit deutscher Kultur und Wissenschaft, übersetzte außerdem die Schriften von Wieses ins Englische.830 Sauermann und Neundörfer fiel es leicht, die Amerikaner davon zu überzeugen, dass die Frankfurter Sozialwissenschaftler schon lange auf die Befreiung durch alliierte Truppen gewartet hätten. Nach Jahren der Unterdrückung, so der Tenor, könne man nun endlich die Forschungen fortführen. Robert J. Havighurst von der Rockefeller Foundation, der 1947 und 1948 durch Deutschland reiste, bestätigte diese Sichtweise. Die Soziologie, die vor 1933 in Frankfurt, Köln, Leipzig und Berlin prominent vertreten gewesen sei, hatte in seinen Augen während des NS-Regi826 Gerhardt, Die amerikanischen Militäroffiziere, S.35; Klingemann, Soziologie und Politik, S.23f. Siehe Ludwig Neundörfer, Auflockerung von Arbeits- und Wohnstätten. Frankfurt am Main 1947. 827 Hesse, Wirtschaft als Wissenschaft, S.149. 828 Vgl. Edward Y. Hartshorne, The German Universities and National Socialism. London 1937. Bei dieser Studie hatte ihm Sidney B. Fay zur Seite gestanden. Siehe Fleck, Etablierung in der Fremde, S.95; Paulus, Vorbild USA?, S.105; Wolbring, Trümmerfeld der bürgerlichen Welt, S.224f. 829 Rehberg, Vom soziologischen Neugründungs-Pragmatismus, S.17. 830 UBA Ffm, Na 1, 26, Bl.299: Fritz Karsen an Max Horkheimer vom 13.02.1948. Siehe auch o.V ., News and Announcements, S.743f.; Rehberg, Vom soziologischen Neugründungs-Pragmatismus, S.17. Von Wiese und Becker rezipierten sich gegenseitig. Von Wiese hatte in den frühen 1930er Jahren einen längeren Aufenthalt an der University of Wisconsin-Madison bestritten. Dann war er Gastprofessor an der Harvard University und machte nach dem Zweiten Weltkrieg Beckers Werk in Westdeutschland bekannt. Er war auch ein guter Bekannter Pitirim Sorokins in Harvard. Siehe Weyer, Westdeutsche Soziologie, S.358-361.

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mes »more than any other individual discipline« gelitten.831 Auch Harry Krould, Chef der European Affairs Division der Library of Congress, diagnostizierte 1950, die Sozialwissenschaften hätten »unter dem Nationalsozialismus, dem Krieg und den Schwierigkeiten der Nachkriegszeit noch mehr gelitten als andere Gebiete des geistigen Lebens.«832 Diese Sichtweise untermauerte Heinz Maus, der 1951 Horkheimers erster Assistent werden sollte und bereits vor der Rückkehr des IfS nach Frankfurt mit diesem Kontakt aufgenommen hatte.833 In seinen Skizzen zu einem Diskussionsbeitrag für den 8. Soziologentag in Frankfurt hielt er 1948 fest: »Die Arbeit der Soziologie hat in Deutschland über ein Jahrzehnt ruhen müssen.«834 Exakt so formulierte es auch Max Horkheimer in seinem Bericht zur Lage der Sozialwissenschaften in Deutschland, den er 1952 für die Library of Congress in Washington, D.C., als Foreign Consultant anfertigte:835 »[N]o other field suffered so much through National Socialism as sociology«.836 Bereits in einem 1951 erschienenen Artikel über »Soziologie an der Universität« in der Frankfurter Studentenzeitung schrieb er, dass die Soziologie »während mehr als einem Jahrzehnt in ihrer Entfaltung gehemmt, ja verfemt« gewesen sei. »Die Einsicht in Formen und Dynamik der Vergesellschaftung erschien einem Regime bedenklich, das, um jeder Frage nach der eigenen Rechtfertigung vor den Menschen zu entgehen, starre und unbefragte Klischees an Stelle des lebendigen Prozesses der Erkenntnis setzte.«837

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Zitiert nach: Fleck, Transatlantische Bereicherungen, S.434f. Zitiert nach: Demirović, Die Hüter der Gesellschaft, S.48. Jäger, Adorno, S.207. Heinz Maus, Die gegenwärtigen Aufgaben der Soziologie, Abschnitt: Hauptaufgaben der Soziologie I , S.385-396, hier: S.385. Zitiert nach: Oliver Römer, Heinz Maus  – »Die gegenwärtigen Aufgaben der Soziologie«. Dokumente aus dem wissenschaftlichen Nachlass (1945-1951), in: Endreß/Lichtblau/Moebius (Hrsg.), Zyklos 1, S.383-397. 835 Archiv IfS, Ordner: Briefe re: Library of Congress, 1951, K-Z: Max Horkheimer an Gerhard Mackenroth, Christian-Albrecht-Universität Kiel, vom 27.07.1951. 836 Zitiert nach: Demirović, Die Hüter der Gesellschaft, S.48. Siehe Survey of the Social Sciences in Western Germany: A Report on Recent Developments by Max Horkheimer, Foreign Consultant to the Library on Congress Washington. Washington, D.C. 1952. Am 1. Oktober 1949 war Dolf Sternberger für ein Jahr Foreign Consultant der Library of Congress für das Gebiet der Sozialwissenschaften geworden und hatte schon 1950 einen solchen Bericht zur Lage der Sozialwissenschaften in der Bundesrepublik angefertigt. Vgl. Demirović, Die Hüter der Gesellschaft, S.54. 837 Max Horkheimer, Soziologie an der Universität [1951], in: ders., Vorträge und Aufzeichnungen 1949-1973. 4. Soziologisches, 5. Universität und Studium, hrsg. v.

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Bei dieser Einschätzung blieb er auch 1953. In einem Brief an den damaligen Rektor der Universität Hamburg Bruno Snell äußerte er, dass sich insbesondere die Soziologie in Westdeutschland in einem »Curriculus vitiosus« befinde: »Es ist kein Nachwuchs da, weil die Wissenschaft so lange nicht gepflegt worden ist, und jetzt kann sie nicht gepflegt werden, weil kein Nachwuchs da ist. Das soll uns aber nicht abschrecken; wir versuchen, was möglich ist.«838 Für eine Anstellung an der Universität Frankfurt bedurfte es gegenüber der amerikanischen Militärregierung einer Einstufung als »entlastet«, »unbelastet« oder »entnazifiziert«. »Hauptschuldige«, »Belastete«, »Minderbelastete« und selbst »Mitläufer« verloren dagegen ihre Anstellung.839 Bereits im Januar 1946 hatte Oberbürgermeister Walter Kolb gegenüber dem hessischen Minister für Kultus und Unterricht geklagt, dass der WiSo-Fakultät an der Universität Frankfurt nur noch vier Professoren zur Verfügung stünden. Doch mit Ausnahme Sauermanns und Neundörfers seien nun auch noch die beiden anderen Professoren als ehemalige NSDAP-Mitglieder zu entlassen. Damit sei die Fakultät stillgelegt.840 Der Allgemeine Studentenausschuss (AStA) unterstützte Kolbs Beschwerden mit mehreren Memoranden an den Kultusminister und forderte eine Beschleunigung des Ablaufs der Spruchkammerverfahren. Darüber hinaus kritisierte er, dass auch »Mitläufer« ihre Anstellung an der Universität verloren.841 In der Tat stellte der Mangel an universitärem Personal ein grundsätzliches Problem in der US-Zone dar.842 Es erwies sich als schwierig, in kurzer Zeit unbelastete Personen zu finden. Die von den Alliierten aufgestellten Listen derjenigen deutschen Funktionsträger, die sich während des NS-Regimes nicht

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Gunzelin Schmid Noerr (Gesammelte Schriften, Bd.8). Frankfurt am Main 1985, S.378-380, hier: S.378. StAHH, 364-13: Inst f. Sowi u. Gesch 5: Errichtung des Ordinariats für Soziologie, Lehrstuhlinhaber Proff. Walther, Schelsky, und Kluth, 1934-1962: Bd.2: Max Horkheimer, Der Rektor der Goethe-Universität Frankfurt, an den Rektor der Universität Hamburg, Prof. Dr. B. Snell, vom 02.02.1953. Zu den Spruchkammern und der Rehabilitierungspolitik der westdeutschen Regierung in der amerikanischen Besatzungszone vgl. Lutz Niethammer, Die Mitläuferfabrik. Die Entnazifizierung am Beispiel Bayerns. Berlin/Bonn 1982 [1972], S.236240, 272-279, 617-666. Vgl. auch Reichardt/Zierenberg, Damals nach dem Krieg, S.206. HHStAW, Abt. 504, Nr.7618, Bl.10: Der Oberbürgermeister an den Herrn Minister für Kultus und Unterricht vom 03.01.1946. UBA Ffm, Na 1, Nr.823, XIII 1a: Prof. Achinger: Manuskript: Heribert Adam, Studentische Selbstverwaltung und Hochschule, vom 15.02.1963, Bl.51, S.295f. Franz L. Neumann, Die Umerziehung der Deutschen und das Dilemma des Wiederaufbaus [1947], in: ders., Wirtschaft, Staat, Demokratie – Gesammelte Aufsätze 1930-1954, hrsg. v. Alfons Söllner. Frankfurt am Main 1978, S.290-308, hier: S.297. So etwa an der Universität Heidelberg, an der 153 von 272 Professoren ihre Anstellung verloren.

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kompromittiert hatten, waren ausgesprochen kurz.843 Entsprechend hielten die Klagen des Rektors, des Kuratoriums und von Frankfurter Lokalpolitikern über die Zustände an der Universität an.844 Zudem stiegen mit der Wiedereröffnung der Universität im Februar 1946 die Studierendenzahlen von Semester zu Semester an, was besonders die WiSo-Fakultät betraf.845 Damit standen die amerikanischen Militäroffiziere vor einem Dilemma: Zum einen war es ihre Aufgabe, nationalsozialistisch kompromittierte Professoren zu entlarven und ihres Postens zu entheben. Zum anderen mussten sie Personal finden, das die Fortführung von Forschung und Lehre an der Frankfurter Universität gewährleistete.846 Vor allem die Entfernung der als »Mitläufer« eingestuften Professoren – die anderen, höheren Belastungskategorien fielen für die deutsche Professorenschaft kaum ins Gewicht – bedeutete eine faktische Funktionsunfähigkeit der Universität.847 Den Offizieren des OMGUS wurde bald klar, dass beide Ziele nicht ohne Einschränkungen zu erreichen waren. 1947 setzten sie die Bedingungen für eine universitäre Anstellung im amerikanischen Sektor herab. »Mitläufer« wurden nun im Schnelldurchgang »entnazifiziert«. Sie konnten bald wieder an den Universitäten forschen und lehren.848 Die Amerikaner interessierte vor allem die Funktionstüchtigkeit der Bildungs- und Erziehungsinstitutionen im nachkriegszeitlichen Westdeutschland, die auch die 843 Strote, Lions and Lambs, S.167. 844 HHStAW, Abt. 504, Nr.1075a, Bl.81: Der Rektor der Universität Frankfurt an den Hessischen Minister für Kultus und Unterricht vom 11.11.1947. 845 Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle, S.415f. Die WiSo-Fakultät registrierte im Wintersemester 1951/52 1.436 Studierende. Im Wintersemester 1952/53 waren es bereits 1.895. Siehe UAF, Abt. 1, Nr.76, Bl.53-67: Die Wiederherstellung von Kriegsschäden der Stadt- und Universitätsbibliothek  – ein Fünfjahresplan, 1953, Bl.58: Anhang 2. 846 Das galt für die amerikanische und die anderen Besatzungszonen insgesamt. Das komplizierte System der Lebensmittelrationierung, der Bezugsscheine, der Wohnraumzuteilung und der Bewirtschaftung knapper Güter, die Bewältigung des Flüchtlings- und Vertriebenenproblems sowie die Eingliederung der Soldaten in die Wirtschaft war ohne die Mithilfe der deutschen unteren und mittleren Beamtenschaft nicht möglich. Vgl. Reichardt/Zierenberg, Damals nach dem Krieg, S.202. Die Amerikaner und die Briten hatten bereits Ende 1945 damit begonnen, ihren zunächst harten Kurs gegen die Deutschen zu lockern. Vgl. Bessel, Germany 1945, S.197. 847 Dies galt für die Verwaltung generell. Siehe dazu Schuster, Die Entnazifizierung in Hessen, S.20. 848 HHStAW, Abt. 260, BD. 8/45-1/46, Bl.25-50: Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main: Namensliste mit Spruchkammerurteil, 1948: die Mehrzahl der Professoren waren eingestuft als »nichtbetroffen«, »entlastet« oder »Mitläufer«. Vgl. Müller, Contesting Democracy, S.129. Lutz Niethammer spricht zu Recht von den Spruchkammerverfahren als »Mitläuferfabriken«. Siehe Niethammer, Die Mitläuferfabrik. Siehe auch Bessel, Germany 1945, S.198.

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Stabilität der sich konstituierenden Zivilregierung mitgarantieren sollte. Die mögliche NS-Vergangenheit deutscher Professoren und Privatdozenten trat angesichts dessen bald in den Hintergrund.849 Lucius D. Clay, von 1947 bis 1949 Militärgouverneur der amerikanischen Besatzungszone, erklärte am 5. Mai 1946 schließlich, dass die Verantwortlichkeit für die Entnazifizierung in deutsche Hände übergehen sollte. Nach dem »Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus« vom 5.  März 1946, mit der die Entnazifizierung der Deutschen durch die Amerikaner begonnen hatte, sollten die Deutschen also mittels eigener Erfahrung demokratisches Denken und Handeln erlernen.850 Von diesem Zeitpunkt an waren die Spruchkammerverfahren das wichtigste Instrument für die Identifizierung von nationalsozialistisch belasteten Professoren. Die amerikanischen Offiziere an der Frankfurter Universität waren nur noch als Berater und Überwacher des Entnazifizierungsprozesses tätig. Die Spruchkammern wiederum entschieden oft zugunsten der Angeklagten.851 Die Regierung unter Konrad Adenauer forcierte diese Praxis nach der Gründung der Bundesrepublik 1949 weiter. Das neue Kabinett um Adenauer beriet am 26. September 1949 erstmals über eine massive Ausdehnung der Amnestie. Es einigte sich nach Verhandlungen mit den Länderregierungen auf ein Straffreiheitsgesetz, das als Entwurf der Alliierten Hohen Kommission am 20. Dezember vorgelegt und mit geringfügigen Änderungen am 31. Dezember verkündet wurde.852 Die Bundesregierung arbeitete also an einer raschen Abwicklung der Entnazifizierung. Die juristische Verfolgung von NS-Verbrechern war dadurch praktisch zum Stillstand gekommen.853 Die um 1950 verabschiedeten Empfehlungen der Christlich Demokratischen Union (CDU) und der SPD lauteten dahingehend, für den 1. Januar 1951 die Verfahren gegen die »Minderbelasteten«, »Mitläufer« und »Entlasteten« einzustellen. Ihren vorläufigen Abschluss fand diese Vergangenheitspolitik schließlich in der Verabschiedung des Artikels 131 Grundgesetz, der am 1. April 1951 in Kraft trat. Er ermöglichte es zuvor entlassenen Beamten und Berufssoldaten, wieder ohne Einschränkung eine Anstellung im öffentlichen Dienst aufnehmen zu können. Selbst für ehemalige Beamte der Gestapo konnten Ausnahmen gemacht werden.854 Allerdings wirkte sich die 849 Siehe Rupieper, Peacemaking with Germany, S.44f. Vgl. Niethammer, Die Mitläuferfabrik, S.60. 850 Rigoll, Staatsschutz in Westdeutschland, S.38; Rupieper, Peacemaking with Germany, S.45-49. Vgl. auch Schuster, Die Entnazifizierung in Hessen, S.58-82, 93-108. 851 Herbert, Geschichte Deutschlands, S.570. 852 Frei, Vergangenheitspolitik, S.30-46; Reichardt/Zierenberg, Damals nach dem Krieg, S.216. 853 Herbert, Geschichte Deutschlands: S.665; Jeffrey Herf, Divided Memory: The Nazi Past in the Two Germanys. Cambridge, MA/London 1997, S.291-300; Schuster, Die Entnazifizierung in Hessen, S.112-184. 854 Frei, Vergangenheitspolitik, S.61, 69-81; Kershaw, Achterbahn, S.104.

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Wiederanstellung ehemaliger Parteigenossen – an der Universität Frankfurt etwa des ehemals überzeugten Nationalsozialisten und Ökonomen Fritz Schmidt855 – trotz des Wiedergutmachungsgesetzes vom September 1945 und zweier weiterer Erlasse aus dem Folgejahr856 zu Lasten der Verfolgten des NS-Regimes aus. »Indem der Gesetzgeber für den Bereich des öffentlichen Dienstes die große Zahl der Mitläufer und die vergleichsweise kleine Gruppe der Verfolgten rechtlich im Wesentlichen gleich behandelte«, so Norbert Frei, »schrieb er die Möglichkeit der faktischen Benachteiligung der Minderheit fort.«857 Emigrierte Sozialwissenschaftler wie der ehemalige IfS-Mitarbeiter Franz L. Neumann, der 1946 Deutschland besuchte, beobachteten diese Entwicklung äußerst kritisch. Mit der Abtretung der Entnazifizierung an deutsche Behörden hatten sich die Amerikaner Neumann zufolge der Möglichkeit beraubt, das in seinen Augen reaktionäre deutsche Universitätssystem grundlegend zu verändern. Stattdessen würden nun ehemalige Nationalsozialisten die deutschen Hochschulen infiltrieren, sodass sich an der Situation von vor 1945 nicht viel ändere.858 Bezogen auf die deutsche Staatsbürokratie insgesamt kamen Neumann und seine Mitarbeiter im Intelligence Research des amerikanischen State Department (OIR) im April 1948 zu dem Schluss: »Die Entnazifizierung hat, verglichen mit der Nazibeamtenschaft, keine wesentlichen Veränderungen in der Zusammensetzung der Bürokratie gebracht, außer daß die nazistischen Amtsinhaber aus den höchsten Schlüsselpositionen entfernt worden sind.«859 Im akademischen Feld sei dies unter anderem auf die von den deutschen Universitäten vehement wie erfolgreich verteidigte Autonomie und Selbstverwaltung

855 Boll, Max Horkheimers zweite Karriere, S.353. Vgl. Forner, German Intellectuals, S.293. 856 Anikó Szabó, Vertreibung, Rückkehr, Wiedergutmachung. Göttinger Hochschullehrer im Schatten des Nationalsozialismus. Mit einer biographischen Dokumentation der entlassenen und verfolgten Hochschullehrer: Universität Göttingen – TH Braunschweig – TH Hannover – Tierärztliche Hochschule Hannover (Veröffentlichungen des Arbeitskreises Geschichte des Landes Niedersachsen (nach 1945), Bd.15). Göttingen 2000, S.85f. 857 Frei, Vergangenheitspolitik, S.85. 858 Neumann, Die Umerziehung der Deutschen, S.295-297. 859 Intelligence Research des State Department (OIR): Office of Intelligence Research, Report Nr.4626, 15.04.1948, Dokument III.2: Der gegenwärtige Stand der Entnazifizierung in Westdeutschland und Berlin, in: Söllner (Hrsg.), Zur Archäologie der Demokratie in Deutschland, Bd.2, S.217-249, hier: S. 240.

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zurückzuführen.860 Ähnlich beurteilte das auch der Publizist, Soziologe und Politikwissenschaftler Eugen Kogon, der nach mehreren Verhaftungen durch die Gestapo von 1939 bis zum Kriegsende im Konzentrationslager Buchenwald festgehalten wurde und anschließend als Berater der Psychological Warfare Division der US-Armee tätig war. Im Januar 1948 hielt er fest, dass die Entnazifizierung derzeit ein Rückzugsgefecht sei, bei dem es lediglich um die Wahrung des eigenen Gesichts gehen würde.861 In der westdeutschen Gesellschaft war dieser Sachverhalt durchaus bekannt. Auch Horkheimer, Pollock und Adorno waren darüber im Bild.862 Es verwundert deshalb nicht, dass Emigranten wie Horkheimer und seine Mitstreiter für die Frankfurter Universitätsbehörden nach der Wiedereröffnung zunächst keine Priorität hatten. Es war schließlich Felix Weil, der bei der WiSo-Fakultät erstaunt nachfragte, weshalb das IfS bisher noch keine Aufforderung zur Rückkehr nach Frankfurt erhalten habe. Erst daraufhin reagierten Wilhelm Gerloff und der Vorsitzende des Universitätskuratoriums Paul Klingelhöfer. Beide hatten nach 1933 die Distanzierung der Universität vom IfS unterstützt.863 Nach Monika Boll habe Gerloff Klingelhöfer die Rückkehr des IfS nach Frankfurt schmackhaft gemacht, »indem er auf die ›großen Mittel‹ verwies, über die das Institut angeblich verfüge.«864 Danach gingen parallel Einladungsschreiben von Sauermann, Klingelhöfer und Universitätsrektor Hallstein an Weil und Pollock in New York.865 Horkheimer wartete zunächst ab. Auf einer ersten Reise ins nachkriegszeitliche Westdeutschland inspizierte er im Mai und Juni 1948 die Lage in Frankfurt. Er traf Professoren und Mitglieder des Kuratoriums, sprach mit Studierenden wie Lokalpolitikern und saß mit Vertretern des hessischen Kultusministeriums zusammen. Seiner Frau Maidon berichtete er über erste Begegnungen: Es sei »genau so, wie wir es uns dachten, dass eigentlich kaum etwas Neues zu sagen ist. […] [D]ie Jugend wartet auf den nächsten, frischfröhlichen Krieg. Die Professoren und anderen Professionellen sind alle, samt und sonders, höchst gesuchte Kräfte.«866 860 Vgl. Intelligence Research des State Department (OIR): Office of Intelligence Research, Report Nr.4237, 03.06.1947, Dokument III.1: Der Fortschritt der Umerziehung in Deutschland, in: Söllner (Hrsg.), Zur Archäologie der Demokratie in Deutschland, Bd.2, S.177-216, hier: S.178f., 183f. 861 Ebd., S.217, Fußnote 1. 862 Boll, Max Horkheimers zweite Karriere, S.352f. 863 Vgl. Später, Siegfried Kracauer, S.349. 864 Boll, Max Horkheimers zweite Karriere, S.346. 865 Ebd., S.345-347; Heufelder, Der argentinische Krösus, S.164. 866 Zitiert nach: Monica Kingreen, Max Horkheimers »Erkundungsreisen« an die Universität Frankfurt 1948 und 1949, in: Boll/Gross (Hrsg.), Die Frankfurter Schule und Frankfurt, S.30-39, hier: S.30.

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Er selbst sei von Hallstein und den Dekanen der WiSo- und der Philosophischen Fakultät, Sauermann und Julius Schwietering, sowie anderen Leuten »süß, aalglatt und verlogen, ehrenvoll begrüßt« worden. »Sie wissen noch nicht genau, sollen sie in mir einen relativ einflussreichen Amerikareisenden oder den Bruder ihrer Opfer sehen, dessen Gedanke die Erinnerung ist.« Seiner Einschätzung nach würden sich die Professoren wohl eher für Letzteres entscheiden.867 Trotz starken Misstrauens kehrten Horkheimer, Pollock und Adorno mit ihren Ehefrauen nach Frankfurt zurück. Sie setzten ihre Laufbahnen in Deutschland fort und zwar – retrospektiv betrachtet – mit großem Erfolg, wie der Einfluss des Denkkollektivs um Horkheimer wie auch des IfS belegen.

7.2 Hamburg Hamburg gehörte zusammen mit den heutigen Bundesländern SchleswigHolstein, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen nach Kriegsende zur britischen Besatzungszone. Das Oberkommando führte Feldmarschall Bernard L. Montgomery.868 Die British Army of the Rhine, die Ende August 1945 aus der 21. Heeresgruppe hervorging,869 baute eine feste Struktur mit Hauptquartieren in verschiedenen kleineren Orten Ostwestfalens, drei, etwa den späteren Bundesländern räumlich entsprechenden Corps-Distrikten sowie rund 200 Kreisund örtliche Militärregierungen auf. Bereits seit Juni 1945 errichteten die Engländer zusätzlich Militäradministrationen auf der Ebene der Regierungsbezirke und der preußischen Provinzen, um die bisherige deutsche Verwaltungsstruktur besser in ihr System eingliedern zu können.870 Zentrale Einrichtungen des Deutschen Reiches sollten im Kern zunächst bestehen bleiben. Erst später sollten Ämter wie das Zentraljustizamt, die Leitstelle der Finanzverwaltung oder das Statistische Amt aufgelöst werden.871 Die Zusammenarbeit dieser Ämter gestaltete sich allerdings aufgrund unklarer bürokratischer Strukturen und Zuständigkeiten, personeller Engpässe sowie Konflikten zwischen militärischen und zivilen Stellen vielfach schwierig. Hinzu kamen Versorgungsengpässe und die 867 Zitiert nach: ebd. 868 Volker Koop, Besetzt. Britische Besatzungspolitik in Deutschland. Berlin 2007, S.54-57. Montgomery unterstand dem britischen Kriegsministerium und in seiner zweiten Funktion als Chef der Militärverwaltung gleichzeitig der zivilen Kontrolle durch das Außenministerium. 869 Michael Ahrens, Die Briten in Hamburg. Besatzerleben 1945-1958 (Forum Zeitgeschichte, Bd.23). München/Hamburg 2011, S.27. 870 Werner Plumpe, Vom Plan zum Markt. Wirtschaftsverwaltung und Unternehmerverbände in der britischen Zone (Düsseldorfer Schriften zur Neueren Landesgeschichte und zur Geschichte Nordrhein-Westfalens, Bd.22). Düsseldorf 1987, S.53. 871 Koop, Besetzt, S.70f.

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Gefahr von Epidemien unter der deutschen Zivilbevölkerung.872 Als am 10. Mai 1945 Hugh Armytage das Amt des britischen Stadtkommandanten in Hamburg antrat, ordnete er die Entlassung der meisten verbliebenen Senatsmitglieder der Hansestadt an, reorganisierte das Korps der Führungsoffiziere und stabilisierte so die britische Militärverwaltung.873 Nach einer bürokratischen und personellen Umstrukturierung schuf die britische Militärregierung am 22. Oktober 1945 schließlich das Control Office for Germany and Austria, dessen erster Chef der frühere Gewerkschaftssekretär John B. Hynd wurde.874 Die Briten waren militärisch und wirtschaftlich stark von den Amerikanern abhängig. Sie folgten zunächst der harten Linie der US-Besatzungspolitik unter Eisenhower. Die Deutschen waren demnach als besiegte Feindnation zu behandeln und Fraternisierung mit der deutschen Bevölkerung war streng untersagt. Einige Besatzungsoffiziere hegten indes schon früh Zweifel an der Richtigkeit eines zu harten Kurses gegenüber Deutschland. Sie befürchteten, dass ein Chaos im privaten und öffentlichen Finanzwesen ausbrechen würde, wenn sie alle unerwünschten Personen aus ihren Ämtern entfernten. Zudem regten sich in der britischen Presse Proteste gegen das Fraternisierungsverbot.875 Wie die Amerikaner maßen auch die Briten der Entnazifizierung oberste Priorität zu. Sie agierten dabei jedoch von Anfang an pragmatischer, uneinheitlicher und weniger streng. Einerseits stand der Wiederaufbau eines staatlichen Gemeinwesens im Vordergrund,876 andererseits wurde schon während des Krieges die Direktive ausgegeben, dass die britische Kontrolle möglichst »indirect, invisible and remote« ausgeübt werden sollte.877 Dies konnte aus britischer Sicht nur 872 Ahrens, Die Briten in Hamburg, S.25, 45-51; David Phillips, Educating the Germans: People and Policy in the British Zone of Germany, 1945-1949. London u.a. 2018, S.31-39; Plumpe, Vom Plan zum Markt, S.56. Vgl. auch Manfred Heinemann, 1945: Universitäten aus britischer Sicht, in: ders. (Hrsg.), Hochschuloffiziere und Wiederaufbau des Hochschulwesens in Westdeutschland 1945-1952, Teil 1: Die Britische Zone, bearbeitet v. David Phillips (Geschichte von Bildung und Wissenschaft, Reihe B: Sammelwerke, Bd.1). Hildesheim 1990, S.41-60, hier: S.44; Christopher Knowles, Winning the Peace: The British in Occupied Germany, 19451948. London 2017, S.13-26. 873 Ahrens, Die Briten in Hamburg, S.52-60. Hamburg zeigte sich gegenüber der britischen Besatzungspolitik als besonders kooperationsbereit. Siehe Knowles, Winning the Peace, S.107f. 874 Ahrens, Die Briten in Hamburg, S.27f.; Plumpe, Vom Plan zum Markt, S.52f.; Knowles, Winning the Peace, S.26-29. 875 Koop, Besetzt, S.17f., 43-46; Phillips, Educating the Germans, S.100-104. 876 Reichardt/Zierenberg, Damals nach dem Krieg, S.191-193, 204f. Auch die Franzosen gingen in ihrer Besatzungszone weniger rigoros mit ehemaligen Angehörigen der NSDAP, SS, Gestapo, des SD, der HJ oder SA um. 877 Phillips, Educating the Germans, S.22.

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gelingen, indem man existierende staatliche Strukturen mehrheitlich weiterbestehen ließ. In der Folge blieben die meisten Angestellten im öffentlichen Dienst zunächst unbehelligt, selbst wenn sie Mitglieder der NSDAP gewesen waren. Auch die Identifizierung nationalsozialistisch belasteter Deutscher über Fragebögen geschah in der britischen Besatzungszone bei weitem nicht so systematisch und flächendeckend wie in der amerikanischen. Ähnlich wie die Franzosen begnügten sich die Briten damit, lediglich öffentliche Angestellte durch Fragebogenerhebungen auf ihre NS-Vergangenheit hin zu überprüfen.878 Und wie die Amerikaner sahen auch die Briten schnell ein, dass die Entlassungs- und Anstellungskriterien gelockert werden mussten. Oberste Priorität galt der Stabilisierung der Wirtschaft, um die Besatzungskosten zu senken.879 Schließlich war Großbritannien »infolge seiner Kriegsanstrengungen vom weltweit größten Kreditgeber zum weltweit größten Schuldner abgestiegen«, wie Michael Ahrens schreibt.880 Die eingesetzten deutschen Justizminister drängten auf einen schnellstmöglichen Abschluss des Entnazifizierungsprozesses in der Besatzungszone. Am 1.  Oktober 1947 übertrug die britische Militärregierung die Verantwortung für die Entnazifizierung deutschen Stellen. Am 1. Juli 1948 sprach sie eine Amnestie aus, von der nur Wachmannschaften von Konzentrationslagern und ehemals höherrangige NS-Politiker ausgenommen waren. Nach Volker Koop sei deshalb im Grunde »eine wirkliche Entnazifizierung in der britischen Besatzungszone zu keinem Zeitpunkt vorgenommen worden.«881 Das galt auch für den Lehrkörper der Universität Hamburg. Die Universitätsgebäude waren wie die der Frankfurter Hochschule durch die alliierten Bomben-

878 Koop, Besetzt, S.76f. Allerdings waren die Entlassungsraten selbst durch dieses zwar laxere, aber doch am Verfahren der Amerikaner orientierte Vorgehen erheblich. Laut Volker Koop wurden »auf Grund dieses Vorgehens in der Ernährungswirtschaft 41 Prozent der Mitarbeiter entlassen […], bei der Reichsbahn 33 Prozent und bei der Reichspost 30 Prozent.« Ebd. S.77. 879 Bessel, Germany 1945, S.287f.; Koop, Besetzt, S.77f., 84. 880 Ahrens, Die Briten in Hamburg, S.12. 881 Koop, Besetzt, S.84. Diese Entwicklung war maßgeblich durch Presseorgane wie die Hamburger Freie Presse oder die Hamburger Allgemeine Zeitung begünstigt worden, die in Hamburg geradezu eine mediale Persilscheinpolitik betrieben hatten. Siehe Jessica Edelmann, »Persilscheine« aus der Druckerpresse? Die Hamburger Medienberichterstattung über Entnazifizierung und Internierung in der britischen Besatzungszone (Hamburger Zeitspuren, Bd.11). Hamburg 2016. Christopher Knowles attestiert Montgomery, Brian Hubert Robertson und Alexander Bishop allerdings größeren Idealismus bei der Entnazifizierung der Deutschen in der britischen Zone, den er auf die ausgeprägten christlichen Moralvorstellungen der Akteure zurückführt. Siehe Knowles, Winning the Peace, S.31f., 39-44.

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angriffe zu großen Teilen zerstört worden.882 Am 3. Mai 1945 hatten britische Truppen die Universität geschlossen. Ein halbes Jahr später, am 6.  November 1945, öffnete sie ihre Tore erneut. Sie unterstand fortan einem University Control Officer.883 Ähnlich der Frankfurter war ursprünglich auch die Hamburger Universität dem demokratischen Geist der Weimarer Republik verpflichtet. Sie war 1919 die erste durch ein parlamentarisches Gesetz gegründete Universität Deutschlands.884 Gerade in solchen Kaufmanns- und Messestädten konnten liberale Gelehrtenmilieus entstehen, die nicht zuletzt von einer umfangreichen Stiftungskultur profitierten. Zwar waren die Vorbehalte gegenüber der Professorenschaft in Hamburg größer als in Frankfurt.885 Doch auch hier fanden Juden wie Ernst Cassirer, William und Otto Stern, Albrecht Mendelssohn Bartholdy, Erwin Panofsky und Richard Salomon,886 zwar mehrheitlich als Privatdozenten oder Assistenten, eine Anstellung – im Gegensatz etwa zu Tübingen, wo jüdische Gelehrte schon vor 1933 kaum eine Chance auf eine akademische Position hatten.887 Und wie Frankfurt zählte auch die im NS-Regime in »Hansische Uni882 Michael Holtmann, Die Universität Hamburg in ihrer Stadt. Bauten, Orte und Visionen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Hamburg 2009, S.37. 883 Rainer Nicolaysen, Ambivalenzen des Übergangs  – Von der »Hansischen Universität« zur »Universität Hamburg«, in: ders. (Hrsg.), Kontinuität im Neubeginn. Zur Wiedereröffnung der Universität Hamburg 1945. Reden der Zentralen Veranstaltung der Universität Hamburg am 6. November 2015 anlässlich des 70. Jahrestags ihrer Wiedereröffnung 1945 (Hamburger Universitätsreden, Neue Folge 22). Hamburg 2016, S.21-39, hier: S.21f. Die University Control Officers wurden später umbenannt in University Education Control Officers und Anfang 1947 dann noch einmal in University Education Officers. Siehe David Phillips, Introduction: The Work of the British University Officers in Germany, in: Heinemann (Hrsg.), Hochschuloffiziere und Wiederaufbau, Teil 1, S.11-40, hier: S.14. Allgemein zur Hochschulpolitik in der britischen Besatzungszone siehe ders., Educating the Germans, S.157-202, 225-251. 884 Nicolaysen, Ambivalenzen des Übergangs, S.23f.; Barbara Vogel, Anpassung und Widerstand. Das Verhältnis Hamburger Hochschullehrer zum Staat 1919 bis 1945, in: Eckart Krause/Ludwig Huber/Holger Fischer (Hrsg.), Hochschulalltag im »Dritten Reich«. Die Hamburger Universität 1933-1945, Teil I : Einleitung, Allgemeine Aspekte (Hamburger Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte, Bd.3, Teil I ). Berlin/Hamburg 1991, S.3-83, hier: S.8. 885 Vgl. Schivelbusch, Intellektuellendämmerung, S.14-26; Vogel, Anpassung und Widerstand, S.8f. 886 Nicolaysen, Ambivalenzen des Übergangs, S.24. 887 Rainer Nicolaysen, Das »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« vom 7. April 1933 und seine Umsetzung an der Hamburger Universität, in: ders. (Hrsg.), Auch an der Universität – Über den Beginn von Entrechtung und Vertreibung vor 80 Jahren. Reden der Zentralen Gedenkveranstaltung der Universität Hamburg im Rahmen der Reihe »Hamburg erinnert sich 2013« am 8. April 2013

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versität« umbenannte Einrichtung nicht zu den akademischen Hochburgen des Nationalsozialismus  – obzwar auch dort keineswegs ein liberalerer Geist als andernorts vorherrschte.888 Nach Kriegsende wurde ein Neubeginn der Universität Hamburg verkündet, mit dem Professorenschaft und Stadtbehörden möglichst bruchlos an die Zeit vor 1933 anschließen wollten. Die während der NSZeit Vertriebenen blieben dabei auch hier außen vor. Einen an emigrierte Wissenschaftler gerichteten Aufruf zur Rückkehr an ihre früheren Wirkungsorte hat es von keiner deutschen Universität gegeben, wie Rainer Nicolaysen festhält.889 Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war die Leitung der Hamburger Universität an Professoren übergegangen, die von der britischen Militärregierung als »unbelastet« eingestuft worden waren. Zu ihnen gehörten der erste Rektor Emil Wolff, der Prorektor Rudolf Laun, der Dekan und Prodekan der Philosophischen Fakultät Bruno Snell, der Erziehungswissenschaftler Wilhelm Flitner und der Prodekan der Medizinischen Fakultät Rudolf Degkwitz.890 Wie in Frankfurt bildeten auch die Hamburger Professoren in den ersten Wochen nach der Besetzung Kommissionen, in denen sie sich über die zu erwartende Entnazifizierung berieten. Sie entwarfen eigens einen Fragebogen für die politische Überprüfung des Lehrkörpers. Von 204 Professoren wurden dabei 35 als »einwandfrei«, 30 als »zweifelhaft« und 17 als »negativ« eingestuft. Die britische Militärregierung begrüßte dieses Vorgehen, folgte den Entlassungsvorschlägen und zeigte sich nicht zuletzt wegen des Verhandlungsgeschicks der Kommissionsmitglieder relativ milde im Umgang mit den »Zweifelhaften«. Im Juni 1945 begann die Militärregierung jedoch mit einer systematischen Prüfung und umfassenden Entnazifizierungsmaßnahmen. In der Folge wurden 60 Prozent des gesamten Lehrkörpers suspendiert, pensioniert oder entlassen. Auch die Zulassung zum Studium wurde fortan streng kontrolliert und erst mit der Jugend-

(Hamburger Universitätsreden, Neue Folge 19). Hamburg 2014, S.27-51, hier: S.31. Vgl. Vogel, Hochschullehrer und Staat, S.15. Zur Berufungspolitik an der Universität Tübingen vor und nach 1933 siehe Urban Wiesing u.a. (Hrsg.), Die Universität Tübingen im Nationalsozialismus (Contubernium, Bd.73). Stuttgart 2010. 888 Zu den nach 1933 veranlassten Entlassungen jüdischer, linker oder anderweitig missliebiger Wissenschaftler an der Universität Hamburg siehe Nicolaysen, Das »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« vom 7. April 1933, S.27f., 35-45. Vgl. Geoffrey J. Giles, Professor und Partei: Der Hamburger Lehrkörper und der Nationalsozialismus, in: Krause/Huber/Fischer (Hrsg.), Hochschulalltag im »Dritten Reich«, Teil I , S.113-124; Vogel, Hochschullehrer und Staat, S.39-63. 889 Nicolaysen, Ambivalenzen des Übergangs, S.29, 31. 890 Anton F. Guhl, Entnazifizierte Universität? Zur Bedeutung der politischen Überprüfung der Professoren für die Universität Hamburg, in: Nicolaysen (Hrsg.), Kontinuität im Neubeginn, S.41-70, hier: S.43.

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Amnestie vom Mai 1947 gelockert.891 Am Festakt zur Wiedereröffnung der Universität im November 1945 nahm so nicht einmal die Hälfte der Ordinarien und Extraordinarien teil, die noch im Sommersemester zur Belegschaft gehört hatten.892 Auch hier stand die Universitätsleitung vor dem Problem, dass der Universitätsbetrieb durch die vielen Entlassungen nur noch unzureichend aufrechterhalten werden konnte. Doch letztlich fand – wie in Frankfurt – die Mehrheit der Entlassenen in den Universitätsbetrieb zurück: Von 1945 bis 1956 wurden 38 von den 50 Relegierten schrittweise rehabilitiert.893 Die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät beurteilte mehr als die Hälfte ihrer 15 Professoren als »einwandfrei«, fünf als »zweifelhaft« – für diese setzte sie sich aber trotzdem ein – und zwei als »negativ«.894 Ein Professor, der sich zwar schon 1944 aus gesundheitlichen Gründen emeritieren lassen hatte, den die britische Militärregierung dann aber zwangsweise in den endgültigen Ruhestand versetzte, war der Soziologe Andreas Walther.895 Walther kam 1926/27 von der Universität Göttingen nach Hamburg. Er übernahm den neu eingerichteten Lehrstuhl für Soziologie  – den zweiten nach Hans Freyers an einer deutschen Universität. Er machte sich als Stadtsoziologe und Soziograf einen Namen. Die Errichtung seines Lehrstuhls sei, so der Dekan der Rechtsund Staatwissenschaftlichen Fakultät, »von der Öffentlichkeit mit ungewöhnlicher Spannung begleitet worden, ja, dem starken Interesse von allen Seiten, das bei dieser Gelegenheit zutage trat, wohl wesentlich mit zu verdanken. Sie ist umso bedeutsamer, als es bisher in Deutschland nur an wenigen Hochschulen eigene Lehrstühle für Soziologie gibt.«896 Daher habe die Fakultät die Verpflichtung, 891 892 893 894 895

Ebd., S.43-45; Phillips, Introduction, S.29f. Nicolaysen, Ambivalenzen des Übergangs, S.30. Guhl, Entnazifizierte Universität?, S.45. Ebd., S.47. Carsten Klingemann, Erinnerungen an das Seminar für Soziologie zwischen 1939 und 1945. Ein Gespräch mit Peter Coulmas, in: Rainer Waßner (Hrsg.), Wege zum Sozialen. 90 Jahre Soziologie in Hamburg. Opladen 1988, S.85-97, hier: S.95; Rainer Waßner, Von Andreas Walther zu Helmut Schelsky. Das Interregnum am Seminar für Soziologie von 1944 bis 1953, in: ders. (Hrsg.), Wege zum Sozialen, S.101-110, hier: S.101; Axel Schildt, Walther, Andreas, in: Franklin Kopitzsch (Hrsg.), Hamburgische Biografie, Bd.6. Göttingen 2012, S.433-435. 896 StAHH, Hochschulwesen II, Ai 5/19: Besetzung der Professur in der Philosophischen Fakultät. Heft 34: o. Professur für Soziologie (Prof. Dr. A. Walther), Bl.2-6: Der Dekan, Haff, an die Hochschulbehörde, Betr. Die Besetzung des neu errichteten Lehrstuhls für Soziologie, 03.11.1926, hier: Bl.2.

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»auch in ihrem Berufungsvorschlag dem Umstand Rechnung zu tragen, daß hier eine Aufgabe gestellt ist, die über den im engeren Sinne akademischen Interessenskreis hinaus geht, sodaß auch ihre Lösung den berechtigten Anforderungen der Öffentlichkeit entsprechen muß.«897 Öffentlichkeit und Universität sollten sich gegenseitig stärken, insbesondere in Bezug auf das politische Schicksal des Gemeinwesens. Zunächst schlug die Fakultät Alfred Weber vor, der aber ablehnte. Daraufhin konzentrierten sich die Verantwortlichen auf den Historiker Andreas Walther, der ihnen mit seinen wirtschaftswissenschaftlichen und verwaltungsrechtlichhistorischen Themen besonders geeignet schien.898 Walther hatte sich im Rahmen einer Weltreise 1913 sowie nochmals 1925 in den Vereinigten Staaten aufgehalten. Er hatte dort die Ansätze und Methoden der Chicagoer Soziologen studiert. In Anlehnung an die empirischen Stadt-Surveys der Chicago School wollte er empirische Soziologie und die Anwendung sozialempirischen Wissens systematisch zusammenführen. Er gründete zu diesem Zweck am Soziologischen Seminar das Archiv für die sozialen Verhältnisse Hamburgs: Aufgabe der Einrichtung sollte es sein, auf kommunaler Ebene Lehrer, Sozialarbeiter und Pastoren soziologisch zu schulen. In den nachfolgenden Jahren etablierte er das Seminar als Zentrum der vergleichenden Großstadtsoziologie.899 Anders als die Chicago School, die verstehen wollte, »wie Menschen sich in der Großstadt verhielten, wie sich soziale Beziehungen durch die Interaktion von Menschen mit ähnlichen oder korrespondierenden Interessen neu ordneten und wie die Großstadt dies auch räumlich prägte«, beschrieb der Hamburger Soziologe nach der Deutung Ulrike Kändlers »weniger die Interaktion von Menschen als vielmehr Struktur und Hierarchie gefestigter sozialer Gruppen: Herkunft, Ausbildungswege, Selbstverständnis«.900 1933 trat der ursprünglich eher aus dem linksgerichteten bürgerlichen Milieu stammende Walther in die NSDAP ein. Im November des gleichen Jahres unterzeichnete er das »Bekenntnis der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem national-

897 Ebd. 898 Ebd., Bl.3. Siehe auch ebd., Bl.20: Oberschulbehörde, Sektion für die wissenschaftlichen Anstalten. Archiv. Ausschnitt aus dem Hamburgischen Correspondenten vom 04.12.1926. Morgenausgabe; Bl.26f.: Der Dekan der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät an die Hochschulbehörde Hamburg vom 31.05.1927, hier: Bl.26. 899 Kändler, Entdeckung des Urbanen, S.55-57; Rainer Waßner, Andreas Walther und seine Stadtsoziologie zwischen 1927 und 1935, in: ders. (Hrsg.), Wege zum Sozialen, S.69-84, hier: S.69-73. 900 Kändler, Entdeckung des Urbanen, S.62f. Kändler meint, dass an Walthers Seminar die amerikanischen Einflüsse mit einem ständischen Gesellschaftsmodell verbunden wurden. Vgl. ebd., S.63.

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sozialistischen Staat«.901 Ab 1939/40 leitete er die Politische Fachgemeinschaft der Hamburger Universität, in der alle Fakultäten im Sinne einer neuen, nationalsozialistisch ausgerichteten »politischen Wissenschaft« zusammenwirken sollten. Walther selbst forcierte die einheitliche Ausrichtung der Soziologie auf die »völkischen Aufgaben der Wissenschaft«.902 Er wandelte seine Stadtsoziologie in den Folgejahren in eine soziologische Volks- und Raumforschung um. Bereits 1934 hatte er eine »Untersuchung gemeinschädlicher Regionen im niederelbischen Städtegebiet« durchgeführt. Die Studie zielte darauf ab, vorgeblich schädliche Milieus und Menschen des Hamburger Großstadtlebens sozialempirisch zu identifizieren und die Daten an die kommunalen NS-Politiker zur Bekämpfung dieser Missstände weiterzuleiten. Nach Walthers Ansicht sollte aus der Großstadt ein »Hort völkischen Lebens« werden.903 1933 gelang Walther die Überführung des Soziologischen Seminars in die Philosophische Fakultät der Universität Hamburg. Dadurch wurde die Soziologie zum Promotions- und Habilitationsfach, was der Lehrstuhlinhaber produktiv nutzte: Bis 1944 promovierte er nach Recherchen von Carsten Klingemann und Rainer Waßner rund 30 Haupt- und etwa noch einmal so viele Nebenfachsoziologen. Außerdem habilitierte er zwei Kandidaten.904 Nach seiner Emeritierung rückte der Historiker und überzeugte Nationalsozialist Adolf Rein, vormals Rektor der Universität, dann Dekan der Politischen Fachgemeinschaften der Fakultäten und seit 1940 Leiter des wiedergegründeten Kolonialinstituts, als kommissarischer Lehrstuhlinhaber nach. Die Fakultät beabsichtigte, den Lehrstuhl für Soziologie in eine archäologische Professur umzuwandeln. Dagegen 901 Ernst Klee, Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Frankfurt am Main 2007, S.654. 902 Zitiert nach: Vogel, Hochschullehrer und Staat, S.56. Vgl. auch ebd., S.52-57. Siehe auch Rainer Waßner, Auf dem Wege zu einer professionellen Soziologie. Die Kontinuität der Soziologie-Fachgeschichte am Beispiel des Seminars für Soziologie der Hamburger Universität, in: Eckart Krause/Ludwig Huber/Holger Fischer (Hrsg.), Hochschulalltag im »Dritten Reich«. Die Hamburger Universität 1933-1945, Teil II: Philosophische Fakultät, Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät (Hamburger Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte, Bd.3, Teil II). Berlin/Hamburg 1991, S.1017-1034, hier: S.1017-1021. 903 Kändler, Entdeckung des Urbanen, S.65. Vgl. Klingemann, Soziologie und Politik, S.173; ders., Social-Scientific Experts – No Ideologues, S.131f.; Waßner, Andreas Walther, S.73f. Zum Kontext von Walthers rassisch-völkischer Stadtsoziologie siehe auch Karl Heinz Roth, Städtesanierung und »ausmerzende« Soziologie. Der Fall Andreas Walther und die »Notarbeit 51« der »Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft« 1934-1935 in Hamburg, in: Carsten Klingemann (Hrsg.), Rassenmythos und Sozialwissenschaften in Deutschland. Ein verdrängtes Kapitel sozialwissenschaftlicher Wirkungsgeschichte (Beiträge zur sozialwissenschaftlichen Forschung, Bd.85). Opladen 1987, S.370-393, hier: S.376-391. 904 Klingemann, Erinnerungen an das Seminar für Soziologie, S.94f.; Waßner, Auf dem Wege zu einer professionellen Soziologie, S.1026.

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erhoben das REM, die NSDAP-Parteikanzlei in München, der Universitätssenat und Walther selbst Einspruch. Die Entscheidung wurde daraufhin vertagt.905 1945 waren der Lehrstuhl für Soziologie weiterhin unbesetzt und die Zukunft der Hamburger Soziologie ungewiss. Zwar bewarben sich Alfred Vierkandt (Berlin), Karl Valentin Müller (ehemals Prag), Herman Bente (Berlin) und Hans J. Beyer (ehemals Prag), Theodor Litt (Leipzig) und die Walther-Schüler John Basté und Konrad Lindemann um den Posten. Zudem schlug Walther selbst auf der ersten Fakultätssitzung unter britischer Besatzung im Juli 1945 die Leipziger Gunther Ipsen und Hans Freyer sowie den nach Dänemark emigrierten Theodor Geiger vor. Die Fakultät beabsichtigte jedoch weiterhin die Umwandlung des soziologischen in einen philosophischen Lehrstuhl, der ins Historische Seminar eingegliedert werden sollte. Durch das Einschreiten der britischen Militäroffiziere und die Versetzung Walthers in den Ruhestand wurden diese Pläne zurückgestellt. Im Mai 1947 wurde der soziologische Lehrstuhl in die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät zurücküberführt. Als kommissarischen Leiter des Soziologischen Seminars ernannte man den Nationalökonomen Karl Schiller.906 Der Lehrstuhl für Soziologie blieb allerdings weiterhin vakant. Ein zentrales Anliegen Montgomerys als Chef der britischen Militärregierung war es, gegenüber der deutschen Bevölkerung Zeichen der Entspannung zu setzen. Am 6. August 1945 verkündete er, dass man Einschränkungen der Pressefreiheit lockern, die Bildung freier Gewerkschaften und Parteien unterstützen sowie auf lokaler Ebene Selbstverwaltungen auf demokratischer Grundlage einsetzen werde.907 Zeitschriften und Zeitungen, Rundfunk, Kinos, politische Parteien und Gewerkschaften galten den Briten als wichtigste Instrumente einer demokratischen Umerziehung der Deutschen. Im Geist des angelsächsischen Meinungspluralismus sollten die Parteien dabei durchaus auch konträre Positionen vertreten und die Gewerkschaften als tragende Institutionen der Arbeiterschaft auf ihr Selbstbestimmungsrecht rekurrieren dürfen. Das von der britischen Besatzungsmacht eingeführte gesamtwirtschaftliche Planungs- und Lenkungssystem sollte längerfristig für die deutsche Wirtschaft richtungsweisend sein. Die deutsche Arbeiterbewegung erblickte darin die Chance, so Werner Plumpe, »den kriegsfolgebedingten Planungs- und Bewirtschaftungszwang in ein System der gesamt905 StAHH, Hochschulwesen II, Ai 5/19: Besetzung der Professur in der Philosophischen Fakultät. Heft 34: o. Professur für Soziologie (Prof. Dr. A. Walther), Bl.48: An die Philosophische Fakultät vom 12.01.1944, durch den Herrn Rektor der Hansischen Universität; Bl.49: Ausschnitt aus einem Artikel im Hamburger Tageblatt vom 17.07.1944; Bl.50: Der Rektor der Hansischen Universität an den Herrn Erziehungsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, gez. Keeser, vom 19.07.1944. Siehe auch Waßner, Von Andreas Walther zu Helmut Schelsky, S.101. Vgl. Klingemann, Soziologie und Politik, S.207, Fußnote 400. 906 Waßner, Von Andreas Walther zu Helmut Schelsky, S.101f. 907 Koop, Besetzt, S.75f.

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wirtschaftlichen Planung und Lenkung bei veränderten Eigentumsstrukturen zu überführen.«908 Dass die Gewerkschaften eine so tragende Rolle bei der Neuordnung des britischen Sektors spielen konnten, lag auch an dem in Großbritannien zwischenzeitlich erfolgten Wechsel von der konservativen Churchill- zu einer Labour-Regierung. Mit der britischen Unterstützung der deutschen Gewerkschaften sollten zudem vermeintlich kommunistische Einflüsse im besetzten Deutschland zurückgedrängt werden.909 Die zentrale Position der Gewerkschaften bei der Neuorganisation der deutschen Wirtschaft festigte sich durch die Winterkrise 1946/47 und den wirtschaftlichen Zusammenschluss der amerikanischen und der britischen Besatzungszone zur Bizone am 2. Dezember 1946. Aufgrund des wachsenden Einflusses der Amerikaner wurden die wirtschaftspolitischen Planungs- und Lenkungsvorgaben in der britischen Besatzungszone gelockert sowie privatwirtschaftliche Unternehmerverbände stärker in den administrativen Reorganisationsprozess einbezogen.910 Zudem maß der Marshallplan von 1948 den Gewerkschaften eine entscheidende Rolle bei der Stabilisierung der Wirtschaft in der britischen Besatzungszone zu.911 In diesem Kontext erfolgten die Neukonstitution der Hamburger SPD sowie der Gewerkschaften und die Gründung der Akademie für Gemeinwirtschaft in Hamburg im Jahr 1948.912 Hamburg galt seit den 1840er Jahren als eine Hochburg der deutschen Arbeiterbewegung. August Bebel, der von 1892 bis 1913 SPD-Vorsitzender war, hatte Hamburg anlässlich des Vereinigungsparteitags 1875 gar den Status als Hauptstadt des deutschen Sozialismus zugesprochen. Die Hamburger SPD stand traditionell unter der Führung von Männern, die mehrheitlich der Gewerkschafts- und Genossenschaftsbewegung angehörten und den reformistisch-revisionistischen Flügel der Sozialdemokratie vertraten. Bei der Bürgerschaftswahl von 1931 verlor sie massiv an Stimmen und wurde durch innere Konflikte zerrüttet. Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten wurden auch die Hamburger Sozialdemokraten massiv verfolgt; viele kamen in »Schutzhaft«.913 Angesichts dessen verwundert die Haltung vieler Sozialdemokraten nach 1945 kaum, die auf ihr moralisches Ansehen verwiesen und 908 Plumpe, Vom Plan zum Markt, S.11. Dieser Ansatz traf bei der Industrie auf erhebliche Skepsis. Plumpe sieht darin den späteren Konflikt um den Ausbau des Bewirtschaftungssystems zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern vorgezeichnet. 909 Vgl. ebd., S.15f. Vgl. Reichardt/Zierenberg, Damals nach dem Krieg, S.62f., 101f., 181. 910 Plumpe, Vom Plan zum Markt, S.11f., 119f. Vgl. Reichardt/Zierenberg, Damals nach dem Krieg, S.79; Koop, Besetzt, S.229-239. 911 Koop, Besetzt, S.88f., 129-131. 912 Strote, Lions and Lambs, S.185. 913 Walter Tormin, Die Geschichte der SPD in Hamburg 1945 bis 1950 (Forum Zeitgeschichte, Bd.4). Hamburg 1994, S.11-20.

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Anspruch auf die Mitgestaltung Nachkriegsdeutschlands erhoben.914 Mit dem am 14. Mai 1945 durch den britischen Militärgouverneur Armytage ernannten neuen Bürgermeister Rudolf Petersen und der Wahl von Senatoren, die sich mehrheitlich der SPD anschlossen, waren die Weichen für einen erfolgreichen Neuanfang der Hamburger Sozialdemokratie gestellt. Nach Aufhebung der Ausganssperre durch die britische Armee machten sich die Sozialdemokraten daran, ihre Partei wieder aufzubauen. Am 11. Mai 1945 gründeten sie die Sozialistische Freie Gewerkschaft (SFG),915 die Hamburger Variante jener Antifaschistischen Ausschüsse, in denen allein sich Deutsche unmittelbar nach Kriegsende politisch betätigen durften. In der SFG trafen ältere Gewerkschafter mit Leuten aus dem Widerstand zusammen, die sich noch nicht in einer politischen Partei engagieren durften. Auf Veranlassung der Besatzungsmacht wurde sie jedoch schon bald wieder aufgelöst. An ihre Stelle traten 13 selbstständige, für die verschiedenen Wirtschaftszweige zuständige Gewerkschaften.916 Bürgermeister Petersen berief weitere Sozialdemokraten in den Hamburger Senat und ernannte zudem einen KPD-Mann zum Gesundheitssenator. Letzteres stieß anfänglich auf Skepsis der Militärregierung, konnte aber im November 1945 schließlich durchgesetzt werden. Weitere Schlüsselpositionen, etwa die Leitung des Wohnungsamts, des Rechtsamts, des Amts für Verkehr, des Landesjugendamts und einiger Ortsämter, wurden ebenfalls mit Sozialdemokraten besetzt. Bei den nach einem modifizierten Mehrheitswahlrecht durchgeführten Wahlen vom Oktober 1946 erhielt die SPD bei etwa 43 Prozent der Stimmen drei Viertel der Parlamentssitze, die CDU dagegen bei etwa 27 Prozent der Stimmen nur 14 Prozent, die Freie Demokratische Partei sechs Prozent und die KPD knapp vier Prozent der Sitze.917 Die Sozialdemokraten wollten eine sozialistische Gesellschaftsordnung mit Gemeineigentum und Planwirtschaft umsetzen. Es stellte sich jedoch bald heraus, dass dieses Ziel nur mit Abstrichen und auch nicht unmittelbar zu verwirklichen war.918 Anders als etwa in Hannover, wo Kurt Schumacher die Idee einer linken Einheitspartei scharf ablehnte, gab es in Berlin, Bremen, München und auch in Hamburg unter den Sozialdemokraten Stimmen, die ein Zusammengehen von SPD und KPD befürworteten. Letztlich setzte jedoch Schumacher seine Vorstellung einer Sozialdemokratie durch, die einem Sozialismus und der parlamentarischen Demokratie westlicher Prägung verpflichten sein sollte.919 Diese ideelle Westorientierung der westdeutschen 914 Bessel, Germany 1945, S.306. Vgl. Forner, German Intellectuals, S.50f. 915 Tormin, Die Geschichte der SPD in Hamburg, S.23f.; von Borries-Pusback, Keine Hochschule für den Sozialismus, S.50. 916 Tormin, Die Geschichte der SPD in Hamburg, S.25-27; von Borries-Pusback, Keine Hochschule für den Sozialismus, S.55f. 917 von Borries-Pusback, Keine Hochschule für den Sozialismus, S.93. 918 Tormin, Die Geschichte der SPD in Hamburg, S.30f., 55. 919 Ebd., S.33-45, 64-69, 82-91.

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Sozialdemokratie nach 1945 resultierte nicht zuletzt aus den positiven Erfahrungen von emigrierten Gewerkschaftern und Sozialdemokraten in England, den Vereinigten Staaten oder den skandinavischen Ländern.920 Mit dem neuen Kurs der SPD, der eine Kontinuität volksgemeinschaftlicher Vorstellungen und eine Westorientierung gleichermaßen vorsah, konnte sich auch ein ehemaliges NSDAP- und SA-Mitglied sowie NS-Wissenschaftsreformer wie Helmut Schelsky ohne große Mühe arrangieren. Ab 1948 arbeitete Schelsky zunächst als stellvertretender, 1949 dann als ordentlicher Professor an der Hamburger Akademie für Gemeinwirtschaft. Kurz darauf übernahm er die Direktion der Akademie. Deren Gründung ging, so Bärbel von Borries-Pusback, auf eine Sitzung von Hamburger Sozialdemokraten, Gewerkschaftern und Genossenschaftern am 12. Dezember 1945 zurück. Diese hätten seinerzeit beschlossen, von der Universität Hamburg die Schaffung je eines Lehrstuhls für Gewerkschafts- und Genossenschaftswesen zu fordern.921 Hintergrund war die in SPD und Gewerkschaften weit verbreitete Überzeugung, dass deutsche Schlüsselindustrien sozialistisch organisiert werden müssten, die Gewerkschaften eines der wichtigsten Organe beim demokratischen Wiederaufbau darstellten und dadurch auch die Universität Hamburg reformiert werden könne. Als Sitz der Konsumgenossenschaften und ihrer Großeinkaufsstelle sei die Hansestadt deshalb der ideale Ort für zwei Lehrstühle, über die der zukünftige Führungsnachwuchs der Gewerkschaften und Genossenschaften sowie wirtschaftspolitische Führungskräfte ausgebildet werden sollten. Zusätzlich sollte Arbeitern und Arbeiterkindern eine Hochschulausbildung ermöglicht werden. Erich Klabunde, der spätere Fraktionsvorsitzende der SPD in Hamburg, hatte im Verlauf der Besprechung vorgeschlagen, hierfür ein eigenes Institut nach dem Vorbild der Frankfurter Akademie der Arbeit (gegr. 1921) ins Leben zu rufen. Am 12. Juli 1948 wurde die Gründung der Akademie für Gemeinwirtschaft per Gesetz beschlossen.922 Diese Gründung ging auch darauf zurück, dass sich die Universität Hamburg gegen Reformvorschläge von gewerkschaftlicher oder anderer Seite bezüglich ihrer Berufungspolitik und Lehrstuhlstruktur vehement wehrte.923 920 Vgl. Julia Angster, Konsenskapitalismus und Sozialdemokratie. Die Westernisierung von SPD und DGB (Ordnungssysteme, Bd.13). München 2003, S.13-15, 18f. 921 StAHH, Hochschulwesen II, Af 12/1: Akademie für Gemeinwirtschaft. b. Personelle Angelegenheiten, Bl.1f.: Verwaltungsausschuß der Freien Gewerkschaften Hamburg an den Senat der Hansestadt Hamburg über Herrn Senator Landahl, Verwaltung der Hansestadt Hamburg, Schulverwaltung  – Hochschulabteilung vom 15.12.1945; Bl.3f.: Zentralverband und Großeinkaufs-Gesellschaft deutscher Konsumgenossenschaften an die Landesbehörde zu Hd. des Herrn Senators Landahl vom 17.12.1945. 922 von Borries-Pusback, Keine Hochschule für den Sozialismus, S.9f., 119f., 135-162. 923 Ebd., S.120-135.

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An der neuen Akademie studierten keineswegs nur Arbeiterkinder und Gewerkschafter, sondern vor allem Leute, die sich für Berufe in der Privatwirtschaft qualifizieren wollten. Die Liste prominenter Gewerkschaftsfunktionäre und SPD-Politiker, die Lehrgänge an der Akademie absolvierten, ist dennoch beachtlich lang. Zu ihnen gehörten der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) Heinz Oskar Vetter und der spätere Arbeitsminister Walter Arendt.924 Als ein Institut des zweiten Bildungswegs, das den Absolventen den Erwerb der Hochschulreife ermöglichte, war die Akademie explizit nicht als sozialistische Hochschule konzipiert worden  – allzu linke Haltungen waren nicht gern gesehen. Vielmehr sollten die Lehrgänge einen freiheitlichen Sozialismus vermitteln und dadurch die Integration der Studierenden in das demokratische Politiksystem sowie die soziale Marktwirtschaft ermöglichen. Eine stärkere Anpassung an die marktwirtschaftlichen Bedingungen erfolgte insbesondere nach dem knappen Wahlsieg der CDU 1949 und angesichts der Wirtschaftspolitik Ludwig Erhards.925 Die Qualifikationsanforderungen und Lehrinhalte der Akademie für Gemeinwirtschaft orientierten sich an denjenigen der Universität. Wissenschaftlichkeit und die Zurückweisung eines unvermittelten Bezugs sozial-, rechts- und wirtschaftswissenschaftlicher Inhalte auf die politische, ökonomische und soziale Praxis standen hierbei im Zentrum. Die Lehrenden sollten allesamt habilitiert sein und in ihrem Status als Universitätsprofessoren gelten.926 Der an der Universität Hamburg lehrende und schon an den Planungssitzungen im Vorfeld der Akademiegründung beteiligte Nationalökonom Schiller hatte 1946 einen Lehrplan entworfen, der vier thematische Felder umfasste: Recht, Soziologie und Politik sowie Volks- und Betriebswirtschaftslehre. Im ersten Semester sollte die grundlegende theoretische Einführung, im zweiten dann die Anwendung des erworbenen sozialwissenschaftlichen Wissens in der Praxis der Gemeinwirtschaft erfolgen. Für jedes Fach schlug Schiller die Anstellung eines hauptamtlichen Dozenten vor. Assistenten und nebenamtliche Dozenten sollten Übungen und Arbeitsgemeinschaften leiten. Der Akademieleiter sollte auch die Geschäfte der Institution führen. Dieses Amt übernahm Schiller zunächst selbst.927 Das Gesetz zur Gründung der Akademie für Gemeinwirtschaft vom Juli 1948 sah schließlich sechs hauptamtliche Dozentenstellen vor, deren juristischer Status dem von ordentlichen Universitätsprofessoren entsprach.928 Der Hamburger Senator Landahl lobte die neue Akademie als moderne, weil progressive und demokratische Einrichtung angewandter Sozialforschung. Er stellte sie in eine Reihe mit 924 925 926 927 928

Ebd., S.11f., 37. Ebd., S.23, 35, 45, 117. Ebd., S.35f. Ebd., S.36, 163-165, 167. Ebd., S.174.

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der New School for Social Research in New York und dem Ruskin-College in Oxford.929 Vor diesem Hintergrund – so lässt sich vermuten – musste Schelsky eine Professur an der Akademie attraktiv erscheinen. Er konnte diese nicht nur als Sprungbrett für einen Lehrstuhl an einer anderen renommierteren Institution nutzen und durch die Tätigkeit an einer explizit sozialdemokratisch-gewerkschaftlichen Ausbildungsstätte seine demokratische Umkehr im wissenschaftlichen sowie im öffentlich-politischen Feld plausibilisieren. Vielmehr konnte er seine spätere Distanzierung von der idealistischen Philosophie durch ein intensiviertes Engagement in der anwendungsorientierten empirischen Sozialforschung glaubhaft demonstrieren. Zunächst jedoch bewarb sich Schelsky 1948 auf den vakanten Lehrstuhl für Soziologie an der Universität Hamburg. Seine Mitbewerber waren Helmuth Plessner, der sich zu diesem Zeitpunkt noch in Groningen aufhielt, und der Historiker Georg Weippert, der vormals an der Universität Königsberg gelehrt hatte. Fürsprecher hatte Schelsky bei der Rechtsund Staatswissenschaftlichen Fakultät, die ihn und Plessner pari passu auf Platz eins der Berufungsliste setzte. Sie beurteilte seine Dissertation als »sorgfältig und wohldurchdachte Arbeit«, die sich allerdings noch stark mit dem deutschen Idealismus identifiziere. Danach habe Schelsky aber versucht, über den Idealismus hinaus zu gelangen: In seinen Schriften zu Hobbes »hebt Sch.[elsky] die Einseitigkeit des Idealismus endgültig auf und bemüht sich um ein umfassenderes Denken.«930 Plessner dagegen vertrat in den Augen der Fakultätsmitglieder eine Kultursoziologie und Sozialpsychologie, »deren größtes Anliegen ein Verständnis des Menschen und der Auswirkungen aller seiner Anlagen und Fähigkeiten in Kultur, Gesellschaft, Wirtschaft, Staat, Politik hinein ist.« Darüber hinaus sei er ein Gelehrter von internationaler Bedeutung.931 Josef König und Snell, ein Freund und Kollege Plessners aus der Zeit der Weimarer Republik, setzten sich für ihn ein. Zugunsten Schelskys bezog dagegen der Psychiater Hans BürgerPrinz Stellung, der zu dessen und Gehlens engerem Freundeskreis gehörte.932 Bürger-Prinz, der nach seiner Suspendierung durch die britische Militärregie929 Ebd., S.178f. 930 StAHH, Hochschulwesen II, Ai 5/19: Besetzung der Professur in der Philosophischen Fakultät. Heft 34: o. Professur für Soziologie (Prof. Dr. A. Walther), Bl.8896: Der Dekan der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Hamburg an die Schulbehörde der Hansestadt Hamburg, Hochschulabteilung, vom 28.08.1948 (Eisfeld, 04.09.1948), hier: Bl.90. 931 Ebd., Bl.89. 932 ULB Münster, N. Schelsky 23,154: Arnold Gehlen an Helmut Schelsky vom 25.09.1948. Bürger-Prinz leitete auch die neuesten Informationen, die er aus den Fakultätssitzungen in Hamburg in Erfahrung bringen konnte, jeweils über Gehlen an Schelsky weiter. Vgl. ULB, N. Schelsky 23,159: Arnold Gehlen an Helmut Schelsky vom 26.08.1948.

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rung ab 1948 wieder Direktor der Psychiatrischen und Nervenklinik der Hamburger Universität war, betonte, »daß aktuell soziologisch Schelsky erheblich mehr zu sagen hat als Plessner.« Seine nach 1945 publizierten Aufsätze hätten »nicht nur in Deutschland, sondern auch, wie ich sicher weiß, bei den Amerikanern große Beachtung gefunden.« Auch für die Studentenschaft sei er ein Mann, der in der aktuellen Situation »mehr als notwendig ist«.933 Schelskys Bewerbungsreferat am 8.  Dezember 1948 enttäuschte die Mitglieder der Philosophische Fakultät allerdings. Sie befanden ihn im Gegensatz zu Plessner als nicht geeignet für die Soziologieprofessur, da er in keinem Punkte »über die Position der philosophischen Anthropologie seines Lehrers Arnold Gehlen hinausgegangen [ist], an die er sich auch dort geradezu klammerte, wo die Unfruchtbarkeit jener biologisch fundierten Denkweise für die Behandlung seines im Kern geschichtlichen Problems offen zu Tage trat.«934 Auch seine NS-Vergangenheit wurde Schelsky zum Verhängnis, sei es doch gewiss kein Zufall, »dass er Georges Sorel zum Kronzeugen seiner Auffassung macht […], den bekanntlich der Faschismus zu seinen geistigen Urhebern zählt.«935 Die Fakultät schenkte einer Aussage Theodor Litts Glauben, nach der Schelsky als Student in Leipzig »einer der wenigen [war], die sich von vorne herein völlig auf den Boden der herrschenden ›Weltanschauung‹ gestellt haben. Zumal in der Rassenfrage vertrat er damals in den Diskussionen den Standpunkt der Partei.«936 Die Hochschulsektion beschloss, »die endgültige Entscheidung noch einige Zeit auszusetzen, um einerseits dem jetzt an der Akademie für Gemeinwirtschaft tätigen Professor Schelsky Gelegenheit zu geben, bei den Mitgliedern des Lehrkörpers, der Behörde und der Deputation bekannt zu werden und um andererseits der Philosophischen Fa-

933 StAHH, Hochschulwesen II, Ai 5/19: Besetzung der Professur in der Philosophischen Fakultät. Heft 34: o. Professur für Soziologie (Prof. Dr. A. Walther), Bl.101: Prof. Dr. Bürger-Prinz, Direktor der Psychiatrischen und Nervenklinik der Hansischen Universität, an Senator Landahl vom 25.09.1948. Für die Behauptung, Schelskys Arbeiten nach 1945 hätten bei amerikanischen Sozialwissenschaftlern Beachtung gefunden, existieren keine Belege. 934 StAHH, Hochschulwesen II, Ai 5/19: Besetzung der Professur in der Philosophischen Fakultät. Heft 34: o. Professur für Soziologie (Prof. Dr. A. Walther), Bl.107110: Philosophische Fakultät der Universität Hamburg: Stellungnahme zu der Vorschlagsliste der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät für die Besetzung des Ordinariats für Soziologie, undatiert, hier: Bl.108. 935 Ebd., Bl.109. 936 Ebd.

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kultät innerhalb der Universität Gelegenheit zu geben, auch ihrerseits noch einmal zu dem Berufungsvorschlag Stellung zu nehmen.«937 Die Konflikte zwischen den Fakultäten ließen sich indes nicht beilegen. Die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät fand Litts Aussage unglaubwürdig und forderte darüber hinaus, auch Plessner nochmals zu prüfen. So habe dieser in »einigen in den letzten Jahren erschienenen Aufsätzen […] zur Frage der deutschen Geschichte und der gegenwärtigen politischen Situation unseres Vaterlandes in einer so oberflächlichen und journalistisch in schlechtem Sinne abgeschmackten Art Stellung«938 genommen, dass alle Fakultätsmitglieder darüber enttäuscht und erschrocken seien. Eine neu gebildete Kommission aus Mitgliedern beider Fakultäten konnte sich auch in weiteren Sitzungen nicht auf einen Kandidaten einigen.939 Schließlich erklärten sich die Vertreter der Philosophischen Fakultät 1949 bereit, Schelsky auf Platz zwei oder drei der Berufungsliste zu setzen. Zu diesem Zeitpunkt war er allerdings schon auf den Lehrstuhl für Soziologie an der Akademie für Gemeinwirtschaft berufen worden. Erst 1953 wechselte er auf den Lehrstuhl für Soziologie an der Universität, nachdem Gerhard Mackenroth als möglicher weiterer Kandidat auf eine Berufung verzichtete.940

937 StAHH, Hochschulwesen II, Ai 5/19: Besetzung der Professur in der Philosophischen Fakultät. Heft 34: o. Professur für Soziologie (Prof. Dr. A. Walther), Bl.103: Vermerk betr. Wiederbesetzung des Lehrstuhls für Soziologie vom 10.11.1948. 938 StAHH, Hochschulwesen II, Ai 5/19: Besetzung der Professur in der Philosophischen Fakultät. Heft 34: o. Professur für Soziologie (Prof. Dr. A. Walther), Bl.111: Sieverts, Der Dekan der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Hamburg an Senatsdirektor v. Heppe vom 21.02.1949. 939 StAHH, Hochschulwesen II, Ai 5/19: Besetzung der Professur in der Philosophischen Fakultät. Heft 34: o. Professur für Soziologie (Prof. Dr. A. Walther), Bl.119: Der Rektor der Universität Hamburg an die Schulbehörde, Hochschulabteilung, vom 22.04.1949; Bl.121: An die Schulbehörde der Hansestadt Hamburg, Hochschulabteilung, über den Herrn Rektor der Universität vom 22.06.1949. 940 StAHH, Hochschulwesen II, Ai 5/19: Besetzung der Professur in der Philosophischen Fakultät. Heft 34: o. Professur für Soziologie (Prof. Dr. A. Walther), Bl.175: Gerhard Mackenroth an Regierungsdirektor Dr. v. Heppe vom 25.11.1950. Vgl. Waßner, Von Andreas Walther zu Helmut Schelsky, S.102f. Vgl. Kempf, Wider die Wirklichkeitsverweigerung, S.70.

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7.3 Ausgangslage um 1950 In diesen wissenschaftspolitischen Konstellationen formierten sich um 1950 die Denkkollektive um Horkheimer in Frankfurt und um Schelsky in Hamburg neu. Beide sahen sich mit den gleichen gesellschaftlichen Problemen konfrontiert, zu deren Lösung sie mit ihren Forschungsunternehmen beitragen wollten, allen voran die Planung von Infrastruktur und Siedlungsbau sowie die Integration der Flüchtlinge aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten.941 Außerdem galt es, demokratische Einstellungen in der Bevölkerung, besonders aber bei den Studierenden, zu stärken. Nationalistische, antisemitische und völkisch-rassistische Ideologeme waren nach 1945 nicht einfach verschwunden, sondern wirkten oftmals verdeckt weiter. Schließlich mussten demokratische Institutionen vor allem in der Bildungs- und Erziehungspolitik, in der Staatsbürokratie, bei Gewerkschaften und Arbeitgebern aufgebaut werden. Dass alliierte Besatzer und westdeutsche Politiker sozialwissenschaftlichem Wissen eine hohe Relevanz für die Bewältigung dieser Aufgaben zusprachen, ging zu einem beträchtlichen Maß auf das von Sozialwissenschaftlern wie Horkheimer, Pollock, Adorno, Schelsky und Gehlen praktizierte »discipline building« zurück. Sie alle wiesen Politiker und Industrielle auf die Anwendungsmöglichkeiten dieses Wissens hin.942 Zur Ausgangssituation zählten jedoch auch die psychischen Versehrungen der wichtigsten Vertreter beider Denkkollektive. Zwar sollte man nicht von flucht- und kriegsbedingten »Traumata« bei den hier zu behandelnden Akteuren sprechen. Die verfügbaren Dokumente geben darauf jedenfalls nur fragmentarische Hinweise. Dennoch legen sie nahe, dass sowohl Horkheimer, Pollock und Adorno als auch Schelsky und Gehlen aufgrund ihrer jeweiligen Erfahrungen mit Verfolgung, Vertreibung und Krieg psychische Spätfolgen davongetragen hatten. José Brunner und Svenja Goltermann legen dar, dass im Westdeutschland der späten 1950er und der 1960er Jahre zunächst individualpsychologisch festgestellte Verletzungen der Psyche auf ganze, generationell präformierte Kollektive übertragen worden waren.943 Traumata und Trauma-Diskurse prägen, wie 941 Zur Kontinuität der Raumplanung in Westdeutschland und ihren neuen Zielstellungen nach 1945 siehe Karl R. Kegler, Krisenangst und Krisendiagnose: Deutsche Raumplanung nach 1945, in: Wendelin Strubelt/Detlev Briesen (Hrsg.), Raumplanung nach 1945. Kontinuitäten und Neuanfänge in der Bundesrepublik Deutschland. Frankfurt am Main 2015, S.69-91. Zu Hessen und dem »Hessenplan« siehe Dirk van Laak, Mythos »Hessenplan« – Aufstieg und Wandel einer Landesplanung nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Strubelt/Briesen (Hrsg.), Raumplanung nach 1945, S.127-149. 942 Vgl. Lenoir, Instituting Science, S.239-292. 943 José Brunner, Die Politik des Traumas. Gewalterfahrung und psychisches Leid in den USA, in Deutschland und im Israel/Palästina-Konflikt (Frankfurter AdornoVorlesungen 2009). Berlin 2014, S.35-38.

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Brunner betont, aufgrund ihrer Verbindung mit »fundamentalen Gesinnungen und Werteordnungen« sowohl Institutionen wie Staat, Parlament und Parteien als auch politische Werte, Interessen sowie kulturelle, habituelle und mentale Haltungen. Sie könnten also die politische Kultur einer Gesellschaft und ihr Gedächtnis in erheblichem Maß formen.944 Die Traumatisierung der Menschen war nicht nur in Deutschland, sondern in großen Teilen Europas der Normalfall, wie Sven Reichardt und Malte Zierenberg schreiben: Physische Verwundungen und Mangelernährung gehörten ebenso zum sozialen Normalzustand wie »psychische Dystrophie«, also Konzentrationsschwäche, Müdigkeit, Schlaflosigkeit, Verfolgungs- oder sogar Todesangst.945 Horkheimer und Pollock sowie ihre in Europa gebliebenen Eltern waren Opfer der NS-Rassenpolitik geworden.946 Adornos 68-jähriger Vater Oscar Wiesengrund war bei einer Durchsuchung und Verwüstung seines Geschäfts durch die Nationalsozialisten in Frankfurt verletzt und danach mit seiner Frau Maria für mehrere Wochen verhaftet worden. Als Folge der Misshandlungen erlitt er eine Lungenentzündung, bevor er über Kuba in die Vereinigten Staaten übersetzen konnte.947 Vor allem Horkheimer war sich seiner Situation konstanter Unsicherheit in der jungen Bundesrepublik stets bewusst. Um 1950 war für ihn keinesfalls abzusehen, dass Auschwitz sich nicht noch einmal wiederholen würde.948 Schelsky dagegen war, wie sein Lehrer und Freund Gehlen, im Zweiten Weltkrieg körperlich versehrt worden. Einen Arm habe er, wie er an den Öffentlichen Kläger bei der Spruchkammer Karlsruhe im September 1948 schrieb, fast verloren.949 Auch Gehlen nahm sein Leben als beschädigt wahr. Er

944 Brunner, Die Politik des Traumas, S.12f. Vgl. Svenja Goltermann, Die Gesellschaft der Überlebenden. Deutsche Kriegsheimkehrer und ihre Gewalterfahrungen im Zweiten Weltkrieg. München 2009, S.21. 945 Reichardt/Zierenberg, Damals nach dem Krieg, S.45. Vgl. auch Goltermann, Die Gesellschaft der Überlebenden, S.14, 17. 946 Vgl. Jäger, Adorno, S.148f. 947 Jeffries, Grand Hotel Abyss, S.211; Lenhard, Friedrich Pollock, S.185. 948 Max Horkheimer an Theodor W. Adorno vom 03.01.1950, in: Theodor W. Adorno  – Max Horkheimer. Briefwechsel 1927-1969, Bd.IV: 1950-1969, hrsg. v. Christoph Gödde und Henri Lonitz (Theodor W. Adorno. Briefe und Briefwechsel, Bd.4). Frankfurt am Main 2006, S.12f. Hinweise für diese Haltung Horkheimers finden sich auch bei Boll, Max Horkheimers zweite Karriere, S.351. 949 ULB Münster, N. Schelsky 25,102: Helmut Schelsky an den Herrn Öffentlichen Kläger bei der Spruchkammer Karlsruhe vom 14.09.1948, Bl.1-6, hier: Bl.1. Vgl. Gallus, Schillernder Schelsky, S.9; Rehberg, »Images of Mankind«, S.196. Schelsky trug eine Versteifung des rechten Ellenbogens und der Schulter davon. Siehe UA MS, Bestand 8 (Rektorat (ab 1970), Personalangelegenheiten), Nr.9061, Bd.1: Personalbogen, Bl.1f. (undatiert).

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litt über Jahre hinweg an Schlafstörungen und nahm Schlafmittel.950 Im März 1951 schrieb er an Schelsky über Adornos Minima Moralia: »Reflexionen aus dem beschädigten Leben – woher gesehen?«951 Entscheidend für das Denkkollektiv um Horkheimer war, dass seine Mitglieder in der amerikanischen Emigration und unter dem Eindruck der Verfolgung durch die Nationalsozialisten eine bestimmte Haltung entwickelt hatten: Sie waren sich aufgrund ihres jüdischen kulturellen Hintergrunds zwar bewusst, den Juden als »Parias« anzugehören. Allerdings sahen sie sich nicht mehr länger als passive Opfer, sondern wollten aktiv ins Zeitgeschehen eingreifen. Schelsky dagegen thematisierte Fragen nach der Eigenverantwortung oder gar persönlichen Mitschuld an der ihm durchaus bewussten NS-Judenpolitik und Kriegsverbrechen zu keinem Zeitpunkt, sondern schob die Schuld Adolf Hitler und dessen Schergen zu.952 Laut Goltermann war das Streben der westdeutschen Gesellschaft nach Wiederaufbau und erneuter sozialer Sicherheit »von tiefsitzenden Schrecken und quälenden Alpträumen durchsetzt, die der häufig konstatierten Nüchternheit der Nachkriegsgesellschaft deutlich widersprechen.«953 Diese psychischen und physischen Versehrungen begleiteten die zwei Denkkollektive durch die Nachkriegszeit hindurch. Sie waren entscheidende Faktoren sowohl für die vor allem in den frühen 1950er Jahren bestehenden Kooperationsverhältnisse als auch für die ab den späten 1950ern sich verschärfenden Konflikte. Wie gezeigt, hatten sich die Denkstile der Akteursgruppen um Horkheimer in den Vereinigten Staaten und um Schelsky nach dem Zusammenbruch des NSRegimes in Westdeutschland in je drei Wissensebenen aufgespalten. Diese boten nicht nur Anknüpfungspunkte zueinander, sondern auch zu Politikern, Industriellen und Journalisten. Derartige Allianzen trugen entscheidend zur erfolgreichen Etablierung beider Denkkollektive im Nachkriegsdeutschland bei. Insofern ist die Frage fehlgeleitet, welches geistig-politische Milieu für die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik und deren kulturelle Stabilisierung verantwortlich war, die linksliberale Fraktion um das IfS und andere eher links stehende Remigranten wie es Demirović, Albrecht und andere mit unterschiedlicher Akzentuierung reklamieren,954 der Kreis um den Münsteraner Philoso-

950 Adorno-Archiv, 04.1. Privatkorrespondenz, TWAA_Br_0453 Gehlen, Arnold: Bl.10f.: Arnold Gehlen an Theodor W. Adorno vom 24.08.1961. 951 ULB Münster, N. Schelsky 23,112: Arnold Gehlen an Helmut Schelsky vom 06.03.1951. 952 Schäfer, Der Nationalsozialismus und die soziologischen Akteure der Nachkriegszeit, S.124f. Siehe allgemein zu dieser Verdrängungspraxis Herbert, Geschichte Deutschlands, S.666. 953 Goltermann, Die Gesellschaft der Überlebenden, S.17. Vgl. auch ebd., S.24f. 954 Albrecht u.a., Die intellektuelle Gründung; Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle.

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phen Joachim Ritter wie es Jens Hacke vorschlägt955 und zu dem am Rande auch Carl Schmitt gehörte,956 die philosophisch-anthropologisch geschulten Soziologen Schelsky, Heinrich Popitz und Hans Paul Bahrdt,957 die sogenannten »Reichssoziologen« sowie ehemals nationalsozialistischen Demografen und Soziografen, die nach kürzeren Unterbrechungen ihre Karrieren in den 1950er Jahren weiterführten,958 oder die liberale Fraktion um Ralf Dahrendorf.959 Vielmehr war die sozialwissenschaftlich-philosophische »intellektuelle Gründung der Bundesrepublik« ein Prozess des Ineinandergreifens von unterschiedlichen Allianzen und Wissenselementen der jeweiligen Denkkollektive und Akteure. 7.3.1 Die sozialempirische Wissensebene

Mit den Methoden und Techniken der amerikanischen Sozialforschung, die das Denkkollektiv um Horkheimer in der Emigration sich angeeignet und weiterentwickelt hatte, konnten in Deutschland jene sozialempirischen Arbeiten weitergeführt werden, die das IfS in den Vereinigten Staaten und darüber hinaus bekannt gemacht hatten. Die empirische Sozialforschung – insbesondere die Sozialpsychologie – galt für den Auf bau eines neuen und demokratischen Westdeutschlands als wichtige Grundlage, weil über sie die Einstellung der Bevölkerung hinsichtlich ideologisch-politischer Haltungen ermittelt werden konnte. Angesichts der von den amerikanischen Besatzern angestrebten Etablierung eines demokratischen Wertefundaments bei gleichzeitig anzunehmender Kontinuität nationalsozialistischer Ideologeme in der deutschen Bevölkerung stand Horkheimer die Relevanz derartiger Studien klar vor Augen.960 Dieses Bewusstsein war maßgeblich durch die Mitarbeit Neumanns, Marcuses, Kirchheimers und zeitweise auch Pollocks im R&A des OSS und anderen Organisationen geschärft worden. Dort hatten sie im Rahmen des sozialwissenschaftlichen Kriegseinsatzes Expertisen zur NS-Weltanschauung und Konzepte zur Neuerziehung der Deutschen entworfen.961 Horkheimer erhielt zudem die Unterstützung der Amerikaner, sodass sich das IfS für eine bestimmte Zeit nicht um die Akquisition von Forschungsmitteln kümmern 955 Hacke, Philosophie der Bürgerlichkeit. 956 van Laak, Gespräche in der Sicherheit des Schweigens, S.196. 957 Vgl. Fischer, Philosophische Anthropologie  – Ein wirkungsvoller Denkansatz, S.322f. Vgl. auch Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft, S.208-390. 958 Klingemann, Soziologie und Politik, S.257-386. 959 Hübinger, Engagierte Beobachter, S.208f. 960 Dahms, Positivismusstreit, S.281-284. 961 Laudani, Introduction, S.14f., 22. Siehe auch Söllner, Archäologie der deutschen Demokratie, und die dort aufgeführten, ins Deutsche übersetzten Berichte Neumanns, Kirchheimers und Marcuses. Auch Morris Janowitz, Koautor des Bands Dynamics of Prejudice in der von Horkheimer und Flowerman herausgegebenen Reihe »Studies in Prejudice«, hatte für das OSS gearbeitet.

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musste – ganz im Gegensatz zur bisherigen Arbeit in den Vereinigten Staaten.962 Gleichwohl war das in der Emigration erlernte marktorientierte Einwerben von Forschungsgeldern für zeitlich begrenzte Projekte eine wichtige Grundlage für die Arbeit des IfS nach 1950.963 Schelsky war mit Ansätzen der amerikanischen, britischen und französischen Sozialwissenschaften ebenfalls vertraut, die er sich zusammen mit Gehlen im Schnelldurchlauf zwischen etwa 1946 und 1948 angeeignet hatte. In Hamburg standen ihm die gesellschaftlichen Anwendungsmöglichkeiten sozialempirischer Forschung deshalb ebenso klar vor Augen. Außerdem ließ sich mit der nun angeblich angebrochenen »Suche nach Wirklichkeit« und seinem Diktum vom »Realitätsdrall« die Distanzierung von der idealistischen Philosophie glaubwürdig vermitteln. Er konnte in den Chor von Soziologen und Ideenhistorikern wie Robert K. Merton und Isaiah Berlin einstimmen, die den idealistischen Philosophien Kants und Hegels eine Mitschuld am Nationalsozialismus zuschrieben.964 Im Unterschied zu Horkheimer, Pollock und Adorno hatte Schelsky bis dahin allerdings keine Erfahrung mit der Leitung sozialempirischer Projekte. Für seine Arbeit an der Akademie für Gemeinwirtschaft war er deshalb auf Teams von erfahrenen Sozialforscherinnen und Sozialforschern angewiesen, wie etwa Elisabeth Pfeil, die vor 1945 durch die Erstellung stadtsoziologischer Expertisen der NS-Bevölkerungspolitik zugearbeitet hatte.965 7.3.2 Die gesellschaftsphilosophisch-staatsrechtliche Wissensebene

Für das Denkkollektiv um Horkheimer eröffnete eine Rückkehr nach Frankfurt die Möglichkeit, sich im öffentlichen Raum als Intellektuelle zu engagieren, gesellschaftsphilosophisches Wissen für die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft bereitzustellen und die Deutschen womöglich zur Reflektion über die jüngste Vergangenheit wie gesellschaftliche Werte anzuregen. Die Kritische Theorie sollte in popularisierter Form weitergeführt werden, stand doch zu erwarten, dass das dialektisch-geschichtsphilosophische Idiom Horkheimers und Adornos bei deutschen und insbesondere bei Frankfurter Intellektuellen, Wissenschaftlern und 962 Fleck, Transatlantische Bereicherungen, S.363, 373-375, 388, 393, 397; Ziege, Antisemitismus und Gesellschaftstheorie, S.159f.; Walter-Busch, Geschichte der Frankfurter Schule, S.131-134. 963 Vgl. Fleck, Etablierung in der Fremde, S.226. Vgl. beispielhaft Theodor W. Adorno an Siegfried Kracauer vom 03.05.1938, in: Theodor W. Adorno – Siegfried Kracauer. Briefwechsel, S.381-388, hier: S.385. 964 Helmut Schelsky, Einleitung [1964], in: ders., Auf der Suche nach Wirklichkeit, S.11-18, hier: S.12. Vgl. Merton, Science and Technology in a Democratic Order. Siehe auch Coser, Robert K. Merton, S.154f.; Dubnov, Isaiah Berlin, S.72, 138, 195. 965 Klingemann, Soziologie und Politik, S.166f.

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Studierenden auf stärkere Resonanz stoßen würde als in den Vereinigten Staaten.966 Dies galt auch für die sprachliche Ebene. Adorno meinte 1965 retrospektiv, dass seine Texte in Deutschland nicht »filtriert werden müssen, gehorsam jener fast universalen Technik der Adaption, der Bearbeitung, des Arrangements, die in Amerika ohnmächtige Autoren über sich ergehen lassen müssen.« Bereits damals sei ihm bewusst gewesen, dass »die Autonomie, die ich als unbedingtes Recht des Autors auf die integrale Gestalt seiner Produktion verfocht, gegenüber der hochrationalisierten wirtschaftlichen Verwertung auch geistiger Gebilde zugleich etwas Rückschrittliches hatte.«967 Zudem habe für ihn die deutsche Sprache »eine besondere Wahlverwandtschaft zur Philosophie, und zwar zu deren spekulativem Moment, das im Westen so leicht als gefährlich unklar – keineswegs ohne allen Grund – beargwöhnt wird.«968 Das Denkkollektiv um Horkheimer war sich einig darin, dass sich die Deutschen nach Shoah und Weltkrieg an ideellen Leitmustern wie Freiheit, Demokratie, Antitotalitarismus, Antiautoritarismus, Nonkonformismus sowie der Bekämpfung des Antisemitismus orientieren sollten. Neumann hatte bereits in seiner in den frühen 1940er Jahren erschienenen Studie Behemoth den Zusammenbruch der Weimarer Republik auch daraus abgeleitet, dass die Weimarer Gründerväter »die Formulierung einer neuen Weltanschauung und eines neuen allumfassenden, allgemein anerkannten Wertsystems« unterlassen hätten.969 Stattdessen sei die Weimarer Verfassung auf ideologischer Ebene Stückwerk geblieben und habe sich auf einen politischen Pluralismus kapriziert, »der sich hinter der Form der parlamentarischen Demokratie verbarg«. Dadurch sei die Souveränität des Staates auf eine gesellschaftliche Institution unter anderen reduziert gewesen.970 In Nachkriegsdeutschland sollte deshalb der Staat als auf demokratische Grundwerte verpflichteter Souverän auftreten – und die Vermittlung derselben wollten Intellektuelle wie Horkheimer, Adorno und Neumann selbst leisten. Neumann etwa engagierte sich nach 1945 für den Aufbau der Politikwissenschaft971 und initiierte 1948 die Gründung des Instituts für politische Wissenschaft an der Freien Universität Berlin.972 Ähnlich wie später das IfS sollte das Berliner Insti966 Vgl. Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle, S.433. 967 Theodor W. Adorno, Auf die Frage: Was ist deutsch [1965], in: ders., Kulturkritik und Gesellschaft II, S.691-701, hier: S.698. 968 Ebd., S.699f. Vgl. auch ders., Wissenschaftliche Erfahrungen, S.702f. Vgl. Dahms, Positivismusstreit, S.277; Müller-Doohm, Adorno, S.494. 969 Franz L. Neumann, Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 19331944, hrsg. und mit einem Nachwort v. Gert Schäfer, 5. Aufl. Frankfurt am Main 2004 [1942/44], S.32. 970 Ebd., S.32-34. 971 Vgl. Müller, Krieger und Gelehrte, S.317-339, 349-365, 553-566. 972 Neumann war damals Professor an der Columbia University in New York und stand durch seine Arbeit für die Gewerkschaften vor 1933 in Kontakt mit der

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tut auch sozial- und politikwissenschaftliches Wissen für den Aufbau der westdeutschen Demokratie generieren.973 Für Horkheimer, Pollock und Adorno stellte der demokratische Staat die einzige politische Struktur dar, die den Faschismus im Zaum halten konnte. Ihre Erfahrungen in den Vereinigten Staaten, wo die Bevölkerung demokratische Werte und demokratisches Verhalten stärker verinnerlicht hatte als die Deutschen, sind hierbei nicht zu unterschätzen.974 Diese Haltung war zugleich aber auch ein Resultat der Distanzierung vor allem Horkheimers vom Marxismus. Im November 1952 schrieb er Adorno, der sich zu diesem Zeitpunkt in den Vereinigten Staaten aufhielt, von seinem Schrecken über den »tschechischen Prozess«. Er bezog sich dabei auf den Schauprozess gegen 14 führende Kommunisten, »die des Hochverrats und der titoistischen und zionistischen Verschwörung angeklagt« und hingerichtet worden waren. Für ihn hatte »die Schändung des Menschen eine neue Qualität erreicht«. Die »östlichen Henker« schienen ihm »almost Nazi like« zu sein.975 Allerdings stand die Abkehr von marxistischen Überzeugungen auch im Zusammenhang mit strategischen Überlegungen Horkheimers angesichts des sich radikal verschärfenden Antikommunismus in Amerika und der Bundesrepublik in den frühen 1950er Jahren.976 Es steht zu vermuten, dass diese Praktiken Horkheimer an die NS-Verfolgungspolitik politisch, religiös und »rassisch« Missliebiger erinnerten.977 Eine solche Deutung würde mit der in der Dialektik der Aufklärung formulierten anthropologisch unterlegten Geschichtsphilosophie korrespondieren, die amerikanische Konsumkultur, Faschismus und Sowjetkommunismus als Pathologien der Moderne schlechthin auffasste. Folglich

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Hochschule für Politik, die 1950 in das Institut für politische Wissenschaft umgewandelt wurde. An diesem Institut erhielt Otto Stammer eine Professur für Soziologie und Politische Wissenschaft. Siehe Lönnendonker, Das Institut für politische Wissenschaft, S.189f. Das Institut war mit Geldern der Deutschen Hochschule für Politik, der Freien Universität, der Ford und der Rockefeller Foundation gegründet worden und wurde 1958 in die Freie Universität eingegliedert. Allgemein zur Gründung der Freien Universität Berlin siehe Paulus, Vorbild USA?, S.171-204. Plé, Wissenschaft und säkulare Mission, S.274-276. Claussen, Intellectual Transfer, S.9; Jay, Adorno in Amerika, S.53. Max Horkheimer an Theodor W. Adorno und Gretel Adorno vom 30.11.1952, in: Theodor W. Adorno – Max Horkheimer. Briefwechsel 1927-1969 (Bd.IV), S.8289, hier: S.86. Vgl. Jacobs, The Frankfurt School, S.44. Das IfS wurde seit den späten 1930er Jahren vom FBI mit Argusaugen überwacht, erst am 18. Juli 1941 ließ FBI-Chef Herbert Hoover persönlich die Überwachung beenden. Siehe Lenhard, Friedrich Pollock, S.167. Vgl. Herbert, Geschichte Deutschlands, S.669; Jeffries, Grand Hotel Abyss, S.72. Mit dem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten verschärfte sich die Lage für »enemy aliens« auf amerikanischem Boden. Vgl. auch Müller-Dohm, Adorno, S.454-456.

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spielte es für Horkheimer, Pollock und Adorno letztlich keine Rolle, ob sie sich in den Vereinigten Staaten oder im postfaschistischen Nachkriegsdeutschland befanden – ja es sei »fast schon gleichgültig […], wo man sich befindet«.978 Die Mitglieder der Gruppe um Horkheimer gehörten zu jenen deutschjüdischen Sozialwissenschaftlern, die ihre gesellschaftsphilosophischen Vorstellungen in der Weimarer Republik entworfen und in der amerikanischen Emigration als Demokratisierungspraxis weiterentwickelt hatten. Nun wandten sie diese in angepasster Form auf Westdeutschland an. Ein ähnlicher intellektueller Prozess lässt sich, wie Udi Greenberg zeigt, auch für Carl J. Friedrich, Ernst Fraenkel, Waldemar Gurian, Karl Loewenstein und Hans J. Morgenthau feststellen. Deren in der Weimarer Republik entworfenen demokratische Ideen und Modelle konkretisierten sich erst in den Vereinigten Staaten und wurden dann nach 1945 in Westdeutschland implementiert.979 Auch waren »the democratization of Germany and the defeat of global communism […] inseparable campaigns that informed and fueled each other.«980 Es waren deshalb genau jene deutsch-jüdisch-amerikanischen Sozial- und Politikwissenschaftler, die die amerikanisch-westdeutsche Allianz knüpfen halfen, die im frühen Kalten Krieg den »Westblock« ideologisch maßgeblich tragen sollte.981 Auch Schelsky war klar, dass die Deutschen nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus Orientierungswissen benötigten. Deshalb wandelte er seine im NS-Regime noch völkisch aufgeladene Rechts- und Staatsphilosophie nach 1945 in eine am angelsächsischen Rechts- und Staatsmodell angelehnte Staatsund Verfassungslehre um. Diese schloss sowohl den Parlamentarismus und pragmatisch-demokratisches Bewusstsein als auch seine ehemals deutschvölkischpartikularistischen Ansichten ein. Damit erschienen die Demokratievorstellungen der amerikanisch-englischen Besatzer nicht mehr als ein den Deutschen künstlich aufgezwungenes Politik- und Moralsystem. Vielmehr konnte Schelsky ein neues demokratisches Bewusstsein aus dem Nomos der Deutschen selbst herleiten. Insofern vermittelte auch er zwischen Demokratiekonzepten amerikanischenglischer Provenienz und deutschen Staats- und Rechtsvorstellungen, die mehrheitlich noch aus der Zeit des Nationalsozialismus stammten. Wie Horkheimer, Pollock und Adorno in den Vereinigten Staaten orientierte sich Schelsky nach dem Zweiten Weltkrieg an der bürgerlichen Mitte, gegen die 978 Theodor W. Adorno an Thomas Mann vom 01.08.1950, in: Theodor W. Adorno – Thomas Mann. Briefwechsel, S.80-84, hier: S.80f. Pollock war dabei derjenige, der einer Rückkehr nach Deutschland am längsten ablehnend gegenüberstand. Erst mit dem Ausbruch des Koreakrieges 1950 sprach er sich für die von Horkheimer und Adorno befürwortete Rückkehr nach Frankfurt aus. Siehe Lenhard, Friedrich Pollock, S.269f. 979 Greenberg, The Weimar Century, S.3. 980 Ebd., S.5. 981 Ebd., S.11. Vgl. auch Forner, German Intellectuals, S.6.

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er in der NS-Zeit noch agitiert hatte. 1953 manifestierte sich dies in seiner Denkfigur der »nivellierten Mittelstandsgesellschaft«.982 Wie andere nationalsozialistisch belastete Wissenschaftler und Intellektuelle transformierte er seinen Antibolschewismus in einen antikommunistisch ausgerichteten Antitotalitarismus, der nun christliche Werte mit liberal-demokratischen Ideen Englands und Amerikas verband.983 Dies entsprach, so Jan-Werner Müller, der Idee einer »christlichen Demokratie«, die die »most important ideological innovation of the postwar period« gewesen sei und sich etwa in der Gründung der CDU niedergeschlagen habe.984 Diese Partei war nach 1945 die einzige Neugründung und stieg ab den 1950er zur dominanten politischen Kraft in der Bundesrepublik auf.985 7.3.3 Die erziehungspolitische Wissensebene Über ihre sozialwissenschaftliche Erziehungspraxis wollten beide Denkkollektive den wissenschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen und öffentlichen Institutionen der Bundesrepublik Demokratisierungswissen vermitteln. Für die Gruppe um Horkheimer war die demokratische Erziehung der Studierenden ein Hauptgrund für die Rückkehr nach Deutschland. Auch die amerikanischen Besatzungsbehörden und Frankfurter Politiker sahen Horkheimer, Pollock und Adorno für solche Erziehungsaufgaben als besonders geeignet an: Sie hatten deutsche Wurzeln, einen jüdischen Hintergrund und repräsentierten emigrationsbedingt liberal-demokratische Werte amerikanischer Prägung.986 Gleichwohl schätzten Horkheimer und Adorno die Chancen auf eine systemverändernde politische Praxis zunächst als eher gering ein. Dies schloss jedoch nicht aus, dass sehr wohl

982 Vgl. Hans Braun, Helmut Schelskys Konzept der ›nivellierten Mittelstandsgesellschaft‹ und die Bundesrepublik der 50er Jahre, in: Archiv für Sozialgeschichte 20 (1989), S.199-223. 983 Für Freyer siehe Muller, The Other God That Failed, S.331-335. Vgl. auch Rabinbach, Restoring the German Spirit. Vgl. auch Moses, German Intellectuals, S.113; Strote, Lions and Lambs, S.218, mit Bezug auf Heinrich August Winkler. Zum Antikommunismus und seinen sozialpsychologischen Implikationen siehe auch Gesine Schwan, Antikommunismus und Antiamerikanismus in Deutschland. Kontinuität und Wandel nach 1945. Baden-Baden 1999. 984 Müller, Contesting Democracy, S.130. Vgl. Strote, Lions and Lambs, S.13. Vgl. auch Herf, Divided Memory, S.268; Reitmayer, Elite, S.108. 985 Bessel, Germany 1945, S.310, 314. Vgl. Müller, Contesting Democracy, S.130. 986 HHStAW, Abt. 504, Nr.374, Bl.69: Besprechung bei der Landesmilitärregierung am 9. Juli 1948, 10.07.1948.

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»eine Art verändernder Praxis möglich und geboten schien, allerdings bezogen mehr auf die subjektiven als auf die objektiven Strukturen; eine Praxis, die langfristig angelegt war, die nicht einer selbstzweckhaften Ersatzbefriedigung der Akteure diente und sich nicht in eine falsche Unmittelbarkeit verlor«,987 wie Gunzelin Schmid Noerr betont. Dem Denkkollektiv um Horkheimer ging es vor allem darum, im Rahmen der universitären Lehre und der sozialempirischen Forschungen am IfS die Lebenshaltung des »nonkonformistischen Intellektuellen« zu vermitteln.988 Schelskys sozialwissenschaftliche Erziehungspraxis orientierte sich dagegen an Gehlens Institutionenlehre. Er begriff Letztere jedoch nicht als reine Gesellschaftstheorie und Medium einer Kultur- und Modernitätskritik. Vielmehr sah er die Institutionenkategorie, so Patrick Wöhrle, durch einen »forschungspragmatischen Vorteil [gerechtfertigt], der eng mit der zeitgeschichtlichen Situation in Beziehung steht.«989 Bronislaw Malinowski folgend ging Schelsky davon aus, dass »Institutionen in ihrem funktionalen Bezug auf das menschliche Bedürfnisleben immer auch Folgebedürfnisse hervorbringen, die zu ganz neuen institutionellen Arrangements führen und so die gesamte institutionelle Infrastruktur einer Gesellschaft dynamisieren«.990 Hieraus ergaben sich für ihn Möglichkeiten, den institutionell geförderten und im Wechselspiel mit den Bedürfnissen der Menschen gestützten sozialen Wandel erziehungspolitisch zu steuern: Schelsky wollte nicht nur über Institutionen nachdenken und schreiben, sondern in ihnen selbst wirken.991 Sein erziehungspolitisches Ziel war die Schulung einer sozialwissenschaftlich informierten Funktionselite als Trägerin der staatlichen, wirtschaftlichen und Bildungsinstitutionen der Bundesrepublik.

987 Gunzelin Schmid Noerr, Aufklärung und Mythos. Von der Dialektik der Aufklärung zur Erziehung nach Auschwitz, in: Richard Faber/Eva-Maria Ziege (Hrsg.), Das Feld der Frankfurter Kultur- und Sozialwissenschaften nach 1945. Würzburg 2008, S.17-33, hier: S.29. 988 Ebd., S.30. Vgl. Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle. 989 Wöhrle, Zur Aktualität von Helmut Schelsky, S.31. 990 Ebd. Vgl. auch ebd., S.40. 991 Vgl. ebd., S.48f.

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7.4 Neue und alte Allianzen: Kooperationsverhältnisse – Konkurrenzlagen – Konfliktpotenziale Entscheidenden Einfluss auf Horkheimers, Pollocks und Adornos erfolgreiche Wiederaufnahme ihrer Laufbahnen in Westdeutschland waren starke Allianzen auf transatlantischer Ebene. Hierzu gehörten Bündnisse mit amerikanischen Besatzungsoffizieren und Wissenschaftlern, die in amerikanischen Diensten standen und oft selbst zu den Emigranten zählten. Ebenso wichtig waren Allianzen mit anderen Remigranten, westdeutschen Politikern, insbesondere Bildungspolitikern im hessischen Kultusministerium, sowie mit westdeutschen Intellektuellen, die während des NS-Regimes zwar in Deutschland geblieben waren, aber nicht für die Nationalsozialisten votiert hatten. Dabei wurden Remigranten wie Horkheimer, Pollock und Adorno von einzelnen Emigranten und Emigrantenorganisationen wegen ihrer Rückkehr nach Deutschland heftig kritisiert. Adolph Lowe, der 1933 seine Frankfurter Professur verloren hatte, wollte den Aufruf zur Neugründung des IfS partout nicht unterzeichnen, da er »diese infame Einrichtung«  – die Universität Frankfurt  – nicht unterstütze.992 Dies führte zu einer starken Bindung unter den Zurückgekehrten. Für die Etablierung in der jungen Bundesrepublik waren aber auch Kooperationen mit deutschen Professoren wichtig, die aufgrund der bundesrepublikanischen Amnestiepolitik um 1950 wieder in Amt und Würden waren, und mit jüngeren deutschen Sozialwissenschaftlern, die ihre Laufbahnen während des NS-Regimes begonnen hatten. Zu den Letzteren gehörte Schelsky, den Adorno im Mai 1954 zur Einreichung von Artikeln für die geplante Frankfurter Zeitschrift für Sozialforschung einlud.993 Die von der amerikanischen Wissenschaftspolitik994 unterstützten IfSMitarbeiter gehörten wie Schelsky zu einer Wissenschaftlergemeinschaft, die sich Kommunikations- und Verständigungsebenen erschließen musste. Hierbei ging es auch darum, wie René König auf der Eröffnungsfeier des IfS 1951 hervorhob, dass ein »wesentlicher Teil unserer Energie als Sozialforscher […] nicht so sehr durch unsere Arbeit im Dienste der Forschung oder Lehre, sondern vielmehr durch den unablässigen Kampf gegen die Vorurteile der öffentlichen Meinung gegenüber Soziologie und Sozialforschung verzehrt«995 992 Jäger, Adorno, S.211. Vgl. Bergmann, ›Wir haben Sie nicht gerufen‹, S.24; Brenner, Jüdische Geistesgeschichte, S.27f. 993 Müller-Doohm, Adorno, S.515. 994 Weyer, Westdeutsche Soziologie, S.310. 995 Zitiert nach: Michael Neumann, Leopold von Wiese über Th. W. Adornos u.a. »Authoritarian Personality«, in: Cobet (Hrsg.), Einführung in Fragen an die Soziologie in Deutschland nach Hitler, S.115-122, hier: S.120.

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werde. »Unser gemeinsamer Feind ist nicht einmal so sehr der böse Wille als vielmehr die verhängnisvolle Unwissenheit großer Schichten«.996 Daneben bestanden jedoch auch Konkurrenzen, die sich potenziell zu größeren Konflikten entwickeln konnten. Kärin Nickelsen zeigt für die Naturwissenschaften, dass dort Kooperationsverhältnisse und Konkurrenzlagen oft eng miteinander verschränkt waren.997 Ähnliches galt für das Aufbaujahrzehnt der westdeutschen Sozialwissenschaften.998 Allerdings gingen daraus erst Ende der 1950er Jahre schwerwiegende Konflikte und Zerwürfnissen hervor. Diese Konkurrenzen des IfS zu anderen Sozialwissenschaftlern sowie Instituten der empirischen Sozial- und Meinungsforschung in den 1950er und 1960er Jahren hat insbesondere Alex Demirović detailliert herausgearbeitet.999 Für Schelsky steht eine solche Darstellung noch aus. 7.4.1 Neue und alte Allianzen der beiden Denkkollektive Horkheimer, Pollock und Adorno unterhielten gute Beziehungen zu zentralen Akteuren der amerikanischen Besatzungsmacht sowie der westdeutschen Erziehungs- und Hochschulpolitik. Diese waren ausschlaggebend für die Wiederaufnahme der Tätigkeit des IfS in zunächst provisorisch eingerichteten Räumen der Frankfurter Universität. Das ursprüngliche Institutsgebäude aus den 1920er Jahren war zerstört worden. Zu den Geldgebern gehörten allen voran der McCloy-Fonds, das hessische Kultusministerium und die Stadt Frankfurt, außerdem weitere private Unterstützer.1000 Zu den Allianzpartnern der intellektu996 Ebd. 997 Kärin Nickelsen, Kooperation und Konkurrenz in den Naturwissenschaften, in: Ralph Jessen (Hrsg.), Konkurrenz in der Geschichte. Praktiken – Werte – Institutionalisierungen. Frankfurt am Main/New York 2014, S.353-379. 998 Weischer, Das Unternehmen ›Empirische Sozialforschung‹, S.35f. Vgl. Lepsius, Die Entwicklung der Soziologie. 999 Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle, S.279-310, 352f., 357-360, 368-372. 1000 Archiv IfS, Aa1: Adorno-Korrespondenz B, 2: Memorandum Theodor W. Adorno an Prof. Dr. Benecke vom 05.10.1953, Bl.1-6, hier: Bl.12. Vgl. UAF, Abt. 134, Nr.234, Bl.118: Der Hessische Minister für Erziehung und Volksbildung (gez. Metzger) an das Universitäts-Kuratorium, Wiesbaden, im März 1951 (nicht paginiert). Horkheimer berichtete im Juni 1956, dass das IfS vom HICOG 204.000 DM erhalten habe. »Bei Anrechnung des Werts des Grundstücks, das von der Gesellschaft für Sozialforschung zur Verfügung gestellt wurde (DM 50.000.-) und die von der Stadt geleistete Entrümpelung von DM 30.000.- sind für den Bau selbst DM 100.000.aus dem Wertausgleich, DM 130.000.- aus weiteren städtischen Quellen, und DM 236.000.- aus Mitteln des McCloy Funds zur Verfügung gestellt worden.« Siehe UBA Ffm, Na 1, 133, Bl.154: Max Horkheimer an Regierungsrat Lindner, Hessisches Ministerium für Erziehung und Unterricht, vom 23.06.1951. Vgl. auch Heufelder, Der

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ellen Neugründung der Bundesrepublik1001 zählte unter anderem Shepard Stone, der 1944 am Einmarsch der US-Armee in Europa beteiligt gewesen war. Ab 1946 hatte er die amerikanischen Besatzungsbehörden beraten und den Wiederaufbau des westdeutschen Zeitungswesens forciert. Nach einem kurzen Aufenthalt in den Vereinigten Staaten kehrte er nach Westdeutschland zurück. Er wurde Stellvertreter des Sonderberaters für öffentliche Angelegenheiten und Informationswesen im HICOG. Von 1950 bis 1952 leitete er dieses Amt.1002 Horkheimer traf den eifrigen Netzwerker Stone 1950/51 mehrfach. Seit 1947 setzte er sich für die Einrichtung eines Austauschprogramms zwischen Professoren und Studenten der Universität Frankfurt und der University of Chicago – das erste dieser Art in Westdeutschland1003 – ein. Von Stone wusste er, dass dieser solche Programme förderte.1004 Auch Adorno beriet sich während seiner Zeit als Forschungsdirektor der Hacker Psychiatric Foundation in Kalifornien 1952/531005 mit Stone über seine weitere Karriere. Beide sprachen etwa über die Möglichkeit, ob Adorno als Berater der Ford Foundation in Sachen Sozialforschung fungieren könne.1006 Stone blieb auch in den Folgejahren ein wichtiger Ansprechpartner des IfS, zumal er

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argentinische Krösus, S.165; Müller-Doohm, Adorno, S.508; Weyer, Westdeutsche Soziologie, S.357. Strote, Lions and Lambs, S.153. Vgl. Forner, German Intellectuals, S.20f. Berghahn, Transatlantische Kulturkriege, S.75-104. Wheatland, The Frankfurt School in Exile, S.272-274. Amherst College Special Collection, Box HC2, Series 13A: HICOG (Part 1), John J. McCloy Papers: Note on Max Horkheimer, dinner with Shepard Stone, vom 18.04.1950; Rauner Library, Dartmouth College Special Collections: Folder 35, Correspondence A-J, 1951, Box 12, Series 4: High Commission For Germany (HICOG), 1949-1953, Shepard Stone Papers, ML-99: Max Horkheimer an Shepard Stone vom 26.11.1951. Ich danke Scott Krause dafür, dass er die genannten Archivalien zur Verfügung gestellt hat. Zum intellektuellen deutsch-amerikanischen Austausch nach 1945, besonders aber nach der Gründung der Bundesrepublik, siehe Füssl, Deutsch-amerikanischer Kulturaustausch, S.185-201. Siehe auch Helmut Coing, Der Wiederaufbau und die Rolle der Wissenschaft, in: ders. u.a., Wissenschaftsgeschichte seit 1900, S.85-99, hier: S.91. Maßgebend für die Schaffung dieses Austauschprogramms war Robert Maynard Hutchins, der Präsident der University of Chicago. Benzer, The Sociology, S.106; Müller-Doohm, Adorno, S.527-535. Die Hacker Psychiatric Foundation war zum Zweck der Durchführung gemeinsamer Forschungsprojekte von IfS und dem österreichisch-amerikanischen Psychiater Frederick J. Hacker gegründet worden. Den Vorsitz der Foundation hatte Friedrich Pollock übernommen. Siehe Lenhard, Friedrich Pollock, S.253. Theodor W. Adorno an Max Horkheimer vom 12.11.1952, in: Theodor W. Adorno  – Max Horkheimer. Briefwechsel 1927-1969 (Bd.IV), S.64-71, hier: S.66f. Vgl. auch Theodor W. Adorno an Max Horkheimer vom 31.03.1952, in: Theodor W. Adorno – Max Horkheimer. Briefwechsel 1927-1969 (Bd. IV), S.48-51.

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ab 1954 das International Affairs (U.S. and Europe) Program bei der zunehmend einflussreicheren Ford Foundation leitete und als Förderer westdeutscher Hochschulen auftrat.1007 Fritz Karsen, den das IfS in New York 1938/39 bei einem Stipendium des EC unterstützt hatte und der von 1946 bis 1948 als Chef der Abteilung Higher Education and Teacher Training in the Office of Education and Cultural Relations beim OMGUS arbeitete, gehörte ebenfalls zu den transatlantischen Verbindungsleuten Horkheimers.1008 Letzterer und seine Mitstreiter hatten in der amerikanischen Emigration zudem ein Committee of the Friends of the Institute of Social Research ins Leben gerufen, dessen Advisory Committee zeitweise bis zu 30 Mitglieder angehörten. Die sozialen Kontakte zu einflussreichen Kreisen in New York und später in Kalifornien, zu denen Otto Klineberg, Ernst Kris, Paul F. Lazarsfeld, Margaret Mead, Robert K. Merton, Hans Richter, Raymond Aron und viele mehr gehörten, förderten das internationale Ansehen des IfS und dessen Neuetablierung in Deutschland.1009 Besonders eng waren die Kontakte zur Columbia University und zur University of Chicago, den beiden Eliteinstitutionen der amerikanischen Sozialwissenschaften neben Harvard und Yale.1010 Zu den jüdischen Remigranten, mit denen die Gruppe um Horkheimer in Kontakt stand, gehörte auch Fritz Bauer. Schon 1937 hatte Bauer aus dem dänischen Exil bei Horkheimer angefragt, ob er bei der Zeitschrift für Sozialforschung mitarbeiten könnte.1011 Dazu kam es zwar nicht. Allerdings lud Bauer nach seiner Rückkehr nach Deutschland 1949 – er hatte dank revitalisierter Kontakte zu SPD-Leuten wie Kurt Schumacher und Willy Brandt den Posten des Generalstaatsanwalts in Braunschweig erhalten1012  – Horkheimer im Februar 1954 ein, im Schwurgerichtssaal einen Vortrag über die »Wandlungen des Menschenbildes« zu halten.1013 Wichtige Allianzpartner waren darüber hinaus Alex1007 Berghahn, Transatlantische Kulturkriege, S.224-235, 258f.; Plé, Wissenschaft und säkulare Mission, S.215-217. 1008 UBA Ffm, Na 1, 26, Bl.292: Fritz Karsen an Max Horkheimer vom 04.10.1948; Bl.301f.: Max Horkheimer an Fritz Karsen vom 05.02.1948. 1009 Fleck, Etablierung in der Fremde, S.152, 158; Später, Siegfried Kracauer, S.463f. Vgl. UBA Ffm, Na 1, 5, Bl.29-34: Draft, Projektbeschreibung, Beilage zum Memorandum zum Antisemitismus-Projekt, undatiert [vermutlich Frühjahr 1940], hier: Bl.34. 1010 Abbott, Library Research, S.49-50, 52. 1011 UBA Ffm, Na 1, 4, Bl.228: Fritz Bauer an Max Horkheimer vom 01.02.1938; UBA Ffm, Na 1, 26, Bl.230: Fritz Bauer an Max Horkheimer vom 21.09.1937. 1012 Irmtrud Wojak, Fritz Bauer 1903-1968. Eine Biographie. München 2011 [2009], S.215-243. 1013 Detlev Claussen, Unter uns. Die Remigranten Fritz Bauer, Max Horkheimer und Theodor W. Adorno treffen sich in Frankfurt, in: Fritz Bauer Institut/Katharina Rauschenberger (Hrsg.), Rückkehr in Feindesland? Fritz Bauer in der

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ander Mitscherlich und René König. Zu Letzterem hielt vor allem Adorno freundschaftlichen Kontakt. König, der bereits zur Eröffnungsfeier der IfS 1951 einen Vortrag gehalten hatte, beteuerte im Januar 1952, »wie sehr es mich gefreut hat, mit Ihnen und Herrn Horkheimer wieder einmal zusammenzutreffen. Ich muss auch wiederholen, was ich Ihnen schon mündlich sagte, dass mir die angedeuteten Perspektiven eine ganz besondere Freude machen.«1014 Bei weiteren Zusammentreffen wurde über Methoden und Praktiken der empirischen Sozialforschung diskutiert. Im Juni 1953 sprach König im Kolloquium des IfS über »Bemerkungen zum Verhältnis von Sozialpsychologie und Soziologie«. 1955 bat ihn Adorno um einen Aufsatz für die hauseigene Zeitschrift des IfS.1015 Mitscherlich hatte bereits vor 1945 Kontakte zum konservativen Widerstand aufgenommen. Er gehörte deshalb zu jenen deutschen Wissenschaftlern und Intellektuellen, die die Amerikaner auf ihrer weißen Liste am Wiederaufbau der deutschen Bildungsinstitutionen beteiligen wollten. Mitscherlich engagierte sich zusammen mit Dolf Sternberger, Karl Jaspers, Alfred Weber und anderen bei der Wiedereröffnung der Universität Heidelberg. Am 22.  November 1946 gründete er mit Weber und Sternberger die Heidelberger Aktionsgruppe für Demokratie und Freien Sozialismus. Diese bestand bis 1949 und veranstaltete jährlich etwa drei Tagungen mit ein- bis zweihundert Teilnehmern, darunter auch führende Politiker.1016 Die Ärztekammer der drei Westzonen beauftragte Mitscherlich außerdem mit der Leitung einer Kommission zur Beobachtung der NS-Ärzteprozesse in Nürnberg. Er verfasste daraufhin einen entlarvenden und äußerst kritischen Bericht über die Beteiligung deutscher Ärzte an NS-Verbrechen. Dieses Thema griff er in dem zusammen mit Fred Mielke herausgegebenen jüdischen Nachkriegsgeschichte (Jahrbuch 2013 zur Geschicht und Wirkung des Holocaust). Frankfurt am Main/New York 2013, S.107-117, hier: S.110f. 1014 Archiv IfS, Aa1: Adorno-Korrespondenz K, 2: René König an Theodor W. Adorno vom 14.01.1952, S.1f., hier: S.1. 1015 Archiv IfS, Aa1: Adorno-Korrespondenz K, 2: René König an Theodor W. Adorno vom 12.11.1954, S.1f.; René König an Theodor W. Adorno vom 24.06.1954, S.1f.; René König an Theodor W. Adorno vom 17.01.1955; Archiv IfS, Ordner: Anlagen zum Tagebuch 14.11.1951: Einladung: Vortrag von René König: »Bemerkungen zum Verhältnis von Sozialpsychologie und Soziologie«, Montag, 07.06.1953, 20 Uhr. Siehe auch Müller-Doohm, Adorno, S.512f. 1016 Martin Dehli, Leben als Konflikt. Zur Biographie Alexander Mitscherlichs. Göttingen 2007, S.124-126, 130-133; Forner, German Intellectuals, S.26f.; Tobias Freimüller, Alexander Mitscherlich. Gesellschaftsdiagnosen und Psychoanalyse nach Hitler (Beiträge zur Geschichte des 20. Jahrhunderts, Bd.6/Beiträge zur Geschichte des 20. Jahrhunderts, Bd. 28). Göttingen 2007, S.56-96.

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Band Wissenschaft ohne Menschlichkeit 1949 nochmals auf.1017 Bei der westdeutschen Ärzteschaft war er damit Persona non grata, nicht aber bei Akteuren des IfS. Mitscherlich wechselte 1960 von der Universität Heidelberg ans SigmundFreud-Institut in Frankfurt. Er setzte sich für die Etablierung der Psychoanalyse und der psychosomatischen Medizin in der Bundesrepublik ein.1018 Allerdings: König und Mitscherlich hatten eine nationalistische Vergangenheit. Ob dies dem Denkkollektiv um Horkheimer bekannt war, lässt sich nicht feststellen. Mitscherlich hatte in den 1920er und frühen 1930er Jahren in Berlin dem Umkreis der jungkonservativen Neuen Nationalisten um Ernst Jünger, Ernst von Salomon, Arnolt Bronnen und Gerhard Rossbach angehört. Er war dann aber – wie andere Jungkonservative – 1937 bei den Nationalsozialisten in Ungnade gefallen und nach Zürich emigriert. Dort freundete er sich mit König an, den er bereits aus Berlin kannte.1019 Dieser wiederum hatte 1935 die Schrift Vom Wesen der deutschen Universität verfasst, die mit ihren völkischen Anklängen an Heideggers berüchtigte Rektoratsrede erinnerte. Das Buch wurde in der NS-Zeitschrift Offenes Visier. Kampfblatt des Gaustudentenbundes Sachsen der NSDAP vermutlich vom jungen Schelsky heftig kritisiert und daraufhin verboten. Zudem hatte König seit 1932 als Lektor beim Berliner Verlag Die Runde gearbeitet, der dem »Dritten Humanismus« nahestand. Im selben Jahr wie Mitscherlich emigrierte er nach Zürich und wurde 1938 an der dortigen Universität habilitert.1020 Solche Bündnisse sollten einer restaurativen Vergangenheitspolitik entgegenwirken. Erforderlich waren dafür jedoch auch gute Verbindungen zu hessischen Politikern, wie etwa zum hessischen Ministerpräsidenten Georg August Zinn. Dieser hatte Fritz Bauer 1956 zum hessischen Generalstaatsanwalt berufen und war schon bei der Rückkehr des IfS für das Denkkollektiv um Horkheimer

1017 Dehli, Leben als Konflikt, S.145-175; Freimüller, Alexander Mitscherlich, S.97133. Vgl. Alexander Mitscherlich/Fred Mielke (Hrsg.), Wissenschaft ohne Menschlichkeit. Medizinische und Eugenische Irrwege unter Diktatur, Bürokratie und Krieg, mit einem Vorwort der Arbeitsgemeinschaft der Westdeutschen Ärztekammern. Heidelberg 1949. 1018 Vgl. Dehli, Leben als Konflikt, S.217-245. Vgl. Forner, German Intellectuals, S.134, 314. Siehe Michael Schröter, Zurück ins Weite: Die Internationalisierung der deutschen Psychoanalyse nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Heinz Bude/ Bernd Greiner (Hrsg.), Westbindungen. Amerika in der Bundesrepublik. Hamburg 1999, S.93-118, hier: S.97-99. Vgl. Freimüller, Alexander Mitscherlich, S.134-151, 177-205. 1019 Dehli, Leben als Konflikt, S.39, 53f., 60; Forner, German Intellectuals, S.25; Freimüller, Alexander Mitscherlich, S.37-43. 1020 Moebius, René König und die »Kölner Schule«, S.24, 39-41; Schäfer, Zur Herausbildung des philosophisch-soziologischen Denkens bei Helmut Schelsky, S.29.

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eingetreten, wie Detlev Claussen betont.1021 Als weitere Allianzpartner fungierten der Oberbürgermeister Walter Kolb, dessen Nachfolger Werner Bockelmann und der Stadtrat Karl vom Rath, mit denen vor allem Horkheimer in gutem Einvernehmen stand.1022 Der Sozialdemokrat Kolb wollte »der alten demokratischen Stadt Frankfurt wieder jene Bedeutung und Weltgeltung« verschaffen, »auf die diese Stadt gemäß ihrer Tradition, ihrer günstigen Verkehrslage und dem fleißigen, weltoffenen Sinn ihrer Bürger Anspruch hat«.1023 Bereits am 1. Januar 1947 hatte er in seiner von Radio Frankfurt gesendeten Neujahrsbotschaft emigrierte jüdische Bürger aufgerufen, »trotz aller Not und allen Mißtrauens« wieder nach Frankfurt zurückzukehren.1024 Das ebnete den Allianzen zwischen dem Denkkollektiv um Horkheimer und den Frankfurter Kommunalpolitikern die Bahn. Horkheimer lud vom Rath auch zu Vorträgen am IfS ein, so 1953 zu Königs »Bemerkungen zum Verhältnis von Sozialpsychologie und Soziologie«.1025 Bereits kurz nach seiner Rückkehr unterhielt Horkheimer gute Kontakte zu dem Juristen und Ökonomen Franz Böhm, der 1945/46 im Kabinett des parteilosen hessischen Ministerpräsidenten Karl Geiler als Kultusminister wirkte. 1952 war Böhm Leiter der deutschen Delegation für das Luxemburger Abkom0men zwischen Israel und der Bundesrepublik.1026 Auch der spätere hessische Kultusminister Arno Hennig gehörte zu den Allianzpartnern des IfS.Im Dezember 1954 dankte ihm Horkheimer »für die freundlichen und ermutigenden Worte« anlässlich seiner Rückkehr aus Chicago:1027

1021 Claussen, Unter uns, S.110. 1022 UBA Ffm, Na 1, 131, Bl.132f.: Max Horkheimer an Oberbürgermeister W. Bockelmann, Datierung nicht mehr zu lesen; Bl.215: Stadtrat Dr. Karl vom Rath an Max Horkheimer vom 31.03.1954. 1023 So der Wortlaut eines Artikelentwurfs der Pressestelle der Stadt über Oberbürgermeister Kolb vom 01.12.1947. Zitiert nach: Heike Drummer/Jutta Zwilling, »Die Krönung unserer eigenen Wiedergutmachungspflicht«. Die Stadt Frankfurt am Main und das Institut für Sozialforschung, in: Boll/Gross (Hrsg.), Die Frankfurter Schule und Frankfurt, S.17-29, hier: S.17. 1024 Ebd. 1025 UBA Ffm, Na 1, 131, Bl.228: Karl vom Rath an Max Horkheimer vom 04.12.1953. 1026 Magnus Klaue, »Der wahre Konservative«. Max Horkheimer und der Konservatismus der frühen Bundesrepublik, in: Sebastian Liebold/Frank Schale (Hrsg.), Neugründung auf alten Werten? Konservative Intellektuelle und Politik in der Bundesrepublik. Baden-Baden 2017, S.155-174, hier: S.164f. Zu diesen Kontakten gehörte auch derjenige zu Georg-August Zinn, der 1950 zum Ministerpräsident Hessens gewählt wurde. 1027 UBA Ffm Na 1, 133, Bl.34: Max Horkheimer an Arno Hennig, den Hessischen Minister für Erziehung und Volksbildung, vom 22.12.1954.

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»Wenn ich meine hiesige Tätigkeit lieb gewonnen habe, so nicht zuletzt deshalb, weil Menschen an hoher Stelle, wie Sie selbst, für die Ideale einstehen, zu denen auch ich mich bekenne. Sie und Ihre Berater, vor allem die für meinen Arbeitsbereich zuständige Frau Ministerialrätin Dr. von Bila, haben mir in der Erfüllung meiner Aufgabe so viel Hilfe und Verständnis gewährt, daß mir selbst die Verwaltungsarbeit in ihren verschiedenen Zweigen beglückend geworden ist.«1028 Hennig bat Horkheimer daraufhin, »mir diese stille und so wertvolle Bundesgenossenschaft auch künftig zu bewahren und an der opferbereiten Elite festzuhalten, die entschlossen ist, die Welt zu verändern, indem sie handelt nach ihrer besten Erkenntnis, und in Übereinstimmung mit ihrem Gewissen.«1029 Solch pathetische Äußerungen zeugen nicht nur von Horkheimers sicher ernst gemeinter Absicht, einen Beitrag zur demokratischen Erziehung im nachkriegszeitlichen Westdeutschland zu leisten, sondern auch von seinem Geschick bei der Bildung und Pflege von Allianzen. Denn gerade über die im Brief an Hennig gelobte Helene von Bila, die von 1952 bis 1969 unter den sozialdemokratischen Ministern Ludwig Metzger, Hennig und Ernst Schütte arbeitete, Vorstandsmitglied der neu gegründeten Gesellschaft für Sozialforschung war sowie zusammen mit den Mitarbeitern und Direktoren des IfS, Vertretern der Privatwirtschaft und staatlichen Stellen an mehreren Sitzungen der Gesellschaft teilnahm,1030 mokierten sich Horkheimer und Adorno im privaten Briefaustausch mehrmals. Sie attestierten ihr unter anderem autoritäre Charaktertendenzen. Horkheimer schrieb im April 1957: »Meine Ansicht über diese kennen Sie. Ich glaube, daß sie zur Neumark-Clique gehört und überdies high in der F-scale steht.«1031 1028 Ebd. 1029 UBA Ffm Na 1, 133, Bl.33: Arno Hennig, Staatsminister, an Max Horkheimer vom 28.12.1954. 1030 Die Gesellschaft für Sozialforschung trug die Stiftung Institut für Sozialforschung und stand administrativ hinter dem IfS. Siehe Archiv IfS, Oe 1, Tagungen 19501961, Tagung 32-36, Bd.6: Aussprache zwischen Vertretern von Wirtschaft und Verwaltung und der akademischen Soziologie vom 25.04.1958; Archiv IfS, A 20: Projekt P 14: Bundeswehr. Vorarbeiten, Akte 1.1.: Protokoll der 13.Sitzung des Vorstandes der Stiftung »Institut für Sozialforschung«, am 12.02.1955, 13:00 Uhr., im Gesellschaftshaus des Palmengartens, Frankfurt am Main. 1031 Max Horkheimer an Theodor W. Adorno vom 17.04.1957, in: Theodor W. Adorno – Max Horkheimer. Briefwechsel 1927-1969 (Bd.IV), S.434-436, hier: S.436.

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Diese Bündnisse waren für das IfS profitabel: 1953 konnte etwa die Frankfurter Zeitschrift für Sozialforschung ins Leben gerufen und vom Kultusministerium eine finanzielle Besserstellung des Instituts erwirkt werden. Mit Unterstützung des Ministeriums1032 sicherte Horkheimer Adorno zudem eine Wiedergutmachungsprofessur. Dieser erhielt 1950 zunächst eine außerplanmäßige und 1953 eine planmäßige außerordentliche Professur, allerdings erst 1957 ein Ordinariat für Philosophie und Soziologie.1033 Pollock war 1952 außerordentlicher und 1958 ordentlicher Professor für Volkswirtschaftslehre und Soziologie an der Frankfurter WiSo-Fakultät geworden. Horkheimer selbst hatte 1949 sein altes Ordinariat an der Philosophischen Fakultät wieder übernommen. Bereits kurz nach seiner Rückkehr wurde er Dekan der Fakultät. Von 1951 bis 1953 amtierte er schließlich sogar als Rektor der Universität.1034 Erfolgreich beeinflusste er die Ernennung des Dermatologen Oscar Gans zu seinem Nachfolger im Rektorat. Gans gehörte ebenfalls zu den jüdischen Remigranten.1035 Als entscheidender Vermittler zwischen den Akteuren des IfS auf der einen und westdeutschen Politikern wie Industriellen auf der anderen Seite fungierte der Anwalt sowie Bildungsforscher und -politiker Hellmut Becker. Er war der Sohn des in der Weimarer Republik amtierenden preußischen Kultusministers Carl Heinrich Becker und begründete 1963 das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung mit. Von 1963 bis 1975 stand er diesem als Direktor vor. Becker war im Mai 1937 der NSDAP beigetreten. Nach 1945 stand er dem George-Kreis nahe. Er verfügte über beste Kontakte zu einflussreichen Persönlichkeiten in der Bildungs- und Erziehungspolitik, der Industrie und an den Universitäten der frühen Bundesrepublik.1036 In den späten 1940er Jahren hatte er als Experte für Bildung und Erziehung die Militärregierung in Hessen beraten. Auf diese Weise konnte er Einfluss auf die Einstellung von Professoren sowie die Berufungen von

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Vgl. auch Max Horkheimer an Theodor W. Adorno vom 21.02.1957, in: Theodor W. Adorno – Max Horkheimer. Briefwechsel 1927-1969 (Bd. IV), S.402-404. UBA Ffm, Na 1, 133, Bl.52f.: Antrag an den Hessischen Minister für Erziehung und Volksbildung vom 07.12.1953; Bl.56a-56c: Entwurf! An den Herrn Hessischen Minister für Erziehung und Volksbildung vom 04.08.1953; Bl.57: Hessisches Ministerium für Erziehung und Volksbildung an Seine Spektabilität den Dekan der Philosophischen Fakultät vom 22.07.1953. Wiggershaus, Theodor W. Adorno, S.138. Forner, German Intellectuals, S.313; Lenhard, Friedrich Pollock, S.275f.; WalterBusch, Geschichte der Frankfurter Schule, S.34f.; Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, S.479. Max Horkheimer an Theodor W. Adorno vom 01.08.1953, in: Theodor W. Adorno – Max Horkheimer. Briefwechsel 1927-1969 (Bd.IV), S.224f., hier: S.225. Ulrich Raulff, Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben, 2. Aufl. München 2010, S.25, 383, 385-400, 403-409, 457f., 470-477, 481-496. Vgl. Kießling, Die undeutschen Deutschen, S.116; Wiggershaus, Max Horkheimer, S.190.

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Dekanen und Rektoren an der Universität Frankfurt nehmen.1037 Als Rechtsanwalt des IfS und Berater erwies sich Becker als ausgesprochen loyal und nahm an fast jedem Gespräch mit potenziellen Auftraggebern teil.1038 Elitäre Zirkel wie der George-Kreis stellten wichtige Knotenpunkte sozialer Netzwerke dar, in denen die wissenschafts- und erziehungspolitischen Geschicke der jungen Bundesrepublik verhandelt wurden. Dirk van Laak hat dies für Carl Schmitt als Hauptakteur mehrerer derartiger Gelehrtenkreise gezeigt. Nach Verhaftungen durch die Alliierten und kürzeren Aufenthalten in Internierungslagern sah sich Schmitt nach 1945 der Möglichkeit auf eine weitere Beschäftigung im Staats- und Hochschuldienst beraubt. Er zog sich nach Plettenberg zurück.1039 Dort unterhielt er Gesprächskreise mit Freunden, Schülern und weiteren Wohlgesinnten. Daraus entwickelten sich »in unregelmäßigen Abständen, aber einige Jahre lang kontinuierlich stattfindende Vortragsveranstaltungen«, an denen etwa der ehemalige NS-Jurist Ernst Forsthoff und Schelsky sprachen.1040 Schelsky und Gehlen fanden sich in den frühen 1950er Jahren regelmäßig bei Schmitt ein, um mit ihm Probleme der gegenwärtigen Gesellschaft zu diskutieren. Zudem halfen beide bei der Organisation der Vortragsabende des Plettenberger Kreises mit.1041 Schelsky konstatierte retrospektiv, dass er in der Nachkriegszeit in weiteren Gelehrtenkreisen mitdiskutiert habe, so beim Arbeitskreis Mundus Christianus auf Schloss Tremsbüttel in Schleswig-Holstein, im Kreis des Grafen Solms auf dessen Gut in Hessen und bei Veranstaltungen der Evangelischen Akademie Niedersachsen. Er maß diesen Zusammenkünften eine wichtige Funktion bei der politischen Willensbildung und wissenschaftspolitischen Steuerung zu.1042 Bei den Teilnehmern handelte es sich dabei keineswegs nur um Akteure mit restaurativen Absichten. Den Arbeitskreis Mundus Christianus hatten etwa ehemalige Mitglieder des Kreisauer Kreises und der erste Ministerpräsident Schleswig-Holsteins Theodor Steltzer gegründet. Die Organisatoren führten 1947/48 mehrere Tagungen durch, an denen neben Schelsky Alfred Andersch, Erich Kuby, Eugen Kogon, Walter Dirks, Clemens Münster, Gerd Bucerius und Walter Hallstein teilnahmen. Da Forsthoff politischer Sekre1037 HHStAW, Abt. 504, Nr.374, Bl.70f.: Besprechung bei der Landesmilitärregierung am 29.06.1948, 30.06.1948. 1038 Archiv IfS, Projekt A 10, Betriebsuntersuchung Mannesmann: O. Vorarbeiten. Ordner 1.1.: Friedrich von Weizsäcker an Hellmut Becker vom 07.10.1955, Bl.1-3. 1039 van Laak, Gespräche in der Sicherheit des Schweigens, S.31-33. 1040 Ebd., S.55. 1041 ULB Münster, N. Schelsky 23,096: Arnold Gehlen an Helmut Schelsky vom 22.02.1953; ULB Münster, N. Schelsky 23,103: Arnold Gehlen an Helmut Schelsky vom 28.02.1952; ULB Münster, N. Schelsky 23,116: Arnold Gehlen an Helmut Schelsky vom 06.01.1951; ULB Münster, N. Schelsky 23,127: Arnold Gehlen an Helmut Schelsky vom 04.03.1950. 1042 van Laak, Gespräche in der Sicherheit des Schweigens, S.42.

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tär Steltzers war, bestand kurzzeitig auch eine Verbindung dieser Gruppe zu Schmitt.1043 Die Inhalte der informellen Zusammenkünfte charakterisiert van Laak so: »Konstitutiv für nahezu alle Gespräche war der Gedanke der Partnerschaft, und die Pflege des überkonfessionellen, ökumenischen Gedankens besaß Leitfunktion. So konnte die Zeit zwischen Niederlage und Währungsreform als eine existentielle, reinigende Phase der Besinnung und der ernsthaften intellektuellen Orientierung gelten und im Effekt das Gefühl zur Folge haben, bereits vieles ›abgearbeitet‹ zu haben.«1044 Schelskys im Rahmen dieser Zirkel gebildete Allianzen halfen ihm 1960 bei seiner Berufung an die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät der Universität Münster: Joachim Ritter, der Kopf der Münsteraner Philosophen, und seine Mitarbeiter standen schon in der frühen Nachkriegszeit mit Schmitt in Kontakt.1045 Wie Horkheimer pflegte auch Schelsky alte Allianzen intensiv – und ging insbesondere als Soziologieprofessor an der gewerkschaftsnahen Akademie für Gemeinwirtschaft neue ein. Er hielt engen Kontakt mit der Hamburger Führungselite, so etwa mit dem Remigranten Max Brauer. Letzterer war 1949 an Schelsky herangetreten und hatte ihn dazu ermuntert, einen Schwerpunkt seiner Forschungen auf die Großstadtsoziologie zu legen.1046 Der Sozialdemokrat Brauer wurde 1953 der erste frei gewählte Erste Bürgermeister Hamburgs. Auch mit dem DGB-Bundesvorstand hielt Schelsky Kontakt, um mehr Stipendiaten an die Akademie für Gemeinwirtschaft zu holen und damit der von Wolfgang Abendroth geleiteten Hochschule für Arbeit, Politik und Wirtschaft in Wilhelmshaven-Rüstersiel Konkurrenz zu machen.1047 Im März 1952 konnte er berichten, dass ihm aufgrund der Zusammenarbeit mit dem DGB und dem Labor Affairs des HICOG ein Projekt zur Jugendarbeitslosigkeit zugewiesen worden sei. An diesem arbeitete auch Nels Anderson mit, mit dem Schelsky nach eigener Aussage ebenfalls ein freundschaftliches Verhältnis unterhielt.1048 Er suchte zudem Anschluss an die internationale Sozialwissenschaftlergemeinschaft. Im November 1952 schlug er anlässlich einer Tagung in Hamburg, eine solche Zusammenarbeit in Form einer Arbeitsgemeinschaft der herausragendsten Sozialwissenschaftler 1043 1044 1045 1046 1047 1048

Ebd., S.45. Ebd., S.46. Ebd., S.192-196. Schäfer, Soziologie ohne Marx, S.31. Ebd. Archiv IfS, S 1: Tagungen 1950-1961, Ordner 1: 1950-1952: Frankfurter Konferenz von Vertretern deutscher empirischer Soziologie im Institut für Sozialforschung der Johann Wolfgang Goethe Universität, Frankfurt am Main, 11.03.1952, Bl.1-22, hier: Bl.5f., 18, 21; Weyer, Westdeutsche Soziologie, S.321.

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vor, die institutionell am UNESCO-Institut für Sozialwissenschaften in Köln verankert sein sollte.1049 Er nahm regelmäßig an den Konferenzen der ISA teil und stellte dort Ergebnisse seiner sozialempirischen Untersuchungen vor.1050 Zudem pflegte er Kontakte zu Thomas H. Marshall von der LSE und zur schwedischen Sozialwissenschaftlerin Alva Myrdal, die er über Gerhard Mackenroth kennengelernt hatte.1051 Schelskys Mitarbeiter in Hamburg waren allerdings nahezu ausschließlich junge Studierende oder Wissenschaftler, die ihre Laufbahnen im NS-Regime begonnen hatten.1052 Als erster Soziologieprofessor an der Akademie für Gemeinwirtschaft führte Schelsky bereits um 1948/49 umfangreiche sozialempirische Untersuchungen durch und arbeitete hierzu mit Nachwuchsleuten zusammen, etwa mit Gerhard Wurzbacher, der 1948 sein Assistent wurde.1053 Wurzbacher hatte schon in der NS-Zeit gute Kontakte zu Vertretern der »Leipziger Schule der Soziologie« wie Karl Heinz Pfeffer. Seine von der RAG finanziell unterstützte Dissertation von 1938 behandelte Die Entwicklung der Sozialstruktur des Kreises Flatow von 1773 bis 1937 und die Auswirkung auf die völkische Zusammensetzung der Bevölkerung.1054 Darin stellte er die These auf, dass der »Volks1049 Archiv IfS, S 1: Tagungen 1950-1961, Ordner 2: 1952-1961: Helmut Schelsky, Vorschlag für eine internationale Zusammenarbeit empirisch-soziologischer Forschungsvorhaben. Seminar, 06.-09.11.1952, Bl.1-4, hier: Bl.3. Ein transatlantischer Internationalismus nach 1945 lässt sich insbesondere in der natur- und technikwissenschaftlichen Grundlagenforschung beobachten. Siehe John Krige, American Hegemony and the Postwar Reconstruction of Science in Europe. Cambridge, MA 2007, S.10f. 1050 StAHH, 361-6, IV 936: Hochschulwesen. Dozenten- u. Personalakten: Schelsky, Helmut: Bl.2: Helmut Schelsky an den Dekan der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät vom 23.07.1953; Bl.29: Für das Mitteilungsblatt Nr.1 vom 27.03.1956; Bl.30: Für das Mitteilungsblatt Nr.1 vom 27.03.1956; Bl.31: Helmut Schelsky an den Dekan der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät vom 19.09.1956; Bl.42: Helmut Schelsky an den Dekan der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät vom 01.07.1957; Bl.48: Helmut Schelsky an den Rektor der Universität Hamburg vom 06.11.1957; Bl.50f.: Abschrift: International Sociological Association. Second Round Table Conference on the Sociological Aspects of Peaceful Co-operation vom 23.05.1957; Bl.58: Martens, Regierungsinspektor an die Pressestelle der Universität Hamburg vom 02.05.1958; Bl.74: Martens, Regierungsoberinspektor, an die Pressestelle der Universität vom 26.11.1959. 1051 Schäfer, Soziologie ohne Marx, S.31f. 1052 Vgl. StAHH, Hochschulwesen II, Af 12/1: Akademie für Gemeinwirtschaft. b. Personelle Angelegenheiten [unfoliert]: Helmut Schelsky an die Schulbehörde – Hochschulabteilung vom 23.06.1950. 1053 1952 verließ Wurzbacher die Akademie und ging ans UNESCO-Institut für Sozialwissenschaften. Siehe Klingemann, Soziologie und Politik, S.277. 1054 Ebd., S.99f.

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tumskampf entscheidend von den biologischen Kräften der Volkstümer bestimmt wird« und schloss aus seiner Untersuchung, dass das »Polentum […] am allgemeinen Bevölkerungswachstum teil[nimmt] und […] vor allem aus seiner kulturellen und damit auch wirtschaftlichen Unterlegenheit allmählich auf die Stufe des Deutschtums gehoben [wird]«.1055 Auch Horkheimer, Pollock und Adorno arbeiteten mit jungen deutschen Sozialforschern zusammen. Diese hatten wie Schelsky ihre Laufbahnen während des NS-Regimes begonnen oder gehörten zur »Flakhelfergeneration«, jenen »forty-fivers«, wie sie A. Dirk Moses nennt, »who were between fifteen and twenty-five years of age at the end of the war and who constituted the first postwar generation of university students«.1056 Wie in den Vereinigten Staaten musste das IfS in Westdeutschland Sozialforscher finden, die mit sozialempirischen Forschungsmethoden vertraut waren und möglichst über Praxiserfahrung verfügten. Denn obwohl man im Rahmen von The Authoritarian Personality und der »Laborstudy« mit amerikanischen und emigrierten Sozialforscherinnen und Sozialpsychologen kooperiert hatte, waren weder Horkheimer noch Pollock oder Adorno versierte empirische Sozialwissenschaftler. Bereits 1948 hatte Horkheimer deshalb anlässlich einer Reise nach Westdeutschland Ausschau nach möglichen Kooperationspartnern gehalten.1057 In diesem Kontext stand auch seine Teilnahme an einer im Juli des gleichen Jahres abgehaltenen großen UNESCOKonferenz in Paris. Neben der von der seine Reise finanzierenden Rockefeller Foundation vorgegebenen Aufgabe, einen Überblick über die Lage der Sozialwissenschaften in Westdeutschland zu erstellen, lotete Horkheimer eine Wiederaufnahme der Arbeit des IfS in Frankfurt aus.1058 Nach der Entscheidung zur Rückkehr des IfS in die Mainmetropole erstellte er als »Foreign Consultant« der Library of Congress einen Bericht zur Lage der Sozialwissenschaften in Deutschland für den Zeitraum von Oktober 1950 bis September 1951. Darin wies er mit Blick auf die Arbeiten Alexander Rüstows am Heidelberger Alfred-WeberInstitut, auf das Institut für Raumforschung (IfR) in Bonn-Bad Godesberg1059 und auf Neundörfers Soziographisches Institut auf die Möglichkeiten der Verbindung von Integrationsforschung – bezogen auf die Eingliederung der Flücht1055 Zitiert nach: ebd., S.100. 1056 Moses, German Intellectuals, S.9. 1057 The Rockefeller Archive Center: RG2-1948/717/428/2888: Bryce Wood, Interview Memo vom 08.01.1948. Ich danke David Kettler, der mir dieses Dokument zur Verfügung gestellt hat. 1058 Ebd. 1059 Zum IfR und dessen Gründung 1949 siehe Hansjörg Gutberger, Gründungsphase und Neustart des Instituts für Raumforschung (1949-1951), in: Strubelt/Briesen (Hrsg.), Raumplanung nach 1945, S.93-126. Anfänglich war auch Karl Heinz Pfeffer an der Gründung des IfR beteiligt, zog sich nach Konflikten dann aber zurück. Vgl. ebd., S.109-115.

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linge aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten  – und der von Neundörfer betriebenen Stratifikationsforschung hin. Er machte dadurch die deutsche Soziografie für die sozialempirischen Forschungen amerikanischer Provenienz anschlussfähig und betonte ihre Anwendbarkeit auf zeitgenössische gesellschaftliche Problemlagen wie Sozialentwicklung und regionale Planung.1060 Schon vor der offiziellen Wiedereröffnung des IfS 1951 trafen sich Horkheimer, Pollock und Adorno bei mehreren Gelegenheiten mit Sozialwissenschaftlern der Universität Frankfurt und anderer westdeutscher Forschungsinstitute. Sie wollten ihre in den Vereinigten Staaten entwickelten Methoden an die westdeutschen Verhältnisse anpassen. Ziel war es dabei, tragfähige Forschungsinstrumente und sinnvolle sozialempirische Vorgehensweisen zu entwickeln, um die psychische Lage der Westdeutschen zu erforschen.1061 An einer dieser Konferenzen nahmen auch Sauermann und Neundörfer sowie Schelskys Assistent Wurzbacher teil. Es ging dabei um die Frage, welche Interviewmethode ein Höchstmaß an ehrlichen Antworten der Befragten generieren würde. Horkheimer begrüßte in seiner Eröffnungsrede »insbesondere Prof. Sauermann und betonte die enge Beziehung zwischen dem Institut und der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät.« Sauermann gab daraufhin »seiner Freude über das Wiedererstehen des Instituts Ausdruck und erklärte seine Bereitschaft zu intensiver Mitarbeit an den Forschungsaufgaben.«1062 Für die vom IfS geplante große Untersuchung, das »Gruppenexperiment«, war das Denkkollektiv um Horkheimer auf die Expertise westdeutscher Sozialwissenschaftler angewiesen: »Auf die Frage, wie denn die Vertrauensleute ausgewählt und eingestellt werden sollten, antwortete Prof. Horkheimer, dass er die mit dem Institut für Sozialforschung zusammenarbeitenden Institute bäte, aus ihrem Bezirk geeignete Leute vorzuschlagen. Diese sollten sich dann in Frankfurt vorstellen«,1063 wie das Protokoll des Treffens festhält. In den frühen 1950er Jahren lud das IfS mehrfach deutsche und internationale Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler ein, die im Dienst des OMGUS oder des HICOG standen. Diese 1060 Hansjörg Gutberger, Raumentwicklung, Bevölkerung und soziale Integration. Forschung für Raumplanung und Raumordnungspolitik 1930-1960. Wiesbaden 2017, S.189-191. 1061 Archiv IfS, S 1: Tagungen 1950-1961, Ordner 1: 1950-1952: Besprechung am 28. und 29.06. (Protokoll von Fr. Bühler, 1950?), Bl.1-20, hier: Bl.9. Vgl. Klingemann, Die Verweigerung der Analyse des Nationalsozialismus, S.491f.; Platz, Die Praxis der kritischen Theorie, S.70f. 1062 Archiv IfS, S 1: Tagungen 1950-1961, Ordner 1: 1950-1952: Besprechung am 28. und 29.06. (Protokoll von Fr. Bühler, 1950?), Bl.1-20, hier: Bl.6. 1063 Ebd., Bl.9.

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sollten ihre Projekte vorstellen sowie Methoden und Ergebnisse zur Diskussion stellen. Am 11. März 1952 kamen so unter anderem Martin Allwood vom Institute of Social Research, der Consultant bei der Darmstadt-Studie war, Anderson, der zu dieser Zeit als Labor Affairs Adviser in der Division of Cultural Affairs beim HICOG arbeitete, Conrad Arensberg vom UNESCO-Institut für Sozialwissenschaften in Köln, Curt Bondy vom Psychologischen Institut Hamburg, Carl Brinkmann vom Wirtschaftswissenschaftlichen Seminar der Universität Tübingen, Otto Neuloh von der SFS, Elisabeth Noelle-Neumann vom IfD, Leopold von Wiese und Rüstow vom Alfred-Weber-Institut für Sozial- und Staatswissenschaften in Frankfurt zusammen.1064 Auch Schelsky nahm an dieser Zusammenkunft teil und berichtete über die an der Akademie für Gemeinwirtschaft laufenden sozialwissenschaftlichen Untersuchungen.1065 Horkheimer, Pollock und Adorno rekrutierten für ihre sozialempirischen Untersuchungen auch längerfristig Mitarbeiter für das IfS, so Diedrich Osmer, der zwar von Hause aus Jurist war, sich jedoch bereitwillig sozialempirische Forschungsmethoden aneignete. 1954 kam Ludwig von Friedeburg als Assistent Adornos ans IfS, ein ehemaliger U-Boot-Offizier. Er war der Sohn des deutschen Admirals Hans-Georg von Friedeburg, der am 8. Mai 1945 in Berlin mit Wilhelm Keitel die Kapitulation Deutschlands unterzeichnet und kurz darauf Selbstmord begangen hatte.1066 Von Friedeburg war am IfD in sozialpsychologischen Methoden geschult worden. 1956 stieß zudem der Amtsstatistiker Rudolf Gunzert, ein als »entlastet« eingestuftes ehemaliges NSDAP-Mitglied, als zweiter Direktor zum IfS hinzu.1067 Ohne die Zusammenarbeit mit deutschen Sozialforschern, die teils für NS-Organisationen gearbeitet hatten, wäre die Etablierung des Instituts als namhafte Institution sozialempirischer Forschung in Westdeutschland kaum möglich gewesen. 1950 wurde Adorno zusammen mit Max Rolfes Leiter des Darmstadt Community Surveys, der von 1949 bis 1952 unter Andersons Betreuung durchgeführt wurde.1068 Diese Arbeitsstruktur entsprach der Absicht, dass die deutschen 1064 Archiv IfS, S 1: Tagungen 1950-1961, Ordner 1: 1950-1952: Frankfurter Konferenz von Vertretern deutscher empirischer Soziologie im Institut für Sozialforschung der Johann Wolfgang Goethe Universität, Frankfurt am Main, 11.03.1952, Bl.1-22, hier: Bl.1-3. 1065 Ebd., Bl.5f., 18, 21. 1066 Jäger, Adorno, S.218; Moses, German Intellectuals, S.70. 1067 UAF, Abt. 154, Nr.100, Bl.50-52: Dr. Rudolf Gunzert, Lebenslauf, Frankfurt am Main, vom 22.12.1953, hier: Bl.50; Bl.56-58: Spruchkammer Heidelberg, Aktenzeichen 59/1/5376 4266, vom 15.04.1947, hier: Bl.56: entlastet. Vgl. Jäger, Adorno, S.212. 1068 Arnold, Reorientation durch Wissenschaftstransfer, S.189-199; dies., »… evidence of progress«. Die UNESCO-Institute für Sozialwissenschaften, Pädagogik und Jugend in den 1950er Jahren, in: Hans Braun/Uta Gerhardt/Everhard Holtmann

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Sozialwissenschaftler größtenteils selbstständig sozialempirische Forschungen durchführen sollten, wobei ihnen Anderson und andere amerikanische Sozialwissenschaftler  – so auch Adorno  – lediglich beratend zur Seite standen.1069 Rolfes war ordentlicher Professor für landwirtschaftliche Betriebslehre an der Justus-Liebig-Hochschule für Bodenkultur und Veterinärmedizin in Gießen. Nach der Annektierung Elsass-Lothringens durch das NS-Regime hatte er ein Gutachten für das Wiederaufbauamt zu »landwirtschaftlichen Siedlungsfragen in Lothringen« erstellt. Seit 1941 hatte er zudem für das von Himmler geleitete Reichskommissariat für die Festigung deutschen Volkstums und in dieser Funktion zur Siedlungsplanung mit dem Ziel einer umfassenden Modernisierung der Landwirtschaft in Elsass-Lothringen gearbeitet. Weiterhin wirkte er an den von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten »Untersuchungen zur Agrarpolitik und Betriebslehre« an Grundlagenforschungen im Umfeld des »Generalplans Ost« mit.1070 Trotzdem hatte er seine Laufbahn ab 1948 ohne größere Schwierigkeiten fortsetzen können. Bei der Darmstadt-Studie betreute Rolfes die von Herbert Kötter durchgeführte Untersuchung zur Stadt-LandProblematik. Gemeinsam mit Adorno schrieb er die Einführung zu dessen 1952 erschienener Monografie.1071 Tatsächlich zeigen derartige Allianzen mit jüngeren, nationalsozialistisch kompromittierten Sozialwissenschaftlern, dass Horkheimer nicht so sehr »junge, liberale und anständige« Privatdozenten verachtete, die, um überhaupt berufliche Möglichkeiten im NS-Regime zu haben, NS-Organisationen beigetreten waren und als ehemalige Parteigenossen nach 1945 als verdächtig galten: »Unter dem Titel Nazi werden also auf den Universitäten vornehmlich deren Gegner verfolgt!« – wie er seiner Frau Maidon 1948 schrieb.1072 Er stellte sich insbeson-

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(Hrsg.), Die lange Stunde Null. Gelenkter sozialer Wandel in Westdeutschland nach 1945. Baden-Baden 2007, S.251-290, hier: S.251-253. Franz-Werner Kersting, Geschichte der Stadt-Land-Forschung. Facetten einer Historisierung dualer Lebensformen und Leitbilder am Beispiel der »DarmstadtStudie« der 1950er Jahre, in: ders./Clemens Zimmermann (Hrsg.), Stadt-LandBeziehungen im 20.  Jahrhundert. Geschichts- und kulturwissenschaftliche Perspektiven (Forschungen zur Regionalgeschichte, Bd.77). Paderborn u.a. 2015, S.35-54, hier: S.38. Arnold, Reorientation durch Wissenschaftstransfer, S.19; Klingemann, Soziologie und Politik, S.21f.; Kersting, Geschichte der Stadt-Land-Forschung, S.37. Vgl. Herbert, Geschichte Deutschlands, S.430. Klingemann, Soziologie und Politik, S.21f. Vgl. Max Rolfes/Theodor W. Adorno, Zur Einführung, in: Herbert Kötter, Struktur und Funktion von Landgemeinden im Einflussbereich einer deutschen Mittelstadt (Schriften des Instituts für Sozialwissenschaftliche Forschung Darmstadt, Bd.1). Darmstadt 1952, S.V  f. Max Horkheimer an Maidon Horkheimer vom 13.06.1948, zitiert nach: Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle, S.115. Vgl. Jäger, Adorno, S.221.

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dere schützend vor die Angehörigen der Generation Schelskys, besonders aber der »Flakhelfergeneration«. Er sah sich darin einig mit Hans Werner Richter und Alfred Andersch, Letzterer Mitherausgeber der demokratischen Bildungszeitschrift Der Ruf und Mitbegründer der Gruppe 47, aber auch mit Schumacher, Adorno und Hannah Arendt. Sie alle betrachteten die »Flakhelfergeneration«, der etwa Ralf Dahrendorf und Jürgen Habermas angehörten, als wichtigste Kohorte für die intellektuelle und kulturelle Neubegründung der Bundesrepublik, deren Angehörigen eine Chance gegeben werden müsse.1073 In Bezug auf die Generation Schelskys erwies sich Horkheimers Einschätzung zumindest teilweise als falsch: Viele seiner Bündnispartner aus dieser Gruppe waren während des NS-Regimes alles andere als liberal gewesen. Es stellt sich deshalb die Frage, was Horkheimer, Pollock und Adorno über das Ausmaß der NS-Verstrickungen Sauermanns, Neundörfers, Rolfes, Elisabeth Pfeils, Max Ernst zu Solms-Roedelheims, Gerhard Mackenroths, Wurzbachers, Gunther Ipsens, Hans Lindes oder Wilhelm Brepohls wussten,1074 die allesamt zwischen 1883 und 1913 geboren worden waren und ihre Karrieren nach Kriegsende fortsetzen. Immerhin hatte Horkheimer selbst Karl Valentin Müller, der seine rassistischen Ideologeme offen artikuliert hatte, einen »Persilschein« ausgestellt. Er unterstützte diesen damit bei der Einwerbung öffentlicher Gelder beim niedersächsischen Kultusministerium für sein 1949 aus dem Institut für Begabtenförderung hervorgegangenes Institut für Empirische Soziologie.1075 Zwar musste aus Sicht der Gruppe um Horkheimer jeder, der nicht erkannte und reflektierte, dass die moderne Gesellschaft sowohl in den Vereinigten Staaten, in Deutschland als auch in der Sowjetunion im Argen lag, unweigerlich von den in diesen obwaltenden Zuständen korrumpiert werden. Ihre eigenen Allianzen prüften sie dagegen sowohl epistemisch wie auch vergangenheitspolitisch kaum. Vielmehr eröffneten die in ihren gesellschaftsphilosophischen Schriften geäußerten Deutungen Möglichkeiten, jene Beziehungen ex post zu legitimieren. Anders als der Romanist Victor Klemperer, der das NS-Regime in Dresden überlebt hatte und die Lage nach 1945 mit aller Klarheit sah  – mit Bezug auf die »Persilschein«-Politik hielt er in seinem Tagebuch 1946 fest: »Jeder hat gerade dem Juden Gutes getan, rechnet auf meine Hilfe. Es ist ekelhaft. Und es nimmt kein Ende«1076  –, finden sich solch scharfe Äußerungen in Horkheimers und 1073 Moses, German Intellectuals, S.42, 50f., 71. Vgl. Meyer, Die SPD und die NSVergangenheit, S.50f. Siehe auch Nicolas Berg, Zeitgeschichte und generationelle Deutungsarbeit, in: Norbert Frei (Hrsg.), Martin Broszat, der »Staat Hitlers« und die Historisierung des Nationalsozialismus (Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts, Vorträge und Kolloquien, Bd.1). Göttingen 2007, S.161-180, hier: S.161-163. 1074 Klingemann, Social-Scientific Experts – No Ideologues, S.146f. 1075 Ebd., S.129. 1076 Zitiert nach: Reichardt/Zierenberg, Damals nach dem Krieg, S.211.

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Adornos privaten Korrespondenzen und Notizen nicht. In seinen Memoranden betonte Horkheimer stattdessen geradezu, dass er neben jüngeren Intellektuellen, die ernsthaft am Aufbau der Demokratie in Deutschland mitarbeiten wollten, auch »honest conservatives and truly religious people, particularly pious Catholics«, als Verbündete betrachtete.1077 Die Hauptverantwortlichen an den Universitäten, die den Machtwechsel 1933 stillschweigend oder offen mitgetragen und womöglich vom Regime profitiert hatten, ohne Parteimitglieder sein zu müssen, waren für Horkheimer  – darin stimmte er mit Klemperer überein1078 – die alten Ordinarien, die auch nach 1945 weiterhin den Ton angaben. 1948 schrieb Horkheimer an Maidon: »Die Fakultät, an deren Sitzung ich gestern teilgenommen habe, ist überfreundlich und erregt Brechreiz. Die Brüder sitzen noch genau so da und machen ihre heimtückischen kleinen Schelmenstreiche wie vor dem Dritten Reich (und unter ihm) als ob nichts geschehen wäre.«1079 Mit genau diesen Professoren mussten er und seine Mitstreiter nach 1949 in Berufungskommissionen, Fackultätssitzungen und Promotionsausschüssen allerdings zusammenarbeiten. Auch für die Anbindung des IfS an Universität und Stadt waren die Ordinarien wichtig. Dabei agierte Horkheimer ausgesprochen strategisch. Detlev Claussen hat ihn deshalb einen »Mann der Masken« genannt: »Es gab einen öffentlichen Horkheimer, der im Talar des Rektors den Bundeskanzler der Restauration Konrad Adenauer durch die Universität begleitete; es gab den in eleganten Maßanzügen auftretenden Ordinarius und Direktor des Instituts für Sozialforschung, der weltberühmte Emigranten wie Paul F. Lazarsfeld oder Thomas Mann zu Vorlesungen in die Universität Frankfurt einlud. Und es gab den Horkheimer, der im Hotel Intercontinental Hof hielt, wenn er aus seinem Haus im Tessin nach Frankfurt kam.«1080 Horkheimer suchte sich mächtige Bündnispartner in hoher akademischer Stel-

1077 Clemens Albrecht, »Das Allerwichtigste ist, dass man die Jugend für sich gewinnt«. Die kultur- und bildungspolitischen Pläne des Horkheimer-Kreises bei der Remigration, in: ders. u.a., Die intellektuelle Gründung, S.97-131, hier: S.125. 1078 Tagebucheintrag vom 16.08.1936, in: Victor Klemperer, Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933-1941, hrsg. v. Walter Nowojski, unter Mitarbeit v. Hadwig Klemperer, 2 Bde., 1., neu durchges. Aufl. Berlin 2015, S.243f. 1079 Max Horkheimer an Maidon Horkheimer vom 05.06.1948, zitiert nach: Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle, S.115. 1080 Claussen, Unter uns, S.107f.

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lung, während sich Schelsky stärker den Gewerkschaften zuwandte.1081 Um 1950 gab er sich vor allem als Stratege, der das IfS aufbauen und etablieren sowie seine eigene akademische Laufbahn und die seiner Mitstreiter in sichere Bahnen leiten wollte. Zu diesem Zweck bemühte er sich, Frankfurter Professoren etwa dadurch auf seine Seite zu bringen, dass er sie in den Vorstand der Gesellschaft für Sozialforschung einband. Zu diesen gehörte der ursprünglich aus der Ukraine stammende Biophysiker Boris Rajewsky, der Horkheimer im Amt des Rektors vorangegangen war. Rajewsky war Oberscharführer der SA sowie Mitglied der NSDAP, des NSLB, des Reichsluftschutzbunds, der Preußischen Dozentenschaft und der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt gewesen.1082 Im August 1952 erschien in der deutsch-jüdischen Emigrantenzeitung Aufbau ein anonymer Artikel über Horkheimer, der ihn als »aufrechten Juden« und »Spezialisten in der Bekämpfung des Antisemitismus« beschrieb. Dabei sei seine Wahl zum Rektor vor allem seiner »erstaunliche[n] Geschicklichkeit in der Beschaffung von Geldmitteln« und »seinen guten Beziehungen zur amerikanischen und deutschen Regierung« zuzuschreiben. Der Artikel wies aber auch auf die Kontinuitäten von Studierenden und Lehrenden mit nationalsozialistischer Einstellung an der Universität Frankfurt hin und bezeichnete Rajewsky als »Faschisten«.1083 Horkheimer reichte daraufhin eine Gegendarstellung beim Herausgeber der Zeitung ein und verteidigte »seinen Freund« Rajewsky. Ob er von dessen NS-Vergangenheit wusste oder nicht, kann nach Monika Boll nicht gesagt werden.1084 Strategisch gesehen war dies für Horkheimer auch nicht von Belang. Wichtig war, dass die Allianz einen wechselseitigen Profit und Ressourcenaustausch garantierte.1085 Bis weit in die 1950er Jahre konnte Horkheimer auf Rajewskys Unterstützung in der Gesellschaft für Sozialforschung zählen.1086 Rajewsky, so Alexander 1081 Neumann, Leopold von Wiese über Th. W. Adornos u.a. »Authoritarian Personality«, S.118. 1082 Alexander von Schwerin, Mobilisierung der Strahlenforschung im Nationalsozialismus. Der Fall Boris Rajewsky, in: Epple u.a. (Hrsg.), »Politisierung der Wissenschaft«, S.395-424, hier: S.293, 404f. Zu Rajewskys Karriere vor 1933, während des NS-Regimes und nach 1945 sowie zur Geschichte der Strahlenforschung siehe ders., Strahlenforschung. Bio- und Risikopolitik der DFG, 1920-1970 (Studien zur Geschichte der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Bd.10). Stuttgart 2015. 1083 Zitiert nach: Boll, Max Horkheimers zweite Karriere, S.359f. 1084 Ebd., S.360. 1085 Vgl. Ash, Wissenschaft und Politik als Ressourcen für einander. Vgl. Max Horkheimer an Georg August Zinn vom 18.03.1955, zitiert nach: Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, S.479. 1086 Archiv IfS, A 20, P 14: Bundeswehr: Protokoll der 13. Sitzung des Vorstandes der Stiftung »Institut für Sozialforschung« am 12.02.1955, 13:00 Uhr, im

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von Schwerin, blieb bis zu seiner Emeritierung 1966 ein ausgesprochen einflussreicher und hochgeehrter Naturwissenschaftler. »[F]ür seine Arbeit als Biophysiker und seinen Einsatz für die Frankfurter Universität, das Frankfurter Kulturleben und die Entwicklung des Strahlenschutzes in Deutschland« wurde er »unter anderem mit sechs Ehrendoktorwürden, dem Großen Bundesverdienstkreuz (1953) und dem Großen Bundesverdienstkreuz mit Stern (1963)« ausgezeichnet.1087 Bereits 1951 hatte er die Goethe-Plakette der Stadt Frankfurt für »seine Verdienste beim Wiederaufbau der Universität nach Kriegsende, für den er insbesondere mit Hilfe seiner guten Verbindungen zu wohlhabenden Bürgern und Industriellen schon früh die Weichen stellen konnte«, erhalten.1088 Die Allianz mit Rajewsky war dabei nur eine von vielen. Horkheimer hatte es schon 1948 abgelehnt, im Entnazifizierungsverfahren gegen den von 1934 bis 1944/45 amtierenden Rektor der Universität Walter Platzhoff auszusagen. Er befürchtete, sich »als einziger echter Belastungszeuge mit der Universität zu verfeinden«. »Von solchen Dingen hat man Ehre aber keinen Nutzen«, wie er an Maidon schrieb.1089 Diese erfolgreiche Bildung von Allianzen durch Horkheimer und andere sozialwissenschaftliche Remigranten wurde von Dabeigewesenen aufmerksam verfolgt. Insbesondere Gehlen sparte gegenüber Schelsky nicht mit ätzenden Bemerkungen über das neue wissenschaftspolitische Machtgefüge in den westdeutschen Sozialwissenschaften. Gehlen bezeichnete zurückgekehrte Sozialwissenschaftler jüdischer Religion oder Herkunft auch als »Sozialjuden«. Damit meinte er vor allem seinen Konkurrenten Helmuth Plessner.1090 An einem »Gutachten an die Hochschulabteilung in Sachen Horkheimer-Institut« bekundete Gehlen gegenüber Schelsky im Dezember 1950 Interesse. Er möge es ihm »für kurze Einsicht einmal […] schicken, ich werde vielleicht in ähnlicher Weise

schaftshaus des Palmengartens, Frankfurt am Main. 1087 von Schwerin, Mobilisierung der Strahlenforschung im Nationalsozialismus, S.395f. Darüber hinaus war Rajewsky Mitglied und Ehrenmitglied in verschiedenen Fachgesellschaften, der Max-Planck-Gesellschaft und der DFG. Vgl. ebd., S.396. 1088 Ebd., S.396. Rajewskys gute »Beziehungen zu allen möglichen staatlichen, städtischen und politischen Stellen« waren bereits für seine beachtliche Karriere im NS-Regime ausschlaggebend gewesen, wie der Gau-Dozentenführer Heinrich Cordes nicht ohne kritischen Unterton Ende der 1930er Jahre festhielt. Vgl. ebd., S.411. 1089 Zitiert nach: Boll, Max Horkheimers zweite Karriere, S.352. Zu Platzhoff siehe Carsten Kretschmann, Einsatz für Deutschland? Die Historiker Walter Platzhoff und Paul Kirn im »Dritten Reich«, in: Kobes/Hesse (Hrsg.), Frankfurter Wissenschaftler zwischen 1933 und 1945, S.5-32. 1090 ULB Münster, N. Schelsky 23,109: Arnold Gehlen an Helmut Schelsky vom 09.05.1951.

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beansprucht werden.«1091 Offenbar war Schelsky um eine Stellungnahme zum IfS gebeten worden, zu der aber nichts Näheres bekannt ist. In einem weiteren Brief gab Gehlen ein Bonmot Forsthoffs zum Besten: »[D]er kurze Weg von Morgenthau und Heldenklau werde wohl gerade über Horkheimers Institut führen.«1092 Zwei Monate zuvor hatte er an einer Tagung der Philosophischen Gesellschaft in Mainz teilgenommen. Dort war auch Horkheimer zugegen, den Gehlen verdächtigte, seinen Vortrag abgehört zu haben, da er danach nämlich bald wieder verschwunden sei.1093 Ganz generell mokierte er sich gegenüber Schelsky über die von ihm als Anbiederung an die amerikanischen Besatzungsbehörden abgeurteilte empirische Sozialforschung und kritische Bewusstseinsforschung des IfS. Er sah darin lediglich eine Strategie der Frankfurter Remigranten, die westdeutschen Sozialwissenschaften zu dominieren.1094 Im Dezember 1953 berichtete er von einem weiteren, ihm sonderbar erscheinenden Vorfall: »Horkheimer telegraphierte, ich solle ihn anrufen. Ich tat das, und er lud mich kurzfristig nach F. [Frankfurt, F.L.] zu einem philosophischen Vortrag ein. Diese Art des Abhörens fand ich unangemessen, beschloss aber, mich zu stellen, indem ich ihm ›Philosophische Überlegungen zum Problem der Macht‹ vorschlug.«1095 Der Vortrag fand am 11. Dezember 1953 statt und wurde in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) harsch kritisiert. Hinterher habe er noch mit Vossler und Adorno zusammengesessen. Letzterer »ist nicht sehr klug und labert. Interessant die moralische Note gegen alles, was nicht letzter Aufguss Aufklärung ist. Operationsziel: durch Entnivellierung aller noch vorhandenen Unterschiede freie Bahn für die Schlauköpfe.«1096 Auf Horkheimers Vorschlag eines Gedankenaustauschs vom Frühjahr 1955 reagierte Gehlen gegenüber Schelsky folgendermaßen:

1091 ULB Münster, 05.12.1950. 1092 ULB Münster, 23.12.1950. 1093 ULB Münster, 26.10.1953. 1094 ULB Münster, 06.11.1955. 1095 ULB Münster, 22.12.1953. 1096 Ebd.

N. Schelsky 23,119: Arnold Gehlen an Helmut Schelsky vom N. Schelsky 23,118: Arnold Gehlen an Helmut Schelsky vom N. Schelsky 23,094: Arnold Gehlen an Helmut Schelsky vom N. Schelsky 23,067: Arnold Gehlen an Helmut Schelsky vom N. Schelsky 23,088: Arnold Gehlen an Helmut Schelsky vom

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»Außerordentlich merkwürdig ist der Vorschlag Horkheimers, ›auszutauschen‹. Ich glaube, daß nicht nur Spioniererei (natürlich!) im Spiele ist. Wohl auch das Bedürfnis, sich zu entisolieren und sich ›einzuschalten‹, wo ebbes Neues geschieht.«1097 Diese Auszüge zeigen, dass nicht nur antisemitische Stereotype nach 1945 weiterwirkten,1098 sondern auch großes Misstrauen der Dabeigewesenen gegenüber den Remigranten bis hin zum Vorwurf jüdisch-amerikanischer Spionage bestand. Gehlen verband damit zudem eine generelle Kritik an moderner Wissenschaft und Kunst, worunter er »Zwölftonmusik, abstrakte Malerei, Relativitätstheorie und solche Scherze« fasste.1099 Ähnlich hatte sich bereits Carl Schmitt 1933 polemisch gegen emigrierte Intellektuelle geäußert1100  – und bei Gehlen blieb diese Haltung offenbar auch nach 1945 bestehen. Das Misstrauen beruhte auf Gegenseitigkeit: Adorno war sich bewusst, mit wem er es mit Gehlen und Schelsky zu tun hatte. Mitte September 1955 tauschten er und Heinz Maus sich über Schelskys Arbeiten und dessen intellektuelle Kapazitäten aus. Demnach sei Schelsky, »wenn sich das auch bei der Menge des von ihm Produzierten nicht immer erweist, ein sehr gescheiter Mann; an dem letzthin von ihm in der Zeitschrift für wirtschaftspolitische Fragen veröffentlichten Aufsatz1101 ist mir das sehr klar geworden.«1102 Er warnte Maus deshalb:

1097 ULB Münster, N. Schelsky 23,084: Arnold Gehlen an Helmut Schelsky vom 21.03.1954. Mit »ebbes Neues« (»etwas Neues«) verwies Gehlen entweder auf Horkheimers schwäbischen Dialekt oder auf das Jiddische bzw. meinte beides. Vgl. http://arbeitskreis-zwingenberger-synagoge.de/unser-angebot/veranstaltungen/ veranstaltungen-2004/meschugge-zores-und-schlamassel.html (Stand: 28.05.2021). 1098 Vgl. auch ULB Münster, N. Schelsky 23,107: Arnold Gehlen an Helmut Schelsky vom 08.01.1952. 1099 ULB Münster, N. Schelsky 23,105: Arnold Gehlen an Helmut Schelsky vom 09.05.1952. 1100 van Laak, Gespräche in der Sicherheit des Schweigens, S.26f. 1101 Gemeint sein könnte Schelskys Aufsatz »Berechtigung und Anmaßung in der Manager-Herrschaft«, der zwar 1950 geschrieben, 1954 aber in erweiterter Fassung in dem von Heinz-Dietrich Ortlieb herausgegebenen Sammelband Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik erschienen war. 1102 Archiv IfS, Aa1: Adorno-Korrespondenz M, 13: Theodor W. Adorno an Heinz Maus vom 14.09.1955, S.1f., hier: S.1.

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»Jede Polemik gegen ihn [Schelsky, F.L.], die einen bloss dogmatischen Charakter hätte und nicht über ihn hinausgeht, dass sie die von ihm hervorgehobenen Tendenzen, anstatt sie zu verleugnen, besser erklärt als er, wäre ein Bumerang.«1103 Maus bestätigte, er wisse sehr wohl, dass Schelsky »sehr gescheit – und eben deshalb ein so gefährlicher Mann« sei, was er schon mit Horkheimer besprochen habe.1104 Er hatte sich im Zuge seiner Aufarbeitung der Rolle der deutschen Soziologen im NS-Regime – der ersten dieser Art – auch mit Schelskys Schriften aus der Zeit des Nationalsozialismus beschäftigt und dabei nur dessen Dissertation und wohl auch seine kurze Schrift für den NS-Studentenbund gefunden. Die Lektüre bestärkte ihn als auch Adorno darin, gegen Schelsky auch auf der Ebene der DGS-Politik vorzugehen.1105 Auch bei gemeinsamen Publikationen kooperierten die Mitglieder der verschiedenen Denkkollektive miteinander. In dem von Gehlen und Schelsky 1955 herausgegebenen Lehr- und Handbuch zur modernen Gesellschaftskunde erschienen Beiträge von nationalsozialistisch kompromittierten Sozialwissenschaftlern wie Pfeil, Mackenroth, Carl Jantke und Pfeffer als auch solche Königs und Otto Stammers, der nach 1933 seine Anstellung verloren hatte und sich während der NS-Herrschaft mit nichtakademischen Arbeiten durchschlagen musste.1106 Horkheimer, Pollock und Adorno beteiligten sich indes nicht. Dies hielt Adorno aber nicht davon ab, Gehlen im November 1954 zur Mitarbeit an der neuen Zeitschrift des IfS aufzufordern. Zweifelsohne ist Gerhard Schäfer recht zu geben, der bei den Dabeigewesenen eine »Verkennung des Exils« feststellt.1107 Allerdings gab es zwischen Gehlen und Schelsky einen profunden Unterschied: Während Gehlen noch 1952 über

1103 Ebd. Vgl. Müller-Doohm, Adorno, S.514. 1104 Archiv IfS, Aa1: Adorno-Korrespondenz M, 13: Heinz Maus an Theodor W. Adorno vom 15.09.1955. Siehe auch Gerhard Schäfer, »Über die naive Phase empirischer Sozialforschung hinaus  …« Überlegungen zu Helmut Schelskys Antrittsvorlesung an der Dortmunder Sozialforschungsstelle am 23.  Mai 1960, in: Martin Endreß/Klaus Lichtblau/Stephan Moebius (Hrsg.), Zyklos 2.  Jahrbuch für Theorie und Geschichte der Soziologie. Wiesbaden 2015, S.131-153, hier: S.142. 1105 Archiv IfS, Aa1: Adorno-Korrespondenz M, 13: Heinz Maus an Theodor W. Adorno vom 28.09.1955; Theodor W. Adorno an Heinz Maus vom 30.09.1955. 1106 Arnold Gehlen/Helmut Schelsky (Hrsg.), Soziologie. Ein Lehr- und Handbuch zur modernen Gesellschaftskunde. Düsseldorf/Köln 1955, Inhaltsverzeichnis. 1107 Vgl. Schäfer, Helmut Schelsky und die Soziologie am Ende der 1950er Jahre, S.197.

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Karl Mannheim schrieb: »Dann Mannheim, Diagnose unserer Zeit. Ist keine«,1108 über das Denkkollektiv um Horkheimer und dessen IfS allerlei Boshaftes sagte und für den Plessner nicht nur Konkurrent, sondern schlicht unfähig war,1109 zeigte sich der Schelsky der späten 1940er und frühen 1950er Jahre lernbereit. Er baute die Schriften von Emigranten und Remigranten in sein sozialwissenschaftliches Denken ein. Dies tat er nicht bloß aus strategischen Erwägungen heraus. Er las die Studien über Autorität und Familie des IfS. Zudem entschuldigte er sich bei Plessner, als dieser sich Ende der 1940er Jahre verwundert an Schelsky wandte und ihn fragte, weshalb er seine Arbeiten nicht in dessen Ausführungen zur Umweltdiskussion zitiert finde.1110 Schelsky antwortete ihm: »Ich bedaure, verstehe aber nach Ihren Erfahrungen Ihre Frage, ob nicht mit der Nichterwähnung Ihrer Arbeiten ein Nichtkennen oder gar ein bewußtes Verschweigen verbunden ist. Da mir – gerade in Kenntnis Ihrer Differenzen mit Gehlen – außerordentlich viel daran liegt, diesen Eindruck nicht aufkommen zu lassen, darf ich einige, sonst kaum zu erwähnende Einzelheiten anführen«.1111 Er betonte, Plessners Bücher genau zu kennen, und biederte sich förmlich bei dem Göttinger Remigranten an: »Ich lese soeben mit viel Gewinn Ihr Buch über ›Das Schicksal deutschen Geistes‹ und sehe auch daraus, daß gemeinsame Grundpositionen notwendig auf den verschiedensten Gebieten zu gleichen und ähnlichen Folgerungen führen müssen.«1112 In seinen späteren Werken zitierte Schelsky Plessners Arbeiten denn auch durchaus wohlwollend. So hieß es etwa in seinem Buch Die skeptische Generation von 1957: »Bereits 1924 hat Helmuth Plessner  – und zwar kennzeichnenderweise sowohl gegenüber der Jugendbewegung als auch gegenüber der ›politischen‹ Jugend – warnend auf die ›Grenzen der Gemeinschaft‹ hingewiesen, die in ihr 1108 ULB Münster, N. Schelsky 23,107: Arnold Gehlen an Helmut Schelsky vom 08.01.1952. 1109 ULB Münster, N. Schelsky 23,090: Arnold Gehlen an Helmut Schelsky vom 28.01.1954. 1110 Vgl. Fischer, Philosophische Anthropologie  – Ein wirkungsvoller Denkansatz, S.328, 337. 1111 ULB Münster, N. Schelsky 75,074: Helmut Schelsky an Helmuth Plessner vom 31.01.1949, Bl.1f. 1112 Ebd.

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liegenden Ursachen für den politischen Radikalismus und zugleich für die politische Aktionsfähigkeit der deutschen Jugend analysiert und für eine Erziehung zur menschlichen Distanz, zur Geselligkeit und ihren Formen, zu Takt, Zeremoniell und Etikette, zur ›Geschäftskunst‹ und Diplomatie, zur ›Logik der Öffentlichkeit‹ plädiert«.1113 In der akademischen Kommunikation, etwa bei Berufungskommissionen, Promotionsausschüssen oder Fakultätssitzungen, wurden sensible Themen wie die Frage nach den NS-Verstrickungen einzelner Professoren, ihren Taten als Offiziere der Wehrmacht oder persönlicher Schuld genauso wenig gestellt, wie antisemitische oder anderweitige Ressentiments geäußert wurden. Die Dabeigewesenen fragten die Remigranten auch nicht nach ihrem »beschädigten Leben« (Adorno). Das Schweigen über solche ins Private verlagerte Themen war der Kitt, der den Frankfurter Lehrkörper in den frühen 1950er Jahren zusammenhielt – eine Tendenz, die Hermann Lübbe für die gesamte westdeutsche Gesellschaft konstatierte.1114 Es trug allerdings nicht nur zur Stabilisierung der bundesrepublikanischen Gesellschaft bei, wie Lübbe betont, sondern brachte auch Pathologien der westdeutschen Vergangenheitsbewältigung hervor.1115 Im Lehrkörper der Universität Frankfurt jedenfalls wäre ein Aufbrechen dieses Schweigens in den frühen 1950er Jahren geradezu als Verstoß gegen die Traditionen guten akademischen Verhaltens, den spezifischen »Benimmkodex« des Wissenschaftsfelds,1116 wahrgenommen worden. Der ausgeprägte Korpsgeist an den deutschen Universitäten war nach 1945 also keineswegs gebrochen. Vielmehr wiesen viele Professoren darauf hin, dass gerade dieser die Universitäten durch die NS-Zeit hindurch gerettet und im Kern vom Nationalsozialismus unberührt gelassen habe. Solche Ansichten pflegten entsprechende Seilschaften noch bis in die späten 1960er und teilweise noch in die 1970er Jahre hinein, ehe es zu einem nachhaltigen Generationenkonflikt kam.1117 Gestärkt wurden sie aber auch durch jene Allianzen, die – wenn auch nicht mit dieser Intention – das Denkkollektiv um Horkheimer mit der Frankfurter Professorenschaft um 1950 einging. Lediglich einmal wurde das kooperative Schweigen an der Universität gebrochen: In den frühen 1950er Jahren debattierte die Philosophische Fakultät über mehrere sogenannte Wiedergutmachungsfälle, also Reparationen an nach 1933 vertriebene Wissenschaftler.1118 Einer dieser Fälle war auch Adornos Professur 1113 Helmut Schelsky, Die skeptische Generation. Eine Soziologie der deutschen Jugend. Düsseldorf/Köln 1957, S.123. 1114 Lübbe, Vom Parteigenossen zum Bundesbürger, S.20, 22, 45, 68, 78-89. 1115 Gumbrecht, Nach 1945, S.244. 1116 Schüring, Minervas verstoßene Kinder, S.29. 1117 Reichardt/Zierenberg, Damals nach dem Krieg, S.217. 1118 UAF, Abt. 130, Nr.82, Bl.53-56: Fakultätssitzung am 21.07.1954, hier: Bl.53.

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für Philosophie und Soziologie. Adorno hatte 1931 seine Antrittsvorlesung als Privatdozent gehalten. Im Herbst 1933 hatten ihm die Nationalsozialisten aufgrund der jüdischen Herkunft seines Vaters die Lehrerlaubnis entzogen.1119 Nach seiner Rückkehr von der Hacker Foundation in Kalifornien 1953 war er zunächst zum planmäßigen außerordentlichen Professor berufen worden. Er konnte deshalb seinen Lebensunterhalt nicht allein durch den Professorenposten bestreiten. Mit dem neuen Bundesentschädigungsgesetz, das 1956 in Kraft trat, wurde die bisher auf Länderebene angesiedelte Entschädigungsfrage fortan auf Bundesebene geregelt.1120 Horkheimer forcierte nun die Erteilung einer ordentlichen Professur an Adorno und setzte dies in den Fakultätssitzungen ganz oben auf die Prioritätenliste. Schon 1953, als die Fakultät über Adornos planmäßige außerordentliche Professur verhandelt hatte, regten sich Widerstände. Der Orientalist Hellmut Ritter, einer der Brüder des Historikers Gerhard Ritter, argumentierte, dass Adornos Minima Moralia einen schlechten Einfluss auf die Studierenden habe.1121 Ritter war selbst ein Remigrant. 1925 war er wegen eines Verstoßes gegen §175 (sexuelle Handlungen zwischen Personen männlichen Geschlechts) zu einer Zuchthausstrafe verurteilt worden. 1926 war er im Auftrag der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft nach Istanbul gegangen und hatte die Leitung der dortigen Nebenstelle übernommen. Während der NS-Zeit blieb er in Istanbul und kehrte 1949 wieder nach Deutschland zurück. 1953 übernahm er einen Lehrstuhl in Frankfurt.1122 Als Horkheimer im Mai 1956 bei der Fakultät die Umwandlung von Adornos Professur in einen ordentlichen Lehrstuhl anregte, fand er mit Ausnahme Ritters bei der Mehrzahl der Fakultätsmitglieder Unterstützung.1123 Auf der Fakultätssitzung am 12. Mai 1956 kam es schließlich zum Eklat: Ritter zeigte sich über die Prozedur höchst unzufrieden – eine Ansicht, die seiner Meinung nach auch andere Fakultätsmitglieder teilten. Die 1119 Müller-Doohm, Adorno, S.212, 269f., 527f., 554f. 1120 Später, Siegfried Kracauer, S.514. 1121 UAF, Abt. 130, Nr.82, Bl.16-18: Fakultätssitzung am 29.07.1953. Beginn: 17:20 Uhr, Bl.17. Solche Reaktionen erwartete Adorno dann auch später von der 1955 erfolgten Veröffentlichung der Prismen. Siehe Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle, S.588. Auch der Pädagoge Heinrich Weinstock hatte sich gegen die Einsetzung Adornos als planmäßiger außerordentlicher Professor ausgesprochen. Seiner Meinung nach hätte ein Vertreter der Existenzphilosophie an die Universität Frankfurt berufen werden müssen. Vgl. Kurig, Bildung für die technische Moderne, S.394; Müller-Doohm, Adorno, S.558. 1122 HHStAW, Abt. 504, Nr.374, Bl.6-8: Besprechung bei der Landesmilitärregierung am 24.05.1949, Wiesbaden, vom 25.05.1949, Bl.6. Zu Ritters Biografie siehe Josef van Ess, Im Halbschatten. Der Orientalist Hellmut Ritter (1892-1971). Wiesbaden 2013. 1123 UAF, Abt. 130, Nr.82, Bl.133-136: Fakultätssitzung am 09.05.1956 (S.S.1956), hier: Bl.134f.

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Worte »Protektion« und »Schiebung« fielen. Wie Wilhelm Rau, ein weiteres Fakultätsmitglied, im Nachhinein festhielt, sei es förmlich aus Ritter herausgebrochen: »Wenn jemand karikierend übertreiben wollte, könnte er sagen, es muss einer nur Jude sein, um in Frankfurt Karriere zu machen.« Als Horkheimer dies gehört habe, sei er von seinem Stuhl aufgesprungen und habe seinem Kontrahenten auf den Kopf zugesagt: »Herr Ritter, wenn Sie Antisemit sind, sollten Sie wenigstens hier das Maul halten.« Darauf habe er den Raum verlassen und die Tür hinter sich zugeschlagen. Der Dekan der Philosophischen Fakultät Gottfried Weber versuchte vergebens, Horkheimer zurückzuhalten.1124 Nach diesem Vorfall reichte Horkheimer beim hessischen Erziehungsministerium ein Emeritierungsgesuch ein, das er so begründete: »Nachdem schon bei einer früheren Gelegenheit inmitten meiner Fakultät der Angriff eines Antisemiten infolge der tatkräftigen Solidarität meiner Kollegen mit einer angemessenen Entschuldigung geendet hatte, ist der Judenhaß von derselben Seite wiederum so brutal hervorgetreten, daß ich glaube, durch die amtliche Verpflichtung zur Fortsetzung meiner Lehrtätigkeit in eine ganz unwürdige Situation zu geraten.«1125 Er sei zwar überzeugt, dass »nicht bloß meine Fakultät [,] sondern auch die Universität Frankfurt in ihrer überwiegenden Mehrheit das Verhalten des betreffenden Professors, der sich freilich auch auf andere Kollegen beruft, aufs Schärfste mißbilligt. Die Erfahrung hat jedoch gelehrt, daß die Hinnahme antisemitischer Kränkungen durchaus mit dazu beitragen kann, dem Schlimmeren Vorschub zu leisten.«1126 Immerhin, so gab Horkheimer dem Minister zu bedenken, habe er auf eine 1951 aufgrund des Entschädigungsgesetzes gestellte Schadensleistung freiwillig verzichtet. »Dazu hatte mich teils der Gedanke an die vielen Anderen bestimmt, die weit dringender wiedergutmachender Hilfe bedurften als ich, teils die mündlich ausgesprochene Hoffnung, daß ich, statt eine Vergütung zu empfangen, ein1124 UAF, Abt. 134, Nr.234, Bl.91f.: Bericht Wilhelm Rau vom 01.06.1956 zu den Vorfällen bei der Sitzung; Bl.92: Bericht Otto Vossler, Frankfurt am Main, vom 31.05.1956. Vgl. auch die Darstellung dieses Vorgangs bei van Ess, Im Halbschatten, S.195-199. 1125 UAF, Abt. 134, Nr.234, Bl.100f.: Max Horkheimer an den Hessischen Minister für Erziehung und Volksbildung vom 15.05.1956, hier: Bl.101. 1126 Ebd.

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mal früher als mit dem 65. Jahr emeritiert werden möge. Ein solches Entgegenkommen schien mir schon deshalb angezeigt, weil der wichtigste Schaden, den ich durch meine Vertreibung aus Deutschland erlitten habe, darin bestand, daß ich meine besten Jahre für die mir am Herzen liegenden Studien und Forschungen verloren habe.«1127 Nun wolle er »die Monate und Jahre, die mir zu vernünftiger Arbeit noch bleiben, nicht mit Privatfehden über solche Dinge zubringen« und sehe daher keinen »anderen Weg, als den meines Antrags auf rasche Emeritierung. Es wird damit sowohl mir selbst, wie auch der Universität, die ich liebe, viel Peinliches erspart.«1128 Horkheimer zog in seinem Schreiben alle rhetorischen Register und er setzte sein Kapital als zurückgekehrter Gelehrter jüdischer Herkunft gegenüber den hessischen Wissenschafts- und Erziehungspolitikern ein.1129 Gleichzeitig blieb er vorsichtig. Wie Adorno, der seine Berufung zum ordentlichen Professor nicht als Wiedergutmachungsakt verstand, sondern als Anerkennung seiner wissenschaftlichen Leistungen,1130 wollte Horkheimer seine traumatischen Erfahrungen der Verfolgung und Flucht nicht als Argument einsetzen, um sich materielle Besserstellung und symbolische Anerkennung zu sichern. Vielmehr verwies er auf seine wissenschaftliche Arbeit.1131 Hätte der Vorfall die Öffentlichkeit erreicht, wäre es allerdings zum Skandal gekommen. Dekan Weber bat Horkheimer jedoch, von seinem »Emeritierungsgesuch Abstand zu nehmen und unsere[r] Fakultät Ihre so vielfach bewährte Mitarbeit auch künftig nicht zu versagen«, und richtete ein persönliches Wort an seinen Kollegen: »Es war mir eine hohe Ehre und Freude, in Ihnen seit zweieinhalb Jahren eine der führenden wissenschaftlichen Persönlichkeiten beider Kontinente kennenlernen zu dürfen. Seither habe ich Sie aber auch als menschliche Persönlichkeit überaus hochschätzen gelernt. So würde ich es schlechterdings nicht 1127 Ebd., Bl.100. 1128 Ebd., Bl.101. 1129 Tobias Freimüller, Frankfurt und die Juden. Neuanfänge und Fremdheitserfahrungen 1945-1990 (Studien zur Geschichte und Wirkung des Holocaust, Bd.1/ Beiträge zur Geschichte des 20. Jahhunderts, Bd. 28). Göttingen 2020, S.91. 1130 Müller-Doohm, Adorno, S.559. 1131 Vgl. Schüring, Minervas verstoßene Kinder, S.28f. Ob Horkheimer und Adorno davon wussten, dass Ritter in den 1920er Jahren wegen Homosexualität, genauer Päderastie, angeklagt worden war und seine Professur in Hamburg deswegen 1925/26 verloren hatte, und – falls ja – ob ihre in der Dialektik der Aufklärung konstruierte Verbindung von Homosexualität mit autoritären Charakterlagen beim Antisemitismusvorfall eine Rolle gespielt hatte, konnte nicht eruiert werden. Zur Entlassung Ritters von der Universität Hamburg siehe van Ess, Im Halbschatten, S.36-43.

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zu fassen vermögen, wenn auch unsere persönlichen mich so tief erfreuenden Beziehungen durch Ihren Weggang von Frankfurt jäh abgebrochen oder doch zumindest erheblich verringert werden würde[n]. Lassen Sie mich daher die Fülle meiner Empfindungen in die eine dringliche Bitte zusammenfassen: Schenken Sie sich uns aufs neue! Bleiben Sie in unserer Mitte!«1132 Ritter dagegen forderte er auf, den Fakultätssitzungen künftig fernzublieben. Zudem distanzierte sich die Fakultät von dessen Äußerungen. Dass sich Ritter bereits bei Horkheimer schriftlich entschuldigt hatte, nahm Weber wohlwollend zur Kenntnis. Er forderte ihn aber auf, sich auch bei Adorno zu entschuldigen. Mögliche Disziplinarmaßnahmen behielt sich die Fakultät vor.1133 Tatsächliche entschuldigte sich Ritter daraufhin auch bei Adorno »für eine törichte und unbedachte Äußerung, die ich vor Kurzem in Sachen Ihrer Promotion zum Ordinarius getan habe«. Er betonte dabei, dass diese Äußerung nicht antisemitisch motiviert gewesen, sondern aus dem Unbehagen über »die ›kalte‹ Beförderung irgendeines Fakultätsmitgliedes aufgrund irgend einer Solidarität, gleichviel welcher Art«, gefallen sei.1134 Ende Juni 1956 zog Horkheimer sein Emeritierungsgesuch schließlich zurück. Auch der Umwandlung von Adornos außerordentlicher in eine ordentliche Professur stand nichts mehr im Weg. Ritter dagegen wurde vorübergehend suspendiert.1135 Natürlich ist diese Geschichte schon oft erzählt worden.1136 Hier jedoch soll damit verdeutlicht werden, dass sich das Verständnis von gutem akademischen Verhalten im westdeutschen Wissenschaftsfeld in den 1950er Jahren gewandelt hatte: Antisemitische Ausbrüche wurden als klarer Verstoß gegen den akademischen Benimmkodex wahrgenommen.1137 Ob antisemitisches Denken im Privaten weiterbestand – davon kann in vielen Fällen ausgegangen werden1138 – stand dabei nicht zur Debatte. Der Antisemitismusvorwurf konnte so an den Universitäten zur Waffe werden, mit der sich Akademiker jüdischer Religion

1132 UAF, Abt. 134, Nr.234, Bl.87: Gottfried Weber an Max Horkheimer vom 09.06.1956. 1133 UAF, Abt. 134, Nr.234, Bl.84f.: Gottfried Weber an Hellmut Ritter vom 12.06.1956, hier: Bl.84. Ritter war wohl schwer krank und Weber führte dessen Ausbrüche darauf zurück. 1134 UAF, Abt. 134, Nr.234, Bl.87f.: Hellmut Ritter an Theodor W. Adorno vom 13.06.1956. 1135 UAF, Abt. 130, Nr.82, Bl.138-140: Fakultätssitzung vom 27.06.1956, hier: Bl.138. 1136 So in Hammerstein, Die Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, Bd.1, S.801; Müller-Doohm, Adorno, S.558f.; Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, S.520-522. 1137 Vgl. dazu Schüring, Minervas verstoßene Kinder, S.29. 1138 Vgl. Bergmann, ›Wir haben Sie nicht gerufen‹.

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oder Herkunft zur Wehr setzen konnten. Horkheimer jedenfalls wusste im geschilderten Fall auf dieser Klaviatur meisterhaft zu spielen. Deutlich ist ebenfalls geworden, dass unter den nach 1945 zurückgekehrten Wissenschaftlern Solidarität keineswegs selbstverständlich war. Neid und Konkurrenz um knappe Ressourcen gehörten durchaus zur Tagesordnung. Das galt auch für Horkheimer, Pollock und Adorno selbst. Schon in den Vereinigten Staaten hatten sich diese nicht gerade solidarisch mit anderen emigrierten Gegnern und Verfolgten des NS-Regimes gezeigt, die wie Kurt Lewin an der New School for Social Research untergekommen waren. Und auch über das von dem Leidener Kulturhistoriker Johan Huizinga 1935 veröffentlichte Buch Im Schatten von morgen hatte Horkheimer gegenüber Adorno gemeint, dass dessen Verfasser zwar ein Gegner des Faschismus sei und den deutsch-jüdischen Emigranten freundlich gegenüberstehe. Als »Inbegriff naiven Professorengeschwätzes fordert das Buch jedoch dazu heraus, dass wir einen Trennungsstrich zwischen uns und diese Art von Freunden machen«. Seiner Ansicht nach müsse man »unsere Unabhängigkeit benutzen, den Dreck auch als solchen zu kennzeichnen.«1139 Die westdeutschen Sozialwissenschaften formierten sich nicht nur in den Universitäten, in universitätsnahen und außeruniversitären Forschungsinstituten neu, sondern auch in den Fachgesellschaften. Die 1946 mit amerikanischer Unterstützung neugegründete DGS stellte die wichtigste Plattform in der frühen Bundesrepublik dar. Ihr stand wie vor 1934 bis 1955 der Doyen der deutschen Soziologie Leopold von Wiese vor.1140 Dessen Plan war zunächst, im NS-Regime kompromittierte Sozialwissenschaftler von der Mitgliedschaft auszuschließen. Dies betraf etwa Max Hildebert Boehm und den Antisemiten Franz Wilhelm Jerusalem.1141 Horkheimer stand einer ihm angetragenen korrespondierenden Mitgliedschaft in der DGS zunächst ablehnend gegenüber. Erst 1947 willigte er ein.1142 Nach der Rückkehr nach Frankfurt wurden er und Adorno aktive Mitglieder der DGS. Sie verbündeten sich mit von Wiese, der 1953 und 1958 vom IfS als Gastprofessor nach Frankfurt eingeladen wurde.1143 Diese Allianz kam zu1139 Max Horkheimer an Theodor W. Adorno vom 04.02.1936, in: Theodor W. Adorno  – Max Horkheimer. Briefwechsel 1927-1969, Bd.I : 1927-1937, hrsg. v. Christoph Gödde und Henri Lonitz (Theodor W. Adorno. Briefe und Briefwechsel, Bd.4). Frankfurt am Main 2003, S.117-119, hier: S.118. 1140 Borggräfe/Schnitzler, Die Deutsche Gesellschaft für Soziologie, S.446. Vgl. Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft, S.249f. 1141 Borggräfe/Schnitzler, Die Deutsche Gesellschaft für Soziologie, S.461. 1142 Neumann, Leopold von Wiese über Th. W. Adornos u.a. »Authoritarian Personality«, S.117; Weyer, Westdeutsche Soziologie, S.42-47. 1143 Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, S.437; Archiv IfS, SAM 3, Diedrich Osmer, 1-6: 1: Memoranden: Auszugsweise Abschrift des Protokolls der 8. Sitzung des Vorstandes der Stiftung »Institut für Sozialforschung«, vom 07.11.1953, 13:00 Uhr, in den Palmengarten-Stuben, Frankfurt/Main, undatiert, Bl.1-8;

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stande, obwohl von Wiese The Authoritarian Personality in einer Rezension nicht nur überwiegend abgelehnt, sondern auch antisemitische Vorurteile geäußert hatte.1144 Innerhalb der DGS kooperierten Horkheimer und Adorno vor allem mit Remigranten wie König und solchen Sozialwissenschaftlern, die wie Plessner und Charlotte Luetkens nach 1933 ihre Stellen verloren hatten und nach Kriegsende wieder in das sich neuformierende Feld der Sozialwissenschaften eintraten. Diese Allianzen hatten durchaus Gewicht. Plessner, der 1952/53 Adorno am IfS vertreten hatte, wurde 1955 Vorsitzender der DGS.1145 Konsequent umgesetzt wurde der ursprüngliche Plan des Ausschlusses kompromittierter Sozialwissenschaftler jedoch nicht. Auch Karl Valentin Müller und Wilhelm Emil Mühlmann wurden beispielsweise in die DGS aufgenommen, wobei offenbleiben muss, ob von Wiese deren NS-Vergangenheit überhaupt bekannt war. Beide hatten im NS-Regime rassistische Denkfiguren vertreten. Mühlmann hatte für das Amt Rosenberg und das mit dem SD verbundene Institut für Grenz- und Auslandstudien in Berlin-Steglitz gearbeitet und war darüber hinaus aktives SA-Mitglied gewesen.1146 Und auch Schelsky wurde wie seine damalige Mitarbeiterin Pfeil, die 1956 von der SFS an die Akademie für Gemeinwirtschaft gewechselt war, als Mitglied der DGS zugelassen.1147 Er hatte zwar mit Horkheimer und anderen neue Allianzen geschlossen. Gleichzeitig führte er aber auch seine alten Bündnisse aus der Zeit des NS-Regimes fort, die auch Sozialwissenschaftler einschlossen, denen die DGS-Mitgliedschaft verwehrt war. Sozialwissenschaftler beanspruchten Deutungskompetenz in der Öffentlichkeit, gerade weil sozialwissenschaftliches Wissen in den 1950er und 1960er Jahren in der westlichen Hemisphäre so eng mit dem demokratischen Erziehungsauftrag verbunden war. Für Horkheimer und Adorno, die beide bei öffentlichen Anlässen auftraten, im Radio sprachen oder sich an Fernsehsendungen beteiligten, waren hierfür Kontakte zu Journalisten, den Leitern von Radio- und Fernsehprogrammen sowie Verlegern von großer Bedeutung – vor allem zu solchen, die während des NS-Regimes verfolgt worden waren oder ihre Arbeit verloren hatten. Hierzu gehörten der linksgerichtete ehemalige Mitherausgeber der Zeitschrift Der Ruf Alfred Andersch vom Süddeutschen Rundfunk, der Adorno mehrere Male in sein Radiostudio einlud,1148 und der katholisch-sozialistische

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Archiv, 4.1. Privatkorrespondenz, TWAA_Br_1664 Wiese, Leopold von, Bl.4: Theodor W. Adorno an Leopold von Wiese vom 29.05.1958. Neumann, Leopold von Wiese über Th. W. Adornos u.a. »Authoritarian Personality«, S.118f. Vgl. Dahms, Positivismusstreit, S.298. Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle, S.412f., 741-743, 777f., 811f. Klingemann, Soziologie und Politik, S.363f.; Rammstedt, Deutsche Soziologie 1933-1945, S.42. Borggräfe/Schnitzler, Die Deutsche Gesellschaft für Soziologie, S.462. Adorno-Archiv, 04.1. Privatkorrespondenz: TWAA_Br_0024 Andersch, Alfred, Bl.6: Alfred Andersch, Süddeutscher Rundfunk, an Theodor W. Adorno vom

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Herausgeber der Frankfurter Monatshefte Walter Dirks, den das Denkkollektiv um Horkheimer schon vor 1933 aus seiner Arbeit für die Frankfurter Zeitung kannte. Dirks war von 1956 bis 1967 Leiter des Kulturprogramms beim Westdeutschen Rundfunk.1149 Zwischen 1953 und 1956 arbeitete er auch an den sozialempirischen Projekten des IfS mit und gab zusammen mit Adorno die Reihe »Frankfurter Beiträge zur Soziologie« heraus.1150 Adorno war ein gern gesehener Studiogast. In den 1950er und 1960er Jahren trug er in fast jedem westdeutschen Radioprogramm vor und wurde auch von schweizerischen und britischen Radiosendern als Sprecher eingeladen.1151 Für die Publikation und Verbreitung von Adornos Werken  – Horkheimer schrieb seit den 1950er Jahren keine umfangreicheren Bücher mehr – waren die Allianzen mit Peter Suhrkamp, den Adorno 1950 persönlich kennenlernte,1152 und mit Siegfried Unseld, der seit 1952 beim Suhrkamp Verlag arbeitete, von entscheidender Bedeutung. Dass Suhrkamp sich im geistigen Widerstand gegen die Nationalsozialisten engagiert hatte, indem er Bücher von Autoren publizierte, die den Nationalsozialisten nicht genehm waren, und von der Gestapo verdächtigt worden war, mit den Verschwörern des 20.  Juli in Verbindung zu stehen, begünstigte die Zusammenarbeit. Suhrkamp war im April 1944 verhaftet, wegen »Landesverrat und Hochverrat« angeklagt und im Gefängnis schwer misshandelt worden. Noch im Januar 1945 hatten ihn die Nationalsozialisten ins Konzentrationslager Sachsenhausen überstellt. Am 8. Februar war er, schwer erkrankt, entlassen worden.1153 Er und Unseld hatten erheblichen Anteil an der

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19.07.1955; Bl.36: Alfred Andersch an Theodor W. Adorno vom 17.01.1956; Bl.47: Alfred Andersch an Theodor W. Adorno vom 06.04.1956. Monika Boll, Nachtprogramm. Intellektuelle Gründungsdebatten in der frühen Bundesrepublik (Kommunikationsgeschichte, Bd.19). Münster 2004, S.176; Forner, German Intellectuals, S.23. Adorno-Archiv, 04.1. Privatkorrespondenz: TWAA_Br_0315 Dirks, Walter, Bl.3f.: Walter Dirks (Frankfurter Hefte) an Theodor W. Adorno vom 14.12.1954; Bl.5: Theodor W. Adorno an Walter Dirks vom 09.02.1955. Vgl. Forner, German Intellectuals, S.81; Müller-Doohm, Adorno, S.517f. Vgl. Adorno-Archiv, 04.2. Korrespondenz mit Institutionen und Organisationen, 04.2.1. Korrespondenz mit Rundfunkanstalten (Ru). Vgl. Michael Schwarz, »Er redet leicht, schreibt schwer«. Theodor W. Adorno am Mikrophon, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 8 (2011), S.286-294, hier: S.292, URL: https://zeithistorische-forschungen.de/2-2011/4700 (Stand: 19.05.2021). Theodor W. Adorno an Peter Suhrkamp vom 07.02.1950, in: Wolfgang Schopf (Hrsg.), »So müsste ich ein Engel und kein Autor sein«. Adorno und seine Frankfurter Verleger. Der Briefwechsel mit Peter Suhrkamp und Siegfried Unseld. Frankfurt am Main 2003, S.7; Theodor W. Adorno an Peter Suhrkamp vom 29.09.1950, in: Schopf (Hrsg.), »So müsste ich ein Engel und kein Autor sein«, S.19f. Siegfried Unseld, Wer war Peter Suhrkamp? Zitiert aus der Einleitung: Siegfried Unseld, ›Peter Suhrkamp, Zur Biographie eines Verlegers‹, in: Suhrkamp Verlag

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Etablierung Adornos als einem der wichtigsten meinungsführenden Intellektuellen Westdeutschlands. Er und in geringeren Maß auch Horkheimer seien, wie Clemens Albrecht schreibt, spätestens in den 1960er Jahren zu »Medienstars der Philosophie« aufgestiegen.1154 Gerhard Schäfer nennt auch Schelsky einen »Starsoziologen«, der in den 1950er Jahren in der medialen Öffentlichkeit bekannt gewesen sei. Er habe dafür sowohl auf ältere Kontakte wie etwa zum Verleger Eugen Diederichs zurückgreifen können, der in den 1950ern und 1960ern Bücher von ihm verlegte. Gleichzeitig hatte er neue Allianzen geschlossen, so mit Adolf Grimme vom Nordwestdeutschen Rundfunk. Ab 1950 war Schelsky regelmäßig mit 15-minütigen Beiträgen im Rundfunk zu hören. So sprach er etwa am 9. Juni 1953 über »Wandlungen der deutschen Familie« und am 9. Januar 1956 über die Freizeitkultur im nachkriegszeitlichen Westdeutschland.1155 7.4.2 Frühe Konkurrenzen und Konflikte Die Etablierung und Institutionalisierung der Sozialwissenschaften im nachkriegszeitlichen Westdeutschland begleiteten von Beginn an auch Konkurrenzen zwischen Akteuren und Institutionen. Je nach Strategie der Akteure und der allgemeinen Lage im sozialwissenschaftlichen Feld konnten diese als offene Konflikte aufbrechen. Zudem existierten sie nicht selten parallel zu auf anderen Handlungsebenen geschlossenen Allianzen. Bestes Beispiel hierfür ist Adornos freundschaftliches privates Verhältnis zu Gehlen – dessen Philosophische Anthropologie attackierte er nichtsdestotrotz immer wieder scharf. Beide trafen sich ab den späten 1950ern und in den 1960ern Jahren mehrmals privat und tauschten sich über Wissenschaft wie Kunst aus.1156 Dies hielt Adorno nicht davon ab, zusammen mit Horkheimer vernichtende Gutachten über Gehlens Wis(Hrsg.), Die Geschichte des Suhrkamp Verlages. 1.  Juli 1950 bis 30.  Juni 2000. Frankfurt am Main 2000, S.9-21, hier: S.15-17. 1154 Clemens Albrecht, Die Massenmedien und die Frankfurter Schule, in: ders. u.a., Die intellektuelle Gründung, S.203-246, hier: S.229-232. 1155 StAHH, 621-1/144, 1782: NDR: NWDR, Funkhaus Hamburg, Abt. Schulfunk: Lfd. Nr.5889, Dienstag, 09.06.1953, 09.35-09.50 Uhr/14.35-14.50 Uhr, in der Sendereihe »Unsere Zeit«: Prof. Dr. Helmut Schelsky, Wandlungen der deutschen Familie, Bl.1-7; StAHH, 621-1/144, 2102: NDR: NWDR-Sendeprotokoll: Montag, 09.01.1956, 22.45-23.15 Uhr. Vgl. Schäfer, Soziologie ohne Marx, S.31. 1156 Adorno-Archiv, 04.1. Privatkorrespondenz, TWAA_Br_0453 Gehlen, Arnold. Bl.1: Theodor W. Adorno an Arnold Gehlen [in Speyer] vom 25.10.1954; Bl.9: Theodor W. Adorno an Arnold Gehlen vom 23.12.1960; Bl.12: Arnold Gehlen an Theodor W. Adorno vom 18.09.1961; Bl.13f.: Arnold Gehlen an Theodor W. Adorno vom 13.10.1961. Siehe Theodor W. Adorno an Günther Anders vom 31.10.1963, in: Theodor W. Adorno-Archiv (Hrsg.), Adorno. Eine Bildmonographie. Frankfurt

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senschafts- und Menschenbegriff zu schreiben. Dies geschah etwa, als Karl Löwith 1957 Gehlen in Heidelberg als Soziologen platzieren wollte. Eine Gruppe von Heidelberger Professoren, die sich gegen diese Berufung aussprach, erbat von Horkheimer und Adorno ein entsprechendes Gutachten. Zusätzlich trug Adorno seine Kritik an Gehlens Anthropologie auch im Rahmen von Tagungen öffentlich vor, weshalb Löwiths Plan schließlich scheiterte.1157 Auch über Schelskys »Realsoziologie«, ein Konzept, das auch für die an der SFS betriebenen Untersuchungen richtungsweisend war,1158 waren sich Horkheimer und Adorno trotz Kooperationen auf methodologisch-sozialempirischer Ebene schon früh einig, dass diese ihren Bestrebungen zuwiderlief. Über einen Aufsatz Schelskys – den Hinweis auf die Publikation erhielt er von Wolfgang Abendroth – schrieb Adorno im August 1951: »Mit anderen Worten, hier wird die Verdummung durch den ›kleinfamiliären Gruppenegoismus‹ begrüßt, weil sie den Arbeitern die Mucken austreibt. Das ist genau, was sich die Herrschaften unter ›Realsoziologie‹ vorstellen. Vielleicht haben wir doch einmal Gelegenheit, das auszusprechen. Jedenfalls ist die zitierte Stelle ein flagranter Beleg der Interpretation, die wir den Bestrebungen dieser Herren angedeihen lassen.«1159

Zwischen den sozialwissenschaftlichen Instituten im nachkriegszeitlichen Westdeutschland, besonders aber zwischen dem IfS und Königs Kölner Forschungsinstitut für Sozial- und Verwaltungswissenschaften, gab es schon früh Konkurrenzkämpfe um die institutionelle Stellung des UNESCO-Instituts für Sozialwissenschaften.1160 Horkheimer hatte bereits im Juli 1948 auf der UNESCO-Konferenz über die Lage der Sozialwissenschaften in Europa mit zahlreichen Vertretern sozialwissenschaftlicher Forschungsinstitute Kontakte geknüpft. In Paris wurde klar, dass die UNESCO sozialempirische Forschungsmethoden amerikanischer Provenienz in Westdeutschland etablieren wollte. Mit sozialempirischem Wissen sollten

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am Main 2003, S.280-284; hier: S.282-284. Vgl. Rolf Tiedemann, Adorno und Benjamin noch einmal. Erinnerungen, Begleitworte, Polemiken. München 2011, S.44f. Fischer, Philosophische Anthropologie, S.311-313. Vgl. Clemens Albrecht, Vom Konsens der 50er zur Lagerbildung der 60er Jahre: Horkheimers Institutspolitik, in: ders. u.a., Die intellektuelle Gründung, S.132-168, hier: S.167. Vgl. AdornoArchiv, 04.1. Privatkorrespondenz, TWAA_Br_1145 Plessner, Helmuth, Bl.27: Theodor W. Adorno an Helmuth Plessner vom 24.03.1958. Vgl. auch Dahms, Positivismusstreit, S.307f.; Müller-Doohm, Adorno, S.573-575. Weyer, Westdeutsche Soziologie, S.243-272. Theodor W. Adorno an Max Horkheimer vom 24.08.1951, in: Theodor W. Adorno – Max Horkheimer. Briefwechsel 1927-1969 (Bd.IV), S.42-44, hier: S.43. Albrecht, Vom Konsens der 50er zur Lagerbildung der 60er Jahre, S.154; Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle, S.313-320, 324-326.

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die Demokratisierung gefördert und die in Europa vor 1945 vorherrschenden Ideologien des Faschismus und Kommunismus bekämpft werden. Dies deckte sich mit Horkheimers Plänen und stellte eine mögliche Allianz in Aussicht. John W. Thompson, der UNESCO-Vertreter in Deutschland, bot dem IfS finanzielle Unterstützung an,1161 woraufhin Horkheimer und Adorno mehrere Memoranden über zukünftige sozialempirische Projekte entwarfen.1162 Thompson reagierte auf die Vorschläge zunächst enthusiastisch. Horkheimer nahm deshalb an, dass das IfS in das UNESCO-Institut integriert werden könnte. Damit wäre die langfristige Finanzierung des IfS gesichert gewesen und er Direktor des auf diese Weise vergrößerten UNESCO-Instituts geworden.1163 Doch die UNESCO verzögerte ihre Entscheidung über die Ansiedlung. Neben Frankfurt und Köln kam zwischenzeitlich auch noch Hamburg als möglicher Standort ins Spiel. Im Februar 1951 bildete sie ein Komitee, das über den Standort entscheiden sollte. Diesem gehörten unter anderem Neuloh von der SFS, Schelsky, Sternberger, Hallstein und Alfred Weber an. Den Vorsitz führte Walter Erbe aus Tübingen, den Horkheimer als »Feind« betrachtete.1164 Im März 1951 schrieb Horkheimer ans Hessische Ministerium für Erziehung und Unterricht, »dass ich die Ansprüche Frankfurts mit Nachdruck vertreten habe, und ich glaube kaum, dass man angesichts der Geschichte der deutschen Sozialwissenschaften von hier absehen kann, dies um so weniger als die Idee und ursprünglichen Pläne des Instituts aus Frankfurt stammen.«1165 Schlussendlich fiel die Entscheidung für Köln.1166 Für Horkheimer war klar, dass dahinter König – »ein ganz infamer Bursche«, wie er an Löwenthal schrieb – stand. Dieser habe im Hintergrund seine Verbindungen in der ISA, namentlich zu Louis Wirth, spielen lassen und das IfS bei der UNESCO diskreditiert. Adorno fügte in einem Memorandum hinzu, dass auch Sternberger intrigiert habe, um aus Karrieregründen, jedoch ohne sozialwissenschaftliche Kompetenz zu besitzen, Direktor des UNESCO-Instituts zu werden. Dieser habe deshalb

1161 Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle, S.311. 1162 Archiv IfS, Ordner: Memorandum, Aufsätze (1950-1953): Forschungsprojekte des Institutes, undatiert [vermutlich 1950], Bl.1-12. 1163 Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle, S.312. 1164 Ebd., S.313f. 1165 UBA Ffm, Na 1, 133, Bl.138-140: Max Horkheimer an den Oberregierungsrat Fröhlich, Hessisches Ministerium für Erziehung und Unterricht, vom 05.03.1951, hier: Bl.139. 1166 Vgl. den genauen Hergang bei Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle, S.325f. Siehe auch Arnold, »… evidence of progress«, S.265-272.

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die von Neuloh und Schelsky – Adorno bezeichnete sie als »neo-faschistische Opposition« – geführten Angriffe auf das IfS gewähren lassen.1167 Ob König das IfS tatsächlich angeschwärzt hatte, kann nicht gesagt werden. Der Vorfall zeigt jedoch, dass bei aller strategischer Kooperation zwischen den Remigranten rasch Konkurrenzkämpfe ausbrechen konnten. Horkheimer und Adorno stand um 1950 zudem klar vor Augen, dass die Dabeigewesenen durchaus eine »neo-faschistische Opposition« bildeten und Allianzen mit diesen ausgesprochen fragil sein konnten. Letzteres wurde bereits im April 1951 offensichtlich, als sich unter dem Vorsitz von Hans Freyer eine deutsche Sektion des IIS konstituierte. Das IIS stand nach 1949 unter der Führung des italienischen, mit dem Faschismus sympathisierenden Bevölkerungswissenschaftlers Corrado Gini. Der Sektion gehörten Max Hildebert Boehm, Brepohl, Brinkmann, Gehlen, Ipsen, Mackenroth, Müller, Neundörfer, Schelsky und Kurt Stegmann von Pritzwald an. Sie teilte sich nach Johannes Weyer in zwei Lager: eines, das von Stegmann von Pritzwald angeführt wurde und eine Kooperation mit der DGS anstrebte, und eines unter der Federführung Müllers und Ipsens, das auf Konfrontation mit der DGS ging. Letztere Position wurde durch von Wieses signalisierte Nichtanerkennung der Legitimität des IIS verstärkt.1168 Dass beide Organisationen zur ISA gehörten und um Mitglieder wie Einfluss konkurrierten, verstärkte die Spannungen.1169 Zwar boten Freyer und Schelsky von Wiese eine Mitgliedschaft in der deutschen Sektion an. Diese Bemühungen scheiterten indes. Wie Mühlmann Jahre später an Plessner schrieb, wurden 1951 »in ziemlich schroffer Form die ›diplomatischen Beziehungen‹« zwischen der DGS und der deutschen Sektion des IIS abgebrochen.1170 Die Konkurrenzlage zwischen Remigranten und Dabeigewesenen zeigte sich auch bei der Besetzung akademischer Stellen. So zog sich die Besetzung des Lehrstuhls für Soziologie an der Universität Hamburg seit 1948 hin, weil sich – wie bereits beschrieben – die Rechts- und Staatswissenschaftliche und die Philosophische Fakultät nicht auf einen Kandidaten einigen konnten. 1949 war schließlich weder Plessner noch Schelsky berufen worden. Schelsky ging an die Akademie. Plessner erhielt 1952 eine Professur am neu gegründeten Institut für Soziologie in Göttingen. Erst 1952 forderten die Fakultäten wieder Bewerbungen an. Neben Wurzbacher, Eduard Willeke und Eugen Lemberg bewarb sich 1167 1168 1169 1170

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Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle, S.315f. Weyer, Westdeutsche Soziologie, S.81f. Borggräfe/Schnitzler, Die Deutsche Gesellschaft für Soziologie, S.462f. Sozialwissenschaftliches Archiv Konstanz (SAK), Digitale Dokumentation zur Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS), DE-SAK-B1-3611: Wilhelm Emil Mühlmann an Helmuth Plessner vom 08.01.1958, Bl.1f., hier: Bl.1. Vgl. auch SAK, Digitale Dokumentation zur DGS, DE_SAL_B1_3611: Hans Freyer an Leopold von Wiese vom 22.04.1951, Bl.1f.; Leopold von Wiese an Helmut Schelsky vom 25.04.1951.

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daraufhin auch Schelsky erneut. Er hatte einen gewichtigen Fürsprecher, der den Hamburgern beteuerte, dass er »weder Antisemit noch Rassist gewesen« sei und sich »in seiner weiteren Entwicklung dem pragmatischen Denken Westeuropas und Amerikas« geöffnet habe. Zudem erfülle er vorbildhaft alle Anforderungen, welche die westdeutsche Gesellschaft an die Soziologie stelle. Diese bestünden darin, dass die Soziologie »den politischen, sozialen und wirtschaftlichen Aufgaben der Gegenwart gegenüber aufgeschlossen ist und an ihnen mitarbeitet«, in Verbindung mit diesen Lehrgebieten trete und ihre besonderen Lehrstoffe aufnehme, »sich um die sozialwissensch.[aftliche] Ausbildung der Juristen, Volkswirte und Betriebswirte bemüht«, »als systematische und praktische Wissenschaft wieder Anschluß findet an die Form der Sozialwissenschaft, die man heute auf der ganzen Welt (außer zuweilen in Deutschland) als Soziologie versteht«, und schließlich »auch praktische Aufgaben und Forschungen übernimmt, die für den Aufbau eines deutschen Gesellschaftslebens von Bedeutung sind.«1171 Bei Schelskys Fürsprecher handelte es sich womöglich um den 1951 aus dem Exil zurückgekehrten deutsch-jüdischen Politologen Siegfried Landshut, der als Professor für Politikwissenschaft an die Hamburger Universität berufen worden war.1172 Wie die Verbindung zwischen dem Rückkehrer Landshut und dem Dabeigewesenen Schelsky zustande kam, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Fest steht, dass sich Schelsky von 1948 bis 1952/53 an der Akademie für Gemeinwirtschaft als Soziologe verdient gemacht hatte und damit auch seine Abkehr vom Nationalsozialismus glaubhaft vermitteln konnte. Auch der Hamburger Psychologe Curt Bondy hob hervor, dass die Schriften Schelskys »ihn als einen vielseitigen, gewandten und wissenschaftlich einwandfreien Soziologen« auswiesen.1173 Die Hamburger wollten Schelsky an erster Stelle. Auf von Horkheimer angeforderte Vorschläge wurde gar nicht erst eingegangen. Die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät und die Bürgerschaftsdeputation votierten rasch, obwohl nicht alle Gutachten der Fakultät positiv ausfielen. Schelskys Berufung erfolgte dann zum 1. Mai 1953.1174 1171 ULB Münster, N. Schelsky 26,001: o.V ., Stellungnahme zu dem Gutachten der Philosophischen Fakultät zur Besetzung des Ordinariats für Soziologie, undatiert, Bl.1-4, hier: Bl.1-3. 1172 Waßner, Von Andreas Walther zu Helmut Schelsky, S.103. Zu Landshut und dessen Remigration siehe Rainer Nicolaysen, Ein (Wieder-)Begründer der Politikwissenschaft: Siegfried Landshut, in: Seckelmann/Platz (Hrsg.), Remigration und Demokratie, S.221-237; ders., Siegfried Landshut. Die Wiederentdeckung der Politik. Frankfurt am Main 1997, S.337, 348-352. 1173 StAHH, 364-13: Inst f. Sowi u. Gesch 5: Errichtung des Ordinariats für Soziologie, Lehrstuhlinhaber Proff. Walther, Schelsky, und Kluth, 1934-1962: Bd.1: Curt Bondy, 03.11.1952, betr.: Professur für Soziologie, Bl.1f., hier: Bl.1. 1174 Waßner, Von Andreas Walther zu Helmut Schelsky, S.103. Vgl. StAHH, 364-13: Inst f. Sowi u. Gesch 5: Errichtung des Ordinariats für Soziologie,

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Konkurrenzen entstanden zudem zu den zahlreichen halb- und außeruniversitären Instituten für empirische Sozialforschung und Meinungsforschung in Westdeutschland, die sich ebenfalls um Aufträge seitens der Politik, der Industrie und von Forschungsförderinstitutionen wie der DFG, der Rockefeller und der Ford Foundation bemühten. Die wichtigsten Akteure in diesem Konkurrenzfeld waren das IlS, die Akademie für Gemeinwirtschaft, das IfD und die SFS. Für das IfS verschärfte sich die Situation 1953 mit dem Wegfall des HICOG als Hauptgeldgeber, der auch die SFS finanziell unterstützt hatte.1175 Das IfS reagierte darauf mit einer Verschiebung des Forschungsfokus. Seine empirischen Sozialforscher schnitten ihre Projekte fortan stärker auf die regionale Politik und industrienahe Themen zu.1176 Zu diesem Zweck wurden auch zwei ausgewiesene Sozialempiriker als Mitdirektoren des IfS eingestellt: 1954 von Friedeburg und 1956 Gunzert, der drei Jahre später zweiter Direktor des IfS wurde.1177 Die Allianzen und Konkurrenzlagen bildeten den Rahmen der sozialwissenschaftlichen Praxis der beiden Denkkollektive um Horkheimer und Schelsky. Sie zirkulierte um eben jene drei Wissensebenen, die sich in der Emigration beziehungsweise in der unmittelbaren Nachkriegszeit herausgebildet und gefestigt hatten.

8. Die sozialempirische Wissensebene: Experimentelle Praxis in Nachkriegsdeutschland Besonders starke Legitimation für die empirische Sozialforschung boten die Problemlagen der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft. Amerikanische und britische Besatzungsbehörden, westdeutsche Politiker und teilweise auch Industrievertreter erwarteten von ihr die Generierung von Wissen, um Flüchtlinge und Vertriebene1178 besser zu integrieren, den Wohnungsbau und die Städteplanung

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inhaber Proff. Walther, Schelsky, und Kluth, 1934-1962: Bd.2: Philosophische Fakultät der Universität Hamburg, Auszug aus der Niederschrift der Fakultätssitzung, vom 09.05.1953. Im April 1950 hatte das IfS vom HICOG einen Grant Award in Höhe von 204.300 DM erhalten. Siehe Max Horkheimer an Theodor W. Adorno vom 24.05.1950, in: Theodor W. Adorno – Max Horkheimer. Briefwechsel 1927-1969 (Bd.IV), S.30. Siehe auch Plé, Wissenschaft und säkulare Mission, S.280. Platz, Die Praxis der kritischen Theorie, S.370. UAF, Abt. 154, Nr.100: Dr. Rudolf Gunzert, Lebenslauf, Frankfurt am Main, vom 22.12.1953, Bl.50-52, hier: Bl.50. Reichardt/Zierenberg, Damals nach dem Krieg, S.147, 149. In der britischen Besatzungszone gab es 3,2, in der amerikanischen Zone 2,9 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene.

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zu steuern sowie den Lebensstandard der deutschen Bevölkerung zu erhöhen.1179 In diesem Sinne umschrieb auch Max Horkheimer 1950 die Aufgaben sozialempirischer Untersuchungen, die »in viele entscheidende politische und gesellschaftliche Probleme der Nachkriegsperiode, wie etwa das Flüchtlingsproblem, Licht zu bringen« vermögen.1180 Eine weitere Herausforderung stellte die Bildung, Kontrolle und Beeinflussung einer öffentlichen Meinung dar, die es in demokratischer Form vor 1945 in Deutschland nicht gegeben hatte. Nach Volker Berghahn wurde es angesichts »der im Grundgesetz garantierten Pressefreiheit und der halbsouveränen Position der Bundesrepublik […] für die Alliierten schwierig, die Presse direkt zu kontrollieren.« Besonders die Amerikaner waren über die westdeutsche Wählerschaft beunruhigt, die »in diesen ersten Jahren noch unberechenbar schien. […] Hochexplosive Fragen, wie die der Wiederbewaffnung, emotionalisierten die Wähler.« Die politisch-ideologische Lage sei Anfang der 1950er Jahre prekär geblieben. Es sei auch keineswegs ausgemacht gewesen, dass die Integration der Deutschen in die westliche Demokratiegemeinschaft gelingen würde.1181 Zudem barg die ideelle Demokratisierung Widersprüche: Auf der einen Seite sahen die Alliierten ihre Aufgabe darin, preußischen Imperialismus und Militarismus sowie Obrigkeits- und Führerhörigkeit, die sie als die größten Gefahren für den Weltfrieden ansahen, aus den Köpfen der Deutschen zu verbannen. Auf der anderen Seite galt es, eine kritische Öffentlichkeit auf Basis freiheitlicher Werte zu bilden.1182 Hierbei darf Richard Bessel zufolge nicht vergessen werden, dass die Vertreibung von Deutschen aus Osteuropa oft einen Identitätsverlust der Betroffenen und damit eine ideologische Desorientierung nach sich zog.1183 Ideologie und Psyche der Deutschen waren fragil und formbar zugleich. Der empirischen Sozialforschung kam deshalb die Aufgabe zu, diese ideologisch-psychische Problemlage zu ergründen. Die Amerikaner führten nach Kriegsende zwischen 1945 und 1949 72 demoskopische Erhebungen und Surveys mit Zufallsstichproben durch,1184 um die politischen Einstellungen der Deutschen und ihre Haltungen gegenüber Kultur

1179 Herbert, Geschichte Deutschlands, S.676. Der Lebensstandard der westdeutschen Bevölkerung befand sich 1950 wieder auf demjenigen der Jahre 1913, 1928 und 1938. 1180 Zitiert nach: Günter C. Behrmann, Skepsis und Engagement. Arbeiten zur Bildungsgeschichte und Lehrerbildung, hrsg. v. Clemens Albrecht, Roswitha Lohwasser und Rosemarie Naumann. Potsdam 2009 [2006], S.98. 1181 Berghahn, Transatlantische Kulturkriege, S.93; Kershaw, Achterbahn, S.95. 1182 Bessel, Germany 1945, S.286. 1183 Ebd., S.272. 1184 Reichardt/Zierenberg, Damals nach dem Krieg, S.257.

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und Politik sowie ihre wirtschaftliche Lage zu eruieren.1185 Bis 1955 veranlasste das HICOG 213 weitere Untersuchungen der »Public Opinion in Semisovereign Germany« zu Themen wie »Germans View the U.S. Reorientation Program« und »West Germans View the East-West Struggle«.1186 Auch westdeutsche Institute für Meinungs- und empirische Sozialforschung führten Umfragen durch. Eine Studie des IfD in Allensbach kam 1948 zu dem Ergebnis, dass 57 Prozent der Deutschen glaubten, dass der Nationalsozialismus an sich eine gute Idee gewesen sei, die nur schlecht ausgeführt worden war.1187 Im Juni 1950 schilderte Adorno gegenüber Thomas Mann seine bisherige Erfahrung mit den postnationalsozialistischen Deutschen. Bei der Frage nach bedenklichen Kontinuitäten nazistischer Ideologeme dachte er »nicht so sehr an Nationalismus, Neofaschismus, Antisemitismus, obwohl mich die Tatsache, daß mir wenig davon unter die Augen kam, nicht darüber betrügt, daß es all das gibt.« Als viel wesentlicher sah er »das Phänomen der deutschen Regression« an. »Die Unartikuliertheit der politischen Überzeugung, die Bereitschaft, jeder Macht sich zu verschreiben, das sich Anpassen an jegliche aufkommende Situation ist bloß ein Aspekt davon. Wenn es zutrifft, daß die manipulative Massenbeherrschung allerorten eine Rückbildung des Menschlichen bewirkt, und wenn der Hitlersche Versuch dranzukommen zugleich der war, diese Entwicklung ›schlagartig‹ nachzuholen, dann ist ihm und ebenso dem Zusammenbruch jedenfalls die Infantilisierung gründlich gelungen, und die Kulturgüter, die buchstäblich konsumiert werden, als wären sie die Konsumgüter, die unerreichbar sind, übernehmen schon beinah die Funktion des Spielzeugs.«1188 Deshalb dürfe man sich nicht darüber täuschen, dass »die kollektive Energie der Deutschen wirklich in einem Maße wie nie zuvor in das faschistische Unternehmen eingegangen war, und das bedeutet Alles oder Nichts. Was zurückblieb, scheint im metaphysischen Sinn kaum weniger ein Trümmerfeld als im physischen, beschädigt im Ich, in der Autonomie, in 1185 Mergel, Zählbarkeit, Stabilität und die Gesellschaft als solche, S.109. Siehe auch Hans Braun, Sozialwissenschaftliche Forschung als Selbstvergegenwärtigung und Evaluation der amerikanischen Besatzungsherrschaft, in: ders./Gerhardt/Holtmann (Hrsg.), Die lange Stunde Null, S.205-225. 1186 Leo P. Crespi, Foreword, in: Anna H. Merritt/Richard L. Merritt (Hrsg.), Public Opinion in Semisovereign Germany: The HICOG Surveys, 1949-1955, with a Foreword by Leo P. Crespi. Urbana/Chicago/London 1980, S. xxiii-xxv, hier: S. vii-xix. 1187 Moses, German Intellectuals, S.46. 1188 Theodor W. Adorno an Thomas Mann vom 03.06.1950, in: Theodor W. Adorno – Thomas Mann. Briefwechsel, S.59-66, hier: S.61.

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der Spontaneität und oftmals geradezu die Erfüllung dessen, was der abscheuliche Spengler als das Heraufkommen des neuen Höhlenbewohners prophezeite.«1189 Das vom IfD 1948 erhobene Meinungsbild erschien aus dieser Perspektive als infantiles und unartikuliertes Zurechtrücken einer Vergangenheit, die für die Deutschen im Grunde nicht fassbar und deren Ausmaß ihnen offenbar nicht bewusst war. Der Nationalsozialismus hatte die Deutschen in den Augen Adornos auf die Stufe von zu erziehenden Kindern zurückgeworfen, was mit den modernisierungstheoretischen Erklärungsansätzen der Amerikaner korrespondierte. Während einige Akteure die einstige deutsche Hochkultur unter den Schichten der Nazitrümmer wieder auszugraben hofften, betonten andere  – unter ihnen Adorno  –, dass ein Zurück zum kulturellen Niveau des Kaiserreichs und der Weimarer Republik unmöglich sei.1190 Entsprechend unterschiedlich fielen die Ansichten über die Zukunft von Kultur, die psychische Lage und ideologisch-politische Haltung der Westdeutschen um 1950 aus. Einig waren sich westdeutsche wie amerikanische Intellektuelle und Sozialwissenschaftler aber über das demokratisierende Potenzial sozialempirischer Untersuchungen. Sie wiesen diesen zudem eine psychotherapeutische Funktion zu, so etwa Paul Tillich, der seit 1944 als Vorsitzender des Council for a Democratic Germany Pläne für die Neugestaltung Deutschlands entworfen hatte und dessen Theologie nach 1945 therapeutisch und seelsorgerisch geworden war.1191 Auch Alexander Mitscherlich trat nach 1945 für die Etablierung der psychosomatischen Medizin und der Psychoanalyse ein, um sozialpsychologische Erkenntnisse und medizinische Techniken zur Erforschung der Traumata der westdeutschen Bevölkerung zu nutzen.1192 In diesem Zusammenhang konstatiert Lutz Raphael einen Bedeutungsanstieg von Psychologie und Psychiatrie, 1189 Ebd. Ähnlich beurteilte Siegfried Kracauer die Menschen in Deutschland, nachdem er mehrere Male nach Deutschland gereist war. Siehe Später, Siegfried Kracauer, S.522. 1190 Wie er dies etwa im viel zitierten Satz »Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch« zum Ausdruck brachte. Siehe Theodor W. Adorno, Kulturkritik und Gesellschaft [1949/51], in: ders., Kulturkritik und Gesellschaft I, S.1130, hier: S.30. 1191 Füssl, Deutsch-amerikanischer Kulturaustausch, S.118f. Die Arbeit des Councils blieb allerdings ohne große Wirkung auf die Formulierung der amerikanischen Nachkriegspolitik. Siehe ebd., S.122. Vgl. auch Schüßler/Sturm, Paul Tillich, S.82. 1192 Dehli, Leben als Konflikt, S.179-182. Zum Zusammenhang zwischen medizinisch-therapeutischer Gesundheitspolitik im nachkriegszeitlichen Westdeutschland, Demokratisierung und Amerikanisierung siehe Dagmar Ellerbrock, »Healing Democracy« – Demokratie als Heilmittel. Gesundheit, Krankheit und Politik in der amerikanischen Besatzungszone 1945-1949. Bonn 2004.

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der in den Vereinigten Staaten seit dem Zweiten Weltkrieg seinen Anfang genommen und in Westdeutschland in den späten 1960er und 1970er Jahren zu einem »age of therapy« geführt hätte.1193 Die Vorstellung, dass die Sozialwissenschaften Erhebungstechniken bereitstellen und zugleich sozialtherapeutische Wirkung entfalten konnten, traf sich mit der Demokratisierungspolitik der amerikanischen Besatzungsbehörden. Diese war von dem Glauben geleitet, dass die Sozialwissenschaften Garanten »für die richtige, der Freien Welt adäquaten geistigen Verfassung« seien.1194 Im Sinne John Deweys und der Sozialreformer der New Deal-Ära vertraten viele amerikanische Offiziere die Ansicht, dass empirische Sozialforschung soziale Spannungen beheben und fortschrittsorientiert die Beteiligung bestimmter sozialer Problemgruppen am demokratischen Gemeinwesen fördern könne. Besonders der große Erfolg der Demoskopie im nachkriegszeitlichen Westdeutschland resultierte aus ihrem Selbstverständnis als Demokratiewissenschaft.1195 Dem pflichtete im Dezember 1951 auch Adorno bei, als er auf einer vom HICOG finanzierten Tagung in Weinheim an der Bergstraße über »Empirische Sozialforschung« sprach. Auf dieser Tagung seien, so der Leiter des Reaction Analysis Staff im Office of Public Affairs Leo P. Crespi, amerikanische Sozialforscher und Demoskopen auf »an illustrious company of German empirical social researchers who were interested in promoting the development of the infant science of public opinion research on the German scene« getroffen.1196 Neben Crespi und Adorno gehörten zu den deutschen Referentinnen und Referenten unter anderem Rudolf Gunzert, Elisabeth Noelle-Neumann, Ludwig Neundörfer, Hans Sittenfeld und Leopold von Wiese.1197 In seinem Vortrag »Zur gegenwärtigen Stellung der empirischen Sozialforschung in Deutschland« sprach Adorno der Demoskopie »demokratisches Potential« zu, das die Nationalsozia-

1193 Vgl. Sibylle Marti, Nuklearer Winter – emotionale Kälte. Rüstungswettlauf, Psychologie und Kalter Krieg in den Achtzigerjahren, in: Berger Ziauddin/Eugster/ Wirth (Hrsg.), Themenheft: Der kalte Krieg, S.157-174, hier: S.159. 1194 Plé, Wissenschaft und säkulare Mission, S.245. 1195 Mergel, Zählbarkeit, Stabilität und die Gesellschaft als solche, S.109. 1196 Crespi, Foreword, S. xxv. Vgl. auch Weischer, Das Unternehmen ›Empirische Sozialforschung‹, S.2-4. Vgl. Ludwig von Friedeburg, Wie war das damals? Zur Erinnerung an die erste Arbeitstagung über empirische Sozialforschung in der Bundesrepublik, in: Heinz Sahner (Hrsg.), Fünfzig Jahre nach Weinheim. Empirische Markt- und Sozialforschung gestern, heute, morgen. Wissenschaftliche Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft Sozialwissenschaftlicher Institute e.V. (ASI) vom 25.-26. Oktober 2001, Weinheim. Baden-Baden 2002, S.23-27. 1197 Institut zur Förderung öffentlicher Angelegenheiten e.V . (Hrsg.), Empirische Sozialforschung. Meinungs- und Marktforschung. Methoden und Probleme. Frankfurt am Main 1952, Inhaltsverzeichnis.

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listen ausgenutzt und pervertiert hätten.1198 Mergel stellt fest, dass die empirische Sozialforschung den Begriff der Öffentlichkeit verändert habe, der für die Entwicklung demokratischen Bewusstseins in der Bundesrepublik grundlegend gewesen sei. Während diese »vorher im Grunde eine Kategorie vor dem Horizont der bürgerlichen Eliten gewesen« sei, habe sie nunmehr die Gesellschaftsvorstellungen der westdeutschen Bevölkerung widergespiegelt. Das habe sich wiederum konstitutiv auf die Struktur der Gesellschaft selbst ausgewirkt.1199 Im Anschluss an Sean A. Forners Feststellung, dass »practicing self-rule in myriad forms would be the means as well as the end of […] post-fascist self-education to democracy«,1200 fungierte die Demoskopie somit als eine Form der demokratischen Selbsterziehung der Deutschen, da sie die Bildung einer neuen Öffentlichkeit unterstützte. Mit dem von Sozialwissenschaftlern veranschlagten und von Politikern erwarteten demokratisierenden Potenzial der empirischen Sozialforschung und der Sozialpsychologie verband sich ein vor allem von amerikanischer Seite erhobener epistemischer Hegemonieanspruch. Franz L. Neumann hatte dies schon 1947 erkannt. Für ihn bestand in der Politik der amerikanischen Militärregierung und ihren Demokratisierungsabsichten ein Widerspruch, denn die Deutschen zu beherrschen und sie gleichzeitig zur Demokratie zu erziehen ließ sich aus seiner Sicht weder auf konzeptioneller noch auf der Handlungsebene in Einklang bringen.1201 Für die Natur- und technischen Wissenschaften im Kalten Krieg betont John Krige, dass nach 1945 und in enger Verflechtung mit dem ERP beziehungsweise Marshallplan »officials in the U.S. administration, and officers in organizations like the Ford and Rockefeller foundations did more than simply ›share‹ science or ›promote‹ American values abroad; they tried to reconfigure the European scientific landscape, and to build an Atlantic community with common practices and values under U.S. leadership.«1202

1198 Theodor W. Adorno, Zur gegenwärtigen Stellung der empirischen Sozialforschung in Deutschland [1952], in: ders., Soziologische Schriften I, S.478-493, hier: S.478-480. Vgl. Dahms, Positivismusstreit, S.285-287; Mergel, Zählbarkeit, Stabilität und die Gesellschaft als solche, S.110; Weyer, Westdeutsche Soziologie, S.121. 1199 Mergel, Zählbarkeit, Stabilität und die Gesellschaft als solche, S.112f. 1200 Forner, German Intellectuals, S.4. 1201 Alfons Söllner, Überleitung sowie drei Interviews zur theoretischen Praxis deutscher Emigranten im amerikanischen Geheimdienst, in: ders. (Hrsg.), Zur Archäologie der Demokratie in Deutschland, Bd.2, S.7-58, hier: S.41. 1202 Krige, American Hegemony, S.3. Zur von der Rockefeller Foundation verfolgten Wissenschaftspolitik im nachkriegszeitlichen Westdeutschland siehe Claus-Dieter Krohn, Ein intellektueller Marshall-Plan? Die Hilfe der Rockefeller Foundation

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Der hegemoniale Anspruch wurde unter anderem über die Soziologie sowie speziell die empirische Sozialforschung vermittelt. Bernhard Plé weist darauf hin, dass in den Vereinigten Staaten die Auffassung, dass sozialwissenschaftliches Wissen der Verwirklichung der amerikanischen Demokratie diene, im frühen Kalten Krieg ideologisch umgeschlagen sei. Sozialwissenschaftler hätten die demokratische Gesellschaftsform fortan als normativen Ausgangspunkt für die gesunde Entwicklung aller Gesellschaften dieser Welt konzipiert. Je mehr Amerika Weltmacht wurde, desto intensiver suchten Sozialwissenschaftler nach einer wissenschaftlichen Begründung des amerikanischen Demokratieverständnisses, um es in anderen Teilen der Welt zu vermitteln.1203 Dieses Sendungsbewusstsein der amerikanischen Sozialwissenschaften sei durch den Ausgang des Zweiten Weltkrieges und die Nachkriegsentwicklung entscheidend gestärkt worden. Es habe sich ein inneres »Verhältnis zwischen dem Selbstverständnis einer Kultur und den Wellen des Aufbaus neuer Wissensformen, das im Sendungsbewusstsein einen spezifischen Ausdruck gefunden hat«, ergeben.1204 Die Propagierung und Verbreitung von Demokratie und Sozialwissenschaften habe zunächst dem OMGUS oblegen. Später hätten verschiedene Stäbe des HICOG diese Aufgabe übernommen, »die ihrerseits überwiegend als einzelne, seltener aber geschlossen mit jenen Schaltstellen korrespondierten, die von der amerikanischen Bundesregierung seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges für die Steuerung der internationalen Kulturpolitik ausgebaut wurden.«1205 Von Mitte 1949 bis 1952, so Plé weiter, habe im höchsten Amt des HICOG der Glaube geherrscht, die Zukunft der freien Welt stehe im Zeichen der Sozialwissenschaften.1206 Dass Horkheimer in einem Memorandum von 1950 die »fortgeschrittensten empirischen Forschungsmethoden der modernen amerikanischen Sozialwissenschaft« für die künftigen sozialempirischen Untersuchungen des IfS nutzen wollte1207 und Schelsky meinte, die deutsche Soziologie müsse vom Ausland, womit er vor allem die Vereinigten Staaten meinte, »lernen, lernen und nochmals lernen«,1208 sind zwei Indizien für die von beiden Denkkollektiven angestrebte Westernisierung der Sozialwissenschaften. Das IfS und die Akademie für Gemeinwirtschaft waren zwei der größten sozialwissenschaftlichen Institutionen

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beim Wiederaufbau der Wissenschaften in Deutschland nach 1945, in: Braun/ Gerhardt/Holtmann (Hrsg.), Die lange Stunde Null, S.227-250. Plé, Wissenschaft und säkulare Mission, S.18. Ebd., S.69. Vgl. auch ebd., S.195-204, 211-224. Ebd., S.227. Ebd., S.234. Zitiert nach: Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, S.480. Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft, S.238.

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Nachkriegsdeutschlands, die in den frühen 1950er Jahren vor allem empirische Sozialforschung mit politikberatender Funktion betrieben.1209 In dieser Zeit dominierte die sozialempirische Wissensebene in der sozialwissenschaftlichen Konzeption und Praxis beider Denkkollektive. Die sozialempirische Praxis der Gruppe um Horkheimer lässt sich am Beispiel des sogenannten »Gruppenexperiments« nachzeichnen, der ersten großen sozialempirischen Untersuchung des IfS nach seiner Rückkehr nach in Frankfurt. Hinsichtlich des Umfangs und der verwendeten Methoden stand es in der Kontinuität von The Authoritarian Personality und der »Laborstudy«. Zudem bereitete die Untersuchung die methodologische Basis für weitere Projekte wie Jacques Décamps’ »Imago-Studie«, in der es um das »Bild der Deutschen in Frankreich« ging.1210 Die IfS-Mitarbeiter führten Konzeption und Feldarbeit für das »Gruppenexperiment« 1950/51 durch. Die Auswertung der empirischen Daten dauerte bis 1955. In diesem Jahr erschien ein von Friedrich Pollock herausgegebener Studienbericht, der allerdings nur einen Bruchteil der Ergebnisse enthielt.1211 Das IfS führte parallel noch die »Columbia-Studie«, eine vergleichende Radioanalyse, in Kooperation mit Paul F. Lazarsfeld in den Vereinigten Staaten und dem Reaction Analysis Branch im HICOG durch.1212 Mitarbeiter des IfS waren zudem an der Darmstädter Gemeindestudie beteiligt und forschten für das Amt für Landesplanung in Hessen.1213 Das im Auftrag des HICOG durchgeführte »Gruppenexperiment« war aber bei weitem das umfangreichste sozialempirische Forschungsunternehmen1214 – und es barg die meiste politische Brisanz. Für die Analyse der hierfür genutzten sozialempirischen Praktiken und des damit generierten Wissens eignet sich aufgrund der Dichte des überlieferten Datenmaterials die von Hans-Jörg Rheinberger vertretene Form der historischen Epistemologie. Dabei lassen sich einzelne, voneinander differierende Sequenzen der Forschungspraxis rekonstruieren. Die gute Quellenlage resultiert auch daher, dass das Denkkollektiv um Horkheimer seine sozialwissenschaftliche Praxis als überaus wichtig und daher dokumentierungswürdig ansah.1215

1209 Vgl. Mergel, Zählbarkeit, Stabilität und die Gesellschaft als solche, S.110. 1210 Archiv IfS, Aa1: Adorno-Korrespondenz M, 13: Protokoll der Mitarbeiter-Besprechung am 03.04.1954, Bl.1-11, hier: Bl.5. 1211 Gruppenexperiment. Ein Studienbericht, bearbeitet v. Friedrich Pollock, mit einem Geleitwort v. Franz Böhm (Frankfurter Beiträge zur Soziologie, Bd.2). Frankfurt am Main 1955. 1212 Archiv IfS, Ordner: Osmer Archiv: Memorandum vom 10.09.1951, Re: Holleritharbeiten, Bl.1f., hier: Bl.1. 1213 Archiv IfS, Ordner: Osmer Archiv: Aktennotiz, von Osmer an Maus betr. Projekte des Instituts für Sozialforschung vom 01.12.1951, Bl.1-3. 1214 Platz, Die Praxis der kritischen Theorie, S.69. 1215 Sonnenfeld, Das Archiv des Instituts für Sozialforschung, S.243-248.

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Zu Schelskys sozialempirischen Forschungsprojekten der frühen 1950er Jahre finden sich im Staatsarchiv Hamburg dagegen nahezu keine Unterlagen, die eine sequenzielle Rekonstruktion der Forschungspraktiken erlauben. Ein ähnlich ausgeprägtes Interesse an institutioneller Zementierung eines bestimmten sozialwissenschaftlichen Denkstils durch archivalische Überlieferungsbildung lag bei Schelsky offenbar nicht vor. Zudem behielten wohl auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von ihnen bearbeitete Teile der Untersuchungsdokumentationen nach dem Auslaufen ihrer Arbeitsverträge bei sich.1216 Um dennoch sich wiederholende Forschungspraktiken Schelskys und seines Teams identifizieren zu können, werden deshalb nicht nur ein einzelnes, sondern mehrere seiner Projekte untersucht und hierfür vor allem die aus denselben hervorgegangenen Publikationen ausgewertet.

8.1. Das »Gruppenexperiment« des IfS: Demokratisierung durch kritische Sozialforschung (1950 /51) »Vom Ende des Krieges, an dem ich als Reservist teilgenommen hatte, bis August 1950 habe ich in Deutschland verschiedenen Dienststellen der Besatzungsarmee angehört. […] Die meisten meiner Mitarbeiter waren Deutsche aus den verschiedensten Gegenden und mit den verschiedensten Ansichten. Meine Tätigkeit hat mich auch sonst mit Deutschen aller Art zusammengeführt. Ich glaube, daß ich, soweit man sagen kann, die durchschnittlichen Deutschen und ihre Meinung aus erster Hand kennengelernt habe, vor allem auch, wie es den einfachen Leuten zumute ist.«1217 Mit diesen Sätzen begann ein Bericht des amerikanischen Unteroffiziers Michael T.C. Colburn beziehungsweise Colburne, der seine Erfahrungen mit den Deutschen in den ersten Nachkriegsjahren schilderte.1218 1216 Zum Entstehen und zur Wissensgeschichte von Archiven siehe Markus Friedrich, Die Geburt des Archivs. Eine Wissensgeschichte. München 2013, S.15-18, 21-23. Speziell zur Geschichte wissenschaftlicher Archive Lorraine Daston (Hrsg.), Science in the Archives: Pasts, Presents, Futures. Chicago/London 2017. 1217 Gruppenexperiment, S.501. 1218 Archiv IfS: Projekte 2 (15): Gruppenexperiment/Gruppenstudie: Institut für Sozialforschung an der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Untersuchungen über die Einstellung der deutschen Bevölkerung zu ausgewählten weltanschaulichen und politischen Fragen, Winter 1950/51, Bd.I . Als Manuskript vervielfältigt. Abdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Instituts für Sozialforschung an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main gestattet. Darin: Bericht des Sitzungsverlaufs: S.1-70: S.1: 1. Abend: 29. August 1950. Osmer, hier: S.2. Siehe Lenhard, Friedrich Pollock, S.279.

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»Die einen meinen, alle seien Nazis und alle hätten mit Schuld; die anderen sehen die Dinge rosig, weil sie natürlich als Sieger in bevorzugter Stellung sind und nach ihren eigenen angenehmen Erfahrungen zu schnell verallgemeinern. Vielleicht interessiert es Ihre Leser, einmal die Meinung eines nüchternen Gl zu hören, der weder rachsüchtig ist, noch sich ein X für ein U vormachen läßt.«1219 Er habe viel Gutes an den Deutschen beobachtet, so Colburn weiter, etwa ihren Fleiß und dass sie Kooperationsbereitschaft zeigten. Sauber und ordentlich seien die Deutschen auch, »und viele machen auch einen intelligenten Eindruck.« Allerdings wisse er nicht, »wie weit sie selbständig sind oder nur nachreden, was sie gehört haben. Irgendwelche Anzeichen von besonderer Rohheit und Grausamkeit habe ich nirgends finden können, freilich auch nur wenig Anzeichen dafür, daß sie sich zu Herzen gehen ließen, was unter Hitler den Menschen angetan wurde. Doch haben sie selber – vor allem durch Luftangriffe – so viel durchgemacht, daß es ihnen schwer fällt, an fremdes Leid zu denken.«1220 Der einzelne Deutsche wirke eher gutmütig. Die verheirateten Männer seien nett zu ihren Familien und würden es gern wieder zu etwas bringen. Er »glaube, daß sich die Deutschen, die an einen hohen Lebensstandard gewöhnt waren, wirtschaftlich wieder in die Höhe arbeiten werden. Ihre glänzende technische Begabung wird sich erst richtig bewähren, wenn sie einmal in der Lage sind, ungehindert zu produzieren.«1221 Zu ihm persönlich und auch zu den meisten seiner Mitsoldaten seien seine deutschen Bekannten »im allgemeinen freundlich – besonders die Frauen – natürlich auch, weil sie uns alle für wohlhabend halten.«1222 Colburn kam jedoch auch auf die negativen Seiten der Deutschen zu sprechen: »Trotz des vergangenen Unheils halten sich viele für besser und tüchtiger, als wir es sind. Davon, daß Hitler es angefangen hat, wollen sie nichts hören.« Sie seien hinsichtlich ihrer Kriegstreiberei nicht nur unbelehrbar, sondern täten in den meisten Fällen auch noch so, als hätte

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Gruppenexperiment, S.501. Ebd., S.501f. Ebd., S. 502 Ebd.

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»die Welt […] ihnen das größte Unrecht angetan. Sobald bei uns irgendetwas schlecht ist, fangen sie an sich zu entrüsten. Wenn wir es schwer haben, wie in Korea, hat man manchmal den Eindruck, daß sie sich darüber insgeheim freuen und nicht daran denken, daß wir allein sie vor den Russen beschützen.«1223 Auch würden nur ganz wenige offen zugeben, »daß sie Nazis waren, und gerade die es zugeben, sind oft gar nicht die Schlechtesten. Schuld sei nur eine kleine Minderheit.«1224 Zudem seien kulturelle Überheblichkeit und Ablenkung von den eigenen Fehlern weit verbreitet. Besonders merkwürdig würden sich die Deutschen benehmen, »wenn die Rede auf Rassenverfolgung in Amerika kommt. Sobald sie vernehmen, daß ein Neger in den Südstaaten gelyncht worden ist, reiben sie sich die Hände. Ich habe ihnen dann immer erzählt und erklärt, daß es sich bei uns um 10 oder 20 Fälle im Jahr handelt, während es bei ihnen um Millionen ging. Schließlich ist und bleibt bei uns Lynchen ja doch ein Verbrechen, das vom Staat verfolgt wird. Ihr Staat aber hat das Lynchen in unverhältnismäßig viel größerem Maßstab selbst besorgt.«1225 Sicher hätten die Deutschen auch Terror erlebt und hätten wenig ausrichten können gegen Hitler. »Aber haben sie ihm nicht doch immer wieder zugejubelt?« Einzelne Deutsche habe Colburn »von alledem überzeugen können, aber das ist wie ein Tropfen auf einen heißen Stein. Die Gefahr ist, daß sie morgen wieder einem Hitler oder Stalin nachlaufen, und der Meinung sind, daß ein starker Mann immer noch die für sie beste Politik machen wird.«1226 Der Offizier schlussfolgerte, dass der, dem wirklich an internationaler Verständigung gelegen sei, »sich darum kümmern, was praktische Demokratie eigentlich heißt, und sie in langer Arbeit verwirklichen [muß]. Man kann sie nicht gegen die Diktatur wie etwas Fertiges eintauschen, sondern muß für die anderen Menschen ebenso viel Verständnis haben wie für sich selbst.«1227

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Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S.502f. Ebd., S. 503.

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Erst, so schließt Colburns Brief, wenn »dieser Geist sich einmal in den Deutschen durchgesetzt hat, dann wird dies Volk wirklich einen großen Beitrag leisten können.«1228 Allerdings existierte der amerikanische Unteroffizier gar nicht. Seinen Bericht hatten Mitarbeiter des IfS erfunden. Neben Horkheimer, Adorno und Pollock waren daran auch externe sozialwissenschaftliche Gesprächspartner wie Heinz Sauermann und Schelskys Assistent Gerhard Wurzbacher beteiligt. Die letzte Version des Textes hatte Pollock 1955 in seinem Studienbericht der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.1229 Je nachdem, ob die Befragungen in der britischen oder der amerikanischen Besatzungszone stattfanden, wiesen die Mitarbeiter des IfS den Offizier als Briten (»Colburne«) oder Amerikaner (»Colburn«) aus. Was der Colburn-Brief, der auf eine Schallplatte aufgenommen worden war und vor den zu interviewenden Deutschen auf einem Plattenspieler abgespielt wurde, bewirken sollte, waren Affekte. Er sollte provozieren und emotionale Reaktionen hervorrufen, um Aufschluss über die politisch-ideologische und psychische Verfasstheit der Interviewten zu gewinnen.1230 Dies war der methodologische Kern der als »Gruppenexperiment« bekannten ersten großen sozialempirischen Untersuchung in der Bundesrepublik nach 1945. Finanziert wurde das »Gruppenexperiment« größtenteils vom HICOG, das knapp eine halben Million DM bereitstellte.1231 Untersuchungsziel war die Vermessung der politisch-ideologischen Haltungen der Westdeutschen zu Demokratie, den amerikanischen Besatzungsbehörden, Hitler, der Wehrmacht und zu den Juden. Dabei ging es um die Identifizierung von »transsubjektiven Faktoren«, die sich in der politischen Meinung und den ethisch-moralischen Einstellungen der Befragten manifestierten.1232 Nicht die öffentliche Meinung war für das Denkkollektiv um Horkheimer von Interesse. Vielmehr sollte eine psychologische »Zwischenschicht« freigelegt werden, die auf die politischideologischen Problemlagen der westdeutschen Bevölkerung verwies.1233

1228 Ebd. 1229 Vgl. die erste Version des Colburn-Briefs: Archiv IfS, Projekte 2 (6): Gruppenexperiment/Gruppenstudie: Colburn-Brief (erste Fassung), undatiert, Bl.1-3. 1230 Vgl. Final Version of the Basic Stimulus (Colburn Letter), in: Jeffrey K. Olick/ Andrew J. Perrin (Hrsg.), Guilt and Defense: Theodor W. Adorno: On the Legacies of National Socialism in Postwar Germany. Cambridge, MA/London 2010, S.45-47. 1231 Archiv IfS, Ordner USA, M-Z, Korr. H. Marcuse: Draft vom 12.01.1951, Bl.1-5, hier: Bl.2. 1232 Gruppenexperiment, S.34. 1233 Vgl. Theodor W. Adorno, Schuld und Abwehr. Eine qualitative Analyse zum Gruppenexperiment [1955], in: ders., Soziologische Schriften II, Bd.2, hrsg. v. Rolf Tiedemann, unter Mitwirkung v. Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und

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Das Erkenntnisziel und die Methode der Gruppendiskussion standen in einem engen Zusammenhang mit demokratischen Erziehungsabsichten. Es ging keineswegs nur um eine Beschreibung und Analyse der deutschen Bewusstseinslage. Vielmehr sollte die Konfrontation von jungen deutschen Sozialforschern mit bestimmten Bevölkerungsgruppen und deren ideologischen Überzeugungen einerseits die demokratische Selbstbildung der Interviewer fördern und andererseits die Befragten dazu anregen, ihre eigenen politisch-ideologischen Positionen zu hinterfragen.1234 »Es sollte«, so Alex Demirović, »herausgefunden werden, wie sich ein Geist internationaler Verständigung fördern ließe.«1235 Die Interviewer hatten »nicht nur den Kontakt nach unten – mit den dem Experiment unterworfenen Personen  – herzustellen«. Darüber hinaus waren vielmehr auch »die sich ihnen während der Sitzungen bietenden Eindrücke und Erfahrungen, aus denen das die Studie leitende Institut bei der Beurteilung und Auswertung der Sitzungsprotokolle Einsichten zu schöpfen haben werde«, zu erfassen.1236 Sozialempirische Erkenntnis, subjektive Erfahrung von ideologischen wie psychologischen Strukturen und demokratische Erziehungsabsicht bildeten dabei ein ganzheitliches Konzept. Für die Erziehungsabsichten des IfS war laut Adorno jener Grundsatz der Psychoanalyse ausschlaggebend, »demzufolge die Beteiligung des Unbewussten des Analytikers als ein den analytischen Prozess Stimulierendes hervorgehoben wird«. Die Diskussionsleiter würden in ähnlicher Weise unbewusste Impulse auf die Experimentiergruppen ausstrahlen. In der Konsequenz »würde in das Ergebnis der Studie nicht nur die Haltung der Versuchspersonen ›an sich‹, sondern auch in gewissem Grade die Subjektivität der Mitarbeiter notwendig produktiv eingehen.«1237 Auch andernorts wurden psychotherapeutisch motivierte Gruppenanalyse und empirische Sozialforschung mit demokratiefördernder Absicht miteinander verknüpft. Der Psychiater und Psychoanalytiker S.H. [Siegmund Heinrich] Foulkes gründete 1952 in London die Group Analytic Society, an der auch der nach England emigrierte Soziologe Norbert Elias mitwirkte. Foulkes übertrug die individuelle Psychoanalyse auf Gruppen, wobei »eine enge Zusammenarbeit mit Soziologen von größter Bedeutung« gewesen sei, wie sich Elias retrospektiv

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Klaus Schultz (Gesammelte Schriften, Bd.9.2). Frankfurt am Main 2003, S.121324, hier: S.149. Vgl. Archiv IfS, S 1: Tagungen 1950-1961, Ordner 1: 1950-1952: Besprechung am 28. und 29.  Juni (Protokoll von Fr. Bühler), Bl.1-19, hier: Bl.2; Archiv IfS, F 1/40-60: Studies in Prejudice: Nr.58: Aktennotiz vom 10.01.1951. Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle, S.353. Archiv IfS, S 1: Tagungen 1950-1961, Ordner 1: 1950-1952: Konferenz im Institut für Sozialforschung Frankfurt am Main, 28. und 29. Juni 1950, Bl.1-20, hier: Bl.20. Ebd.

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erinnerte.1238 Rolf Wiggershaus vermutet, dass ein Artikel Marc Abrams über die Vor- und Nachteile des Gruppeninterviews von 1949 starken Einfluss auf das vom IfS geplante Forschungsprojekt hatte. Abrams hatte die Vorteile von Interviews mit geschlossenen Gruppen von etwa zehn bis 16 Teilnehmern beschrieben. Diese sollten an einem Ort interviewt werden, an dem sie auch im Alltag zusammenkamen, also etwa dem Lokal eines Kaninchenzüchtervereins.1239 Nina Verheyen hat in ihrer Dissertation gezeigt, dass Diskussionen – sie bezieht den Begriff auf Face-to-Face-Kommunikation im Fernsehen, eigens zu diesem Zweck gebildete Diskussionsgruppen und Debatten in Tageszeitungen  – ein zentrales Kennzeichen der sich nach 1945 neuformierenden demokratischen Kultur Westdeutschlands waren. Diese Diskussionskultur förderten auch die amerikanischen Reeducation-Offiziere.1240 Tatsächlich war die US-Besatzungszone, so Nicolas Guilhot, »a laboratory of social science«.1241 Seit den 1930er Jahren hatte Horkheimer immer wieder betont, die sozialempirischen Untersuchungen des IfS würden »in besonders hohem Grad den Charakter des Experiments« tragen.1242 Noch 1943 schrieb er an Pollock, dass man »even greater and better equipped socio-chemical laboratories« benötigen würde, um »the right antidote for a definite social illness« entwickeln zu können.1243 Und auch nach der Neueröffnung des IfS in Frankfurt können dessen sozialwissenschaftliche Praktiken als weitgehend experimentell beschrieben werden. Nach den verschiedenen Übersetzungsleistungen seit den späten 1930er Jahren ging es dabei wie bei den Laborgemeinschaften Rheinbergers vor allem um Reproduzierbarkeit und die Generierung kontrollierbaren Wissens. Die sozialempirische Praxis sollte einen Ausschnitt der politisch-ideologischen wie psychischen Lage von Bevölkerungsgruppen als soziale Realität sichtbar machen und problematisieren. In Anlehnung an Rheinberger wird diese Praxis »System« genannt, obwohl dessen Rahmen determinierter und weniger 1238 Arend-Jan Heerma van Voss/Abram van Stolk, Biographisches Interview mit Norbert Elias, in: Norbert Elias über sich selbst. Frankfurt am Main 1990, S.7-101, hier: S.81. Im »Gruppenexperiment« von 1950/51 kamen die bereits bei der »Laborstudy« und The Authoritarian Personality erprobten, nun jedoch erweiterten und auf die Verhältnisse der postfaschistischen Bundesrepublik angepassten Interviewmethoden zum Einsatz. Siehe Gruppenexperiment, S.6, Fußnote 3. 1239 Vgl. Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, S.484-486. 1240 Nina Verheyen, Diskussionslust. Eine Kulturgeschichte des »besseren Arguments« in Westdeutschland (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd.193). Göttingen 2010, S.35, 61-76. Auch in Bezug auf Konzept und Praxis von »Democracy through Discussion« spielten John Deweys Ansätze eine wichtige Rolle. Vgl. ebd., S.76-86. 1241 Guilhot, Reforming the World, S.453. 1242 Horkheimer, Vorwort [zu den Studien über Autorität und Familie], S.332. 1243 Zitiert nach: Fleck, Transatlantische Bereicherungen, S.371.

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ergebnisoffen war.1244 Ein exploratives Experiment1245 war das sozialempirische Experimentalsystem aber allemal, zumal zu Beginn des »Gruppenexperiments« noch keine vollständige Klarheit über die geeignetste Methode zur Generierung möglichst verlässlicher Daten bestand. Auch die Praktiken der Stabilisierung des daraus hervorgehenden Wissens, wozu dessen Vermittlung an die Westdeutschen gehörte, standen keineswegs fest. Welche epistemischen und technischen Elemente, die im Forschungsprozess freilich ineinander übergingen, waren dem Experimentalsystem des »Gruppenexperiments« eigen? Als epistemische Dinge bezeichnet Rheinberger die Gegenstände der Forschung im engeren Sinn. Diese Wissensobjekte seien oft vage und verschwommen. Sie würden sich erst im Forschungsprozess selbst deutlicher konturieren.1246 Im »Gruppenexperiments« waren diese die politische Ideologie, psychische Lage und das daraus hervorgehende Bewusstsein der Westdeutschen um 1950. Sie kreisten um einen ganzen Komplex an hoch brisanten und tagesaktuellen Themen wie Demokratie, Remilitarisierung oder das Ansehen der Deutschen im Ausland. Im Detail ging es um Fragen nach der »Schuld Hitlers« und der »aller Deutschen«, die »Rechtfertigung der Parteimitgliedschaft«, »Kriegsverbrechen«, »Entnazifizierung« oder die »Behandlung der Kriegsgefangenen«, aber auch um »Verständigung«, die »Unterstützung Deutschlands durch Amerika«, den »Koreakonflikt«, »ökonomische Interessen der Amerikaner in Korea«, die »Remilitarisierung gegen Russland«, die »Bedeutung der Kirche« und die »Juden«.1247 Auch die Frage nach einer deutschen »Kollektivschuld«, die vor allem von den Deutschen selbst aufgeworfen wurde, stand in amerikanisch-englischen Debatten vor und nach 1945 zur Diskussion.1248 Zudem betrieben die Alliierten nach Kriegsende eine Politik der Aufklärung und Vergangenheitskonfrontation. Hannah Arendt, die nach 1945 für kürzere Aufenthalte nach Deutschland zurückkehrte, notierte dazu:

1244 Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge, S.20-25. 1245 Vgl. Friedrich Steinle, Explorative Experimente. Ampère, Faraday und die Ursprünge der Elektrodynamik (Boethius. Texte und Abhandlungen zur Geschichte der Mathematik und der Naturwissenschaften, Bd.50). Stuttgart 2005. 1246 Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge, S.27, 30. 1247 Archiv IfS, Projekte 2 (1): Gruppenexperiment/Gruppenstudie: Stand der Gruppenstudie Januar/Februar 1952 (Anlage III), Bl.1f.; Entwürfe für Stichworte für Reize, Januar 1951, Bl.1-7. 1248 Jan Friedmann/Jörg Später, Britische und deutsche Kollektivschuld-Debatte, in: Ulrich Herbert (Hrsg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945-1980 (Moderne Zeit. Neue Forschungen zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Bd.1), 2.Aufl. Göttingen 2003, S.53-90; Meyer, Die SPD und die NS-Vergangenheit, S.38.

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»In den ersten Tagen der Besatzung waren überall Plakate zu sehen, die das fotografisch festgehaltene Grauen von Buchenwald mit einem auf den Betrachter deutenden Finger zeigten, zu dem der Text gehörte: ›Du bist schuldig‹. Für eine Mehrheit der Bevölkerung waren diese Bilder die erste authentische Kenntnisnahme der Taten, die in ihrem Namen geschehen waren.«1249 Cornelia Brink nennt diese Bilder »Ikonen der Vernichtung«, die an Hauswänden und Litfaßsäulen, in Banken, Büros und Schaufenstetn zu sehen waren.1250 Sie zeigten ausgemergelte Leichname und KZ-Häftlinge mit Überschriften wie: »Ihr habt ruhig zugesehen und es stillschweigend geduldet«, »Warum habt ihr mit keinem Wort des Protests, mit keinem Schrei der Empörung das deutsche Gewissen aufgerüttelt?« oder »Das ist Eure große Schuld – ihr seid verantwortlich für diese grausamen Verbrechen!«.1251 Allerdings bewirkten diese Maßnahmen eher das Gegenteil von dem, was sie erreichen sollten: Hatten 1946 noch über 70 Prozent der Westdeutschen die Kriegsverbrecherprozesse bejaht, wurden sie 1950 von ebenso vielen abgelehnt. Zugleich, so Ulrich Herbert, »wurden in der westdeutschen Öffentlichkeit Entnazifizierung, Internierungslager, Spruchgerichte und Kriegsverbrecher-Prozesse als Ausweis bereits empfangener Strafe und Sühne genommen, wobei die offenbaren Ungerechtigkeiten vor allem des Entnazifizierungsverfahrens als Beleg für die Verfehltheit des gesamten Unterfangens dienten und das dabei begangene ›Unrecht‹ mit den Verbrechen des Nationalsozialismus gewissermaßen verrechnet wurde.«1252 Kurt Schumacher hatte bereits 1945 ein spürbares Bedürfnis nach Schuldabwehr und Selbstentlastung bei den Deutschen festgestellt.1253 Noch im Sommer 1952 hielt ein Drittel der Deutschen Hitler für einen großen Staatsmann. Ein weiteres Viertel hatte eine gute Meinung von ihm. 1955 vertrat etwa die Hälfte der Deutschen die Ansicht, Hitler hätte ohne Krieg als einer der größten deutschen Staatsmänner dagestanden.1254 Adorno schrieb Ende Dezember 1949 an Thomas Mann, dass er bei den Westdeutschen das »eigentümlich Amorphe, Ungreifbare, Gestaltlose« festgestellt 1249 Zitiert nach: Reichardt/Zierenberg, Damals nach dem Krieg, S.166. 1250 Cornelia Brink, Ikonen der Vernichtung. Öffentlicher Gebrauch von Fotografien aus nationalsozialistischen Konzentrationslagern nach 1945 (Schriften des FritzBauer-Instituts, Bd.14). Berlin 1998. 1251 Reichardt/Zierenberg, Damals nach dem Krieg, S.166f. 1252 Herbert, Geschichte Deutschlands, S.660. Vgl. Judt, Postwar, S.58. 1253 Meyer, Die SPD und die NS-Vergangenheit, S.41. 1254 Reichardt/Zierenberg, Damals nach dem Krieg, S.177f.

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habe, dass »die unsägliche Schuld gleichsam ins Wesenlose zerrinnt«, was sich »bis in die unscheinbarste Alltäglichkeit hinein« wiederholen würde. Er habe »außer ein paar rührend marionettenhaften Schurken von altem Schrot und Korn, noch keinen Nazi gesehen, und das keineswegs bloß in dem ironischen Sinn, daß keiner es gewesen sein will, sondern in dem weit unheimlicheren, daß sie glauben, es nicht gewesen zu sein; daß sie es ganz und gar verdrängen; ja daß sie, möchte man zuweilen spekulieren, insofern es wirklich nicht ›waren‹, als angesichts des den Menschen entfremdeten Unwesens der Diktatur diese nie in dem Sinne zugeeignet wurde wie ein bürgerliches System, sondern fremd zugleich und toleriert, als eine böse Chance und Hoffnung, außerhalb der Identifikation blieb – was es jetzt dämonisch erleichtert, an eben der Stelle ein gutes Gewissen zu haben, wo das schlechte sitzt.«1255 Das galt selbst für den Antisemitismus, auch wenn Adorno einen seiner Studenten nach dessen Behauptung, dass die Deutschen diesen nie ernst genommen hätten, an Auschwitz und daran erinnern musste, dass, wie die »bewußt Oppositionellen einem bestätigen, was die einfachste Menschenvernunft sagt: daß man in Wahrheit seit 1943 alles wußte.«1256 Dieses Amorphe, diese psychische transsubjektive Zwischenschicht, sollte das »Gruppenexperiment« freilegen. Nach Rheinberger bedarf es stabiler Experimentalbedingungen, die er als »technische Dinge« bezeichnet, um epistemische Dinge einzufassen und »dadurch in übergreifende Felder von epistemischen Praktiken und materiellen Wissenskulturen« einzufügen.1257 Zu diesen zählen Instrumente aller Art, wie etwa Aufzeichnungsapparaturen und standardisierte Modellorganismen. Sie »definieren nicht nur den Horizont und die Grenze des Experimentalsystems, sie sind auch Sedimentationsprodukte lokaler oder disziplinärer Arbeitstraditionen mit ihren Meßapparaturen, dem Zugang zu, vielleicht auch nur der Vorlieben für spezifische Materialien oder Labortiere, den kanonisierten Formen handwerklichen Könnens, das von erfahrenen Laborkräften unter Umständen über Jahrzehnte weitergegeben wird.«1258 Zu diesen technischen Dingen gehörten beim »Gruppenexperiment« der »Grundreiz«, also der erwähnte Colburn-Brief, Apparaturen wie der Plattenspieler, das Tonbandgerät und die Hollerithmaschine zur Auswertung der in 1255 Theodor W. Adorno an Thomas Mann vom 28.12.1949, in: Theodor W. Adorno – Thomas Mann. Briefwechsel, S.44-54, hier: S.45. 1256 Ebd. Siehe auch Reichardt/Zierenberg, Damals nach dem Krieg, S.167. 1257 Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge, S.29. 1258 Ebd.

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Lochkarten eingestanzten Antworten, die Transkriptionen der Interviews, die Fragelisten der Interviewer sowie zusätzlich von den Interviewten auszufüllende Fragebögen.1259 Schließlich können die interviewten Gruppen selbst als technische Dinge bezeichnet werden, obwohl sie keinesfalls mit standardisierten Labortieren zu vergleichen sind. Sie konnten zudem performativen Charakter haben, wenn etwa Schallplatte, Plattenspieler und Tonbandgerät vermutlich auch deshalb eingesetzt wurden, um der Stimme des fiktiven amerikanischen Offiziers objektiven Anspruch und Authentizität zu verleihen.1260 Die Experimentalbedingungen des »Gruppenexperiments« führten zu einer Reihe von Herausforderungen, die wiederum die Bearbeitung der epistemischen Dinge beeinflussten: 1) In der Nachkriegszeit empfanden viele Westdeutsche den Fragebogen als Zumutung. Der Schriftsteller und ehemalige Freikorpskämpfer Ernst von Salomon artikulierte diesen Unmut in seinem autobiografischen Buch Der Fragebogen von 1951.1261 Thomas Mergel hält fest, dass diese Erhebungsmethode nicht ohne Ambivalenzen gesehen wurde, denn »das sozialwissenschaftliche Untersuchungsinstrument des Fragebogen wurde auch bei der re-education benutzt und wurde damit zu einem mit Misstrauen behafteten Symbol. Man konnte den Fragebogen vor diesem Hintergrund auch als eine moderne Methode der Bespitzelung verstehen.«1262 Die IfS-Mitarbeiter konnten sich deshalb keinesfalls sicher sein, wie weit die auf den Fragebögen gemachten Angaben der Befragten ehrlichen Äußerungen entsprachen oder sie bewusst getäuscht wurden. Dieses Problem wurde bei zahlreichen Sitzungen der IfS-Mitarbeiter immer wieder besprochen. Eine befriedigende Lösung fand sich dafür jedoch nicht. 2) Die von Herman Hollerith im späten 19. Jahrhundert entwickelte Tabelliermaschine, die als Hollerithmaschine Eingang in den allgemeinen Sprachgebrauch gefunden hatte, war für die Auswertung quantitativ erhobener sozialempirischer Fragebogendaten und Interviewauswertungen unabdingbar.1263 1259 Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, S.484-486. 1260 Zum Verhältnis von Phonoobjekten und wissenschaftlichen Tugenden wie Objektivität, Zeitunabhängigkeit, Exaktheit und Überprüfbarkeit siehe Stefan Gauß, Nadel, Rille, Trichter. Kulturgeschichte des Phonographen und des Grammophons in Deutschland (1900-1940), mit einem Vorwort v. Wolfgang Ruppert. Köln/ Weimar/Wien 2009. S.352-407. 1261 Reichardt/Zierenberg, Damals nach dem Krieg, S.205. Vgl. Ernst von Salomon, Der Fragebogen. Reinbek bei Hamburg 1951. 1262 Mergel, Zählbarkeit, Stabilität und die Gesellschaft als solche, S.109. 1263 Zu Herman Hollerith siehe Bernhard J. Dotzler, Die Schaltbarkeit der Welt. Herman Hollerith und die Archäologie der Medien, in: Stefan Adriopoulos/ders.

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»Obwohl gegen die Aufstellung einer Hollerithmaschine einzuwenden ist, dass die Kapazität der Anlage durch unser Institut allein nicht ausgenutzt werden kann, und obwohl die Jahresmiete von ca. DM 2.500.- (wozu noch eine einmalige Aufstellungsgebühr von DM 500.- und die Kosten für eine Gleichstromanlage kommen) den Etat nicht unerheblich belasten würde, halte ich es für erforderlich, sobald als möglich wenigstens eine Fachzählsortiermaschine aufzustellen«,1264 wie Diedrich Osmer, der technische Leiter des »Gruppenexperiments«, in einem Memorandum vom September 1951 festhielt.1265 Neben den Kosten bedurfte es zudem fachkundigen Personals. Die Maschinen selbst wurden von der Internationalen Büro-Maschinen Gesellschaft mbh (IBM Deutschland), dem Lizenzträger der International Business Machines Corporation (IBM), vertrieben.1266 Die sozialempirische Praxis habe gezeigt, dass das Fehlen einer eigenen Maschine die Arbeiten massiv erschwerte. Osmer nannte ein Beispiel: Als die IfS-Mitarbeiter die Codesheets aus dem »Gruppenexperiment« am 16.07.1951 der IBM übergaben, hätten deren Vertreter erklärt, das Lochen der Karten, die Grundauszählung und der erste statistische »Breakdown« würden etwa drei bis vier Wochen in Anspruch nehmen. Bis heute, also Anfang Oktober, seien aber gerade einmal knapp 50 Prozent der Codesheets ausgezählt worden. Bei einer anderen Untersuchung, der »Columbia-Studie«, deren Rohdaten das Personal des Reaction Analysis Branch im HICOG tabulierte, habe sich zudem gezeigt, dass nicht nur zeitliche Verzögerungen die Arbeit erschwerten, sondern dass infolge der Nachtarbeit die Fehlerquote deutlich höher ausfiel. Beides führe dazu, dass für das Tabulieren wesentlich »mehr Zeit gebraucht wird als es der Fall wäre, wenn uns eine eigene Maschine zur Verfügung stünde«. Das wirke sich besonders ungünstig aus, wenn Termine für die Beendigung der Auswertungsarbeiten eingehalten werden müssten.1267 Eine institutseigene Hollerithmaschine sollte also zum einen beim Ver-

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(Hrsg.), 1929. Beiträge zur Archäologie der Medien. Frankfurt am Main 2002, S.288-315, hier: S.294-315. Der achte US-Zensus brachte die bislang umfangreichste Auszählung mit sich, sie dauerte mehr als acht Jahre, was das U.S. Census Bureau dazu bewog, den Ingenieur Hollerith mit der Entwicklung einer maschinellen Lösung für den nächsten Zensus zu beauftragen. Siehe Christine von Oertzen, Die Historizität der Verdatung: Konzepte, Werkzeuge und Praktiken im 19. Jahrhundert, in: NTM 25 (2017) 4, S.407-434, hier: S.417. Archiv IfS, Aa1: Adorno-Korrespondenz H, 8: Memorandum vom 10.09.1951, re: Holleritharbeiten, Bl.1f., hier: Bl.1. Ebd. Dotzler, Die Schaltbarkeit der Welt, S.298. Archiv IfS, Aa1: Adorno-Korrespondenz H, 8: Memorandum vom 10.09.1951, re: Holleritharbeiten, Bl.1f., hier: Bl.1.

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meiden und der schnelleren Korrektur von Fehlern helfen, zum anderen aber auch die rasche maschinelle Auszählung erleichtern. Zunächst mietete sich das IfS von der IBM eine Hollerithmaschine. Mit deren Leistung zeigten sich die Mitarbeiter »außerordentlich zufrieden«, wie Osmer im Dezember 1952 an IBM-Direktor Arnold schrieb. Die einzige Sorge seien die für ein deutsches Forschungsinstitut relativ hohen Kosten, »die noch dadurch erhöht werden, daß wir uns bisher keine eigene Gleichrichteranlage anschaffen konnten und die verhältnismäßig hohe Miete für einen geliehenen Umformer tragen müssen.«1268 Die Gleichrichteranlage erlaubte es, mit der Hollerithmaschine über unterschiedlich eingerichtete Stromkreise verschiedene Auswertungen vorzunehmen. Je nachdem, welche Stromkreise offen waren, wurden bestimmte Zählwerke oder bestimmte Sortierfächer bedient.1269 Die IfS-Mitarbeiter debattierten daraufhin über die Vor- und Nachteile eines Kaufs des bislang verwendeten Drehstromgleichstromaggregats für 1.250 DM. Zu den Nachteilen zählten das relativ hohe Alter des Geräts, die ungünstige Anbringung im Heizungsraum, starke Geräuschentwicklung und Vibration. Vorzuziehen wäre deshalb ein »speziell für IBM-Maschinen entwickelter Trockengleichrichter mit AmpèreLeistung. Dieser wird zum Preis von DM 3.500.- mit automatischem und zum Preis von DM 2.100.- mit Handausgleich geliefert«. Das preiswertere Modell sei für die Zwecke des Instituts ausreichend. Es arbeite leise, bedürfe keiner Wartung und könne im gleichen Raum wie die Hollerithmaschine installiert werden.1270 Die Kostenfrage war für das IfS gleichwohl nicht unerheblich, denn die Maschine werde bei weitem nicht so häufig genutzt wie in statistischen Ämtern, in der Industrie oder in gewerbemäßigen Meinungsforschungsinstituten. Sie sei vielmehr laut Osmer »mitunter wochenlang gar nicht oder kaum in Betrieb«, weshalb er im Dezember 1951 auch IBM-Direktor Arnold um eine Spende bat.1271 3) Ebenfalls kostspielig und zudem mühselig waren die Transkriptionen der auf Tonband festgehaltenen Interviewaufzeichnungen. Ein Budgetvoranschlag vom März 1952 nannte diesbezüglich Kosten von 3.000 DM für weitere 20 Gruppendiskussionen.1272 Die Transkriptionen mussten außerdem korrigiert werden. Auch hierbei 1268 Archiv IfS, Aa1: Adorno-Korrespondenz I-J , 9: Diedrich Osmer an Direktor Arnold, Internationale Büromaschinen GmbH., vom 18.12.1952. 1269 Dotzler, Die Schaltbarkeit der Welt, S.303f. 1270 Archiv IfS, Aa1: Adorno-Korrespondenz I-J , 9: Aktennotiz vom 16.07.1952: re: Gleichrichteranlage für Hollerithmaschine, Telefongespräch mit Herrn Stein vom Frankfurter Büro der AEG am 10.07.1952. 1271 Archiv IfS, Aa1: Adorno-Korrespondenz I -J , 9: Diedrich Osmer an Direktor Arnold, Internationale Büromaschinen GmbH., vom 18.12.1952. 1272 Archiv IfS, Projekte 2 (1): Gruppenexperiment/Gruppenstudie: Budget-Voranschlag für bzw. 20 weitere Gruppendiskussionen, Prof. Pollock, vom 24.03.1952, Bl.1f., hier: Bl.1.

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»handelt es sich zweifellos um eine recht mühselige Arbeit, da man manche Stellen immer wieder anhören muss, ehe man einen Fehler korrigieren bzw. eine ›unverständliche‹ Stelle auflösen kann. Doch ist es mindestens ebenso notwendig wie mühselig, diesen zweiten Kontrollgang einzuschalten, damit das in der vorliegenden Form recht unzuverlässige Material gerettet wird.«1273 Bedingt durch den experimentell-explorativen Charakter der sozialempirischen Praktiken beim »Gruppenexperiment« war zudem nicht klar, was alles transkribiert werden sollte. Nach einer im Frühjahr 1952 durchgeführten »kleinen Gruppenstudie« bemerkte Volker von Hagen, einer der IfS-Mitarbeiter, der den Gesprächsleiter jeweils begleitende Assistent sollte »die Reaktion der Gruppe auf markante Äußerungen (eine Reaktion, die spätestens bei der Transkription für immer verloren geht) notieren. Er könnte die Zwischenrufe aufschreiben, damit sich deren Einwürfe im endgültigen Protokoll identifizieren lassen, er könnte lautlose Zustimmungen zu einzelnen Argumenten (Kopfnicken), lautlosen Widerspruch (Kopfschütteln) festhalten und einiges über die ›Grunzer‹ aussagen, er könnte ganz allgemein das Protokoll durch Anmerkungen bereichern, die sich auf die Verhaltensweise derer beziehen, die im Augenblick nicht das Wort haben.«1274 4) Von Hagens Vorschlag verweist auf eine letzte Herausforderung: den Umgang mit den Interviewten selbst. Diese verhielten sich nur bedingt so, wie von den IfS-Mitarbeitern erhofft. Statt sich zu den angesprochenen Themen- und Fragenkomplexen zu äußern, schwiegen viele Befragte. Dieses Schweigen galt es, auf irgendeine Weise zu interpretieren. »Es herrscht Einvernehmen darüber, daß die Schweiger nicht ohne weiteres denen gleichzusetzen sind, die in einem Survey mit ›keine Meinung‹ geantwortet haben. Um etwas näheres darüber zu erfahren, wie die technische Durchführung der Diskussionen bewirkt hat, daß Leute zu Schweigern wurden, die in einem Interview wahrscheinlich geantwortet hätten«,1275 schlugen die IfS-Mitarbeiter vor, diese zu unterteilen, und zwar in solche, die sich nicht, und solche, die sich gemeldet hatten, jedoch nicht berücksichtigt wor-

1273 Archiv IfS, Aa1: Adorno-Korrespondenz K, 1: 10: Diedrich Osmer an Werner Kranz vom 26.08.1954, Bl.1f., hier: Bl.1. 1274 Archiv IfS, Ordner: Osmer Archiv: Vorschlag für die »kleine Gruppenstudie« vom 24.04.1952, von Hagen, Bl.1-3, hier: Bl.3. 1275 Ebd., Bl.1.

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den waren oder ihre Meldung zurückgezogen hatten.1276 Dies verlange, so von Hagen, aber eine Änderungen der Aufnahmetechnik: »Das Festhalten der Wortmeldungen oder sonstiger Reaktionen der Schweiger während der Diskussionen muss durch den Assistenten geschehen«, der daher von der Pflicht der inhaltlichen Protokollierung entbunden werden solle.1277 Hinzu kam  – dies war ein grundsätzlicheres Problem  –, dass nicht alle zu den Sitzungen Eingeladenen auch tatsächlich erschienen. In Bezug auf Follow-Up-Interviews, die mit einzelnen Gruppen im Anschluss an die Diskussionen geführt werden sollten, betonte Pollock im März 1952, seiner Erfahrung nach müssten etwa viermal so viele Leute kontaktiert werden, als dann an den Diskussionen auch tatsächlich teilnahmen.1278 All diese Herausforderungen bedingten eine interaktive Dynamik zwischen epistemischen und technischen Dingen, die sich auch in der Durchführung des »Gruppenexperiments« widerspiegelten. 8.1.1 Die Datenerhebung beim »Gruppenexperiment« An der Untersuchung waren sowohl junge als auch erfahrene Sozialwissenschaftler beteiligt. Adorno und Pollock leiteten das Projekt. Der ausgebildete Jurist Osmer war für die methodische Konzeption und die technische Umsetzung verantwortlich. Weiterhin beteiligt waren Helmuth Beyer, von Hagen, Peter von Haselberg, Lothar Herberger, Adornos Ehefrau Gretel Adorno, Rainer Köhne, Heinz Maus, Harald Mehner, Ivan Nagel, Karl Sardemann, Hans Joachim Sell, Gerhard Schmidtchen, Hermann Schweppenhäuser, Hans Sittenfeld, Jutta Thomae und Kurt Wolff. Einige von ihnen werteten das gewonnene sozialempirische Datenmaterial in mehr oder weniger fertiger Textform aus. Im Archiv des IfS sind insgesamt zwölf Entwürfe für »Monografien« überliefert. Davon wurden nur Adornos Beitrag »Schuld und Abwehr« als fünftes Kapitel des Studienberichts von 1955 und erst jüngst Peter von Haselbergs »Verhaltensweisen gegenüber dem Schuldgefühl« unter dem neuen Titel Schuldgefühle. Postnazistische Mentalitäten in der frühen Bundesrepublik vollständig publiziert.1279 1276 Ebd. 1277 Ebd., Bl.2. 1278 Archiv IfS, Projekte 2 (1): Gruppenexperiment/Gruppenstudie: Budget-Voranschlag für bzw. 20 weitere Gruppendiskussionen, Prof. Pollock, vom 24.03.1952, Bl.1f., hier: Bl.1. 1279 Vgl. Adorno, Schuld und Abwehr; Peter von Haselberg, Schuldgefühle. Postnazistische Mentalitäten in der frühen Bundesrepublik. Eine Studie aus dem Gruppenexperiment am Institut für Sozialforschung, hrsg. v. Michael Becker, Dirk Braunstein und Fabian Link (Frankfurter Beiträge zur Soziologie und Sozialphilosophie, Bd.31). Frankfurt am Main/New York 2020. Publiziert wurden zudem alle Arbeiten, die in Band I im IfS-Archiv zu finden sind. Dabei handelt es sich um Arbeiten methodischen und quantifizierenden Inhalts. Separat

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Die anderen Auswertungen blieben entweder gänzlich unveröffentlicht oder wurden in Pollocks Bericht nur in Form kurzer Hinweise oder als Auszüge im Nachwort und im Anhang aufgenommen. Darüber hinaus waren Fritz Beck, Jacques Décamps, Günther Flüs, Ludwig von Friedeburg, der als Psychologiestudent der Universität Freiburg im Breisgau 1951 am IfS ein Praktikum absolvierte, Paul Freedman, Rudolf Holzinger, Werner Kranz, Herbert Limmer, Monika Plessner, Christa von Ravenstein, Fritz Rudolph, F.R. Spieldiener und Hans Peter Stolberg am Projekt beteiligt.1280 Hinzu kamen Pressestenografen, die die Protokolle der Gruppendiskussionen erstellten.1281 Einer der ersten Arbeitsschritte im Kontext des »Gruppenexperiments« war die Übersetzung der »Studies in Prejudice« ins Deutsche, wobei vor allem der Band The Authoritarian Personality im Zentrum stand. Einerseits sollten sich die jungen deutschen IfS-Mitarbeiter mit den dabei verwendeten Methoden vertraut machen. Die in den Vereinigten Staaten breit rezipierte sozialpsychologische Untersuchung sollte andererseits aber auch in der Bundesrepublik verbreitet werden. Im Unterschied dazu blieb die »Laborstudy« auch in der englischen Originalfassung unveröffentlicht.1282 Zwar hatte die Institutsleitung 1946 mit Lazarsfeld und dem JLC in New York eine Publikation geplant. Auch hatte Adorno darauf gedrängt, die Ergebnisse der Studie in die geplante deutsche Ausgabe der ›Studies in Prejudice‹ einzuarbeiten.1283 Aufgrund von methodologischen Meinungsdifferenzen zwischen Adorno und Lazarsfeld sowie Schwierig-

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hinterlassen sind zudem eine als Dissertation verfasste Monografie von Volker Freiherr von Hagen, Integrationsphänomene in Diskussionsgruppen. Frankfurt am Main 1954 (Sign. 1/520) sowie eine als Diplomarbeit verfasste Monografie von Lothar Herberger, Das Problem der »Nicht-Beteiligung« bei Anwendung der Gruppendiskussionsmethode. Frankfurt am Main 1953 (Sign. F2 115). Eine – im Zusammenhang mit dem »Gruppenexperiment« allerdings noch nicht genannte – Monografie von Werner Mangold, Gegenstand und Methode des Gruppendiskussionsverfahrens erschien als Band 9 der Frankfurter Beiträge zur Soziologie (1959, Sign.31). Die weiteren unpubliziert gebliebenen Monografien sind Karl Sardemanns Für und gegen den Wehrbeitrag, Kurt H. Wolffs Zur deutschen Ideologie über Amerika, die Arbeit von Rainer Koehne und Hermann Schweppenhäuser Aspekte der Sprache und eine gemeinsam verfasste Monografie Das Misstrauen gegen die Demokratie. Gruppenexperiment, S.VII. Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, S.486. Bibliothek IfS, Sign. 122 858, 1-4: Institute for Social Research, Antisemitism Among American Labor 1944-1945. Report on a Research Project Conducted by the Institute for Social Research, 4 Bde. New York 1946. Archiv IfS, Ordner: »U.S.A, A-L, allgem.«: Theodor W. Adorno an Paul Lazarsfeld vom 03.11.1951.

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keiten bei der Auswertung der Daten kam es jedoch nicht dazu.1284 Mit der Übersetzung von Auszügen aus den »Studies in Prejudice« wurden zunächst fünf Studierende beauftragt. Mit deren Arbeit waren die Institutsleiter allerdings ausgesprochen unzufrieden.1285 1952/53 übersetzte dann Ernst von Schenck die Auszüge erneut.1286 Als Manuskript vervielfältigt wurden 1953 sechs Teile aus den »Studies in Prejudice«: »Lügenpropheten« (gekürzte Fassung von Prophets of Deceit von Löwenthal und Guterman), »Der Autoritäre Charakter« (von The Authoritarian Personality) mit drei Fortsetzungsbänden sowie den ebenfalls daraus entnommenen »Spezielle[n] Untersuchungen an Individuen und Gruppen«.1287 Obwohl Max Graf Solms anbot, den »Autoritären Charakter« in seine Reihe aufzunehmen,1288 kam es zunächst nicht zur Publikation. Erst 1968 erschienen Teile des Werkes als Studien über Autorität und Vorurteil beim Verlag de Munter in Amsterdam als Raubdrucke.1289 1973 gab Ludwig von Friedeburg Adornos Beiträge zu The Authoritarian Personality unter dem deutschen Titel Studien zum autoritären Charakter beim Suhrkamp Verlag heraus.1290 Jochen Fahrenberg und John M. Steiner fragen zu Recht, weshalb die Übersetzung nicht früher erschien. So habe von Friedeburg in seinem Vorwort ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es immer Adornos besonderer Wunsch gewesen sei, seine Beiträge einem deutschen Publikum zugänglich zu machen. Es sei daher »schwer nachvollziehbar, dass es dem Frankfurter Institut über mehr als zwanzig Jahre nicht möglich war, die Übersetzung einer der ›wichtigsten Stu-

1284 Archiv IfS, Ordner: »U.S.A, A-L, allgem.«: Paul F. Lazarsfeld an Theodor W. Adorno vom 08.11.1951, Bl.1f. Siehe auch Jacobs, The Frankfurt School, S.81f. 1285 Archiv IfS, Ordner »Pollock: Ausländische Institute, Seminare, Universitäten«: Frederick Pollock an Marc Vosk, Scientific Research Department, The American Jewish Committee, vom 28.04.1953. 1286 Archiv IfS, F 1/40-60: Studies in Prejudice, Nr.58: Aktennotiz vom 10.01.1951; stellvertretend Ernst von Schenck an Helmut Plessner vom 30.10.1952. 1287 Archiv IfS, F 1/40-60: Studies in Prejudice: Nr.59: Institut für Sozialforschung an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main, Studien über Autorität und Vorurteil (Gekürzte deutsche Fassung der Bände I -III und V der »STUDIES IN PREJUDICE«, edited by M. Horkheimer and S.H. Flowerman). Vgl. auch UBA Ffm, Na 1, 109, Bl.14: Heinz Maus an J. Scheider; F. Lange (London) vom 21.10.1952. 1288 Archiv IfS, F 1/40-60: Studies in Prejudice, Nr.58: Theodor W. Adorno an Max Graf Solms vom 01.10.1952. 1289 Theodor W. Adorno, Der autoritäre Charakter. Studien über Autorität und Vorurteil, Bd.1 und 2 der Studien über Autorität und Vorurteil (Schwarze Reihe, Bde. 6 und 7). Amsterdam 1968. Vgl. Ziege, Einleitung der Herausgeberin, S.8. 1290 Theodor W. Adorno, Studien zum autoritären Charakter, übers. v. Milli Weinbrenner, Vorrede v. Ludwig von Friedeburg. Frankfurt am Main 1973.

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dien moderner Sozialwissenschaft‹ (von Friedeburg) zu drucken. Vollständig ist dieses Buch nie übersetzt worden.«1291 Möglicherweise war hierfür die Befürchtung Horkheimers, Pollocks und Adornos ausschlaggebend, dass die Deutschen darin eine Möglichkeit hätten erblicken können, ihre NS-Vergangenheit zu entsorgen, wenn sie von dem stark ausgeprägten Antisemitismus und Rassismus in der amerikanischen Demokratie erfahren hätten. Derart falsche Zeichen sollten nicht gesetzt werden. So verweist auch die bereits um 1950 verwendete deutsche Bezeichnung »autoritärer Charakter« auf eine noch höhere sozialpsychologische Abstraktionsstufe, die weiter vom konkreten Individuum wegführte als der englische Begriff »personality«. Diese abwägende Haltung, die vor allem bei Horkheimer ausgeprägt war, dürfte auch dazu geführt haben, dass nur ein Bruchteil des ausgewerteten Materials des »Gruppenexperiments« im Studienbericht von 1955 dem deutschen Publikum zugänglich gemacht wurde. Folgt man den Ausführungen des 1955 veröffentlichten Studienberichts, so lagen dem »Gruppenexperiment« vier Annahmen zugrunde: 1. Die beteiligten Sozialwissenschaftler gingen davon aus, dass sie Meinungen und Einstellungen der Menschen messen könnten und sollten. Im öffentlichen Interesse stehende und die öffentliche Meinung prägende Themen entstünden und wirkten nicht isoliert, sondern in Wechselbeziehung zwischen Individuum und Gesellschaft. Sie seien oft weder klar konturiert noch würden sie dezidiert artikuliert. Vielmehr blieben sie vage und träten erst an die Oberfläche, wenn der Einzelne sich gezwungen sehe, Position einzunehmen und seinen Standpunkt zu behaupten.1292 2. Auch in der Persönlichkeitsstruktur seien Meinungen und Einstellungen angelegt. Sie würden in hohem Maße »den Schwankungen des Affektlebens« unterliegen und änderten sich je nach der Stimmung und Situation, in der sich die Menschen befänden. Dadurch könnten die unterschiedlichsten Tendenzen in den Vordergrund des Bewusstseins treten.1293 Dies verlange laut Pollock methodische Anpassungen. 3. Oft waren die Befragten unfähig, ihre Meinungen und Einstellungen zu äußern. Das konnte auf unbewussten Widerständen beruhen: »Bei Fragebogenerhebungen wird in solchen Fällen häufig registriert, daß die Befragten keine Meinung haben«. Dies sei aber nach Pollock nicht der Fall, denn die Befragten hätten »wesentlich häufiger, als man aufgrund von Umfrageergebnissen annehmen müßte, bestimmte Dispositionen.«1294 So bedeuteten einander wider1291 1292 1293 1294

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Fahrenberg/Steiner, Adorno und die autoritäre Persönlichkeit, S.128. Gruppenexperiment, S.32. Ebd. Ebd., S.33.

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strebende Meinungstendenzen von Menschen nicht, dass diese keine Meinung hätten, sondern dass diese vielschichtig und antagonistisch sei.1295 Ein Ziel der im »Gruppenexperiment« angewandten Methoden sei es deshalb, die »psychologischen Sperren zu überwinden und die durch deren Wirksamkeit möglicherweise an der Manifestierung gehinderten Einstellungen zu erfassen«.1296 Hierzu sollten Gruppendiskussionen den Impuls geben. Außerdem wurden die inhaltlichen Fragen für die Einzelinterviews und die Stichworte für die Gruppendiskussionen immer wieder leicht verändert, um ein Höchstmaß an affektiven Äußerungen zu erhalten. 4. Den Sozialforschern war auch bewusst, dass die Interviewten bei bewussten oder unbewussten Widerständen gegen bestimmte Fragen häufig zu rationalen Antworten neigten. Diese galt es zu dekonstruieren, also »einen Weg zu finden, der über die Rationalisierungen – die manifesten Aussagen – hinaus an ihre eigentliche Bedeutung heranführt und eine klare Unterscheidung zwischen dem oberflächlichen und dem latenten Inhalt der Aussage gestattet.«1297

Zunächst war geplant, das auf zwei Jahre Laufzeit angelegte »Gruppenexperiment« in Frankfurt und dessen näherer Umgebung, im Ruhrgebiet und in Hamburg-Niedersachsen, Holstein sowie gegebenenfalls noch in einem weiteren, ländlich geprägten Raum durchzuführen. Zu diesem Zweck wollten die IfS-Direktoren mit verschiedenen anderen sozialwissenschaftlichen Instituten kooperieren, so mit Neulohs SFS und Schelskys Akademie für Gemeinwirtschaft.1298 Entgegen dem weit umfangreicher angelegten Forschungsplan von 1950 fanden letztlich nur mit etwa 1.800 Personen Gespräche statt.1299 Ursprünglich sollten Westdeutsche aus allen Bevölkerungsschichten interviewt werden, »[i]ndustrielle Unternehmer und höhere Bürokratie der Industrie; gehobene technische Arbeiter […]; eigentliche Arbeiter; Studenten; Lehrer, Berufsgruppen, die sich durch weitreichende Kontakte auszeichnen wie Friseure und Kellner; Kleinbauern und Landarbeiter; Arbeitslose; typisches städtisches und mittleres und kleineres Bürgertum«.1300

1295 1296 1297 1298

Ebd., S.28. Ebd., S.33. Ebd. Platz, Die Praxis der kritischen Theorie, S.71. Siehe auch Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle, S.356f. 1299 Gruppenexperiment, S.33. 1300 Zitiert nach: Platz, Die Praxis der kritischen Theorie, S.71f.

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Allerdings ließ sich die angestrebte Zusammenarbeit mit Neuloh und Schelsky nicht verwirklichen  – vermutlich aufgrund von Finanzierungsschwierigkeiten für ein solches Verbundprojekt. Der Untersuchungsraum musste deshalb geografisch auf Hessen, Bayern und Norddeutschland beschränkt werden. Als Kooperationspartner des IfS beim »Gruppenexperiment« fungierten die Frankfurter Sozialwissenschaftler Heinz Sauermann und Ludwig Neundörfer.1301 Im Ergebnis umfasste das erhobene Datenmaterial 121 transkribierte und protokollierte Gruppendiskussionen mit 1.635 Personen, die 6.392 Schreibmaschinenseiten umfassten.1302 Diskutiert wurde mit »geschlossenen« Gruppen, denn die ersten Versuche mit zufällig zusammengestellten Personen hätten erwiesen, dass es zweckmäßiger sei, mit sozial und ideologisch mehr oder weniger homogenen Gruppen zu arbeiten.1303 Die Meinungen, so Johannes Platz, sollten »im Prozess ihrer Entstehung, d.h. in der Dynamik einer ›natürlichen‹ Gruppensituation« erfasst werden,1304 da die IfS-Mitarbeiter davon ausgingen, dass in der gesellschaftlichen Realität die Meinungsbildung oft in vorstrukturierten Gruppen erfolgte.1305 Diese sollten mindestens sieben, aber höchstens 17 Individuen umfassen.1306 Dabei sei es nicht möglich, »der als pilot study gedachten Untersuchung einen im statistischen Sinn repräsentativen Bevölkerungsquerschnitt« zugrunde zu legen. Dies wiederum bedeutete nicht, dass »ins Blaue hinein experimentiert wurde«, wie Pollock betonte. Vielmehr »sollte ein möglichst großer Realismus in der Auswahl der Gruppen erreicht werden, so daß die Gruppen nicht aus Angehörigen eines Personenkreises gebildet werden durften.«1307 Noch bei den nach den eigentlichen Felderhebungen des »Gruppenexperiments« zur Vervollständigung vorgenommenen Interviews und Gruppendiskussionen – diese wurden »Nachgeburt« genannt – diskutierten die IfS-Mitarbeiter über die Frage der Repräsentativität. Man habe sich entweder für Repräsentativität oder aber interessante Ergebnisse aufgrund der Untersuchung einer einheitlichen Gruppe entscheiden müssen. Deshalb hätten sich die Studienleiter und ihre Mitarbeiter für die Zufalls-Stichprobe ausgesprochen.1308 Diese methodischen Fragen wogen bei der Ergänzungsstudie noch schwerer als bei der Hauptuntersuchung, war 1301 Gruppenexperiment, S.34; Platz, Die Praxis der kritischen Theorie, S.81. 1302 Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle, S.362; Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, S.487. Vgl. Müller-Doohm, Adorno, S.577. 1303 Gruppenexperiment, S.38. 1304 Platz, Die Praxis der kritischen Theorie, S.80. 1305 Gruppenexperiment, S.38. 1306 Die Gruppen, mit denen tatsächlich diskutiert wurde, umfassten jeweils acht bis zehn Teilnehmer. 1307 Gruppenexperiment, S.38. 1308 Archiv IfS, Projekte 2 (1): Gruppenexperiment/Gruppenstudie: Prof. Pollock: Bericht über die Sitzung am 09.04.1952, Bl.1f., hier: Bl.1.

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doch ihr Ziel ein Vergleich »der Ergebnisse aller in Frankfurt bereits durchgeführten Gruppendiskussionen mit den Diskussionen, deren Teilnehmer ein sample der Frankfurter Bevölkerung darstellen«.1309 In der Tat wies das Sample des »Gruppenexperiments« stellenweise Lücken auf: Zu viele Männer und zu wenige Frauen wurden befragt. Zudem überwog die Zahl der Jugendlichen und der Intellektuellen.1310 Diese Lücken sollten durch die Ergänzungsstudie geschlossen werden. Allerdings mussten wegen der hohen Ausfallquote bei dieser Anschlussuntersuchung etwa 1.200 Teilnehmer im Vorfeld direkt kontaktiert werden, damit überhaupt 300 Teilnehmer zu den Diskussionen erschienen und eine, wenn auch nicht mathematisch-statistische, sondern eher sozialstrukturelle Repräsentativität gewährleistet werden konnte. Die Homogenität sei »dadurch herzustellen, dass die at random ausgezogenen Teilnehmer dann nach Gesichtspunkten des Alters, Berufs, Bildungsstandes etc. zu Gruppen zusammengestellt werden.« Die ergänzende Befragung eines Zufallssamples sollte dann einen methodisch gesicherten Vergleich mit den Ergebnissen dieser Befragung ermöglichen.1311 Es sollte gezeigt werden, dass die für die Haupterhebung getroffenen Feststellungen nicht einfach nur interessante Zufallsfunde waren, sondern auf tatsächlich existierende Einstellungen und Meinungen der Befragten verwiesen. Oder anders gesagt: Das von George Gallup 1936 erstmals angewandte Stichprobenverfahren diente als Prüfinstrument für die Beantwortung der Frage, ob die IfS-Mitarbeiter das richtige Experimentalsystem gewählt hatten. Die im April 1952 projektierte Ergänzungsstudie stand zudem vor dem Problem, dass die Themenkomplexe von 1950/51 mit den aktuellen nicht mehr vergleichbar sein könnten. Dem begegneten die Forscher mit dem Einwand, »dass die öffentliche Meinung in Deutschland viel fester strukturiert ist als etwa in Amerika. An dieser Struktur hat sich im wesentlichen seit 1950 nichts geändert.«1312 Neben der Beschaffung des technischen Equipments mussten die Teilnehmer der Diskussionsgruppen erst einmal gewonnen werden. Jutta Thomae, eine der Feldforscherinnen im »Gruppenexperiment«, berichtete 1952, dass zahlreiche Personen ablehnten, andere hingegen zuerst zusagten, dann aber doch nicht zu den Sitzungen erschienen.1313 In diesem Zusammenhang war wichtig, wie Hans Joachim Sell in einem Erfahrungsbericht zur Durchführung von Diskussionssitzungen in München und Ruhpolding festhielt, den richtigen Zeitpunkt für die Kontaktaufnahme und die Durchführung der Sitzungen zu wählen. Ferienzeiten 1309 Ebd. 1310 Archiv IfS, Projekte 2 (1): Gruppenexperiment/Gruppenstudie: Stichwortprotokoll d. Mitarbeiterkonferenz vom 22.12.1950, Bl.1-5, hier: Bl.4f. 1311 Archiv IfS, Projekte 2 (1): Gruppenexperiment/Gruppenstudie: Prof. Pollock: Bericht über die Sitzung am 09.04.1952, Bl.1f., hier: Bl.1. 1312 Ebd. 1313 Archiv IfS, Projekte 2 (1): Gruppenexperiment/Gruppenstudie: Stand der Gruppenstudie Januar/Februar 1952 (Anlage III), Bl.1f., hier: Bl.2.

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und Feiertage sollten möglichst nicht beeinträchtigt werden.1314 Zudem seien für die Zusammenstellung der Gruppen Kontaktpersonen unerlässlich, jedoch unterschiedlich wirksam: »Bei den Bauerngruppen und der Adelsgruppe stellten sie sich als mehr oder minder einflußlos heraus. […] Bei den Offiziersgruppen waren die Kontaktpersonen gleichzeitig Vertrauensleute, deren Namen den uebrigen Teilnehmern die Sicherheit gab.«1315 Entweder sollten die IfS-Mitarbeiter telefonisch oder durch persönliche Besuche mit den zu Interviewenden in Kontakt treten. Fielen beide Möglichkeiten aufgrund der Ortslage aus, so seien die Personen schriftlich zu kontaktieren. Diesen Briefen sollte eine allgemein gehaltene Einladungskarte des Instituts beigegeben werden.1316 Ein Beispiel für einen Sitzungsplan liegt für Clemens Sauermann vor, der als externer Mitarbeiter für das IfS im Raum Augsburg die Feldarbeiten leitete. In einem Bericht an das IfS vom 10. Oktober 1950 hielt er als angesetzte Termine fest: Samstag: 14.10.50: 20 Uhr Kissing, Bauerngruppe B, Montag, 16.10.50: 10  Uhr Spieldiener Augsburg, Peutingstr. 11: Abhören der Aufnahme der BGruppe, Montag, 16.10.50: 20 Uhr Augsburg: Kulturpolitischer Arbeitskreis (Homogene, jugendliche, gemischte Gruppe) K; Dienstag, 17.10.50: 10 Uhr Spieldiener-Augsburg: Abhören der Aufnahme der K-Gruppe; Mittwoch, 18.10.50: 20 Uhr Kissing: Stammtisch der Honoratioren (Homogene, gemischte Gruppe). Die Liste setzte sich fort.1317 Der Diskussionsleiter und sein Assistent mussten sich rechtzeitig vor Beginn im für die Diskussion reservierten Raum einfinden und die Geräte installieren, deren Funktionstüchtigkeit sorgfältig zu überprüfen war. Sie sollten zudem eine sinnvolle Anordnung der Tische und Stühle vornehmen und die Kärtchen mit den Decknamen zusammen mit den Fragebögen bereitlegen. Auch sollten Schilder angebracht werden, die den Diskussionsteilnehmern den Weg zu dem Versammlungsraum wiesen: »Es ist vorgekommen, daß Leute, die zu unserer Veranstaltung gekommen waren, wieder fortgingen, weil sie sich nicht zurechtfanden.«1318 Trotz aller Planungen

1314 Archiv IfS, Projekte 2 (1): Gruppenexperiment/Gruppenstudie: Hans Joachim Sell: Erfahrungsbericht über die Gruppendiskussionen in München und Ruhpolding vom 26.01.1951, Bl.1-4, hier: Bl.1. 1315 Ebd., Bl.2. 1316 Ebd. 1317 Archiv IfS, Projekte 2 (1): Gruppenexperiment/Gruppenstudie: Dr. Sauermann, Augsburg 11, Andechsstr. 4: 10. Bericht vom 11.10.1950. 1318 Gruppenexperiment, S.506.

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kam es dennoch vor, dass die Kontaktpersonen unzuverlässig waren oder der Assistent mit dem Rekorder zu spät erschien.1319 Hatte sich dann jedoch eine ausreichende Zahl von Personen im jeweiligen Gruppensitzungsraum eingefunden, konnte die Diskussion beginnen. Nach der Begrüßung plauderten Diskussionsleiter und Assistent mit ihnen zunächst unverbindlich. Anschließend wurden die Decknamen ausgeteilt. Die Fragebögen wurden entweder direkt im Anschluss an die Begrüßung oder nach der Gruppensitzung ausgefüllt. Daraufhin hielt der Diskussionsleiter die Eröffnungsansprache und spielte den Colburn-Brief ab.1320 Zu Beginn der Datenerhebungen war noch nicht klar, wie sich die Diskussionsleiter genau verhalten sollten. Vielmehr experimentierten sie in der ersten Phase der Untersuchung mit verschiedenen Methoden der Diskussionsleitung.1321 Auf einer Mitarbeiterkonferenz im Dezember 1950 wurde über die richtige Form der Diskussionsleitung gesprochen: »Wenn man auf die Lenkung der Diskussion verzichtet, besteht die Gefahr, dass leere Klischees sich einschleichen, dass die Diskussion auf die Klischees sich reduziert.« Allerdings hätten zu häufig vorgebrachte nichtssagende Wendungen eine ermutigende Wirkung auf die Teilnehmer. Jedoch dürfe man »nicht die Tiefenpsychologie vergessen: das Unbewusste wehrt sich dagegen, wenn es Manipulationen (ermutigende Klischees) spürt. Das Menschliche (Spontaneität aus dem Unbewussten) verkehrt sich ins Unmenschliche (Klischees als Antwort).«1322 Einig waren sich die IfS-Mitarbeiter darin, dass stereotypes Vorgehen möglichst zu vermeiden sei und man sich stattdessen an das Psychologisch-Individuelle anpassen sollte, also der »Gefahr d.[er] Monotonie d.[es] Ausdrucks (das Schulklassenhafte von Frage und Antwort) begegnen [müsse] durch eine glückliche Vereinigung des Menschlichen mit dem Schematischen. Nicht stempeln, sondern die Aussage sich entwickeln lassen.«1323 Das Denkkollektiv um Horkheimer einigte sich auf einige rudimentäre Anwei1319 Archiv IfS, Projekte 2 (1): Gruppenexperiment/Gruppenstudie: Hans Joachim Sell: Erfahrungsbericht über die Gruppendiskussionen in München und Ruhpolding vom 26.01.1951, Bl.1-4, hier: Bl.2. 1320 Gruppenexperiment, S.506f. 1321 Ebd., S.39. 1322 Archiv IfS, Projekte 2 (1): Gruppenexperiment/Gruppenstudie: Stichwortprotokoll d. Mitarbeiterkonferenz vom 22.12.1950, Bl.1-5, hier: Bl.1. 1323 Ebd.

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sungen: Die Diskussionen sollten möglichst ergebnisoffen sein. Die jeweiligen Leiter waren von der Diskussion ausgeschlossen und durften diese auch nicht anheizen. Selbst wenn sie von den Teilnehmern nach ihrer Meinung gefragt würden, müssten sie sich möglichst neutral verhalten und dürften sich auch nicht anbiedern. Darüber hinaus solle sich der Diskussionsleiter freundlich, sympathisch und geduldig geben, habe er es doch »im allgemeinen mit Menschen zu tun […], denen es schwer fällt, ihre Gedanken in Worte zu kleiden, und die keine Übung darin haben, ihre Ansichten vor einem größeren Kreis zu äußern.«1324 Keinesfalls durften die Diskussionsleiter als Autoritätspersonen erscheinen. Vielmehr sollten sie sich nach Möglichkeit ungezwungen verhalten und auf akademisches Sprechen, etwa den häufigen Gebrauch von Fremdwörtern, verzichten.1325 Fingerspitzengefühl war also angesagt. Während den auf eineinhalb Stunden angesetzten Diskussionen mussten die einzelnen Teilnehmer mit ihren Decknamen angesprochen und in den Protokollen festgehalten werden, um »nicht bloß die Struktur der Gruppe, sondern die des Individuums selbst« festzustellen.1326 Weil das Individuum »nie als ein ganzes und einheitlich reagiert und funktioniert, ist der Wert der Einzelaussage besonders zu beachten und jedes Zensieren und Schematisieren des Individuums zu vermeiden.«1327 Wenn eine Person die Diskussion monopolisierte, sollte der Leiter einmal »das Spontane nicht abschneiden, dann die sich nicht äußernden Introvertierten nicht übersehen«. Vor allem der spezifische Wert der Spontaneität, deren Wirksamkeit gegen Verdinglichung als eine der Grundfragen des »Gruppenexperiments« untersucht wurde, sollte in der Diskussion erhalten bleiben, auch wenn dies auf Kosten anderer Aspekte ging.1328 Vorsicht war bei den Leuten mit »Munddiarrhoe«, den Vielsprechern, angebracht: »Wenn in d.[er] Disk.[ussion] keine Spontaneität dann planted obs.[erver]-Argum.[ente] einsteuern«1329 – also Stimuli, die den Grundreiz des Colburn-Briefs verstärkten. Das konnte folgende Frage sein: »Warum legen Sie uns überhaupt eine Platte der ›Stimme Amerikas‹ vor? Wir wissen doch alle, dass das nur Reklame ist, dass man uns nur Brei ums Maul schmieren will und weismachen, wie wunderbar alles da drüben ist. Solches Zeug glaubt in Deutschland kein Mensch mehr«. Oder: »Woher will der denn

1324 Gruppenexperiment, S.504f. 1325 Ebd., S.505. 1326 Archiv IfS, Projekte 2 (1): Gruppenexperiment/Gruppenstudie: Stichwortprotokoll d. Mitarbeiterkonferenz vom 22.12.1950, Bl.1-5, hier: Bl.1. 1327 Ebd., Bl.5. 1328 Ebd., Bl.2. 1329 Ebd.

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all das wissen? Der hat doch gar nicht die Bildung und die Kultur, die Dinge in Deutschland richtig zu sehen?«1330 Herausforderungen traten auch bei den Transkriptionen und deren Abgleich mit den Protokollen auf. Letztere stimmten teils nicht mit den Tonbändern überein, was die IfS-Mitarbeiter darauf zurückführten, dass auch die geschultesten Stenografen kaum ein exaktes Protokoll ablieferten. Daher sollten je ein Abhörer und ein Assistent die Protokolle anhand der Bänder prüfen, wozu drei Wochen veranschlagt wurden. Von einem besonderen Fall berichtete Erich Herzog im Dezember 1950. Auf einem von »Herrn J.« erstellten Protokoll hieß es: »Es war da ein Jude Ohrenstein dabei, der hat uns wörtlich gesagt und uns ins Gesicht geschlagen Du Nazi, Du Nazi«. Herzog und sein Assistent korrigierten nach Kontrolle der Bänder jedoch folgenden Wortlaut: »Es war da ein Jude Ohrenstein dabei, dieser ehrenwerte Mensch hat uns gesagt: Du bist kein Nazi, Du bist kein Nazi.«1331 Andere Missverständnisse, so Herzog weiter, »mögen vielleicht harmloser sein, als das genannte, das immerhin einem überzeugten Arbeiter Antisemitismus andichtet, wie z.B. auf Seite 13, wo es heißen muss: ›er  – nämlich Hitler hatte 48 Prozent und die anderen wurden zugeschlagen‹ und nicht totgeschlagen, wie der phantasiebegabte Überträger feststellt, oder oben auf Seite 15, wo vom Koreakrieg und vom Guerillakrieg gesprochen wird.«1332 Eine weitere Fehlerquelle waren fehlerhafte Anschlüsse der Bänder. Wenn ein Band voll war, musste ein neues gestartet und im Anschluss auf einen separaten Tonträger überspielt werden, was auf dem Tonträger dann als Durcheinandergerede erscheinen konnte, wenn der Übergang nicht sauber geschnitten worden war.1333 Die Spulen durften daher nicht gelöscht, sondern sollten archiviert werden. Auch bei den an die Gruppensitzungen anschließenden Fragebogenerhebungen gab es Schwierigkeiten: »In Bayern misstraut man aus Angst vor russischen Agenten und späterer Wiederidentifizierung den Fragebögen.«1334 Bis Dezember 1950 waren 69 Gruppendiskussionen durchgeführt worden. Sie waren von statistischen Überlegungen begleitet worden, weitere soziale Gruppen zu rekrutieren. Wenn man auch keine Repräsentativität anstrebte, so sollte 1330 Archiv IfS, Projekte 2 (6): Gruppenexperiment/Gruppenstudie: Entwurf von Äußerungen des »planted observer« zur Schallplatte, undatiert, Bl.1-3, hier: Bl.1. 1331 Archiv IfS, Projekte 2 (2): Gruppenexperiment/Gruppenstudie: Erich Herzog an Friedrich Pollock vom 07.12.1950, Bl.1f., hier: Bl.1. 1332 Ebd. 1333 Archiv IfS, Projekte 2 (1): Gruppenexperiment/Gruppenstudie: Stichwortprotokoll d. Mitarbeiterkonferenz vom 22.12.1950, Bl.1-5, hier: Bl.2. 1334 Ebd., Bl.3.

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die westdeutsche Gesellschaft doch möglichst in ihrer gesamten Breite berücksichtigt werden.1335 Deshalb unternahmen die IfS-Mitarbeiter einen Gruppenversuch mit Generalstabsoffizieren und dehnten die Untersuchungen auf ländliche Bevölkerungsteile aus. Im Januar 1951 hatten 96 Gruppendiskussionen stattgefunden. Zu diesem Zeitpunkt, so Johannes Platz, war auch ein zusätzlicher Fragebogen erstellt worden, der den Teilnehmern mit zeitlichem Abstand vorgelegt und auch den Teilnehmern der Vorversuche nachträglich zugeschickt wurde.1336 Mit etwa einem Viertel der Diskussionsteilnehmer, also rund 400, führten die IfS-Mitarbeiter vier bis sechs Wochen nach den Diskussionssitzungen mit diesem Fragebogen Einzelinterviews durch. Diese erwiesen sich in ihrer methodischen Anlage als unzureichend, wie Wiggershaus konstatiert, und wurden daher nicht für die Auswertung verwendet.1337 An die Feldarbeit schlossen die Protokollierung und Transkription der auf Tonband aufgezeichneten Diskussionen an. Ab Mitte Januar 1951 begannen die IfS-Mitarbeiter mit der Auswertung der sozialempirischen Rohdaten. Zu diesem Zweck musste ein Scoring Manual – das ist die Anleitung für die Bildung eines Gesamtpunktwerts  – erstellt werden. Damit sollten den aufgezeichneten Aussagen, Implikationen und Anspielungen unterschiedliche Bedeutungsebenen zugewiesen und das Verhältnis von individuellen psychologischen Typen zu ihren sozial gewachsenen ideologisch-politischen Einstellungen abgebildet werden.1338 Dabei erhielten die IfS-Mitarbeiter Hilfe von Herta Herzog aus New York, mit der das Denkkollektiv um Horkheimer über Lazarsfeld in Kontakt stand. An einer Sitzung im Februar 1951 diskutierten sie dann das inzwischen vorliegende endgültige Scoring-Manual und die Beschriftung der Hollerithkarten. Diese waren »mit laufenden Nummern, den Decknamen der Diskussionsteilnehmer und der Bezeichnung M (Mann) oder F (Frau) [zu] versehen. […] Es ist eine genaue Anweisung in Bezug auf die Einzelheiten des Scorens (z.B. Doppellochung) zu formulieren und dem S.M. [Scoring Manual, F.L.] beizugeben.«1339 Extra aufgestellte Scoring Teams fertigten ein Scoring Sheet an, auf dem »die kodifizierten Äußerungen eingetragen und von da aus weiter gepuncht« wurden. Beim Scoren sollten zuerst die einzelnen Individuen durchlaufend gecodet wer1335 1336 1337 1338

Vgl. Gruppenexperiment, S.63-89. Platz, Die Praxis der kritischen Theorie, S.82. Gruppenexperiment, S.40; Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, S.487. Archiv IfS, Projekte 2 (1): Gruppenexperiment/Gruppenstudie: Protokoll der Sitzung am 16.04.1951, Bl.1-4. Vgl. Platz, Die Praxis der kritischen Theorie, S.82f. 1339 Archiv IfS, Projekte 2 (1): Gruppenexperiment/Gruppenstudie: Stichwortprotokoll der abschließenden Sitzung am 10.02.1951, Bl.1-3, hier: Bl.1.

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den. Damit war die Zuordnung der Antworten der Befragten zu vorher festgelegten Kategorien gemeint.1340 Danach sollten erst ein Individuum mit vielen, dann eines mit weniger häufigen und schließlich eines mit wenigen Äußerungen gecodet werden. Daneben war ein separates Sheet anzulegen, auf dem alle »Juicy Quotes« festgehalten werden sollten. Und überhaupt »soll das Scoren keineswegs monadologisch« geschehen, sondern vielmehr in ständigem Austausch zwischen Einzelscorern und dem Scoring Team durchgeführt werden: »Nicht nur ›Juicy Quotes‹, sondern ganz generell Diskussionsbedürftige sollen hierbei notiert werden.«1341 Die Scoring Teams hatten Code Sheets zu erstellen, die »als Vorlage für die Locherinnen gedacht sind. Die von 1 bis 80 nummerierten Kästchen entsprechen den 80 Spalten der Hollerithkarte; die in den Kästchen angegebenen Ziffern bzw. Buchstaben sind in den entsprechenden Spalten der Hollerithkarte zu lochen. Die am Kopf der Codesheets befindlichen Angaben müssen auf die Hollerith übertragen werden«,1342 wie die Institutsmitarbeiter im Mai 1951 der Deutschen Hollerith MaschinenGesellschaft mitteilten. Das so erstellte Scoring Sheet wurde an mehreren Diskussionsprotokollen getestet. Es zeigte sich, dass die Kategorien noch unzureichend waren und weiter ausgebaut werden mussten. Danach begann das Auszählen mit der Hollerithmaschine. Parallel dazu führten die IfS-Mitarbeiter 153 weitere Folgegespräche, sodass ihnen schließlich insgesamt über 280 dieser Interviews vorlagen. Für deren Auswertung wurde ein weiteres Scoring Manual erstellt. Bis Juni 1951 wurden nochmals 395 intensive Folgeinterviews geführt und 122 der 137 Gruppendiskussionen gescort. Im Januar 1952 berichtete Horkheimer seinen Auftraggebern vom HICOG, dass nun die endgültige quantitative Auswertung erfolge. Anschließend werde die qualitative Analyse der Gruppendiskussionen in Angriff genommen.1343 8.1.2 Die Auswertung des Datenmaterials Im Dezember 1950 diskutierten das Ehepaar Adorno, Décamps, Flüs, von Hagen, Osmer und Sardemann die Kategorien für das Scoring Manual. Sie kamen 1340 Benzer, The Sociology, S.68. 1341 Archiv IfS, Projekte 2 (1): Gruppenexperiment/Gruppenstudie: Stichwortprotokoll der abschließenden Sitzung am 10.02.1951, Bl.1-3, hier: Bl.2. 1342 Archiv IfS, Projekte 2 (2): Gruppenexperiment/Gruppenstudie: Institut für Sozialforschung an die Deutsche Hollerith Maschinen-Ges.[ellschaft] m.b. H. (Frankfurt) vom 07.05.1951. 1343 Platz, Die Praxis der kritischen Theorie, S.82.

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darin überein, dass die durch typische Verhaltensweisen, nicht aber durch Grenzfälle zu definieren waren. Eventuell sei »zwischen Aktualität und Potentialität« zu unterscheiden. Demnach könne die Skala wie folgt aussehen: »a) bewusster Nationalist, b) potentieller Nationalist, c) potentielle Verständigungsbereitschaft, d) bewusste Verständigungsbereitschaft.« Unklar war, wie mit den wirren Äußerungen umzugehen sei. Dabei musste erst geprüft werden, ob eine Verzerrung durch Hörfehler beim Protokollieren erfolgt war. Die Beteiligten einigten sich: »Wirre Äußerungen zählen und den Kern herausschälen, evt. Kontrolle durch Vergleich mit den anderen Äußerungen derselben Versuchsperson«.1344 Die IfS-Mitarbeiter suchten dann nach Kriterien für die Gruppe »N«, das waren die »Nationalisten«. Sie legten fest: »Prinzip der reinen Selbsterhaltung entscheidend, Absenz jeden Solidaritätsgefühls. Ablehnen des Ideals der Demokratie, da sich dies nie rein verwirklichen lässt. […] Allgemeiner Zynismus. Leute, die den wachsenden Antisemitismus mit dem Verhalten der DPs begründen. Argument: alle sind gleich schuld. Leute, die Colburn Verallgemeinerung vorwerfen, selbst aber generalisieren. Wenn im Zusammenhang mit den KZ darauf hingewiesen wird, was unseren Gefangenen passiert ist. Leute, die den USA den Vorwurf machen, 1945 nicht mit den Deutschen gegen die Russen gekämpft zu haben«,1345 dann auch solche, »die den Colburnbrief im Ganzen ablehnen«, die glaubten, die Flüchtlinge aus den Ostgebieten könnten nicht integriert werden und meinten, die Alliierten müssten die Flüchtlingsfrage lösen. Weiter: »Leugnen der Kenntnis von Judenverfolgungen. Hypothetische Aussagen als Beweisgrund (der Jude hat vielleicht noch zwei andere Häuser …). Leute, die sich mit ihrer Gruppe identifizieren und alles Schlechte auf die anderen projizieren. Unterscheidung ›ingroup‹ und ›outgroup‹.«1346 Als »Nationalisten« sollten außerdem jene Interviewten eingeordnet werden, die die Diktatur zwar ablehnten, aber meinten, dass unter dem Faschismus wenigstens Ordnung geherrscht habe. Zudem weise die Schuldverdrängung allgemein auf Nationalismus hin, war aber vielschichtig und könne deshalb nicht als isoliertes Kriterium stehen. Typisch sei auch die angebliche »Ablehnung des Autoritären bei gleichzeitigem Hervortreten der Autoritätsgebundenheit im Ne-

1344 Archiv IfS, Projekte 2 (1): Gruppenexperiment/Gruppenstudie: Stichwortprotokoll der Besprechung vom 09.12.1950, Bl.1f., hier: Bl.1. 1345 Ebd., Bl. 1f. 1346 Ebd.

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gativen«. In »aufmuckender Weise« würden sich Nationalisten autoritär verhalten.1347 Die IfS-Mitarbeiter orientierten sich an den Kriterien, die das Denkkollektiv um Horkheimer im Rahmen von The Authoritarian Personality in den Vereinigten Staaten zusammen mit seinen Kooperationspartnern entwickelt hatte. Diese mussten nun in die westdeutschen Verhältnisse übersetzt werden. »Stereotypy«, »antiintraception«, »destructiveness«, »cynisism« und »projectivity« waren für die Kategorie »Nationalist« die einschlägigen Zuordnungen.1348 Für die Gruppe der »Verständigungswilligen« oder »Verständigungsbereiten« (»V «) einigte man sich auf folgende Kriterien: »Generell positive Beurteilung des C.[olburn]-Briefes (›C. bemüht sich um Objektivität‹). Kritik an Macht. Hervorheben des Menschlichen. Kritik an Stereotypie (menschliche Urteile nur über Individuen, nicht über Gruppen möglich). Leute, die andere Gruppen gelten lassen. Alle, die spontan von Verschleppungen und Judenverfolgungen und KZ-Gräueln berichten.«1349 Die »Unentschiedenen« (»U«) seien »wahrscheinlich dynamisch, (Anschauungsänderung während der Diskussion) aber Frage, ob Meinungsänderung recht ist, da es Leute gibt, die zunächst äußern, was sie als ›verlangte‹ Meinung ansehen und später erst ihre wirkliche (?) Meinung äußern. Aussagen, die in sich widerspruchsvoll sind. Alogische oder wirre Äußerungen. Unentschiedenheit in Schuldfrage, evtl. zusammen mit Agnostizismus. Allgemeines Desinteresse. Im echten Sinne Unentschiedene. Ambivalente. Verängstigte, aus Furcht, irgendwann deswegen zur Rechenschaft gezogen zu werden. Ausweichen in abstrakte Begriffe.«1350 In einer weiteren Sitzung im selben Monat wurde festgehalten, dass »N, U, V , wenn in ›operational terms‹ definiert«, quantifizierbar seien.1351 Beim »Gruppenexperiment« als auch bei allen anderen sozialempirischen Untersuchungen des IfS stellte sich eine Grundfrage: Waren die empirische Sozialforschung und ihre Methoden tatsächlich in der Lage, eine soziale Realität abzubilden? Schufen sie mit ihren Techniken nicht vielmehr eine eigene Realitäts1347 1348 1349 1350

Ebd. Ebd., Bl.2. Ebd. Vgl. Platz, Die Praxis der kritischen Theorie, S.85. Archiv IfS, Projekte 2 (1): Gruppenexperiment/Gruppenstudie: Stichwortprotokoll der Besprechung vom 09.12.1950, Bl.1f., hier: Bl.2. 1351 Archiv IfS, Projekte 2 (1): Gruppenexperiment/Gruppenstudie: Theodor W. Adorno: Besprechung für den 13.12.1950.

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ebene? Generierten sie also Wissen, das letztlich an der Erfassung der sozialen Wirklichkeit vorbeiging? Zudem blieb am IfS der frühen 1950er Jahre ungelöst, wie kritisch-philosophische Perspektive und empirische Sozialforschung zusammen gehen könnten.1352 Adorno als Studienleiter strebte wie schon in den Vereinigten Staaten eine Zusammenführung von quantitativ erhobener empirischer Datenbasis und kritisch-qualitativer Auswertung an. Das hatte er bereits in seiner Vorlesung zur »Theorie der Gesellschaft« im Wintersemester 1949/50 bekräftigt:1353 »Die Legitimation, dessen, was wir versuchen, liegt in einer Einheit von Theorie und Praxis, die weder an den freischwebenden Gedanken sich verliert, noch in die befangene Betriebsamkeit abgleitet«.1354 Um »die Hypostasierung eines metaphysischen Wesens gegenüber den Erscheinungen, aber auch eine voneinander isolierte Betrachtung dieser Erscheinungen zu vermeiden, müßten kritische Gesellschaftstheorie und empirische Sozialforschung arbeitsteilig zusammenarbeiten«,1355 wie Wolfgang Bialas betont. Auch Pollock, der das »Gruppenexperiment« mitleitete, benannte dieses Ziel in seinem Bericht von 1955.1356 Die Daten aus den Felderhebungen sollten in einen Sinnzusammenhang gestellt werden, an dem sich die qualitativen Monografien, also die qualitative Auswertung, zu orientieren hätten. Eine rein quantitative Betrachtung sei nicht möglich, weil es Sachverhalte gebe, die »nicht politisch, sondern im breitesten Sinne philosophisch zu bewerten sind (das Soziale, das Religiöse, das allgemein-Weltanschauliche, die Beziehung der Geschlechter, Jugendfragen z.B.)«. Hierfür seien Begriffe zu finden, »die nicht, wie der des Nationalisten, schief zur Zeitsituation stehen und subjektive Interpretationen ermöglichten.«1357 Wie in The Authoritarian Personality zeigte sich auch beim »Gruppenexperiment« die Diskrepanz zwischen Adornos philosophisch-kritischer Typenbildung des »autoritären Charakters« und den sozialempirisch fassbaren Kategorien. Tatsächlich erschwerten die von ihm veranlassten Umarbeitungen, Erweiterungen und Änderungen der verschiedenen Skalen wie der Kriterien für die quantitative Auswertung die laufende Forschungspraxis ganz erheblich.1358 1352 Archiv IfS, Projekte 2 (1): Gruppenexperiment/Gruppenstudie: Dr. Sittenfeld: Bericht über die Sitzung am 28.04.1952, Bl.1-3. 1353 Jäger, Adorno, S.217. 1354 Zitiert nach: Bialas, Geschichtsphilosophie in kritischer Absicht, S.129f. 1355 Ebd., S.132. 1356 Gruppenexperiment, S.4, 9. 1357 Archiv IfS, Projekte 2 (1): Gruppenexperiment/Gruppenstudie: Stichwortprotokoll d. Mitarbeiterkonferenz vom 22.12.1950, Bl.1-5, hier: Bl.4. 1358 Vgl. stellvertretend Archiv IfS, Projekte 2 (6): Gruppenexperiment/Gruppenstudie: Interview Schema für Einzel-Interviews vom 04.01.1950, Bl.1f.

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Für ihn war jedoch seine kritische Positionierung gegenüber den sozialempirischen Methoden entscheidend. So nehme sich etwa der Komplex des Antisemitismus aufgrund der geringen Fallzahlen bei den Kategorien für antisemitische Äußerungen harmloser aus als in der qualitativen Analyse. Den Grund hierfür sah er darin, dass beim Coden antisemitische Äußerungen in mehr Kategorien aufgeteilt worden seien als die philosemitischen. »Ferner ist anzunehmen, dass eine grosse Zahl von Äusserungen, die in letzter Instanz als antisemitische angesehen werden müssen, in den Rubriken ›Sonstiges‹ verschwunden sind.« Bestimmte Kategorien des Scoring Manuals waren ihm wiederum zu eng gefasst, was eine unnötig hohe Zahl von Äußerungen von einer typologischen Zuschreibung ausschließe. So verzerre die quantitative Methode letztlich die empirische Faktenlage. Eine adäquate Beurteilung des quantitativen Materials sei deshalb eigentlich nur denen möglich, die den Vorgang des Codens aus eigener Erfahrung kennen würden.1359 Den sozialempirischen quantifizierenden Forschungsmethoden warf er damit nicht weniger vor, als dass sie unreflektiert die technische Apparatur über das eigenständige Denken setzten. Dadurch sei eine philosophisch-kritische Kontrollperspektive unmöglich. Doch auch Adorno vermochte es nicht, eine wirklich interdisziplinäre Methodologie zu konzipieren, in der philosophisch-kritisches Denken modernen Forschungstechniken den Weg wies. Die von ihm schon 1944 als »fetischistische Apparatur«1360 bezeichnete formale Konzeption der Fragebögen, die Auswahl der Samples und das Lochkartenverfahren blieben ihm als auch Horkheimer letztlich verschlossen. Damit konnte es auch auf die Frage der IfS-Mitarbeiter des »Gruppenexperiments«, wie »›Ideologien‹ in research terms« zu fassen seien, keine befriedigende Antwort geben. Das grundlegende methodologische Problem ließ sich auch nicht dadurch lösen, dass man jedem Teilprojekt einen »anthropologischen Teil« anheftete.1361 Im April 1952 ließ Osmer eine »Diskussionsgrundlage für die Anlage der ›kleinen Gruppenstudie‹« – er bezog sich auf die Ergänzungsstudie nach dem eigentlichen »Gruppenexperiment« – zirkulieren. Darin hielt er fest, dass, obwohl die Einzelergebnisse noch nicht vorlägen und wegen des experimentellen Charakters der Untersuchung methodische Mängel festzustellen seien,

1359 Archiv IfS, Projekte 2 (1), Gruppenexperiment/Gruppenstudie: Bericht über die Sitzung vom 08.07.1952, S.1f.: Thema: Gruppenstudie, quantitativer Teil und Termine, anwesend: Adorno, Gretel Adorno, Osmer, Beier, Freedman, v. Hagen, Koehne, Dr. Maus, Sardemann, Schmidtchen, Dr. Sittenfeld, hier: S.1. 1360 Theodor W. Adorno an Max Horkheimer vom 30.12.1944. Zitiert nach: Ziege, Antisemitismus und Gesellschaftstheorie, S.259. 1361 Archiv IfS, Projekte 2 (1), Gruppenexperiment/Gruppenstudie: Entwurf vom 02.10.1952, Staff Meeting Gruppenstudie, und Plessner, v. Schlauch, Bl.1-4, hier: Bl.1f.

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»heute schon als ein wichtiges Ergebnis festgehalten werden [kann], dass das Gruppendiskussionsverfahren ein brauchbares neues Researchinstrument ist, das tiefere Einsichten in die Verhaltensweisen der Menschen gestattet, als die bisher üblichen survey-Techniken.«1362 Osmer ging in seinem Papier auch auf die Probleme bei der Auswertung des Datenmaterials ein, wobei die »Schweiger«, die bei den Gruppensitzungen zwar anwesend waren, aber zu bestimmten Themen nichts sagten, ganz oben auf seiner Liste standen. Auch Wiggershaus schreibt, dass diese beim »Gruppenexperiment« mit 61 Prozent die deutliche Mehrheit aller Teilnehmer bildeten.1363 Für Osmer war zudem weiterhin unklar, wie Meinungsänderungen, Inkonsistenzen und der spezifische Einfluss der Gruppensituation auf die Reaktion der Versuchspersonen erfasst und quantitativ ausgewertet werden sollten.1364 Geklärt werden müsse auch, »worauf es beruht, dass der Prozentsatz der ›refusals‹« – Leute, die entweder sofort ablehnten oder nach Zusage dann nicht zu den Diskussionen kamen – sehr hoch war, sowie ob und wenn ja, wie, diejenigen, die an den Diskussionen tatsächlich teilgenommen hatten, sich von denen, die nicht erschienen waren, soziologisch und psychologisch unterschieden.1365 Darüber erhoffte er sich durch die Kontaktinterviews nähere Aufschlüsse. Diese sollten »vor allem auch den ›Selektionsfaktor‹ bestimmen helfen, von dem bisher vermutet wurde, dass er bewirkt, dass der Prozentsatz der Interessierten und Aktiveren (opinion-leaders) in den bei Gruppenuntersuchungen nur zu erreichenden ›matching samples‹ grösser ist als in den Querschnitten, die den Ergebnissen der üblichen surveys zugrunde liegen.«1366 Erweise sich diese Vermutung als richtig, »werden wir zu der Behauptung berechtigt sein, dass es die Gruppentechnik gestattet, die ›öffentliche‹ Meinung gleichsam in statu nascendi zu beobachten und dass sich in den Ergebnissen von Gruppenuntersuchungen schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt die Einstellungen und Verhaltensweisen darstel-

1362 Archiv IfS, Projekte 2 (1), Gruppenexperiment/Gruppenstudie: Diskussionsgrundlage für die Anlage der »kleine Gruppenstudie«, 05.04.1952, Diedrich Osmer, Bl.1-10, hier: Bl.5. 1363 Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, S.487. 1364 Archiv IfS: Projekte 2 (1): Gruppenexperiment/Gruppenstudie: Diskussionsgrundlage für die Anlage der »kleine Gruppenstudie« vom 05.04.1952, Diedrich Osmer, Bl.1-10, hier: Bl.1. 1365 Ebd., Bl.2. 1366 Ebd.

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len, die sich bei Anwendung der üblichen survey-Methoden erst wesentlich später in den ›trends‹ herauskristallisieren.«1367 Mit einer Gruppenstudie könne man so zwar nicht ermitteln, was die Gesamtbevölkerung heute zu einer bestimmten Frage denke. Dagegen werde man in der Lage sein, ihre Einstellung zu jener Frage zu einem späteren Zeitpunkt vorauszusagen.1368 Die Ergebnisse, so Osmer weiter, sollten mit einer 1951 durch das IfD durchgeführten Demokratie-Umfrage verglichen werden: »Frau NoelleNeumann ist bereit, uns die Fragebogen zur Verfügung zu stellen und eventuell in die neue Umfrage einige von uns vorzuschlagende Fragen mit aufzunehmen.«1369 All dies belegt, dass die IfS-Mitarbeiter mit dem »Gruppenexperiment« ein Wissen generieren wollten, das strukturelle Einblicke in die Formierung eines psychologisch-ideologischen Komplexes erlaubte, den sie mit »Einstellung« und »Meinung« umschrieben. Letztere wollten sie nicht nur für einzelne Gruppen der westdeutschen Bevölkerung erfassen, sondern hofften vielmehr die tatsächliche »öffentliche Meinung« kritisch hinterfragen zu können. Im Weg standen dieser Zielsetzung tiefliegende methodologische Probleme – vor allem Adornos nur ansatzweise erfolgreiche Versuche der Integration von Sozialempirie und kritischer Gesellschaftstheorie. Eine der Ursachen dafür war die bereits in den Vereinigten Staaten erfolgte Aufspaltung des sozialwissenschaftlichen Denkstils der Gruppe um Horkheimer in die bereits beschriebenen drei Wissensebenen, deren unterschiedliche Elemente kaum mehr in Einklang zu bringen waren. Bei der quantitativen Auswertung des Datenmaterials wurden, wie Wiggershaus schreibt, nicht die Diskussionsgruppen, sondern die Individuen als statistische Einheiten behandelt und unabhängig von den Diskussionsgruppen in statistische Gruppen eingeteilt (etwa die 20-35-Jährigen, Volksschüler, Bauern). Sie orientierte sich an sieben Testthemen, nämlich den Einstellungen 1) zur Demokratie (Bonn und Staatsform), 2) zur Schuld (Mitverantwortung an Kriegsverbrechen und am Nationalsozialismus), 3) zu den Juden, 4) zum westlichen Ausland (Vereinigte Staaten, Besatzung, England, Frankreich), 5) zum Osten, 6) zur Remilitarisierung und 7) zu den Deutschen selbst.1370 Die Auswertungsergebnisse hätten den Vertretern der alliierten Demokratisierungspolitik »wenig Grund zur Zuversicht« gegeben, so Wiggershaus.1371 Die überwiegende Mehrheit der Befragten hatte sowohl zur Sowjetunion als auch zu den Westmächten eine überaus negative Einstellung. Zwei Drittel aller Sprecher bekundeten eine ambivalente Haltung zur Demokratie. Auch war die Zahl der expliziten Gegner 1367 1368 1369 1370 1371

Ebd. Ebd. Ebd., Bl.10. Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, S.490. Ebd., S.491.

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einer demokratischen Ordnung doppelt so groß wie die ihrer Befürworter. Außerdem lehnte die Hälfte der Sprecher jede Mitschuld an den Verbrechen des NS-Regimes ab, wobei die Bauern und die Akademiker besonders hervorstachen: Mehr als drei Viertel der Bauern erwies sich als radikal oder bedingt antisemitisch. Die Akademiker hielten sich bei diesem Thema zwar auffallend zurück. Äußerten sie sich aber, vertraten sie in 90 Prozent der Fälle klare antisemitische Positionen.1372 Eine im Auftrag des HICOG vom DIVO 1951/52 durchgeführte Erhebung über die Einstellung der Deutschen zum Nationalsozialismus bestätigte die Ergebnisse des »Gruppenexperiments«. Sie zeige, so Platz, ebenfalls, »dass ein konstant hoher Teil der Deutschen dem Nationalsozialismus mehr Gutes als Schlechtes abgewinnen konnte, dass nur ein geringer Teil der Deutschen bereit gewesen wäre, gegen eine neue Diktatur Widerstand zu leisten und dass viele 18–24 Jährige ein Einparteiensystem einem Mehrparteiensystem vorziehen würden«.1373 Nach der quantitativen erfolgte die qualitative Auswertung in Form monografischer Abhandlungen. An ihr beteiligten sich 18 IfS-Mitarbeiter, die Monografien verfassten.1374 Alain Desrosières stellt fest, dass diese Form schon von Pierre Guilleaume Fréderic Le Play in den 1840er Jahren genutzt wurde, um sich damit gegen die etwa von Adolphe Quetelet gepflegte quantitative Statistik abzusetzen.1375 Wolfgang Bonß versteht unter der monografischen Arbeitsform »jene Strategien der Konstitution und Aneignung von Wirklichkeit, bei denen die Begründung und Abgrenzung empirischer Entitäten nicht durch die Kategorien von Zahl und Maß bestimmt ist, sondern durch sog.[enannte] ›qualitative Verfahren‹, die auf eine subjekt- und situationsbezogene Empirieherstellung mit induktiven Verallgemeinerungen hinauslaufen.«1376 Der Nationalökonom Gustav Schmoller nutzte als Kritiker statistisch-quantitativen sozialwissenschaftlichen Erkennens diese Form ebenso, wie später – mit etwas anderer Akzentuierung – Paul Göhre oder Max Weber.1377 Auch Adorno und seine Mistreiter am IfS entschieden sich für diese Methode, versprach sie 1372 1373 1374 1375

Ebd., S.490. Platz, Die Praxis der kritischen Theorie, S.87. Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, S.490f. Alain Desrosières, The Politics of Large Numbers: A History of Statistical Reasoning, transl. by Camille Naish. Cambridge, MA /London 1998, S.211. 1376 Wolfgang Bonß, Die Einübung des Tatsachenblicks. Zur Struktur und Veränderung empirischer Sozialforschung. Frankfurt am Main 1982, S.98. 1377 Ebd., S.106-109, 136-143.

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doch zumindest ansatzweise, das sozialempirische Material in seiner Eigenexistenz und damit in seiner materiellen Widerständigkeit erfassen zu können, ohne seine Inhalte durch quantitativ-statistische Verschlüsselungen zu verdrehen.1378 Da Adornos Schuld und Abwehr als einzige Monografie vollständig publiziert wurde, wird sie im Folgenden in den Mittelpunkt der Analyse gestellt. Er stützte sich dabei auf 25 Protokolle, worunter sich jene 20 mit den meisten Äußerungen zu den Komplexen »Mitverantwortung am Nationalsozialismus und am Krieg« sowie »an den Konzentrationslagern und an den Kriegsgräueln« und »Einstellung zu den Juden und den DPs« befanden. Adorno rechtfertigte seine Auswahl damit, dass die quantitative Analyse und die Stichproben gezeigt hätten, dass die von ihm aus diesen herausgearbeiteten Reaktionstypen in einer für das ganze Gebiet der politischen Ideologie charakteristischen Starrheit und Monotonie im gesamten Datenmaterial immer wieder erschienen.1379 Mit seiner qualitativen Analyse beabsichtigte Adorno, die »Fülle und Konkretion des Materials« auszubreiten, um bei der quantitativen Auswertung verlorene Bezüge wieder sichtbar zu machen. Allerdings könne er trotz zahlreicher Belege nur eine fragmentarische Vorstellung davon geben.1380 Er betonte dabei im Voraus, dass den IfS-Mitarbeitern »die Einwände der orthodoxen amerikanischen Sozialforschung gegen die qualitative Analyse wohlvertraut sind«. Diese Sozialforscher argumentierten, »es könnten qualitative Analysen zwar an sich richtig sein, blieben aber solange bloße ›Expertenmeinungen‹, bis der Analytiker anderen Schritt für Schritt dartun könne, auf welche Weise er seine Einsichten gewonnen hat. Die dabei zugrunde liegende Hypothese, daß in den Sozialwissenschaften jeder qualifizierte Gelehrte gleichsam durch den anderen austauschbar sein müsse, daß jeder jeden gleichsam kontrolliere, vermögen wir nicht zu teilen.«1381 Denn dies übersehe, »daß die subjektiven Bedingungen gesellschaftlicher Erkenntnis weit differenzierter, auf sedimentiertes Wissen und theoretische Einsicht bezogen sind, als beim stillschweigend als Vorbild anerkannten naturwissenschaftlichen Experiment. Die Forderung der Austauschbarkeit in der Soziologie setzt […] eine Identität der Geister voraus, und diese Fiktion verurteilte die Erkenntnis zur Sterilität.«1382 1378 1379 1380 1381 1382

Vgl. Oevermann, Adorno als empirischer Sozialforscher, S.191. Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, S.528. Vgl. Gruppenexperiment, S.282f. Gruppenexperiment, S.275. Ebd., S.275f. Ebd., S. 276.

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Hier offenbarte sich erneut die Differenz zwischen sozialempirischer und gesellschaftskritisch-philosophischer Wissensebene, obzwar Adorno betonte, dass auch philosophische Gesellschaftskritik empirisch gesättigt sein müsse. Dennoch unterschieden sich sozialempirisch-quantitative, nachprüfbare und deshalb falsifizierbare und qualitativ-gesellschaftskritische Analyse in seinen Augen methodisch zu stark. Eine Integration dieser Ansätze – selbst wenn sie im Studienbericht von 1955 beide versammelt waren – erachtete er für unmöglich. Adorno wollte die »Nervenpunkte der Schuld« herausarbeiten.1383 Leitend war die Hypothese, dass »tatsächlich etwas wie eine latente Erfahrung von der Schuld vorliegt, und daß diese Erfahrung verdrängt und rationalisiert wird. Aber sie muß die Über-Ich-Instanzen der meisten Versuchsteilnehmer in irgendeiner Weise belasten.«1384 Dabei sei diese Rationalisierung nicht dergestalt in Erscheinung getreten, dass einer der Versuchsteilnehmer »etwa vertreten würde: es ist in Ordnung, daß sie [die Juden, F.L.] umgebracht worden sind.« Vielmehr handele es sich mehrheitlich um den Versuch, »die eigene überwertige Identifikation mit dem Kollektiv, zu dem man gehört, in Übereinstimmung zu bringen mit dem Wissen vom Frevel: man leugnet oder verkleinert ihn, um nicht der Möglichkeit jener Identifikation verlustig zu gehen, welche es Unzähligen psychologisch allein erlaubt, über das unerträgliche Gefühl der eigenen Ohnmacht hinwegzukommen. Man darf daraus folgern, daß die in Abwehr Befindlichen, auch wo sie Rudimente der Naziideologie vertreten, nicht etwa mit einer Wiederholung dessen sympathisieren, was geschah. Die Abwehr selbst ist ein Zeichen des Schocks, den sie erfuhren, und damit eröffnet sich ein Aspekt der Hoffnung.«1385 Gegenüber der Frage, was sie von den Gräueln und Morden in den Konzentrations- und Vernichtungslagern gewusst hätten, habe er eine grundsätzliche Abwehrreaktion bei den Befragten festgestellt. Diese sei so weit gegangen, dass Honoratioren eines bayerischen Dorfes Drohungen gegen den Assistenten ausgesprochen hätten, sodass der Diskussionsleiter eine Prügelei befürchtete.1386 Andere, eher antifaschistisch gestimmte Befragte, wie etwa eine Gruppe arbeitsloser Frauen, die er »dem Typus der Verständigungswilligen« zurechnete, hätten die These vom Nichtwissen herabgemindert, indem sie behaupteten, es sei nicht vorherzusehen gewesen, dass es im NS-Regime zu solchen Dingen kommen werde.1387 Bei einigen Verständigungswilligen, etwa einem Sozialdemokraten 1383 1384 1385 1386 1387

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Ebd., S.278. Ebd., S.280. Ebd., S.281. Siehe auch Müller-Doohm, Adorno, S.579-581. Gruppenexperiment, S.286. Ebd., S.286f.

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und Antinationalsozialisten, sei »das Unmaß des Geschehens selber zu einem Bestandteil des Schleiers [geworden] […], der es verdeckte und es dem Bewußtsein Ungezählter leicht machte, das scheinbar Unmögliche abzuweisen.«1388 Bei weiteren verständigungswilligen Gruppen, so bei Polizeibeamten und den Primanern eines philosophischen Diskussionskreises, konstatierte Adorno, »daß ein offensichtlicher Zusammenhang besteht zwischen nicht-nationalsozialistischer Gesinnung und dem Zugeständnis des Wissens«. Dabei hätten die Primaner während der Sitzungen zuerst das Wissen von den NS-Verbrechen geleugnet, »aber dergestalt, daß die Leugnung das latente Zugeständnis schon in sich enthält: ein Sprecher [der Primaner-Gruppe, F.L.] formuliert, daß die meisten etwas gesehen hätten, aber bewußt keiner es miterlebte. Nachdem das Wort ›Vergasung‹ gefallen ist, löst sich bei den Versuchsteilnehmern die Zunge. Einer macht eine letzte Anstrengung, das Wissen abzuleugnen, indem er es seinen Eltern zuschiebt, die ihm nichts davon gesagt hätten – im Einklang mit dem begreiflichen Bestreben jugendlicher Versuchsteilnehmer, ihre Jugend als Alibi anzuführen. Danach wird dann das spezifische Wissen freimütig einbekannt.«1389 Diese Auszüge aus Adornos qualitativer Analyse machen deutlich, dass ein zentrales Ziel des »Gruppenexperiments« darin bestand, die befragten Deutschen in therapeutischer Absicht überhaupt erst zum Sprechen über das Unaussprechliche zu bringen. Dies sollte einen Reflexionsmodus und Verarbeitungsprozess in Gang setzen.1390 Dabei zogen die IfS-Mitarbeiter eine deutliche Trennlinie zwischen Unbelehrbaren und Verständigungswilligen.1391 Diejenigen Gruppen, die jedes Wissen über Gräuel und Verbrechen leugneten, gehörten laut Adorno den »nationalistisch Gesonnenen und in Abwehrstellung Befindlichen« an, die mottoartig ihr vorgebliches Nichtwissen in den Sitzungen vorbrachten.1392 Obwohl er von der »psychoanalytischen Entfaltung einer Theorie der Verdrängung von Schuld« eigentlich absehen wollte, stellte er fest, »daß bei autoritätsgebundenen Charakteren die Dimension von Strafe und Strafbedürfnis viel wesentlicher ist als bei anders strukturierten Individuen. Soziologisch gesehen, ist bei den Nichtnationalisten das Interesse, sich und Deutschland um jeden Preis reinzuwaschen, viel geringer als bei den Nationalisten.«1393 1388 1389 1390 1391 1392 1393

Ebd., S.287. Ebd., S.291f. Ebd., S.320. Ebd., S.292. Ebd., S.300f. Ebd., S.302.

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Würde Schuld eingestanden, dann nähme der »Schuldbegriff den Charakter des formalistischen Kniffs an.«1394 Dabei sei festzustellen, dass Versuche von Individuen, gegen die kollektive Schuld anzugehen, viel stärker affektiv besetzt seien als solche, der individuellen Schuld auszuweichen. Die Gründe für die Ablehnung der These von der Kollektivschuld lagen für Adorno nicht nur in der Solidarität mit dem Volk und in einem politischen Interesse, daraus resultierende unangenehme Maßnahmen abzuwenden. Vielmehr gehe sie auf den Drang des Individuums zurück, »seinen Kopf aus der kollektiven Schlinge herauszuhalten.«1395 Ähnlich wie in The Authoritarian Personality ging Adorno demnach davon aus, dass Nationalisten zu echten emotionalen Äußerungen nicht in der Lage seien. Nationalismus erschien ihm als psychisches Defizit, als Syndrom, das, wenn auch nicht unmittelbar, so doch durch stabile demokratische Institutionen langsam geheilt werden könne. Für die wirklich hartgesottenen Nationalsozialisten, die den nationalsozialistischen Judenmord als solches leugneten,1396 sah er diese Hoffnung allerdings kaum als gegeben an. Ein weiteres Indiz für den tiefen Graben zwischen sozialempirischer und gesellschaftskritisch-philosophischer Analyseebene zeigt sich in Adornos Rückgriff auf Elemente, die er mit Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung formuliert hatte. In Bezug auf die NS-Propaganda ging er davon aus, dass die von einzelnen Sprechern betonte Verführungskraft für diese tatsächlich eine Realität darstellte. Dies veranschaulichte er am Beispiel eines Medizinstudenten: »Denkt man daran, daß jede Gegenargumentation ausgeschlossen war, und daß unter den Bedingungen der gegenwärtigen Kulturindustrie ohnehin sehr viele Menschen zwischen Realität und Propagandainhalten nur noch schwer zu unterscheiden vermögen, so ist die Wahrheit dieser Äußerungen umso einleuchtender, als dieser Student während des Krieges noch ein halbes Kind war.«1397 Besonders nachdrücklich sei der Effekt derjenigen Propaganda, die sich auf die Erfolge des NS-Regimes von 1933 bis zur Kriegswende 1942 beziehe. Die Legitimation einer Sache durch ihren Erfolg sei entgegen aller moralischer Einwände Gesamtgut des Abendlandes, und die nationalsozialistische Propaganda konnte effektiv und erfolgreich daran anschließen.1398 Das NS-Regime erschien somit nicht als etwas spezifisch Deutsches, sondern als Extremzustand einer pathologischen Moderne. Deren weniger ausgeprägte Formen fanden sich auch in der Sowjetunion und in liberalen Ländern wie den Vereinigten Staaten. 1394 1395 1396 1397 1398

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Ebd., S.305. Ebd., S.314. Vgl. auch Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle, S.356. Gruppenexperiment, S.308. Ebd., S.331. Ebd., S.332.

sozialempirische wissensebene

8.1.3 Die gesellschaftliche Wirkung kritisch-sozialempirischen Wissens In den 1950er Jahren blieben die Ergebnisse des »Gruppenexperiments« zunächst ohne breitere Wirkung in der westdeutschen Gesellschaft. Sie wurden, wie Platz schreibt, zuerst im Rahmen von Expertengruppen vorgestellt, um praktisches sozialempirisches Wissen als Mittel gegen »totalitäre Verführungskünste« bereitzustellen.1399 Im Mai 1953 präsentierten die IfS-Mitarbeiter die Ergebnisse der qualitativen Analyse und die im »Gruppenexperiment« angewandten sozialempirischen Methoden einem Kreis empirischer Sozialforscher, Statistiker und Politikberater, darunter Walter Jacobsen, der psychologische Referatsleiter der Bundeszentrale für Heimatdienst und Gründungsvorsitzender des Berufsverbandes Deutscher Psychologen.1400 Pressevertreter waren bewusst nicht auf den Termin aufmerksam gemacht worden, denn, so Helmuth Plessner, der zu dieser Zeit Adorno am IfS vertrat, »die Verhandlungen, die Mitteilungen hier sind noch nicht für die Öffentlichkeit bestimmt.«1401 Das im Rahmen des »Gruppenexperiments« erhobene Wissen blieb also zunächst Expertenwissen. Es diente als Grundlage weiterer, ähnlicher Forschungsprojekte und sollte vor allem erziehungspolitischen Stellen angetragen werden. Auf einer Mitarbeiterbesprechung am 3. April 1954 stellte Adorno fest, dass die Publikation der »Gruppenstudie, das Kind unserer Liebe, aber auch unserer Sorge«, die IfS-Mitarbeiter vor große Schwierigkeiten stelle.1402 Zwar sehe Horkheimer eine der Hauptaufgaben des Instituts darin, dass in Zukunft möglichst viel publiziert werden solle. Das Problem beim »Gruppenexperiment« sei aber, dass fast »alle Monographien der Gruppenstudie […] zur Publikation nicht geeignet [sind], ihr Inhalt hätte bei den Lesern einen zu großen Schock ausgelöst.« Die IfS-Leitung beschloss deshalb, »die ganze Publikation etwas unverbindlicher abzufassen. Die Studie soll im Anschluss an die im Mai 1953 im Institut stattgefundene Tagung – gewissermaßen als ein erweiterter Tagungsbericht  – in einem einzigen Band erscheinen.«1403 So kam Pollocks Studienbericht zustande, der 1955 publiziert wurde. 1399 Platz, Die Praxis der kritischen Theorie, S.100. 1400 Ebd., S.96. 1963 wurde die Bundeszentrale für Heimatdienst in Bundeszentrale für politische Bildung umbenannt. Später sollte Jacobsen auch die Sektion Politische Psychologie im Berufsverband Deutscher Psychologen gründen. Vgl. ebd., S.102. 1401 Zitiert nach: ebd., S.90. 1402 Archiv IfS, Aa1: Adorno-Korrespondenz M, 13: Protokoll der Mitarbeiter-Besprechung am 03.04.1954, Bl.1-11, hier: Bl.1. 1403 Ebd., Bl.1f.

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Obwohl ihm eine breite öffentliche Rezeption zunächst versagt blieb, wurde das »Gruppenexperiment« von empirischen Sozialforschern sehr wohl wahrgenommen – von einigen Akteuren dabei überaus kritisch. 1957 veröffentlichte Peter R. Hofstätter, einer der Begründer der deutschen Sozialpsychologie, ehemaliger Wehrmachtpsychologe aus Österreich, einstiges NSDAP-Mitglied und späterer Verfechter einer Generalamnestie für NS-Verbrechen, in René Königs Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie eine Rezension zu Pollocks Studienbericht.1404 Er wies zunächst die vom Denkkollektiv um Horkheimer aufgestellten Behauptungen zurück, dass erstens Meinungsforschung weitgehend »positivistisch« arbeite und zweitens die Mehrzahl der Befragten die Fragebögen nur dazu verwenden würden, in diesen wie von ihnen selbst gewünscht zu erscheinen. Hofstätter warf den IfS-Mitarbeitern vor, nicht auf dem neuesten Stand der empirischen Sozialforschung und Sozialpsychologie zu sein.1405 Grundlegender war seine kritische Frage, wie denn die Ergebnisse des »Gruppenexperiments« ausfallen würden, »wenn ein anders konstruierter Grundreiz (Brief) ein andersartiges Meinungsbild ergäbe? […] Es fragt sich allen Ernstes, in welchem Maße die mit einem einzigen Grundreiz ausgelösten Bekundungen für Haltungen außerhalb der konkreten Untersuchungssituation typisch sind.«1406 Schließlich sei auch die Auswahl der Diskussionsteilnehmer nicht als eine repräsentative Stichprobe angelegt. Zudem würden, wie ja Pollock selbst feststelle, die »Schweiger« gegenüber den »Sprechern« die Mehrheit bilden. Er wisse deshalb nicht, »ob wir auf Grund dieses Ergebnisses in Deutschland mehr Veranlassung haben, von einer ›Erbschaft der faschistischen Ideologie‹ oder dem Ausdruck einer ›fortdauernden anthropologischen Bereitschaft‹ […] zu sprechen als in irgendeinem anderen Lande der westlichen Welt.«1407 Genau diesen Eindruck erwecke das Buch jedoch, weil die Protokoll-Auszüge überwiegend antidemokratische Äußerungen wiedergaben.1408 Gänzlich uner1404 Peter R. Hofstätter, Zum »Gruppenexperiment« von F. Pollock. Eine kritische Würdigung, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 9 (1957), S.97-105. Vgl. Müller-Doohm, Adorno, S.582f. Hofstätter hatte von 1937 bis 1942 für das Reichskriegsministerium und von 1943 bis 1945 für das Reichsjustizministerium gearbeitet. Siehe Lenhard, Friedrich Pollock, S.280f. 1405 Hofstätter, Zum »Gruppenexperiment«, S.98f. 1406 Ebd., S. 100. 1407 Ebd., S. 101. 1408 Ebd. Vgl. Platz, Die Praxis der kritischen Theorie, S.119-121.

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findlich blieb Hofstätter »die Rechtfertigung für die Rede vom ›ideologischen Syndrom‹ der undemokratischen Gesinnung«, die Adorno seiner qualitativen Auswertung als Grundthese vorangestellt hatte. Eine solche Behauptung könne nur durch gut konstruierte Korrelationen aufgestellt werden, doch im Studienbericht finde sich kein einziger Korrelationskoeffizient. Offenbar bedürfe es hierfür solch »positivistisch-atomistischer Hilfsmittel nicht.«1409 Und überhaupt fehle ein Beweis dafür, »daß die in der Gruppendiskussion vertretenen Anschauungen tiefere Bewußtseinsschichten enthüllen als etwa eine persönliche Aussprache«.1410 Hofstätter warf den IfS-Mitarbeitern nicht weniger vor, als Vorurteile gegen die Deutschen zu hegen. Das »Gruppenexperiment« sei daher keine wissenschaftliche Untersuchung, sondern eine Anklage.1411 Kritik kam auch von anderer Seite. Wilhelm Hennis etwa betrachtete die Ergebnisse des »Gruppenexperiments« als sozialwissenschaftlichen Determinismus, der freie Meinung und individuelle Handlungsmöglichkeit negiere.1412 Auf Hofstätters Kritik reagierte Adorno im gleichen Heft der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie.1413 Seiner Ansicht nach sei es doch Aufgabe der Sozialwissenschaft, die unmittelbare vorwissenschaftliche Erfahrung zu analysieren. Er betonte zudem den experimentellen Charakter des »Gruppenexperiments«, das keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit erhebe.1414 Dass die Kritik »insgesamt der ›Authoritarian Personality‹ gewidmet ist; daß diese in Amerika eine ganze Literatur auslöste und die Fragestellung der Sozialpsychologie dort eingreifend veränderte; daß zahllose Experimente mit der F-Skala durchgeführt wurden, ist einem so gediegenen Kenner der amerikanischen Sozialwissenschaft wie Hofstätter gleichgültig.«1415 Adorno bestand darauf, dass die Ergebnisse des »Gruppenexperiments« methodisch sehr wohl nachprüfbar seien. Er betonte, dass Hofstätters Vorwurf, die IfS-Mitarbeiter seien »in ira veritas« vorgegangen, lediglich ein Scheinargument und er »ganz gewiß […] selber nicht sine ira et studio zu Werke gegangen« 1409 Hofstätter, Zum »Gruppenexperiment«, S.102. Vgl. Dahms, Positivismusstreit, S.300-302. 1410 Hofstätter, Zum »Gruppenexperiment«, S.105. Vgl. Platz, Die Praxis der kritischen Theorie, S.122. 1411 Lenhard, Friedrich Pollock, S.280f. 1412 Vgl. Moses, German Intellectuals, S.100f. 1413 Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle, S.365. 1414 Theodor W. Adorno, Replik, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 9 (1957), S.105-117, hier: S.106. Vgl. Platz, Die Praxis der kritischen Theorie, S.122f. 1415 Adorno, Replik, S.106.

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sei.1416 Er wandte dessen methodologische Kritik gegen den Rezensenten, indem er ihm vorwarf, die »Harmlosigkeit des ›autoritär antidemokratischen Syndroms‹« zu untermauern.1417 Auf Hofstätters Anmerkung, dass keine Möglichkeit bestehe, sozialwissenschaftlich zu analysieren, »wie ein einziges Individuum […] das Grauen von Auschwitz auf sich zu nehmen imstande wäre«, entgegnete er: »Das Grauen von Auschwitz haben die Opfer auf sich nehmen müssen, nicht die, welche zum eigenen Schaden und dem ihres Landes, es nicht wahrhaben wollten.«1418 Adornos Replik wurde im sozialwissenschaftlichen Feld Westdeutschlands durchaus zur Kenntnis genommen. Am 7. April 1957 schrieb Gehlen an Schelsky: »Die Auseinandersetzung Hofstätter-Adorno ist für unseren Freund H.[ofstätter] kein 100%-Erfolg«.1419 In dem Disput zeichnete sich bereits jener vergangenheitspolitische Diskurs ab, der um 1960 virulent werden sollte. In den frühen und mittleren 1950er Jahren zögerten Horkheimer, Pollock und Adorno zum einen, die Ergebnisse des »Gruppenexperiments« der Öffentlichkeit vollständig zugänglich zu machen. Zum anderen stieß selbst der von Pollock stark reduzierte Studienbericht auf fachliche und politisch-ideologisch motivierte Kritik in Bezug auf den Umgang mit der NS-Vergangenheit. Immerhin hatte König, dem Adorno die meisten der zu veröffentlichenden Teile geschickt hatte, begeistert empfohlen, die gesamte Auswertung bei einigen Kürzungen zu publizieren.1420 Rheinbergers Ansatz folgend konnten also die epistemischen Dinge des »Gruppenexperiments« nicht auf die Weise in technische Dinge umgewandelt werden, dass daraus ein für weitere Studien anderer Sozialwissenschaftler anschlussfähiges Wissen entstanden wäre. Das lag erstens an der nicht vollständig erfolgten Publikation der Ergebnisse. Zweitens fehlte in der westdeutschen Gesellschaft der frühen 1950er Jahre der Resonanzboden für bewusstseinskritische Forschungsergebnisse. Schließlich ist als dritter Grund zu vermuten, dass das Denkkollektiv um Horkheimer die beim »Gruppenexperiment« angewandten Methoden noch für zu unausgereift, experimentell und damit angreifbar hielt, als dass sie samt den Forschungsergebnissen vollständig hätten publik gemacht werden können. Das durch das Projekt generierte Wissen blieb daher instabil. Dies war umso mehr der Fall, als dass kritische sozialempirische Bewusstseinsstudien im Westdeutschland der frühen 1950er Jahren sowohl im engeren sozialwissenschaftlichen als auch im breiteren Intellektuellenfeld marginal waren. Vielmehr dominierten Meinungsumfragen zur affirmativen Politikberatung, wie sie Noelle-Neumann in Allensbach betrieb. So 1416 1417 1418 1419

Ebd.; Platz, Die Praxis der kritischen Theorie, S.124. Zitiert nach: ebd., S.125. Zitiert nach: ebd., S.126. ULB Münster, N. Schelsky 23,051: Arnold Gehlen an Helmut Schelsky vom 07.04.1957. 1420 Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle, S.361.

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war die Geschichte der kritischen Bewusstseinsstudien des IfS in den 1950er Jahren letztlich eine Geschichte des Scheiterns.

8.2. Helmut Schelskys sozialempirische Analysen sozialen Wandels Ab den frühen 1950er Jahren wurden unter Schelskys Leitung mehrere sozialempirische Forschungsprojekte an der Akademie für Gemeinwirtschaft in Hamburg durchgeführt. Im Mittelpunkt standen die Problemlagen der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft, die das Denkkollektiv um Schelsky nicht nur distanziert-analytisch erfasste, sondern auch auf ihre Behebung hin prüfte. Zu den Forschungsgegenständen, die Schelsky als »Institutionen« bezeichnete, gehörten etwa die Familie, damit zusammenhängend die Sexualität, außerdem die Jugend sowie Universität und Bildung.1421 Wie das Denkkollektiv um Horkheimer verfolgten auch Schelskys sozialempirische Projekte ein therapeutisches Ziel: Die Westdeutschen erschienen ihm als eine von sozialen und psychologischen Problemen geplagte Bevölkerung, die mithilfe sozialempirischer Untersuchungen gelöst werden sollten. Dies zeigte sich insbesondere in seiner Sexualitätssoziologie sowie seinen Verbindungen zu Ärzten und Psychiatern, wobei seine Freundschaft zu Hans Bürger-Prinz besonders hervorzuheben ist.1422 Im Unterschied zum IfS gingen Schelsky und Mitarbeiter als »Ärzte des sozialen Lebens« (Jens Adamski) weitgehend affirmativ vor. In ihren Augen waren nicht die Einstellungen und Meinungen der Deutschen auf Kontinuitäten nationalsozialistischen Gedankenguts zu untersuchen. Vielmehr bildeten Wandlung und Neuorientierung den epistemischen Kern ihrer sozialwissenschaftlichen Studien. Indem er sich sozialempirische Methoden insbesondere amerikanischer Provenienz aneignete und sich von der idealistischen Philosophie distanzierte, begründete Schelsky seine »Suche nach der sozialen Wirklichkeit«.1423 Retrospektiv brachte er dies mit seiner Abkehr von der NS-Weltanschauung in Zusammenhang. Vermittels der Soziologie wollte er die ideellen »sekundären Systeme« mit der sozialen Realität verknüpfen. Vor allem die »empirische Soziologie, die Sozialwissenschaft als Erfahrungswissenschaft«, spielte für ihn dabei eine herausragende Rolle, denn

1421 Wöhrle, Zur Aktualität von Helmut Schelsky, S.61-123. 1422 Vgl. exemplarisch Helmut Schelsky, Arzt und Patient in der modernen Gesellschaft, in: Hamburger Ärztetag 1952. Almanach. Hamburg 1952, S.2-5; ders., Aufgaben und Grenzen der Betriebssoziologie, in: Bericht der arbeitsmedizinischen Tagung der Werksärztlichen Arbeitsgemeinschaft vom 23. bis 25. April 1953 in Hamburg. Hamburg 1953, S.30f. 1423 Plé, Wissenschaft und säkulare Mission, S.278.

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»ihre Aktualität erschöpft sich keineswegs in der bloßen Übernahme der pragmatischen Sozialforschung der angelsächsischen Länder, sondern ich sehe in ihr eine der wenigen Methoden, die dazu helfen können, die Schwaden der sozialen Unwirklichkeit, die über den Trümmern unserer Gesellschaftsordnung liegen, zu durchstoßen.«1424 Er sei von einem fundamentalen Realitätsverlust der gegenwärtigen Gesellschaft überzeugt und habe eingesehen, dass »die von mir bis dahin geteilten Theorien meiner Wissenschaft den erhobenen Tatsachen unangemessen waren«.1425 Schelskys »Realitätsdrall« war Teil eines sozialwissenschaftlichen Diskurses in der frühen Bundesrepublik, zu dem auch René Königs Konzept der »Zeitwissenschaft« und Otto Stammers »zeitnahe Soziologie« gehörten. Sie alle kennzeichnete eine Abkehr von idealistisch-philosophischen Ansätzen.1426 Die bundesdeutschen Sozialwissenschaften waren vor allem in den frühen und mittleren 1950er Jahren, so die zugespitzte These, von »Empirisierung« geprägt. Die methodologischen Grundlagen seiner angewandten Soziologie stellte Schelsky auf der Wittener Tagung von 1950 im Beisein von britischen und amerikanischen Universitätsoffizieren vor. Er ging dabei auf die Leistungen der Sozialwissenschaftler der Weimarer Republik und der 1930er Jahre ein. Allerdings hob er deren »introvertierten Charakter« hervor, was bei ihm den Eindruck erwecke, »als ob die mit 1914 beginnende Isolierung der deutschen Wissenschaft auch in diesen zwanziger Jahren niemals wieder ganz aufgehoben worden ist, sondern sich aus unterirdischen Quellen immer weiter gefestigt hat.« Dieser Prozess sei nach 1933 »außergewöhnlich verstärkt und radikalisiert worden, aber ich glaube, daß z.B. die angewandte Soziologie bereits damals den intimen Kontakt mit den Problemstellungen und Methodenentwicklungen der ausländischen angewandten Soziologie verloren hatte.«1427 Die deutsche Soziologie hätte »die weltweite Entwicklung zum wissenschaftlichen und philosophischen Pragmatismus, der den angewandten Wissenschaften 1424 ULB Münster, N. Schelsky 45,035: Helmut Schelsky, Der Realitätsverlust der modernen Gesellschaft. Academia Moralis, Köln, am 09.01.1954, Bl.2 [abgedruckt als Helmut Schelsky, Der Realitätsverlust der modernen Gesellschaft [1954], in: ders., Auf der Suche nach Wirklichkeit, S.394-409]. 1425 Ebd. Vgl. auch Weyer, Westdeutsche Soziologie, S.173. 1426 Vgl. Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft, S.236-239, 263-269. 1427 Helmut Schelsky, Lage und Aufgaben der angewandten Soziologie in Deutschland, in: Soziale Welt 2 (1950) 1, S.3-14, hier: S.4.

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so starke Antriebskräfte gab, am allerwenigsten mitgemacht.«1428 Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten habe man sich »die kritisch-diagnostische Soziologie einfach durch Austreibung der Personen vom Halse« geschafft oder sie auf andere Weise zum Schweigen gebracht. Für die Sozialwissenschaften habe die NS-Wissenschaftspolitik »eine entscheidende Erschütterung, zuweilen sogar Vernichtung der institutionellen Autonomie und Neutralität unserer Universitätswissenschaft« bedeutet. Die in Deutschland verbliebenen Sozialwissenschaftler hätten auf zweierlei Art auf diesen Angriff auf ihre Neutralität und institutionelle Autonomie reagiert: Einmal mit einem Rückzug in Spekulation, Metaphysik, Methodik und Historie.1429 Auf der anderen Seite hätten empirisch arbeitende Feldforscher eine instrumentelle Sozialforschung betrieben, für die besonders die Raumforschung und Landesplanung ständen. Gerade aus diesem sozialen Feld lasse sich der nachkriegszeitliche sozialempirische Nachwuchs rekrutieren.1430 Anschließend sprach Schelsky über die konkreten Aufgaben einer angewandten, empirisch verfahrenden Soziologie. Dringend notwendig sei zunächst eine Tatbestandsaufnahme des sozialen Zustands der Nachkriegsgesellschaft auf allen Gebieten, denn die »sozialen und politischen Umwälzungen unserer Gesellschaft werden in ihrem wirklichen Ausmaß, in der Veränderung der intimsten und verborgensten Strukturen noch keineswegs übersehen.« Gerade in der jungen Bundesrepublik hätten die westdeutschen Soziologen »den teuer bezahlten Vorteil gegenüber den anderen Gesellschaften der westlichen Zivilisation, einen neuen, bisher weitgehend unbekannten sozialen Gegenstand […] vor uns zu haben, Prozesse beobachten zu können, die vielfach neuartig sind.«1431 Eine zweite Aufgabe sei, was den Deutschen, besonders der deutschen Jugend, noch fehle, die »Entwicklung des Tatsachensinns für soziale und politische Verhältnisse, der Fähigkeiten, komplexe und differenzierte Tatbestände als solche erfassen zu lernen und sie nicht auf Schlagworte und universale Schemata abzuziehen. Für diese Aufgabe echter politischer Erziehung ist die Arbeitsweise der angewandten Soziologie sozusagen ein ideales Mittel.«1432 1428 Ebd., S.5. Vgl. Schäfer, Soziologie ohne Marx, S.8; Weyer, Westdeutsche Soziologie, S.23f., 268f. 1429 Schelsky, Lage und Aufgaben, S.5. 1430 Ebd., S.5f., 9. 1431 Ebd., S.11f. 1432 Ebd., S.12.

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Auffällig an seinen Erörterungen ist – dies gilt auch für seine anderen konzeptuellen Aufsätze –,1433 dass er Ziele, Aufgaben und Konzepte vorschlug, jedoch auf methodische Details verzichtete. Schelsky trat in erster Linie als Organisator und Manager sozialempirischer Forschung auf, deren praktische Ausführung ihm unterstellten Teams junger Sozialwissenschaftler oblag. Er gab diesen Ziele und Aufgaben vor, wertete die erhobenen Daten aus, stieg jedoch nicht in die Tiefen methodologischer Debatten hinab.1434 In seinem Referat von 1950 verwies er eher beiläufig auf die betriebssoziologischen Arbeiten Elton Mayos und lobte die Untersuchung von Hendrik de Man über die Arbeitsfreude von 1927. Inhaltlich führte er aber die dort verwendeten Methoden nicht weiter aus.1435 Ähnlich den Protagonisten des Denkkollektivs um Horkheimer war auch Schelsky kein Verfechter einer quantitativ arbeitenden empirischen Sozialwissenschaft, was sich an seiner kritischen Haltung gegenüber der Demoskopie zeigte. Vielmehr verteidigte er qualitative Interpretationen im Rahmen seiner funktionalistischen Soziologie, wie sich am Beispiel seiner Arbeit zeigen lässt.1436 8.2.1 Soziologie der deutschen Familie in der Nachkriegszeit Millionen von deutschen Männern waren im Zweiten Weltkrieg getötet worden, viele saßen in Kriegsgefangenenlagern. Zehntausende Kinder lebten von ihren Eltern getrennt und Millionen Deutsche hatten ihr Zuhause verloren. Die deutsche Familie war daher alles andere als ein Hort von Ruhe und Stabilität.1437 Dabei galt gerade sie als Kernelement einer künftig stabilen westdeutschen Gesellschaft. Bei der von Schelsky geleiteten sozialempirischen Untersuchung zur deutschen Familie und ihren Wandlungen konzentrierten er und seine Mitarbeiter sich besonders auf das »Schicksal der aus ihrer ostdeutschen Heimat Vertriebenen, der Flüchtlinge, wie sie der Sprachgebrauch nun einmal nennt«.1438 Von Mitte 1949 bis Mitte 1950 untersuchten 120 Studierende der Akademie für Gemeinwirtschaft 167 Familien in Schleswig-Holstein, Hamburg, Niedersachsen und in geringerem Maß auch in Hessen sowie anderen Regionen West1433 So etwa Helmut Schelsky, Aufgaben und Grenzen der Betriebssoziologie [1953], in: ders., Auf der Suche nach Wirklichkeit, S.66-98. 1434 So auch die Aussage von Helga Milz, emeritierte Professorin für Sozialökonomie an der Universität Hamburg, dem Verfasser gegenüber vom 13.03.2015. 1435 Schelsky, Lage und Aufgaben, S.13. 1436 Mergel, Zählbarkeit, Stabilität und die Gesellschaft als solche, S.112. Vgl. Schelsky, Lage und Aufgaben, S.13f. 1437 Bessel, Germany 1945, S.277. 1438 Helmut Schelsky, Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart. Darstellung und Deutung einer empirisch-soziologischen Tatbestandsaufnahme, 2. Aufl. Stuttgart 1954, S.43.

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und Süddeutschlands.1439 Als Methode sei, so Schelsky, »nur die langfristige intime Beobachtung durch vorgeschulte Beobachter in Frage« gekommen. Diese hätten das Vertrauen der untersuchten Familien, sodass sie tiefe Einblicke in das Familienleben gewinnen konnten.1440 Ihre Beobachtungen und Einsichten hielten die Feldforscher in je einer »Monographie der Familie« fest. Diese deskriptiven Monografien wurden nach einer Anleitung angefertigt, die die verschiedenen Verfahren wie Fragebogenerhebungen, Schedule-System, soziometrische Wertungen, offene Interviews, reine Erlebnisbeschreibungen und strukturelle Analysen aufgrund intimer Beobachtung vereinigte.1441 Patrick Wöhrle betont, dass die Auswahl des Samples »recht zufällig auf der Basis bereits bestehender persönlicher Kontakte der Studenten zu betroffenen Familien« erfolgt sei. Fernab etwa »von nachvollziehbaren Transkriptionsregeln«, so Wöhrle weiter, »oder einer methodisch kontrollierten Reflexion auf die Beobachtungssituation war es den Studierenden weitgehend selbst überlassen, aus den innerfamiliären Abläufen und Selbstbeschreibungen einen Bericht zu destillieren.«1442 Johannes Kopp und Nico Richter haben festhalten, dass diese Untersuchung – wie auch das »Gruppenexperiment« – keinen Anspruch auf statistisch-mathematische Repräsentativität erhob. Vielmehr sollten auf der gewonnenen Materialbasis und unter Anwendung verschiedener qualitativer sozialempirischer Methoden typische Fälle herausgearbeitet werden.1443 Das Erhebungsmaterial hielten Schelsky und sein Assistent Wurzbacher für beweiskräftig genug, um sowohl die durchschnittlichen als auch vorwiegenden strukturellen Veränderungen der Familienverfassung zu analysieren. Eine statistisch repräsentative Erhebung wäre dem Umstand nicht gerecht geworden, »daß eine intime Beobachtung eines Familienlebens und damit ein Abweichen von der bloßen Interview-Methode eine enge Bekanntschaft des Beobachters mit der betreffenden Familie voraussetzt, die sich nur außerordentlich schwer statistisch-repräsentativ regulieren läßt«.1444 1439 Ebd., S.45. Vgl. Wöhrle, Zur Aktualität von Helmut Schelsky, S.62f. Siehe auch Helmut Schelsky, Die Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart und ihr Einfluss auf die Grundanschauungen der Sozialpolitik, in: Sozialer Fortschritt 1 (1952) 12, S.284-288, hier: S.284f.; ders., The Family in Germany, in: Marriage and Family Living 16 (1954) 4, S.331-335. 1440 Schelsky, Wandlungen der deutschen Familie, S.44f. 1441 Ebd., S.45. Vgl. Johannes Kopp/Nico Richter, »Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart«. Anmerkungen zur Aktualität der familiensoziologischen Perspektive Helmut Schelskys, in: Gallus (Hrsg.), Helmut Schelsky, S.156-169, hier: S.160. 1442 Wöhrle, Zur Aktualität von Helmut Schelsky, S.63. 1443 Kopp/Richter, »Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart«, S.160. Vgl. Schelsky, Wandlungen der deutschen Familie, S.45. 1444 Schelsky, Wandlungen der deutschen Familie, S.53.

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Eine nur repräsentative Befragung bleibe in den »oberflächlichen Schichten der Meinungsforschung stecken.« Zudem setze die statistisch-repräsentative Beweisführung im Gegensatz zur Monografie eine schematisierte Auswahl von Daten, die lediglich aus einer vorausgehenden Strukturanalyse generiert werden könnten, und ein starres Frageschema voraus. Beide Verfahren seien unzureichend, denn um Transformationen der Familienverfassung quantitativ aussagekräftig darzulegen, müssten diese Wandlungen in der Fragestellung bereits erkannt sein.1445 Unschwer zu erkennen ist, dass Schelsky quantitativ-statistische Methoden ähnlich kritisierte, wie Adorno dies beim »Gruppenexperiment« tat. 1953 legte Schelsky die abschließende Auswertung der Studiendaten unter dem Titel Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart vor, die er als »Tatbestandsaufnahme« charakterisierte. In der Einleitung schrieb er, dass in den letzten Jahrzehnten die Soziologie der Familie entscheidende Fortschritte gemacht habe, die »fast ausschließlich der amerikanischen Wissenschaft zu verdanken sind.« Er bezog sich dabei auf die sozialanthropologischen Arbeiten von Lewis Henry Morgan, Edvard Westermarck, Robert Biffault, Bronislaw Malinowski, Richard Thurnwald, Margaret Mead, Charles Horton Cooley, Ernest Burgess, William F. Ogburn, Charles T. Goodsell, Calhoun, Frazier, Folsom, Groves, Nimkoff, Zimmerman u.a. Diese hätten allesamt eine spezifische Form der Familiensoziologie entwickelt.1446 Königs Materialien zur Soziologie der Familie von 1946 beurteilte er als »die bisher eindringlichste Auseinandersetzung des deutschsprachlichen wissenschaftlichen Schrifttums mit den Ergebnissen und Fragestellungen der modernen Familiensoziologie«.1447 An Ogburns Social Change von 1922 anschließend verstand Schelsky sozialen Wandel nicht als eine harmonische und gleichmäßige Entwicklung der Gesellschaft, sondern ging von der Annahme aus, dass sich die verschiedenen sozialen Teilsysteme unterschiedlich schnell und in unterschiedlicher Intensität veränderten. Der Grundvorgang dieser Entwicklung seien Veränderungen der materiellen Kulturbestandteile sowie der Fortschritt der Produktionsbedingungen und abhängig davon der Wirtschaftsweisen. Die Gesellschaft bilde Systeme von Sitten, Glaubenssätzen, Rechtsordnungen und Staatsideen aus, die sich der veränderten materiellen Kultur instrumental anpassten. Das habe Ogburn als »adaptive culture« bezeichnet. Diese Prozesse verliefen aber nicht synchron. Vielmehr komme es gerade bei der ethischen Haltung, der sozialen Selbstdeutung ihrer Problematik teils zu außerordentlichen Verspätungserscheinungen. Dieser »cultural lag« zeige sich umso deutlicher in beschleunigten Prozessen der sozialwirtschaftlichen Transformation, also etwa in Revolutionen, Kriegen und ihren Folgen sowie ökonomischen Krisen. Aus diesem Grund passe Ogburns Ansatz haargenau auf die soziale 1445 Ebd. 1446 Ebd., S.7-9. 1447 Ebd., S.9.

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Situation im Nachkriegsdeutschland.1448 Im Kontext seiner sozialempirischqualitativen Analysepraxis übersetzte er Ogburns Theorem des sozialen Wandels in die gewandelte Realität der deutschen Nachkriegsfamilie – nicht zuletzt deshalb, weil die westdeutsche Soziologie hinter den methodischen und interpretativen Standards der amerikanischen Sozialforschung hinterherhinkte, also selbst einem »cultural lag« unterlag. Die Familie fasste Schelsky als »soziales Gebilde« oder »soziale Institution« auf, die wie jede andere auf ihre eigentümliche Art der Entwicklung und ihren Rhythmus der Veränderung zu untersuchen sei.1449 Sie sei gerade im deutschen Kulturraum hinter »den im schnelleren Zeitmaß ablaufenden Grundprozessen der industriellen und wirtschaftlichen Entwicklung und der politisch-sozialen Umwälzungen« zurückgeblieben, und zwar in ihrer wirklichen sozialen Verfasstheit wie in ihrem Selbstbewusstsein und ihrer Selbstsicht, wie nämlich eine Familie auszusehen habe und welche Rolle die Familienmitglieder einnehmen sollten.1450 Sie sei von einer Beharrlichkeit ihrer »Verwurzelung im biologischen Untergrund der Geschlechtsbeziehungen und der mütterlichen Daseinsfürsorge für die Nachkommenschaft« sowie in patriarchalischen Strukturen und Vorstellungen als konservierende Kräfte geprägt. Gerade diese hätten bewirkt, dass die Familie als soziales Gebilde gegenüber den raschen Entwicklungen, die das Aufkommen der Industriegesellschaft und die Anhäufung von Funktionen des Staates in der »europäisch-amerikanischen Zivilisation« losgetreten hätten, in eine »säkulare Verspätung« geraten sei.1451 Besonders deutlich zeige sich dies am Beispiel der Flüchtlingsfamilie, die »keine Ausnahme, kein Gegensatz zu einer konstant bleibenden Familienverfassung der deutschen Gesellschaft [ist], sondern sie scheint die fortgeschrittenste und ausgeprägteste Form einer Wandlung zu sein, der die deutsche Familie in der Gegenwart überhaupt unterliegt.«1452 Sie sei nach 1945 durch zwei Entwicklungsgesetzlichkeiten bestimmt: Zum einen die »passiv-restaurative Entwicklungstendenz«, die aus dem Wegfall der nationalsozialistischen Herrschaftsdynamik herrühre, zum anderen die durch die neue Stabilität der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft entstandenen sozialen Entwicklungsimpulse und -richtungen.1453 Diese bewirkten, dass die 1448 1449 1450 1451 1452

Ebd., S.10. Ebd., S.10, 27. Ebd., S.10f. Ebd., S.11. Ebd., S.50. Vgl. Schelsky, Die Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart, S.285. 1453 Schelsky, Wandlungen der deutschen Familie, S.84.

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Flüchtlingsfamilie ihren traditionellen Familienzusammenhang narrativ aufrechterhalten wolle, jedoch gleichzeitig mit Vertreibung, Armut, Tod und Deklassierung konfrontiert sei.1454 Die traditionelle Geschlechterordnung und die patriarchalischen Strukturen, also jener »Stabilitätsrest in unserer Gesellschaftskrise«, seien nicht per se problematisch, denn er sprach der Institution Familie in einer sich auflösenden Gesellschaftsordnung einen hohen Stabilitätswert zu.1455 Damit grenzte sich Schelsky vom materialistischen Determinismus ab, den er bei Ogburn anklingen sah. Er warnte davor, dass im Kontext der sich etablierenden Ordnungs- und Stabilitätsverhältnisse in der Gesellschaft ein Abbau der überkommenen Familienideologie gefährlich sei und die als krisenhaft empfundene Wandlung eher verstärken könne. Dies gelte besonders dann, wenn das Familienbewusstsein an die moderne ökonomische und staatliche Wirklichkeit angepasst werde, ohne ein neues Familienbild zu generieren, das sowohl eine ethische Kraft beinhalte als auch die umgestaltete staatliche und wirtschaftliche Realität als eine im Dienst des Menschen stehende auffasse.1456 Das Schreckensbild der sozialistischen Arbeiterfamilie in Sowjetrussland seit den 1920er Jahren im Hinterkopf schlussfolgerte er,1457 dass gefährliche gesellschaftliche Desintegrationsentwicklungen der Familie dann stattfinden würden, wenn Staat und Wirtschaft die Mehrzahl der institutionellen Funktionen an sich rissen. Daraus resultiere eine Isolierung der Familie von der Öffentlichkeit, die so weit führen könne, dass sich die Familienmitglieder auf die Pflege rein privater Gefühlsbeziehungen beschränkten. Die Familie verliere ihre Funktion als gesellschaftliche Institution und diene nur noch der Befriedigung individueller Glücksbedürfnisse.1458 Führe diese Absonderung zur psychischen und sozialen Isolierung einer Gruppe innerhalb der Gesellschaft, resultierte daraus eine »Affekterfüllung und Wertsteigerung persönlicher Sympathiebeziehungen«. Schelsky verwendete dafür im Rückgriff auf Cooley den Begriff »Verinnerlichung«.1459 Gerade für Flüchtlingsfamilien sah er dieses Problem aufgrund ihres Vertreibungsschicksals und des Wegfalls der zwischen 1933 und 1945 verstärkten sozialen Einbindung der Familie in die Gesamtgesellschaft als besonders virulent an.1460 Er schloss damit an gesellschaftskritische Studien amerikanischer Soziologen wie David Riesman an und konstatierte, dass sich dieser Rückzug ins rein Private zur »Abstraktions1454 Wöhrle, Zur Aktualität von Helmut Schelsky, S.67. Vgl. Kopp/Richter, »Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart«, S.159. 1455 Schelsky, Wandlungen der deutschen Familie, S.13f. Vgl. auch ebd., S.88-92, 96. 1456 Ebd., S.14. 1457 Ebd., S.32. 1458 Ebd., S.17f. Vgl. auch ebd., S.95f. Siehe auch ders., Die Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart, S.286. 1459 Schelsky, Wandlungen der deutschen Familie, S.19. 1460 Ebd., S.102-122. Siehe auch ders., Die Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart, S.287. Vgl. Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft, S.231.

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erhöhung der Öffentlichkeit« komplementär verhalte. Den optimistischen Standpunkt, die Familie würde zur Bildung und Prägung der kulturellen und charakterlichen Persönlichkeit des Individuums und zum Aufbau der Gesellschaft einen wichtigen Beitrag leisten, teilte Schelsky aufgrund der sich vertiefenden Spaltung zwischen privatem und öffentlichem Leben nicht. In seinen Augen verloren im Privaten eingeübte Verhaltensweisen und etablierte Wertmaßstäbe im öffentlichen Leben vielmehr zunehmend an Boden. Das zeige sich etwa daran, »daß Personen, die heute als Ausgeburt des sozial zerstörerischen Prinzips gelten, ein kulturell und ethisch durchaus hochwertiges und verinnerlichtes Familienleben geführt haben«. Das sollte für jeden Familiensoziologen ein bedenkenswertes Symptom darstellen.1461 Diese von Schelsky als institutioneller Funktionsabbau beschriebene Entwicklung beruhte für ihn auf einem gewandelten funktionalen Geschlechterverhältnis zwischen Mann und Frau in der modernen Industriegesellschaft. Verstärkt durch den Zweiten Weltkrieg sei der Mann seiner traditionellen Familienfunktion weitgehend beraubt worden, was zu einer Erhöhung der Funktionsgewichtung der Frau bei der Aufrechterhaltung der Familie geführt habe.1462 Dies zeige sich auch in der Teilhabe der Frau am öffentlichen politischen und kulturellen Leben. Auch einen Wandel der »Gefühlsgrundlage« vermeinte Schelsky festzustellen.1463 Bei den untersuchten 167 Familien äußere sich das neue Partnerschaftsverhältnis zwischen Mann und Frau nicht im Sinne Ogburns als gefühlsmäßige Verinnerlichung. Vielmehr komme es zu einer gefühlsmäßigen »Versachlichung«,1464 die sich aus der »Feindseligkeit gegenüber der bürokratisch-anonymen Öffentlichkeit«1465 und der innerfamiliären Arbeitsüberlastung ergeben habe,1466 weil die Situation in Westdeutschland stärker als bei Ogburns Sample durch die langjährige Abwesenheit, Kriegsversehrtheit und Kriegsgefangenschaft der Männer gekennzeichnet war, ja die gesamte Institution Familie nach 1945 nicht mehr als relativ gesicherte Basis gelten konnte.1467 Im Anschluss an die Institutionenlehre Arnold Gehlens könne ein sozialer Wandel der Familie nur gelingen, wenn man materielle Wirklichkeitsebene und sekundäre Orientierungsstruktur in Form von Ideologien und Leitbildern harmonisiere.1468 Was Schelsky bereits 1953 beobachtete und was sich »aus dem sozialen Abstieg so zahlreicher Familien, ihrem Wiederaufstiegswillen und ihrem Festhalten an den alten sozialen Leitbildern« 1461 Schelsky, Wandlungen der deutschen Familie, S.20. Vgl. auch ebd., S.152-163. 1462 Ebd., S.22. 1463 Kopp/Richter, »Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart«, S.159f. Vgl. Schelsky, Wandlungen der deutschen Familie, S.290-346. 1464 Schelsky, Wandlungen der deutschen Familie, S.279-289. 1465 Ebd., S.166. 1466 Ebd., S.243-249. 1467 Wöhrle, Zur Aktualität von Helmut Schelsky, S.64-66. 1468 Schelsky, Wandlungen der deutschen Familie, S.237.

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ergab, war die »nivellierte Mittelstandsgesellschaft«. Darunter verstand er eine vom mittelständischen Kleinbürgertum dominierte und vom neuen Konsumismus geprägte Gesellschaft, »die ebenso wenig proletarisch wie bürgerlich ist, d.h. durch den Verlust der Klassenspannung und sozialen Hierarchie gekennzeichnet wird.«1469 Diese sei nicht mehr von der Struktur der sozialen Schichten her zu begreifen, sondern von den mobilen Auf- und Abstiegsprozessen sowie von ihrer Mentalität.1470 Aus seiner qualitativen Analyse des Datenmaterials leitete Schelsky »zwei Stabilitätsgesetze« der modernen Familie ab. Die »Stabilität oder Elastizität der Familie in der industriellen Gesellschaft« sei zum einen umso höher, je größer das Maß an institutionellen Funktionen ist, die nicht durch Industrialisierung und Ausbau des Wohlfahrtsstaats abgebaut seien. Zum anderen sei sie umso bedeutender, je stärker diese Restfunktionen durch die Familienmitglieder verinnerlicht worden seien.1471 »Positive[n] Induktionswert für eine aktive Teilnahme am öffentlichen Leben« sah Schelsky insbesondere bei solchen Familien, die aufgrund einer Gegnerschaft zum NS-Regime verfolgt worden seien, deshalb für die Nachkriegsgesellschaft besondere Verantwortung trügen und daher auch gute Möglichkeiten für Betätigungen in der Öffentlichkeit vorfinden würden. Weiter erwähnte er solche Familien, die zur Arbeiterschaft oder zum Kleinbürgertum gehörten, deren familiäre Situation sich wenig verändert habe. Bei ihnen seien daher traditionelle, meist sozialistische Einstellungen gegenüber politischer Betätigung erhalten geblieben oder restauriert worden. Auch deklassierte Familien hätten Potenzial, sich öffentlich zu betätigen, weil sie darin entweder eine Chance für ihren sozialen Wiederaufstieg sähen oder ihre Mitglieder gerade in öffentlichpolitischen Ämtern eine Art Ersatzbefriedigung für das verlorene soziale Prestige suchten. Zuletzt führte er heimatvertriebene, kriegsversehrte und ausgebombte Familienmitglieder an, die sich aufgrund des harten Schicksals ihrer Familien dazu veranlasst sähen, eine gesteigerte gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen.1472 Stabilität der Institution »Familie« und damit der jungen bundesrepublikanischen Gesellschaft konnte für Schelsky nur durch eine funktionale Einbindung der Familie in die Öffentlichkeit gewährleistet werden. In der Quintessenz betonte Schelskys Familiensoziologie, dass rückständiges Familienbewusstsein in Westdeutschland mit den rasch gewandelten sozialen Verhältnissen der modernen Industriegesellschaft unter Konservierung der Kern-

1469 Ebd., S.218; Schelsky, Die Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart, S.287. 1470 Schelsky, Wandlungen der deutschen Familie, S.228. 1471 Ebd., S.24f. 1472 Ebd., S.141f. Siehe Braun, Helmut Schelskys Konzept der ›nivellierten Mittelstandsgesellschaft‹, S.201f.

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familienstruktur in Einklang gebracht werden müsse.1473 Das Festhalten am alten traditionellen Familienzusammenhang, wie dies insbesondere bei den Frauen zu beobachten sei, könne als ein Phänomen der nachkriegszeitlichen »adaptive culture« und als eine »Funktion der Anpassung« gedeutet werden.1474 Schelsky formulierte auch Vorschläge, wie familiensoziologisches Wissen für die Familien- und Bevölkerungspolitik der Bundesrepublik genutzt werden könne. Dass die westdeutsche Soziologie »eine Reform der Familienbeziehungen und damit eine Einwirkung auf die Stabilität der Gesamtgesellschaft in gleichsam eigeninstitutioneller Regie« unternehmen könne, bestritt er hingegen. Im Gegensatz etwa zu ihrem Pendant in den Vereinigten Staaten fehle es der deutschen Sozialwissenschaft dazu an grundlegenden Voraussetzungen in institutioneller und personeller Hinsicht. Eine deutsche Familiensoziologie könne sich heute vorerst nur praktische Ziele vorbereitender und klärender Natur setzen. Eine unmittelbare »soziotherapeutische« Tätigkeit nach amerikanischem Vorbild verbiete sich »nicht nur aus dem Zustand unserer Sozialwissenschaft, sondern auch aus dem unserer Gesellschaft«.1475 Vom soziologischen Standpunkt aus gesehen, komme es im nachkriegszeitlichen Westdeutschland »weniger auf die Heilung zerstörter oder brüchiger Einzelehen und -familien an als auf eine Stabilitätserhöhung der Familienverfassung überhaupt innerhalb einer Neuordnung der Gesamtgesellschaft.« Seine nivellierte respektive nivellierende Mittelstandsgesellschaft war also nicht apologetisch, sondern durchaus kritisch gemeint. 1953 sah er in der permanenten und allumfassenden sozialen Mobilität, »wie sie die Realität der standortlabilen nivellierenden Mittelstandsgesellschaft darstellt«, ausdrücklich ein Gefahrenpotenzial.1476 Als Vorbild könne sich die Bundesrepublik an der schwedischen Familienpolitik, insbesondere ihrer Zusammenarbeit von Sozialwissenschaft und Gesetzgebung, orientieren.1477 Ganz allgemein bestehe die dringlichste praktische Aufgabe einer Familiensoziologie vor allem darin, die »Familie und ihren Bestand als Wert und Ziel, als sozial-moralische Leitidee einer Sozialpolitik und darüber hinaus einer Wirtschafts- und Staatsbürgergesinnung überhaupt« auszuweisen.1478 Schelskys Einsichten überlappten sich mit denen, die das Denkkollektiv um Horkheimer im Rahmen des »Gruppenexperiments« entwickelt hatte. Was er als gesellschaftliches Desinteresse und fortschreitende Entpolitisierung beschrieb,1479 1473 Schelsky, Wandlungen der deutschen Familie, S.15, 41f., 356f. 1474 Wöhrle, Zur Aktualität von Helmut Schelsky, S.68. Siehe Schelsky, Wandlungen der deutschen Familie, S.192-218. 1475 Schelsky, Wandlungen der deutschen Familie, S.40. 1476 Ebd., S.236. 1477 Ebd., S.41. 1478 Ebd., S.42. 1479 Ebd., S.122f. Zum Desinteresse und zur Entpolitisierung gehörten auch das Misstrauen gegenüber Rechtsprechung und Bürokratie. Siehe ebd., S.123-141.

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deuteten Adorno und seine Mitstreiter als Apathie und politische Gelähmtheit der deutschen Nachkriegsbevölkerung. Schelsky analysierte diese Tendenz anhand der von seinen Mitarbeitern angefertigten Familienmonografien. Die isolationistischen Tendenzen der Familie, ihr Rückzug in die Intimität, resultiere aus einem Niedergang der Öffentlichkeit und einer damit verbundenen Überlastung der Intimgruppe. Politische Energie und Bereitschaft zur öffentlichen Stellungnahme würden sich lediglich auf den Horizont des familiären Aufstiegs beschränken, nicht aber dem Bewusstsein von einer zu konstituierenden Zivilgesellschaft entsprechen. Stattdessen, so Wöhrle, würde »sich öffentliches Räsonnement zunehmend auf Fragen der Bildung und Pädagogik« einpendeln. Dies sei aber eben nicht im Sinne einer politischen Öffentlichkeit, sondern in Rückbindung an die familiäre Kleingruppe geschehen.1480 Gerade im Rückzug auf den engen familiären Umkreis und der nach außen getragenen Konfliktlosigkeit lag für Schelsky die Gefahr, dass einerseits innerfamiliäre Konfliktlagen überspannt würden, was wiederum die Familie als Institution destabilisiere, sowie andererseits der öffentliche Anerkennungszusammenhang zerfalle und demokratische Politik hohle Phrase bleibe.1481 8.2.2 Soziologie der Sexualität 1955 erschien Schelskys Soziologie der Sexualität. Obwohl er hierfür nicht auf selbst erhobene sozialempirische Daten zurückgriff, gingen viele seiner Erkenntnisse auf die familiensoziologischen Untersuchungen zurück. Dies zeigte sich, wenn er etwa betonte, dass der »Abbau der erotischen Komponente im Leben der Jugendlichen […] heute, im Gegensatz zur Zeit nach dem vorigen Kriege, ganz unverkennbar [ist]«, und dass hinter dieser »unerotischen Sachlichkeit« veränderte Grundbedürfnisse des gesellschaftlichen Zustands stehen würden, nämlich die Suche nach sozialem Halt in der intimen Beziehung zum Partner sowie das Bedürfnis nach Solidarität und Gemeinschaft, um das Leben zu bewältigen.1482 Zudem ging seine Studie auch auf die Zusammenarbeit mit dem Sexualforscher Bürger-Prinz zurück, mit dem Schelsky bereits 1953 einen Beitrag zur Sexualität für das Handwörterbuch der Sozialwissenschaften verfasst hatte.1483 1480 Wöhrle, Zur Aktualität von Helmut Schelsky, S.69. Vgl. Schelsky, Wandlungen der deutschen Familie, S.178-192. 1481 Wöhrle, Zur Aktualität von Helmut Schelsky, S.70f. 1482 Helmut Schelsky, Soziologie der Sexualität. Über die Beziehungen zwischen Geschlecht, Moral und Gesellschaft. Hamburg 1955, S.38. 1483 Ebd., S.10. Siehe Kempf, Wider die Wirklichkeitsverweigerung, S.88; Patrick Wöhrle, Schelskys »Soziologie der Sexualität« zwischen Geschlechterkonstruktivismus und Soziologiefolgenabschätzung, in: Gallus (Hrsg.), Helmut Schelsky, S.170-183, hier: S.179. Siehe Helmut Schelsky/Hans Bürger-Prinz, Sexualität, in:

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Wie Sybille Steinbacher schreibt, waren die 1950er Jahre in Westdeutschland in Bezug auf Fragen nach der Sexualität nicht muffig und verklemmt. Tatsächlich »war Sexualität in diesen Jahren ein großes Thema und bezeichnete eines der zentralen Felder politischer und sozialer Auseinandersetzungen.«1484 Zeitgenössische Beobachter hoben immer wieder die aus den Fugen geratene soziale und moralische Ordnung der postfaschistischen Gesellschaft hervor. Der Verlust der Ordnungskräfte habe, so zitiert Bessel einen dieser Beobachter, zu wahllosen und unbedachten geschlechtlichen Beziehungen geführt. Viele Deutsche hätten sich von orthodoxen Moralvorstellungen gelöst und sich auf hemmungslosen Geschlechtsverkehr mit Leuten eingelassen, die sie fast gar nicht gekannt hätten und auch nie wieder sehen würden. Folgen waren ein markanter Anstieg der außerehelichen Geburten, die Ausbreitung der Prostitution und von Geschlechtskrankheiten. Besatzungsoffiziere, Behörden- und Kirchenvertreter zeigten sich alarmiert.1485 Der rasche Verfall von sexuellen Moralvorstellungen in der Bevölkerung und der von Schelsky angestrebte Aufbau einer stabilen westdeutschen Demokratie bildeten den einen Hintergrund seiner Sexualsoziologie. Der andere war, dass ihm, nachdem »die Psychoanalyse zum interessanten gesellschaftlichen Gesprächsstoff, ja, schon zu einem Gesellschaftsspiel« und zum Thema von Tageszeitungen geworden sei, die Vorstellung von der Intimität und Innerlichkeit von Problemen wie Zusammenhängen der menschlichen Sexualität extrem veraltet, überholt und als Ausdruck eines unbewältigten Trieblebens, eines unfreien Charakters sowie einer »muffig-kleinbürgerlichen Geistesenge« erschien.1486 In der modernen westdeutschen Aufbaugesellschaft der frühen 1950er Jahre müsse jedoch »die Tabuierung des Geschlechtlichen im öffentlichen Gespräch« gebrochen und einer »rationalisierende[n] Aufklärung« Platz gemacht werden, die das Selbstbewusstsein moderner Menschen stärke.1487 Einer Popularisierung sexueller Problemlagen in der Öffentlichkeit, wie dies Theodore Hendrik van der Velde und Alfred Charles Kinsey betrieben, wollte Schelsky jedoch entgegenwirken, wie noch gezeigt wird.1488 Er sah sich als gegenaufklärerischen Aufklärer, der mit der Soziologie als »Wirklichkeitswissenschaft« gegen eine popularisierte Form der Psychoanalyse anschrieb. Sexualitätsfragen und -probleme in der modernen Gesellschaft wollte er so realitätsgerecht zur Darstellung bringen.

1484 1485 1486 1487 1488

Erwin von Beckerat u.a. (Hrsg.), Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd.9. Stuttgart/Tübingen/Göttingen 1956, S.229-238. Sybille Steinbacher, Wie der Sex nach Deutschland kam. Der Kampf um Sittlichkeit und Anstand in der frühen Bundesrepublik. München 2011, S.7. Bessel, Germany 1945, S.325. Siehe auch Steinbacher, Wie der Sex nach Deutschland kam, S.86-133. Schelsky, Soziologie der Sexualität, S.7. Ebd. Ebd., S.8.

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Schelskys Soziologie der Sexualität sollte ein »Abriß einer sozialwissenschaftlichen Theorie der Sexualität« sein, »den gegenwärtigen Stand des soziologischen Verständnisses der Geschlechtlichkeit« festhalten und diesen »in Zusammenhang mit den allgemeinsoziologischen Lehren über die Gesellschaft und die menschlichen Verhaltensformen« bringen.1489 Mit Rekurs auf Gehlens Anthropologie sowie die sozialanthropologischen Arbeiten Meads, Malinowskis, Benedicts und Clyde Kluckhohns nahm er eine kulturelle Prägung von Sexualnormen an:1490 Die Sexualität wie auch andere biologisch bedingte Antriebe des Menschen, seien weitgehend unspezifische Grundbedürfnisse, die aufgrund ihrer biologischen Ungesichertheit, ihrer Formbarkeit durch soziale Normen und »Stabilisierung zu konkreten Dauerinteressen« eines kulturell-institutionellen Überbaus bedürften. Dadurch sei die Erfüllung ihres biologischen Zweckes, also die Fortpflanzung, sichergestellt.1491 Aufgrund des sexuellen Antriebsüberschusses des Menschen, dem im Gegensatz zu Tieren der jahreszeitliche Rhythmus der Sexualität fehle, und weil dieser nur in wenigen Fällen als rein sexuelle Verhaltensweisen zu deuten sei, habe sich beim Menschen eine Instinktreduktion ergeben. Schelsky verwies dabei auf Konrad Lorenz. Antriebsüberschuss und Instinktreduktion führten zu einer »biologischen Gefährdung des menschlichen Trieblebens«, woraus sich wiederum die »kulturelle Chance« für den Menschen ableitete: Weil der Mensch seiner Umweltgebundenheit und der Instinktstarre entronnen sei, könne und müsse er durch bewusste Handlungen über seine Antriebe verfügen. Das menschliche Triebleben sei also auf kulturelle Führung und Regelung angewiesen, wie es die »neuere deutsche philosophische Anthropologie« (Scheler, Plessner, Gehlen) herausgearbeitet habe und von der Humanbiologie heute als Grundlage akzeptiert sei.1492 Diese »allseitige Durchdringung menschlicher Handlungsformen mit sexueller Aktivität« sei kulturell variabel.1493 Das gelte für jegliche Normen des geschlechtlichen Verhaltens.1494 Als kulturell variabel betrachtete er deshalb zum einen Rollenzuschreibungen: Jede Kultur standardisiere und institutionalisiere in irgendeiner Weise die Rollen des Mannes und der Frau, inhaltlich jedoch waren die Bestimmungen, »was männliche und weibliche Verhaltensformen und Eigenschaften sind, in den Kulturen sehr verschieden, ja, in vielen Fällen durchaus gegensätzlich«.1495 Zum anderen könne das Sexualverhalten auch innerhalb der Sozial- und Bildungsschich1489 Ebd., S.9. 1490 Wöhrle, Schelskys »Soziologie der Sexualität«, S.172f. Vgl. Margaret Mead, Sex and Temperament in Three Primitive Societies. New York 1935. 1491 Schelsky, Soziologie der Sexualität, S.11. 1492 Ebd., S.12. 1493 Ebd., S.15. 1494 Ebd., S.48-50. Dabei nahmen laut Schelsky diese Normen in allen Gesellschaften »den Charakter des Absoluten an.« Siehe ebd., S.50. 1495 Ebd., S.16. Vgl. auch ebd., S.18.

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ten ein und derselben Gesellschaft variieren. Dabei wirke sich die normative Rolle der gesellschaftlichen Oberschicht häufig darin aus, »daß die in ihr herrschende Rollenverteilung der Geschlechter zur Anschauung der Gesamtgesellschaft über die ›Natur‹ des Weibes oder des Mannes erhoben wird«.1496 Gleiches gelte für die »soziale Standardisierung der Altersklassen«, also die »Regelung und Kontrolle des altersbedingten Geschlechtsverhaltens«, die eng mit der Verteilung von sozialen und politischen Rechten und Pflichten verbunden seien.1497 Wöhrle betont, dass Schelsky selbst die Gebärfähigkeit der Frau unter Verweis auf traditionelle agrarische Gesellschaften als »kaum mehr als ein recht unterschiedlich ausdeutbares Erzählmaterial« charakterisiere, das in der jeweiligen kulturellen »Interpretation derselben vollkommen kontingent sei«.1498 Er bezeichnet dies als »Geschlechterkonstruktivismus« und verweist auf Ähnlichkeiten zur erst Jahrzehnte später durch den feministischen Diskurs gewonnenen Unterscheidung von »Gender« (soziales Geschlecht) und »Sex« (biologisches Geschlecht).1499 Tatsächlich vertrat Schelsky einen auf der Höhe der amerikanischen Sozialanthropologie stehenden Geschlechterrelativismus. Gleichwohl muss Wöhrles Charakterisierung seines Ansatzes als »geschlechterkonstruktivistisch« dahingehend erweitert werden, als dass Schelsky und Gehlen ja schon in den 1930er und frühen 1940er Jahren einen Kulturrelativismus vertreten hatten, der damals allerdings mit einem völkischen, teils auch rassischen Partikularismus übereinstimmte. In vielen Punkten zeigte sich zudem ein bürgerlich-patriarchalischer Konservatismus. Dies war etwa dann der Fall, wenn Schelsky hervorhob, dass nebeneheliche sexuelle Beziehungen des Mannes für den Bestand von Ehe, Familie und somit des »gesamtgesellschaftlichen Gefüges« wesentlich folgenloser seien als die der Frau. Erst die moderne Empfängnisverhütung und die Privatisierung der Familie, die in der »bürokratisierten Gesellschaft nicht mehr ›Grundlage des Staates‹ ist«, habe soziales Gewicht und Überzeugungskraft dieser »Tatsache« einbüßen lassen.1500 Schelskys Soziologie der Sexualität sollte auch seiner Meinung nach unlauteren Popularisierungen von Sexualitätsdiskursen entgegenwirken. Hierbei kritisierte er vor allem die Forschungen über amerikanische Sexualpraktiken von Alfred Kinsey. Sie würden das in der sozialen Wirklichkeit Vorgefundene mit dem Nimbus des »Natürlichen« versehen und somit moralisch aufladen. Dadurch würden vorehelicher Geschlechtsverkehr und Untreue durch quantitativsozialempirische Methoden gewissermaßen legitimiert und könnten von der 1496 Ebd., S.24. 1497 Ebd., S.25. 1498 Wöhrle, Schelskys »Soziologie der Sexualität«, S.173. Siehe Schelsky, Soziologie der Sexualität, S.19f. 1499 Wöhrle, Schelskys »Soziologie der Sexualität«, S.174. Vgl. auch ebd., S.175. 1500 Schelsky, Soziologie der Sexualität, S.31.

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Leserschaft als »normal« angenommen werden.1501 Seine Kritik bezog sich darüber hinaus darauf, dass Kinsey bei 46 Prozent der erwachsenen Männer sowohl hetero-, homo- wie bisexuelles Verhalten festgestellt hatte. Der amerikanische Biologe und Sexualforscher schrieb zudem etwa der Hälfte der amerikanischen Bevölkerung bis zu einem gewissen Grad bisexuelle Neigungen zu.1502 Die Naturalisierung dieser Feststellung sah Schelsky als Problem, da sie durch Kinsey zur selbsterfüllenden Prophezeiung werde. Er selbst stigmatisierte Homosexualität offen. Wöhrle bezeichnet Schelskys Auseinandersetzung mit Homosexualität als »nicht nur verkrampft, tendenziös und wissenschaftlich wie lebensweltlich überholt, sondern […] eben auch durch eine markante Absenkung des sonstigen analytischen Niveaus« gekennzeichnet.1503 Homosexualität setzte Schelsky mit »Abnormität« und »sozialer Krankheit« gleich. Biologistischpsychoanalytische Überlegungen ließen ihn schlussfolgern, dass der Homosexuelle  – weil er gesellschaftliche Normen übertrat  – gänzlich normunfähig und deshalb auch kein Gegenstand der Soziologie sei.1504 Schelskys Pathologisierung der Homosexualität weist Ähnlichkeiten zu in der Dialektik der Aufklärung geäußerten Ansichten Horkheimers und Adornos auf. Diese schrieben, dass unter dem Druck des »Über-Ichs […] das Ich die vom Es ausgehenden, durch ihre Stärke ihm selbst gefährlichen Aggressionsgelüste als böse Intentionen in die Außenwelt« projiziere. Es werde seine Aggressionen als Reaktion auf äußere Begebenheiten sowohl durch die Identifikation mit dem zum Bösewicht Auserkorenen als auch durch vorgebliche Notwehr los. Das so in »Aggression umgesetzte Verpönte ist meist homosexueller Art. Aus Angst vor der Kastration wurde der Gehorsam gegen den Vater bis zu deren Vorweg1501 Wöhrle, Schelskys »Soziologie der Sexualität«, S.176. Siehe auch Axel Schildt, Ideenimporte als Teil einer transatlantischen Intellectual History – der Fall der Bundesrepublik, in: ders. (Hrsg.), Von draußen, S.9-27, hier: S.19f. Zu den beiden von Alfred Kinsey publizierten Werken von 1948 zum Sexualverhalten amerikanischer Männer und von 1953 zu dem von Frauen, den Kinsey-Reports, siehe kritisch Igo, The Averaged American, S.191-280, darin vor allem S.202, 204f. Siehe auch Helmut Schelsky, Die Moral der Kinsey-Reporte. Mit einigen Nachbemerkungen v. Albert Mitterer, in: Wort und Wahrheit. Monatsschrift für Religion und Kultur 11 (1954) 6, S.421-435, hier: S.424-432. Vgl. auch ders., Soziologie der Sexualität, S.51-59, 113. Zur in Westdeutschland geäußerten Kritik an den Kinsey-Reporten siehe auch Steinbacher, Wie der Sex nach Deutschland kam, S.150-237, speziell zu Schelskys Kritik von Kinseys Arbeit siehe ebd., S.221-237. 1502 Igo, The Averaged American, S.209, 223, 227f., 247. 1503 Wöhrle, Schelskys »Soziologie der Sexualität«, S.178. 1504 Kempf, Wider die Wirklichkeitsverweigerung, S.93; Wöhrle, Schelskys »Soziologie der Sexualität«, S.178-180. Siehe Schelsky, Soziologie der Sexualität, S.75-87. Siehe auch Steinbacher, Wie der Sex nach Deutschland kam, S.227-238.

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nahme in der Angleichung des bewußten Gefühlslebens ans kleine Mädchen getrieben und der Vaterhaß als ewige Ranküne verdrängt. In der Paranoia treibt dieser Haß zur Kastrationslust als allgemeinem Zerstörungsdrang.«1505 Unter dem Druck »der gestauten homosexuellen Aggression vergißt der seelische Mechanismus seine phylogenetisch späteste Errungenschaft, die Selbstwahrnehmung, und erfährt jene Aggression als den Feind in der Welt, um ihr besser gewachsen zu sein.«1506 Daraus resultierte für Horkheimer und Adorno, dass die männlichen Gewalttäter, die »Lyncher und Klanmitglieder«, die »Werwölfe«, die immer dann zur Stelle waren, wenn es einen umzubringen galt, die »schänden, was sie anrühren«, und »vernichten, was sie im Licht sehen«, »homosexuell und paranoisch« waren.1507 Und auch Adorno kritisierte in einem Aufsatz von 1957 Kinsey, da dessen Rückgriff auf statistisch-naturwissenschaftliche Methoden zur Eruierung des Sexualverhaltens der Amerikaner lediglich die »herrschende Unfreiheit« offenlege. Die Antworten der Kinsey-Reporte auf drängende Fragen des sexuellen Verhaltens würden dadurch vollends verdinglicht.1508 Bereits zuvor hatten Horkheimer und Adorno ihre Ansichten über Homosexuelle in einer 1952 publizierten Kurzzusammenfassung ihrer sozialempirischen Forschungsergebnisse aus den Vereinigten Staaten wiederholt. So spielte bei den autoritären Charakteren, die »Gefangene ihres eigenen geschwächten Ichs« seien, »[l]atente Homosexualität« eine erhebliche Rolle.1509 8.2.3 Die Soziologie der Nachkriegsjugend Schelskys dritter sozialempirischer Forschungskomplex war die Lage der deutschen Nachkriegsjugend, die für den Aufbau einer demokratischen Gesellschaft ausgesprochen wichtig war. Die Problemfälle mit Jugendlichen waren bereits während des NS-Regimes angestiegen. Von Martin Bormann in Umlauf gebrachte Zahlen zeigten, dass sich die von Jugendlichen verübten Straftaten in Deutschland von 1937 bis 1942 mehr als verdoppelt hatten und 1943 weiter 1505 1506 1507 1508 1509

Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, S.201. Ebd., S.202. Ebd., S.249. Zitiert nach: Kempf, Wider die Wirklichkeitsverweigerung, S.91. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Vorurteil und Charakter. Ein Bericht [1952], in: Max Horkheimer, Vorträge und Aufzeichnungen 1949-1973. 4. Soziologisches, 5. Universität und Studium, hrsg. v. Gunzelin Schmidt Noerr (Gesammelte Schriften, Bd.8). Frankfurt am Main 1985, S.64-76, hier: S.73.

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anstiegen. In Hamburg etwa verdreifachte sich die Jugendkriminalität während des Zweiten Weltkrieges.1510 In der unmittelbaren Nachkriegszeit fürchteten viele Beobachter, dass die Flakhelfer- und Hitlerjugend-Generation aufgrund allzu weit fortgeschrittener Verrohung als unverbesserlich abgeschrieben werden müsse.1511 Bereits am 1. Juli 1950 gründete der Bundesvorstand des DGB auf Vorschlag des Leiters der Hauptabteilung Jugend die sozialwissenschaftliche Arbeitsgemeinschaft zur Erforschung von Jugendfragen. Deren Projekte sollte Schelsky leiten. In ihr fanden, wie Schelsky schrieb, »die auf Anregung von Professor Dr. Nels Anderson, HICOG, Labor Affairs, in Zusammenarbeit mit der Hauptabteilung über die gegenwärtige Jugendarbeitslosigkeit und die ebenfalls mit Förderung von HICOG, Labor Affairs, angesetzten und unter Beratung von H. Hurwitz stehenden Forschungen über die Jugendnot in Westberlin ihre Zusammenfassung.«1512 1952 legte er in zwei Bänden die Studie Arbeitslosigkeit und Berufsnot der Jugend vor, an der sein Assistent Wurzbacher, Walter Meis, Elfriede Pätz-Beck, Ulrich Lohmar, Fritz Rudolph, Heinz Kluth und Fritz Beermann mitgearbeitet hatten. 1955 gab er darüber hinaus Arbeiterjugend gestern und heute von Lohmar, Kluth und Rudolf Tartler heraus.1513 Schelskys Die skeptische Generation von 1957 schließlich, ein soziologischer Bestseller, der die Jugendsoziologie im deutschsprachigen Raum maßgebend beeinflussen sollte, stellte eine interpretative Synthese der von ihm geleiteten und weiteren sozialempirischen Untersuchungen in Westdeutschland dar.1514

1510 Lowe, Der wilde Kontinent, S.84. 1511 Ebd., S.84f. 1512 Helmut Schelsky, Einleitung. Anlage, Ziele und Durchführung der Untersuchungen, in: Deutscher Gewerkschaftsbund, Bundesvorstand, Düsseldorf, Hauptabteilung Jugend (Hrsg.), Arbeitslosigkeit und Berufsnot der Jugend, Bd.1, erarbeitet v. der Sozialwissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft zur Erforschung von Jugendfragen, unter der wissenschaftlichen Leitung v. Helmut Schelsky. Köln 1952, S.9-17, hier: S.9. 1513 Kempf, Wider die Wirklichkeitsverweigerung, S.95f. 1514 Wöhrle, Zur Aktualität von Helmut Schelsky, S.87. Das Buch wurde bis in die 1980er Jahre in 47.000 Exemplaren verkauft und wurde im westdeutschen und im DDR-Rundfunk breit besprochen, 1960 bezeichnete Melvin J. Lasky Schelsky gar als »David Riesman of Germany«. Siehe Franz-Werner Kersting, Helmut Schelskys »Skeptische Generation« von 1957. Zur Publikations- und Wirkungsgeschichte eines Standardwerkes, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 50 (2002) 3, S.465-495, hier: S.467f., 472, 477-482, 488f.

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Schelsky wollte Ursachen und Umfang der Jugendarbeitslosigkeit in Westdeutschland, ihre Folgen für die Jugend und allgemein für Politik wie Wirtschaft erforschen. Ziel dieser Untersuchungen war, Mittel und Wege zur Behebung und Milderung der Arbeitslosigkeit von Jugendlichen zu identifizieren.1515 Dabei sei es nie die Absicht gewesen, »so etwas wie einen ›Generalplan zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit und Berufsnot der Jugend‹ aufzustellen«. Im Gegenteil erschien Schelsky und seinen Mitarbeitern die Vielgestaltigkeit und Komplexität der Jugendarbeitslosigkeit und Berufsnot der Jugendlichen derart, dass »irgendwelche generellen Rezepte zur Behebung dieser Notstände überhaupt nicht möglich, sondern dazu ebenso vielfältige und verschiedenartige, allerdings auch gut aufeinander abgestimmte Maßnahmen erforderlich sind.«1516 Die Untersuchungen hätten also nicht nur die soziale Bestandsaufnahme zur Aufgabe. Sie sollten vielmehr auch »die Analyse der anderen von uns behandelten Gegenstandsbereiche« soweit voranbringen, »daß sie der sozialpolitischen Entscheidung und Planung ein deutlich aufgeschlossenes Material, ja in vielen Fällen zu sehr eindeutigen Folgerungen führende Planungsgrundlagen bieten.«1517 Als »Jugendliche« verstanden Schelsky und sein Team, im Gegensatz zur in der Statistik und Gesetzgebung üblichen Altersgrenze von 21 Lebensjahren, junge Menschen zwischen 14 und 25 Jahren.1518 Wie Wurzbacher im ersten Band von Arbeitslosigkeit und Berufsnot der Jugend schrieb, wurden für die groß angelegte Untersuchung folgende Materialien verwendet: 1) Studien, Berichte und Befragungen über die berufliche Situation von Jugendlichen in Gebieten, die ihrer Sozialstruktur nach als typisch gelten konnten; 2) Untersuchungen, Materialsammlungen und Berichte über Institutionen, die mit der Jugendarbeitslosigkeit verbunden waren; 3) Materialien über Bevölkerungsgruppen, die typischerweise von der Jugendarbeitslosigkeit betroffen waren; 4) Biografien von einzelnen, als repräsentativ geltenden jugendlichen Arbeitslosen; 5) Ergebnisse einer Befragung von 1.978 repräsentativ ausgewählten jugendlichen Arbeitslosen in Berlin, Hamburg, Schleswig-Holstein und Bayern; 6) das Material einer Kontrollbefragung von 300 arbeitenden Jugendlichen; schließlich 7) jegliches statistisches Material, das für die Erforschung der Jugendarbeitslosigkeit relevant war.1519 Methodisch wurden Kurz- und teilweise auch Intensivbefragungen sowie Gruppeninterviews der ausgewählten Jugendlichen angewandt. Außerdem interviewten die Forscher ortskundige Erwachsene, deren soziale Erfahrung und 1515 1516 1517 1518 1519

Schelsky, Einleitung, S.10f. Ebd., S.12. Ebd. Ebd. Gerhard Wurzbacher, Materialübersicht (Bibliographie Résumée), in: Deutscher Gewerkschaftsbund (Hrsg.), Arbeitslosigkeit und Berufsnot der Jugend, Bd.1, S.19-69, hier: S.21.

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Milieukenntnis in die Auswertung einflossen.1520 Hinzu kamen ausführliche und ortsbezogene Befragungen etwa von Sachverständigen der Kommunen, Kirchen, des Arbeitsamtes, der Gewerkschaften, des Bauernverbandes, von Betriebsinhabern und Jugendführern. Außerdem wurde statistisches Material erhoben und Gutachten zur Struktur von Wirtschaft und Bevölkerung bei Behörden, Organisationen wie Firmen ausgewertet. Zudem griffen Schelsky und seine Mitarbeiter auf drei weitere sozialempirische Methoden zurück, die teilnehmende Beobachtung durch Feldforscher in einem Jugendamt und einem Jugendheim, die offene Beobachtung bei längeren Studienaufenthalten und die längerfristige verdeckte Beobachtung in einem örtlichen Heim. Auch nicht näher erläuterte »offene Aussprachen« mit Jugendlichen und Heimleitern führte Wurzbacher an.1521 Die Feldforscher »waren teils Studierende verschiedener Hochschulen und Fakultäten, teils Fachleute mit abgeschlossener akademischer oder anderer Ausbildung«. Bei diesen Studierenden handelte es sich um solche, die durch ein sozialwissenschaftliches Studium bereits methodisch geschult waren. Zudem seien alle Mitarbeiter durch Arbeitsbesprechungen, Seminare, schriftliche Anweisungen und Betreuung ihrer Tätigkeit für die »besondere Untersuchungsaufgabe angeleitet« worden.1522 Wie bei der Familiensoziologie legten die Mitarbeiter auch bei dieser Untersuchung Ergebnisse als objektbezogene Monografien vor.1523 Beim jeweiligen Objekt konnte es sich um »eine Person, eine Gruppe, eine Gemeinde, eine Institution usw.« handeln.1524 Die in den Monografien enthaltenen Zahlen waren dabei nur begrenzt miteinander vergleichbar. Durch die Methode der Kurzbefragung war zunächst ein Überblick erstellt worden, auf dessen Basis die Mitarbeiter eine nähere Auswahl der Jugendlichen nach soziologisch entscheidenden Untersuchungskriterien vornahmen.1525 Ein Hauptbestandteil der Monografien bildeten Einzelbiografien von Jugendlichen, die »Lebenslauf und soziales Schicksal«, »Familienbild und Einstellung zur Familie«, »Wohnverhältnisse«, »Berufswahl«, »Arbeitserfahrung«, »Beurteilung der eigenen Lage, Zukunftspläne«, »Freizeit, Geselligkeit, Interessen«, »Tagesablauf«,

1520 1521 1522 1523

Ebd., S.22. Ebd., S.21-65. Ebd., S.69. Gerhard Wurzbacher, Methodologische Erfahrungen bei der monographischen Materialerhebung, in: Deutscher Gewerkschaftsbund, Bundesvorstand, Düsseldorf, Hauptabteilung Jugend (Hrsg.), Arbeitslosigkeit und Berufsnot der Jugend, Bd.2, erarbeitet v. der Sozialwissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft zur Erforschung von Jugendfragen, unter der wissenschaftlichen Leitung v. Helmut Schelsky. Köln 1952, S.377-425, hier: S.381. 1524 Ebd., S.383. 1525 Ebd., S.383-386.

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»Einstellung zu öffentlichen Institutionen«, »Weltanschauung und Politik« und allgemeine »Charakteristik des Befragten« abbildeten.1526 Die Durchführung der Untersuchung, so Schelsky, habe dabei »nicht dem Wunschbilde […], nach dem ein wohlbestücktes und eingearbeitetes Forschungsinstitut einen Untersuchungsplan entwirft, der dann von erfahrenen Forschungskräften programmgemäß durchgeführt wird«, entsprochen. Denn seine Mitarbeiter kamen aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Bereichen und gingen zunächst nicht mit einheitlichen Arbeitsweisen und Zielen an die Untersuchung heran. Sie wuchsen vielmehr »experimentierend und diskutierend« zu einer geschlossenen Forschungsgruppe zusammen. Das Forschungsprogramm gewann »in eben dem Maße ihrer wachsenden Erfahrung und ihres Sichverstehens« klarere Linien. Insofern sei klar gewesen, dass »bei dieser experimentierenden Art der Durchführung der Forschung […] zuweilen methodische Umwege eingeschlagen wurden«. Zudem habe sich »nicht vermeiden und zuweilen nachträglich auch nicht mehr korrigieren« lassen, dass »einer oder der andere der Mitarbeiter den von ihm übernommenen Aufgaben doch nicht ganz gewachsen war«. Insgesamt glaube »die Arbeitsgemeinschaft aber, die ihr gestellte Aufgabe erfüllt zu haben, auch wenn sie in Einzelheiten heute ›manches anders machen würde‹«.1527 Als Hauptschwierigkeit des Projekts führte Schelsky also neben dem enormen Zeitdruck vor allem an, dass eben kein Institut mit eingespieltem Team für die Forschungsarbeit zur Verfügung stand.1528 Wurzbacher verfasste auch für den zweiten Band einen Aufsatz zu methodologischen Erfahrungen bei der monografischen Datenerhebung, um diese Erfahrungen für die weitere sozialwissenschaftliche Forschung festzuhalten, sodass die »noch recht unvollkommenen Methoden empirischer Sozialforschung stetig« verbessert werden könnten.1529 Er benannte darin weitere Herausforderungen bei der Datenerhebung. Dazu zählte etwa, dass wenn die Meinungsäußerungen eines Jugendlichen mit den Kontrollfragen abgeglichen und längere Beobachtungen seines Verhaltens miteinbezogen wurden, dies »auf verschieden große, aber immer recht bezeichnende Unterschiede oder selbst Gegensätzlichkeiten zwischen Meinungsäußerungen und wirklichem Verhalten« hindeute. Zudem habe sich das Forscherteam darauf verständigt, nur Jugendliche zu untersuchen, die in der Kartei der Arbeitsämter erschienen. Das habe aber jene ausgeschlossen, die wie etwa die Zonenwanderer illegal waren oder die  – teils auch ihre Eltern  – keine Arbeit ausüben oder vom Arbeitsamt angebotene Arbeiten annehmen wollten. Immerhin würden diese einen nicht geringen Anteil aller Jugendlichen ausmachen. Auch führte das formale, auf neutrale Antworten abzielende Einzel1526 1527 1528 1529

Ebd., S.387-396. Schelsky, Einleitung, S.13. Ebd., S.14. Wurzbacher, Methodologische Erfahrungen, S.381.

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interview zu keinen zutreffenden Vorstellungen von den Meinungen der Jugendlichen. Vielmehr sei die Antwort »auf verschiedene Fragen nicht Ausdruck einer echten, auch ohne die Befragung vollzogenen Stellungnahme, sondern Reaktion auf die Ausnahmesituation der Befragung« gewesen. Um einer solchen Täuschung nicht zu erliegen, seien deshalb längere Beobachtungen und informelle Gespräche nötig. Wie beim »Gruppenexperiment« die »Schweiger« erschien Wurzbacher jene große Zahl von jugendlichen Arbeitslosen problematisch, die »keine Meinung« auf bestimmte Fragen zu haben vorgaben. Einzelne dieser Jugendlichen hätten »nur durch längeren persönlichen Kontakt erfaßt werden« können. Zudem sei das Verhältnis von Gruppe und Einzelnem im Hinblick auf die Meinungsbildung unklar geblieben. Allerdings könnten nur aus einer »Gesamtschau einer Gruppe und ihres Einflusses auf die Persönlichkeit […] die sozialen Faktoren erkannt werden, die auf die Haltung des Jugendlichen wirkten.« Schließlich komme noch hinzu, dass die wichtigen Fragen der »unechten Arbeitslosigkeit wie der Schwarzmarkt« weitgehend ungeklärt blieben. Nur die monografische Tiefenarbeit könne darüber Aufschlüsse geben.1530 Die Erhebungen im Feld und die Auswertungsarbeiten liefen wie folgt ab: In der ersten Phase von August bis November 1950 fanden Vorbereitungstreffen der zunächst selbstständig arbeitenden Forschungsgruppe in Westberlin mit den im Aufbau befindlichen Forschungsgruppen in München und Hamburg statt. Diese umfassten eine gemeinsame Fragebogenerhebung, längere Diskussionen über die Art und den Inhalt des Fragebogens sowie die Durchführung von Probebefragungen (Pretests). Während dieser Phase lernten sich die Mitarbeiter der Forschungsgruppe vielfach erst kennen.1531 In der sich anschließenden zweiten Etappe bis Februar 1951 wurde die große Repräsentativbefragung durchgeführt. Die Arbeitsgemeinschaft legte ein Fragebogenschema und einheitliche Anleitungen für die Interviewer fest. Danach bildeten drei Arbeitsgruppen in Bayern, SchleswigHolstein/Hamburg und Westberlin in eigener Verantwortung die Interviewer aus und führten die Befragung von insgesamt 2.227 Jugendlichen durch. Die dritte Phase von März bis August 1951 diente der Vorbereitung und Durchführung der soziografischen Arbeiten. Darauf folgten Intensivbefragungen und biografische Untersuchungen eines Samples des gleichen Personenkreises zwecks Kontrolle der formalen Fragebogenerhebung. Die Forschungsgruppen nahmen in dieser Phase auch primärstatistische Erhebungen und soziografische Untersuchungen von ausgewählten und typischen Gebieten – sogenannte Regionaluntersuchungen – sowie soziografische Analysen bestimmter Jugendgruppen (Gruppenuntersuchung) vor. Ziel dieser Arbeiten war, einerseits die spezifischen Strukturen der jugendlichen Arbeitslosigkeit und Berufsnot eingehender zu untersuchen, andererseits die Aussagekraft der amtlichen Statistiken und der eigenen Meinungsbe1530 Ebd., S.382. 1531 Schelsky, Einleitung, S.13.

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fragung zu prüfen.1532 In der vierten Phase von September bis Dezember 1951 schließlich wurde das erhobene Datenmaterial aufbereitet und ausgewertet. Sie umfasste die technische Aufbereitung der Fragebögen für die Auswertung mit der Hollerithmaschine und die Korrelation der Fragebogenergebnisse mit den gewählten Kriterien sowie die Auswertungen der soziografischen Einzelarbeiten. Außerdem arbeitete sich in dieser Phase eine kleine Gruppe aus dem Team in das Material ein und begann mit der Niederschrift der Auswertung.1533 Die qualitativen Auswertungen aller beteiligten Sozialwissenschaftler sollen hier nicht einzeln analysiert werden. Stattdessen wird im Folgenden Schelskys Aufsatz »Die Jugend der industriellen Gesellschaft und die Arbeitslosigkeit« einer eingehenden Untersuchung unterzogen, weil er damit den »Versuch einer verallgemeinernden sozialwissenschaftlichen Deutung« wagte. Diese spitzte sich auf die Fragen zu, inwieweit »die in der Erforschung der Arbeitslosigkeit und Berufsnot der gegenwärtigen westdeutschen Jugend erkannten Wesenszüge und Verhältnisse dem Zustand und der Struktur unserer gesamten gesellschaftlichen Verfassung entsprechen und wieweit sie durch diese gestützt, geprägt oder gar verursacht werden.«1534 Schelsky begründete darin zunächst die Relevanz der Untersuchung. Abgesehen von den generellen Krisenerscheinungen der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft sei erstens der Zusammenhang von Jugend und Arbeit respektive Arbeitslosigkeit deshalb so entscheidend, weil das Berufs- und Arbeitsleben nach den Sozialisationsphasen im Elternhaus und in der Schule der wichtigste Abschnitt in der Formung und Bildung des Individuums sei. Zweitens sei die »berufliche Eingliederung der Jugendlichen […] zugleich aber ein stetiger Neubau der gesamtgesellschaftlichen Ordnung; in dieser Eingliederung vollzieht sich die Regeneration einer bestimmten Sozialverfassung und die Aufrechterhaltung gewichtiger, die Gesellschaft tragender sozialer Verhaltensweisen.«1535 Dazu komme drittens, dass »die Eingliederung der Jugendlichen in die Arbeitswelt« eine bestimmte Wirtschafts- und Produktionsleistung sei. Sie sollte deshalb auch von diesem Standpunkt aus bestimmt und gesteuert werden.1536 1532 Ebd., S.14. 1533 Ebd. 1534 Helmut Schelsky, Die Jugend der industriellen Gesellschaft und die Arbeitslosigkeit, in: Deutscher Gewerkschaftsbund (Hrsg.), Arbeitslosigkeit und Berufsnot der Jugend, Bd.2, S.269-314, hier: S.273. 1535 Ebd., S. 275. 1536 Ebd.

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Anschließend charakterisierte Schelsky die allgemeine Lage der modernen deutschen Gesellschaft. Diese werde seit etwa 150 Jahren von statischen zu dynamischen Strukturen stetig umgewandelt. Diese Entwicklung habe sich insbesondere während und nach dem Zweiten Weltkrieg beschleunigt. Allerdings beobachtete Schelsky auch heute noch Reste der statischen Gesellschaftsstruktur, die sich »mit den Strukturen einer dynamisch-mobilen Gesellschaft mischen.«1537 Arbeitslosigkeit und Berufsnot der Jugend seien extreme Ausdrucksformen der zeitgenössischen Gesellschaftslage. Somit gäbe die sozialwissenschaftliche Analyse der arbeits- und ausbildungssuchenden Jugend einen tiefen und geschärften Einblick in die als normal einzustufende soziale Situation der westdeutschen Jugend. Dies galt vor allem auch deshalb, weil sich von den Extremfällen her bestimmte grundsätzliche Verhältnisse und Entwicklungen der Jugendlichen in der »industriell-bürgerlichen Sozialverfassung« deutlicher konturieren ließen.1538 Die Arbeitslosigkeit wirke »in ihren Folgen als eine Verstärkung der dynamischen Gesellschaftselemente […,] sie beschleunigt in dem von ihr betroffenen Kreis der Jugendlichen die Ausbildung der typischen Verhaltensweisen der industriell-bürokratischen Gesellschaft und baut die Reste des altständischen Sozialverhaltens in einem schnelleren und umfangreicheren Maße ab, als es bei der beschäftigten Jugend der Fall ist.«1539 Die typischen Erscheinungen der modernen industriell-bürokratischen Gesellschaft hatte Schelsky bereits in seiner Familiensoziologie skizziert. Die Dynamisierung der Gesellschaft griff er auch in seiner Jugendstudie auf. Im Ergebnis kam er zu dem Resultat, dass die arbeitslosen Jugendlichen größte Anpassungsschwierigkeiten an die neuen gesellschaftlichen Umstände hatten. Dies zeige sich insbesondere an ihrem Verhältnis zu einer nun nicht mehr familienkonformen, sondern mehr abstrakten Öffentlichkeit sowie zur abstrakt rationalen Regierungsform des demokratischen Systems. Hieraus ergäbe sich »eine Abwendung von den Bindungen an die weitere soziale Umwelt«, »eine Stimmung des Verlassen- und Verratenseins durch die Großorganisationen aller Art mit all den dazugehörigen Formen des Ressentiments, eben jenes gesamtgesellschaftliche Desinteressement, das wir heute unter der populären Formel der ›Ohne-uns-Haltung‹ zu begreifen uns gewöhnt haben.«1540

1537 1538 1539 1540

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Ebd., S.276. Ebd., S.277f. Ebd., S.278. Ebd., S.306f.

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Am Schluss seines Aufsatzes skizzierte Schelsky aus den sozialempirischen Daten abgeleitete mögliche sozialpolitische Maßnahmen. Da Jugendarbeitslosigkeit und Berufsnot auf dem Land besonders ausgeprägt seien, sollten erstens Berufsberatung und -aufklärung, die Schaffung neuer Lehr- und Ausbildungsmöglichkeiten und die Bekämpfung des Missbrauchs sozialer Hilfs- und Unterstützungseinrichtungen auch auf diese Gebiete ausgedehnt werden. Zweitens sollten die »sozialen Leitbilder und Beurteilungsmaßstäbe für die Berufs- und Arbeitswelt […] den Veränderungen der industriellen Produktionstechnik und ihren Auswirkungen« angeglichen werden.1541 Drittens seien die Arbeits- sowie Lehrund Ausbildungsmöglichkeiten für die arbeitslose Jugend so zu gestalten, dass sie den Erfordernissen eines allgemein zu erwartenden häufigeren Berufswechsels und dem mit der ökonomischen Dynamik verbundenen raschen Wandel der Arbeitsanforderungen gerecht würden. Die Stabilität garantierende Familie sollte viertens in ihren Selbsthilfemöglichkeiten gestärkt und gestützt werden.1542 Schließlich müssten fünftens den neuen gesellschaftlichen Verhältnissen angemessene Formen der Kommunikation zwischen Behörden oder Organisationen und den Jugendlichen gefunden werden. Es galt, die Jugend über die modernen Verhältnisse aufzuklären und sie zur »verständnisvollen Mitarbeit an den gesamtgesellschaftlichen Maßnahmen und Angelegenheiten zu erziehen.«1543 Der von Schelsky 1955 herausgegebene und eingeleitete Band Arbeiterjugend gestern und heute setzte die Forschungsarbeiten der frühen 1950er Jahre fort. Die Absicht sei, »die ›Gestalt‹ oder soziologische Struktureinheit der gegenwärtigen westdeutschen Arbeiterjugend festzustellen.«1544 Dabei sollten sowohl strukturelle Vergleiche mit den Charakteristiken der Arbeiterjugend in der Vergangenheit als auch mit der bürgerlichen Jugend und der Erwachsenenwelt angestellt werden. Dadurch sollte »eine einheitliche und von anderen sozialen Gruppen deutlich abhebbare Struktur und Gestalt der Arbeiterjugend« herausgearbeitet werden können.1545 Die Untersuchungen basierten auf einer Fragebogenerhebung bei rund 1.300 Hamburger Berufsschülern aller Berufssparten. Zusätzlich wurden erneut Monografien über Gruppen von mehrheitlich in Betrieben, weniger häufig in Wohnheimen und Jugendlagern arbeitenden Jugendlichen Nord- und Westdeutschlands angefertigt. Auch Gruppendiskussionen in den gewerkschaftlichen und sozialistischen Jugendverbänden sowie mit Jugendleitern und Berufsschullehrern wurden nach einem festgelegten Schema geführt

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Ebd., S.312f. Ebd., S.313. Ebd., S.313f. Helmut Schelsky, Einführung, in: ders. (Hrsg.), Arbeiterjugend gestern und heute. Heidelberg 1955, S.9-15, hier: S.9. 1545 Ebd., S.10.

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und anschließend qualitativ wie quantitativ ausgewertet.1546 Organisatorisch trug das Projekt die Akademie für Gemeinwirtschaft, da die Mehrzahl der Mitarbeiter und Interviewer dort studierte. Nach Vermittlung Andersons vom HICOG unterstützten die Besatzungsbehörden die Untersuchung mit umfangreicheren finanziellen Mitteln.1547 Das Ergebnis war indes ernüchternd, denn »eine spezifische Sozialgestalt der jungen Generation, eine eigenständige soziale Welt, Bewußtseinslage oder Verhaltensstruktur« konnte nicht ausgemacht werden.1548 Die bekannteste Studie Schelskys, die aus der empirischen Jugend- und Familiensoziologie hervorging, war Die skeptische Generation von 1957.1549 Für diese Synthese verwendete er zusätzliches empirisches Datenmaterial, das unter anderem aus drei repräsentativen Jugendbefragungen des EMNID -Instituts stammte.1550 Trotz großer zeitgenössischer Popularität ist das Buch in jüngster Zeit stark unter Beschuss geraten: Wolfgang Kersting erkennt darin eine autobiografische Aufarbeitung des Aufstiegs der Bundesrepublik aus den Trümmern des Nationalsozialismus.1551 Nach Michael Buckmiller betreibe Schelsky darin eine spezifische »Identitätsarbeit«, die eine »Strategie der indirekten Entsorgung der deutschen Geschichte von den Verbrechen des Nationalsozialismus« darstelle.1552 Theoretisch folgte die Studie der Annahme, dass Jugend kein »soziales Gebilde« und deshalb auch kein Gegenstand der Sozialwissenschaft sei. Vielmehr handele es sich zunächst um eine Lebensphase.1553 Schelsky sah in der Jugend eine »soziale Rolle«, in der der Mensch »nicht mehr die Rolle des Kindes spielt […] und in der er noch nicht die Rolle des Erwachsenen als vollgültigen Trägers der sozialen Institutionen, also z.B. der Familie, der Öffentlichkeit und politischen Ordnung, der Rechts- und Wirtschaftsordnung usw., übernommen hat.«1554 In Anlehnung an Karl Mannheim arbeitete er drei Generationen der deutschen Jugend in Vergangenheit und Gegenwart heraus: die Generation der Jugendbewegung, zu der etwa sein Lehrer Hans Freyer zählte, diejenige der politischen Jugend, die Schelsky als Hauptträger nationalsozialistischen und völkischen Gedankenguts sah, und »die deutsche Jugend nach dem zweiten Weltkriege, für die

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Ebd., S.13. Ebd., S.15. Ebd., S.11. Kempf, Wider die Wirklichkeitsverweigerung, S.96. Schelsky, Die skeptische Generation, S.6. Wöhrle, Zur Aktualität von Helmut Schelsky, S.89. Zitiert nach: ebd., S.100. Schelsky, Die skeptische Generation, S.11. Siehe auch ebd., S.12. Ebd., S.16.

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wir vorläufig die Bezeichnung ›die skeptische Generation‹ gewählt haben.«1555 Letztere umfasse nach Wöhrle die Jahrgänge von etwa 1927 bis 1935 und teile mit den vorausgegangenen Generationentypen »das Grundproblem, sich in irgendeiner Weise zu dem industriegesellschaftlichen Strukturumbruch und dem gerade rekapitulierten Strukturdualismus verhalten zu müssen«.1556 Was sie aber von den anderen Generationen abgrenze, waren nach Schelsky die »Auflösung und Abstoßung der politischen Generationsgestalt«, ihr skeptischer und nüchterner Wirklichkeitssinn, »der sie von der romantischen Geisteshaltung der Jugendbewegung und dem ideologischen Denken der ›politischen Jugend‹ unterscheidet«.1557 Auffällig sei bei dieser »skeptischen Generation«, dass sie keine für Jugendliche spezifische Haltung zur Schau trage und sich den erfolgreichen sozialen Handlungsformen der Erwachsenen anpasse.1558 Er konstatierte, dass dieser Skeptizismus und Realismus oft »etwas Übertriebenes und Krampfhaftes an sich hat, ja daß die Jungen zuweilen mit ihrer vermeintlichen Weltsicherheit, ihrem Materialismus und ihrer Abgebrütheit bewußt kokettieren und sie überstilisieren.« Dabei trete auf, was schon für die Familien beobachtet worden sei, nämlich »der Widerspruch zwischen dieser sozial und zeitgeschichtlich determinierten Verhaltensform mit der immer noch vorhandenen konstitutionellen Unreife als typische Schwäche dieses Jugendverhaltens«. Das Problem der »skeptischen Generation« sah er in deren »Pseudo-Erwachsenheit«.1559 Schelsky kam dann auf die Verwahrlosung der Jugendlichen zu sprechen. Er konstatierte, dass bei Flüchtlings- und Vertriebenenfamilien jugendliche Verwahrlosung und Kriminalität »prozentual in einem geringeren Maße« festzustellen sei »als unter Jugendlichen einheimischer Familien, während wir doch auf Grund des schweren sozialen Schicksals hier eigentlich das umgekehrte Verhältnis zu erwarten geneigt waren.«1560 Dies bedeute, dass ein die privaten und familiären Selbstbehauptungs- und Bindekräfte mobilisierender »gesamtgesellschaftlicher Notstand« die Jugend, gemessen an der sozialen Stabilität der Umwelt, weniger in Verwahrlosung und Kriminalität treibe als der »Normalzustand« der modernen Industriegesellschaft, in der die Familie ihrer lebensnotwendigen Funktion mehr oder weniger enthoben war.1561 Auch hier wiederholte Schelsky eine bereits in seiner Familiensoziologie getroffene Feststellung und übertrug sie auf die Jugend. Am Schluss seiner Abhandlung stellte er schließlich Prognosen für die Jugendgeneration der deutschen Nachkriegszeit 1555 Ebd., S.57. Siehe auch ebd., S.58-84. Vgl. Wöhrle, Zur Aktualität von Helmut Schelsky, S.94f. 1556 Wöhrle, Zur Aktualität von Helmut Schelsky, S.94. 1557 Schelsky, Die skeptische Generation, S.88. 1558 Ebd., S.92f. 1559 Ebd., S.93. 1560 Ebd., S.136. 1561 Ebd., S.137f.

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auf: Zunächst werde sie »nie revolutionär [werden], in flammender kollektiver Leidenschaft auf die Dinge reagieren. Sie trägt kein Bedürfnis in sich, elitäre Gemeinschaften zu stiften oder Ordnungsprinzipien zu verwirklichen.«1562 Außerdem werde sie »eine stille Generation«, »die sich damit abfindet und es besser weiß als ihre Politiker, daß Deutschland von der Bühne der großen Politik abgetreten ist.«1563 Schelsky war zudem optimistisch, dass entgegen mancher misstrauischer Warnung »die berufliche Sachleistung sich in dieser Generation eher steigern als vermindern wird«.1564 Dabei sah er die »skeptische Generation« als die deutsche Version einer Generation, die für alle industriellen Gesellschaften, so auch für die Vereinigten Staaten oder England, charakteristisch sei.1565 Insofern ist die von Kersting und Buckmiller jüngst geäußerte Kritik nicht unberechtigt, denn Schelsky versenkte die für die deutsche Nachkriegsjugend prägende NS-Vergangenheit in einer Soziologie der Funktionen und Institutionen der modern-industriellen Gesellschaftsform. 8.2.4 Sozialempirisches Wissen und Transformation der westdeutschen Gesellschaft Von Schelsky und seinen Mitarbeitern bis Mitte der 1950er Jahre verwendete analytische Begriffe wie »Gestalt«, »Ganzheit« und »Struktur« verweisen auf einen von Willi Oberkrome für die sogenannte Volksgeschichte beobachteten wissenschaftshistorischen Tatbestand: Demnach habe die Volksgeschichte, die zur völkischen, methodisch gesehen ganzheitlich-multidisziplinär, politisch-ideologisch aber revisionistisch ausgerichteten Volks- und Kulturbodenforschung gehörte, nach 1945 – so Oberkromes These – die völkischen Elemente abgestreift. So habe sie in die Struktur- und Sozialgeschichte Kölner, Bielefelder und Hamburger Prägung überführt werden können, was auch angesichts der Kontinuitäten der Laufbahnen einzelner Protagonisten unschwer nachvollzogen werden kann.1566 Für Schelskys Forschungskonzepte und Begriffe ist dies ebenfalls zutreffend. Ergänzt werden kann, dass ihm dies vor allem durch die Überführung seines im völkischen Denken wurzelnden Idioms mittels Übersetzung älterer, ganzheitlich-strukturell angelegter deutscher Ansätze in solche der amerikanischen Sozialwissenschaften gelang. Die sozialempirischen Veröffentlichungen Schelskys und seiner Mitarbeiter wurden bis weit in die 1960er Jahren national und international breit rezipiert, teils mehrfach aufgelegt und in andere Sprachen übersetzt. Seine Soziologie der 1562 1563 1564 1565 1566

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Ebd., S.488f. Ebd., S.489. Ebd., S.490. Ebd., S.493. Vgl. Oberkrome, Volksgeschichte.

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Sexualität in der Reihe »rowohlts deutsche enzyklopädie« war wohl das meistverkaufte soziologische Buch in den 1950er und 1960er Jahren. Bis 1983 erlebte es 22 Auflagen mit 192.000 Exemplaren. Zudem wurde es ins Niederländische, Italienische, Portugiesische, Spanische, Französische und Griechische übersetzt, gleichwohl eine englische Übersetzung ausblieb.1567 Dies kann von den frühen sozialempirischen Arbeiten des IfS nicht behauptet werden. Während The Authoritarian Personality und allgemein die »Studies in Prejudice« in den Vereinigten Staaten große Beachtung fanden, wurden sie auch wegen der fehlenden Übersetzung in Westdeutschland kaum rezipiert. Auch der von Pollock zusammengestellte Studienbericht des »Gruppenexperiments« von 1955 fand zunächst kaum Verbreitung. Das lag auch an der zögernden Haltung der IfSDirektoren, die nicht alle Forschungsergebnisse dem westdeutschen Publikum zugänglich machen wollten. Methodisch und praktisch wiesen die von Schelsky an der Akademie für Gemeinwirtschaft geleiteten sozialempirischen Untersuchungen der frühen 1950er Jahre sowie das »Gruppenexperiment« und die daran anschließenden Untersuchungen des IfS viele Gemeinsamkeiten auf. Dazu gehörten die Erstellung von qualitativen Monografien als strukturelle Vertiefung einer soziologischen und psychologischen Sachlage sowie Auswertungsgrundlage, die grundsätzliche Skepsis gegenüber rein quantitativen Methoden und deren Aussagekraft, da statistische Methoden allein in ihren Augen die soziale Wirklichkeit nur unzureichend erfassen würden. Damit legitimierten beide Denkkollektive, keine Repräsentativität der von ihnen verwendeten Datengrundlage anzustreben. In einem anderen Punkt unterschieden sich die beiden Denkkollektive jedoch erheblich: Horkheimer und vor allem Adorno sahen das allgemeine Desinteresse und die politische Apathie der westdeutschen Bevölkerung als Ergebnis einer traumatischen Enttäuschung von durch die NS-Propaganda geschürten Erwartungen sowie von verdrängten Schuldgefühlen gegenüber den Opfern des Nationalsozialismus. Bei Schelsky dagegen war dieser Befund lediglich Phänomen eines in allen modernen Gesellschaften stattfindenden Wandels von einer ehemals ständischen zur industriell-bürokratischen Gesellschaft. Der Nationalsozialismus fand bei ihm lediglich unter diesem Aspekt unter seiner hemmenden oder katalysierenden Wirkung Berücksichtigung. Die NS-Verbrechen erwähnte er 1567 Vgl. Fischer, Philosophische Anthropologie  – Ein wirkungsvoller Denkansatz, S.322f., 330; Kempf, Wider die Wirklichkeitsverweigerung, S.88. Noch 1971 erschien ein Beitrag Schelskys über die sozialen Formen der sexuellen Beziehungen in einem Handbuch der medizinischen Sexualforschung, was ein Indiz dafür ist, dass er auch in den frühen 1970er Jahren in Westdeutschland als Spezialist für die Soziologie der Sexualität wahrgenommen wurde. Siehe Helmut Schelsky, Soziologie I : Die sozialen Formen der sexuellen Beziehungen, in: Hans Giese (Hrsg.), Die Sexualität des Menschen. Handbuch der medizinischen Sexualforschung. Stuttgart 1971, S.133-170.

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mit keinem Wort. Während das Denkkollektiv um Horkheimer versuchte, durch sozialempirische Erhebungen die psychopathologische Lage der Westdeutschen zu analysieren, ließ Schelsky den Nationalsozialismus und dessen Folgen in institutionentheoretisch-funktionalistisch gedachten sozialen Prozessen verschwinden.

9. Orientierungswissen: Philosophisch-soziologische Gesellschaftskritik, Institutionen- und Techniksoziologie Mit der deutschen Niederlage 1945 fiel der Nationalsozialismus als ideologische Orientierung und Ordnungsstruktur für die Deutschen schlagartig weg. Das daraus resultierende Vakuum sollten im amerikanischen, britischen und französischen Sektor die politisch-moralischen Werte der liberalen Demokratie ausfüllen. Insbesondere die Amerikaner propagierten »individuelle Freiheit«, »Eigenständigkeit«, »Individualität«, »Offenheit« und »Kreativität«.1568 In ihren Augen handelte es sich hierbei um Ideen, nicht um Ideologeme. Letztere waren für sie aus totalitarismustheoretischer Sicht allein mit der NS-Weltanschauung und kommunistischem Denken verbunden. Dem schlossen sich zahlreiche westliche Intellektuelle sowie Wissenschafts- und Kulturpolitiker an, indem sie liberale Ideen- und Denksysteme als entscheidende Kampfmittel in Stellung brachten. Es verwundert daher nicht, dass die politische Ideengeschichte ihre Blütezeit in den 1950er und frühen 1960er Jahren erlebte. Ihre Vertreter waren vielfach deutsch-jüdische Emigranten, die »intellectual history« als sozialhistorisch erweiterte und politisch wertende »alteuropäische Ideengeschichte« verstanden. Damit grenzten sie sich von einer distanzierten und wertfreien Wissenschaftspraxis ab. Sie beeinflussten mit ihren häufig moralphilosophisch begründeten Arbeiten auch die politische Öffentlichkeit. Zu den Protagonisten zählten nicht nur studierte Historiker wie Fritz Stern, Felix Gilbert, Carl Schorske, Isaiah Berlin und Leonard Krieger, sondern auch Sozialwissenschaftler wie Franz Neumann und Herbert Marcuse.1569 1568 Vgl. Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft, S.208; Reitmayer, Elite, S.100-102. Vgl. Cohen-Cole, The Open Mind, S.1f. 1569 Hübinger, Engagierte Beobachter, S.196-200. Siehe auch Dubnov, Isaiah Berlin, S.145-200; Malachi H. Hacohen, Leonard Krieger: Historicalization and Political Engagement in Intellectual History, in: History and Theory 35 (1996) 1, S.80-130; Müller, Krieger und Gelehrte, S.317-339. Spezifisch für die Bundesrepublik siehe Frank Schale/Sebastian Liebold, Intellectual History der Bundesrepublik. Ein Werkstattbericht, in: Denkströme. Journal der Sächsischen Akademie der

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orientierungswissen

In den Augen von Sozialwissenschaftlern sowie amerikanischen Politikern sollten neben Politikwissenschaft, Geschichte und Philosophie die Sozialwissenschaften, vor allem aber die Soziologie, das ideologische Vakuum in Westdeutschland füllen. Als »Demokratisierungswissenschaften« sollten sie demokratieförderndes Wissen generieren und es öffentlich vermitteln. Die Orientierungswissen generierende Wissensebene beider hier behandelter Denkkollektive sollte sich als konstitutiv für die Legitimierung der Sozialwissenschaften in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft erweisen.1570 Beim Denkkollektiv um Horkheimer geschah dies als breit angelegte Gesellschaftskritik und Anleitung zur Stützung von nonkonformistischen, Ich-starken Haltungen, die gesellschaftlichen Zwängen standhalten konnten, bei Schelsky als kritische Zeitdiagnose wissenschaftlich-technisch bedingten sozialen Wandels der modernen Welt im Allgemeinen und der Bundesrepublik im Besonderen. Hierbei darf, darauf weist Johannes Weyer zu Recht hin, nicht vergessen werden, dass »die Soziologie in den 50er Jahren keinesfalls unumstritten war, sondern erheblich um ihre Anerkennung kämpfen mußte«.1571 Im Grunde sei erst mit dem Einsetzen des Bildungsbooms in den 1960er Jahren klar gewesen, »daß die Soziologie sich ihren Platz im System der Wissenschaften gesichert hatte und auch in institutioneller Hinsicht nicht mehr um ihren Bestand fürchten mußte.«1572 Auch für die hier untersuchte Wissensebene ist deshalb die wechselseitige Ressourcenmobilisierung zwischen Sozialwissenschaften, Politik und Öffentlichkeit mit zu bedenken. In den frühen 1950er Jahren teilten die Mitglieder der beiden Denkkollektive wie die meisten anderen Akteure im Feld der Sozialwissenschaften die Ansicht, dass sie ideelle Aufbauarbeit für die junge Bundesrepublik leisten konnten. Auch die Vertreter der SFS sprachen der Soziologie einen umfassenden Geltungsanspruch sowie eine gesamtgesellschaftliche Erziehungs- und Gestaltungsaufgabe zu. Sie leiteten daraus die Auffassung ab, dass, so Weyer, »ihre Disziplin nicht eine von vielen, sondern quasi die ›Mutterdisziplin‹ ist.«1573 Paul Nolte konstatiert diesbezüglich,

1570 1571 1572 1573

schaften 16 (2016), S.97-119, hier: S.99. Vgl. auch A. Dirk Moses, Forum: Intellectual History in and of the Federal Republic of Germany, in: Modern Intellectual History 9 (2012) 3, S.625-639. Eng verbunden mit der politischen Ideengeschichte war die Politikwissenschaft, die sich wie die Soziologie durch ihre Funktion als »Demokratiewissenschaft« bzw. »Demokratiserungswissenschaft« legitimierte. Siehe dazu Alfons Söllner, Normative Verwestlichung. Der Einfluss der Remigranten auf die politische Kultur der frühen Bundesrepublik, in: Bude/Greiner (Hrsg.), Westbindungen, S.72-92. Vgl. dazu Mittelstraß, Wissen und Grenzen, S.13-32. Weyer, Westdeutsche Soziologie, S.176. Ebd., S.179. Ebd., S.293.

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»daß die politische Funktion und Wirkung der deutschen Soziologie selten größer war als in den fünfziger Jahren. Sie bemühte sich erfolgreich, worauf René König hingewiesen hat, um eine ›Diffusion soziologischer Grundeinsichten auf weitere Bevölkerungskreise‹ durch die Fachliteratur verlassende Publikationen, durch ungezählte Vorträge im Rundfunk, in Volkshochschulen oder Akademien.«1574 Auf dieser Wissensebene konkurrierten die Denkkollektive um Horkheimer und Schelsky zwar um epistemische Deutungshoheit und gesellschaftlichen Wahrheitsanspruch. Allerdings bestanden etwa bis Mitte der 1950er Jahre neben allen Differenzen zwischen beiden auch zahlreiche diskursive Übereinstimmungen. Das sozialwissenschaftliche Orientierungswissen beider Denkkollektive dockte an das von amerikanischen Bildungs- und Kulturoffizieren geförderte und von westlichen wie auch deutschen Intellektuellen konstituierte ideelle Ordnungsschema einer Westausrichtung des besetzten Deutschlands an.1575 Dieses hatten zunächst Medien wie Bücher, Zeitschriften und der Rundfunk geformt. Später kamen noch Kino und Fernsehen hinzu. Die Bereitstellung amerikanischer Literatur und anderer Informationsmedien im Rahmen der US-Umerziehungspolitik spielte eine entscheidende Rolle. Neben Marburg wurde Westberlin durch die mithilfe der Ford-Foundation erbaute Universitätsbibliothek und die 1952 erbaute American Memorial Library zum Bibliothekszentrum, wofür die Amerikaner fünf Millionen DM aufwandten. Zusätzlich stellten sie eine Million DM für Bücher und Zeitschriften zur Verfügung. In den Amerika-Häusern, den Information Centers, von denen es 1953 etwa 40 in Westdeutschland gab, wurden spezielle Bibliotheken eingerichtet, in denen Publikationen der amerikanischen Militärregierung, Forschungsliteratur und Belletristik aus den Vereinigten Staaten genutzt werden konnten.1576 Auch die Amerika-Institute bauten Bibliotheken auf. In München geschah dies beispielsweise mithilfe der Rockefel1574 Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft, S.272. 1575 Raphael, Embedding the Human and Social Sciences, S.44. Siehe auch Marcus M. Payk, Der Geist der Demokratie. Intellektuelle Orientierungsversuche im Feuilleton der frühen Bundesrepublik: Karl Korn und Peter de Mendelssohn (Ordnungssysteme, Bd.23). München 2008, S.117-124. 1576 Weyer, Westdeutsche Soziologie, S.369. Siehe auch Paulus, Vorbild USA?, S.286, 449-467. Allgemein zur »amerikanischen Kulturoffensive« und zur Verbindung von Kulturpolitik und Reeducation im postfaschistischen Westdeutschland siehe Maritta Hein-Kremer, Die amerikanische Kulturoffensive. Gründung und Entwicklung der amerikanischen Information Centers in Westdeutschland und WestBerlin 1945-1955 (Beiträge zur Geschichte der Kulturpolitik, Bd.6). Köln/Weimar/Wien 1996, S.89-553. Siehe auch Waldemar Krönig/Klaus-Dieter Müller, Nachkriegssemester. Studium in Kriegs- und Nachkriegszeit, mit einem Vorwort

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ler Foundation. Gehlen und Schelsky nutzten derartige Bibliotheksbestände, wie gezeigt, ausgiebig, um sich nach 1945 als moderne Soziologen westlichen Schlags neu zu positionieren. Zudem spielten Radiostationen wie der RIAS (Rundfunk im amerikanischen Sektor) in Westberlin und Radio Free Europe mit Hauptsitz in München bei der ideellen Westorientierung eine herausragende Rolle.1577 Nachdem die Pressekontrolle in den westlichen Besatzungszonen bereits 1946/47 an die Deutschen abgegeben worden war, dominierten bestimmte Gruppen deutscher Gelehrter die weitere Neuausrichtung des westdeutschen intellektuellen Felds.1578 Deren Mitglieder, so Sean Forner, »formulated a vision of democratic renewal that emphasized the intrinsic value of each person’s participation in shaping the political and socio-economic life of all.« Was sie vereinte, waren ihr Antifaschismus und ihre Vergangenheit als NS-Verfolgte oder -Unterdrückte. Diese Intellektuellen, so Forner weiter, bildeten ein Netzwerk aus mit alliierter Unterstützung gegründeten Zeitschriften und Vereinigungen. Außerdem hielten sie Kongresse ab, die sie in den Dienst der Demokratisierung stellten.1579 Dabei arbeiteten sie eng mit alliierten, aber auch mit westdeutschen Wissenschafts- und Kulturpolitikern zusammen. Ihr Ziel war, das zu schaffen, was Jürgen Habermas in seiner Habilitationsschrift von 1962 »bürgerliche Öffentlichkeit« nennen sollte.1580 Ihr Selbstverständnis als Intellektuelle in der westdeutschen Gesellschaft erfuhr dabei eine positive Aufwertung: Im Gegensatz zur im deutschsprachigen Raum vor 1945 stark ausgeprägten Intellektuellenfeindlichkeit wandelte sich der Intellektuelle nun zur formierenden Kraft einer kritischen Öffentlichkeit.1581 Besonderen Einfluss hatten darauf Journalisten, insbesondere Feuilletonjournalisten, die anspruchsvolle kulturelle und kri-

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v. Walter Rüegg, einer Rede v. Hebert Schöffler vom 28.10.1945 sowie einem statistischen und dokumentarischen Anhang. Stuttgart 1990, S.240f. Payk, Der Geist der Demokratie, S.118. Vgl. auch Scott H. Krause, Neue Westpolitik: The Clandestine Campaign to Westernize the SPD in Cold War Berlin, 1948-1958, in: Central European History 48 (2015) 1, S.89-99, hier: S.81-89. Vgl. Boll, Nachtprogramm; Axel Schildt, Zwischen Abendland und Amerika. Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft der 50er Jahre (Ordnungssystem, Bd.4). München 1999, S.83-110. Forner, German Intellectuals, S.46. Ebd., S.3. Vgl. auch ebd., S.43. Strote, Lions and Lambs, S.151. Siehe Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, 8. Aufl. Neuwied/Berlin 1976 [1962]. Vgl. auch Payk, Der Geist der Demokratie, S.12-18. Kießling, Die undeutschen Deutschen, S.59-66. Zur Intellektuellenfeindlichkeit speziell in Deutschland siehe Bering, Die Epoche der Intellektuellen, S.61-129. Siehe auch Reitmayer, Elite, S.69-99.

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tische Beiträge in den öffentlichen Medien publizierten.1582 Darüber hinaus konstatiert Paul Nolte, dass der Begriff »Gesellschaft« und Adjektive wie »sozial« nach 1945 zu einem Leitkonzept intellektueller Orientierung im Nachkriegsdeutschland verschmolzen.1583 Dabei war die Praxis der offenen Diskussion selbst für solche Gruppen ein Schlüsselmechanismus für die politische Selbsterziehung, deren Freiheit erst von den Alliierten legitimiert worden war.1584 Nina Verheyen zeigt, dass die amerikanischen Besatzer Argumentieren und Diskutieren als entscheidende Mechanismen für die demokratische Neuerziehung der Deutschen ansahen. Durch Meinungsaustausch und das Einüben diskursiver Verhaltensformen sollte in der westdeutschen politischen und Intellektuellenkultur eine »Habitualisierung demokratischer Handlungsmodi in allen Sphären der Gesellschaft« erreicht werden. Dies sollte einer faschistischen und kommunistischen Ideologisierung entgegenwirken.1585 Hierzu gehörten Radiodiskussionen, öffentliche Foren und Bürgerversammlungen sowie Debatten, die in den meist monatlich erscheinenden Bildungs- und Kulturzeitschriften ausgetragen wurden.1586 Auch die beim »Gruppenexperiment« des IfS genutzte Methode der Gruppendiskussion zählte zu diesem Kontext. Und Walter Dirks sprach auf dem dritten Deutschen Studententag 1954 der Soziologie gerade deshalb eine gesellschaftliche Schlüsselstellung zu, weil sie der deutschen Bevölkerung eine Art soziologisches Alltagsbewusstsein zum Zweck der Selbstreflexion vermitteln könne.1587 Die meisten der an diesem Prozess beteiligten deutschen Intellektuellen und Kulturarbeiter standen auf den von den Amerikanern erstellten »white lists«. Ihnen war eine antinazistische Einstellung attestiert worden, da sie in der NSZeit entweder emigrieren mussten oder ihre berufliche und soziale Stellung verloren hatten. Dazu gehörten unter anderem Karl Jaspers, Walter Dirks, Erich Kästner, Alfred Weber, Eugen Kogon, Golo Mann und Alfred Döblin. Golo Mann arbeitet als Kontrolloffizier der Amerikaner bei Radio Frankfurt. Döblin war Zensor für die Franzosen in Baden-Baden, wo er die Literaturzeitschrift 1582 Christina von Hodenberg, Die Journalisten und der Aufbruch zur kritischen Öffentlichkeit, in: Herbert (Hrsg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland, S.278-311. 1583 Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft, S.219, 244. 1584 Forner, German Intellectuals, S.49. 1585 Verheyen, Diskussionslust, S.60. Vgl. auch ebd., S.65-150. 1586 Vgl. Schwarz, »Er redet leicht, schreibt schwer«. Horkheimer und Adorno waren keineswegs die einzigen Gelehrten, die öfters im Radio auftraten. Siehe z.B. für Arnold Bergstraesser Schale/Liebold, Intellectual History der Bundesrepublik, S.107f. Zur Begriffsdefinition von ›Kulturzeitschrift‹ siehe Reitmayer, Elite, S.47-54. 1587 Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft, S.216f. Vgl. auch Koch, Theodor W. Adorno, S.130f.

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Das Goldene Tor herausgab.1588 Die wichtigsten und verbreitetsten Zeitschriften, in denen sich der intellektuelle Demokratisierungsdiskurs niederschlug, waren Der Monat (1948-1960), Neues Abendland (1946-1958), Der Ruf (19461949), Merkur (1947-1960), Die Wandlung (1945-1949), die Frankfurter Hefte (1946-1960), Ost und West (1947-1949), Aufbau (gegr. 1934) und Die Weltbühne, die 1905 unter dem Namen Die Schaubühne gegründet worden war, im März 1933 zum letzten Mal erschien und nach dem Zweiten Weltkrieg in Ostberlin wieder bis 1993 gedruckt wurde. Allein die Frankfurter Hefte hatten eine Auflage von 50.000, Ost und West sogar von 70.000 Stück. Die Redaktionen beider Zeitschriften berichteten, dass sie für das Jahr 1947 Bestellungen von über 150.000 Stück erhalten hätten.1589 Bis auf Die Weltbühne, die eine Art intellektuelle Brücke zwischen Ost und West darstellte, waren diese Zeitschriften antikommunistisch beziehungsweise antitotalitär ausgerichtet.1590 Den in der neuen Öffentlichkeitsstruktur entstehenden Diskurs förderten zudem Verleger wie Fischer, List, Piper, Ullstein, Diederichs und Suhrkamp, die wissenschaftliche Bücher für ein intellektuell interessiertes Publikum publizierten. Hierzu gehörte auch »rowohlts deutsche enzyklopädie«, in der Autoren wie Helmut Schelsky, Arnold Gehlen, Alexander Mitscherlich oder Peter R. Hofstätter veröffentlichten.1591 In den Zeitschriften und Verlagsreihen erschienen dabei keineswegs nur Texte von unbelasteten Intellektuellen und Wissenschaftlern, sondern auch von solchen, die vor 1945 der NS-Weltanschauung zugearbeitet hatten. Zu Letzteren zählte etwa Max Hildebert Boehm, der 1951 im Merkur »seine altdeutsche Stammesromantik, sein Wehklagen über die Gefahr der Auflösung und Vermischung der deutschen ›Stämme‹« verbreitete.1592 Morten Reitmayer betont, dass sich auf Basis dieser Zeitschriften, Bücher, Schriftenreihen, publizierten Vorträge, Nachtprogramme des Rundfunks und auch teilweise in den Feuilletons der Tages- und Wochenzeitungen eine literarisch-politische Öffentlichkeit etablierte, die zugleich dem gebildeten Publikum Orientierungswissen bot und dieses aufgrund der Möglichkeit der Teilhabe an diesen Erzeugnissen selbstreferenziell konstituierte.1593 Die Intellektuellen und Wissenschaftler verstanden sich als Elite – dies zeigte sich an ihrer stetig vorgetragenen diskursiven Abgrenzung vom »Massenzeitalter« –, die mit ihrem in die Öffentlichkeit hineingetragenen Wissen die westdeutsche Bevölkerung ideell anleiten wollte.1594 1588 Forner, German Intellectuals, S.48. 1589 Ebd., S.50. 1590 Ebd., S.67; Strote, Lions and Lambs, S.198. Vgl. Kießling, Die undeutschen Deutschen, S.18-23. 1591 Schildt, Zwischen Abendland und Amerika, S.9. 1592 Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft, S.228. 1593 Reitmayer, Elite, S.55. 1594 Ebd., S.55, 103. Vgl. ebd., S.191-277.

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Auch Horkheimers, Adornos, Schelskys und Gehlens Positionsbezüge im öffentlichen Raum sind diesem elitären Orientierungsdiskurs zuzuordnen. Seine Kernelemente waren »das Abendland« und »der Westen«, diskursive Figuren, die auf eine gemeinsame transatlantische, christlich-jüdische Kultur verwiesen.1595 Gerade Vorstellungen wie »das Abendland« knüpften dabei an tradierte Muster aus der Zeit des NS-Regimes an, die partiell auf die Europaideologie der Nationalsozialisten zurückgingen. Nach 1945 wurden sie unter absichtsvollem Verschweigen ihrer Ursprünge und mit dezidiert antikommunistischer Ausrichtung weiter aufrechterhalten.1596 Dabei bestand keineswegs Einvernehmen über die vorbildhafte Orientierungsfunktion für die westdeutsche Öffentlichkeit. Dirks und Kogon kritisierten etwa die Abendland-Idee besonders stark.1597 Dennoch ist bemerkenswert, wie Jörg Später feststellt, dass nicht nur Siegfried Kracauer, »sondern auch bekennende Marxisten wie Kirchheimer, Löwenthal und Marcuse, die allesamt aus dem Horkheimer-Kreis stammten, aber auch Jahoda und Lazarsfeld, einst revolutionäre Sozialisten im ›Roten Wien‹, sich anstandslos auf die Seite des Westens stellten. Es gab darüber noch nicht einmal Debatten, so selbstverständlich war dies.«1598 Das galt ebenso für Adorno wie für Horkheimer, der die selbstverständliche Zugehörigkeit zum Westen so begründete: »Die so genannte freie Welt an ihrem eigenen Begriff zu messen, kritisch zu ihr sich verhaltend und dennoch zu ihren Ideen zu stehen, sie gegen Faschismus hitlerscher, stalinscher oder anderer Varianz zu verteidigen, ist Recht und Pflicht jedes Denkenden. Trotz dem verhängnisvollen Potential, trotz allem Unrecht im Innern wie im Äußern, bildet sie im Augenblick noch eine Insel, räumlich und zeitlich, deren Erbe im Ozean der Gewaltherrschaften auch das Ende der Kultur bezeichnen würde, der die kritische Theorie noch angehört.«1599 Teil dessen war die Forderung nach Verständigung innerhalb des westlichen Diskursraums, die eng mit Antikommunismus respektive Antitotalitarismus ver1595 Philipp Sarasin, Die Grenze des ›Abendlandes‹ als Diskursmuster im Kalten Krieg. Eine Skizze, in: Eugster/Marti (Hrsg.), Das Imaginäre des Kalten Krieges, S.19-43; Schildt, Zwischen Abendland und Amerika, S.30-55. Vgl. Moses, German Intellectuals, S.31; Reitmayer, Elite, S.155f. 1596 Schildt, Ideenimporte, S.14. 1597 Forner, German Intellectuals, S.68f. 1598 Später, Siegfried Kracauer, S.498f. 1599 Zitiert nach: ebd., S.500f.

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bunden war.1600 Dies lässt sich am Beispiel des Kongresses für kulturelle Freiheit zeigen. Unter der Leitung Melvin J. Laskys gab dieser mehr als 20 Zeitschriften heraus, darunter Der Monat (Deutschland), Preuves (Frankreich), Forum (Österreich), Encounter (Großbritannien) und Tempo Presente (Italien). Intellektuelle wie François Boncy, Irving Brown, James Burnham, Arthur M. Schlesinger, Sidney Hook, Michael Josselson, Arthur Koestler, Nicolas Nabokov und Ignazio Silone gehörten ihm als Mitglieder an. Der Kongress richtete in 35 Ländern Büros ein, organisierte Kunstausstellungen und Lesungen.1601 Im Selbstverständnis Laskys fanden sich hier linksliberale Intellektuelle zusammen, die gegen Faschismus und Sowjetkommunismus auftraten. Erst in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre bekam dieses Selbstbild Risse, als herauskam, dass die Institution von der CIA beeinflusst und finanziell unterstützt worden war.1602 Gleichwohl wirkte der Kongress als Plattform, wo die Konstitution westlichen Denkens gegen Fanatismus, Weltanschauungen und Ideologien diskutiert wurde. Hook schrieb 1948 entsprechend: Der Fanatismus politischer und sozialer Lehren, die auf Weltanschauungen basierten, sei dem westlichen Denken fremd.1603 Auch Friedrich Hayeks ausgesprochen populäres Buch The Road to Serfdom von 1944 befeuerte den Antitotalitarismusdiskurs, da es von Radio- und Medienleuten breit rezipiert wurde. Dass die deutsche Übersetzung von 1945 in der unmittelbaren Nachkriegszeit wegen seiner antisowjetischen Stoßrichtung in den westlichen Besatzungszonen verboten war, beflügelte dessen Popularität vermutlich zusätzlich.1604 Zu den kreativen, die bürgerliche Freiheit garantierenden intellektuellen Praxisformen gehörten darüber hinaus »Kultur«, »Geist«, »Bildung« und »Aufklärung«.1605 Die Intellektuellen thematisierten dabei auch durchaus prominent die deutsche NS-Vergangenheit. Forner kommt deshalb zu dem Schluss:

1600 Zum Antikommunismus als treibende Kraft in der Gesellschaft der frühen Bundesrepublik, insbesondere seit 1950, siehe Till Kössler, Die Grenzen der Demokratie. Antikommunismus als politische und gesellschaftliche Praxis in der frühen Bundesrepublik, in: Stefan Creuzberger/Dierk Hoffmann (Hrsg.), »Geistige Gefahr« und »Immunisierung der Gesellschaft«. Antikommunismus und politische Kultur in der frühen Bundesrepublik. München 2014, S.229-250. 1601 Weichlein, Representation and Recoding, S.24f. 1602 Hochgeschwender, Freiheit in der Offensive?, S.559-576. Vgl. auch Dominik Geppert, Intellektuelle und Antikommunismus. Der Kongress für Kulturelle Freiheit und die Gruppe 47, in: Creuzberger/Hoffmann (Hrsg.), »Geistige Gefahr«, S.321-333; Payk, Der Geist der Demokratie, S.146-155, hier: S.321f. 1603 Sidney Hook, Drei Grundzüge westlichen Denkens, in: Der Monat 1 (1948) 2, S.8-17, hier: S.10. 1604 Friedrich A. Hayek, The Road to Serfdom. London 1944. 1605 Forner, German Intellectuals, S.77f., 112.

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»[T]here was no shortage of debate over the past’s meaning, especially in the first years after 1945. Germany’s engaged democrats shaped all aspects of this conversation, taking positions on the causes of National Socialism, the nature of its crimes, and the degrees and kinds of ordinary Germans’ responsibility.«1606 In der Tat veröffentlichte Jaspers bereits 1946 eine erste existenzialistische Deutung der deutschen NS-Vergangenheit unter dem Titel Die Schuldfrage, die auf eine Vorlesung im Wintersemester 1945/46 in Heidelberg zurückging.1607 Martin Niemöller rief am 22. Januar 1946 die Deutschen in einer Rede vor der evangelischen Studentengemeinde in Erlangen zum Schuldbekenntnis auf, was unter den Anwesenden zu lautstarken Protesten führte.1608 Was Forner bei seiner Einordung jedoch übersieht, ist, dass das Thematisieren der NS-Vergangenheit auf einer spezifischen Diskursebene angelegt war: Statt auf einer Analyse- fand es auf einer Deutungsebene statt,1609 auf der es ebenfalls Tabus und verschwiegene Elemente gab. Da also kein analytischer, sondern ein geschichtsphilosophischer, oft auch philosophisch-anthropologischer Zugang gewählt wurde, konnte die NS-Vergangenheit der Deutschen umgangen und der Nationalsozialismus in eine universale oder zumindest westlich-moderne Unheilsgeschichte eingewoben werden.1610 Auch Jaspers betrachtete die Verbrechen der Nationalsozialisten als derart monströs, dass sie nicht durch irgendeine Form systematischer Schuldzuschreibung erfasst werden könnten.1611 Horkheimer und Adorno taten es ihm gleich, während Schelsky aus modernisierungstheoretischer Sicht den soziologisch-sozialanthropologischen Funktionalismus dahingehend operationalisierte, dass er Deutschland in die allgemeine Entwicklung moderner Gesellschaften einpasste. Es ist deshalb A. Dirk Moses Recht zu geben, der diesen Diskurs in weiten Teilen als einen Legitimationsdiskurs betrachtet, habe doch die Bundesrepublik vor einem Dilemma gestanden: Sie sei eine republikanische Demokratie in einer 1606 Ebd., S.114. Vgl. ebd., 129-136. 1607 Gösta Gantner, Das Ende der »Deutschen Philosophie«. Zäsuren und Spuren eines Neubeginns bei Karl Jaspers, Martin Heidegger und Theodor W. Adorno, in: Braun/Gerhardt/Holtmann (Hrsg.), Die lange Stunde Null, S.175-202, hier: S.186-190. 1608 Wolbring, Trümmerfeld der bürgerlichen Welt, S.43f. 1609 Siehe Reitmayer, Elite, S.48. 1610 Vgl. Kießling, Die undeutschen Deutschen, S.230. 1611 Raimund Lammersdorf, Verantwortung und Schuld. Deutsche und amerikanische Antworten auf die Schuldfrage, 1945-1947, in: Bude/Greiner (Hrsg.), Westbindungen, S.231-256, hier: S.232-234. Vgl. Friedmann/Später, Britische und deutsche Kollektivschuld-Debatte, S.74-76. Siehe auch Rabinbach, In the Shadow of Catastrophe, S.141-152.

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posttotalitären, postgenozidalen Gesellschaft gewesen. Solche Gesellschaften müssten sich in jeglicher Hinsicht von dem mörderischen Regime distanzieren, das sie beerbten, um moralische Glaubwürdigkeit zu gewinnen. Gleichzeitig habe die Bundesrepublik viele Personen, die in NS-Verbrechen involviert waren, in ihre Gesellschaft integrieren müssen. Der westdeutsche Staat habe diese Ambivalenz institutionalisiert: »It was the successor regime of the Nazis, liable for its political crimes, while regarding itself as the legitimate representative of the German cultural nation (Kulturnation).«1612 Daraus habe sich ein akutes Legitimationsdilemma ergeben, weil die politischen und intellektuellen Eliten gegenüber dem spürbaren Erbe der NS-Zeit, wie es linke Faschismustheorien betonten, ihre Augen verschließen mussten. Nur so hätten sie ihre Legitimität sichern können, denn eine öffentliche Debatte dieser Kontinuitäten hätte die liberaldemokratische Begründung der Bundesrepublik 1949 diskreditiert. Gleichzeitig habe die Bundesrepublik aber unter einem Legitimationsdefizit gelitten, denn die demokratisch gesinnten Republikaner fürchteten die Unterwanderung des demokratischen westdeutschen Staates durch ehemalige Nationalsozialisten und autoritäre politische Traditionen.1613 Darüber verhandelten die in ihren Haltungen in Bezug auf die Legitimation der Bundesrepublik stark divergierenden Gruppen auf der Ebene des Orientierungswissens äußerst spannungsreich.1614 Auch die hier untersuchten Denkkollektive nahmen an diesem Diskurs Anteil. Ein zentraler Antagonismus zwischen den Akteuren um Horkheimer und denen um Schelsky lag in der Deutung der modernen Technik. Die Bundesrepublik wandelte sich in den 1950er Jahren endgültig zur technologisch fortschrittlichen Industriegesellschaft. Zu diesem Prozess gehörten die infrastrukturelle Erschließung des ländlichen Raums und die fortschreitende Urbanisierung. Nach Paul Nolte verringerte sich der Anteil der in der Landwirtschaft Beschäftigten von einem Viertel aller Erwerbstätigen um 1950 auf nur noch 13,3 Prozent im Jahr 1960.1615 Was die Zeitgenossen besonders deutlich wahrnahmen und was gerade die Mitglieder der beiden Denkkollektive unterschiedlich interpretierten, war die Technisierung nahezu aller gesellschaftlichen Bereiche. Im Vordergrund stand vor allem »der technische Wandel in der Sphäre von Arbeit und Produktion: Massenproduktion und Fließband, Automatisierung und ›zweite industrielle Revolution‹ lauteten die Schlüsselbegriffe dafür«.1616 Friedrich Pollocks

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Moses, German Intellectuals, S.40. Ebd., S.47. Kießling, Die undeutschen Deutschen, S.39-48, 247-251. Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft, S.27. Ebd., S.279. Vgl. auch ebd., S.276, 279f.

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Buch über die »Automation« von 19561617 stellte einen wichtigen Beitrag des technikkritischen Diskurses von linker Seite dar  – und wurde gerade von Schelsky kritisch betrachtet, wie noch gezeigt wird. Nimmt man, Michel Foucault folgend, an, dass Wissen im vorliegenden Fall mit Deutungsmacht im öffentlichen Raum verbunden ist, dann bildeten die Elemente der Orientierungswissen generierenden Wissensebene eine Formation, die diskursive Strukturen und institutionelle, politische und wirtschaftliche Verhältnisse als Bezugssystem verschränkte.1618 Insofern war das von beiden Denkkollektiven geschaffene Orientierungswissen ein Herrschaftswissen, das zum allgemeinen Westernisierungsdiskurs beitrug. Die Verbindung dieser Wissensebene mit den weiteren Gesellschaftssphären stellt sich bei Ludwik Fleck als Verhältnis von esoterischen und exoterischen Kreisen dar. Liegen bei einem Denkkollektiv vielfältige exoterische Kreise vor, werden seine esoterischen umso stabiler. Die mediale Verbindung zwischen beiden stellten dabei Zeitschriften, Schriftenreihen, Kino und Radio her, die »die gedankliche Wechselwirkung innerhalb der Denkgemeinschaft und den Zusammenhang zwischen den esoterischen und exoterischen Kreisen trotz aller Entfernung und trotz geringen persönlichen Verkehres« ermöglichen.1619 Für die beiden sozialwissenschaftlichen Denkkollektive verhielt es sich jedoch anders als für die von Fleck untersuchten Naturwissenschaftler, da sich weit weniger eindeutig zwischen esoterisch-fachmännischem und exoterisch-populärem Wissen unterscheiden lässt.1620 Dies lag an der engeren Beziehung zwischen sozialempirischer, Orientierungswissen generierender und erziehungspolitischer Wissensebene. Medial lag dies auch dran, dass sich die Sozialwissenschaften im Allgemeinen und die Soziologie im Besonderen in den 1950er Jahren im Aufbau befanden und sich Fachzeitschriften erst einmal etablieren mussten.

9.1. Ich-Stärke und Nonkonformismus gegen totalitäre Barbarei Horkheimers und Adornos dialektisch-geschichtsphilosophische Theorie des totalitären Faschismus blieb zwar nur ein Fragment. Sie reihten sich damit aber in die Gruppe der Totalitarismustheoretiker ein, wobei andere Wissenschaftler durchaus andere politische Deutungen repräsentierten. So vertraten für den 1617 Friedrich Pollock, Automation. Materialien zur Beurteilung der ökonomischen und sozialen Folgen (Frankfurter Beiträge zur Soziologie, Bd.5). Frankfurt am Main 1956. 1618 Landwehr, Historische Diskursanalyse, S.76-79; Sarasin, Michel Foucault zur Einführung, S.103, 113. 1619 Fleck, Entstehung und Entwicklung, S.141. 1620 Vgl. ebd., S.148f.

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Ideenhistoriker Isaiah Berlin diejenigen Aufklärer, die einem rigiden Rationalismus anhingen, der Meinungsfragen oder moralische Normen als unwissenschaftlich abtat, und die romantischen Vorreiter späterer völkischer Autoren, die einen starren Monismus verabsolutierten, die gleichen Denkmuster.1621 Im Anspruch der Aufklärung auf Freiheit und Mündigkeit des Menschen lag laut Berlin zugleich ihr potenzieller Umschlag in den Faschismus und Kommunismus des 20. Jahrhunderts begründet. Wie Horkheimer und Adorno zeigen wollten, dass aufklärerische Werte wie Egalität durch ihre instrumentelle Zuspitzung im Nationalsozialismus auf eine auf Antisemitismus gestützte Rassengemeinschaft hinauslaufen konnten,1622 ergab sich für ihn aus den polaren Extremen der aufklärerischen Haltungen und romantischen Ansichten der Totalitarismus des 20.  Jahrhunderts.1623 Die Politikwissenschaftlerin und Journalistin Hannah Arendt führte Faschismus und Kommunismus auf die wachsende Zerstörung des politischen Raums durch die Entfremdung des Individuums in der modernen Massengesellschaft, seine Kontaktlosigkeit und sein Entwurzelt-Sein zurück. Diese Ansicht erinnert an Horkheimers und Adornos Kritik der modernen Konsumgesellschaft, auch wenn sie nicht marxistisch grundiert war.1624 Die Dialektik der Aufklärung wies Kongruenzen mit Arendts Totalitarismusvorstellung auf, denn beide theoretischen Entwürfe stellten eine Fundamentalkritik der Moderne dar.1625 Der Unterschied bestand lediglich darin, dass Horkheimer und Adorno profunder noch als Arendt die Entwicklung der Moderne schlechthin kritisierten und totalitäre Tendenzen auch in liberalen Gesellschaften wie den Vereinigten Staaten am Werk sahen. Alle vier Theoretiker sahen jedoch in der Pluralität, der Differenz und im Ich-gestärkten Individuum Potenziale, einer totalitären Versklavung der Welt entgegenzuwirken.1626 Stärker als Berlin und Arendt standen Horkheimer und Adorno damit in der Tradition linker Deutungen des Faschismus, den sie als universales Phänomen betrachteten. Sie unterschieden sich von der klassischen Linken aber darin, dass sie dem Antisemitis1621 Dubnov, Isaiah Berlin, S.204f. 1622 Diner, Max Horkheimer’s Aporien der Vernunft, S.169f. 1623 Isaiah Berlin, Political Ideas in the Twentieth Century, in: Foreign Affairs 28 (1950) 3, S.351-385, hier: S.354-356. 1624 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft. München 1986 [1951], S.657-702. 1625 Lars Rensmann/Samir Gandesha, Understanding Political Modernity: Rereading Arendt and Adorno in Comparative Perspective, in: dies. (Hrsg.), Arendt and Adorno: Political and Philosophical Investigations. Stanford 2012, S.1-27, hier: S.3f., 9, 12-17, 22-25. Vgl. auch Julia Schulze Wessel/Lars Rensmann, The Paralysis of Judgment: Arendt and Adorno on Antisemitism and the Modern Condition, in: Rensmann/Gandesha (Hrsg.), Arendt and Adorno, S.197-225, hier: S.197200, 213-223. 1626 Vgl. Schulze Wessel/Rensmann, The Paralysis of Judgment, S.222.

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mus eine zentrale Rolle zumaßen.1627 Im Gegensatz zu Arendt glaubten sie allerdings, dass die Deutschen von den Nationalsozialisten erst verführt und dann geknechtet worden seien. In ihren Augen entsprang der Nationalsozialismus nicht den genuinen Bedürfnissen der Deutschen. Dagegen ging Arendt davon aus, dass sowohl Hitler als auch Stalin nur aufgrund der Zustimmung der jeweiligen Mehrheitsbevölkerungen an die Macht gelangen konnten.1628 Bereits an anderer Stelle ist gezeigt worden, dass die esoterische, dialektischgeschichtsphilosophische Wissensebene in den Vereinigten Staaten nur geringe öffentliche Aufmerksamkeit erlangte. Dies lag u.a. daran, dass die Dialektik der Aufklärung wie auch Adornos Minima Moralia und andere gesellschaftskritisch-philosophische Arbeiten in deutscher Sprache geschrieben waren. In Nachkriegsdeutschland jedoch stand die dialektisch-gesellschaftsphilosophische Wissensebene fortan in einem Resonanzverhältnis mit einem exoterischen Wirkungskreis. Mit dem Erscheinen von Minima Moralia 1951 und weiteren gesellschaftskritischen Arbeiten begann »die große öffentliche Wirkung Adornos in der Bundesrepublik«, wie Lorenz Jäger festhält.1629 Sein Verleger Peter Suhrkamp erhoffte sich von der Publikation von Minima Moralia öffentliche Aufmerksamkeit, gerade weil die Arbeit »Aufklärung und rezeptlose Negation« eigenwillig kombinierte.1630 Adorno selbst stellte gegenüber Siegfried Kracauer im Juli 1951 befriedigt fest, dass sein Buch ein außerordentlicher Erfolg sei, »nicht nur ›literarisch‹, sondern auch buchhändlerisch.«1631 Auch bei Programmleitern des Hörfunks und Herausgebern der oben erwähnten Bildungs- und Kulturzeitschriften stießen seine Arbeiten auf Interesse. Horkheimer wiederum streute verstärkt dialektisch-gesellschaftsphilosophische Elemente, die insbesondere seinem 1947 auf dem amerikanischen Markt erschienenen Buch Eclipse of Reason entstammten, in seine zahlreichen Radiovorträge und öffentlichen Reden ein. Während er seine Kritik der modernen Gesellschaft in klarer Sprache formulierte, bediente sich Adorno der Darstellungstechnik des Aphorismus, des Fragments und des Essays. Das trug in der Rezeption zweifelsohne zur Bildung seines Rufs als schwer verständlicher und komplex denkender Intellektueller bei, über den Thomas Mann schrieb: »Das Gedachte wird wieder zerdacht, umgedreht, rollt formlos weiter bei großer Wortpräzision.«1632 In der Einleitung zu Heinz Krügers Dissertation über den 1627 Vgl. Jens Hacke, Die Bundesrepublik als Idee. Zur Legitimationsbedürftigkeit politischer Ordnung. Hamburg 2009, S.44; Jeffries, Grand Hotel Abyss, S.212. 1628 Vgl. Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S.659. Auch Pollock hielt an dieser Deutung fest. Vgl. Lenhard, Friedrich Pollock, S.189. 1629 Jäger, Adorno, S.235. 1630 Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle, S.540. 1631 Theodor W. Adorno an Siegfried Kracauer vom 19.07.1951, in: Theodor W. Adorno – Siegfried Kracauer. Briefwechsel, S.459-462, hier S. 459. 1632 Zitiert nach: Jäger, Adorno, S.187.

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Aphorismus betonte sein Lehrer Adorno, dass das aphoristische Denken »von je nonkonformistisch war«. Der Aphorismus sei »das entfaltete Nichtwissen, das die äußere Reflexion des Wissens voraussetzt«, und »etwas von der Deformation wieder gut machen [möchte], welche der herrschaftliche Geist dem Gedachten antut. Er zielt auf die Negation des abschlußhaften Denkens«.1633 Aphorismen wie auch Essays fungierten deshalb als philosophische Formen des Widerstands gegen logisch-analytische Denk- und Darstellungsweisen, indem sie die zu erfassende Wirklichkeit in ihrer ganzen Fragmentiertheit abbildeten.1634 Horkheimer und Adorno ging es also, wie Demirović schreibt, um die Formierung eines bestimmten, nämlich nonkonformistischen Intellektuellentypus mit dazugehörigem Verhaltensmuster und bestimmter Ikonografie und Redeweise.1635 Inhaltlich wollten beide Sozialwissenschaftler einen gesellschaftskritischen Nonkonformismus formulieren und adressieren. Dieser sollte der totalitären Gefahr der fortschreitenden Technisierung und Ökonomisierung der modernen Gesellschaft eine demokratische, individuell-emanzipierte Haltung entgegensetzen. Die diskursiven Elemente dieser inhaltlichen Ausrichtung beider Intellektueller lassen sich auf der Orientierungswissen generierenden Wissensebene in den frühen 1950er Jahren in vier Komplexe untergliedern: Totalitarismus, Auschwitz und der Systemantagonismus des Kalten Krieges (Kap.9.1.1); Kritik an den Naturwissenschaften und der Technisierung, an »Positivismus«, Konsumkultur sowie der damit zusammenhängenden Verdinglichung und Entmenschlichung, außerdem Absetzung von der Philosophie Martin Heideggers (Kap. 9.1.2); die Verteidigung von Kultur und Geist trotz Shoah (Kap. 9.1.3) und schließlich die Möglichkeit der Aufdeckung des Unwahren durch Kunst, Philosophie und reflektierte Wissenschaft (Kap. 9.1.4). 9.1.1 Totalitarismus, Auschwitz und der Systemantagonismus des Kalten Krieges Mit der in den Vereinigten Staaten entwickelten geschichtsphilosophisch-anthropologischen Abstrahierung konkreter historischer Ereignisse und Entwicklungen webten Horkheimer und Adorno auch die NS-Vergangenheit Deutschlands in eine universale Verhängnisgeschichte ein. Sie banden Faschismus, Autoritaris1633 Theodor W. Adorno, Einführung [1956], in: Heinz Krüger, Über den Aphorismus als philosophische Form, mit einer Einführung v. Theodor W. Adorno. München 1988 [1957], S.7-9, hier: S.8. 1634 Vgl. auch Detlev Claussen, Adornos Heimkehr. Der Essay als Form, ein Transportmittel verfolgter Gedanken, in: Boll/Gross (Hrsg.), Die Frankfurter Schule und Frankfurt, S.78-91. Siehe auch Habermas, Remarks on the Development of Horkheimer’s Work, S.57f.; Müller-Doohm, Adorno, S.520-523. Siehe auch Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle, S.676-680. 1635 Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle, S.508f.

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mus und Kommunismus so eng zusammen, dass konkrete faschistische, autoritäre und kommunistische Erscheinungen auf realpolitischer Ebene generell als »totalitär« erschienen.1636 Gegen totalitäre Tendenzen führte vor allem Horkheimer einen demokratisch-westlichen Freiheitsbegriff ins Feld. Am 1. Dezember 1950 hielt er eine Festrede zur Verfassungsfeier der hessischen Landesregierung in Wiesbaden. Darin unterschied er den Freiheitsbegriff der »Volksdemokratien« im »Ostblock« von dem der westlichen Demokratien: »Wenn heute jenseits des Eisernen Vorhangs von Volksdemokratie die Rede ist und diese der bloß formalen des Westens gegenübergestellt wird«, werde der Gedanke von der »gesellschaftlichen Verwirklichung der Freiheit« dazu missbraucht, das Leben der Menschen noch vollständiger zu disziplinieren als in den finsteren Zeiten, in denen man »Vernunft und Freiheit der Reglementierung entgegensetzte.« Denn im Zeitalter des Totalitarismus, des »Universums der Konzentrationslager« (David Rousset), sei die Welt nicht länger von »befrackten Festrednern, leerem Betrieb und spitzfindig legalistischen Kontroversen« geprägt. Sie galt Horkheimer vielmehr als die Zuflucht, in der noch geatmet werden könne. Das Verdinglichte und Institutionelle könne so zur »einzigen Rettung gerade des Menschlichen werden.«1637 In der Festrede zu seiner Ernennung zum Rektor der Frankfurter Universität sprach Horkheimer 1951 von den »totalitären Systemen jeder Richtung«. In diesen würden die rationalen Verhältnisse der angewandten Mittel auf Zwecke – die subjektive Vernunft – in den Dienst von unmenschlichen und aberwitzigen Zielen treten. Sie dehnten damit die ungehemmte Selbstständigkeit vom individuellen Subjekt auf den souveränen Machtstaat aus. Vom Machtstaat würden sie sich weiter auf »weltumspannende Machtblocks« ausweiten, was in der intensivierten Produktion von Zerstörungsmitteln selbst bei friedliebenden Völkern resultiere.1638 Damit ordnete er den Totalitarismus in eine welthistorische Entwicklung ein, die zur Bildung der Machtblöcke im Kalten Krieg geführt habe. Auch die »friedliebenden Völker«, die westlichen Demokratien, integrierte er in diesen Prozess. Wie schon in der Dialektik der Aufklärung ließ Horkheimer auch in einem 1955 bei der Schopenhauer-Gesellschaft gehaltenen Vortrag solche Entwicklungen schon in der Antike beginnen und sah diese darüber hinaus nicht nur in der westlichen Welt oder im »Ostblock« am Werk: Fanatismus, endlose Verfolgungen, grausame Vertreibungen und Ausrottung nationaler und 1636 Vgl. Jäger, Adorno, S.212. 1637 Max Horkheimer, Politik und Soziales [1950], in: ders., Vorträge und Aufzeichnungen 1949-1973 (Bd.8), S.38-52, hier: S.45f. 1638 Max Horkheimer, Zum Begriff der Vernunft [1952], in: ders., Vorträge und Aufzeichnungen 1949-1973. 1. Philosophisches, 2. Würdigungen, 3. Gespräche, hrsg. v. Gunzelin Schmid Noerr (Gesammelte Schriften, Bd.7). Frankfurt am Main 1985, S.22-35, hier: S.26. Die Rede wurde 1952 gedruckt.

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religiöser Gruppen habe schon Philaletes im Dialog über die Religion beschrieben. Im Jahrhundert Hitlers und Stalins hätten sie bloß ihre ins Unermessliche gesteigerte Fortsetzung gefunden. Doch es genüge auch, »an den gesellschaftlichen Alltag in den Ländern zu erinnern, in denen der Kampf gegen die Armut am erfolgreichsten geführt wird.«1639 Mitte der 1950er Jahre brachte Horkheimer in einem Vortrag vor der Wirtschaftspolitischen Gesellschaft in Frankfurt wieder die »freie Welt« gegen den Totalitarismus in Stellung. Allerdings fragte er kritisch, ob die freie Welt nicht doch durch totalitäre Elemente von innen ausgehöhlt werde. Denn das bloße Bekenntnis zur Freiheit allein bewirke wenig. Im Gegenteil müsse man um so mehr Verdacht schöpfen, dass die Freiheit in Gefahr sei, je mehr es zum guten Ton gehöre, von ihr zu reden. Sicher habe es auch in der Vergangenheit das Totalitäre gegeben. »Unsere Zeit aber zeichnet sich dadurch aus, daß das Totalitäre, das Massenhafte, das Sture, die Willigkeit, gelenkt zu werden, stärker als zu anderen Zeiten absticht von dem, was in der Technik, in der ökonomischen Weiterentwicklung erreicht worden ist.«1640 Die rationalen Methoden, »die Natur zu beherrschen, sind äußerst entwickelt worden, doch das Menschliche ist dabei nicht recht mitgekommen.«1641 Er kennzeichnete den »totalitären Typus« als Menschen, »der seine Gefühle, sein Inneres nicht auszudrücken gelernt hat, […], der es auch nicht ausdrücken kann und darf, sondern der es fortwährend sich versagen muß, sich in einer Weise, die sozial akzeptabel ist, gehenzulassen«. Dabei differenzierte er zwischen dem »östlichen« und dem »faschistischen Typus«, wobei für Letzteren gelte, dass er im Gegensatz zum kommunistisch-totalitären Typus ein »Pseudokonservativer« sei.1642 Gegen diesen setzte Horkheimer in einer Rede auf dem Paneuropa-Kongress in Baden-Baden am 30. Oktober 1954 die Haltung des echten Konservativen, die er auf eine positive, europäisch-humanistische und somit antitotalitäre Tradition zurückführte: Während der Pseudokonservatismus alles beim Alten belassen wolle, liebe und hege der echte Konservatismus das Gewordene, »auch

1639 Max Horkheimer, Schopenhauer und die Gesellschaft [1955], in: ders., Vorträge und Aufzeichnungen 1949-1973 (Bd.7), S.43-54, hier: S.51f. Der Text wurde noch im selben Jahr gedruckt. 1640 Max Horkheimer, Die Psychologie des Totalitären [1954], in: ders., Vorträge und Aufzeichnungen 1949-1973 (Bd.8), S.77-83, hier: S.77. Der Text wurde im selben Jahr gedruckt. 1641 Ebd. 1642 Ebd., S.80, 82.

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wenn das Neue, das man ebenso sehr liebt, auf die Szene tritt.«1643 Zu dieser konservativen Haltung gehörte für ihn auch eine antipazifistische Einstellung. So bedürfe Europa »der Waffen, sonst wird es von den Barbaren überrannt, es bedarf der Funktionäre, sonst bleibt es gegen die Barbaren ohne Organisation, es bedarf der Geheimpolizei, sonst ist es den Barbaren ausgeliefert«. Nur sollten diese Mittel Europa nicht »die Prägung geben, sonst wird es den Barbaren ähnlich.« Echter Patriotismus müsse Europa in die Zukunft hinüberretten, »trotz aller Instrumente, deren es bedarf, um sich zu behaupten.«1644 Horkheimer reicherte seine Totalitarismusvorstellung im Laufe der 1950er Jahre immer mehr mit pessimistischen Elementen an. Anlässlich einer Vorlesungsreihe zum 100. Geburtstag von Sigmund Freud 1956 stellte er fest, dass die Ökonomisierung des Daseins, die sich nach dem Nationalsozialismus »und im Angesicht des neu sich zusammenziehenden Unheils« ohne nach rechts und links zu blicken, etabliert habe, »große seelische Schwierigkeiten« für junge Menschen berge.1645 Im Vortrag »Philosophie und Kulturkritik«, den er 1958 in München hielt, warf er der »Philosophie im Osten« deshalb vor, »bloße Apologie« zu sein. Die Machthaber hinter dem Eisernen Vorhang hätten Marx’ Werk »in ein Lügengebilde verwandelt, in ein Opium fürs Volk, das den neuen Herren und ihren Luxusarmeen, Atomraketen und Sputniks dienen muß.« In totalitären Staaten herrsche der Schrecken: »Ohne daß ihnen ein Verbrechen nachgewiesen wäre, werden Menschen gefangen gehalten, gefoltert, barbarisch ermordet.«1646 Totalitäre Tendenzen sah Horkheimer etwa ab Mitte der 1950er Jahre jedoch auch in Westeuropa und vor allem in der Bundesrepublik wieder auf dem Vormarsch. Das Schreckensbild der totalen Vernichtung stand ihm angesichts der Regression als genereller kultureller Tendenz Europas, die der ökonomisch erfolgreiche Wiederaufbau insbesondere Westdeutschlands stabilisierte, vor Augen: »In dem durch Erfahrung, Ausgleich und Begriff nicht vermittelten Übergang der allmächtigen Ökonomie in Politik kündigt heute Barbarei sich an.«1647 Stärker als bei Horkheimer stand für Adorno Auschwitz im Zentrum des von ihm generierten Orientierungswissens. Einen bedeutenden Teil seiner Soziologie 1643 Max Horkheimer, [Das Europäische] [1954], in: ders., Vorträge und Aufzeichnungen 1949-1973 (Bd.8), S.84-89, hier: S.88. Gedruckt wurde der Text im selben Jahr. Vgl. dazu Klaue, »Der wahre Konservative«. 1644 Horkheimer, [Das Europäische], S.85. 1645 Max Horkheimer, [Sigmund Freud – zum 100. Geburtstag] [1956], in: ders., Vorträge und Aufzeichnungen 1949-1973 (Bd.8), S.106-111, hier: S.106. Die Rede wurde im selben Jahr gedruckt. 1646 Max Horkheimer, Erinnerung [1959], in: ders., Vorträge und Aufzeichnungen 1949-1973 (Bd.7), S.104-107, hier: S.104. 1647 Max Horkheimer, Philosophie als Kulturkritik [1959], in: ders., Vorträge und Aufzeichnungen 1949-1973 (Bd.7), S.81-103, hier: S.90f. Gedruckt wurde der Text 1959.

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und Philosophie hatte er dem Kampf gegen die Barbarei gewidmet, denn die Shoah sollte sich nicht wiederholen.1648 Diese fungierte bei ihm als totalitäre Kristallisation der zeitgenössischen Entwicklung moderner Gesellschaften, als die er sowohl die liberal-westliche als auch die faschistische und sowjetkommunistische begriff.1649 Im vielzitierten Aufsatz »Kulturkritik und Gesellschaft«, der 1949 entstand und 1951 veröffentlicht wurde, betonte er: »[N]ach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frißt auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben.« Die gesamte traditionelle Kultur werde als »neutralisierte und zugleich zugerichtete« nichtig. »[D]urch einen irrevokablen Prozeß« sei ihre »von den Russen scheinheilig reklamierte Erbschaft in weitestem Maße entbehrlich, überflüssig, Schund geworden, worauf dann wieder die Geschäftemacher der Massenkultur grinsend hinweisen können, die sie als solchen Schund behandeln.«1650 Auschwitz war für Adorno die absolute Integration: Menschen waren dort einander gleichgemacht und in Gegenstände verwandelt, das Individuum radikal vernichtet worden.1651 Es war aber kein historisch-konkreter Ort mehr und auch nicht bloß historisches Ereignis, sondern Symbol für den Endpunkt des modernen, nicht mehr an irgendeine politische Ideologie gebundenen Totalitarismus. Als einzige Gestalt, die der totalitären Gleichmacherei, Unterwerfung und Anpassung der Unterworfenen an die Herrschenden Einhalt gebieten konnte, erkannte Adorno den Juden. Dieser sei der Paria schlechthin, der Verfolgte und Nichtangepasste. Deshalb nähme er eine Position jenseits der verdinglichten Gesellschaft ein, weil er von der kapitalistischen Solidargemeinschaft ausgeschlossen sei. Er repräsentierte mithin das Individuelle und Nonkonformistische.1652 Auschwitz wurde bei Adorno zum metaphysischen Angelpunkt. Das zeigt sich darin, dass er gesellschaftliche Erscheinungsformen mit mutmaßlich totalitären Eigenschaften aus dieser Perspektive interpretierte. Dies galt beispielsweise für den Jazz. In seinem 1953 im Merkur publizierten Aufsatz »Zeitlose Mode. Zum Jazz« schrieb er, dass das »Exzessive, Unbotmäßige, das am Jazz in Europa noch mitgefühlt wird«, die »Erinnerung an die anarchischen Ursprünge, die der Jazz mit allen rezipierten Massenbewegungen der Gegenwart teilt«, in den Vereinigten Staaten der frühen 1950er Jahre gründlich verdrängt worden

1648 Benzer, The Sociology, S.145. 1649 Fabian Freyenhagen, Adorno’s Practical Philosophy: Living Less Wrongly. Cambridge 2013, S.27-29. Vgl. Müller-Doohm, Adorno, S.470f. 1650 Adorno, Kulturkritik und Gesellschaft, S.30. Vgl. Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle, S.575-578. 1651 Benzer, The Sociology, S.154. 1652 Theodor W. Adorno, Aldous Huxley und die Utopie [1942], in: ders., Kulturkritik und Gesellschaft I, S.97-122, hier: S.109, 120. Der Text wurde 1951 publiziert.

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sei.1653 Der amerikanische Jazz galt ihm als musikalische Materialisierung der autoritären Persönlichkeit im Kapitalismus: »Die Reklame für irgendeinen Schlager, den eine berühmte name band spielte, lautete: ›Follow Your Leader, X .Y .‹ Während in europäischen Diktaturstaaten die Führer beider Schattierungen wider die Dekadenz des Jazz eiferten, hatte die Jugend der anderen schon längst sich von den synkopierten Gehtänzen, deren Kapelle nicht umsonst von der Militärmusik abstammt, elektrisieren lassen wie von Märschen. Die Zweiteilung in Kerntruppen und unartikulierte Gefolgsleute hat etwas von der zwischen der Partei-Elite und den restlichen Volksgenossen.«1654 Ziel des Jazz sei die mechanische Wiedergabe eines regressiven Moments. Alles müsse der Jazz zurechtstutzen, die Musik »dem Hörer zu Willen« machen: »Das Subjekt, das sich ausdrückt, drückt eben damit aus: ich bin nichts, ich bin Dreck, es geschieht mir recht, was man mit mir macht; es ist potentiell schon einer jener Angeklagten russischen Stils, die zwar unschuldig sind, aber von Anbeginn mit dem Staatsanwalt kooperieren und keine Strafe schwer genug für sich finden.«1655 Allerdings waren die faschistischen und sozialistischen Regime für Adorno eine Stufe totalitärer als die liberalen, denn Letztere garantierten den Menschen immerhin auf formaler Ebene Rechte und Freiheiten.1656 Diese Erläuterungen der diskursiven Formation um Totalitarismus, Shoah und Kalter Krieg erklären, weshalb sich Horkheimer und Adorno 1950 gegen das Manifest eines »Friedenskomitees« an der Universität Frankfurt aussprachen. Für sie waren »Friedensaufruf und Ächtung der Atomwaffe […] ein Stück der Sowjetpropaganda, die darauf abzielt, allerorten die humanen Regungen dafür zu mißbrauchen, daß der Widerstand gegen die Gewalt gebrochen werde, die von der Sowjetunion ausgeht und die nicht zögern wird, den Krieg zu entfesseln, wenn die Moskauer Gewaltherrscher glauben, daß sie ihn gewinnen können.«1657

1653 Theodor W. Adorno, Zeitlose Mode. Zum Jazz [1953], in: ders., Kulturkritik und Gesellschaft I, S.123-137, hier: S.132. 1654 Ebd., S.132f. 1655 Ebd., S.136. 1656 Freyenhagen, Adorno’s Practical Philosophy, S.41, 79. 1657 Zitiert nach: Jäger, Adorno, S.214.

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Zudem erklären sie, weshalb die beiden einen Protestbrief aufsetzten, als die DDR-Zeitschrift Sinn und Form 1949 in ihrem ersten Heft Auszüge aus der Dialektik der Aufklärung veröffentlichte, ohne die Urheber um Erlaubnis gebeten zu haben, denn »unsere Forschungen und Schriften [stehen] im schärfsten Gegensatz zu der Politik und Doktrin […], welche von der Sowjetunion ausgehen.«1658 9.1.2 Die Kritik an den Naturwissenschaften, der Technisierung, der Konsum- und Massenkultur sowie der Philosophie Martin Heideggers Hinter Auschwitz sowie den die freie Welt fortwährend bedrohenden totalitären Systemen sahen Horkheimer und Adorno historisch-materialistische und ideologische Mechanismen der fortschreitenden Technisierung der Welt wie der totalen Verwaltung und Ökonomisierung der Gesellschaft am Werk.1659 In diesen Zusammenhang gehörte auch ihre bereits an früherer Stelle dieser Arbeit thematisierte Kritik der Wissenssoziologien Schelers und Mannheims. Horkheimer wiederholte diese in einem Vortrag für den RIAS in Berlin, der am 18. Dezember 1950 ausgestrahlt wurde. Er formulierte darin aus der kritischen Erkenntnis, dass die Wissenssoziologen »aus der ideologischen Bedingtheit des Geistes das ausschlaggebende philosophische Prinzip« machen wollten, seine Vorstellung von der ›richtigen‹ sozialwissenschaftlichen Theorie. Diese bestehe in der durchdringenden kritischen Analyse der historischen Wirklichkeit, nicht in einem vorgeblich konkreten und ontologisch begründeten Schema abstrakter Werte.1660 Für ihn gab es vielmehr ein »objektiv Vernünftiges«, wie er dies bereits in seiner Frankfurter Festrede von 1951 vorgetragen hatte. Er warnte vor falscher subjektiver Vernunft, die »vor allem mit dem Verhältnis von Zwecken und Mitteln zu tun [hat], mit der Angemessenheit von Verfahrensweisen an Ziele, die als solche mehr oder minder hingenommen werden«, ohne sie nach Vernunftkriterien zu hinterfragen.1661 Zu den Vertretern eines solchen Vernunftbegriffs, die als einziges Kriterium die »subjektive, formale und instrumentelle Vernunft« gelten ließ, gehörten nach Horkheimer unter anderem die logischen Empiristen Wiener und Berliner Prägung. Diese hätten ihre wissenschaftliche Weltauffassung in den Vereinigten Staaten mit dem dortigen Pragmatismus amalgamiert und zu einer Form der analytischen Wissenschaftsphilosophie weiterentwickelt: 1658 Zitiert nach: ebd., S.214. 1659 Vgl. Kurig, Bildung für die technische Moderne, S.398-401. 1660 Max Horkheimer, Ideologie und Handeln [1950], in: ders., Vorträge und Aufzeichnungen 1949-1973 (Bd.7), S.11-21, hier: S.16, 18. Der Text wurde im selben Jahr publiziert. 1661 Horkheimer, Zum Begriff der Vernunft, S.23.

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»So offenkundig etwa die Absurdität der heutigen neo-positivistischen Philosophie, des sogenannten logischen Empirismus, ist, der jeden möglichen Sinn, jede inhaltliche Idee als ein Idol austreiben möchte, das durch die traditionelle Sprache bedingt sei«,1662 so sei diese Sinnlosigkeit doch auch die Konsequenz der im Vernunftbegriff selbst angelegten Entwicklung. Auch den technischen Fortschritt betrachtete Horkheimer dialektisch: Je schneller sich die Menschen vervielfachen würden, desto rascher steigerten sich auch ihre »ans Technische gebundenen Bedürfnisse«. Diese Entwicklung habe einen »zivilisatorischen Effekt« gezeitigt, wozu »die fortschreitende Abschaffung des häuslichen Frondienstes der Frau, die Angleichung des Daseins von Arbeiter und Unternehmer, die Demokratisierung der Existenz« gehörten. Mit der »technischen Zivilisation« sah er aber auch »die zwangsmäßig sich durchsetzende Verlagerung der ökonomischen Energien aufs Instrument« verbunden. Dass der »Erwerb von Kraftfahrzeug und Empfangsgerät […] unerläßlich« werde, verknüpfte Horkheimer mit der von ihm beobachteten Transformation von Bildung in Fachwissen und Expertentum.1663 Die durch die Aufklärung ermöglichte und vom Bürgertum realisierte Herrschaft über die Natur habe, so Horkheimer 1956 in einem Hörfunkvortrag,1664 nicht die Menschen zu sich selbst gebracht. Vielmehr habe »das Bestehende seine objektive Gewalt« behalten: Bevölkerungswachstum, fortschreitende technische Vollautomatisierung, ökonomische wie politische Zentralisierung sowie durch Industriearbeit verfeinerte Rationalität der Individuen würden ein Maß an Organisation und Manipulation des Lebens bedingen, »das der Spontaneität des Einzelnen gerade noch den Spielraum für die vorgezeichnete Laufbahn läßt.«1665 Trotz dieser gesellschaftlichen und geschichtlichen Vermittlung des Menschen dürfe man jedoch nicht resignieren, schließlich sei die Geschichte doch umgekehrt auch auf den Menschen angewiesen.1666

1662 Ebd., S.28. 1663 Horkheimer, Schopenhauer und die Gesellschaft, S.52. 1664 Diese Position hatte Horkheimer schon 1950 in einem Radiogespräch mit Adorno und Kogon vertreten. Siehe Theodor W. Adorno/Max Horkheimer/Eugen Kogon, Die verwaltete Welt oder: Die Krisis des Individuums [1950], in: Max Horkheimer, Nachgelassene Schriften 1949-1972. 1. Vorträge und Ansprachen, 2. Gespräche, 3. Würdigungen, 4. Vorlesungsnachschriften, hrsg. v. Gunzelin Schmid Noerr (Gesammelte Schriften, Bd.13). Frankfurt am Main 1989, S.121-142. 1665 Max Horkheimer, Zum Begriff des Menschen [1956], in: ders., Vorträge und Aufzeichnungen 1949-1973 (Bd.7), S.55-80, hier: S.57. Der Text wurde 1957 gedruckt. Der Titel des Vortragstexts lautete »Zur Idee des Menschen«. 1666 Ebd., S.60.

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Horkheimer beabsichtigte mit seiner Gesellschaftskritik, die Abhängigkeit des Menschen von dieser Entwicklung darzulegen. Es gelte, sie zu durchschauen, da sie sich sonst »verewigt«.1667 Dem technisch-verwalteten und urteilsunfähigen Menschentypus, der nur noch »technische Geschicklichkeit, Geistesgegenwart, Lust an der Herrschaft über Apparaturen, das Bedürfnis nach Eingliederung, nach Übereinstimmung mit der Mehrheit«1668 kenne und der selbst Liebesbeziehungen funktionalisiere, standen individuelle Entscheidungsfähigkeit, Bildung und Fantasie antagonistisch entgegen.1669 Die »Nivellierung« und die durch die Technisierung bedingte Angleichung der Menschen untereinander führten also nicht zu Annäherung, engeren Freundschaften und Liebe, sondern zu Zersplitterung, Vereinsamung, Entzug von Freundschaft und Liebe.1670 Die »Massenmeinungsmaschinen« Zeitung, Rundfunk, Kino und Fernsehen dirigierten die in diese Gesellschaftsmaschinerie eingespannten Menschen und nähmen ihnen die nicht zum Beruf gehörenden Entscheidungen ab. Dadurch würden die Menschen trotz ihrer rastlosen Aktivität nur noch passiver und »bei aller Macht über die Natur ohnmächtiger gegenüber der Gesellschaft und sich selbst«. Er schlussfolgerte daraus, dass die Gesellschaft »von sich aus auf den atomistischen Zustand der Massen hin[arbeitet], den Diktatoren sich wünschen können.«1671 Als Hauptursache dafür identifizierte er das mangelnde kritische Bewusstsein der Menschen: Nicht die Maschine trage Schuld an dieser Entwicklung. Als »Ergebnis und Antrieb von Wissenschaft und Aufklärung« habe sie nur ein den bürgerlichen Aufschwung konstituierendes Element gebildet. »Produktive wie destruktive Gewalt, Heil und Unheil der Gesellschaft« würden durch sie lediglich potenziert.1672 Horkheimers Kritik beschränkte sich nicht nur auf den »Positivismus« sowie die Technisierung und Ökonomisierung der modernen Lebenswelt. Er arbeitete sich vielmehr auch an Denkern der Hermeneutik deutscher Prägung, allen voran an der philosophisch geprägten Kulturanthropologie und der Philosophie Heideggers, ab, die für ihn in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der ›deutschen Katastrophe‹ standen. In einem Korreferat für die RIAS-Sendereihe »Funk-Universität« von 1950 kritisierte er Erich Rothackers Ausführungen über »Probleme und Methoden der Kulturanthropologie« scharf. Für ihn handele Rothackers Kulturanthropologie essenzialistisch von »dem« Menschen. Das komplexe Zusammenspiel vieler Menschen und die daraus resultierenden Widersprüche, auf denen für Horkheimer Kultur beruhe, sah er dabei ausgeblen1667 1668 1669 1670 1671 1672

Ebd. Ebd., S.63. Ebd., S.67f. Ebd., S.69, 73. Ebd., S.74f. Ebd., S.76.

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det.1673 Weil Rothacker dadurch »die menschliche Natur als solche« bestimme, hypostasiere er die Kultur, »wie sie nun einmal ist«, fasse sie als für ewig geschlossen, geprägt und geformt auf.1674 Rothacker spreche daher auch nicht von der wirklichen Aufgabe der Gesellschaft, also davon, ob es ihr gelinge, »die Existenz ihrer Mitglieder zu verbessern, ihnen Glück und menschenwürdiges Leben zu gewähren«. Barbarische Kulturen, »in denen keine Abweichung geduldet wird und in denen jede Regung durch das den Menschen auferlegte Gesetz des Kollektivs geprägt ist, wie etwa die aztekische, müßten nach der Rothackerschen Rangordnung an der obersten Stelle stehen.«1675 In einem Vortrag, den Horkheimer auf der 2. Anthropologisch-Soziologischen Konferenz an der Universität Mainz 1951 hielt, distanzierte er sich auch von Heideggers Existenzphilosophie. Deren Erfolg in der Zeit der Weimarer Republik lag für ihn »gerade darin, daß sie die Aussichtslosigkeit, die Verlassenheit, das leere Vorlaufen in den Tod zum Wesen erklärte und die Sinnlosigkeit, vor der die Jugend schauderte, durch ihre feierliche Sprache zum Sinn erhob.« Heidegger habe mit seinem Existenzial von Sorge und Angst die Verzweiflung der Menschen bestätigt, »indem die Philosophie zu dem ermutigte, was man ohnehin empfand. Der Existentialismus macht das Fehlen der Konstante zur Konstante selbst und erweist sich dadurch als echter Ausdruck seiner Zeit.«1676 Dass Heideggers Philosophie nicht nur in den 1920er und 1930er Jahren populär war, sondern es auch nach 1945 blieb, hielt Horkheimer für bedenklich. Anlässlich der Verfassungsfeier der hessischen Landesregierung betonte er 1950, dass in Deutschland immer noch manche Ideologie herrsche, »die so familiär mit dem Tode, dem Untergang und dem Heroismus umgeht und dabei den Mangel an Zivilcourage gleichsam als Existential in ihrer eigenen Geschichte bewährte«.1677 Er warf Rothacker und Heidegger damit nicht weniger vor, als dass ihre Denkhorizonte mit nationalsozialistischem Denken im Innersten verbunden seien. Beide hätten also nicht bloß aufgrund ihrer politischen Übereinstimmung mit

1673 Max Horkheimer, Korreferat zu Rothackers Probleme und Methoden der Kulturanthropologie [1950], in: ders., Nachgelassene Schriften 1949-1972, S.13-18, hier: S.14. 1674 Ebd., S.16. 1675 Ebd., S.18. Diese Kritik teilte Adorno. Siehe dazu Breuer, Kritische Theorie, S.106. 1676 Max Horkheimer, Invarianz und Dynamik in der Lehre von der Gesellschaft [1951], in: ders., Vorträge und Aufzeichnungen 1949-1973 (Bd.8), S.53-63, hier: S.54f. Der Text wurde im selben Jahr in der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie gedruckt. 1677 Horkheimer, Politik und Soziales, S.51.

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dem Nationalsozialismus mit diesem paktiert, sondern dessen Ideologeme mit ihren Philosophien nach 1945 weiterverbreitet.1678 Wie gezeigt worden ist, hatte auch Adorno Heideggers Existenzialontologie bereits in den späten 1920er und frühen 1930er Jahren mit Husserls Phänomenologie und Kierkegaards Existenzphilosophie in einen Zusammenhang gestellt und kritisiert. Diese repräsentierten in seinen Augen eine bürgerliche Innerlichkeit, würden das untersuchte Objekt einfrieren und nicht über den Status quo hinausführen. In seinen öffentlichen Vorträgen sowie Beiträgen für Kultur- und Bildungszeitschriften der frühen 1950er Jahre wiederholte er diese Kritik zunächst kaum. Erst ab den späten 1950er Jahren sollten sie für ihn wieder ein Thema werden.1679 Zunächst jedoch wandte er sich der fortschreitenden Technisierung, der Verwaltung und der Kulturindustrie zu, die ihm die maßgebenden Kräfte eines alles dominierenden ökonomischen Tauschprinzips waren. Sie führten zu falschen Bewusstseinslagen, indem sie wissenschaftliche Methoden und Kulturerscheinungen soweit verdinglichten, dass sie die betreffenden Gegenstände in Warenformen verwandelten. Eine der von Adorno kritisierten Techniken war das Fernsehen. Es sei darauf ausgerichtet, »die gesamte sinnliche Welt in einem alle Organe erreichenden Abbild noch einmal zu haben, dem traumlosen Traum«. Die Menschen näherten sich einer als Realität gedachten Welt, ohne zu merken, dass es sich dabei lediglich um ein Duplikat derselben handele. Dies ermöglichte es den Fernsehmachern, unbemerkt einzuschmuggeln, was immer diese für der realen Welt zuträglich hielten. Die Lücke, »welche der Privatexistenz vor der Kulturindustrie noch geblieben war, solange diese die Dimension des Sichtbaren nicht allgegenwärtig beherrschte«, sei so gestopft worden.1680 Zudem erhebe die neue Technik einen totalen Anspruch, indem sie »den Konsumenten das Produkt ins Haus bringt«. Im Fernsehen manifestierten sich Adorno zufolge die fortschreitende Technisierung und Verwaltung der Gesellschaft, die zugleich auf effiziente Weise Ideologien etablieren würden: »Je vollständiger die Welt als Erscheinung, desto undurchdringlicher die Erscheinung als Ideologie.«1681 Dadurch werde der Mensch dem Menschen gleichgemacht. Konformismus, Status-quo-Bestätigung und damit die Untermauerung stereotyper Vorstellungen würden sich bei den Zuschauern festsetzen. Gleichzeitig werde das menschliche Bewusstsein auf Aus-

1678 Allerdings wird Rothackers nationalsozialistisches Engagement um 1950 wohl weniger bekannt gewesen sein als Heideggers Einsatz für den NS-Staat. 1679 Vgl. Müller-Doohm, Adorno, S.652-657. 1680 Theodor W. Adorno, Prolog zum Fernsehen [1953], in: ders., Kulturkritik und Gesellschaft II, S.507-517, hier: S.507. 1681 Ebd., S.508.

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länderhass und gottgewollten Erfolg ausgerichtet. Hinter der Technik des Fernsehens lauere demnach der totalitäre Staat.1682 Techniken wie das Fernsehen perpetuierten nach Adorno falschen Individualismus. Über Vereinzelung und Konformismus hatte er bereits in seinem Essay über Huxley geschrieben: »Im authentischen bürgerlichen Geiste ist der Einzelne für Huxley zugleich alles – weil er nämlich einmal das Prinzip der Eigentumsordnung abgab – und nichts, absolut ersetzbar als bloßer Träger des Eigentums. Das ist der Preis, den die Ideologie des Individualismus für die eigene Unwahrheit zu entrichten hat.«1683 Dieser in seinen Augen falsche Individualismus wurzele in den Prinzipien der kapitalistischen Profitwirtschaft,1684 die auch das falsche Bewusstsein der Menschen gegenüber Kunst und Kultur bestimme. In einem weiteren Essay setzte sich Adorno kritisch mit Paul Valérys Ansichten über das Museum und das Museale auseinander. Er schlussfolgerte, dass »Museen […] wie Erbbegräbnisse von Kunstwerken [sind]. Sie bezeugen die Neutralisierung der Kultur. Kunstschätze sind in ihnen angehortet: Der Marktwert verdrängt das Glück der Betrachtung.«1685 Finde nun Kulturkritik nicht aus ihrer Verstrickung mit der kapitalistischen Herrschaftsform heraus und stürze sie sich unvermittelt auf die Kultur, statt zuerst die auch dieser zugrunde liegende Herrschaftsform kritisch zu analysieren, dann teile sie »mit ihrem Objekt dessen Verblendung. Sie ist außerstande, die Erkenntnis ihrer Hinfälligkeit, die in der Spaltung gesetzt ist, aufkommen zu lassen.«1686 Adorno kombinierte in seinen gesellschaftskritischen Essays also seine Untersuchungsgegenstände mit dem Prinzip des kapitalistischen Warentauschs, der kaum mehr als konkreter historischer Mechanismus, sondern als geschichtsphilosophische Tendenz erschien. 9.1.3 Kultur trotz Auschwitz und die Verteidigung der bürgerlichen Gesellschaft Dennoch war für Adorno Kultur durchaus möglich.1687 Mit kritischem Unterton hält Jäger fest, dass Adornos 1949 gehaltener Vortrag »Die auferstandene 1682 Vgl. ebd., S.515. Vgl. auch Theodor W. Adorno, Fernsehen als Ideologie [1953], in: ders., Kulturkritik und Gesellschaft II, S.518-532, hier: S.520, 524. 1683 Adorno, Aldous Huxley und die Utopie, S.120. 1684 Ebd., S.121. 1685 Theodor W. Adorno, Valéry Proust Museum [1953], in: ders., Kulturkritik und Gesellschaft I, S.181-194, hier: S.181. 1686 Adorno, Kulturkritik und Gesellschaft, S.21. 1687 Vgl. Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle, S.670f.

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Kultur« an manchen Stellen »so unverhohlen optimistisch« klang, »daß mancher hellhörig wurde.«1688 Immerhin habe es nur ein paar Jahre gedauert, »bis Adorno selbst in Bayreuth Vorträge zu halten und in den Programmheften zu erscheinen begann.«1689 Dieser Optimismus habe mit der von Adorno betonten Wahlverwandtschaft zwischen spekulativer Philosophie und deutscher Sprache zusammengehangen, zumal er nach seiner Rückkehr nach Frankfurt wieder so sprechen und schreiben konnte, wie er dies bevorzugt habe.1690 Auch Fabian Freyenhagen konstatiert, dass bei Adorno Pessimismus angesichts der gegenwärtigen Gesellschaftsentwicklungen und Optimismus hinsichtlich des menschlichen Potenzials eng miteinander verwoben gewesen seien.1691 Für den »substantive negativist«, wie ihn Freyenhagen charakterisiert, lagen in der noch zu realisierenden Menschlichkeit der Menschen die normativen Ressourcen für eine radikale Kritik der sozialen Wirklichkeit.1692 Wenn Kultur möglich war, dann galt dies auch für Kulturkritik. Dafür müsse der Kulturkritiker Adorno zufolge über den Formen der Konkurrenzgesellschaft stehen, »in denen alles Sein bloß eines Für anderes ist, auch der Kritiker selbst nur nach seinem marktmäßigen Erfolg gemessen wird«.1693 Denn Kritik sei, »ein unabdingbares Element der in sich widerspruchsvollen Kultur, bei aller Unwahrheit doch wieder so wahr wie die Kultur unwahr.«1694 Ihre tatsächliche Aufgabe könne nur sein, das »Moment der Objektivität von Wahrheit« zu erfassen und offenzulegen, »ohne das Dialektik nicht vorgestellt werden kann«.1695 Eine dialektisch-kritische Theorie müsse sich dazu im Gegensatz zu »Positivismus«, Phänomenologie und Existenzphilosophie auf »das Wissen von der Gesellschaft als Totalität, und von der Verflochtenheit des Geistes in jene«, auf den spezifischen Gehalt des Objekts beziehen, sich also der spontanen Beziehung auf das Objekt nicht entäußern.1696 Auch sein 1951 im Merkur veröffentlichter Essay »Bach gegen seine Liebhaber verteidigt« griff dieses Thema auf. Durch den kapitalistischen Charakter der Kulturindustrie verwandle sich Bach in ein »neutralisiertes Kulturgut«.1697 Dadurch jedoch verlören seine Werke jene Authentizität, die ein Kunstwerk gerade zum Kunstwerk mache. Erst authentische Werke »entfalten ihren Wahrheitsgehalt, der den individuellen Bewußtseinskreis über1688 1689 1690 1691 1692 1693 1694 1695 1696 1697

Jäger, Adorno, S.228. Ebd., S.230. Ebd., S.230f. Freyenhagen, Adorno’s Practical Philosophy, S.1. Ebd., S.11. Adorno, Kulturkritik und Gesellschaft, S.12f. Ebd., S.15. Ebd., S.23f. Ebd., S.28f. Theodor W. Adorno, Bach gegen seine Liebhaber verteidigt [1951], in: ders., Kulturkritik und Gesellschaft I, S.138-151, hier: S.139.

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schreitet, kraft der Objektivität ihres eigenen Formgesetzes in der Zeit.«1698 Adornos Vorstellung vom Eigenwert des Objekts zeigte sich zwei Jahre später auch in einem Essay über Arnold Schönberg für Die Neue Rundschau. Darin meinte er, dass an den Kompositionen Wagners sich eine »expansive Phantasie« entzündet habe und dieser mit kompositorischer Konsequenz dahin gestrebt habe, »wohin Musik von sich aus will.«1699 Den richtigen, weil wahrhaftigen materiellen Eigenwert, bei dem das Kunstwerk zu einem Kraftfeld der Wahrheit werde, wenn es seine materiale Basis überschreite und sich weiterhin selbst reflektiere,1700 sah Adorno nur in einer vorkapitalistischen Sphäre gegeben. Diese lag für ihn historisch gesehen im vorindustriellen Bürgertum. Diese historische Situierung der ›guten‹ und ›wahren‹ Erkenntnis und des ›guten‹ und ›wahren‹ Kunstwerks findet sich auch bei Horkheimer. Das Verhängnis der modernen Gesellschaft verortete dieser in jenen Zeitraum, als die Aufklärer damit begonnen hätten, der Natur Gewalt anzutun. Dadurch sei die kapitalistische Wirtschaftsform um ein Vielfaches verstärkt worden. Noch bei Platon, Aristoteles, in der Scholastik und im deutschen Idealismus sei der »Einklang einer Handlung, eines ganzen Lebens, ja, der Bestrebungen eines Volkes mit diesem Ganzen«, das Kriterium der Vernunft gewesen: »An seiner objektiven Struktur, nicht nur an den partiellen Interessen, soll Existenz gemessen werden. Solcher Gedanke der philosophischen Tradition verdammte nicht die subjektive Vernunft; sie war vielmehr verstanden als ein begrenzter Ausdruck der allgemeinen Vernünftigkeit.«1701 Die Entwicklung einer Theorie der Vernunft, so Horkheimer in seinem Radiobeitrag »Zum Begriff des Menschen«, »der einmal der unbeirrbare Glaube zugrunde lag, daß die Verwirklichung einer richtigen Welt auch möglich sei«,1702 sei deshalb keine Utopie, weil sie einmal existiert habe, und zwar vor »dem Übergang des noch halbwegs liberalen Stadiums der bürgerlichen Ordnung vom Anfang des Jahrhunderts in die Phase der alles durchdringenden industriellen Macht«.1703 Zur Möglichkeit von Kultur gehörte für Horkheimer und Adorno, bestimmte Interpretationen einiger deutscher Philosophen im öffentlichen Bewusstsein richtigzustellen. Dazu zählte für sie vor allem die negative Bewertung Friedrich 1698 Ebd., S.148. 1699 Theodor W. Adorno, Arnold Schönberg [1953], in: ders., Kulturkritik und Gesellschaft I, S.152-180, hier: S.156. Siehe auch ebd., S.165: »besinnt Musik sich auf sich selbst.« 1700 Ebd., S.173. 1701 Horkheimer, Zum Begriff der Vernunft, S.24. 1702 Horkheimer, Zum Begriff des Menschen, S.57. 1703 Ebd., S.62.

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Nietzsches als eines Vordenkers des Nationalsozialismus. In einer Hörfunksendung des Hessischen Rundfunks am 31. Juli 1950 diskutierten sie mit HansGeorg Gadamer über den von den Nationalsozialisten betriebenen Missbrauch Nietzsches und den von einigen Autoren unternommenen Versuch, den selbstgewählten Außenseiter Nietzsche in den akademischen Philosophiebetrieb einzuordnen.1704 Adorno meinte, Nietzsche sei auf der einen Seite von den Nationalsozialisten in Beschlag genommen worden. Diese hätten aus dem Philosophen »den Anwalt der blonden Bestie, den Anwalt des deutschen Imperialismus« gemacht. In der nationalsozialistischen Lesart Nietzsches sei »Macht, der Wille zur Macht« als einzige Norm menschlichen Verhaltens erschienen, um »jede Art von Willkür und Gewalt« zu rechtfertigen. Auf der anderen Seite stehe der Versuch, Nietzsche »zu nivellieren, ihn zu einem eben jener offiziellen Denker zu machen, die er ebenso wie sein Meister Schopenhauer sein Leben lang aufs leidenschaftlichste befehdet hat«. Man habe ihn verharmlost und »buchstäblich unter die großen Philosophen eingereiht, während sein ganzes Werk eine einzige Absage an die offizielle Tradition der Philosophie im Namen dessen ist, was er selber Leben nannte.«1705 Auf Gadamers Frage, weshalb es denn möglich gewesen sei, dass Nietzsche derart zwiespältig und ungeheuerlich im öffentlichen Bewusstsein verzerrt worden sei, antwortete Horkheimer, man habe im Ausland »alles, was er sagte, […] wörtlich genommen und ihn deshalb zum Urheber der schlimmen Dinge gemacht, die sich in Deutschland ereignet haben.«1706 Besonders Adorno war es ein Anliegen, Nietzsche als nonkonformistischen Denker und einen der wenigen Philosophen zu interpretieren, »der der Lehre von den Invarianten, der Lehre von unveränderlichen Seinsqualitäten, vom Sein, der Unveränderlichkeit des Wahren, der platonischen Idee, all dem in leidenschaftlicher Opposition entgegengestanden« habe.1707 Mehr noch als Adorno lag Horkheimer darüber hinaus an einer positiven Deutung des Werks Sigmund Freuds in der westdeutschen Öffentlichkeit. Anlässlich des 100.  Geburtstags Freuds organisierte er unter anderem zusammen mit Alexander Mitscherlich eine Vorlesungsreihe über Psychoanalyse an der Universität Frankfurt, die im Mai 1956 mit einem Festakt eingeleitet wurde. Überliefert ist eine Rede, die Horkheimer für den eingeladenen Bundespräsidenten Theodor Heuss verfasst hatte, die Letzterer allerdings nicht hielt. Darin betonte er, dass Freud die Selbstbesinnung der Individuen nachdrücklich unter1704 Zur Nietzsche-Rezeption im Nationalsozialismus siehe Steven E. Aschheim, The Nietzsche Legacy in Germany 1890-1990. Berkeley/Los Angeles/London 1994 [1992], S.232-271. 1705 Theodor W. Adorno/Max Horkheimer/Hans-Georg Gadamer, Über Nietzsche und uns. Zum 50. Todestag des Philosophen [1950], in: Horkheimer, Nachgelassene Schriften 1949-1972, S.111-120, hier: S.112. 1706 Ebd., S.113. 1707 Ebd., S.119. Vgl. auch Aschheim, The Nietzsche Legacy, S. 291f.

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strichen habe, die gerade heute den Menschen besonders schwerfalle.1708 Zudem habe sich der Gründungsvater der Psychoanalyse nicht vor der Macht des dunklen Irrationalen gebeugt. Er habe uns vielmehr »kräftigen wollen, daß wir, mit dem kleinen Däumling unseres Bewußtseins, des Chaotischen Herr werden: er wollte, daß der Mensch, so wie er längst die auswendige Natur beherrschte, so auch sich selbst beherrschen, seiner selbst mächtig zu werden lernt.«1709 In seiner eigenen Ansprache betonte Horkheimer nachdrücklich, Freud sei ein Aufklärer gewesen. Der Widerstand gegen ihn gehorche jener fatalen Gewohnheit, »den Aufklärungsprozeß zu sistieren, die dem Nationalsozialismus ebensosehr zugute gekommen ist, wie sie heute den Machthabern des Ostens behagt – die Lehre Freuds ist […] dort diffamiert und in Bann getan, wie ehemals im Dritten Reich.«1710 All dies zeigt, dass für Horkheimer und Adorno ein vorkapitalistisches, nicht korrumpiertes Moment des Guten, Wahren und Schönen existierte, das, so wenig konkret definiert es auch immer sein mochte, ein etwas besseres Leben im Falschen versprach.1711 Im Einklang mit dem Eigenwert der naturhaften Objekte, dessen Erkenntnis sie vom Kapitalismus korrumpiert sahen, erschienen ihnen Kultur, Kunst und Wissenschaft auch weiterhin möglich. 9.1.4 Die Möglichkeit der Aufdeckung des Unwahren durch Kunst, Philosophie und reflektierte Wissenschaft Als Bedingungen für Kultur und Kunst im Nachkriegsdeutschland galten für Horkheimer und Adorno die Vorstellung, dass ein Wahres, Vernünftiges, Objektives, Schönes und Gutes existierte, und dieses sich mit der dialektischen Philosophie erfassen lasse. Dabei sollte die Vernunft das vom Wirklichen verdeckte Wahre aufdecken helfen.1712 Die Dialektik habe, so Adorno, »will sie nicht dem Ökonomismus verfallen und einer Gesinnung, welche glaubt, die Veränderung der Welt erschöpfe sich in der Steigerung der Produk1708 Max Horkheimer, [Sigmund Freuds Programm der Selbstbesinnung. Zum 100. Geburtstag] [1956], in: ders., Nachgelassene Schriften 1949-1972, S.259-263, hier: S.260. 1709 Ebd., S.262. 1710 Horkheimer, [Sigmund Freud – zum 100. Geburtstag], S.110. 1711 Vgl. Freyenhagen, Adorno’s Practical Philosophy, S.65, 94f., 99f. 1712 Gantner, Das Ende der »Deutschen Philosophie«, S.199.

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tion, die Verpflichtung, die Kulturkritik in sich aufzunehmen, die wahr ist, indem sie die Unwahrheit zum Bewußtsein ihrer selbst bringt.«1713 Dialektik beinhaltete für ihn geradezu den »Moment der Objektivität von Wahrheit«.1714 In den frühen 1950er Jahre erachtete er das Prinzip der immanenten Kritik für die Aufdeckung von Ideologie als wegweisend. Bezogen auf geistige Gebilde hieß das für ihn, »in der Analyse ihrer Gestalt und ihres Sinnes den Widerspruch zwischen ihrer ideologischen Idee und jener Prätention zu begreifen, und zu benennen, was die Konsistenz und Inkonsistenz der Gebilde an sich von der Verfassung des Daseins ausdrückt.«1715 Allerdings war ihm auch bewusst, dass keine Philosophie, auch die wahre nicht, »vor der Perversion in den Wahn sicher« sei, »wenn sie einmal der spontanen Beziehung auf das Objekt sich entäußert hat.«1716 Letzteres geschehe, wenn der Mensch die Natur beherrschen wolle. Für ihn war dies eine anthropologische, in die menschliche Urzeit verlegte Konstante, die sich mit der kapitalistischen Herrschaft des Bürgertums um ein Vielfaches verstärkt habe. In seiner Kritik Huxleys argumentierte Adorno entsprechend, dass »der Warencharakter zu einem Ontischen« werde, zu einem »an sich Seienden, vor dem er [Huxley, F.L.] kapituliert, anstatt den ganzen Hexenspuk als bloße Reflexionsform, als das falsche Bewußtsein des Menschen von sich selber zu durchschauen, das mit seinem ökonomischen Grunde zergehen müßte.«1717 Denn das »Verhältnis von Mittel und Zweck, von Humanität und Technik läßt sich nicht nach ontologischen Prioritäten regeln«.1718 Vielmehr müsse es aus der Autonomie der Subjekte und ihrem Verhältnis zum Eigenwert der Objekte heraus bestimmt werden. Eine ihre Methoden und Verfahren nicht reflektierende Naturwissenschaft könne deshalb keine Wahrheit generieren. Als Beispiel führte er Ernst Machs Empiriokritizismus an, »in dem das Ideal naturwissen1713 Adorno, Kulturkritik und Gesellschaft, S.22. 1714 Ebd., S.23f. 1715 Ebd., S.27. Siehe auch Freyenhagen, Adorno’s Practical Philosophy, S.13. Später wurde Adorno diesem Verfahren gegenüber skeptischer und bezog sich stärker auf normative Annahmen. Vgl. ebd., S.14f. 1716 Adorno, Kulturkritik und Gesellschaft, S.29. 1717 Adorno, Aldous Huxley und die Utopie, S.117. 1718 Ebd., S.118.

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schaftlicher Akribie mit der Preisgabe jeglicher Selbständigkeit der kategorialen Form sich zusammenfindet.«1719 Bei Horkheimer prägte weniger die Eigenwertigkeit des Objekts das Wahre und Gute, als die Beziehung der Subjekte zur Lebenswelt: »Mit der Ausbildung einer eigenen Logik, mit der Verselbständigung des Subjekts, seiner Distanzierung von der Welt als bloßem Material entsteht im Widerspruch zu jener umspannenden, dem Objekt und Subjekt gleichermaßen eigenen Vernunft, die formale, ungebundene, ihrer selbst gewisse ratio.«1720 In diesem historischen Moment sei die »instrumentellen Vernunft« entstanden. Deren Problem sah er – wie auch Adorno – in der mangelhaften Interpretation oder gar der Unfähigkeit zur Reflexion über das angemessene Verhältnis von Mittel und Zweck sowie dessen Rechtfertigung.1721 Horkheimer kritisierte dabei Max Weber und den amerikanischen Pragmatismus. Macht dürfe keinesfalls als so vernünftig oder unvernünftig wie die Gerechtigkeit angesehen werden. Auch sollten Vernunft und Nützlichkeit nicht gleichgesetzt werden.1722 Während Weber der Wissenschaft verboten habe, »zu lehren, was man soll, und die Aufstellung der Ziele der Willkür vorbehält, billigt er der Wissenschaft doch zu, zu lehren was man kann, und unter Umständen verstehen zu lehren, was man will,« wie es Horkheimer 1954 in einem Manuskript für einen Rundfunkvortrag festhielt.1723 Nur ein Denken, das das objektiv Vernünftige erfassen könne, »ohne die auch subjektive Vernunft unsicher und haltlos bleibt«, wirke der Entwicklung einer Auflösung des objektiven Inhalts eines jeglichen Begriffs entgegen.1724 Es gelte deshalb, »den Gegensatz zwischen subjektiver und objektiver Vernunft nicht durch die Entscheidung für eine Alternative, auch nicht von außen her durch Milderung der Gegensätze oder Hypostasierung von Ideen zu überwinden, sondern durch Versenkung in die widersprüchliche Sache selbst.«1725

1719 Theodor W. Adorno., George und Hofmannsthal. Zum Briefwechsel: 1891-1906 [1942], in: ders., Kulturkritik und Gesellschaft I, S.195-237, hier: S.199. 1720 Horkheimer, Zum Begriff der Vernunft, S.22. 1721 Ebd., S.23. 1722 Ebd. 1723 Max Horkheimer, Wert und Objektivität in der sozialwissenschaftlichen Erkenntnis [1954], in: ders., Nachgelassene Schriften 1949-1972, S.25-29, hier: S.28f. 1724 Horkheimer, Zum Begriff der Vernunft, S.25f. Vgl. Forner, German Intellectuals, S.313. 1725 Horkheimer, Zum Begriff der Vernunft, S.33.

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Das philosophische Denken müsse »aus dem gesamten Lebensprozeß der Menschheit« heraus entwickelt werden.1726 Dabei gab es für Horkheimer keine Generallösung, denn die Praxis hänge nicht bloß von der Wahrheit ab, sondern die Wahrheit auch vom Handeln der Menschen.1727 Das Denken des objektiv Vernünftigen könne nur durch theoretische Reflexion erlangt werden. Konkret meinte er damit ein dialektisches Durchdenken der historisch gewachsenen gesellschaftlichen Erscheinungsformen.1728 Besonders Adorno sollte ab Mitte der 1950er Jahre seine Kritik an der amerikanisch-englischen empirischen Sozialforschung und der analytischen Philosophie, die er als Übersetzungsprodukt von Logischem Empirismus in Pragmatismus sowie als Resultat der fortschreitenden Technisierung der modernen Gesellschaft verstand, weiter ausbauen. Auch die Shoah hob er fortan als metaphysischen Angelpunkt jeglicher Philosophie nach dem »Zivilisationsbruch« noch pointierter hervor. Beide Elemente waren bereits seit der Dialektik der Aufklärung im Denken Horkheimers und Adornos angelegt worden. Jeffrey Herf weist kritisch darauf hin, dass beide Denker dadurch die Forderung einer konkreten Aufarbeitung der NS-Vergangenheit der Deutschen, zu der auch die Identifikation von NS-Tätern gehörte, faktisch umgingen. Ebenso hätten sie übersehen, dass die Rationalität der Naturwissenschaften auch in der Moderne emanzipatorisches Potenzial gegenüber autoritär-dogmatischen Theologien aufwies.1729 Dass es Adorno nicht darum ging, die Schuld Einzelner an der Shoah offen zu legen, hatte er bereits in der Minima Moralia niedergeschrieben: Falls er nach Deutschland zurückkehre, wolle er um keinen Preis Henker sein oder »Rechtstitel für Henker liefern. Dann: ich möchte keinem, und gar mit der Apparatur des Gesetzes, in den Arm fallen, der sich für Geschehenes rächt.«1730

9.2. Von der »nivellierten Mittelstandsgesellschaft« zur »wissenschaftlichen Zivilisation« Helmut Schelsky erzielte mit seinem zeitdiagnostischen Orientierungswissen in den 1950er Jahren mediale Breitenwirkung. Er kam rasch mit den Printmedien ins Gespräch, wie Gerhard Schäfer betont: Mehrere Zeitungen sowie der NWDR und der NDR hätten ihm Mitte der 1950er Jahre Verträge für eine regelmäßige Mitarbeit angeboten. Auch Parteien, Gewerkschaften, Kirchen und Volkshochschulen seien an soziologischem Orientierungswissen interessiert gewesen. 1726 1727 1728 1729 1730

Ebd. Horkheimer, Schopenhauer und die Gesellschaft, S.54. Horkheimer, Zum Begriff des Menschen, S.59. Herf, The Displacement of German History, S.447f., 454. Adorno, Minima Moralia, S.62. Vgl. Müller-Doohm, Adorno, S.487.

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Schelsky, so Schäfer weiter, habe sich der Bereitstellung eines solchen Wissens mit großem Interesse gewidmet und bei ›Überlastung‹ gern an seine Assistenten Kluth, Tartler, Kob und andere weitervermittelt.1731 Morten Reitmayer ordnet Schelsky der »konservativen Avantgarde« der jungen Bundesrepublik zu, zu der er vor allem Arnold Gehlen zählt. Deren öffentliche Stellungnahmen hätten eine durchaus starke publizistische Wirkung gezeitigt, die aber erst in den späten 1950er Jahren sichtbar geworden sei.1732 Diese Deutung ist grundsätzlich korrekt – mit Ausnahme eines nicht zu unterschätzenden Aspekts: Schelsky war seiner intellektuellen Sozialisation nach zwar sicher dem jungkonservativ geprägten Leipziger soziologischen Denkkollektiv zuzuordnen und sollte in den 1960er Jahren nochmals eine konservative Wende vollziehen. Bis Mitte der 1950er Jahre jedoch nahm er die sozialwissenschaftlichen Ansätze progressiver, mehrheitlich amerikanischer Autoren enthusiastisch auf und verknüpfte sie mit seiner Institutionensoziologie. Dabei zielte er zwar auf ein gesellschaftliches Ordnungssystem ab, legte dieses allerdings progressiv-dynamisch und damit gerade nicht konservativ aus. Zahlreiche althergebrachte moralische und ideologisch-politische Werte waren in seinen Augen längst überholt. Genauso wenig wie Adorno und Horkheimer eine intellektuelle Einheit bildeten, obwohl sie demselben Denkkollektiv angehörten, können also auch Schelsky und Gehlen nicht als einheitliches konservatives Duo verstanden werden. Wie bereits gezeigt deutete Schelsky unter Rückgriff auf die strukturfunktionalistische Soziologie und Sozialanthropologie amerikanisch-englischer Provenienz die Lage der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft als »nivellierte Mittelstandsgesellschaft«. In diese zeitdiagnostische Denkfigur gliederte er die deutsche NS-Vergangenheit ein, indem er den Nationalsozialisten attestierte, mit ihrem Ideologem der NS-Volksgemeinschaft unbeabsichtigt die alten Klassenschranken des Deutschen Reiches niedergerissen zu haben. Mithin sei die »nivellierte Mittelstandsgesellschaft« gleichsam durch den von den Nationalsozialisten losgetretenen Mobilisierungswahn vorbereitet worden. Mit dem Zusammenbruch des NS-Regimes und der alliierten Besatzungsherrschaft setzte sich laut Schelsky diese schon von Intellektuellen wie David Riesman für die Vereinigten Staaten beobachtete Entwicklung trotz der noch stärkeren Ungleichzeitigkeiten auch in Westdeutschland durch. Seine frühe Deutung der Beziehung von Nationalsozialismus und Moderne beeinflusste in der Mitte der 1960er Jahre Ralf Dahrendorf und David Schoenbaum. Sie vertraten in unterschiedlichen Varianten die These,

1731 Gerhard Schäfer, Die nivellierte Mittelstandsgesellschaft – Strategien der Soziologie in den 50er-Jahren, in: Georg Bollenbeck/Gerhard Kaiser (Hrsg.), Die janusköpfigen 50er Jahre. Kulturelle Moderne und bildungsbürgerliche Semantik III . Wiesbaden 2000, S.115-142, hier: S.135. 1732 Reitmayer, Elite, S.435.

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dass der Nationalsozialismus modernisierende Wirkung auf die deutsche Gesellschaft gehabt hätte.1733 Mit der »nivellierten Mittelstandsgesellschaft« wollte Schelsky zeigen, dass die moderne Gesellschaft nicht mehr mit dem Klassenbegriff Marx’ zu erfassen sei. Dieser erschien ihm antiquiert. Für Schelsky existierten Klassen nicht mehr, was durch den immer weiter ausgreifenden Wohlfahrtsstaat maßgeblich befördert worden sei. Die herkömmliche Klassenstruktur sei von der »nivellierten Mittelstandsgesellschaft« gleichsam überrollt worden. Eine Analyse der zeitgenössen Gesellschaft müsse deshalb über den Schichtungsbegriff erfolgen.1734 Auch für Gehlen gehörte die »Schichtung in herrschende und unterworfene Klassen« wesentlich »der vorindustriellen Zeit« an.1735 Mit dieser Interpretation entkoppelte er Klassenbegriff und Industriegesellschaft als Entwicklungszustände moderner Gesellschaften voneinander. Die von Schelsky maßgeblich beeinflusste westdeutsche industriesoziologische Forschung, wie sie Heinrich Popitz, Hans Paul Bahrdt und andere betreiben sollten und deren Ansätze in der Philosophischen Anthropologie Gehlens und Plessners verwurzelt waren,1736 setzten die Dekonstruktion von Klasse als Analysekonzept fort. So stellten Popitz und seine Mitautoren in ihrer 1957 publizierten Studie Das Gesellschaftsbild des Arbeiters fest, dass das Zusammengehörigkeitsgefühl der 600 interviewten Hüttenarbeiter nicht mehr als Klasse interpretiert werden könne, sondern als Schicht. Zudem handele es sich auch bei der von den Arbeitern geäußerten Kritik

1733 Ian Kershaw, Der NS-Staat, Deutsch v. Peter Krause, 4. Aufl. Reinbek bei Hamburg 1994 [1985], S.253-256. Siehe Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland. München 1965; David Schoenbaum, Hitler’s Social Revolution: Class and Status in Nazi Germany 1933-1939. New York 1967. Kritik an der Denkfigur der mit spezifischen vergangenheitspolitischen Implikationen verbundenen »nationalsozialistischen Modernisierungsleistung« übt Schäfer, Soziologie als politische Tatphilosophie, S.646. 1734 Braun, Helmut Schelskys Konzept der ›nivellierten Mittelstandsgesellschaft‹, S.199f., 215-219. Die Schichtungsforschung in Deutschland nach 1945 ging dabei maßgeblich auf Arbeiten von Emil Lederer und Josef Marschak, Josef Alois Schumpeter, Theodor Geiger sowie Siegfried Kracauer aus den 1920er Jahren zurück. Vgl. ebd., S.203-205. Siehe auch Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft, S.331. Später sollte Schelsky auch die Vorstellung von den gesellschaftlichen Schichtungen zugunsten seiner »nivellierten Mittelstandsgesellschaft« auflösen. Siehe dazu Schäfer, Die nivellierte Mittelstandsgesellschaft, S.122. Vgl. Helmut Schelsky, Gesellschaftlicher Wandel [1956/61], in: ders., Auf der Suche nach Wirklichkeit, S.333-349. 1735 Arnold Gehlen, Soziologie der Macht [1953/58], in: ders., Einblicke, hrsg. v. KarlSiegbert Rehberg (Arnold Gehlen Gesamtausgabe, Bd.7). Frankfurt am Main 1978, S.91-99, hier: S.94. 1736 Vgl. Fischer, Philosophische Anthropologie – Ein wirkungsvoller Denkansatz.

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ihrer sozialen Lage lediglich um Relikte und Verwässerungen marxistischkommunistischer Ideologie.1737 Im zeitgenössischen sozialwissenschaftlichen Diskurs stieß Schelskys modernisierungstheoretische These allerdings auf harsche Kritik. Die westdeutschen Sozialwissenschaftler der 1950er Jahre, insbesondere solche aus dem Umfeld der »Kölner Schule« um René König, lehnten sie mehrheitlich ab. Auch Adorno widersprach Schelskys Nivellierungsthese.1738 Dies hielt diesen jedoch nicht davon ab, sein Theorem zu verteidigen. Als Dahrendorf Mitte der 1950er Jahre einen Versuch unternahm, den Klassenbegriff wieder in die soziologische Theorie einzuführen, machte sich kein geringerer als Schelsky die Mühe, diesen in einem umfangreichen Aufsatz zu widerlegen. Dabei spitzte er »den Klassenbegriff auf seine dogmatisch-marxistische und ›totale‹ Form« zu, um »sodann dessen empirisch-analytische Untauglichkeit zu demonstrieren«, wie Reitmayer darlegt. 1961 stellte er befriedigt fest, dass sich Dahrendorf in der Zwischenzeit vom Klassenbegriff wieder distanziert habe.1739 Auch Horkheimers und Adornos marxistisch grundierte gesellschaftsphilosophisch-dialektische Kritik der bestehenden Verhältnisse musste Schelsky als überholt erscheinen. Die divergierenden Positionen in den westdeutschen Sozialwissenschaften bis Mitte der 1950er Jahre zeigen, dass auf der Orientierungswissen generierenden Wissensebene erhebliche Konkurrenz- und Konfliktpotenziale bestanden. Intensiver als Horkheimer und Adorno veröffentlichte Schelsky die an der Akademie für Gemeinwirtschaft gewonnenen Untersuchungsergebnisse in Bildungs- und Kulturzeitschriften. Während erstere auf dieser Wissensebene ihr esoterisches dialektisch-philosophisches Idiom popularisierten, tat Schelsky dies mit der empirischen Sozialforschung  – gerade weil er sich ja von jeglichem philosophischen Idealismus distanzieren wollte. So publizierte er Ergebnisse seiner familiensoziologischen Untersuchungen 1953 in fünf aufeinanderfolgenden Abschnitten in der Zeitschrift Wort und Wahrheit. Monatsschrift für Religion und Kultur.1740 Dabei hob er einzelne gesellschaftshistorische Zusammenhänge 1737 Heinrich Popitz u.a., Das Gesellschaftsbild des Arbeiters. Soziologische Untersuchungen in der Hüttenindustrie (Soziale Forschung und Praxis, Bd.17). Tübingen 1957, S.6f., 60f. 1738 Schäfer, Die nivellierte Mittelstandsgesellschaft, S.115f., 122-124, 132f. Dahrendorf sollte, bezogen auf Schelskys »nivellierte Mittelstandsgesellschaft«, 1965 auf den »für den Soziologen nahezu unglaublichen Irrtum der Information« verweisen. Schelsky sei offensichtlich auf beiden Augen blind gewesen gegenüber weiterbestehenden sozialen Ungleichheiten in der bundesrepublikanischen Gesellschaft. Zitiert nach: Schäfer, Die nivellierte Mittelstandsgesellschaft, S.125. 1739 Reitmayer, Elite, S.534f. 1740 Helmut Schelsky, Familie und Gesellschaft. Eine Bestandsaufnahme der Familie in Westdeutschland I , in: Wort und Wahrheit. Monatsschrift für Religion und Kultur 8 (1953) 1, S.21-28; ders., »Unsere Kinder sollen es besser haben«. Eine

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hervor, wie etwa die Antiquiertheit des in den frühen 1950er Jahren vorherrschenden Frauenbilds. Vielmehr sei die Frau durch die »politische Aktivierung der Gesamtbevölkerung« im Nationalsozialismus stärker in die außerfamiliären Sphären hineingedrängt worden, was letztlich zu ihrer »Funktionsüberlastung« in der zeitgenössischen Gesellschaft geführt habe. Diese Veränderung sei gerade nicht Folge der Emanzipationsbewegung, sondern der Notlage der deutschen Familie.1741 Einen weiteren Artikel in derselben Zeitschrift publizierte Schelsky unter dem Titel »Ist die Jugend nicht jung genug?« (1957). in diesem Aufsatz bezog er sich auf seine jugendsoziologischen Studien.1742 Im November 1954 war er aufgrund seiner Forschungen über die Wandlung der Familie in den Nachkriegsjahren in den Beirat des Bundesministeriums für Familienfragen berufen worden.1743 Seine sozialempirischen Erkenntnisse machte er auch in Tageszeitungen einem breiteren Publikum bekannt. Ein Beispiel ist der am 9. April 1955 in der FAZ erschienene Artikel »Über das Restaurative unserer Zeit«. Danach herrschten in bundesrepublikanischen Institutionen ideologische Haltungen vor, die veraltet seien und der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Realität der nachkriegszeitlichen westdeutschen Gesellschaft nicht mehr gerecht würden. Otto Stammer kritisierte den Beitrag in der Zeitschrift Die neue Gesellschaft. In derselben Ausgabe versuchte Schelsky in einem Brief an Stammer die aufgetretenen Missverständnisse aus dem Weg zu räumen.1744 Schelskys und Gehlens an ein breiteres Publikum gerichtete Vorträge und Aufsätze offenbaren mehrere diskursive Formationen, die den sozialen und technischen Wandel in der modernen westdeutschen Gesellschaft thematisierten und kritisierten: Die heraufziehende Herrschaft des ›Managers‹ als neue soziale Figur

1741 1742

1743 1744

Bestandsaufnahme der Familie in Westdeutschland II, in: Wort und Wahrheit. Monatsschrift für Religion und Kultur 8 (1953) 3, S.201-209; ders., Keine Zeit für Familienleben. Eine Bestandsaufnahme der Familie in Westdeutschland III, in: Wort und Wahrheit. Monatsschrift für Religion und Kultur 8 (1953) 5, S.343-350; ders., Emanzipation – Auf Kosten der Frau. Eine Bestandsaufnahme der Familie in Westdeutschland IV, in: Wort und Wahrheit. Monatsschrift für Religion und Kultur 8 (1953) 7, S.485-492; ders., Der Vater und seine Autorität. Eine Bestandsaufnahme der Familie in Westdeutschland V, in: Wort und Wahrheit. Monatsschrift für Religion und Kultur 8 (1953) 9, S. 663-672. Schelsky, Emanzipation, S.486f. Helmut Schelsky, Ist die Jugend nicht jung genug? Leitbilder des Jugendgemäßen in der westdeutschen Gesellschaft, in: Wort und Wahrheit. Monatsschrift für Religion und Kultur 12 (1957) 9, S.666-678. StAHH, 731-8, A 796: Zeitungsausschnitt-Sammlung, Schelsky, Helmut: Hamburger Abendblatt vom 16.11.1954. Helmut Schelsky, »Das Restaurative in unserer Zeit«, in: Die neue Gesellschaft 2 (1955) 4, S.46-50 [wiederabgedruckt in: ders., Auf der Suche nach Wirklichkeit, S.410-420].

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in der Berufswelt (Kap. 9.2.1), die zunehmende Technisierung aller gesellschaftlichen Bereiche, die Schelsky später mit dem Begriff der »wissenschaftlichen Zivilisation« fasste (Kap. 9.2.2), und das vermeintliche Ende der politischen Ideologien einschließlich der daraus resultierenden technischen Sachzwänge für das Regieren (Kap. 9.2.3). 9.2.1 Die Herrschaft des ›Managers‹ 1950 publizierte Schelsky in den Gewerkschaftlichen Monatsheften seine erste Abhandlung über »Berechtigung und Anmaßung in der Managerherrschaft«. Den Begriff ›Manager‹ als Bezeichnung für eine neue Figur der modernen Gesellschaft entnahm er James Burnhams The Managerial Revolution von 1941, das 1948 unter dem Titel Das Regime der Manager auf Deutsch erschienen war.1745 Er führte den Begriff jedoch auf Arbeiten zur »Versachlichung« der Unternehmer- und Betriebsfunktionen und deren »Übernahme durch die Wirtschaftsbürokratie« zurück, wie sie seit der Jahrhundertwende unter anderem Max Weber, Walther Rathenau und Thorstein Veblen vorgelegt hatten.1746 Im Manager-Begriff manifestierte sich für ihn »das unglückliche Verhältnis von Ordnungsbewußtsein und gesellschaftlicher Realität, das unbefriedigte Legitimitätsbewußtsein unserer Zeit«.1747 Die Entstehung des Managertums führte Schelsky auf zwei Prozesse zurück: Zum einen auf die Spezialisierung infolge der immer stärkeren Arbeitsteilung, die in die Verwissenschaftlichung und Bürokratisierung der sozialen Welt führe, zum anderen jedoch auch auf die daraus hervorgehende soziale Gruppe, die »nun auch die Herrschafts- und Machtpositionen in unserer Gesellschaft besetzt und die früher herrschenden Schichten daraus verdrängt hat.«1748 Die fortschreitende Industrialisierung habe die »Ablösung der Unternehmer- und Betriebsführerfunktion vom Eigentum« und eine Abstrahierung der gesellschaftlichen Beziehungen von den Produktionsverhältnissen bewirkt. Die Erwartung Marx’ und Lenins, dass dieser Prozess zu einer Vereinfachung der Verwaltungs- und Produktionsaufgaben führe, sei jedoch nicht eingetreten. Vielmehr habe die technische Entwicklung die beruflichen Fähigkeiten aufgespalten und die staatlichen wie wirtschaftlichen Lebensgrundlagen der modernen Gesellschaft »vom Vorhandensein eines vielfachen und hochge1745 James Burnham, The Managerial Revolution: What is Happening in the World. New York 1941. Auch Carl Schmitt hatte nach seiner Entlassung aus der Nürnberger Haft Burnhams Buch von 1941 gelesen. Siehe Florian Meinel, Widerstand gegen die Opposition. Zur geistesgeschichtlichen Lage der frühen Bundesrepublik, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 13 (2019) 3, S.36-43, hier: S.36. 1746 Helmut Schelsky, Berechtigung und Anmassung in der Managerherrschaft [1950], in: ders., Auf der Suche nach Wirklichkeit, S.20-37, hier: S.20. 1747 Ebd., S.21f. 1748 Ebd., S.22.

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züchteten Fachkönnens und Spezialwissens abhängig gemacht.«1749 Im Gegensatz zu Horkheimer und Adorno, die dies in den Zusammenhang einer zunehmend total verwalteten Welt stellten, die in totalitärer Herrschaft und der Shoah ihre Endpunkte fand, konstatierte Schelsky, dass die Rolle des Spezialisten in der gegenwärtigen Produktions- und Gesellschaftsverfassung in keiner Weise anzuzweifeln sei. »[S]ie erschüttern oder verneinen zu wollen, hieße den Untergang unserer Kultur herbeiführen.«1750 Einen Herrschaftsanspruch könne diese von Schelsky zunächst nur als Exekutive erfasste Gruppe jedoch erst erheben, wenn sie auf Basis ihres Sachverständnisses der Techniken auch deren Ziele bestimme.1751 Letzteres leitete er daraus ab, dass die Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel, die ehemals bei den Großgrundbesitzern, Unternehmern und Monarchen gelegen hatte, zunehmend in die Hände der Manager übergegangen sei. In Absetzung von Weber und Burnham arbeitete er einen bis dahin übersehenen Aspekt des Managertums heraus: Die Funktionen dieser Organisatoren ergaben sich für ihn gerade nicht aus einer radikalen Arbeitsteilung und aus einem von Schelsky durchaus begrüßten Spezialistentum, sondern beruhten »auf Fähigkeiten der allgemeinen Menschenbehandlung, auf Überblick und Kombinationsgeschick«, also »auf einem Können, das sich keineswegs mehr an eine Kompetenz gebunden fühlt.« Im Gegensatz zum Fachmann oder auch zum Beamten halte sich der Manager für alles zuständig.1752 Was die neue Schicht der Manager charakterisierte  – darin folgte er Burnham  –, sei ihre Fähigkeit zur stetig dynamischen Kombination und zur schöpferischen Organisation.1753 Mit dieser Entwicklung einher sei allerdings auch die Loslösung der Manager »von jeder Art besonderer Amtspflichten und einem verläßlichen Berufsethos« gegangen. Er könne leicht von einem zum nächsten Arbeitsinhalt wechseln. Von den Managern, die gleichermaßen den Verkauf einer Sektfirma, die Außenpolitik eines Staates, die Kriegsführung verschiedener Staaten oder eine Universität organisierten, sei nicht zu erwarten, »daß sie auf die Verhaltensweisen und den Habitus eines ehrenwerten Kaufmannes, eines Berufsdiplomaten, eines Offiziers oder eines Gelehrten festlegbar sind.« Diese Arbeitsform bedinge keine Fachausbildung und -qualifikation mehr. Vielmehr begründe sich ihr Anspruch auf diese Positionen »jetzt allein auf Geschick, Lebenserfahrung und Erfolg, und nichts liegt weniger in der Absicht der Manager, als auf der hierarchischen

1749 1750 1751 1752 1753

Ebd., S.23. Ebd. Ebd., S.24. Ebd., S.26. Ebd., S.26f.

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Stufenleiter irgendeiner Bürokratie auf Grund von Fachleistungen aufsteigen zu wollen.«1754 Für Schelsky war daher klar, dass »die Herrschaftspositionen des Managertums in unserer Gesellschaft grundsätzlich unabhängig sind von der arbeitstechnischen Differenzierung und Spezialisierung unserer Produktions- und Verwaltungsprozesse, ja von technischfachlichen Leistungen überhaupt.«1755 Er sah den kennzeichnendsten Zug der Manager gerade in der Fachungebundenheit und der Bezogenheit auf Herrschaftsbeziehungen, die »man in dem ihnen eigentümlichen Bedürfnis sehen muß, geradezu grundsätzlich alle Sachbezüge in Herrschaftsbezüge umzufälschen, aus allem eine ›Organisationsaufgabe‹ zu machen und diese Organisation letzten Endes um der Organisation willen zu betreiben, ein Verhältnis, das typisch ist für jede Art der Machtausübung.«1756 All dies zeigt, dass Schelsky der von ihm diagnostizierten Managerherrschaft kritisch gegenüberstand. Im Managertum sah er ähnlich wie Horkheimer eine Art »instrumentelle Vernunft« und eine von der Lebenswirklichkeit der Produktionsprozesse losgelöste, sich nun etablierende Herrschaftsschicht. Er ging sogar so weit, den Managern eine »verdeckte Herrschaft« nicht nur in der Wirtschaft und in öffentlichen Einrichtungen, sondern auch »gegenüber den alten Autoritäten, den offiziellen Vertretern von Machtpositionen« zuzuschreiben. In der Wirtschaft manifestiere sich dies in der Ablösung des Unternehmers durch »Generaldirektoren und Syndici«. »[D]as Eigentum in Form der Aktie« sei längst zum bloßen Erfüllungsgehilfen des Managements, der Betriebsleitung, geworden.1757 Im Namen der Privatwirtschaft, der Demokratie und ihrer Volksvertretung ersetzten die Manager die alten Funktionseliten.1758 Der soziologische Kern des Managertums lag für Schelsky »in der Tatsache, daß Eigentum und Souveränität rein formal werden und formell bei den alten Inhabern verbleiben«. Dies bedeute, dass die traditionelle Rechtsordnung in einem grundsätzlichen Widerspruch zur tatsächlichen Verteilung der Macht stehe: Während das Wirtschaftsleben rechtlich noch auf der »Institution des Eigentums als Herrschaftsgrundlage« aufbaue, habe sich »die Verfügung über die wirtschaftliche Macht längst sowohl vom Privateigentümer wie vom Gemeineigentümer un1754 1755 1756 1757 1758

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Ebd., S.27. Ebd., S. 28. Ebd. Ebd., S.30. Ebd., S.31.

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abhängig gemacht hat.« Dasselbe gelte für Politik und Souveränität.1759 Deshalb sei die Managerherrschaft »ohne Rechtfertigung und Berechtigung in unserer Rechtsordnung und unserem Sozialbewußtsein«. Sie bilde eine »bloße De-factoMachtausübung« und sei illegitim. Sie könne nur deshalb von den Managern ergriffen werden, weil die ehemals Herrschenden die Macht aus den Händen gegeben hätten.1760 Als Folgen dieser Entwicklung würden einerseits »das Sozialbewußtsein und die Rechtsordnungen unserer Zeit dadurch fundamental unwirklich, werden zu Pseudovorstellungen und Pseudoordnungen der Herrschaft, zum anderen entbehren die tatsächlichen Machthaber der Legitimität, der Anerkennung in der Rechtsordnung und im sozialen Bewußtsein der Beherrschten, ihre Herrschaft wird damit im Sinne der Legitimität zu einer Anmaßung.«1761 Statt politische Ideen zu debattieren, gehe es in der Politik nur noch um Machtkämpfe zwischen Managergruppen. Dies zeige sich an der Beliebigkeit, mit der Parteien politische Wert- und Zielvorstellungen aufgriffen: »Demokratie und Volksherrschaft, soziale Gerechtigkeit, Humanität, Toleranz usw. werden heute von den Programmen aller Seiten vertreten; daß niemand dagegen ist und sie doch nicht verwirklicht werden, daß sich alle politischen Programme immer ähnlicher werden, ist die Folge dieser ohnmächtigen Unangemessenheit unseres Sozialbewußtseins gegenüber der gesellschaftlichen Wirklichkeit.«1762 Dabei gehöre die Maskierung »zum Wesen des Managers«, der die Herrschaft anstelle eines anderen ergreife, »ohne dazu legitimiert zu sein.«1763 Den Grund für die Etablierung der Managerherrschaft sah Schelsky im »Übergewicht des Sicherheitsbedürfnisses in allen Schichten der Gesellschaft, das die Übernahme persönlichen Risikos jeder Art immer seltener werden läßt«. Dies werde darin deutlich, dass Unternehmer ihr Risiko zugunsten einer überindividuellen Monopolbildung aufgäben, die politischen Volksvertreter sich wie »risikoentbundene Funktionäre verhielten« und sich die »wirtschaftlichen und politischen Ziele immer ausschließlicher auf das Sicherheitsstreben der breiten Bevölkerung verengten«.1764

1759 1760 1761 1762 1763 1764

Ebd. Ebd., S.32. Siehe auch ebd., S.34. Ebd., S.32. Ebd., S.32f. Ebd., S.34. Ebd., S.37.

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Auch Gehlen behandelte in einem Eröffnungsvortrag, den er anlässlich einer Tagung über »Kulturkonsum und Konsumkultur« am 22. Oktober 1955 in Wuppertal hielt, die Frage nach der soziologischen Beschreibung der neuen industriellen, politischen und öffentlichen Verwaltungsschicht. Er nutzte hierfür das Stichwort »Bürokratisierung«. In der industriellen Gesellschaft sei demnach zu beobachten, »daß der Teil der Erwerbstätigen, der in Verkehr und Verwaltung, also in öffentlichen und privaten Verkehrsbetrieben tätig ist, in den Staats- und Gemeindeverwaltungen, in Angestelltenberufen der privaten und öffentlichen Wirtschaft, daß dieser Teil im Verhältnis zum Ganzen laufend zunimmt.«1765 Dieser Anstieg der Verwaltungsangestellten hänge, wie Gehlen in seinem 1953 verfassten Artikel »Industrielle Gesellschaft und Staat« darlegte, damit zusammen, dass die Differenz von Staat und Gesellschaft in der modernen Industriegesellschaft zunehmend verschwimme. Der Staat habe seine Aufgaben auf gesamtgesellschaftliche Aspekte ausgeweitet, wie etwa die Garantie von Rechten für Minoritäten.1766 Dass er solche überhaupt garantieren könne und staatliche Wohlfahrtseinrichtungen ausgebaut würden, liege in der zunehmend engeren Verzahnung von Staat und Industrie begründet, denn »es ist klar, daß das störungsfreie Funktionieren des insoweit untersuchten Gebildes von der störungsfreien Steigerung des Sozialproduktes abhängt.«1767 Bereits 1950 hatte Gehlen auf dem 10. Deutschen Soziologentag argumentiert, dass der Staat überall »Fürsorgestaat« werde, also »einen zunehmend größeren Teil des Sozialproduktes selbst verwaltet«.1768 Aus all dem resultiere ein stetiges Wachstum von Bürokratie und Bürokratisierung. Es führe vielleicht dazu, »daß sich über die nationalen Bürokratien noch internationale legen, Superstrukturen über Superstrukturen, Verbände von Koordination über andere.«1769 Genau in diesen Zusammenhang verortete er die Herausbildung der Manager als neue Herrschaftsschicht wirtschaftspolitischer Planer und Organisatoren mit gesamtgesellschaftlicher Wirkungskraft. Schelskys und Gehlens Ansichten über die heraufziehende Managerherrschaft waren Teile eines Diskurses, zu dem auch Horkheimer und Adorno mit ihrer Technisierungskritik, aber auch zahlreiche weitere Autoren beitrugen, so etwa 1765 Arnold Gehlen, Konsum und Kultur [1955], in: ders., Einblicke, S.3-14, hier: S.3. 1766 Arnold Gehlen, Industrielle Gesellschaft und Staat [1953/59/63], in: ders., Einblicke, S.110-124, hier: S.117. 1767 Ebd., S.118. 1768 Arnold Gehlen, Bürokratisierung [1950/51], in: ders., Einblicke, S.125-140, hier: S.126. 1769 Ebd.

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José Ortega y Gasset, Hendrik de Man, Peter F. Drucker, Riesman und Burnham.1770 Auch der deutsche Ökonom und Publizist Fritz Hauenstein sah 1949 in der Managerherrschaft eine »erschreckende Entpersönlichung der Wirtschaft«. Reitmayer sieht dies als das »komprimierte Meinungswissen wirtschaftsnaher Intellektueller der 1950er Jahre«.1771 Diese sahen die kapitalistische bürgerliche Gesellschaft und den industrialisierten Kommunismus in einer Managergesellschaft enden, die mit Riesmans »einsamer Masse« korrelierte. Mit Riesmans Buch hatten sich auch Gehlen und Schelsky intensiv beschäftigt. Die Einleitung zur deutschen Übersetzung stammte von Schelsky. Dass dieser die Managerherrschaft kritisierte, zugleich jedoch auch Trotzkisten wie Burnham positiv rezipierte, zeigt, dass er in den frühen 1950er Jahren auf ideologischpolitischer Ebene keineswegs nur konservativ war. Vielmehr nutzte er die soziologische Institutionentheorie, um eine Gesellschaftskritik zu formulieren.1772 Wesentlich moderner als die genannten Autoren war Schelsky in seiner Ansicht, dass die allseits konstatierte zunehmende Technisierung der modernen Gesellschaft zunächst nichts Bedrohliches an sich habe. Für eine reflexive Theoriebildung bedürfe es jedoch erst einmal adäquater soziologischer Ansätze. Davon allerdings seien die westdeutschen Sozialwissenschaftler der frühen 1950er Jahre noch weit entfernt. 9.2.2 Die Technisierung der modernen Gesellschaft 1953 verfasste Schelsky den Aufsatz »Zukunftsaspekte der industriellen Gesellschaft«, der im Folgejahr im Merkur erschien und 1957 Teil der Monografie Die sozialen Folgen der Automatisierung wurde. Er konstatierte darin, dass bestimmte technische Erfindungen in der Gegenwart »ganz neue Gesetzlichkeiten und Folgen in der Entwicklung der industriellen Gesellschaft anzukündigen scheinen«, wobei diese »bereits zu solcher Reife gediehen« seien und »sich zum Teil schon so weit in Anwendung [befinden], daß ihre Auswirkung und Ausbreitung weitgehend zu übersehen sind.« Als Beispiele dieser neuen Techniken, die zahlreiche Denker der »zweiten industriellen Revolution« zurechnen würden, nannte Schelsky »die aus der Entwicklung der Schwachstromtechnik und der Vakuumröhre entstandenen Elektronen-Rechenmaschinen oder sonstigen automatischen Steuerungsapparate.« Das Neue dieser Techniken bestehe darin, »daß mit der Verwendung der automatischen Steuerungsapparaturen sich ein bisher unbekannter Ersatz der menschlichen Sinnesleistungen als Kontrollund Orientierungsfunktion und der schematisierten Intelligenzleistungen in 1770 Vgl. Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft, S.306-314. 1771 Zitiert nach: Reitmayer, Elite, S.326. 1772 Vgl. Reitmayer, Elite, S.138-140.

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den Produktions- und Verwaltungsweisen unserer Arbeitswelt anzubahnen scheint.«1773 Er sah das digitale Zeitalter heraufziehen, ohne dafür einen Begriff zu haben. Den begrifflich-analytischen Missstand räumte er auch unumwunden ein, zumal diese Entwicklung bisher kaum sozial- und geisteswissenschaftlich erfasst worden sei. Lediglich drei Gruppen von Wissenschaftlern und Intellektuellen hätten sich bislang damit beschäftigt, nämlich Journalisten, Industriesoziologen und Science-Fiction-Autoren, wie jene der »Weltraumbücher«, die sein ehemaliger Leipziger Kollege Gotthard Günther in den Vereinigten Staaten herausgab. Schelsky verwies dabei auf Kybernetiker und Autoren, die über Kybernetik schrieben, wie Norbert Wiener, Robert Jungk und Rolf Strehl. Er nannte dann aber auch Georges Friedmann, Colin Clark, Jean Fourastié und Karl Bednarik, die einen »prognostischen Realismus« vertreten würden.1774 Aus den vielen in der Literatur dargestellten technischen Details wolle er nun »gestalthaft einige sozial aufschlußreiche Konstellationen herausgreifen und in ihnen, konzentriert und vereinfacht, die Problematik des zukünftigen Lebens beschwören.« Hierzu gehöre als erstes Gebilde »die automatisierte Fabrik«, die Schelsky im Moskauer Betrieb Stankokonstrukzija umgesetzt sah, der Kolben für Auto- und Traktormotoren herstelle und in dem alle Produktionsprozesse vollautomatisiert erfolgten. »In Russland und vor allem in Amerika sind bereits mehrere solcher Produktionsstätten in Betrieb; die Arbeit in den ›Autofabriken‹ scheint weitgehend in dieser Weise automatisiert zu sein«, wogegen in den alten Industrieländern Europas solche Verfahren noch die Ausnahme darstellten.1775 Wie Horkheimer und Adorno sah er die Technisierung also in den Vereinigten Staaten und in Sowjetrussland am stärksten fortgeschritten. Symbolisch für diesen Prozess stehe das »automatisierte Büro«: »Der Vorgang, dass Buchungs-, Rechen- und Hollerithmaschinen aller Art in die Büros eindringen und die formalisierten und schematisierten Büroarbeiten übernehmen, ist heute schon voll im Gange«. Der schreibende Angestellte werde immer mehr »in einen maschinenbedienenden Büroarbeiter verwandelt.« Die »automatisierte ›Intelligenz‹ der Rechenmaschine« könne dabei die Rechenleistung um ein Vielfaches steigern und ermögliche die »Errechnung langfristiger Wettervoraussagen, der Struktur hochkomplizierter Moleküle usw.«1776 Im Zusammenhang mit dieser Umgestaltung der »Schreibmaschinensäle und Buchungs1773 Helmut Schelsky, Zukunftsaspekte der industriellen Gesellschaft [1953/54], in: ders., Die sozialen Folgen der Automatisierung. Düsseldorf/Köln 1957, S.7-22, hier: S.7 [wieder abgedruckt in: ders., Auf der Suche nach Wirklichkeit, S.99-117]. 1774 Ebd., S.8f. 1775 Ebd., S.9. 1776 Ebd., S.10.

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abteilungen der Fabriken und Verwaltungen« rekurrierte Schelsky auf die Begriffe »Denkmaschine«, »Elektronenhirn« (Wassily Leontieff), »AnalogieComputer« und »Computer«. Sie bringe zudem nicht nur eine ganz neue Forschertätigkeit hervor, sondern würde auch das menschliche Bewusstsein in Bezug auf Zeitempfinden, Gemüt und Fantasie, ja die intellektuellen Fähigkeiten des Menschen generell, aber auch Moral und zwischenmenschliche Beziehungen profund verändern. Er verwies dabei auf ein Science-Fiction-Szenario, in dem der Autor eine »maschinell hergestellte Synthese von Moral und Wahrheit« entworfen hatte.1777 Schelsky warf von der neuen Informationstechnik ausgehend die Frage nach der Totalität des Staates angesichts der »Verwendung der Elektronen-Rechenmaschinen als politisch[e] oder militärisch[e] Planungs- und Regierungsinstrumente« auf. Denn »der ›mechanical brain‹ der Regierungsmaschine verlangt unbedingten Gehorsam, weil er die perfekte und voraussagesichere Planung produziert und ihm gegenüber jede individuellen Irrtümern unterworfene politische oder militärische Führungskonzeption hinfällig wird.«1778 Opposition gegen die »technisch garantierte Wahrheit« sei unvernünftig. Diese Lage werde noch deutlicher »beim Einsatz automatisch gesteuerter, also menschenleerer Flugzeuge: die moralischen Entscheidungen sind in die Planung der Führungsbürokratien zurückverlagert, alles andere ist dann nur noch abrollende technische Exekutive.« Der »einzig mögliche moralische Akt« bestehe in dieser Situation »nur noch darin, sie [die Maschinen, F.L.] in Gang zu setzen.«1779 Obwohl Schelsky keinen wahrheitsbasierten Vernunftbegriff in seinem pragmatischen Denken aufwies, plädierte er keineswegs für die Auflösung menschlicher Moral in technische Vernunft. Schließlich könne auch das »Klappern der Hollerithmaschinen einer sich empirisch adaptierten Sozialforschung und -technik« nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass zur »moralischen Beherrschung der industriell-technischen Gesetzlichkeiten unseres Daseins nur ein in den Fundamenten gegenläufiges Handlungs- und Wertsystem imstande sein wird.«1780 Am deutlichsten schlugen sich diese Entwicklungen in Schelskys Augen im industriellen Sektor nieder. Die fortschreitende Technisierung zeige sich dort als Mechanisierung in drei Stufen, den unselbstständigen und den halbselbstständigen Maschinen sowie der Vollautomatisierung. Die primäre Arbeitsleistung werde in naher Zukunft vor allem in der »Kontrolle der Meßapparaturen und 1777 1778 1779 1780

Ebd., S.11-14. Ebd., S.18f. Ebd., S.20. Ebd., S.22.

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ihrer technisch verständnisvollen und unbedingt zuverlässigen Regulierung bestehen.«1781 Vor diesem Hintergrund fasste er in einem 1954 veröffentlichten Aufsatz über die »Aufgaben und Grenzen der Betriebssoziologie« den Betrieb als »eine eigenständige soziale Einheit mit spezifischen sozialen Strukturen und Gesetzlichkeiten«.1782 Er verwies dabei besonders auf im Geiste des »scientific management« entstandene amerikanische Studien etwa von Elton Mayo, Drucker, Fritz Roethlisberger und William Dickson. Die moderne Betriebssoziologie sollte die nichtökonomischen Bedürfnisse der Arbeiter, also deren Bewusstseinslagen, sowie die Auswirkungen der fortschreitenden Technisierung erforschen.1783 Allerdings warnte Schelsky davor, die Aufgaben der Betriebssoziologie in den Vereinigten Staaten ohne entsprechende Übersetzungsleistungen in die europäischen Verhältnisse zu transferieren. Schließlich habe man in Amerika den dortigen »verspäteten schroffen Kapitalismus« gerade »mit den Mitteln der Industrie- und Betriebssoziologie« in eine neue Wirtschaftsform und Gliederung der Arbeit umgebaut, weshalb die Betriebssoziologie dort »weitgehend ideologischen Charakter« habe. In Europa sei der kapitalistische Geist dagegen stärker mit der sozialen Frage verbunden.1784 Die »Epoche der modernen Industrie seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts« sei hier durch die Spannung zwischen rein wirtschaftlich-technischen Leistungsanforderungen und sozialen Maßnahmen »zur sozialen Eingliederung und Durchgliederung des Betriebes« gekennzeichnet gewesen. Diese Spannungen gelte es »zu einer fruchtbaren Synthese in schöpferischer Institutionalisierung zu stabilisieren.«1785 Nach Schelsky sollte die Betriebs- und Industriesoziologie eine von Klassenkämpfen losgelöste Harmonie zwischen der seelischen Befriedigung der Arbeiter und der Steigerung der Produktionsleistung des Betriebs herstellen. Dabei sollten die von ihr angestrebten Lösungsversuche sowohl »soziale Wertungen« als auch die technisch-wissenschaftlichen Bedingungen berücksichtigen.1786 Betriebs- und Industriesoziologie sollten ganzheitlich Bewusstsein und psychische Lage der Arbeiter, ihre Gemeinschaftsbeziehungen, die Technisierung und Mechanisierung des Betriebes als auch die gesellschaftliche Funktion von Industrie und Wirtschaft untersuchen, sie also nicht in der Einzelbetrachtung überbewerten.1787 Soziologie dürfe keine Spezialistendisziplin sein. Durch sie sei ein Wissen zu generieren, das für eine anzustrebende, wenn auch nie vollständig 1781 Ebd., S.14f. 1782 Helmut Schelsky, Aufgaben und Grenzen der Betriebssoziologie, in: Hermann Böhrs/ders., Die Aufgaben der Betriebssoziologie und der Arbeitswissenschaften. Stuttgart/Düsseldorf 1954, S.7-40, hier. S.9. 1783 Ebd., S.10f. 1784 Ebd., S.11. Vgl. auch ders., Wandlungen der deutschen Familie, S.349. 1785 Schelsky, Aufgaben und Grenzen, S.13. 1786 Ebd., S.14. 1787 Ebd., S.18f.

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mögliche Harmonisierung von ideell-psychischer und materiell-technischer Lage eingesetzt werden könne.1788 In der Betonung des Einflusses der »Situation der Gesamtgesellschaft« auf soziale Gebilde1789 stimmte er demnach mit Horkheimer und Adorno überein, unterschied sich aber deutlich hinsichtlich der von ihm angestrebten Harmonisierung. Gesellschaftliche oder innerbetriebliche Widersprüche, etwa eine »produktionstechnische Rationalisierung der Arbeitsvorgänge […] auf Kosten der Erfüllung [der] sozialen Kontakt- und Gruppenbedürfnisse«,1790 erachtete Schelsky gerade nicht als produktiv, sondern als dysfunktional. Ihm zufolge seien die sozialen Probleme innerhalb der Betriebe und das Verhältnis der Arbeiter zur technischen Produktionsweise heute weitgehend gelöst oder befänden sich auf dem Weg praktischer Lösungen. Die gegenwärtigen Probleme seien vielmehr »Kräfte, Spannungen, Strukturwandlungen und soziale Zielsetzungen der außerbetrieblichen Gesamtgesellschaft, die in den Betrieb hineinwirken und dort ihre grundsätzlichen Lösungen erwarten.«1791 Hierzu gehörten aus seiner Sicht etwa die Berufswahl und Berufsausbildung, die »keineswegs mehr der Entwicklung und dem Stand der wirklichen Produktionsstrukturen in der Industrie entsprechen«.1792 Eine ähnliche Diagnose der modernen Gesellschaft stellte Gehlen. Er sah Technisierung und Automatisierung als Voraussetzungen für eine zunehmende Vergeistigung der Berufe, wie er in einem in der Schweizerischen Hochschulzeitung veröffentlichten Radiovortrag von 1952 betonte. So beobachte er, dass in vielen Berufen körperliche durch geistige Arbeit ersetzt werde. Wer etwa heute »einen Bagger bedient, braucht mehr Intelligenz und weniger Körperkraft als einer der Hunderte, die früher schaufelten.« Die Arbeit werde daher nicht nur kürzer und die zur freien Gestaltung zur Verfügung stehende Zeit größer, »sondern sie wird entlasteter, angenehmer, einfach leichter.«1793 Diesen Strukturwandel setzte Gehlen in einen Zusammenhang mit einer zunehmenden Fluktuation von Reichtum und den sich damit eröffneten Möglichkeiten zum sozialen Aufstieg. Dies wirke sich jedoch insofern negativ aus, da sich zwischen den Ansprüchen der Staatsbürger auf einen gehobenen Lebensstil und ihren gesellschaftlichen Verpflichtungen eine immer größere Kluft auftue: Der Lebensstandard werde wie das Rauchen »eine Art abstrakter Sucht. Man gewöhnt sich an immer steigende Quanten und fühlt endlich im Konsum keinerlei Befriedigung und überhaupt keine 1788 1789 1790 1791 1792 1793

Ebd., S.37f. Ebd., S.26. Ebd., S.20. Ebd., S.28. Ebd. Arnold Gehlen, Die Rolle des Lebensstandards in der heutigen Gesellschaft [1952], in: ders., Einblicke, S.15-19, hier: S.16.

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psychische Wirkung mehr. Nur das Ansinnen, darauf zu verzichten, gilt als unzumutbar.«1794 Und so würden die Menschen »überhaupt keinen Zusammenhang mehr sehen zwischen ihren Verpflichtungen auf der einen Seite und ihren Ansprüchen an das Leben auf der anderen.«1795 Aus konservativer Sicht konstatierte Gehlen demnach, dass die Technisierung einen demokratisierenden und mobilisierenden Effekt auf die Berufsstruktur der modernen Industriegesellschaft habe. Während Schelsky in dieser Entwicklung die Gefahr sah, dass die ideelle Vorstellung vom Beruf und die reelle technische Bedingung desselben nicht mehr zusammengebracht werden könnten, klafften für ihn Anspruchshaltung und Verpflichtung zunehmend auseinander. 9.2.3 Das Ende der Ideologien und Versachlichung Zur gesamtgesellschaftlichen Dysfunktionalität trugen für Schelsky maßgebend politische Ideologien bei. Zur Niederrheinischen Universitätswoche vom 20. bis 27. März 1955 referierte er über den von ihm konstatierten »Wirklichkeitsverlust des Menschen in der modernen Gesellschaft«, den er als das Grundübel der modernen Gesellschaft ansah. Insbesondere der empirischen Soziologie wies er die Aufgabe zu, »die Ideologien abzubauen im unmittelbaren Bezug auf die Erfahrung, um das Sozialbewußtsein zu bereinigen von falschen und unzutreffenden Vorstellungen über die soziale Wirklichkeit«.1796 Er stellte auch mit Bezug auf die Industrie- und Betriebssoziologie fest, dass im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten, wo fast alle Schichten die Grundwerte einer Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung nach der Formel »Freiheit des einzelnen, Privateigentum, Unternehmertum, free enterprise« bejahen würden, solches im »interessen-, ideologien- und traditionszerklüfteten Europa« nicht ohne Weiteres behauptet werden könne.1797 Denn von der Mitte des 19. bis zum dritten Jahrzehnt des 20.  Jahrhunderts sei hier die Klassenspannung die dominante Sozialstruktur gewesen.1798 Diese wurde durch die Teilhabe des »kleinen Mannes« am Zivilisationskomfort immer weiter aufgelöst, der mittlerweile an der »gesamten industriellen Massenproduktion von Konsum-, Komfort- und Geistesgütern« partizipiere.1799 Das Problem in der modernen westdeutschen Gesellschaft sei, dass die 1794 Ebd., S.18. 1795 Ebd., S.19. 1796 Werner Lotmann, Die siebente Niederrheinische Universitätswoche und Jahresbericht der Duisburger Universitätsgesellschaft. Duisburg 1955, S.40. 1797 Schelsky, Aufgaben und Grenzen, S.34. 1798 Lotmann, Die siebente Niederrheinische Universitätswoche, S.40f. 1799 Ebd., S.41.

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»Superorganisationen«, also jene von Regierung, Verwaltung, Parteien, Versicherungen, Publizistik, der »merkantilisierten Unterhaltung« und Betrieben, die vergangene und überholte »Realität der bürgerlich-proletarischen Klassengesellschaft als ihre Voraussetzung« in sich trügen und diese fixierten.1800 Auch die im Geist der Aufklärung stehenden Intellektuellen würden an den alten Ideologien festhalten. Sie vermittelten den Menschen immer noch »Heilspläne«, wo doch der technische Sachzwang zwischenzeitlich ganz neue Bedürfnisse generiert habe.1801 Obwohl er seine Deutung der gegenwärtigen Lage der westdeutschen Gesellschaft ausschließlich aus den Ergebnissen der von ihm geleiteten sozialempirischen Untersuchungen ableitete, bildeten sie immer auch die vergangenheitspolitische Verarbeitung und Legitimation seiner eigenen ideologisch-politischen Biografie ab. Die als vergangen und überholt angesehenen Ideologien und Utopien, zu denen Schelsky sowohl den Nationalsozialismus als auch den Kommunismus zählte, konnten über die Idee einer fortschreitenden Technisierung entsorgt werden. Auf die »soziale Realisation« folgte in den frühen 1950er Jahren nun die »technische Realisation«, wie Jens Hacke anhand der Schriften Gehlens, Schelskys, Hans Freyers und Ernst Forsthoffs zeigt.1802 Tatsächlich baute Schelsky diese Ideen um 1960 weiter aus. Wie noch zu zeigen sein wird, sollte der technische Sachzwang die herkömmliche politische Vorstellung von Demokratie und Politik allmählich ersetzen. Auch seine Intellektuellenkritik radikalisierte sich in diesem Kontext zunehmend. All dies geschah zu einer Zeit, als auch auf der anderen Seite des Atlantiks von Soziologen, allen voran von Daniel Bell, das »Ende der Ideologie« verkündet wurde. Die Proklamation westlicher Ideen als Orientierungswissen und der Kampf gegen den Totalitarismus waren hierfür konstitutiv.1803

1800 Ebd., S.42. 1801 Ebd., S.43f. 1802 Jens Hacke, Der Intellektuelle und die Industriegesellschaft. Arnold Gehlen und Helmut Schelsky in der frühen Bundesrepublik, in: Harald Bluhm/Walter ReeseSchäfer (Hrsg.), Die Intellektuellen und der Weltlauf. Schöpfer und Missionare politischer Ideen in den USA, Asien und Europa nach 1945 (Schriftenreihe der Sektion Politische Theorien und Ideengeschichte in der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft, Bd.9). Baden-Baden 2006, S.233-257, hier: S.237. Siehe auch Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft, S.282. Vgl. auch Hacke, Die Bundesrepublik als Idee, S.22. 1803 Vgl. Daniel Bell, The End of Ideology: On the Exhaustion of Political Ideas in the Fifties. Cambridge, MA 1960.

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10. Die erziehungspolitische Wissensebene: Der kritischautonome Intellektuelle gegen die Funktionselite Bislang wurde gezeigt, dass die gesellschaftliche Relevanz der Sozialwissenschaften in Nachkriegsdeutschland auf zwei Kernelementen beruhte: Einerseits generierten sie Wissen zur Aufdeckung psychisch-ideologischer Lagen der westdeutschen Bevölkerung und zur Erfassung ihrer sozialen Probleme. Andererseits wirkten ihre Vertreter durch die Verbreitung von sozialwissenschaftlichem Orientierungswissen über Radiosendungen, Bildungs- und Kulturzeitschriften und öffentliche Veranstaltungen in die intellektuelle Sphäre hinein und trugen dadurch zur Bildung eines gesellschaftskritischen Bewusstseins bei. Neben der sozialempirischen und der Orientierungswissen generierenden Wissensebene existierte jedoch auch noch eine erziehungspolitische. Sie resultierte ebenfalls aus den Ausdifferenzierungsprozessen der ehemals holistisch-kollektiven und philosophisch-anthropologischen Denkstile Frankfurter und Leipziger Prägung zwischen den 1930er und frühen 1950er Jahren. Die erziehungspolitische Wissensebene umfasste drei Aspekte: 1) Überlegungen zum westdeutschen Erziehungs- und Bildungssystem, 2) die tatsächliche Erziehungs- und Ausbildungspraxis der Studenten, Doktoranden sowie wissenschaftlichen Mitarbeiter und 3) das praktische Wirken in den Institutionen der Bundesrepublik. Auch in der Erziehungspolitik bestanden Resonanzen zwischen den beiden Denkkollektiven und den westlichen Besatzungsmächten. Im Zuge ihrer Reeducation-Politik zielten die Amerikaner auf eine Reformierung des deutschen Bildungs-, vor allem aber des Universitätssystems, zu der die Sozialwissenschaften einen entscheidenden Beitrag leisten sollten.1804 Ein Memorandum »Some Ideas Concerning the Reform of the Universities« vom 11. September 1946, das unter der Federführung Fritz Karsens entstanden war, forderte unter anderem, dass die »Elfenbeinturmmentalität« der deutschen Professoren bekämpft und ihre Abschottung von der Gesellschaft beseitigt werden solle.1805 Als Gegenmodell fungierte das amerikanische Hochschulsystem. Dieses sei zwar verschulter, verlange jedoch den Studierenden regelmäßige Leistungskontrollen ab. Dagegen habe »die elitäre, unpersönliche und weitgehend auch unkontrollierte Form des Studiums in Deutschland kaum Rücksicht auf die tatsächlichen individuellen Fähigkeiten der Studenten« genommen, so die Deutung von Stefan Paulus.1806 Auch der PatyCottrell-Report von 1947, ein Bericht der beiden amerikanischen Bildungsexperten Raymond R. Paty und Donald P. Cottrell, schlug eine ähnliche Richtung ein. Darin wurde das undemokratische Wesen der deutschen Hochschulen jedoch 1804 Reitmayer, Elite, S.410f. 1805 Paulus, Vorbild USA?, S.120. 1806 Ebd., S.123.

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stärker betont: Auch wenn die akademische Selbstverwaltung, die auf einem kleinen und großen Senat sowie dem im jährlichen Turnus wechselnden Rektorat basierte, auf den ersten Blick demokratisch erscheine, lege dieses Prinzip die tatsächliche Macht ausschließlich in die Hände älterer Professoren, die gut ausgestatte Stellen besetzten.1807 Dieser Vorwurf deckte sich mit Horkheimers Forderung nach einer Beschneidung der Macht der alten deutschen Professorenschaft. Die Reformvorschläge der amerikanischen Hochschuloffiziere stießen bei den deutschen Professoren allerdings auf Widerstand. Auf der ersten Rektorenkonferenz in Heidelberg vom 25. bis 27.  November 1946, an der auch Karsen und R. Thomas Alexander teilnahmen, beharrten sie sowohl auf der akademischen Selbstverwaltung als auch auf der Unabhängigkeit der Hochschulen von außeruniversitären Einflüssen. Die geforderte gesellschaftliche Einbindung der Universitäten durch die Einführung von Kuratorien im Stile der amerikanischen Boards ließ in ihren Augen eine Heteronomisierung befürchten.1808 Auch die »Richtlinien für die Reform der Hochschulverfassungen in den Ländern des amerikanischen Besatzungsgebietes« (»Schwalbacher Richtlinien«) vom 5.  Dezember 1947 sowie das »Blaue Gutachten« der britischen Militärregierung schlugen eine stärkere Partizipation aller Hochschulangehörigen an der Universitätspolitik vor – und stießen bei der Professorenschaft mehrheitlich auf Ablehnung.1809 Allerdings, und dies ist für den vorliegenden Kontext entscheidend, stellte der zuständige Sachverständigenausschuss durchaus fest, dass eine zentrale Aufgabe der Universitäten künftig darin bestehe, ihrer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht zu werden. Dies solle aber nicht durch eine forcierte Vergesellschaftung der Universitäten, sondern durch die intensivere wissenschaftliche Auseinandersetzung mit politischen und sozialen Fragen geschehen. Erreicht werden sollte dies durch den bereits im Paty-Cottrell-Report geforderten massiven Ausbau der Politik- und Sozialwissenschaften.1810 Karsen betrachtete die Universitätsreform in Nachkriegsdeutschland rückblickend als gescheitert. Dies lag für ihn nicht nur an der ausgesprochen mangelhaften materiellen Ausstattung der Hochschulen und den schwierigen Lebensbedingungen der Studierenden,1811 sondern eben auch an der restriktiven Haltung

1807 Zitiert nach: ebd., S.127. 1808 Ebd., S.124. 1809 Nikolai Wehrs, Protest der Professoren. Der »Bund Freiheit der Wissenschaft« in den 1970er Jahren (Geschichte der Gegenwart, Bd.9). Göttingen 2014, S.37. Vgl. auch Paulus, Vorbild USA?, S.131, 134f. 1810 Paulus, Vorbild USA?, S.139. 1811 Siehe dazu die eindrücklichen Schilderungen von Studierenden in der unmittelbaren Nachkriegszeit in: Krönig/Müller, Nachkriegssemester, S.171-194. Vgl. auch Wolbring, Trümmerfeld der bürgerlichen Welt, S.14-16.

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der Professoren.1812 Damit stand er nicht allein. Auch Schelsky meinte um 1970, dass weder die »Schwalbacher Richtlinien« noch das Hamburger »Blaue Gutachten« eine Umsetzung der Reformbemühungen bewirkt hätten.1813 In der Tat war das Thema angesichts des sich zuspitzenden Ost-West-Konflikts und der Gründung der Bundesrepublik bald von der Agenda der Amerikaner verschwunden.1814 Immerhin einigte sich die Westdeutsche Rektorenkonferenz 1955 auf das Honnefer Modell, das zwei Jahre später eingeführt wurde und Studierenden finanzielle Unterstützung garantieren sollte.1815 Dem seit den frühen 1950er Jahren von sozialdemokratischen Bildungspolitikern geforderten Abbau der Zugangshürden zur höheren Bildung für finanziell schlechter gestellte Abiturienten war damit zumindest in Teilen entsprochen.1816 Nach zahlreichen Denkschriften und Debatten führender Bildungs- und Erziehungspolitiker sowie Professoren wurde 1957 maßgeblich auf die Initiative der DFG und der Westdeutschen Rektorenkonferenz der Deutsche Wissenschaftsrat eingerichtet, dem 39 gemeinsam aus Bund und Ländern berufene Persönlichkeiten angehörten. An den Diskussionen war neben Theodor Litt und Helmuth Plessner auch Horkheimer beteiligt.1817 Obwohl sie nur zögerlich umgesetzt wurden, sollte mit Maßnahmen zur Reform der Universitäten und des Schulsystems eine Demokratisierung der westdeutschen Bildungseinrichtungen erreicht werden. Insbesondere die Universitäten sollten ihre Studierenden zu einer demokratischen Haltung erziehen.1818 Die Einebnung universitärer Hierarchien und der Abbau der Klassenschranken hinsichtlich des Zugangs zu höherer Bildung waren dabei aufs Engste mit der angedachten bildungspolitischen Aufgabe der Sozialwissenschaften verbunden. Der sozialwissenschaftliche Bildungsauftrag, jene »Einbindung des Faktors ›Gesell-

1812 Dies bedeutete wiederum nicht, dass zwischen 1945 und 1949 »eine breite und intensive Debatte über Universitätsreformen« nicht stattgefunden hätte, »die in grundsätzlichen gesellschaftlichen Fragen und Zielvorstellungen verankert war«, wie Barbara Wolbring betont. Siehe Wolbring, Trümmerfeld der bürgerlichen Welt, S.16. 1813 Paulus, Vorbild USA?, S.140, 143. Dies bestätigt auch Kurt Jürgensen. Siehe Kurt Jürgensen, Was there a British Policy towards Higher Education? Some retrospective thoughts on the Oxford Symposium, in: Heinemann (Hrsg.), Hochschuloffiziere und Wiederaufbau, Teil 1, S.79-84, hier: S.83. 1814 Paulus, Vorbild USA?, S.144f. 1815 Vgl. Westdeutsche Rektorenkonferenz (Hrsg.), Die Studienförderung nach dem Honnefer Modell in der Bundesrepublik und Berlin 1957. Bad Godesberg 1957; Wehrs, Protest der Professoren, S.38. 1816 Reitmayer, Elite, S.410f. Vgl. auch Krönig/Müller, Nachkriegssemester, S.212214. 1817 Paulus, Vorbild USA?, S.159f. 1818 Vgl. Wolbring, Trümmerfeld der bürgerlichen Welt, S.309-348.

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schaft‹ in die Universität«,1819 ging bereits aus den OMGUS-Richtlinien von 1946 hervor. Demnach wurden »nicht nur für die nachkommenden Generationen und deren Erzieher, sondern auch für solche Altersgruppen, die nicht mehr über die Pflichtschule erreicht werden konnten, Fortbildungskurse in der Sozialwissenschaft vorgesehen«, wobei mit Letzteren die Erwachsenenbildung in den geplanten Volkshochschulen gemeint war. Nach Bernhard Plé war der Einbau sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse in die Lehrpläne die grundlegendste Veränderung an den Schulen nach 1945.1820 Bei der akademischen Demokratisierung ging es aber auch um die Aufnahme einer »substantiellen Demokratie« durch Lehrende und Studierende. Diese Einverleibung demokratischer Haltung musste beim Individuum beginnen,1821 wobei das Konzept der Selbsterziehung eine zentrale Rolle spielte. Für die Förderung der Selbstverantwortung in Schule und Universität traten insbesondere Alfred Weber, Alexander Mitscherlich und Karl Jaspers ein.1822 Auch die Teilnehmer einer Tagung in der Trizone am 10./11.  September 1949, auf der die Erweiterung des Universitätsstudiums um die sozialen und politischen Wissenschaften debattiert wurde, griffen diesen Aspekt auf, wobei neben der politischen Bildung auch eine humanistische Haltung vermittelt werden sollte.1823 Als Träger der westdeutschen Universitäten galten nicht nur Professoren und Dozenten, sondern vor allem die Studierenden. Schon vor 1933 hatten deutschnationale Studentenschaften zu den ärgsten Anhängern der NS-Weltanschauung gehört, die die Machtübernahme enthusiastisch gefeiert und missliebige Professoren tyrannisiert hatten.1824 Nach dem Krieg mussten nun studentische Selbstverwaltung und politische Haltung der Studierenden in die demokratisch-liberale Gesellschaft überführt werden. Ob dies gelingen würde, stand keineswegs von vornherein fest. Allgemein konstatiert wurde lediglich, dass die Studierenden der unmittelbaren Nachkriegszeit massiv nach Wissen und Bildung strebten, wie kaum eine der nachfolgenden Studentengenerationen.1825 Die Hochschuloffiziere der Besatzungsmächte erachteten als problematisch, dass sich die meisten Studierenden entweder unpolitisch bis politisch apathisch gaben oder nationalistisch-autoritäre Haltungen zeigten und sich nach den Wünschen der 1819 1820 1821 1822

Weyer, Westdeutsche Soziologie, S.338. Plé, Wissenschaft und säkulare Mission, S.228. Kießling, Die undeutschen Deutschen, S.156, 219. Forner, German Intellectuals, S.106-108. Vgl. auch Wehrs, Protest der Professoren, S.35f. 1823 D. Friedrich Baumgärtl, »Politische Wissenschaften« an den Hochschulen?, in: ders./Georg Weippert, »Politische Wissenschaften« an den Hochschulen? Erlangen 1949, S.3-14. 1824 Michael Grüttner, Studenten im Dritten Reich. Geschichte der deutschen Studentenschaften 1933-1945. Paderborn 1995. 1825 Krönig/Müller, Nachkriegssemester, S.195-207, 215f.

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Besatzer richteten. Beide Charaktereigenschaften schienen ihnen für die Heranbildung einer demokratischen Gesinnung als wenig förderlich.1826 Trotz allem kann die Demokratisierung der westdeutschen Studentenschaft retrospektiv als Erfolgsgeschichte bezeichnet werden. Der AStA, das Akademische Hilfswerk und das Studentenwerk wuchsen im Laufe der 1950er Jahre zu wichtigen Institutionen studentischer Selbstverwaltung heran.1827 Als wichtigsten Mechanismus zur demokratischen Erziehung von Professoren, Privatdozenten, Assistenten und Studenten betrachteten die amerikanischen Schul- und Hochschuloffiziere den transatlantischen Akademikeraustausch. Sowohl jungen westdeutschen Wissenschaftlern als auch Mitgliedern der Universitätsverwaltung sollte nach dem Paty-Cottrell-Report die Möglichkeit eingeräumt werden, an amerikanischen Hochschulen theoretische und praktische Erfahrungen zu sammeln.1828 Schon Karsen hatte gehofft, dass eine nachhaltige Demokratisierung der deutschen Universitäten durch die Wiederbelegung des transatlantischen akademischen Austauschs erreicht werden könne.1829 Auf Basis des am 1. Juli 1946 von US-Präsident Truman unterzeichneten Fulbright-Acts zur Einrichtung eines weltweiten Austauschprogramms sollte der akademische Austausch zwischen den Vereinigten Staaten und Westdeutschland bald ausgeweitet werden. 1947 wurde schließlich das Cultural Exchange Program ins Leben gerufen, das bis weit in die 1950er Jahre hinein bestand.1830 Zwischen 1948 und 1952 kamen nach Weyer so auch insgesamt 30 amerikanische Soziologen als Gastprofessoren nach Westdeutschland, um an den Universitäten und Forschungsinstituten über den neuesten Stand der amerikanischen Sozialwissenschaften zu berichten.1831 Alle drei westlichen Besatzungsmächte richteten zudem Studentenaustauschprogramme ein, wobei die Vereinigten Staaten und Großbritannien diese Praxis besonders intensiv förderten.1832 Sozialwissenschaftler wirkten nicht nur an den Universitäten und sozialwissenschaftlichen Instituten als demokratische Erzieher. Sie übten diese Funktion auch an anderen Bildungsinstitutionen wie Volks- und Fachhochschulen, bildungspolitischen Stellen von Gewerkschaften oder Fachorganisationen aus. Sie arbeiteten zudem an Instituten der UNESCO, die 1946/47 ihre bildungsund wissenschaftspolitischen Aktivitäten ausweitete und in den drei westlichen

1826 Ebd., S.217. 1827 Ebd., S.218-237. Ihre starke Politisierung erfolgte dann erst ab den späten 1960er Jahren. 1828 Paulus, Vorbild USA?, S.129. 1829 Ebd., S.143. 1830 Ebd., S.277, 279. Das Fulbright-Programm sollte durch den Verkauf von überschüssigem Kriegsmaterial finanziert werden. 1831 Weyer, Westdeutsche Soziologie, S.370-372. 1832 Krönig/Müller, Nachkriegssemester, S.249.

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Besatzungszonen mehrere Forschungsinstitute einrichtete.1833 Hinzu kamen Evangelische Akademien wie die in Loccum, wo Gehlen und Schelsky regelmäßig referierten.1834 Auf europäischer Ebene brachte das European Forum im österreichischen Alpbach seit den frühen 1950er Jahren führende westliche Intellektuelle und Gegner des Faschismus im paneuropäischen Geist zusammen, um zeitgenössische Fragen mit eingeladenen Studierenden zu diskutieren.1835 Auch Horkheimer und Adorno nahmen an diesen Seminaren teil. Die DGS bekannte sich ebenfalls zum demokratischen Erziehungsauftrag. Auf dem ersten Nachkriegssoziologentag 1946 in Frankfurt, an dem der hessische Kultusminister Franz Schramm, Oberbürgermeister Kolb und der damalige Rektor der Frankfurter Universität Walter Hallstein teilnahmen, adressierten die Teilnehmer ihre Erwartungen an die Soziologie, »die die ›wissenschaftliche Grundlage‹ […] für künftige Erziehungsaufgaben liefern und eine ›politische und soziale Verantwortung‹ gegenüber dem Volk […] übernehmen solle.«1836 Der Demokratiebegriff der DGS war allerdings elitär. Den Soziologen schien vor allem die Frage nach der Auslese der künftigen demokratischen Führungsschicht zentral. Eine Herrschaft der »Massen« wollten sie unbedingt vermeiden. Vornehmlich sollten zukünftige Pädagogen soziologisch geschult werden, womit sich auch die Forderung nach einer flächendeckenden Einführung von Sozialkunde an den Schulen und in der Lehrerausbildung verband.1837 Im Folgenden wird die erziehungspolitische Wissensebene hinsichtlich der sozialwissenschaftlichen Praxis der Denkkollektive um Horkheimer und Schelsky untersucht. Dabei bestanden zwischen ihren Zielsetzungen  – der Erziehung gesellschaftskritischer Individuen auf der einen und einer politikberatenden Funktionselite auf der anderen Seite – zwar offensichtliche Differenzen. Gleichwohl ging es auch Schelsky in den frühen 1950er Jahren keinesfalls um die Bildung einer sozialwissenschaftlich geschulten, rein technokratisch operierenden Verwaltungselite. Vielmehr, und dies überlagerte sich mit Horkheimers und Adornos Absichten, sollte Letztere in ihrem beruflichen Umfeld die Bedürfnisse der Menschen mit der jeweiligen Institution in Einklang bringen können. Das setzte ein hohes Maß an intellektuellem Reflexionsvermögen voraus.

1833 1834 1835 1836 1837

Arnold, »… evidence of progress«, S.254-256, 272-277. Reitmayer, Elite, S.466. Strote, Lions and Lambs, S.199. Weyer, Westdeutsche Soziologie, S.89. Ebd., S.141-146, 194.

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10.1. Gesellschaftskritische Individuen für Politik und Verwaltung Max Horkheimer hatte die Rückkehr nach Deutschland auch mit einem demokratischen Erziehungsauftrag des IfS legitimiert.1838 Er, Pollock und Adorno wollten mit ihrer Sozialforschung zum antitotalitären Widerstand erziehen, um die wenigen Menschen, die Hitler innerlich und äußerlich Widerstand geleistet hätten, zu ermutigen und »mit ihnen zusammen der neuen faschistischen Verhärtung Trotz zu bieten«.1839 Diesem Erziehungsziel unterstellte er seine kritische Gesellschaftstheorie, wie er zur Eröffnungsfeier des IfS in Frankfurt betonte. Auf diese Weise hoffte er, theoretische Werkzeuge bereitzustellen, mit denen denkende Individuen gegen die herrschende Ordnung mit ihrer Forderung nach Konformismus bestehen könnten.1840 Die Stärkung des Selbstwertgefühls und nichtkonformer Haltungen bildeten die beiden Hauptelemente von Horkheimers demokratischen Erziehungsvorstellungen. Nur durch diese, aus seiner Ansicht fundamental demokratischen Einstellungen könne der Ausbreitung des Totalitarismus Einhalt geboten werden. Eine rein formale Demokratie, wie sie in der Weimarer Republik bestanden hatte, sei dagegen dem Faschismus gegenüber hilflos ausgeliefert. Eine ähnliche Auffassung des pädagogischen Auftrags von Sozialwissenschaften und Philosophie vertrat auch Adorno. Shannon L. Mariotti hat gezeigt, dass dieser zwar dem Liberalismus und der liberalen Demokratie äußerst kritisch gegenüberstand. Diese Haltung galt aber nicht für die Demokratie per se, zumal er vor allem in den Vereinigten Staaten eine tiefe demokratische Überzeugung in sein Denken eingebaut hatte.1841 Deutlich wird dies in seinen für ein englischsprachiges Publikum geschriebenen Texten. Neben seinen Beiträgen zu The Authoritarian Personality zählten hierzu vor allem »Current of Music: Elements of a Radio Theory«, die erst posthum veröffentlichte Monografie The Psychological Technique of Martin Luther Thomas’ Radio Addresses und die Abhandlung The Stars Down to Earth, die mitunter stark von der im deutschen Idiom gehaltenen dialektisch-geschichtsphilosophischen Wissensebene abwichen.1842 Adorno war keineswegs ein Pessimist, der geglaubt hätte, dass es im Falschen nichts Richtiges zu tun gäbe. Vielmehr entwickelte er ein theoretisch angeleitetes, auf die Inkorporation substanzieller demokratischer Einstellungen abzielendes Erziehungskonzept, indem er pervertierte Formen der Demokratie in den Vereinigten Staaten kritisierte, die er an Ort und Stelle beobachtet hatte. Hierunter 1838 1839 1840 1841

Fahrenberg/Steiner, Adorno und die autoritäre Persönlichkeit, S.128. Zitiert nach: Wojak, Fritz Bauer 1903-1968, S.232. Strote, Lions and Lambs, S.253. Shannon L. Mariotti, Adorno and Democracy: The American Years. Lexington 2016, S. xi. 1842 Vgl. auch ebd., S.27.

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fielen etwa Gewohnheiten des Radiohörens und Hetzreden faschistischer Agitatoren. Er verstand Demokratie als Praxis, als gelebte Alltagserfahrung der Bürger.1843 In Anlehnung an Hegel und Marx lag seinem Erziehungskonzept die Vorstellung einer Vollendung des Theoretischen durch praktisch gewordene Vernunft zugrunde.1844 Eine derartige demokratische Praxis konnten Individuen in seinen Augen nur dann entwickeln, wenn sie das Nichtidentische der materiellen Welt erfahren lernten und ihrer eigenen Entfremdung entgegenwirkten – auf der Basis autonomen und nonkonformistisch-kritischen Denkens.1845 Entsprechend sah er den demokratischen Pädagogen als Praktiker, der auch außerhalb der Bildungsanstalten wirkt und in prophylaktischer Absicht andere dazu motiviert, sich demokratisch zu verhalten. Im Sinne eines »interruptiven Handelns« sollte er dabei den Erziehungssubjekten die Erfahrung des Nichtidentischen ermöglichen.1846 In seinem Aufsatz »Lehren aus dem Faschismus«, der zuerst 1950 in einem von Hadley Cantril herausgegebenen englischsprachigen Sammelband erschienen war, konstatierte Horkheimer den zeitgenössischen Verfall des Individualismus. Er führte diesen auf den Einfluss der modernen Industrie und Technik auf die Menschen zurück.1847 Die Bekämpfung des Chauvinismus, der »eine transformierte Aggression zur Triebkraft hat«, sah er als oberste Aufgabe der Erziehung ab der Kindheit an. Um dies zu leisten, müsse der Erzieher vor allem den Zwang in der Erziehungspraxis auf ein Minimum reduzieren, denn dieser »bringt den Schüler dazu, im Haß auf andere Individuen und Gruppen ein Ventil zu suchen.«1848 Erziehung dürfe also nicht autoritär betrieben werden, weil sich sonst autoritäre Muster in den zu Erziehenden festsetzten.1849 Fest stand für Horkheimer, dass zwar »die Philosophie und Methodologie der fortschrittlichen Erziehung beim Hervorbringen demokratischer Verhaltensweisen und Führung etwas zu bieten hat«. Gleichwohl sei eine »ausschließliche Konzentration auf psychologische Phänomene und Erklärungen […] einseitig und relativistisch, wie nicht wenigen Psychologen klargeworden ist.«1850 In eine demokratische Erziehungspraxis müssten die gesamtgesellschaftlichen Umstände miteinbezogen werden. Denn es sei kaum mehr zu bestreiten, »daß weder die Verfolgung von Minderheiten noch der vom Faschismus geführte Angriffskrieg der unmittelbare Ausdruck der Umstände und des Denkens des einfachen Menschen waren,« sondern ökonomische und politische Konstellationen: Das 1843 1844 1845 1846 1847

Ebd., S.32. Vgl. Schnädelbach, Hegel, S.69. Mariotti, Adorno and Democracy, S.47-58, 70-74, 114f. Ebd., S.93, 97f., 102. Max Horkheimer, Lehren aus dem Faschismus [1950], in: ders., Vorträge und Aufzeichnungen 1949-1973 (Bd.8), S.9-37, hier: S.10f. 1848 Ebd., S.13. 1849 Vgl. Horkheimer/Adorno, Vorurteil und Charakter, S.68. 1850 Horkheimer, Lehren aus dem Faschismus, S.14.

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zeigte sich für Horkheimer deutlich an den Machtwechseln in Italien und Deutschland, denn in »keinem der beiden Länder wünschte die Mehrheit des Volkes den Faschismus, noch lag die Wahl bei ihr.« Mussolini und Hitler hätten vielmehr deshalb die Macht übernommen, weil »relativ kleine Cliquen zum gegenseitigen Einverständnis hinsichtlich ihrer Machtübernahme gelangt waren, wobei sie einer entsprechenden Entscheidung höchster Wirtschaftskreise folgten, die zu der Überzeugung gekommen waren, der Faschismus sei der Ausweg aus ihren augenblicklichen Schwierigkeiten.«1851 Eine »Politik des Hasses und der Aggression« sei nicht von der individuellen Psychologie des Volkes hervorgebracht worden, sondern von der objektiven Struktur der gesellschaftlichen Interessen.1852 Ein demokratisches Erziehungskonzept individualpsychologisch auszulegen, sei deshalb sinnlos, wie bereits der Misserfolg des Entnazifizierungsprogramms gezeigt habe: »Auch wenn den obersten Verbrechern der Prozeß gemacht wurde, wenn sie verurteilt und in einigen Fällen hingerichtet wurden, ist die Mehrheit der Deutschen, die mit dem Nationalsozialismus sympathisierte, heute besser daran als jene, die sich vom Faschismus fernhielten.«1853 Diese Äußerungen bilden die von Horkheimer und Adorno geteilte Annahme ab, dass die Mehrheit der Deutschen niemals hinter dem Nationalsozialismus gestanden hätte. Vielmehr seien die Nationalsozialisten durch Tricks an die Macht gekommen und hätten dann ihre Terrorherrschaft über die deutsche Bevölkerung ausgeübt, aus der es kein Entrinnen mehr gegeben habe.1854 Den Deutschen zu zeigen, dass sie verführt und von Hitler hereingelegt worden waren, dass sie mit sozialwissenschaftlichen Mitteln bekämpfbaren Vorurteilen aufgesessen waren und diese teilweise auch in der Demokratie beibehielten, war deshalb ihr zentrales erziehungspolitisches Ziel. Aus der Einsicht, dass ihnen keine kulturelle und historische Genealogie der Schuld an der Shoah explizit zugeschrieben werden könne, sollten die Deutschen erkennen, dass sie mit der Demokratie besser dastanden als mit dem Nationalsozialismus. Auf diese zunächst utilitaristische und formale Aneignung einer demokratischen politischen Gesellschafts1851 1852 1853 1854

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Ebd., S.18. Ebd., S.20. Ebd., S.33. Archiv IfS, S 1: Tagungen 1950-1961, Ordner 2: 1952-1961: Experten-Konferenz zur Frage der ideellen Bekämpfung neuer rechtsradikaler Strömungen, veranstaltet von der Bundeszentrale für Heimatdienst in Bad Godesberg am 04./05. Mai 1955, Bl.1-48, hier: Bl.20f.

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ordnung sollte die praktische Einverleibung demokratischer Werte folgen. Nationalsozialisten, so Adorno, »müssen nicht alle Zeit Nazis bleiben: es gibt die Möglichkeit wirklicher Wandlung.«1855 Große Hoffnungen setzten er und Horkheimer hierbei auf die Studierenden und jüngeren Wissenschaftler.1856 Aus der Sicht Horkheimers hatten die Deutschen Hitler vor allem deshalb unterstützt, weil er ihnen Vollbeschäftigung versprochen und dieses Versprechen in den ersten Jahren des NS-Regimes auch eingelöst hatte. Allerdings habe er damit die eigentlich demokratisch-sozialistischen Grundhaltungen der Deutschen missbraucht. Denn ein Großteil der Deutschen sei vor Hitler bereit gewesen, dafür zu kämpfen, dass demokratische Kräfte die Wirtschaft organisierten. Deutlich abzulesen sei dieser Sachverhalt daran, dass »die Faschisten selbst den Namen von Sozialisten annehmen und sich auch einer quasi sozialistischen Sprache bedienen mussten.«1857 Die Deutschen hätten sich also verleiten lassen. Mitverantwortlich seien hierfür besonders jene nihilistischen Philosophen gewesen  – gemeint war vor allem Martin Heidegger  –, die die Deutschen »in die Kanäle des Rassismus und aggressiven Nationalismus« geleitet hätten, bis sie bereit waren, »erst den Nationalsozialismus passiv hinzunehmen und sich dann in die Schuldgemeinschaft hineinziehen zu lassen.«1858 Horkheimer forderte deshalb, die Institutionen von Erziehung und Bildung in ein objektives Verhältnis mit demokratischen Kräften zu bringen. Gerade die Universität solle nicht »wieder ein Zentrum eines bösartigen Nationalismus« werden. Die universitäre Autonomie dürfe davon allerdings nicht tangiert werden, sei sie doch einer der »wirklichen kulturellen Vorzüge« der Universität. Vielmehr gelte es, die Öffentlichkeit in den alliierten Staaten als auch in der Bundesrepublik aufzuklären, um die Fakultäten darin zu unterstützen, »den vielen Professoren und Studenten die Augen zu öffnen, die noch auf nationalistischen, insgeheim sogar pronazistischen Einstellungen beharren.«1859 Von besonderer Wichtigkeit sei hierbei die Lehrerausbildung an den Universitäten. Schließlich würden hier »die Lehrer gebildet, bei denen die anderen lernen sollen, hier reifen Politiker heran, die einmal der Gesellschaft dienen werden«, wie Horkheimer in einer Festrede von 1950 betonte.1860 Die »Ergebnisse der Wissenschaft vom Totalitären« müssten an die Jugend und Schulen weitergegeben werden.1861 Bei der Bekämpfung von Vorurteilen und Nationalismus sollten 1855 1856 1857 1858 1859 1860 1861

Zitiert nach: Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle, S.345. Vgl. Kingreen, Max Horkheimers »Erkundungsreisen«, S.31f. Horkheimer, Lehren aus dem Faschismus, S.20. Ebd., S.25. Ebd., S.34f. Horkheimer, Politik und Soziales, S.50. Horkheimer, Die Psychologie des Totalitären, S.82. Vgl. ders., [Das Europäische], S.87. Stärker als bei Horkheimer war Adornos Verhältnis zur Pädagogik von einer grundlegenden Ambivalenz gekennzeichnet. Er war in der Lehrpraxis

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durchaus dieselben Instrumente zum Einsatz kommen, wie sie auch die Konsumindustrie angewandt habe, um die Massen zu verdummen. Dazu gehörten nach Adorno sachlich-aufklärende Broschüren, Film und Rundfunk sowie für den Schulgebrauch aufbereitete Ergebnisse aus wissenschaftlichen Studien, um »der Gefahr des völkischen Massenwahns für die Zukunft energisch vorzubeugen. Sie planmäßig zu entfalten und abzuwenden, ist heute nicht weniger zeitgemäß, als anderen Seuchen und Epidemien vorzubeugen«.1862 Demokratische Aufklärung als Kernelement der erziehungspolitischen Wissensebene erhob dabei einen gesamtgesellschaftlichen Anspruch. Deshalb gehörte zur erzieherischen Praxis Horkheimers auch die Etablierung einer deutschen Erinnerungskultur durch die Einführung von Ritualen und öffentlichen Ehrungen, so etwa für die Hitler-Attentäter vom 20. Juli 1944. Theodor Heuss hatte in einer Rede vor Studierenden der Freien Universität Berlin am 20. Juli 1954 die Widerstandskraft der Attentäter gelobt und geadelt. Für diese Rede hatte er sich im Vorfeld wissenschaftlich auch von Horkheimer beraten lassen. Letzterer war davon überzeugt, dass die positive Erinnerung an die Attentäter eine wichtige Rolle bei der Revitalisierung demokratischer Werte im nachkriegszeitlichen Westdeutschland spiele.1863 Dadurch setzte man in seinen Augen ein symbolisches Zeichen dafür, dass Widerstand gegen die autoritäre Obrigkeit nichts Verwerfliches sei.1864 Die Arbeit des Denkkollektivs um Horkheimer entfaltete auf der erziehungspolitischen Wissensebene vor allem in fünf Bereichen Wirkung, nämlich in der praktischen Zusammenarbeit mit jüngeren Sozialwissenschaftlern bei sozialempirischen Untersuchungen (Kap. 10.1.1), der Lehrer- und Erwachsenenbildung (Kap. 10.1.2), der akademischen Lehre (Kap. 10.1.3), der direkten Beratung politischer Stellen und wirtschaftlicher Institutionen (Kap. 10.1.4) sowie bei Horkzwar kein Verächter einer pädagogisch bestimmten Kommunikation. Allerdings schien ihm die Forderung nach Selbstaufklärung der Erzieher, insbesondere deren Anspruch auf eine Pädagogisierung anderer intellektueller Bereiche, kaum erfüllt. Siehe Andreas Gruschka, Kritische Pädagogik nach Adorno, in: ders./Oevermann (Hrsg.), Die Lebendigkeit der kritischen Gesellschaftstheorie, S.135-160, hier: S.135. 1862 Horkheimer/Adorno, Vorurteil und Charakter, S.68. 1863 Herf, Divided Memory, S.326-328. Zur Popularität des Hitler-Attentats vom 20.  Juli 1944 siehe Jan Bürger, Das Attentat als Lauffeuer. Der 20.  Juli 1944 in Tagebüchern. Eine Spurensuche, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 13 (2019) 3, S.105-110. 1864 Auch Wilhelm Hennis sah das eigentliche Problem nicht darin, dass die Deutschen besonders prädestiniert gewesen seien für den Faschismus – eine Genealogie von Luther zu Hitler gab es für ihn nicht  –, sondern in ihrem mangelnden Bewusstsein, gegenüber politischen Autoritäten Widerstand zu leisten. Siehe Moses, German Intellectuals, S.102f.

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heimers Engagement für die Etablierung eines transatlantischen Austauschs und die christlich-jüdische Verständigung (Kap. 10.1.5). 10.1.1 Die Zusammenarbeit mit Studierenden und Nachwuchswissenschaftlern: Demokratische Erziehung und Selbsterziehung An früherer Stelle dieses Buches ist angedeutet worden, dass die sozialempirische Praxis am IfS eng mit demokratischer Erziehung und Selbsterziehung der Sozialforscher verknüpft war. Bereits dem »Gruppenexperiment« lag die Überzeugung der Institutsdirektoren zugrunde, dass die Praxis der Gruppendiskussion, also die Konfrontation der Interviewer mit bestimmten Bevölkerungsgruppen und deren ideologischen Überzeugungen, eine demokratische Selbstbildung bei den beteiligten jungen Sozialforschern nach sich ziehen würde. Auch die Befragten sollten angeregt werden, ihre eigene ideologische Position zu überdenken.1865 Soziologische Erkenntnis, subjektive Erfahrung objektivierter ideologischer Strukturen und demokratische Selbsterziehung bildeten dabei eine Einheit. Für die Erziehungsabsichten des IfS war laut Adorno der Grundsatz der Psychoanalyse ausschlaggebend, demzufolge das Unbewusste des Analytikers im Prozess der Analyse stimulierend wirken könne, was er auf das Verhältnis von Sozialforschern und deren Untersuchungsgegenstände ausweitete.1866 In einer wohl 1950 abgehaltenen Besprechung am IfS hob Horkheimer dementsprechend nicht nur den interdisziplinär-kollektiven Charakter der sozialempirischen Forschungspraxis am Institut hervor. Er betonte auch, dass es nicht nur Absicht des IfS sei, »Resultate zu erzielen, wir glauben, dass die sinnvolle Beschäftigung mit sozialwissenschaftlichen Problemen für die Studenten die Bedeutung haben kann, gesellschaftliche und politische Fragen zu objektivieren.« Wenn die Sozialwissenschaften »einmal die Massen ergreifen«, würden sie es wohl unmöglich machen, »dass Demagogen eine Suggestivkraft ausüben« könnten. Über einen Turnus von etwa drei Monaten sollten sich die Studierenden und Nachwuchswissenschaftler Projekte auswählen, die die demokratische Erziehungskonzeption des IfS abbildeten.1867

1865 Vgl. Archiv IfS, S 1: Tagungen 1950-1961, Ordner 1: 1950-1952: Besprechung am 28. und 29. Juni (Protokoll von Fr. Bühler, 1950?), Bl.1-19, hier: Bl.1f.; Archiv IfS, F 1/40-60: Studies in Prejudice: Nr.58: Aktennotiz vom 10.01.1951. 1866 Archiv IfS, S 1: Tagungen 1950-1961, Ordner 1: 1950-1952: Konferenz im Institut für Sozialforschung Frankfurt am Main, 28. und 29. Juni 1950, Bl.1-20, hier: Bl.20. 1867 Archiv IfS, S 1: Tagungen 1950-1961, Ordner 1: 1950-1952: Besprechung am 28. und 29. Juni (Protokoll von Fr. Bühler, 1950?), Bl.1-19, hier: Bl.1f.

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10.1.2 Lehrer- und Erwachsenenbildung Die Beteiligung von Studierenden an der empirischen Sozialforschung war kein Spezifikum des IfS. Auch für andere Sozial- und Meinungsforschungsinstitute wie etwa die Akademie für Gemeinwirtschaft und Ludwig Neundörfers Soziographisches Institut war dieses Konzept richtungsweisend.1868 Hintergrund dafür war nicht nur die Absicht zur Demokratisierung von Studierenden und Promovierenden. Vielmehr sollten dem akademischen Nachwuchs auch praktische Arbeitsfelder aufgezeigt und der Gesellschaft die Relevanz der empirischen Sozialforschung vermittelt werden. Einen ganz besonderen Stellenwert nahmen in dieser Hinsicht die zukünftigen Lehrer ein, die in der jungen Bundesrepublik sehr gefragt waren.1869 Adorno engagierte sich intensiv in der Lehrer- und Erwachsenenbildung. Er wirkte auch im 1958 gegründeten Fachausschuss für Soziologie der Bildung und Erziehung innerhalb der DGS aktiv mit.1870 Seine bildungssoziologischen Arbeiten aus den 1950er Jahren zeigen, dass er in Bezug auf die demokratische Erziehung der Deutschen durchaus die Hoffnung hegte, mit einem veränderten und verbesserten Bildungssystem mündige Subjekte heranzubilden.1871 Dies zeigt auch seine enge Zusammenarbeit mit Hellmut Becker, dem ehrenamtlichen Präsidenten des Deutschen Volkshochschul-Verbands, Mitglied des Deutschen Bildungsrats und ab 1963 Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung. Adorno unterbreitete konkrete Vorschläge, wie Pädagogen beispielsweise die Entstehung von antisemitischen Stereotypen und ethnozentrischen Verhaltensweisen bei Kindern verhindern könnten. Hierbei sprach er den Lehrern eindeutig mehr Entscheidungsmacht als den Eltern der Kinder zu. Diese sollten etwa, wenn Eltern Vorurteile äußerten, die Kinder auf deren Irrtum hinweisen. Die schulische Erziehung sollte zudem ein Umfeld kreieren, das aggressives Verhalten sowie Cliquenbildungen verhindere und Freundschaften unter den Kindern fördere. Benzer nennt Adornos pädagogisches Konzept ein antiautoritäres Erziehungsprogramm gegen die Barbarei, das eng mit der Soziologie verbunden war und sowohl die Formulierung von Gesellschaftskritik als auch die Aufdeckung von sozialen Kräften, die hinter der Oberfläche der Politik operierten, beinhaltete.1872 1868 Archiv IfS, S 1: Tagungen 1950-1961, Ordner 1: 1950-1952: Frankfurter Konferenz von Vertretern deutscher empirischer Soziologie im Institut für Sozialforschung der Johann Wolfgang Goethe Universität, Frankfurt am Main, am 11. März 1952, Bl.1-22, hier: Bl.7-10. 1869 Clemens Albrecht, »Das Allerwichtigste«, S.131. 1870 Müller-Doohm, Adorno, S.568. 1871 Dirk Braunstein, Theodor W. Adornos Einleitung in das soziologische Hauptseminar ›Probleme der Bildungssoziologie‹, in: WestEnd 1 (2015), 147-152, hier: S.147-149. 1872 Benzer, The Sociology, S.157-159.

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In einem Vortrag von 1956 über die »Aktualität der Erwachsenenbildung« konstatierte Adorno, dass für Hochmut gegenüber der Volksbildung kein Anlass bestehe. Gerade die Volkshochschulen würden dem akademischen Lehrer die Gelegenheit bieten, seine Inhalte ohne Konzessionen vermitteln zu können. Die lebendige Teilnahme der Schüler zeige, »wie muffig und kleinbürgerlich das selbstgerechte Gefühl von Überlegenheit ihr gegenüber ist.«1873 Letzteres sei Resultat der Aufgabe der Bildungsidee Wilhelm von Humboldts. Es gelte nicht nur für die Universitäten im engeren Sinne, sondern für die gesamte Gesellschaft, in der auf einen Abbau von Bildung hingearbeitet werde. Denn die »Tugenden der Persönlichkeit: unabhängiges Urteil, allseitige Entfaltung der Kräfte, Widerstand gegen das bloß von außen Aufgezwungene, geduldige Selbstversenken« würden in der verwalteten Welt nicht mehr gewürdigt, erschienen gar »als Sand in der Maschinerie«.1874 Und deshalb müsse eine erziehungspolitische Praxis die Gesamtgesellschaft adressieren, um diesen Tendenzen entgegenzuwirken, Aufklärung zu betreiben und den Menschen zu vermitteln, »daß sie betrogen werden und sich selber nochmals betrügen.«1875 Über die Volkshochschulen urteilte Adorno 1956 durchaus positiv: »Mit recht viel Erfolg endlich greift heute bereits die Erwachsenenbildung die Aufgabe an, die Restbestände der nationalsozialistischen Ideologie, die im Bewußten und Unbewußten ungezählter einzelner ohne deren Schuld noch fortwesen, Clichés und Vorurteile, zu beseitigen.«1876 Dazu brauche es keine neue Weltanschauung, keine »Umerziehung«. Vielmehr lasse sich »durch denkende gemeinsame Arbeit nur […] das Verhärtete« lösen.1877 Diese Aufgabenbestimmung nahmen nicht wenige Lehrer engagiert auf.1878 10.1.3 Demokratische Erziehung durch universitäre Lehre Nach Clemens Albrecht boten die gesellschaftspolitischen Konstellationen in Nachkriegsdeutschland Horkheimer und Adorno die Möglichkeit, ihre pädagogischen Anliegen durchzusetzen. Besonders in der universitären Lehre konnten beide der von ihnen konstatierten Tendenz der Instrumentalisierung und Ver1873 Theodor W. Adorno, Aktualität der Erwachsenenbildung. Zum Deutschen Volkshochschultag Frankfurt am Main, 1956 [1956], in: ders., Vermischte Schriften I, S.327-331, hier: S.327. 1874 Ebd., S.328. 1875 Ebd., S.329. 1876 Ebd., S.330. 1877 Ebd. 1878 Gruschka, Kritische Pädagogik nach Adorno, S.137.

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dinglichung des Denkens entgegenwirken.1879 Dazu boten sie philosophische und sozialwissenschaftliche Lehrveranstaltungen gleichermaßen an. Eine Auflistung Niko Bobkas und Dirk Braunsteins zu Adornos Lehrveranstaltungen vom Wintersemester 1949/50 bis zum Sommersemester 1961 zeigt allerdings, dass er mehr Kurse über allgemeine Philosophie, insbesondere über die Erkenntnisphilosophien Hegels und Kants, Musikphilosophie und Ästhetik, anbot als sozialwissenschaftliche Lehrveranstaltungen.1880 Dies lag wohl an seiner Doppelrolle als Universitätsprofessor und stellvertretender Direktor des IfS, denn im Gegensatz zur Philosophie sollten sozialwissenschaftliche Fertigkeiten durch die Alltagspraxis im Rahmen der sozialempirischen Untersuchungen am Institut erlernt werden. Adorno setzte dabei große Hoffnungen auf die Studierenden der Universität Frankfurt. In einem Brief an Thomas Mann von Ende 1949 betonte er, dass von einem Niveauverlust seiner meist hauptamtlich Philosophie belegenden Studierenden keine Rede sein könne: »Was ich da an leidenschaftlicher Teilnahme finde, entzieht sich der Schilderung, und es liegt sicherlich an der Sache und nicht an mir, der es ohnehin beim Übereifer der Studenten recht schwer hat zu Wort zu kommen.«1881 Er beschrieb hier jenen in der Forschungsliteratur häufig konstatierten Hunger nach Bildung und Wissen der jüngeren Generation nach dem Ende des NS-Regimes, der auch bei den technischen Hochschulen zu beobachten sei. Er wertete dies als Reaktion auf die »geistige Dürre des Dritten Reiches«, als Befreiungsmoment vom »Druck der anbefohlenen Kollektivierung«.1882 Auf den antizipierten Einwand Manns, dass die deutschen Studierenden immer noch Nationalsozialisten seien, ihr Übereifer lediglich als hohler Ausdruck einer kriegstreiberischen Geschäftigkeit erscheine, entgegnete er, dass er dies nicht glaube »und hoffe, daß ich an diesem entscheidenden Punkt mich nicht verblenden lasse.« Grund hierfür sei, dass Deutschland 1945 aufgehört habe, »überhaupt politisches Subjekt zu sein«. Und so würden auch die Studierenden versuchen, sich zwischen den beiden antagonistischen politischen Machtblöcken im frühen Kalten Krieg durchzulavieren. Im Übrigen wollten sie so »›tatenarm und gedankenvoll‹ sein, als schriebe man 1800.« Obwohl es nicht an »reaktionären Stim1879 Clemens Albrecht, Im Schatten des Nationalsozialismus. Die politische Pädagogik der Frankfurter Schule, in: ders. u.a., Die intellektuelle Gründung, S.387447, hier: S.387-392. 1880 Nico Bobka/Dirk Braunstein, Die Lehrveranstaltungen Theodor W. Adornos. Eine kommentierte Übersicht, in: IfS Working Papers 8 (2015), S.1-33, hier: S.6, 10-15. 1881 Theodor W. Adorno an Thomas Mann vom 28.12.1949, in: Theodor W. Adorno – Thomas Mann. Briefwechsel, S.44-54, hier: S.46. 1882 Theodor W. Adorno, Die auferstandene Kultur [1949], in: ders., Vermischte Schriften II. Aesthetica, Miscellanea, hrsg. v. Rolf Tiedemann, unter Mitwirkung v. Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz (Gesammelte Schriften, Bd.20.2). Frankfurt am Main 2003, S.453-464, hier: S.454f. Vgl. auch MüllerDoohm, Adorno, S.501-505.

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mungen fehlte«, seien »die Reaktionstendenzen […] fraglos weit eher positivchristlich als alt-faschistischer Art.«1883 Auch gegenüber Siegfried Kracauer äußerte Adorno im Oktober 1950, das Niveau der Philosophiestudenten sei so hoch wie vor dem Machtwechsel 1933.1884 Im Dezember 1952, als er für die Arbeit bei der Hacker Foundation zurück nach Kalifornien ging, teilte er Mann mit, dass ihn »die Erfahrung, daß es mit dem Rückfall in die Barbarei doch nicht so sich verhält, wie wir zu unterstellen immer wieder verführt werden«, beglücke und sich auch »die These vom Absterben der Bildung«, durch die Zusammenarbeit mit jungen Sozialforschern nicht bestätigt habe.1885 Adorno hatte denn auch Erfolg mit seinen Lehrveranstaltungen. Am 12. November 1949 schrieb er an seine Mutter: »Vorlesung überfüllt, über 150 Studenten; Seminar und Übungen sehr gut besucht. Studenten hochintelligent, ungeheurer hohes geistiges Niveau, aber mangelnde Bildung. Komme großartig mit ihnen aus.«1886 Wenige Wochen später teilte er Mann mit, »daß kaum ein Abbrechen der Seminarstunden zu erreichen ist, und daß die Kinder mich baten, das Seminar während der Ferien fortzuführen«.1887 »Die Studenten«, so Adorno, »hängen in einer Weise an mir, die ich nie für möglich gehalten hätte.«1888 In seinem 1949 verfassten Aufsatz »Die auferstandene Kultur« berichtete er ähnlich begeistert. Er stellte zufrieden fest, dass sich die Ansicht, »der Typus des auf rasches berufliches Fortkommen bedachten Examensstudenten herrsche vor, als irrig« herausgestellt habe. Im Gegenteil zeigten die Studierenden der Philosophie und Sozialwissenschaften »das äußerste Interesse an praktisch unverwertbaren Problemen.«1889 Auch die materiell prekäre Lage, in der sich die Studierenden im nachkriegszeitlichen Frankfurt befänden, habe auf ihre geistigen Interessen keinen Einfluss.1890 Er hege deshalb die Hoffnung, dass seine Studierenden Subjekte der Freiheit, Subjekte »einer versöhnten Menschheit« würden.1891 Unter Rekurs auf derartige Aussagen weisen Bobka und Braunstein darauf hin, dass seine Vorlesungen einen tastenden, experimentierenden und keineswegs abgeschlossenen Charakter gehabt hätten. Adorno habe seine Lehrtätigkeit als 1883 Theodor W. Adorno an Thomas Mann vom 28.12.1949, in: Theodor W. Adorno – Thomas Mann. Briefwechsel, S.44-54, hier: S.47. 1884 Theodor W. Adorno an Siegfried Kracauer vom 17.10.1950, in: Theodor W. Adorno – Siegfried Kracauer. Briefwechsel, S.452-455, hier: S.452f. 1885 Theodor W. Adorno an Thomas Mann vom 01.12.1952, in: Theodor W. Adorno – Thomas Mann. Briefwechsel, S.125-132, hier: S.129. 1886 Zitiert nach: Bobka/Braunstein, Die Lehrveranstaltungen Theodor W. Adornos, S.5. 1887 Theodor W. Adorno an Thomas Mann vom 28.12.1949, in: Theodor W. Adorno – Thomas Mann. Briefwechsel, S.44-54, hier: S.46. 1888 Zitiert nach: Bobka/Braunstein, Die Lehrveranstaltungen Theodor W. Adornos, S.5. 1889 Adorno, Die auferstandene Kultur, S.454. 1890 Ebd. 1891 Ebd., S.464.

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»Work in Progress« begriffen. In seinen Seminaren ließ er von jeder Sitzung von den Studierenden Protokolle anfertigen.1892 Diese zeigten  – darauf hat schon Demirović hingewiesen –, dass die Diskussionen mit den Studierenden in den Seminaren für seine Theoriearbeit zentral waren.1893 Das dialektisch-geschichtsphilosophische Idiom, das sich in der amerikanischen Emigration ab den späten 1930er Jahren bei ihm und Horkheimer herausgebildet und festgesetzt hatte, befreite sich in den 1950er Jahren von seinem esoterischen Dasein. Es entfaltete seine Wirkung in den Lehrveranstaltungen. Als Universitätsprofessor verkörperte Adorno in den 1950er Jahren die Figur des kritischen Intellektuellen, dessen universitäre Lehre vor allem ab den 1960er Jahren Bekanntheit und Einfluss weit über Frankfurt hinaus erlangte.1894 Auch Horkheimer konstatierte zunächst die mangelnde Bildung der westdeutschen Nachkriegsstudenten. In einer Ansprache zur Immatrikulationsfeier der Frankfurter Universität für das Wintersemester 1952/53 betonte er, dass im Zuge der gesamtgesellschaftlichen Technisierung der Prozess der Bildung in einen ökonomischen Verarbeitungsprozess umgewandelt werde. Dieser Verarbeitungsmodus »läßt dem Gegenstand keine Zeit, die Zeit wird reduziert. Zeit aber steht für Liebe; der Sache, der ich Zeit schenke, schenke ich Liebe«.1895 Nur so könne wirkliche Bildung gedeihen. Hierzu gehörten für ihn auch tiefe freundschaftliche Bindungen, die an der Universität geknüpft werden konnten. »[D]er Wunsch nach solchen echten, wenn Sie wollen utopischen Bindungen« hänge zutiefst mit dem nach wahrer Bildung zusammen.1896 Mangelnde Bildung und das daraus resultierende »Bedürfnis der Studenten nach der geschlossenen Vorlesung«, nach 1892 Siehe Dirk Braunstein (Hrsg.), Die Frankfurter Seminare Theodor W. Adornos. Gesammelte Sitzungsprotokolle, Bd.1: Wintersemester 1949/50-Sommersemester 1957, unter Mitwirkung v. Nico Bobka, Maischa Gelhard, Jessica Lütgens, Hannes Weidmann, Lena Welling und Marcel Woznica. Berlin 2021; ders. (Hrsg.), Die Frankfurter Seminare Theodor W. Adornos. Gesammelte Sitzungsprotokolle, Bd.2: Wintersemester 1957/58-Wintersemester 1960/61, unter Mitwirkung v. Nico Bobka, Maischa Gelhard, Jessica Lütgens, Hannes Weidmann, Lena Welling und Marcel Woznica. Berlin 2021; ders. (Hrsg.), Die Frankfurter Seminare Theodor W. Adornos. Gesammelte Sitzungsprotokolle, Bd.3: Sommersemester 1961-Wintersemester 1963/64, unter Mitwirkung v. Nico Bobka, Maischa Gelhard, Jessica Lütgens, Hannes Weidmann, Lena Welling und Marcel Woznica. Berlin 2021; ders. (Hrsg.), Die Frankfurter Seminare Theodor W. Adornos. Gesammelte Sitzungsprotokolle, Bd.4: Sommersemester 1964-Sommersemester 1969, unter Mitwirkung v. Nico Bobka, Maischa Gelhard, Jessica Lütgens, Hannes Weidmann, Lena Welling und Marcel Woznica. Berlin 2021. 1893 Bobka/Braunstein, Die Lehrveranstaltungen Theodor W. Adornos, S.6f. 1894 Albrecht, Im Schatten des Nationalsozialismus, S.387-392. 1895 Max Horkheimer, Begriff der Bildung [1952], in: ders., Vorträge und Aufzeichnungen 1949-1973 (Bd.8), S.409-419, hier: S.411. 1896 Ebd., S.417.

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geistiger Orientierung, wurzelte seiner Ansicht nach darin, dass »unsere Studenten, und zwar ganz unbewußt, immer noch im Banne des Führertums gehalten« würden. »[S]ie erwarten im Grunde immer noch das, was man im Dritten Reich mit Worten wie ›Schulung‹ und ›Ausrichtung‹ bedacht hat«, wie er in einem Vortrag auf der Deutschen Rektorenkonferenz 1952 festhielt.1897 Denn die »gesellschaftlichen und anthropologischen Voraussetzungen totaler Herrschaft […] sind mit der Niederlage Hitlers nicht zergangen, und keine Erwägung des akademischen Unterrichts, die davon nicht Rechenschaft gäbe, würde der Realität gerecht.«1898 Maßnahmen gegen die Bedrohung durch diese instrumentell vermittelte Barbarei sah Horkheimer nicht in der »Rekonstruktion der Bildung« und im »Bemühen um sogenannte Synthesen«. Vielmehr müsse die akademische Erziehung sowohl über den Begriff der Bildung als auch über »abstrakte Entwicklung technischer Fähigkeiten« positiv hinausgehen. Die dringlichste Forderung an den akademischen Unterricht sah er darin, »den Geist der Kritik in jedem einzelnen Sachgebiet und kraft dessen eigener Disziplin zu wecken«. Die Studenten müssten dazu gebracht werden, »nichts hinzunehmen einfach deshalb, weil es nun einmal so ist, sondern das Bestimmte, das sie lernen müssen, zu prüfen an seiner eigenen Möglichkeit; die Zusammenhänge, mit denen sie sich beschäftigen, auf ihre eigene Stimmigkeit oder Unstimmigkeit abzuklopfen.«1899 Mit Verweis auf John Dewey hob er hervor, dass eine solche Erziehung zum kritischen Bewusstsein nicht von außen an die Studenten und Schüler herangetragen werden, »sondern an das jeweilige Sosein der Schüler anknüpfen sollte.«1900 Um diese Erziehungsleistung zu erbringen und den Studierenden für die Entfaltung ihrer Intellektualität Raum zu geben, waren jedoch zunächst die institutionellen Rahmenbedingungen zu schaffen. Horkheimer sah in den Sozialwissenschaften diesbezüglich großes Potenzial, allerdings fehle es an deutschen Universitäten noch an »Lehrstühlen, an einer Studienordnung und an Examina, die von den Instanzen, die der sozialwissenschaftlich Geschulten bedürfen, anerkannt würden.«1901 Ein Studienplan und eine Prüfungsordnung für die Sozialwissenschaften 1897 Max Horkheimer, Fragen des Hochschulunterrichts [1952], in: ders., Vorträge und Aufzeichnungen 1949-1973 (Bd.8), S.391-408, hier: S.398f. 1898 Ebd., S.399. 1899 Ebd., S.406. 1900 Ebd., S.401. 1901 Ebd., S.402.

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als Äquivalent zum Diplomvolkswirt müssten ausgearbeitet werden. Die Fächer, in die sich der zukünftige Studierende der Sozialwissenschaften vertiefen müsse, seien, »eben weil er technische Funktionen in der verwalteten Welt zu erfüllen haben wird, in großem Maße technischer Art, vom Studium statistischer Stichprobenmethoden über Ausbildung in Techniken des Interviews, psychologische Orientierung über ›Menschenbehandlung‹ im Betrieb, bis zu solchen Fächern wie Sozialfürsorgewesen und Hygiene.«1902 Die Lehrinhalte dieser Fächer sollten jedoch philosophisch durchdrungen werden, um sie in das einzubetten, was vor 1933 einmal bestanden habe: eine ganzheitliche und reflektierte Sozialwissenschaft.1903 Die Teilnehmer der ordentlichen Mitgliederversammlung der DGS am 24. September 1952 in Weinheim konstatierten, dass die sozialwissenschaftliche Lehre an den westdeutschen Universitäten ausgebaut werden müsse. Sie beschlossen die Bildung eines Gremiums, das die Gestaltung des sozialwissenschaftlichen Unterrichts prüfen sollte.1904 Der daraufhin gegründete Ausschuss zu Lehrfragen teilte sich in eine Universitätskommission sowie eine Kommission zur Gestaltung des Unterrichts an den Schulen und bei der Lehrerausbildung auf. Bereits zuvor hatte Horkheimer auf Heinz Maus’ Anregung hin eine informelle Aussprache über das Studium der Soziologie an den hessischen Hochschulen initiiert. Er wollte bei diesem Treffen den Plan einer ersten Diplomprüfungsordnung für Soziologie in der Bundesrepublik besprechen. Auch in den Sitzungen der Kommissionen spielte diese Prüfungsordnung eine zentrale Rolle. Im Herbst 1953 hielt die DGS unter Leopold von Wiese eine »Konferenz über die Gestaltung des Unterrichts in den Sozialwissenschaften« in Köln ab, an der auch Adorno teilnahm.1905 In einem Rundschreiben an die Kultusministerien und interessierten Verbände fasste von Wiese die gefassten Beschlüsse im Februar 1954 zusammen. Lehrer aller Schulgattungen sollten in den Sozialwissenschaften im Allgemeinen und der Soziologie im Besonderen ausgebildet werden. Die Sozialkunde sei als Fach in den Berufs- und Berufsfachschulen zu lehren, wobei in Fachschulen, besonders aber in den Wohlfahrtsschulen, die Soziologie im Vordergrund stehe. Gleiches gelte für Ingenieurfachschulen, Bergbau- und 1902 Ebd., S.403. 1903 Horkheimer, Soziologie an der Universität, S.378f. 1904 SAK, Digitale Dokumentation zur DGS, DE-SAK-B1-3621: Leopold von Wiese an den Kultusminister des Landes Nordrhein-Westfalen vom 08.12.1952, Bl.1-3, hier: Bl.1. 1905 SAK, Digitale Dokumentation zur DGS, DE-SAK-B1-3621: Theodor W. Adorno an Leopold von Wiese vom 18.09.1953; Leopold von Wiese an Max Horkheimer vom 09.01.1953, Bl.1f., hier: Bl.1.

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Verwaltungsakademien sowie Industriefachschulen, in denen allerdings die Betriebssoziologie stärker berücksichtigt werden müsse. Zu diesem Zweck seien, so der Plan, Textbücher für die Lehrer und Lehrbücher für die Schüler zu erstellen.1906 Die Kooperationsverhältnisse zwischen den westdeutschen Sozialwissenschaftlern und die damit verbundenen Zielsetzungen auf der erziehungspolitischen Wissensebene ermöglichten die Etablierung eines verbindlichen Diplomstudiengangs Soziologie, der 1954 an der Universität Frankfurt eingeführt wurde.1907 Adorno erwartete sich davon, ähnlich wie in den Vereinigten Staaten, wo eine hohe Nachfrage nach ausgebildeten Fachsoziologen herrsche, »daß die Diplom-Soziologen in immer wachsendem Maße in der Verwaltung unterkommen, daß sich für sie in der Wirtschaft, vor allem in Großbetrieben, vielfache Möglichkeiten bieten, und schließlich, daß man in der Presse, beim Radio und im ganzen Bereich der ›communication‹ immer mehr auf sie reflektieren wird.«1908 Er sei jedenfalls davon überzeugt, »daß in diesem Betracht, gerade auch im Zusammenhang mit der Idee der Pflege von ›industrial relations‹, ›human relations‹, ›public relations‹, und wie man all das zu nennen pflegt, Deutschland der amerikanischen Entwicklung verhältnismäßig rasch folgen wird.«1909 Dieser Erfolg spiegelte in gewisser Weise Horkheimers optimistische Universi1906 SAK, Digitale Dokumentation zur DGS, DE-SAK-B1-3621: Rundschreiben Leopold von Wieses an die Kulturministerien und interessierten Verbände in Sachen der weiteren Ausgestaltung des Unterrichts in den Sozialwissenschaften an höheren Schulen und Fachschulen vom 13.02.1954, Bl.1-3, hier: Bl.1. Zusätzlich regte Schelsky in einem Rundschreiben an alle westdeutschen Soziologieordinarien im November 1954 die Gründung eines Fachverbands für Hochschullehrer der Soziologie an. Siehe Weyer, Westdeutsche Soziologie, S.63, 70. 1907 HHStAW, Abt. 504, Nr.12.411, Bl.7f.: Der Dekan der Philosophischen Fakultät an den Hessischen Kultusminister vom 16.06.1965. Vgl. Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle, S.406, 435; Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft, S.251. Allerdings gab es in der Folgezeit zahlreiche Debatten um die Erweiterung des Diplomstudiengangs, an der Frankfurter Universität vor allem zwischen IfS und der WiSo-Fakultät. Vgl. Archiv IfS, Aa1: Adorno-Korrespondenz L, 12: Theodor W. Adorno an Hans-Joachim Lieber vom 14.01.1958. 1908 SAK, Digitale Dokumentation zur DGS, DE-SAK-B1-3621: Theodor W. Adorno an Leopold von Wiese vom 11.03.1954, Bl.1f., hier: Bl.2. 1909 Ebd.

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tätsreden in Bezug auf eine neue akademische Erziehung. Trotz fortschreitender Technisierung und Verdinglichung der Bildung gab er sich hoffnungsvoll: »Noch immer besteht eine innere Verwandtschaft zwischen dem Gegenstand des Unterrichts, dem geordneten Wissen, der Theorie auf der einen Seite und den spezifischen Kräften des Menschen als Vernunftwesen auf der anderen.« Eine produktive Wechselwirkung zwischen beiden finde noch immer statt. Die Universität habe ihre humanisierende Wirkung beibehalten.1910 Eine Bedingung »für die Erziehung der widerstandsfähigen Charaktere, die uns als notwendig für die Erhaltung der abendländischen Menschheit erscheint«, sah er darin, dass »sich die verantwortlichen akademischen Körperschaften durch keine wie immer geartete Furcht daran verhindern lassen, den Studierenden die Einsicht auch in die schwer zugänglichen Seiten des gesellschaftlichen Getriebes zu vermitteln«. An das »Überleben dieses Subjekts aber knüpft sich die Hoffnung.«1911 Aus den von Alfred Schmidt und Hilmar Tillack erstellten Nachschriften seiner Vorlesungen ab dem Wintersemester 1953/54, als er über »Fragen der Geschichtsphilosophie« sprach, bis zur Vorlesung »Die Aufklärung« im Wintersemester 1959/60, geht hervor, dass er neben allen sachlichen Darstellungen genau diese Inhalte seinen Studierenden zu vermitteln suchte.1912

1910 Max Horkheimer, Philosophie und Studium [1949], in: ders., Vorträge und Aufzeichnungen 1949-1973 (Bd.8), S.361-377, hier: S.373. 1911 Ebd., S.376f. Siehe auch Max Horkheimer, Akademisches Studium [1952], in: ders., Vorträge und Aufzeichnungen 1949-1973 (Bd.8), S.381-390; ders., Verantwortung und Studium [1954], in: ders., Vorträge und Aufzeichnungen 1949-1973 (Bd. 8), S.433-453. 1912 Max Horkheimer, Fragen der Geschichtsphilosophie [Vorlesungsnachschrift von Alfred Schmidt] (Wintersemester 1953/54), in: ders., Nachgelassene Schriften 1949-1972, S.270-346; ders., Kritik des Positivismus [Vorlesungsnachschrift von Alfred Schmidt] (Sommersemester 1954), in: ders., Nachgelassene Schriften 19491972, S.347-396; ders., Geschichte des Materialismus (ausgewählte Kapitel) [Einleitung in der Manuskriptfassung und Vorlesungsnachschrift von Hilmar Tillack] (Sommersemester 1957), in: ders., Nachgelassene Schriften 1949-1972, S.397-451; ders., Die Idee der Freiheit [Vorlesungsnachschrift von Hilmar Tillack] (Wintersemester 1957/58), in: ders., Nachgelassene Schriften 1949-1972, S.452-514; ders., Der Begriff der Seele seit Leibniz [Vorlesungsnachschrift von Hilmar Tillack] (Sommersemester 1958), in: ders., Nachgelassene Schriften 1949-1972, S.515-569; ders., Die Aufklärung [Vorlesungsnachschrift von Hilmar Tillack] (Wintersemester 1959/60), in: ders., Nachgelassene Schriften 1949-1972, S.570-645.

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10.1.4 Politikberatung und Versuche der Platzierung von IfS-Mitarbeitern in bundesrepublikanischen Institutionen Die im Rahmen des »Gruppenexperiments« generierten Forschungsergebnisse waren zunächst reines Expertenwissen. Sie sollten vor allem erziehungspolitischen Stellen zur Verfügung stehen. Deshalb forderte Horkheimer in einem Brief an den hessischen Kultusminister Ludwig Metzger 1952, ein Schulprogramm für die ländlichen Regionen in die Wege zu leiten. Auch die Bauern, die neben den Akademikern die stärksten Kontinuitäten nationalsozialistischer Einstellungen aufwiesen, sollten soziologisch aufgeklärt werden.1913 Die Institutsmitarbeiter hatten ausdrücklich formuliert, dass ihre sozialwissenschaftlichen »Forschungsinstrumente und -techniken für Regierungszwecke, insbesondere bei der Auswahl von Personal, geeignet seien«, wie Demirović festhält.1914 Clemens Albrecht differenziert die politikberatende erziehungspolitische Praxis des Denkkollektivs um Horkheimer in zwei Abschnitte: In der frühen Phase, die von der Rückkehr nach Frankfurt bis zu den antisemitischen Vorfällen 1959/60 andauerte, habe vor allem »expertive Politikberatung« stattgefunden. Für den Zeitraum danach lasse sich dagegen von »demonstrativer Politikberatung« sprechen, die durch die Wahl Horkheimers in die Kommission der Bundesregierung für politische Bildung gekrönt worden sei.1915 Die Praxis der »expertiven« Politikberatung des IfS bis Mitte der 1950er Jahre zeigte sich unter anderem an seiner Mitwirkung am Aufbau der Bundeswehr. Das personalpolitische Problem bei der Aufstellung einer neuen bundesrepublikanischen Armee bestand darin, dass politisch unbelastete Offiziere kaum zu finden waren, Adenauer aber McCloy zugesichert hatte, diese sowohl nach fachlicher Kompetenz als auch demokratischer Grundhaltung auszuwählen.1916 Im Oktober 1950 wurde Theodor Blank als »Beauftragter des Bundeskanzlers für die mit der Vermehrung der alliierten Truppen zusammenhängenden Fragen« Leiter der nach ihm benannten Dienststelle (Amt Blank). Er richtete in dieser Funktion ein Studienbüro unter der Leitung Josef H. Pfisters ein, das geistes- und sozialwissenschaftliche Erkenntnisse dafür nutzen sollte, ein 1913 Albrecht, Im Schatten des Nationalsozialismus, S.387-392. Siehe Archiv IfS: Aa1: Adorno-Korrespondenz K, 2: Memorandum für den Herrn Kultusminister Dr. Ludwig Metzger, Hessisches Ministerium für Erziehung und Volksbildung, Wiesbaden, Luisenplatz 10, vom 07.10.1952, S.1-3. 1914 Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle, S.367. Vgl. auch Benzer, The Sociology, S.161. 1915 Clemens Albrecht, Expertive versus demonstrative Politikberatung. Adorno bei der Bundeswehr, in: Stefan Fisch/Wilfried Rudloff (Hrsg.), Experten und Politik: Wissenschaftliche Politikberatung in geschichtlicher Perspektive (Schriften der Hochschule Speyer, Bd.168). Berlin 2004, S.297-308, hier: S.302. 1916 Ebd., S.303.

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psychologisches Auswahlverfahren für Offiziere auszuarbeiten. Zu diesem Zweck organisierte das Büro mehrere Tagungen, an denen insbesondere Psychologen und Soziologen teilnahmen. Über den IfS-Mitarbeiter Volker von Hagen und dessen ehemaligen Redaktionskollegen bei der Neuen Zeitung, Egon Merker, der nun im Bundeskanzleramt arbeitete, kam der Kontakt zwischen Pfister und dem IfS zustande.1917 1953/54 projektierte das IfS in Zusammenarbeit mit dem IfD Elisabeth Noelle-Neumanns, dem Pädagogen Fritz Stippel, den Psychologen Philipp Lersch (Universität München) und Robert Heiss (Universität Freiburg), dem FORFA-Institut Braunschweig und dem Pädagogischen Institut Hamburg, dem Charakterologen und früheren NS-Wehrmachtpsychologen Gotthilf Flik, der Psychologin Stephanie Krenn sowie Curt Bondy, dem Leiter des Hamburger Instituts für Psychologie und Sozialpädagogik, ein Befragungsverfahren für Offiziersbewerber der aufzubauenden Bundeswehr. Später trat der Kommission auch Arnold Bergstraesser bei. Bei dieser »Auswahlstudie« ging es um die Nutzung sozialempirischer Daten zur Untersuchung von Bildungsprozessen und sozialpsychologischen Haltungen junger rekrutierungsfähiger Männer hinsichtlich Demokratie und Wehrbereitschaft. Nach einer Besprechung mit Pfister berichtete Adorno im April 1954 Horkheimer, dass die Beteiligung des IfS an dieser Untersuchung zu verschleiern sei. Die Finanzierung solle nicht direkt über das Institut laufen und der dafür zuständige Mitarbeiter Karl Sardemann entsprechend ›ausgelagert‹ werden.1918 Die Direktoren befürchteten, das internationale Ansehen des IfS würde durch die Bekanntmachung der Beteiligung an der international keineswegs unumstrittenen Wiederbewaffnung Westdeutschlands Schaden nehmen.1919 Zunächst bewarben sich ehemalige Offiziere der früheren Wehrmacht für die neue Bundeswehr. Durch das Auswahlverfahren sollten Bewerber ausgeschlossen werden, die autoritäre Charakterzüge zeigten und somit den Anforderungen an Offiziere einer Armee eines demokratischen Staates nicht genügten. Adorno wollte autoritäre psychische Strukturen bei den Offiziersanwärtern ausfindig machen, wobei er Konventionalismus, autoritäre Untertänigkeit, Aggressivität, Abwehr der Selbstbesinnung, Stereotypie und Machkomplex als autoritäre Strukturformationen der Persönlichkeit in den Vordergrund stellte.1920 Aller1917 Ebd., S.303f. 1918 Ebd., S.304f.; Johannes Platz, Theodor W. Adornos Demokratieexpertise beim Aufbau der Bundeswehr: Authoritarian Personality, Charakterologie oder Psychotechnik? Die Konflikte um Einrichtung und Ausrichtung des Psychologischen Dienstes der Bundeswehr, in: Seckelmann/ders. (Hrsg.), Remigration und Demokratie, S.189-217, hier: S.189, 201-210. 1919 Monika Boll, Kalte Krieger oder Militärreformer? Das Institut und die Bundeswehr, in: Boll/Gross (Hrsg.), Die Frankfurter Schule und Frankfurt, S.54-63, hier: S.54-57. 1920 Albrecht, Expertive versus demonstrative Politikberatung, S.305f.

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dings zeigten die Bemühungen des Denkkollektivs um Horkheimer nur geringe Wirkung auf die tatsächliche Auswahl des Offizierskorps, denn Pfisters Studienbüro war »von Adenauer gezielt als katholisches Gegengewicht zur norddeutsch-protestantischen Dominanz des Kreises um Wolf Graf von Baudissin installiert« worden. Das hatte ein Kompetenzgerangel zur Folge, in dem das Studienbüro letztlich unterlag. Aufgrund der ungeklärten Finanzierung kam das Projekt nie über Vorarbeiten hinaus.1921 Albrecht resümiert, dass der Fragebogen, den Stephanie Krenn auf Grundlage der Beratungen erstellt hatte, bei der Auswahl der Offiziere kaum eine Rolle spielte.1922 Zudem reagierten die Bewerber ausgesprochen ablehnend auf denselben. Daraus schlossen die in der Kommission vertretenen Repräsentanten der psychologischen Fachverbände, dass er nicht verwendet werden könne, »da er keinen diagnostischen Wert besitze, weil die Mehrzahl der Teilnehmer die Fragen stark affektbesetzt beantworte«.1923 Mit Ausnahme der Beratung hessischer Erziehungspolitiker sowie der Mitarbeit an regionalen und städtischen Planungsvorhaben zeigte die politikberatende Praxis des Denkkollektivs um Horkheimer in den 1950er Jahren nur wenige Erfolge. Auch die Ergebnisse aus der »Heimkehrerstudie«, einer Untersuchung der ideologischen Lage von Wehrmachtsoldaten, die aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt waren und sich im Verband der Heimkehrer, Kriegsgefangenen und Vermisstenangehörigen Deutschlands e. V. organisierten, blieben unveröffentlicht. Das IfS hatte den Auftrag dazu von der Bundeszentrale für Heimatdienst erhalten. Die sozialempirischen Erhebungen für diese Untersuchung waren von 1956 bis 1957 durchgeführt worden. Aus dem zum Teil DFG-finanzierten Projekt gingen die beiden Manuskripte »Zum politischen Bewußtsein ehemaliger Kriegsgefangener« und zur »Entwicklung eines Interessenverbandes« hervor.1924 Nur Letzteres erschien als hektografierte Monografie von Manfred Teschner, war aber ebenfalls nicht einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich.1925 Trotz des fortwährenden Insistierens Adornos auf Veröffentlichung 1921 Vgl. Max Horkheimer an Theodor W. Adorno vom 19.06.1953, in: Theodor W. Adorno  – Max Horkheimer. Briefwechsel 1927-1969 (Bd.IV), S.209-211, hier: S.209; Theodor W. Adorno an Max Horkheimer vom 04.01.1954, in: Theodor W. Adorno – Max Horkheimer. Briefwechsel 1927-1969 (Bd. IV), S.245-247, hier: S.245f. Vgl. Boll, Kalte Krieger oder Militärreformer?, S.54-63. Das IfS beteiligte sich nicht unmittelbar personell an den konkreten Prüfungsverfahren. Lediglich Sardemann arbeitete für sechs Monate bei der Dienststelle Blank als Berater. 1922 Albrecht, Expertive versus demonstrative Politikberatung, S.306. 1923 Platz, Theodor W. Adornos Demokratieexpertise beim Aufbau der Bundeswehr, S.190. Vgl. auch ebd., S.210f. 1924 Archiv IfS, Heimkehrer-Studie, A 13 I -III, Ordner 1/6. 1925 Zwar lautete die 1961 von Manfred Teschner abgeschlossene und der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main eingereichte Dissertation Entwicklung eines Interessenverbandes. Es handelte sich dabei aber nicht um einen

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der Studienergebnisse scheiterte dies letztlich daran, dass, wie Egon Becker an die DFG im März 1960 schrieb, es »Absprachen zwischen dem Auftraggeber, der Bundeszentrale für Heimatdienst, und dem Verband der Heimkehrer« gebe, »das Forschungsergebnis nicht in der Öffentlichkeit bekanntzugeben«. Das habe das IfS allerdings erst nach Abschluss der Untersuchungen erfahren.1926 Einen weiteren Versuch einer Zusammenarbeit zwischen IfS und Regierungsstellen in erziehungspolitischer Absicht unternahmen Horkheimer und Adorno über ihren Kontakt zu Otto John, dem Chef des 1950 neu geschaffenen Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV). Der »Fall John« ist aus der Forschungsliteratur bekannt: Am 20. Juli 1954, genau zehn Jahre nach dem Stauffenberg-Attentat auf Hitler, setzte sich dieser nach einer Gedenkveranstaltung in Westberlin in die DDR ab. John erklärte sich am Folgetag im DDR-Rundfunk: Er habe mit dieser Aktion ein Zeichen gegen die antagonistischen Fronten des Kalten Krieges setzen wollen, die seiner Meinung nach Deutschland zerreißen würden. Bernd Stöver schreibt: »In Johns Namen wurde hinzugefügt, der BfV-Präsident protestiere außerdem gegen die Reaktivierung von Nationalsozialisten im öffentlichen Dienst der Bundesrepublik«, wie dies etwa bei Theodor Oberländer der Fall sei.1927 Der Skandal ist deshalb höchst undurchsichtig, weil John, nachdem er mithilfe des befreundeten dänischen Journalisten Henrik Bonde-Henriksen am 12. Dezember 1955 nach West-Berlin zurückgekehrt war, behauptete, »er sei betäubt und dann in die DDR verschleppt worden und habe sich erst dort unter dem Druck der Ereignisse zur Kooperation entschlossen«.1928 Bis zu seinem Tod im März 1997 hielt John an dieser Version fest  – so auch vor dem Bundesgerichtshof, der ihn 1956 zu vier Jahren Haft wegen Landesverrats verurteilte. Nach allen bislang bekannten Informationen litt er vor seinem Übertritt in die DDR an schweren Depressionen. Er setzte sich aus freien Stücken in die DDR ab, wo er mit Geheimdienstleuten vom sowjetischen Geheimdienst und von der DDR-Staatssicherheit zusammenarbeiten wollte, um gegen die Renazifizierung in Westdeutschland vorzugehen und eine Wiedervereinigung des geteilten Lan-

bericht der sozialempirischen Untersuchung. Vgl. Manfred Teschner, Entwicklung eines Interessenverbandes. Ein empirischer Beitrag zum Problem der Verselbständigung von Massenorganisationen, hektogr. Ts. Frankfurt am Main 1961. 1926 Archiv IfS, Heimkehrer-Studie, A 13 I -III, 0. Vorarbeiten: Ordner 1.1: Egon Becker an Dr. von Massow, Deutsche Forschungsgemeinschaft, vom 30.03.1960, Bl.1f., hier: Bl.1. 1927 Bernd Stöver, Der Fall Otto John. Neue Dokumente zu den Aussagen des deutschen Geheimdienstchefs gegenüber MfS und KGB, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 47 (1999) 1, S.103-136, hier: S.103. 1928 Ebd., S.103f. Siehe auch Bernd Stöver, Der Fall Otto John, in: Arnd Bauerkämper/Martin Sabrow/ders. (Hrsg.), Doppelte Zeitgeschichte. Deutsch-deutsche Beziehungen 1945-1990. Bonn 1998, S.312-327, hier: S.313-317.

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des zu erreichen. Letztlich nahm er von diesen Vorhaben aber wieder Abstand und kehrte in die Bundesrepublik zurück.1929 John war allem Anschein nach ein Überzeugungstäter, der um die Zukunft Deutschlands im frühen Kalten Krieg besorgt war. Als Gegner des Nationalsozialismus kritisierte er die Wiederbesetzung von wichtigen Stellen in der westdeutschen Bürokratie, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft mit ehemaligen Parteigängern der NSDAP scharf. Diese Haltung hatte er bereits im NS-Regime unter Beweis gestellt, als er sich am Hitler-Attentat vom 20. Juli 1944 beteiligt hatte. Er überlebte nur deshalb, weil er sich nach dem misslungenen Anschlag über Madrid nach England absetzen konnte.1930 Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte John im alliierten Entnazifizierungsapparat gearbeitet. Er überprüfte im Auftrag des britischen Control Office for Germany and Austria Kriegsgefangene und entwickelte hierfür Belastungskategorien.1931 Dies vermerkt auch eine Aktennotiz über ein Gespräch zwischen Adorno und John vom 14. August 1952: »TWA [Theodor W. Adorno, F.L.] unterhielt sich länger mit Dr.John über den 20. Juli 1944. Herr Dr. J. ist außer Schlabrendorf und Steltzer einer der wenigen der überlebenden Führer der Konspiration und nach meinem Eindruck der, welcher die genauste Kenntnis sämtlicher Zusammenhänge besitzt.«1932 Adorno habe Gelegenheit gefunden, auf den schon seit Längerem gehegten Plan des Instituts zu verweisen, »eine Geschichte des deutschen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus zu schreiben. Für diese Aufgabe wäre Herr Dr. John von allen mir Bekannten weitaus der Geeignetste, kann aber diese Aufgabe wegen seiner gegenwärtigen Verpflichtungen unmöglich übernehmen.«1933

1929 Stöver, Der Fall Otto John. Neue Dokumente, S.104, 106-116, 119f. Eine umfassende Darstellung des »Falls John«, vor allem aber des Prozesses gegen ihn, leistet die Dissertation von Klaus Schaefer. Siehe Klaus Schaefer, Der Prozess gegen Otto John. Zugleich ein Beitrag zur Justizgeschichte der frühen Bundesrepublik Deutschland (Wissenschaftliche Beiträge aus dem Tectum Verlag, Reihe Rechtswissenschaften, Bd.32). Marburg 2009. 1930 Schaefer, Der Prozess gegen Otto John, S.21-23. 1931 Stöver, Der Fall Otto John, S.322. In dieser Funktion war John auch als Zeuge im britischen Prozess gegen Feldmarschall Erich von Manstein von August bis Dezember 1949 aufgetreten. 1932 Archiv IfS, Aa1: Adorno-Korrespondenz S, 18: Theodor W. Adorno, Aktennotiz über die Besprechung zwischen Präsidenten Dr. John vom Bundesamt für Verfassungsschutz und T.W.A. in Köln am 14.08.1952, Bl.1f., hier: Bl.2. 1933 Ebd.

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Er teile zudem »unsere Bedenken gegen die Arbeit des Münchner Instituts [das Institut für Zeitgeschichte, IfZ, F.L.] und ist unbedingt dagegen, dass die Materialien, die sich auf die Geschichte des Dritten Reiches beziehen, jenem Institut zur Verfügung gestellt und dort verarbeitet werden.«1934 John und die IfS-Direktoren waren sich offenbar einig darin, dass die Aufarbeitung der deutschen NS-Geschichte nicht von der auf Neutralität und Distanz verpflichteten deutschen Zeitgeschichte geleistet werden sollte. Zudem arbeiteten am IfZ auch ehemalige NS-Funktionäre wie der Politikwissenschaftler Theodor Eschenburg und deutschnationale Historiker wie Hans Rothfels.1935 Unter dem Eindruck, dass »Herr Dr. John zu den Menschen gehört, mit denen das Institut eng zusammenarbeiten sollte«, notierte Adorno über eine Besprechung mit ihm im Sommer 1952, dass unter Umständen die Ergebnisse aus dem »Gruppenexperiment« zur »Klärung gewisser Fragen der politischen und öffentlichen Meinung« dem BfV zugänglich gemacht werden könnten. John zeige sich an der Möglichkeit einer solchen Kooperation sehr interessiert.1936 Das IfS beabsichtigte zudem, Sardemann für eine dreimonatige Probezeit ins BfV zu schicken, und zwar in die »Abteilung, die sich mit der Überwachung der rechtsradikalen Parteien und der Soldatenbünde befasst«. Zudem brachte Adorno die Möglichkeit vor, dass John auch Volker von Hagen übernehmen könnte.1937 Letztlich konnten weder Sardemann noch von Hagen beim BfV untergebracht werden. Über die Gründe hierfür ist in den Archivunterlagen des IfS nichts überliefert. So scheiterte auch dieser Versuch der Platzierung gesellschaftskritisch denkender IfS-Mitarbeiter an wichtigen politischen Schaltstellen der Bundesrepublik. 1934 Ebd. 1935 Nicolas Berg, Der Holocaust und die westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung (Moderne Zeit. Neue Forschungen zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Bd.3), 3., durchges. Aufl. Göttingen 2004 [2003], S.270-294. Kritisch gegenüber Bergs Ansatz, genauso wie gegenüber einer zuvor von Sebastian Conrad geäußerten Kritik am IfZ, ist Udo Wengst, Das Institut für Zeitgeschichte. Ein Beispiel für die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in der Frühgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, in: Jürgen Elvert (Hrsg.), Geschichte jenseits der Universität. Netzwerke und Organisationen in der frühen Bundesrepublik (Historische Mitteilungen – Beihefte, Bd.94). Stuttgart 2016, S.41-52, hier: S.49-52. 1936 Archiv IfS, Aa1: Adorno-Korrespondenz S, 18: Theodor W. Adorno, Aktennotiz über die Besprechung zwischen Präsidenten Dr. John vom Bundesamt für Verfassungsschutz und T.W.A. in Köln am 14.08.1952, Bl.1f., hier: Bl.2. 1937 Ebd.

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10.1.5 Der transatlantische Austausch und das Eintreten für den christlich-jüdischen Dialog Ein letztes erziehungspolitisches Element des Denkkollektivs um Horkheimer bildete die Etablierung eines transatlantischen Austauschs von Studenten, Doktoranden, Habilitanden, Privatdozenten und Professoren einerseits und eines auf Verständigung und Versöhnung abzielenden Austauschs zwischen Juden und Christen andererseits. Obzwar auch Adorno Vorträge hielt, die inhaltlich auf eine transatlantische Verständigung abzielten,1938 engagierte sich in beiden Bereichen vor allem Horkheimer. Das transatlantische akademische Austauschprogramm zwischen der Universität Frankfurt und der University of Chicago ging maßgeblich auf ihn zurück. Bereits im Rahmen der »Studies in Prejudice« hatte er Kontakte zu Soziologen, Psychologen und Politikwissenschaftlern der University of Chicago aufgebaut, so etwa zu Harold D. Lasswell. Über diese konnte er das Austauschprogramm lancieren und gehörte fortan dessen Komitee an. Von 1954 bis 1959 war er zudem semesterweise Gastprofessor an der University of Chicago.1939 In der unmittelbaren Nachkriegszeit war der transatlantische akademische Erfahrungsaustausch von amerikanischen Hochschuloffizieren und deutschen Wissenschaftspolitikern vorangetrieben worden.1940 Horkheimer selbst war 1948 zusammen mit anderen Professoren zunächst als Gastprofessor in amerikanischen Diensten nach Frankfurt gekommen. Aus Chicago, finanziert durch die Rockefeller Foundation, kam für das Sommersemester 1948 die erste und größte Professorengruppe an die Universität Frankfurt, unter ihnen der Soziologe Everett C. Hughes.1941

1938 So sprach er etwa im Juli 1958 anlässlich der Hessischen Hochschulwoche für staatswissenschaftliche Fortbildung in Bad Wildungen vor 120 Beamten des höheren Dienstes über »Kultur und Culture«. Vgl. Jens-Christian Rabe, Keep Smiling. Zur Dialektik der Adorno Culture, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 13 (2019) 1, S.43-53, hier: S.43. 1939 UBA Ffm, Na 1, 31, Bl.95: Harold D. Lasswell an Max Horkheimer vom 04.03.1938; Bl.98: Harold D. Lasswell an Max Horkheimer vom 29.05.1935; UBA Ffm, Na 1, 30, Bl.177: Paul Lazarsfeld an Max Horkheimer vom 09.12.1937. Vgl. UBA Ffm, Na 1, 302, Bl.72: »Einige Lebensdaten«, undatiert; UBA Ffm, Na 1, 108, Bl.217218: Max Horkheimer an Professor Max Wolff, Community Consultant, New York University, vom 14.03.1958; UBA Ffm, Na 1, 133, Bl.1: Max Horkheimer an den Hessischen Minister für Erziehung und Volksbildung vom 30.09.1957; Bl.42: Max Horkheimer an das Hessische Ministerium für Erziehung und Volksbildung vom 14.06.1954. Vgl. auch Archiv IfS, Aa1: Adorno-Korrespondenz D, 4, Bl.1-3: Aufstellung zu verschiedenen Programm-Punkten des IfS, undatiert, hier: Bl.2. 1940 Herman B. Wells, Higher Education Reconstruction in Postwar Germany, in: Heinemann (Hrsg.), Hochschuloffiziere und Wiederaufbau, Teil 2, S.43-52, hier: S.48f. 1941 Weyer, Westdeutsche Soziologie, S.371f.

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Seit 1952 bestand zwischen Frankfurt und Chicago ein Abkommen, nach dem in jedem Semester jeweils vier Frankfurter und vier Chicagoer Professoren an die Partneruniversitäten gehen sollten, um »über Fragen des ›Studium Generale‹ und der Bedeutung humanistischer Erziehung in der gegenwärtigen Gesellschaft« zu diskutieren, wie Horkheimer festhielt.1942 Eine ähnliche Vereinbarung wurde von ihm und den amerikanischen Professoren Frederick Lane und Edward D’Arms, also zwischen dem IfS und dem Department of Sociology and Philosophy an der Ohio State University, angedacht. Als Vermittler trat dabei Kurt H. Wolff auf, der am »Gruppenexperiment« mitgearbeitet und in Ohio eine Stelle innehatte. Im Rahmen des Programms sollte vor allem der Austausch über die neuesten sozialwissenschaftlichen Methoden zwischen den Vereinigten Staaten und Westdeutschland erfolgen. Das Projekt scheiterte, weil die Rockefeller Foundation die Finanzierung ablehnte.1943 In der Folgezeit holten Horkheimer, Pollock und Adorno immer wieder Gaststudenten und Gastprofessoren aus Chicago ans IfS oder halfen bei der Vermittlung amerikanischer Gelehrter, die sich für einen Forschungsaufenthalt in Westdeutschland interessierten.1944 Zu ihnen gehörte etwa Lawrence S. Bee vom Department of Sociology der University of Kansas. Er fragte 1956 über Ernest W. Burgess bei Adorno an, ob ihn das IfS während seines Fulbright-Aufenthalts beherbergen könne. Obwohl er damit keinen Erfolg hatte, ließ ihn Adorno wissen, dass er Bee bei weiteren Anträgen unterstützen werde.1945 Auch Carol Creedon, Associate Director des Research Projects in Gerontology an der Medical School der Cornell University, die im September 1955 nach Westdeutschland kommen wollte, bot er seine Hilfe an.1946 Finanziert wurden solche 1942 UBA Ffm, Na 1, 138, Bl.77f.: Max Horkheimer an das Bundesministerium des Innern, z.Hd. von Herrn Staatssekretär Dr. Wende vom 15.03.1952, hier: Bl.77. 1943 Archiv IfS, Ordner: USA, M-Z, Korr. H. Marcuse: Max Horkheimer, Draft for Memorandum, an Professor Frederick Lane, Professor Edward D’Arms, undatiert, Bl.1-5; Eward J. D’Arms an Max Horkheimer vom 19.09.1952, Bl.1f., hier: Bl.1; Kurt Wolff an Gretel und Theodor W. Adorno vom 06.10.1953. 1944 UBA Ffm, Na 1, 96, Bl.142: Max Horkheimer an Robert J. Havighurst, The Committee of Human Development, The University of Chicago, vom 30.12.1951; UBA Ffm, Na 1, 103, Bl.219: Max Horkheimer an Prof. Svend Riemer, Department of Sociology, University of Chicago, vom 07.06.1957. 1945 Archiv IfS, Ordner: U.S.A, A-L, allgem.: Theodor W. Adorno an Professor Ernest W. Burgess, The University of Chicago, Department of Sociology, vom 08.03.1956; Archiv IfS, Ordner: USA, M-Z, Korr. H. Marcuse: Theodor W. Adorno an Lawrence S. Bee, The University of Kansas, Department of Sociology, vom 17.04.1956. 1946 Archiv IfS, Ordner: U.S.A, A-L, allgem.: Theodor W. Adorno an Carol Creedon, Associate Director of the Research Project in Gerontology, Cornell University, Medical School, vom 19.09.1955. Edward C. Devereux, Jr. wollte das

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Aufenthalte bis 1953 mehrheitlich vom HICOG und von der Rockefeller, manchmal auch von der Ford Foundation, anschließend dann vor allem über das Fulbright-Programm.1947 Zudem assistierte Horkheimer auch Frankfurter Professoren wie Julius Schwietering bei deren Vermittlung nach Chicago. Zuvor hatte er bereits Walter Hallstein unterstützt, der über das Office of Public Affairs, Education and Cultural Relations Division beim HICOG einen Forschungsaufenthalt an der Georgetown University in Washington, D.C. bestreiten wollte.1948 Das IfS lud darüber hinaus immer wieder international renommierte Sozialwissenschaftler und Intellektuelle zu Vorträgen, Tagungen und Kolloquien nach Frankfurt ein. Auch hierfür wurde auf Kontakte aus der Zeit der Emigration zurückgegriffen. Auf diese Weise konnten sowohl nach außen als auch gegenüber den Studenten und Institutsmitarbeitern intellektuelle Offenheit und Internationalismus demonstriert werden. Adorno selbst nahm auch an von amerikanischen Wissenschaftlern organisierten Veranstaltungen in Deutschland teil. So folgte er 1954 und 1955 der Einladung von C.O. Arndt von der School of Education der New York University zu einem Seminar des Collegium Academicum der Universität Heidelberg.1949 Nicht zuletzt stand hinter diesen überwiegend amerikanisch-westdeutschen Kooperationen auch die Absicht, die vom Denkkollektiv um Horkheimer entwickelten sozialempirischen Messverfahren autoritärer und faschistischer Haltungen zu verbreiten. Dies zeigte sich etwa an Adornos Bemühungen 1954 und 1956, seinen Schüler Rainer Koehne bei Paul F. Lazarsfeld in New York unterzubringen. Koehne sollte dort sowohl die am IfS entwickelten sozialempirischen Methoden als auch den dialektisch-philosophischen Ansatz den Amerikanern vermitteln.1950 Auch die Kooperationen mit Ray-

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sche Jahr 1956/57 am IfS verbringen und Joseph Dunner vom Grinell Institute of International Affairs plante für 1957 einen Aufenthalt in Frankfurt. Vgl. Archiv IfS, Ordner: U.S.A, A-L, allgem.: Edward C. Devereux, Jr., an Max Horkheimer vom 31.05.1956, Bl.1f., hier: Bl.1; Theodor W. Adorno an Joseph Dunner (Grinnell Institute of International Affairs) vom 09.10.1957. Archiv IfS, Ordner: U.S.A, A-L, allgem.: Theodor W. Adorno an Hans Gerth, The University of Wisconsin, vom 17.12.1951. UBA Ffm, Na 1, 129, Bl.218: Max Horkheimer an Julius Schwietering vom 10.04.1956; UBA Ffm, Na 1, 138, Bl.51: Max Horkheimer an Sam H. Linch, Office of Public Affairs, Education and Cultural Relations Division, HICOG, Headquarters Building, 160, vom 27.12.1951. Archiv IfS, Ordner: U.S.A, A-L, allgem.: C.O. Arndt, Coordinator Seminar on Peoples and Institutions in Western Europe, an Theodor W. Adorno vom 14.01.1955; Theodor W. Adorno an Professor C.O. Arndt, New York University, School of Education, vom 25.01.1955. Archiv IfS, Ordner: U.S.A, A-L, allgem.: Theodor W. Adorno an Paul Lazarsfeld vom 03.04.1954, Bl.1f.; Theodor W. Adorno an Paul Lazarsfeld (jetzt in Los Altos, California) vom 28.02.1956.

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mond B. Cattell, Professor am Department of Psychology der University of Illinois in Urbana, 1953 und mit Stanley K. Bigman, Project Director am Bureau of Social Research an der American University in Washington, D.C., 1956 verfolgten unter anderem dieses Ziel.1951 Zur erziehungspolitischen Praxis der interkulturellen Verständigung gehörte auch der Dialog zwischen Juden und Christen. Dass vor allem Horkheimer in Nachkriegsdeutschland als deutsch-amerikanischer Jude öffentlich für Aufklärung und die Bekämpfung von Vorurteilen eintrat, war Resultat der beschriebenen identitäts- und erziehungspolitischen sowie epistemischen Übersetzungsund Transformationsprozesse.1952 Horkheimer trat 1951 in die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges neu gegründete Jüdische Gemeinde Frankfurt ein, der nach Berlin zweitgrößten jüdischen Gemeinde Deutschlands. Laut Eva Reichmann gehörte er damit zu den wenigen Remigranten, die sich unmittelbar nach ihrer Rückkehr einer jüdischen Gemeinde anschlossen.1953 Horkheimer nahm gelegentlich an Gemeindeveranstaltungen teil und hielt Vorträge und Ansprachen.1954 So sprach er am 8. November 1955 über »Das Vorurteil« und trug mit diesem Engagement zur Wiederbelebung der jüdischen Tradition in Frankfurt bei.1955 1960 hielt er den Festvortrag zum zehnjährigen Bestehen des Zentralrats der Juden in Deutschland und wurde im Folgejahr Mitglied der Kommission zur Erforschung der Geschichte der Frankfurter Juden.1956 Zudem gehörte er wie Adorno der Ver1951 Archiv IfS, Ordner: U.S.A, A-L, allgem.: Diedrich Osmer an Raymond B. Cattell vom 30.03.1953; Raymond B. Cattell, Research Professor in Psychology, University of Illinois, Department of Psychology, Urbana, Illinois, an Diedrich Osmer vom 15.06.1953, Bl.1f.; Stanley K. Bigman, Project Director, Bureau of Social Science Research (The American University, Washington D.C.), International Opinion Research Project in Cooperation with World Association for Public Opinion Research, and Max Horkheimer, 10.03.1956. 1952 Siehe dazu auch Amalia Barboza, Die »jüdische Identität« der Frankfurter Schule, in: Boll/Gross (Hrsg.), Die Frankfurter Schule und Frankfurt, S.162-169, hier: S.165-169. 1953 Vgl. Jacobs, The Frankfurt School, S.133. 1954 Freimüller, Frankfurt und die Juden, S.102. 1955 Tobias Freimüller, Max Horkheimer und die jüdische Gemeinde Frankfurt am Main nach 1945, in: Boll/Gross (Hrsg.), Die Frankfurter Schule und Frankfurt, S.150-169; ders., Mehr als eine Religionsgemeinschaft. Jüdisches Leben in Frankfurt am Main nach 1945, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 7 (2010) 3, S.386-407, URL: https://zeithistorische-forschungen.de/32010/id=4475 (Stand: 19.05.2021); ders., Frankfurt und die Juden, S.284f., 321. Siehe auch Alon Tauber, Zwischen Kontinuität und Neuanfang. Die Entstehung der jüdischen Nachkriegsgemeinde in Frankfurt am Main 1945-1949 (Schriften der Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen, Bd.23). Wiesbaden 2008, S.30. 1956 Freimüller, Frankfurt und die Juden, S.265.

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einigung der Freunde der Hebräischen Universität in Jerusalem an, war Ehrenmitglied der Vereinigten Israel-Aktion Keren Hayesod, engagierte sich in der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit1957 und wurde Mitglied der 1961 neu gegründeten jüdischen Loge B’nai B’rith. Darüber hinaus wirkte Horkheimer 1954 beratend an einem vom Bundesministerium des Innern angestoßenen jüdischen Geschichtswerk mit.1958 Seine Frau Maidon trat nach ihrer Rückkehr nach Frankfurt zum Judentum über. Mit Horkheimer als erstem jüdischem Rektor einer Universität im Nachkriegsdeutschland1959 gewann die Jüdische Gemeinde Frankfurts eine mächtige Stimme im intellektuellen, kulturellen und erziehungspolitischen Feld Westdeutschlands.1960 Jüdische Geschichte, Philosophie, Kultur und Religion sollten auch öffentlich sichtbar sein. Zu diesem Zweck konzipierte Horkheimer an der Universität Frankfurt die Loeb-Lectures, eine Reihe von Gastvorlesungen renommierter internationaler Geisteswissenschaftler zwischen 1956 und 1967.1961 »Motiv und Intention von Horkheimer waren«, so Norbert Altwicker, »einen aufklärenden Prozess in der Realisierung der ›Wissenschaft des Judentums‹ sowohl für die Lehrkräfte und Studierenden als auch für interessierte Teilnehmer anzuregen.«1962 Um geeignete Intellektuelle für die Lectures zu finden, griff er ebenfalls auf seine Kontakte in den Vereinigten Staaten zurück. Im März 1956 fragte er Leo Löwenthal, ob dieser ihm »drei bis vier erstklassige Gelehrte« empfehlen könne, »die über jüdische Fragen sprechen können.«1963 Die Loeb-Lectures, so hieß es in einem Bericht über die Veranstaltungen im Jahr 1956 und über das Programm für 1957, »ergänzen notwendig die Vorlesungen und Seminare über katholische und protestantische Glaubenslehre, Kirchengeschichte und Religionsphilosophie

1957 UBA Ffm, Na 1, 131, Bl.102: Richtlinien für die Organisation einer Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit, undatiert. Siehe auch Freimüller, Frankfurt und die Juden, S.156. 1958 UBA Ffm, Na 1, 100, Bl.296: Ministerialrat Dr. Lüders, Bundesministerium des Innern, an Max Horkheimer vom 07.12.1954. 1959 Der erste Rektor jüdischer Herkunft einer deutschen Universität überhaupt war laut Steven Aschheim Ernst Cassirer, der dieses Amt 1929 an der Universität Hamburg antrat. Siehe Aschheim, The Weimar Kaleidoscope, S.89. 1960 Helga Krohn, »Es war richtig, wieder anzufangen«. Juden in Frankfurt am Main seit 1945. Frankfurt am Main 2011, S.11, 71f. 1961 Freimüller, Frankfurt und die Juden, S.283. 1962 Norbert Altwicker, Loeb-Lectures. Gastvorlesungen über Geschichte, Philosophie und Religion des Judentums an der Universität Frankfurt am Main 1956-1967, in: Boll/Gross (Hrsg.), Die Frankfurter Schule und Frankfurt, S.158-161, hier: S.159. 1963 UBA Ffm, Na 1, 100, Bl.283: Max Horkheimer an Leo Löwenthal vom 09.03.1956.

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innerhalb der Philosophischen Fakultät und beheben somit eine empfindliche Lücke der Geisteswissenschaften und vor allem der Theologie.«1964 Sie richteten sich nicht nur an Dozenten und Studenten, sondern seien auch auf »Theologen und Seelsorger der beiden christlichen Kirchen, auf Personen, die anderen öffentlichen Lehr- und Bildungsinstituten angehören wie z.B. der Volkshochschule, der Akademie der Arbeit, dem Berufspädagogischen Institut, dem Seminar für Politik, der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, Zeitungsredaktionen«1965 zugeschnitten. Die Vorlesungen wurden von der zugleich namensgebenden Eda K. Loeb-Stiftung in Chicago mit 5.000 Dollar jährlich finanziert. Zu den Gastprofessoren gehörten Leo Baeck, Alexander Altmann, Ludwig Bato, Martin Buber, Leo Löwenthal, Herbert und Ludwig Marcuse, Georg Nador, Heinrich und Marie Simon, Jacob Taubes, H.G. Adler, Benjamin Akzin, Frederick J. Hacker, der St. Galler Rabbiner Lothar Rothschild und Eric Voegelin.1966 Im Zusammenhang mit den Loeb-Lectures schlug Horkheimer zudem die Einrichtung einer Honorarprofessur für das Fachgebiet »Wissenschaft vom Judentum« an der Philosophischen Fakultät vor. 1959 wurde tatsächlich Kurt Wilhelm berufen, der allerdings kurz vor Amtsantritt verstarb.1967 Die Stärkung des jüdischen Selbstvertrauens sowie der sozialen und politischen Position derjenigen Juden in Deutschland, die den Holocaust überlebt hatten, hing eng mit der Forderung und juristischen Durchsetzung von Wiedergutmachungsansprüchen zusammen. Mithilfe jüdischer Rechtsanwälte und nach jahrelangen Verhandlungen mit der Jewish Restitution Successor Organization (JRSO) erreichte die Jüdische Gemeinde Frankfurt 1956 einen Vergleich mit der Stadt Frankfurt. Die Stadt erklärte sich bereit, als Abgeltung für alle Ansprüche 3,2 Millionen DM an die jüdische Gemeinde zu zahlen.1968 Adornos Lehrstuhl war als sogenannte Wiedergutmachungsprofessur eingerichtet worden. Auch 1964 UBA Ffm, Na 1, 135, Bl.40-42: Eda K. Loeb-Stiftung der Philosophischen Fakultät der Universität Frankfurt/M.: Bericht über die Veranstaltungen im Jahre 1956 und über das Programm für 1957, hier: Bl.40. 1965 Ebd. 1966 UBA Ffm, Na 1, 135, Bl.27-30: Frankfurt, 18.03.1960: Bericht über die Prüfung der Verwaltung der dem »Ausschuss zur Durchführung der Loeb-Lectures an der Universität Frankfurt am Main« seitens des »Eda K. Loeb Fund« zur Verfügung gestellten Mittel, hier: Bl.28. 1967 Altwicker, Loeb-Lectures, S.159-161. Die Honorarprofessur wurde ins 1969 gegründete Seminar für Judaistik an der Goethe-Universität integriert, das Arnold Goldberg leiten sollte. 1968 Freimüller, Max Horkheimer und die jüdische Gemeinde, S.154.

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Horkheimers Professur war eine Wiedergutmachungsleistung. Er stand in den frühen 1950er Jahren zudem in Kontakt mit der Interessengemeinschaft Wiedergutmachung Land Hessen, die den DGB, die Jüdischen Gemeinden, die Gemeinschaft verfolgter Sozialdemokraten sowie den Verband für Freiheit und Menschenwürde repräsentierte.1969 Wie Adorno unterstützte er auch Wiedergutmachungsansprüche von ihm bekannten Gelehrten wie etwa Norbert Elias, der 1957 von Leicester aus um eine Einschätzung bat. Elias’ Fall gestaltete sich insofern schwierig, als sein Habilitationsverfahren noch nicht abgeschlossen war, als die Nationalsozialisten Karl Mannheims Soziologisches Seminar 1933 schlossen und er emigrieren musste. Horkheimer schlug ihm vor, anhand der Aktenlage darzulegen, dass »nicht nur Professor Mannheim den Habilitationsantrag gestellt hat, sondern die Fakultät diesem Antrag positiv gegenüberstand und Sie lediglich durch das Dritte Reich an der Erfüllung Ihrer Habilitationsleistungen verhindert wurden.« Auch Adorno würde gerne »bestätigen, daß er wußte, daß Professor Mannheim die Absicht hatte, Sie zu habilitieren.«1970 Gleichwohl lehnte das hessische Kultus- und Erziehungsministerium den ersten Antrag auf Restitution ab. Mit Unterstützung vieler Kollegen, darunter auch Adorno, ging Elias in den frühen 1960er Jahren nochmals in Revision. Eine Anerkennung seiner Ansprüche erreichte er allerdings erst 1973, als es im Wiedergutmachungsbescheid hieß: »In Deutschland hätte er [Elias, F.L.] zweifelsohne den höchsten akademischen Grad erlangt.«1971 Auf internationaler Ebene bemühte sich Horkheimer um die Stärkung jüdischer Interessengruppen, so etwa des AJC, mit dem er seit den »Studies in Prejudice« und The Authoritarian Personality zusammenarbeitete. Er trug damit aktiv zur Vermittlung zwischen dem AJC und der Bundesregierung bei.1972 Auf 1969 UBA Ffm, Na 1, 97, Bl.61: Interessensgemeinschaft Wiedergutmachung Land Hessen (Deutscher Gewerkschaftsbund, Jüdische Gemeinden, Gemeinschaft verfolgter Sozialdemokraten, Verband für Freiheit und Menschenwürde) an alle Mitglieder der unterzeichneten Verfolgten-Organisation, undatiert: Ankündigung einer Kundgebung am 14.01.1953. 1970 DLA Marbach, A Norbert Elias, No. 38.5.5: Max Horkheimer an Norbert Elias vom 23.03.1957; DLA Marbach, A Norbert Elias, No. 115: Norbert Elias an Friedrich Pollock vom 19.07.1957. 1971 DLA Marbach, A Norbert Elias, No. 115: Wiedergutmachungsbescheid auf den Antrag des Professor Dr. Norbert Elias, geb. am 22.06.1897 in Breslau, wohnhaft in England, University of Leicester, Department of Sociology, vertreten durch Hern Rechtsanwalt Dr. E. Mainzer, 14 Corringham Road, London, N.W. 11. 7 BT, vom 30.08.1973, Bl.1-7, hier: Bl.6f. Vgl. auch DLA Marbach, A Norbert Elias, No. 50.6.8: Eberhard Zwirner an Norbert Elias vom 18.12.1964, Bl.1f., hier: Bl.1. 1972 Albrecht, Expertive versus demonstrative Politikberatung, S.302; Freimüller, Max Horkheimer und die jüdische Gemeinde, S.156; ders., Frankfurt und die

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eine Initiative der Ford Foundation hin nahm er 1959 Gespräche mit John Slawson und Zachariah Shuster vom AJC auf, um deutsche Politologen und Pädagogen in die Vereinigten Staaten zu vermitteln. Dies geschah in unmittelbarem Zusammenhang mit der antisemitischen Welle von 1959/60 in Deutschland.1973 Er und Adorno befürworteten auch den Staat Israel. Horkheimer unterstützte zudem Bemühungen von Studierenden um die Etablierung eines Austauschs zwischen der Frankfurter Universität und der Hebrew University in Jerusalem. In der Suezkrise 1956 verteidigten beide die militärische Intervention Großbritanniens und Frankreichs zugunsten Israels.1974 Gleichwohl war gerade Horkheimer gegenüber der christlich-jüdischen Versöhnungspolitik keineswegs unkritisch. Im März 1951 hatte er an W. Weinberg in Tel Aviv geschrieben: »Sie kennen meine alte Skepsis gegen alle Arten von Bruderwochen, Vereinigungen für Christliche Nächstenliebe und selbst für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit. Der Antisemitismus benützt die Dummheit, Trägheit und schlechten Instinkte der Menschen in der Absicht, sie zu betrügen und zu versklaven. Mit dem Predigen brüderlicher Liebe ist da wenig auszurichten.«1975

10.2. Die Erziehung zum Wirklichkeitsbewusstsein und die Ausbildung der zukünftigen Verwaltungselite Die Hamburger Akademie für Gemeinwirtschaft verstand sich nicht nur als Forschungseinrichtung, sondern auch als Ausbildungsstätte mit dezidiert pädagogischem Auftrag. Das betonte nicht nur Schelsky, sondern es wurde auch von außen – etwa vom Denkkollektiv um Horkheimer – so wahrgenommen.1976 Der pädagogische Anspruch galt auch für die Verwaltungshochschule Speyer, an der Arnold Gehlen einen Lehrstuhl innehatte. Dort wurden vornehmlich die zukünftigen Verwaltungsbeamten der Bundesrepublik ausgebildet. Allerdings trat Gehlen nicht mit erziehungspolitischen Schriften in Erscheinung. Er thematisierte die Funktion der zukünftigen Beamten lediglich in einigen Vorträgen und Aufsätzen. Juden, S.282, 284. 1973 Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle, S.790f. 1974 Jacobs, The Frankfurt School, S.136f., 140. Horkheimer hatte Israel allerdings nie besucht. Vgl. ebd., S.142. Siehe auch Jeffries, Grand Hotel Abyss, S.297; MüllerDoohm, Adorno, S.626. 1975 UBA Ffm, Na 1, 110, Bl.308: Max Horkheimer an W. Weinberg vom 21.03.1951. 1976 Archiv IfS, S 1: Tagungen 1950-1961, Ordner 1: 1950-1952: Frankfurter Konferenz von Vertretern deutscher empirischer Soziologie im Institut für Sozialforschung der Johann Wolfgang Goethe Universität, Frankfurt am Main, vom 11.03.1952, Bl.1-22, hier: Bl.5.

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Ganz anders war dies bei Schelsky. In seinem 1950 in der Zeitschrift Soziale Welt erschienenen Aufsatz über die »Lage und Aufgaben der angewandten Soziologie in Deutschland« verband er die von ihm geforderte Bestandsaufnahme der sozialen Wirklichkeit als zentrale Aufgabe einer angewandten Soziologie mit ihrem Erziehungsauftrag. Die empirische Wirklichkeitswissenschaft Soziologie könne den Sinn der Deutschen für soziale wie politische Tatsachen schärfen und ihnen die Fähigkeit vermitteln, »komplexe und differenzierte Tatbestände als solche erfassen zu lernen und sie nicht auf Schlagworte und universale Schemata abzuziehen«. Für diese »Aufgabe echter politischer Erziehung ist die Arbeitsweise der angewandten Soziologie sozusagen ein ideales Mittel«.1977 Hans Braun stellt fest, dass dieser Erziehungsauftrag der Soziologie »vor dem Hintergrund der in der Nachkriegszeit verbreiteten Bestrebungen zu sehen [ist], den Deutschen die Augen für die Realität zu öffnen, um sie in die Lage zu versetzen, am Aufbau einer Staats- und Gesellschaftsordnung mitzuwirken, die nicht durch die Bilder und Ideologien der Vergangenheit bestimmt wurde.«1978 Ebenfalls 1950 konstatierte Schelsky in den Gewerkschaftlichen Monatsheften, dass in jüngster Zeit eine Reihe von Tagungen die »Fragen der politischen und sozialen Erziehung« aktualisiert habe. Allerdings stünden hierbei die Universitäten zu sehr im Vordergrund. Übersehen würden dagegen die zahlreichen Fachhochschulen, die schon seit einiger Zeit die Sozialwissenschaften für die politische Bildung und Erziehung der jüngeren Generation nutzten. Er plädierte in diesem Zusammenhang für eine engere Zusammenarbeit »aller an der politischen Bildung interessierten Institutionen und aller politischen Kräfte unseres Staatswesens«.1979 Außerdem forderte er den Austausch zwischen Bildungspolitikern sowie Sozial- und Politikwissenschaftlern über die methodische wie inhaltliche Ausbildung der zukünftigen Funktionselite der Bundesrepublik.1980 Für Schelskys Konzept einer politischen Erziehung durch angewandte Soziologie war dabei die sozialempirisch gewonnene Einsicht ausschlaggebend, dass in Zukunft nicht mehr materieller Besitz, sondern der Bildungstand über den sozialen Auf-

1977 Schelsky, Lage und Aufgaben, S.12. Vgl. Braun, Helmut Schelskys Konzept der ›nivellierten Mittelstandsgesellschaft‹, S.202. Siehe auch Helmut Schelsky, Praktische Sozialforschung in Deutschland, in: Gewerkschaftliche Monatshefte. Zeitschrift für soziale Theorie und Praxis 3 (1952) 11, S.679-684, hier: S.679. 1978 Braun, Helmut Schelskys Konzept der ›nivellierten Mittelstandsgesellschaft‹, S.202f. 1979 Helmut Schelsky, Die Lage der politischen und sozialen Erziehung in Deutschland, in: Gewerkschaftliche Monatshefte. Zeitschrift für soziale Theorie und Praxis 1 (1950) 4, S.185f., hier: S.185. 1980 Ebd., S.186.

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stieg entscheiden werde.1981 Während das Denkkollektiv um Horkheimer humanistische Bildung als Gegenpol eines neuerlichen Ausbruchs latent vorhandener faschistisch-autoritärer Tendenzen betonte, funktionalisierte Schelsky Bildung pragmatisch-instrumentell als Kernelement einer fähigen zukünftigen Beamtenschaft der bundesrepublikanischen Institutionen. Schelskys erziehungspolitische Praxis vollzog sich auf drei Ebenen: Er führte sozialempirische Untersuchungen durch, die er  – ähnlich wie das IfS  – als Erfahrungsmöglichkeit einer politisch-demokratischen Selbstbildung betrachtete (Kap.10.2.1). Sie schlug sich in seinem Lehrprogramm für die Akademie für Gemeinwirtschaft und später die Hamburger Universität nieder (Kap.10.2.2). Hierbei sind auch die Äußerungen Gehlens in Bezug auf die Funktion der Beamten in der westdeutschen Demokratie in die Analyse einzubeziehen. Zuletzt zeigte sie sich im Bereich der Erwachsenenbildung und im Hinblick auf Schelskys Empfehlungen für eine Reform des Schulwesens (Kap. 10.2.3). 10.2.1 Politische Bildung durch sozialempirische Praxis In einem Aufsatz von 1952 listete Schelsky pädagogische Ziele auf, die seiner Ansicht nach durch die angewandte empirische Sozialforschung erreicht werden könnten: Dazu gehöre die Erziehung zum konkreten sozialen und politischen Denken sowie zur sozialen Verantwortung und Konfliktfähigkeit. Diese Fähigkeiten sollten durch »eigene Erfahrung und Aktivität« erlernt werden. Zuletzt müsse die empirische Sozialforschung »auch auf die außerpädagogische und objektive Leistung« hinweisen, um eine Rückwirkung von sozialer und politischer Planung auf das Bewusstsein der Studierenden zu erzeugen. So könne diesen vermittelt werden, »etwas Sachliches geleistet zu haben«.1982 Der »dogmatische Fanatismus«, für Schelsky der Grundmechanismus für die Etablierung des Nationalsozialismus, könne von seinen Studenten nur durch Erfahrung aus sozialen Beziehungen mit den Menschen, die sie sozialempirisch erforschten, überwunden werden. Ein Soziologiestudent sollte also vor allem menschliche Kontaktfähigkeit erlernen und ausbauen.1983 Damit konnte die sowohl von den westlichen alliierten Wissenschafts- und Erziehungsoffizieren als auch von deutschen Bildungspolitikern geforderte demokratische Selbsterziehung praktisch umgesetzt werden: »[J]ede Form der sozialen und politischen Erziehung sollte bevorzugt werden, die den Studierenden durch seine eigene Aktivität und Erfahrung 1981 Wöhrle, Zur Aktualität von Helmut Schelsky, S.68f. 1982 Helmut Schelsky, Die politische Bedeutung der soziologischen Studien an den sozialen Hochschulen, in: Akademie für Gemeinwirtschaft Hamburg (Hrsg.), Die Akademie für Gemeinwirtschaft in Hamburg. Ihre Aufgaben und Ihre Arbeitsweise. Hamburg 1952, S.29-50, hier: S.38. 1983 Ebd., S.45.

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sich selbst erziehen läßt.«1984 Bei allen inhaltlichen Differenzen bestanden mit der empirischen Sozialforschung bis Mitte der 1950er Jahre also pädagogischen Gemeinsamkeiten zwischen den Denkkollektiven um Horkheimer und Schelsky. 10.2.2 Die soziologische Lehre an der Akademie für Gemeinwirtschaft und der Universität Hamburg sowie die Beamtenausbildung an der Verwaltungshochschule Speyer In seinem Manuskript »Vermassung und Entmassung in soziologischer Sicht«, das er für eine Ringvorlesung im Wintersemester 1952/53 verfasst hatte, befasste sich Schelsky mit dem Begriff der »Ideologisierung«. Mit der Entstehung des modernen bürokratischen und zentralistischen Staates hätte sich die »Haltung der Staatsgläubigkeit entwickelt, deren Metaphysik wir in der Auswirkung der Hegelschen Philosophie begegnen.« Diese sei »nur eine Form der vielen modernen Pseudoreligionen, der Ideologien, auf der sich in diesem Falle das nationalistische Massenverhalten entwickelt«. »Volk« und »Rasse« seien weitere Gegenstände derart »innerweltlicher Pseudoreligionen und Ideologien«. Um die von ihm geforderte Rückbindung des Bewusstseins an die Wirklichkeit zu erreichen, vermittelte Schelsky seinen Studierenden in den 1950er Jahren, dass sich sowohl die Philosophie Hegels als auch der pervertierte Idealismus der Nationalsozialisten in der modernen industriellen Welt überlebt hätten. Metaphysische Elemente wie »Volk« und »Rasse« seien schlechter Religionsersatz. Eine tragfähige Ideologie als Orientierung in der Moderne müsse vielmehr »das abstrakte, von der Kontrolle durch die eigene Erfahrung abgelöste Denken in Programmen, Doktrinen und verallgemeinernden Glaubenssätzen« miteinander verknüpfen, also Glaubens- und Wirklichkeitsebene in Einklang bringen.1985 Allerdings lag für Schelsky das Problem gerade in der »Rationalität und Zweckhaftigkeit der modernen sozialen Organisationen«, mit der die Freisetzung der »tiefen irrationalen Bedürfnisse der Menschen« einhergehe. Eine entscheidende Frage sei, wo in der bürokratisierten Gesellschaft sich irrationale Impulse und Bedürfnisse fixierten, und »sie zur Abfuhr [gelangen], ohne das soziale Ganze zu schädigen.«1986 Die »zentralisierten politischen Bürokratien des NS oder des Bolschewismus« hätten gerade einen anderen Weg als die Demokratien gewählt, denn in ihnen seien Irrationalität und Abfuhr der Affekte selbst bürokratisch organisiert gewesen  – »in Festen und Feiern, im Sport, in Kundgebungen, ja selbst in der Produktion als Wettkampf, als Ausmünzung der Leidenschaften zu 1984 Ebd., S.48. 1985 ULB Münster, N. Schelsky 45,031: Helmut Schelsky, MS Vermassung und Entmassung in soziologischer Sicht. Vortrag Ringvorlesung Wi. Sem. 1952/53, 26.11.1952, Bl.6. 1986 Ebd., Bl.9.

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Produktionssteigerung und zur gegenseitigen Beherrschung der Individuen untereinander.«1987 Die grundlegende Frage sei demnach, wie der unter den Deutschen weit verbreiteten Gleichgültigkeit gegenüber Politik und Ablehnung von sozialen Belangen entgegengearbeitet werden könnte. Die weit verbreitete Ohne-uns-Haltung stamme »zweifellos aus den Enttäuschungen und kollektiven Schuldzurechnungen, die ein in den Interessen einer Gesamtheit aufgehendes Verhalten durch den Nationalsozialismus, den Krieg und seine Folgen erlitten hat.« Einzig positiv sei daran, dass sich die Menschen dadurch einer Ideologisierung weitgehend entziehen würden.1988 Erziehungspolitisch wollte Schelsky deshalb seinen Studierenden einerseits die falschen, von den wirklichen Umständen abgekoppelten totalitären Ideologien offenlegen, die er in den großen metaphysischen Philosophien vor allem deutscher Provenienz angelegt sah. Wie Horkheimer und Adorno, aber ganz und gar undialektisch und pragmatisch, betrieb er also Ideologiekritik in pädagogischer Absicht. Andererseits wollte er Studierende zu politisch engagierten und am demokratischen Staat partizipierenden Bürgern erziehen.1989 In einem weiteren Vorlesungsmanuskript für das Sommersemester 1953 beschäftigte sich Schelsky mit »Grundfragen der systematischen Soziologie«. Er legte dar, dass Themenstellungen und Forschungsimpulse der Sozialwissenschaft auf internationaler Ebene bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges die gleichen gewesen seien. Danach habe sich die Soziologie in Deutschland in eine »orientierende Kultur- und Geschichtsphilosophie« entwickelt. Dagegen sei in den westlichen Demokratien »als theoretische Grundüberzeugung der Pragmatismus« übernommen worden, »der mit Theorien experimentell als Hypothesen, nicht als Glaubens- und Systemwahrheiten arbeitet«. »Soziologie als Erfahrungswissenschaft« – das versuchte Schelsky seinen Studierenden beizubringen – habe sich also im demokratischen Westen entwickelt und nicht in Deutschland.1990 Gegenstand und Prüfstein der systematischen Soziologie war für ihn die »soziale Wirklichkeit der Gegenwart«. Allerdings sei die Soziologie dadurch mit dem Problem konfrontiert, »wie die rasanten sozialen Wandlungen« erfasst werden 1987 Ebd., Bl.9f. Ähnlich hierzu lautete auch Schelskys Interpretation der nationalsozialistischen Familienpolitik. Vgl. Schelsky, Wandlungen der deutschen Familie, S.33. 1988 ULB Münster, N. Schelsky 45,031: Helmut Schelsky, MS Vermassung und Entmassung in soziologischer Sicht. Vortrag Ringvorlesung Wi. Sem. 1952/53, 26.11.1952, Bl.12f. 1989 So auch der Duktus in: ULB Münster, N. Schelsky 45,034: Werkmanuskript Helmut Schelsky, Soziologie und Erwachsenenbildung. Vortrag in Salzufflen am 13.04.1954. 1990 ULB Münster, N. Schelsky 63,055: Vorlesungsmanuskript Helmut Schelsky, Grundfragen der systematischen Soziologie (Sommersemester 1953), Bl.1-19, hier: Bl.3.

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könnten,1991 denn eine systematische Erforschung der Gegenwart als »universale Tatsachenanalyse« sei aussichtslos. Eine weitere Herausforderung stelle die Verknüpfung von Theorie und Empirie dar, bei der die richtige Balance gefunden werden müsse. Als positive Beispiele für solche Versuche nannte er neben einigen französischen Denkern Malinowski, Parsons, Shils und Gehlen.1992 Als Quintessenz versuchte er seinen Studierenden zu vermitteln, dass die menschliche Natur veränderlich sei und dass sich aus ihr folglich keine Gesetzlichkeiten sozialen Handelns und Verhaltens ableiten ließen. Vielmehr sei die Natur »plastisch« und lasse zwar »bestimmte Prämissen biologischer Art zu«, die aber lediglich als »Rahmenbedingungen« der Theorie des Sozialen gelten könnten. Die Anthropologie sei also eine »unentbehrliche, rahmensetzende Grundlage der soziologischen Theorie«, denn alles soziologische Material sei historisch.1993 Die Soziologie mäandriere demnach zwischen einer Systemwissenschaft mit nomothetischem Anspruch und einer ideografischen Historiografie, weshalb Schelsky eine dritte Position einzunehmen versuchte: Er definierte die Soziologie als »Gegenwartswissenschaft«, die »fast mehr mit der Zukunft als mit der Vergangenheit zu tun hat.« In die Zukunft verlegte Handlungsorientierungen seien ihr immanent.1994 Während er die »Soziologie der Praxis und des sozialen Handelns«, wie er sie vor allem in den Vereinigten Staaten ausgeprägt sah, neutral darstellte, wandte er sich dezidiert gegen eine »Soziologie der Ziele«, wie sie etwa Marx und Sorel betrieben hätten. Eine solche Fixierung hätte das Ende der Soziologie zur Folge, weil sie keine analytisch distanzierten Diagnosen mehr stellen könne. Auch dürfe sie keine Fachwissenschaft werden, sondern müsse immer mit dem »realen Leben« verbunden bleiben.1995 Mit dieser antitotalitären Haltung, die Schelsky auch in seinen Lehrveranstaltungen vertrat, verband sich eine liberal-pluralistische Einstellung. Politisch andersdenkende Studierende, ob von links oder von rechts, fanden bei dem undogmatisch auftretenden Professor Unterstützung, solange sie die wissenschaftlichen Standards der Soziologie erfüllten.1996 In den 1950er Jahren förderte Schelsky eine neue Generation von Sozialwissenschaftlern. Er unterstützte beispielsweise Jürgen Habermas’ Position in der DGS und selbst Ralf Dahrendorf, dessen Thesen er scharf kritisierte.1997 Auch Klaus Mollenhauer, den Alex Aßmann als »Vordenker der 68er« und »Begründer der emanzipatorischen Pädagogik« beschreibt, hörte bei Schelsky in Hamburg Vorlesungen über »Grundprobleme der 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997

Ebd., Bl.4. Ebd., Bl.5. Ebd., Bl.8b. Ebd., Bl.9. Ebd., Bl.13-15. Fischer, Philosophische Anthropologie – Ein wirkungsvoller Denkansatz, S.333. Schäfer, Helmut Schelsky und die Soziologie, S.195.

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Soziologie«.1998 Neben René König war Schelsky zudem einer der wenigen westdeutschen Soziologen, die in den Hochphasen des Kalten Krieges die Kooperation und Verständigung mit Kollegen in der DDR forderten. Zum Austausch mit sowjetischen Wissenschaftlern reiste er auch zu Kongressen nach Moskau.1999 Es bleibt die Frage zu klären, welche erziehungspolitischen Effekte Schelsky, seine Assistenten und Schüler wie Heinz Kluth, Rudolf Tartler und Ulrich Lohmar in der Bundesrepublik erzielten. Gerade im Bereich der DGBGewerkschaftsjugend und des SDS seien diese, so Gerhard Schäfer, nicht zu unterschätzen: Schelsky und seine Mitarbeiter hätten die in der DGB-Jugend populären Thesen des österreichischen Publizisten und Arbeiterforschers Karl Bednarik sozialwissenschaftlich flankiert. Besonders Kluth und Tartler in den Sozialwissenschaften, Lohmar als SDS-Vorsitzender von 1952 bis 1955 und dann als Chefredakteur der Neuen Gesellschaft hätten die politischen Debatten »in Richtung auf Entpolitisierung und Entideologisierung der Arbeiterbewegung« gelenkt.2000 Schelsky referierte auch auf der Bundesdelegiertenkonferenz des SDS in Hamburg. Er kritisierte dabei das antimilitaristische Engagement der sozialistischen Studierenden und empfahl ihnen, sich in der Debatte um die Aufstellung einer neuen deutschen Armee neutral zu verhalten. Diese Haltung entsprach sicher seiner Überzeugung, war er doch neben dem IfS und seinem Hamburger Kollegen Bondy als soziologischer Berater für das Amt Blank tätig.2001 Wie Schelsky befasste sich auch Gehlen mit dem Themenfeld Bürokratisierung. Mit Max Weber ging er von der Prämisse aus, dass die modernen Industriestaaten dahin tendierten, »die Bürokratie zu stärken, ja mindestens in der Tendenz zu autonomisieren.«2002 Den Grund für diese Entwicklung sah er darin, dass der moderne Staat vornehmlich »Vorsorge- und Fürsorgestaat« geworden sei,2003 wobei der Verwaltung immer mehr Aufgaben und Kompetenzen

1998 Alex Aßmann, Klaus Mollenhauer. Vordenker der 68er – Begründer der emanzipatorischen Pädagogik. Eine Biografie, mit einem Nachwort v. Michael Winkler. Paderborn 2015, S.92. 1999 Schäfer, Helmut Schelsky und die Soziologie am Ende der 1950er Jahre, S.193. Schelsky nahm z.B. 1958 an einem soziologischen Kongress in Moskau teil. Siehe Adorno-Archiv, 04.1. Privatkorrespondenz: TWAA_Br_1308 Schelsky, Helmut: Bl.1: Helmut Schelsky an Theodor W. Adorno vom 04.02.1958. Vgl. auch Helmut Schelsky, Ortsbestimmung der deutschen Soziologie. Düsseldorf/Köln 1959, S.67f. 2000 Schäfer, Die nivellierte Mittelstandsgesellschaft, S.131f. 2001 Ebd. 2002 Gehlen, Bürokratisierung, S.128. 2003 Arnold Gehlen, Bürokratisierung. Macht und Ohnmacht des Apparates [1951], in: ders., Einblicke, S.141-151, hier: S.148.

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von Volk und Parlament zugeschoben würden.2004 Diese Ausweitung des tertiären Sektors sei deshalb problematisch, weil die »meist kurze und recht spezialistische Fachausbildung der Beamten häufig zu einer geistigen Unselbstständigkeit und Blickbeschränkung führt, die Ärgernis erregen können.«2005 Gegen diese Entwicklung müssten »planvolle Maßnahmen« ergriffen werden, indem man »den Verwaltungsdienst selber noch als eine erzieherische Institution« ausgestalte, in der eine breite Bildung vermittelt werde.2006 Wie das Denkkollektiv um Horkheimer wollten demnach auch Schelsky und Gehlen die Vertreter der zukünftigen Verwaltungselite nicht zu Fachspezialisten erziehen, sondern zu breit ausgebildeten, vorausschauenden Verwaltern des bundesrepublikanischen Staates. 10.2.3 Soziologische Erwachsenenbildung und Schulreformen In den 1950er Jahren sahen Parteien, Gewerkschaften, kirchliche Organisationen und Vertreter der Volkshochschulen in der Soziologie eine Möglichkeit, ihre tagespolitischen Strategien und Inhalte wissenschaftlich abzustützen. Das Fach erschien ihnen als empirische Disziplin »näher an der Realität als die noch junge Politikwissenschaft, die sich auch in der akademischen Konkurrenz erst noch behaupten musste«, so Schäfer.2007 Umgekehrt sah gerade Schelsky in der Nachfrage nach soziologischem Wissen eine Möglichkeit, seine erziehungspolitischen Anliegen umzusetzen. Hierbei orientierte er sich vor allem an den Gewerkschaften, denn diesen werde »ein ungleich höheres Vertrauen und eine allgemeinere Anerkennung entgegengebracht« als »rein politischen Organisationen wie den Parteien«. Er führte dies auf die politische Desillusionierung der Deutschen nach dem Ende des NS-Regimes sowie ihre Verunsicherung über die politische Weltlage im frühen Kalten Krieg zurück. Mit seiner erziehungspolitischen sozialwissenschaftlichen Praxis wollte er dem »Desinteressement an der Gesamtgesellschaft« entgegenwirken.2008 1950 referierte Schelsky im Juristenclub Hamburg über die »Aufgaben der angewandten Soziologie«. Er betonte die Rolle der Juristen bei der Begründung des Fachs im 19. Jahrhundert. Zudem entfaltete er sein später oft wiederholtes Argument, dass die Soziologie in Deutschland in den 1920er Jahren »rein systematisch-philosophische Erörterungen« entwickelt habe, während die deutschen Soziologen praktische Untersuchungen vernachlässigt hätten. Richtig sei, 2004 2005 2006 2007 2008

Vgl. Gehlen, Bürokratisierung, S.128. Gehlen, Bürokratisierung. Macht und Ohnmacht, S.148f. Ebd., S.150. Schäfer, Die nivellierte Mittelstandsgesellschaft, S.135. Helmut Schelsky, Vom »sozialen Defaitismus« zur sozialen Verantwortung, in: Gewerkschaftliche Monatshefte. Zeitschrift für soziale Theorie und Praxis 2 (1951) 6, S.331-336, hier: S.331f., 334.

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dass die Soziologie nach 1933 »von außen her stark gehemmt wurde«. Unverkennbar sei aber auch, »daß sie auch in sich ein gewisses Thema zu Ende gespielt hatte.«2009 In den Vereinigten Staaten und England habe sich eine andere Entwicklung vollzogen. Obwohl die von der angewandten Soziologie »entwickelten Methoden der messenden, quantitativen Sozialforschung heute dort derart überbetont« seien, dass der Eindruck entstehen könne, sie seien reiner Selbstzweck geworden, betonte er, dass die amerikanische Soziologie nicht in der Empirie stecken geblieben, sondern zur Grundlage »einer neuen Integration der Wissenschaften« und in einzelnen Fällen auch »neuer, umfassender theoretischer Systeme« geworden sei. Als Beispiele nannte er Schriften von Ogburn, Ruth Benedict und Talcott Parsons.2010 Anschließend gab Schelsky den Zuhörern einen Überblick über aktuelle Forschungsprojekte in den Vereinigten Staaten und Großbritannien, so die Town-Surveys, die Town- und Country-Planungen, die Industrie- und Familiensoziologie. In England existiere heute wohl »keine Kreis- und Stadtverwaltung ohne Beamten mit dieser Ausbildung« mehr.2011 Schelsky selbst stellte sich als Pionier dieser jungen Wissenschaft dar, deren Potenzial in der »Prüfung von als selbstverständlich hingenommener Wahrheiten« liege, was für den Aufbau der jungen westdeutschen Demokratie entscheidend sei.2012 Auch bei den Evangelischen Akademien war Schelsky zusammen mit Gehlen mehrfach als Redner zu Gast. Er stellte bei diesen Veranstaltungen  – wohl in Anlehnung an Émile Durkheim2013 – die Figur des Heiligen ins Zentrum seiner Ausführungen, der für ihn überinstitutionelles Symbol der inneren Begegnung und des Realisierens »subjektiver Erfahrung in der gemeinsamen Verbindlichkeit des Glaubens« sei. Das Pendent fand sich bei Gehlen in der Figur des Genies, womit Hegel und Joyce gemeint waren.2014 Die Figur des Heiligen verkörperte laut Morten Reitmayer die intellektuelle und soziale Position Gehlens und Schelskys in der Bundesrepublik. Diese Position und die damit verbundenen sozialen Rollen verbänden die Figuren des Propheten und des hohen Priesters, wobei Letzterer »durch die Gewalt über die religiöse (oder universitäre) Bürokratie und über die Mittel verfügt, um die Lehren der Verkündigung in eine all-

2009 ULB Münster, N. Schelsky 46,005: Vortrag: Helmut Schelsky, Aufgaben der angewandten Soziologie, Juristenclub Hamburg, 31.01.1950, Bl.1. 2010 Ebd., Bl.2. 2011 Ebd., Bl.3. 2012 Ebd., Bl.5. 2013 Siehe Yehuda Elkana, Anthropologie der Erkenntnis. Die Entwicklung des Wissens als episches Theater einer listigen Vernunft, übers. v. Ruth Achlama. Frankfurt am Main 1986, S.91. Vgl. Émile Durkheim, Les formes élémentaires de la vie religieuse. Le système totémique en Australie. Paris 1912. 2014 Zitiert nach: Reitmayer, Elite, S.466.

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täglich wirksame Ordnung (eine Institution) zu überführen.«2015 Reitmayer sieht in dieser Denkfigur eine »Kategorie des in seiner Herkunft rational nicht erklärbaren Führers«, der »oberhalb der institutionalisierbaren Ordnungen« stehe.2016 Dies ist dahingehend zu deuten, dass sich Schelsky und Gehlen als Soziologen durchaus dazu befähigt fühlten, eine intellektuelle Führungsposition mit dezidiert erziehungspolitischem Anspruch in der Bundesrepublik einzunehmen. Aus diesem intellektuellen Anspruch heraus verfasste Schelsky 1956 eine Denkschrift, die er als Gutachten für den Deutschen Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen nach einigen Bedenken 1957 veröffentlichte.2017 Er stellte für die Erziehung und das Erziehungswesen vier zentrale soziale Veränderungen heraus, nämlich 1) Wandlungen des sozialen Status in der Bundesrepublik, 2) die veränderten sozialen Rollen in der Familienstruktur, 3) Veränderungen in der Ökonomie und der damit verbundenen Arbeits- und Berufswelt, schließlich 4) die gewandelte Konsumstruktur und die dadurch bedingte Freizeitproblematik.2018 Folgerichtig habe sich auch die Rolle der Schule in der »nivellierten Berufsgesellschaft« im Vergleich zur »Klassengesellschaft« verändert: »Der Schulbesuch einer bestimmten Schulform war […] eine Bestätigung eines bestimmten sozialen Status oder Ranges«. Dagegen werde er in der »nivellierten Berufsgesellschaft« mit dem Erwerb dieses Status oder Ranges gleichgesetzt.2019 Die Schule sei auf diese Weise die »primäre, entscheidende und nahezu einzige soziale Dirigierungsstelle für Rang, Stellung und Lebens-Chancen des einzelnen in unserer Gesellschaft« geworden. Sie rücke »in den Rang einer bürokratischen Entscheidungsapparatur über die wesentlichen Sozialansprüche der Familie.« Lehrer, Kollegium, Prüfungsausschuss übten daher »eine gesellschaftspolitische Schlüsselfunktion« aus.2020 Wenn nun die Schule in der Gegenwart die Rolle eines »Zuteilungsamtes in einer Sozialchancen-Zwangswirtschaft« spiele, so liege dies an der Entfremdung der Eltern gegenüber der Schule, die wechselseitige Aversionen hervorrufe. Die soziale Aufgabe der Schule sei daher nicht mehr die Auslese der Begabten für die höhere Ausbildung, sondern »die Abweisung vieler als berechtigt empfundener sozialer Ansprüche.« Sie biete auf der einen Seite begabten Jugendlichen Möglichkeiten, müsse auf der anderen Seite aber soziale Chancen verweigern, 2015 Ebd., S.466f. 2016 Ebd. 2017 Helmut Schelsky, Soziologische Bemerkungen zur Rolle der Schule in unserer Gesellschaftsverfassung. Eine Denkschrift [1956], in: ders., Schule und Erziehung in der industriellen Gesellschaft. Würzburg 1957, S.9-50, hier: S.7f. Schelskys Bedenken über die Publikation dieser Denkschrift rührten daher, dass seine Überlegungen seiner Ansicht nach nur vorläufigen Charakter hatten. 2018 Ebd., S.11. 2019 Ebd., S.12f. 2020 Ebd., S.18.

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auf die Eltern und Kinder glaubten Anspruch zu haben.2021 Dass sie zum »zentralen gesellschaftlichen Mittel für den sozialen Aufstieg der Familien« geworden sei, stellte für ihn eine »schwere Belastung, ja Überbürdung der Schule und der Lehrer in ihrer gegenwärtigen sozialen Funktion« dar, da sich beide nicht gegenseitig ent-, sondern belasten würden.2022 Eine wesentliche Aufgabe der Schulreform müsse demnach sein, »die Schule […] nach Möglichkeit von dieser zentralen Dirigierungsfunktion zu befreien oder sie jedenfalls weitgehend abzuschwächen.«2023 Eine weitere Belastung der Schule sah Schelsky im »Umschlage[n] formaler Freiheitsforderungen in materielle Sozialforderungen«: Die arbeitenden Schichten würden einen Anspruch auf »Freiheit der Berufswahl« stellen, die sie oft schon als soziales Recht forderten und dessen Erfüllung sie »primär vom Staat als Garanten und Verteilungsstelle materieller und sozialer Chancen« verlangten.2024 Diese Haltung weise jedoch antiliberale Tendenzen auf: So würden die Ausbildungs- und später die Berufswahl der Schüler gerade nicht nach individueller Begabung und Interesse getroffen sowie den Eltern vermittelt, dass sie ihre Kinder in der Frühsozialisation diesbezüglich wesentlich beeinflussen könnten. Vielmehr beobachtete er davon abgekoppelte und meist überzogene Erwartungen der Eltern an ihre Kinder, deren Erfüllung von Staat und Schulen erwartet würden.2025 Die von Schelsky geforderte »Ausbildung nach Begabung« und »Freie Bahn den Tüchtigen« im Sinne einer »formalen Freiheitsforderung«2026 erinnert zwar an die ihrem Ziel nach die Klassenschranken überwindenden Erziehungskonzepte der sogenannten Nationalpolitischen Erziehungsanstalten im NS-Regime.2027 Sie wies aber auch Homologien zur erziehungspolitischen Haltung Horkheimers und Adornos auf. Auch diese legten auf die Förderung der intellektuellen Entwicklung des Individuums größten Wert. Aus diesem Befund leitete Schelsky praktische Schlussfolgerungen für Schulreformen ab: So sollte sich die Schule 1) stärker an die Privatsphäre des Menschen binden und weniger als Agentur des Staats auftreten. Sie sollte also von öffentlich-gesellschaftspolitischen Aufgaben möglichst entlastet und der Dirigismus der staatlichen Schulverwaltung abgebaut werden. Außerdem sollten 2) das 2021 2022 2023 2024 2025

Ebd., S.19f. Ebd., S.20. Vgl. Reitmayer, Elite, S.419. Schelsky, Soziologische Bemerkungen zur Rolle der Schule, S.20. Ebd., S.21. Ebd., S.22. Vgl. auch ders., Die Berufsproblematik in der industriellen Arbeitswelt, in: Karl Ebel (Hrsg.), Die Staatlichen Handelsschulen der Freien und Hansestadt Hamburg. Hamburg 1954, S.230-235. 2026 Schelsky, Soziologische Bemerkungen zur Rolle der Schule, S.23. 2027 Helen Roche, Schulische Erziehung und Entbürgerlichung, in: Norbert Frei (Hrsg.), Wie bürgerlich war der Nationalsozialismus? (Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts, Vorträge und Kolloquien, Bd.22), S.154-172, hier: S.154.

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mittlere und höhere Schulwesen ausgebaut sowie die Volksschule aufgewertet werden. Schüler wie Lehrer müssten über die tatsächlichen Berufsmöglichkeiten sowie die sozialen und technischen Wandlungen in der zeitgenössischen Gesellschaft wie die fortschreitende Technisierung und Verwissenschaftlichung ganzer Sparten aufgeklärt werden. Geschehen könne dies etwa durch eine frühzeitige Berufsberatung, die sich gerade auch an die Eltern richten müsse. Weiterhin müssten 3) die Übergänge und Anschlüsse von der Volks- zur Hochschule besser geregelt werden, um die »Absättigung der Aufstiegs- und Sicherheitsbedürfnisse« zu regulieren, und 4) sollten die Schulen ihre Leistungsanforderungen erhöhen. Schüler müssten ein Schuljahr wiederholen, wenn sie diese Anforderungen nicht erfüllten. Nur so könnten den Eltern ihre überzogenen sozialen Erwartungen an ihre Kinder genommen werden.2028 Umgesetzt werden könne dies alles durch einen stärkeren und intensiveren Kontakt der Schule und der Lehrerschaft mit den Elternhäusern. Es sei also ratsam, ein entsprechendes Vertrauensverhältnis aufzubauen, das bewusste Kontaktpflege sowie gegenseitige Information und Diskussion einschließe.2029 Hinter seinen Vorschlägen für Schulreformen  – denn mehr könne, wie er 1956 nochmals betonte, der Soziologe nicht leisten, also auch nicht die Pädagogen direkt zum Handeln anleiten2030  – stand die Befürchtung, Bildung könne »mehr und mehr zu einer professionellen Lebensart«2031 werden. Demgegenüber sah er als »Ziel aller Erziehung und Bildung« die »Kultivierung der sittlichen und geistigen Person, die Erzeugung der Humanität als Lebenshaltung«. Dieses humanistische Bildungsideal betrachtete er als zeitungebunden.2032 Es erinnert an Horkheimers oft wiederholte Kritik an der in der modernen industriellen und technischen Gesellschaft immer mehr fortschreitenden instrumentellen Vernunft. Eine derartige Nivellierung und Professionalisierung von Bildung wollte auch Schelsky nicht. Eine demokratische Gesellschaft konnte für ihn nur durch eine von den Individuen praktizierte höchstmögliche Freiheit des Denkens entwickelt und stabilisiert werden.

2028 Ebd., S.26-30. 2029 Ebd., S.41. 2030 Helmut Schelsky, Beruf und Freizeit als Erziehungsziele in der modernen Gesellschaft. Ein Vortrag [1956], in: ders., Schule und Erziehung, S.51-82, hier: S.51f. 2031 Schelsky, Soziologische Bemerkungen zur Rolle der Schule, S.49. 2032 Schelsky, Beruf und Freizeit als Erziehungsziele, S.79f.

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C. Das Erstarken von Theorie und Erziehungspolitik in den Sozialwissenschaften und die Latenz der NS-Vergangenheit (1957 – 1961) Bis 1957 standen die sozialempirische, gesellschaftsorientierte und erziehungspolitische Wissensebene mit der von den beiden hier untersuchten Denkkollektiven angestrebten Etablierung der Sozialwissenschaften im westdeutschen Wissenschaftsfeld und der damit verbundenen Demokratisierung der Bevölkerung in einem mehr oder weniger ausgewogenen Verhältnis zueinander. Diese Balance geriet nun aus den Fugen. So wurde auf der Orientierungswissen generierenden Wissensebene ab den späten 1950er Jahren immer mehr soziologische Theorie statt öffentliches Wissen produziert. Dieser Befund passt zu Thomas Mergels Feststellung, dass in Westdeutschland eine »moderne Theorie der Gesellschaft« zunächst gefehlt habe und sich erst seit den frühen 1960er Jahren »eine intensivere Rezeption der US-amerikanischen Theoriediskussion nachweisen« lasse.1 Diese Veränderung verschob das Kräfteverhältnis von sozialempirischer und der nunmehr theoretischen Wissensebene. Beide Denkkollektive dachten fortan zunehmend kritischer über die empirische Sozialforschung nach; sie übten Kritik »an ihrer methodischen Naivität, ihrer Theorielosigkeit oder ihrer ›affirmativen‹ Wirkung für die Gesellschaft der Bundesrepublik«, wie Paul Nolte schreibt.2 Bei Adorno zeigte sich diese Entwicklung darin, dass er sich immer mehr von der empirischen Sozialforschung ab- und der gesellschaftskritischen Philosophie und Ästhetik zuwandte. Schelsky dagegen bezog seine Kritik nicht bloß auf die empirische Sozialforschung, sondern auf die westdeutsche Soziologie insgesamt (vgl. Kap. 12).3 Auch auf der erziehungspolitischen Wissensebene erfolgten Veränderungen. Ab etwa 1960 forderte Adorno eine öffentliche Thematisierung der deutschen NS-Vergangenheit, die seiner Ansicht nach in der Bundesrepublik bis dahin nicht 1 Mergel, Zählbarkeit, Stabilität und die Gesellschaft als solche, S.114. 2 Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft, S.264. So meinte auch Helmuth Plessner in seiner Eröffnungsrede als Präsident der DGS beim Soziologentag 1959 gegenüber dem Vorwurf der Theorieferne, dass die Soziologie »im Erhebungsgewerbe ohne Perspektive zu versinken drohe«. Zitiert nach: Mergel, Zählbarkeit, Stabilität und die Gesellschaft als solche, S.113. 3 Dass in den nachfolgenden Ausführungen vor allem Adorno im Zentrum steht, liegt darin begründet, dass sich Max Horkheimer, der 1957 ins Tessin zog, 1959 offiziell emeritiert wurde und sich nur noch sporadisch in Frankfurt aufhielt, mehr und mehr aus dem akademischen sowie dem Institutsbetrieb zurückzog und die Geschäfte seinem langjährigen Mitstreiter am IfS überließ. Siehe Müller-Doohm, Adorno, S.638.

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erfolgt war. Schelsky stellte zeitgleich den »technischen Sachzwang« der Gesellschaftssysteme und Institutionen ins Zentrum seiner soziologischen Überlegungen. Er wollte dadurch einer Demokratisierung sämtlicher Gesellschaftsbereiche entgegenwirken, die er als schädlich für die Bundesrepublik ansah. Während sich Adorno zum offensiven Gesellschaftskritiker entwickelte, sah er sich fortan in der Rolle des demokratiekritischen Technokraten. Diese gegensätzlichen Entwicklungen waren Teil eines breiteren gesellschaftlichen Diskurses, der Fragen nach den Grundlagen der westdeutschen Demokratie aufwarf. Während die einen eine weitergehende demokratische Öffnung forderten, riefen die anderen zur Begrenzung der Demokratisierung staatlicher Institutionen auf. Kritik an der unpolitischen Konsumorientierung der späten Adenauer-Ära äußerten seit den frühen 1960er Jahren vor allem junge aufstrebende Intellektuelle wie Hermann Lübbe, Thomas Nipperdey, Ernst-Wolfgang Böckenförde, Heinrich August Winkler, Hans-Ulrich Wehler und Schriftsteller der Gruppe 47 wie Günter Grass und Siegfried Lenz. Sie traten »für eine engagierte bürgerliche Kultur innerhalb der liberalen Staatsordnung« ein.4 Franz-Werner Kersting, Jürgen Reulecke und Hans-Ulrich Thamer sprechen in diesem Zusammenhang von einer »zweiten Gründung der Bundesrepublik« zwischen 1955 und 1975.5 Für Marcus M. Payk zeigt sich dieser Wandel auch in der bundesdeutschen Medienlandschaft, als sich eine neue Konfrontationsbereitschaft und ein anderes Konfliktverhalten zu etablieren begannen.6 Dabei war die Kritik an den politischen Grundlagen der Bundesrepublik aufs Engste mit einer Revision der restaurativen Vergangenheitspolitik und der Forderung nach einer neuen Erinnerungskultur an Nationalsozialismus und Holocaust verbunden (vgl. Kap. 13). Adornos und Schelskys gegensätzliche Positionen waren auch Resultat ihrer sozialempirischen Untersuchungen: Am IfS führten in den späten 1950er Jahren Jürgen Habermas, Ludwig von Friedeburg, Christoph Oehler und Friedrich Welz die Studie »Student und Politik« durch. Die Untersuchung konzentrierte sich auf die politischen Meinungen der Studierenden, insbesondere aber auf deren Einstellung zur Demokratie.7 Im Ergebnis zeigte sich, dass sich der traditio4 Hacke, Die Bundesrepublik als Idee. S.32f. 5 Franz-Werner Kersting/Jürgen Reulecke/Hans-Ulrich Thamer, Aufbrüche und Umbrüche: Die zweite Gründung der Bundesrepublik 1955-1975. Eine Einführung, in: dies. (Hrsg.), Die zweite Gründung der Bundesrepublik. Generationswechsel und intellektuelle Wortergreifungen 1955-1975 (Nassauer Gespräche der Freiherr-vomStein-Gesellschaft, Bd.8). Stuttgart 2010, S.7-18, hier: S.12f. 6 Marcus M. Payk, »…  die Herren fügen sich nicht; sie sind schwierig.« Gemeinschaftsdenken, Generationenkonflikte und die Dynamisierung des Politischen in der konservativen Presse der 1950er und 1960er Jahre, in: Kersting/Reulecke/Thamer (Hrsg.), Die zweite Gründung der Bundesrepublik, S.43-67, hier: S.51-61. 7 Vgl. Archiv IfS, A 7/I -III: Universitätsprojekt: Universität und Gesellschaft. O. Vorarbeiten, Korrespondenz, Aktennotizen: Ordner 1.1: Das Projekt begann 1952 und

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nell unpolitische Bildungsbegriff der Studentenschaft, den das Denkkollektiv um Horkheimer gerade als Grund für deren Anfälligkeit für den Nationalsozialismus identifiziert hatte, seit 1945 kaum verändert hatte. Eine ideelle Demokratisierung der Studierenden erschien geradezu als Illusion.8 Die Ende der 1950er Jahre geforderte Bildungsreform sollte deshalb auch eine intensivere politische Aufklärung von Schülern und Studierenden beinhalten. Zwischen Habermas und Schelsky führte die Auseinandersetzung darüber zum Konflikt. 1959 schlug der Deutsche Ausschuss für Erziehungs- und Bildungswesen, der Vorgänger des Bildungsrates, einen Plan für die Reform des Schulsystems vor. Dieser stieß nicht nur beim Philologenverband auf Ablehnung. Auch Schelsky griff ihn in einer 1961 publizierten Streitschrift scharf an.9 Entgegen aller reformpädagogischen Pläne wollte er Schülern und Studierenden keinen größeren Raum für eine autonome intellektuelle Entwicklung zugestehen, da er sie im Hinblick auf die Arbeitswelt als realitätsfern betrachtete. Schuld daran seien linke Schulreformer, die den Staat über die Entscheidungsgewalt der Familie in der Kindererziehung setzten und eine von der bundesdeutschen Lebenswirklichkeit entkoppelte elitäre Bildungsblase schaffen würden.10 Habermas reagierte darauf mit einem Artikel in der Zeitschrift Die Neue Sammlung. Er prangerte darin Schelskys Familienkonservatismus, dessen dezisionistische Begründung einer Schulreform und seinen gegen linke Pädagogen gerichteten Vorwurf vom »sozialen Totalitarismus« an.11 Die Veränderungen im Verhältnis von empirischer Sozialforschung und Theorie einerseits sowie das Auseinanderdriften der beiden Denkkollektive auf der erziehungspolitischen Wissensebene andererseits bildeten den Hintergrund für den »Positivismusstreit« (Kap. 14). Die zunächst zwischen Adorno und Karl R. Popper geführte, dann zwischen Habermas und Hans Albert fortgesetzte Dewurde durch die DFG, HICOG und die Hochschule für internationale pädagogische Forschung Frankfurt finanziert. Die Finanzierung endete 1954. Am Projekt beteiligt waren Adorno und Hans Anger, ab dem 1. Januar 1955 dann auch Ulrich Gembhardt, Hans Gerth, Habermas, Hans Sittenfeld und Friedrich Tenbruck. Bei der Publikation Student und Politik handelte es sich um ein Teilprojekt dieser größer angelegten Untersuchung. Vgl. Müller-Doohm, Adorno, S.569-572. 8 Moses, German Intellectuals, S.128. 9 Vgl. Helmut Schelsky, Anpassung oder Widerstand? Soziologische Bedenken zur Schulreform, eine Streitschrift zur Schulpolitik, 2. Aufl. Heidelberg 1961. 10 Moses, German Intellectuals, S.143-147. 11 Jürgen Habermas, Pädagogischer ›Optimismus‹ vor Gericht einer pessimistischen Anthropologie. Schelskys Bedenken zur Schulreform, in: Die Neue Sammlung 1 (1961) 4, S.251-278, hier: S.270. Vgl. Moritz Mälzer, Auf der Suche nach der neuen Universität. Die Entstehung der »Reformuniversitäten« Konstanz und Bielefeld in den 1960er Jahren (Bürgertum Neue Folge. Studien zur Zivilgesellschaft, Bd.13). Göttingen 2016, S.62f.; Moses, German Intellectuals, S.148.

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batte um die Grundlagen sozialwissenschaftlichen Erkennens hatte, so die These, zwei Dimensionen: Erstens symbolisierte sie die Emanzipation deutschen sozialphilosophischen Denkens von der von den Mitgliedern der beiden Denkkollektive als Übermacht empfundenen amerikanisch-englischen sozialwissenschaftlichen Denkweise. Diese manifestierte sich für die beiden Denkkollektive einerseits in der empirischen Sozialforschung, andererseits in der analytischen Philosophie westlichen Zuschnitts und im Kritischen Rationalismus. Zweitens bildeten Grabenkämpfe zwischen Remigranten und Dabeigewesenen um Führungspositionen in der DGS den Rahmen für den »Positivismusstreit«. Hierbei ging es auch um die Frage, welches sozialwissenschaftliche Denkkollektiv das für die bundesrepublikanische Gesellschaft ›bessere‹ Wissen generieren konnte und sollte. In der Debatte um Poppers Thesen zeigten sich jedoch nicht nur die Konfliktlagen zwischen den beiden hier behandelten Denkkollektiven, sondern auch epistemische Gemeinsamkeiten.

11. Das Auseinanderbrechen der Allianzen: Die epistemischen Transformationen in den Sozialwissenschaften Ende der 1950er Jahre Die Zeitgeschichtsschreibung sieht um 1957 eine Zäsur in der bundesrepublikanischen Geschichte: Nach Dirk van Laak endete mit der Rentenreform und der Positionierung der CDU als stärkste politische Kraft im Parlament die unmittelbare Nachkriegszeit.12 Bereits 1955 hatte das HICOG seine Tätigkeit eingestellt,13 womit auch für die Sozialwissenschaften eine wichtige Finanzierungsquelle wegfiel. Zugleich gerieten in der Geschichte des Denkens und der Ideen im westlichen Diskursraum modernisierungstheoretische Prämissen als progressivistisch-rationalistische Antwort auf Faschismus und Kommunismus zunehmend in die Kritik.14 Auch die soziologiehistorische Literatur stellt rund um den 14. Soziologentag 1959 in Berlin einen Einschnitt in der Entwicklung der westdeutschen Sozialwissenschaften fest.15 Nach Paul Nolte habe auf diesem Soziologentag erstmals eine jüngere Wissenschaftlergeneration das Bild bestimmt, 12 van Laak, Gespräche in der Sicherheit des Schweigens, S.175. 13 Hans Braun/Uta Gerhardt/Everhard Holtmann, Die »lange Stunde Null«: Exogene Vorgaben und endogene Kräfte im gesellschaftlichen und politischen Wandel nach 1945, in: dies. (Hrsg.), Die lange Stunde Null, S.7-26, hier: S.8. 14 Weichlein, Representation and Recoding, S.45. 15 Lepsius, Die Entwicklung der Soziologie, S.43; Weyer, Westdeutsche Soziologie, S.30.

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nachdem seit 1955 die Zugangsschranken zur DGS-Mitgliedschaft für jüngere Sozialwissenschaftler größtenteils aufgehoben worden waren.16 Außerdem beteiligten sich zahlreiche Studierende und die Jahrestagung stieß ganz allgemein auf großes öffentliches Interesse – eine Tendenz, die sich in den 1960er Jahren fortsetzte.17 Auch die Etablierungs- und Institutionalisierungsbemühungen der Sozialwissenschaftler seit den späten 1940er Jahren zeigten nun ihre Wirkung: Zwischen 1955 und 1960 erhöhte sich die Zahl der soziologischen Lehrstühle in Westdeutschland von einem Dutzend auf fast 25. Hinzu kamen Dozenten, Assistenten und Soziologen an außeruniversitären Forschungsinstituten. Insgesamt waren 1955 etwa 150 Soziologen institutionell angestellt.18 Die veränderten Konstellationen spiegelten sich auch in den Auseinandersetzungen wider, die mehrheitlich zwischen Remigranten und Dabeigewesenen ausgetragen wurden. Vor allem Helmut Schelsky erhob seine Stimme gegen den neuen Kurs der DGS.In einem Rundschreiben kritisierte er, dass sich die Fachgesellschaft zu sehr auf interdisziplinäre Diskussionen und auf das Gesamtgebiet der Sozialwissenschaften konzentriere, anstatt die besonderen Fach- und Forschungsprobleme der westdeutschen Soziologie zu lösen. Zudem bestand der DGS-Vorstand in seinen Augen aus zu wenigen Fachvertretern mit wissenschaftlichem Renommee. Auf der DGS-Mitgliederversammlung 1955 trat er als Sprecher des von ihm selbst einberufenen Hochschullehrer-Ausschusses auf. Am 6. und 7. Juni 1955 veranstaltete er zudem in Hamburg ein norddeutsches SoziologenNachwuchstreffen, bei dem jüngere Wissenschaftler wie Karl-Martin Bolte, Heinz Kluth, Popitz, Bahrdt und Christian von Ferber zu Wort kamen. Schelsky trat als Förderer des soziologischen Nachwuchses auf. Gleichzeitig kritisierte er die eigenständigen Diplomprüfungsordnungen der soziologischen Institute in Berlin, Frankfurt und Köln. Dass keine bundeseinheitliche Lösung gefunden worden war, betrachtete er als Scheitern der bisherigen Professionalisierungsbemühungen. Mit seiner Kritik erreichte er immerhin, dass es in den Diskussionen fortan um die Frage der Eingliederung der Soziologie in die Volkswirtschaftslehre ging, wogegen sich Adorno brieflich gegenüber Schelsky verwahrte.19 Letzterer war bei den DGS-Vorstandswahlen nur zum Schriftführer gewählt worden. Für eine Übernahme der Präsidentschaft fehlte ihm vor allem die Unter-

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Weyer, Westdeutsche Soziologie, S.48. Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft, S.250f. Ebd., S.251. Weyer, Westdeutsche Soziologie, S.49, 71f., 74-76. Siehe Adorno-Archiv, 04.1. Privatkorrespondenz: TWAA_Br_1308 Schelsky, Helmut: Bl.1: Helmut Schelsky an Theodor W. Adorno vom 04.02.1958; Bl.2f.: Theodor W. Adorno an Helmut Schelsky vom 06.02.1958; Bl.4: Helmut Schelsky an Theodor W. Adorno vom 27.02.1958. Schelsky und Adorno vereinbarten eine Aussprache in Hamburg. Ob diese stattgefunden hat, lässt sich allerdings nicht mehr rekonstruieren.

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stützung der älteren DGS-Mitglieder.20 Plessner hatte sich 1958 mit Adorno über die anstehende Neuwahl und über Schelskys Position in der DGS ausgetauscht. Zwar bestehe an dessen Tüchtigkeit kein Zweifel, seine Wahl würde aber bedeuten, »daß sehr bald sein Lehrer und Freund Gehlen Einfluß in der Gesellschaft erhielte«.21 Diese Überlegungen waren letztlich ausschlaggebend für die Wahl Stammers zum DGS-Vorsitzenden.22 Unter dessen Präsidentschaft stiegen jüngere Sozialwissenschaftler wie Heinrich Popitz, Hans Paul Bahrdt und Ralf Dahrendorf in den DGS-Vorstand auf. Stammer wurde 1961 wieder gewählt.23 In den späten 1950er und frühen 1960er Jahren konnten demnach Remigranten wie Plessner und durch das NS-Regime Geschädigte wie Stammer ihre Machtpositionen in den westdeutschen Sozialwissenschaften ausbauen.24 Die sich zuspitzenden Machtkämpfe um 1960 hatten jedoch noch einen weiteren Grund: 1957 eskalierten die Auseinandersetzungen zwischen der deutschen Sektion des IIS, die von mehr oder weniger mit dem NS-Regime verstrickten Wissenschaftlern gegründet worden war, und dem DGS-Vorstand. Anlass dafür waren Planungen des IIS unter dem ehemaligen italienischen Faschisten Corrado Gini, einen Kongress in Nürnberg abzuhalten. Als treibende Kraft wirkte hierbei Karl Valentin Müller, der Generalsekretär des IIS. Bundespräsident Theodor Heuss und die Bundesregierung unterstützten diese Pläne.25 Zwar versuchten Plessner als DGS-Präsident sowie Müller und Hans Freyer als Hauptakteure der deutschen Sektion beim IIS miteinander zu Absprachen zu kommen.26 Doch bereits Ende Januar 1958 konstatierte Plessner gegenüber Freyer, der von Müller geplante Nürnberger Kongress bereite ihm wegen einer möglichen Konkurrenz zur DGS Sorgen. Er bat Freyer darauf hinzuwirken, »daß keine Spannungen entstehen und derartigen Bedenken nach Möglichkeit der Boden entzogen wird.«27 Plessner schickte seinen Assistenten von Ferber als Beobachter zu einer Sitzung des Nürn-

20 Weyer, Westdeutsche Soziologie, S.73. Siehe auch Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle, S.742. 21 Adorno-Archiv, 04.1. Privatkorrespondenz, TWAA_Br_1145 Plessner, Helmuth: Bl.35: Helmuth Plessner an Theodor W. Adorno vom 24.11.1958. 22 Fischer, Philosophische Anthropologie  – Ein wirkungsvoller Denkansatz, S.335. Vgl. Weyer, Der ›Bürgerkrieg in der Soziologie‹, S.298. 23 Weyer, Westdeutsche Soziologie, S.49. 24 Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle, S.741f. 25 SAK, Digitale Dokumentation zur DGS, DE-SAK-B1-3611: Helmuth Plessner an den Bundespräsidenten Theodor Heuss vom 07.02.1958, Bl.1f. 26 SAK, Digitale Dokumentation zur DGS, DE-SAK-B1-3611: Hans Freyer an Helmuth Plessner vom 02.01.1958, Bl.1f., hier: Bl.1. 27 SAK, Digitale Dokumentation zur DGS, DE-SAK-B1-3611: Helmuth Plessner an Hans Freyer vom 28.01.1958.

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berger Organisationskomitees. Zu weiteren Absprachen kam es jedoch nicht.28 Plessner wandte sich daraufhin zur Abstimmung des weiteren Vorgehens per Rundschreiben an die DGS-Mitglieder. Der Vorstand zeigte sich in der Sache in zwei etwa gleich starke Lager gespalten. Schelsky gehörte zu jenen, die keine gegen das IIS gerichteten Aktionen unterstützen wollten.29 Plessner und König dagegen entschlossen sich, dem IIS einerseits den Rückhalt innerhalb der DGS zu entziehen und andererseits den Soziologentag thematisch vom Nürnberger Kongress abzugrenzen. Plessner schrieb an Bundespräsident Heuss, dass es sich beim Kongress des IIS um »keine ›stille Gelehrtenzusammenkunft‹« handele. Vielmehr stelle das Vorgehen einen Versuch dar, »eine offizielle Stützung dieser (ihrer jüngsten Tradition nach zweifelhaften und politisch belasteten) Organisation auf deutschem Boden zu erreichen.«30 Heuss nahm daraufhin seine Schirmherrschaft zurück. Er sei bislang der naiven Meinung gewesen, »es handele sich um eine Veranstaltung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, bis wir von Herrn Professor König schriftlich, und dann mein Mitarbeiter auch telefonisch, unterrichtet wurden, daß hier meine Zusage auf einem Irrtum beruhte«.31 Das Bundesinnenministerium des Innern arbeitete allerdings weiter mit Müller zusammen.32 In Göttingen beschloss der DGS-Vorstand, alle Verbindungen zwischen der Gesellschaft und der IIS zu beenden. Als Gini Plessner mit juristischen Schritten drohte, ging dem DGS-Vorstand in die Offensive: Er ließ Presse und Rundfunk gezielt Informationen zukommen, um den IIS-Kongress zu verhindern. Plessner und König baten Adorno, »die maßgebenden Leute bei der FAZ über den Charakter dieses Naziunternehmens ausführlich ins Bild« zu setzen.33 Tatsächlich überzeugte Adorno die Redaktion der Zeitung, eine Notiz Plessners mit 28 SAK, Digitale Dokumentation zur DGS, DE-SAK-B1-3611: Helmuth Plessner an den Bundespräsidenten Theodor Heuss vom 07.02.1958, Bl.1f. 29 Borggräfe/Schnitzler, Die Deutsche Gesellschaft für Soziologie, S.464f.; Dahms, Positivismusstreit, S.320-322; Weyer, Westdeutsche Soziologie, S.82. Siehe auch Schäfer, Helmut Schelsky und die Soziologie, S.186f. 30 SAK, Digitale Dokumentation zur DGS, DE-SAK-B1-3611: Helmuth Plessner an den Bundespräsidenten Theodor Heuss vom 07.02.1958, Bl.1f. 31 SAK, Digitale Dokumentation zur DGS, DE-SAK-B1-3611: Theodor Heuss an Helmuth Plessner vom 08.02.1958. 32 Weyer, Westdeutsche Soziologie, S.82f. 33 SAK, Digitale Dokumentation zur DGS, DE-SAK-B1-3611: Helmuth Plessner an Theodor W. Adorno vom 14.07.1958. Vgl. auch SAK, Digitale Dokumentation zur DGS, DE-SAK-B1-3611: Helmuth Plessner an Theodor W. Adorno vom 23.12.1957. Siehe Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle, S.772f.

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dem Titel »Soziologen distanzieren sich« zu publizieren. Darin waren Müllers rassenkundliche Schriften aus dem NS-Regime genannt und Gini »vor allem als Theoretiker der faschistischen Bevölkerungspolitik« diskreditiert.34 Müllers in der FAZ publizierte Replik fiel, so Johannes Weyer, »ziemlich ungeschickt« aus: Er dementierte jegliche Vorwürfe und warf Plessner und einzelnen DGS-Mitgliedern vor, ihn persönlich und politisch diskriminiert zu haben.35 Daraufhin sagten mehrere Sozialwissenschaftler ihre Teilnahme am Nürnberger Kongress ab.36 Schelsky protestierte auch dieses Mal gegen das derartige Vorgehen37  – und mit ihm weitere westdeutsche Sozialwissenschaftler. So kritisierte etwa Hans Heckel, dass die »scheinbar sachliche Art, jemanden abzutun, […] in meinen Augen niederträchtig [ist]; sie erinnert in peinlicher Weise an die Methoden unserer totalitären Vergangenheit, und ich bedauere es, dass die FAZ den schlechten Stil mitmacht, der heute wieder üblich wird.«38 Auf dem 14.Soziologentag 1959 ging Müller gegen die in seinen Augen gezielte Diffamierung Ginis durch den DGS-Vorstand vor. Er beklagte sich öffentlich über Plessners und Königs Agieren, erzielte damit aber keine Erfolge. Vielmehr sah er sich isoliert und zog sich zurück. In diesem Zusammenhang gab Schelsky am 2. April 1959 seinen Rücktritt aus dem DGS-Vorstand bekannt.39 34 SAK, Digitale Dokumentation zur DGS, DE-SAK-B1-3611: o.A., Art. »Soziologen distanzieren sich«, in: FAZ, Nr. 178 vom 05.08.1958, S.8; K.V . Müller an die FAZ vom 05.08.1958. Siehe auch Adorno-Archiv, 04.1. Privatkorrespondenz: TWAA_ Br_1145 Plessner, Helmuth, Bl.20: Helmuth Plessner an Theodor W. Adorno vom 22.12.1957; Bl.29: Helmuth Plessner an Theodor W. Adorno vom 14.07.1958; Bl.30: Theodor W. Adorno an Helmuth Plessner vom 15.07.1958; Adorno-Archiv, 04.1. Privatkorrespondenz: TWAA_Br_0780 Koenig, René, Bl.11: Theodor W. Adorno an René König vom 01.08.1958. Vgl. Weyer, Der ›Bürgerkrieg in der Soziologie‹, S.299-301. 35 SAK, Digitale Dokumentation zur DGS, DE-SAK-B1-3611: K.V . Müller an die FAZ vom 05.08.1958. Als Argument führte Müller an, dass Gini immerhin seit 1932 korrespondierendes Mitglied der DGS sei. 36 Der IIS-Kongress fand aber statt und führte auch Referenten wie etwa Pitirim Sorokin auf. Siehe SAK, Digitale Dokumentation zur DGS, DE-SAK-B1-3611: Bruno Dechamps, Art. »Allgemeine Tendenz: Hoffnung und Trost. Ansichten beim Soziologenkongress in Nürnberg«, in: FAZ, Nr.217 vom 19.09.1958. 37 Weyer, Westdeutsche Soziologie, S.82f. 38 SAK, Digitale Dokumentation zur DGS, DE-SAK-B1-3611: Hans Heckel an Helmuth Plessner vom 07.08.1958. 39 Weyer, Westdeutsche Soziologie, S.84f. Siehe SAK, Digitale Dokumentation zur DGS, DE-SAK-B1-3611: Karl Valentin Müller an Helmuth Plessner vom 08.05.1959. Vgl. auch Borggräfe/Schnitzler, Die Deutsche Gesellschaft für Soziologie, S.465f.;

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Die Auseinandersetzungen zwischen solchen Sozialwissenschaftlern, die vom NS-Regime geschädigt worden waren, und den Dabeigewesenen brachen auch in der Folgezeit nicht ab. Wie bereits beschrieben, sprach sich etwa Adorno 1958 in einem Gutachten gegen eine mögliche Berufung Gehlens nach Heidelberg und später nach Bonn aus. Er übte besonders heftige Kritik an der »naturalistischpositivistischen Denkweise«40 Gehlens. Gegenüber Plessner versicherte er, dass er in der »Angelegenheit Gehlen« alles tun wolle, »was ich nur vermag«, um eine Berufung zu verhindern.41 Und auch gegenüber Horkheimer betonte er im April 1958 brieflich, dass man sich bislang kaum eine Vorstellung davon gemacht habe, wie »schlimm Gehlen ist«.42 Auch Plessner und König waren sich einig darin, dass Gehlens intellektuelle Qualitäten zwar unstrittig seien. Politisch dagegen, so Plessner, »ist er eine evidente Gefahr: durch und durch Faschist vom Typ des zynischen SS-Edelings, der wenn sich die Gelegenheit bietet, zu jedem Verbrechen bereit ist«.43 Gegenüber Löwith bezeichnete er Gehlen ebenfalls als einen »strukturellen SS-Typen«.44 Nachdem Schelsky dem DGS-Vorstand wieder beigetreten war, protestierte 1962 König gegen die von diesem initiierte Berufung Karl Heinz Pfeffers an die Universität Münster. Er gehörte wie Adorno ebenfalls dem Vorstand der DGS an und forderte von der Gesellschaft eine öffentliche Stellungnahme in der Angelegenheit.45 Pfeffer kannte Schelsky aus Leipzig. Er hatte als Professor an der Auslandswissenschaftlichen Fakultät der Universität Berlin zusammen mit dem Juristen Ernst Rudolf Huber Schelskys Berufung an die Reichsuniversität Straßburg forciert.46 Beide standen demnach in einem kollegialen Abhängigkeitsverhältnis. König ließ innerhalb der DGS Unterlagen zirkulieren, die Pfeffers NS-Vergangenheit dokumentierten. Darauf ging der DGS-Vorsitzende aller-

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Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle, S.773-777; Schäfers, Helmut Schelsky, S.55; Weyer, Der ›Bürgerkrieg in der Soziologie‹, S.301f. Zitiert nach: Breuer, Kritische Theorie, S.107. Siehe auch Albrecht, Vom Konsens der 50er zur Lagerbildung der 60er Jahre, S.167. Adorno-Archiv, 04.1. Privatkorrespondenz: TWAA_Br_1145 Plessner, Helmuth, Bl.27: Theodor W. Adorno an Helmuth Plessner vom 24.03.1958. Theodor W. Adorno an Max Horkheimer vom 23.04.1958, zitiert nach: Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle, S.815. Helmuth Plessner an René König vom 21.03.1958, in: René König, Briefwechsel, Bd.1, hrsg. v. Mario und Oliver König, mit einem Nachwort versehen v. Oliver König (René König Schriften, Bd.19). Opladen 2000, S.253. Zitiert nach: Schäfer, Helmut Schelsky und die Soziologie, S.192. Vgl. Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle, S.820-823. Jens Adamski, Zwischen Soziologie und Wissenschaftsmanagement. Helmut Schelsky an der Sozialforschungsstelle Dortmund, in: Gutmann/Weischer/Wittreck (Hrsg.), Helmut Schelsky, S.57-73, hier: S.67f.

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dings nicht ein.47 Schelsky selbst ließ im Januar 1962 Adorno Informationen über Pfeffer zukommen, »wie wir es in der letzten Vorstandssitzung besprochen haben.« Für eine Berufung Pfeffers sprachen aus seiner Sicht, dass eine »Intensivierung einer sozialwissenschaftlichen Kenntnis der Entwicklungsländer […] eine in Westdeutschland unter allen Umständen zu erfüllende Aufgabe« sei. Pfeffer vertrete genau diesen Schwerpunkt. Hinsichtlich dessen NS-Vergangenheit sei man sich über die negative Beurteilung von dessen wesentlichen Schriften bis 1945 einig. Die Frage sei jedoch, ob es seine charakterlichen Wandlungen und Pfeffers Leistungen in den Jahren nach 1945 zuließen, ihm »eine begrenzte Wirksamkeit« an der Universität Münster zu ermöglichen. Die Münsteraner Fakultät sei »zu der Überzeugung gekommen, daß die Zuweisung einer Forschungsprofessur an Prof. Pfeffer gerechtfertigt ist.« Schelsky hob gegenüber Adorno die günstigen Urteile von fünf Ordinarien der Fakultät hervor. Auch gegenüber den Studierenden habe derselbe seine NS-Vergangenheit offen thematisiert.48 Ob und wie Adorno auf derartige Argumente reagierte, lässt sich indes nicht mehr nachverfolgen. Zumindest wurde Pfeffer noch im gleichen Jahr als Professor für die Soziologie der Entwicklungsländer an die Münsteraner Universität berufen. Damit war zugleich eine Stelle als Abteilungsleiter an der SFS verbunden. 1963 schließlich geriet Wilhelm Emil Mühlmann ins Visier von Kritikern postfaschistischer Tendenzen in der westdeutschen Wissenschaft. Der israelische Schriftsteller Moscheh Ya’akov Ben-Gavriêl wies in einem Artikel in der Wochenzeitung Die Zeit eher nebenbei darauf hin, dass Mühlmann in den 1930er und 1940er Jahren seinen Heidelberger Studierenden antisemitische Ansichten vermittelt hatte. Außerdem werde dessen antisemitisches Werk Krieg und Frieden  – Ein Leitfaden der politischen Ethnologie von 1940 immer noch als Studiengrundlage verwendet. Mühlmann reagierte mit einer Replik mit antisemitischem Grundton, was ihn bei der DGS diskreditierte.49 Die Allianzen der frühen 1950er Jahre waren um 1960 endgültig zerbrochen. Zudem hatte sich die Gruppe der vom Nationalsozialismus Geschädigten gegenüber den Dabeigewesenen eine dominante Position erarbeitet, wie auch Adornos Wahl zum Präsidenten der DGS 1963 zeigt. Der Bruch der bisherigen Allianzen war mit epistemischen Verschiebungen innerhalb der sozialwissenschaftlichen Denkstile der Gruppen um Horkheimer und Schelsky verbunden. Ende der 1950er Jahre begannen König, Dahren47 Weyer, Westdeutsche Soziologie, S.85; ders., Der ›Bürgerkrieg in der Soziologie‹, S.302. 48 Adorno-Archiv, 04.1. Privatkorrespondenz: TWAA_Br_1308 Schelsky, Helmut: Bl.11f.: Helmut Schelsky an Theodor W. Adorno vom 17.01.1962, hier: Bl.11; Bl.22-24: Abschrift: Wissenschaftliches Gutachten über Professor K.H. Pfeffer vom 14.02.1961, hier: Bl.22. 49 Borggräfe/Schnitzler, Die Deutsche Gesellschaft für Soziologie, S.467; Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle, S.825.

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dorf,50 Adorno und Schelsky die methodischen Grundlagen und theoretischen Ansätze der westdeutschen Sozialwissenschaften zu hinterfragen. Sie trugen die daraus resultierenden Debatten auch in die Öffentlichkeit hinein. Adorno etwa kritisierte in zunehmendem Maße die empirische Sozialforschung. Seit dem Wegfall des HICOG als Hauptgeldgeber für die sozialempirischen Projekte des IfS bis Mitte der 1950er Jahre mussten privatwirtschaftliche Auftraggeber und nationale, regionale oder lokale politische Stellen als Finanziers gefunden werden. Dies machte die Wahrung der relativen Autonomie über diese Untersuchungen schwieriger. Spannungen zwischen den Auftraggebern empirischer Sozialforschung und den IfS-Mitarbeitern zeigten sich etwa in der »Betriebsklima-Studie«. Im Auftrag der Mannesmann-Holding führte das IfS 1954/55 eine industriesoziologische Untersuchung in einigen Stahlwerken des Konzerns im Ruhrgebiet durch. Dabei sollte die Einstellung der Arbeiter und des Leitungspersonals gegenüber dem Betrieb mithilfe des Gruppendiskussionsverfahrens und einer Fragebogenerhebung eruiert werden.51 Nach Adorno ging es dabei darum, »die für die Planung einer wirksamen Sozialarbeit erforderlichen Unterlagen zu beschaffen und die ›Nervenpunkte‹ bloßzulegen, die das Auftreten von Spannungen innerhalb der Belegschaft sowie zwischen Belegschaft und Werksleitung verursachen können.«52 Die Erhebungen sollten »in je einem der für den Konzern wichtigsten und charakteristischsten Werke (z.B. auf einer Zeche, in einem Hüttenwerk, in einem Röhrenwerk und in einem Werk der Weiterverarbeitung)« vorgenommen werden, was etwa 1.000 Einzelbefragungen und Gruppendiskussionen mit 500 bis 600 Personen erforderlich machte.53 Im Artikelentwurf »Womit sind die Arbeiter unzufrieden?« für die Neue Ruhr Zeitung nannte Walter Dirks im Mai 1955 nochmals die Forschungsziele, wobei er besonders die Frage des Mitbestim-

50 Vgl. René König, Die Deutsche Soziologie im Jahre 1955, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 8 (1956), S.1-11; Ralf Dahrendorf, Betrachtungen zu einigen Aspekten der gegenwärtigen deutschen Soziologie, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 11 (1959), S.132-153. 51 Platz, Theodor W. Adornos Demokratieexpertise beim Aufbau der Bundeswehr, S.199; ders., Die Praxis der kritischen Theorie, S.310. Siehe Betriebsklima. Eine industriesoziologische Untersuchung aus dem Ruhrgebiet (Frankfurter Beiträge zur Soziologie, Bd.3). Frankfurt am Main 1955, S.12. 52 Archiv IfS, A 10: Betriebsuntersuchung Mannesmann: O. Vorarbeiten. Ordner 1.1: Abschrift: Theodor W. Adorno an den Vorstand der Mannesmann Aktiengesellschaft vom 01.07.1954, Bl.1f., hier: Bl.1. 53 Ebd.

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mungsrechts der Arbeiterschaft bei Mannesmann hervorhob.54 In der Erhebungsphase wurden schließlich 1.117 Betriebsangehörige einzeln interviewt. Zudem veranstalteten die etwa 30 Mitarbeiter von IfS und DIVO mit insgesamt 60 Gruppen Diskussionen.55 Wie schon beim »Gruppenexperiment« wollte Adorno auch bei dieser Untersuchung quantitative und qualitative Verfahren zusammenführen. Die Studie zeigte letztlich, dass die Mehrzahl der Arbeiter kein Interesse an Betriebs- und Gewerkschaftspolitik hatte. Adorno und seine Mitarbeiter führten dies auf eine zunehmende Entfremdung der Arbeiternehmer von ihrer Arbeitsumgebung zurück.56 Das IfS wollte diese Ergebnisse vollständig publizieren. Dagegen stellte sich jedoch die Mannesmann-Leitung, die die Veröffentlichung derart negativer Befunde verhindern wollte. Sie zweifelte die vom IfS verwendeten Methoden an und beanstandeten insbesondere, dass die ausgewählten Gesprächsgruppen die herrschende Meinung der Belegschaft nicht repräsentieren würden. Zudem verdächtigte Karl Harzig, der Direktor der Mannesmann-Hüttenwerke AG, das IfS, die Erhebungen »mit bestimmten sozialpolitischen Tendenzen« vorgenommen zu haben.57 Am Ende publizierte das Institut in einer dünnen Monografie von 120 Seiten die quantitative Auswertung der Interviews, einige oberflächliche qualitative Anmerkungen und den verwendeten Fragebogen.58 Die »Betriebsklima-Studie« legte dem Denkkollektiv um Horkheimer schonungslos offen, wie stark sozialempirische Auftragsforschung fremdbestimmt war. Die relative Autonomie der Wissenschaft konnte bei solchen Konstellationen kaum gewahrt werden und musste dazu führen, dass der empirischen Sozialforschung ihr ›kritischer Stachel‹ gezogen wurde. Auch die Ergebnisse der »Heimkehrer-Studie« von 1956/57 konnten, wie bereits dargestellt, nicht publiziert werden. Die »Auswahlstudie« zur Besetzung des Offizierskorps der aufzubauenden Bundeswehr blieb gar im Pilotstadium. Adorno schloss daraus, 54 Archiv IfS, A 10: Betriebsuntersuchung Mannesmann: O. Vorarbeiten. Ordner 1.1: Walter Dirks, Artikel in der NRZ, 28.02.1955, Entwurf: »Womit sind die Arbeiter unzufrieden? Eine Betriebsuntersuchung in fünf Betrieben der Mannesmann-Werke«, Bl.1-12, hier: Bl.1, 5. 55 Ebd., Bl.6. Siehe auch Peter Hoeres, Aneignung und Abwehr der Demoskopie im intellektuellen Diskurs der frühen Bundesrepublik, in: Kersting/Reulecke/Thamer (Hrsg.), Die zweite Gründung der Bundesrepublik, S.69-84, hier: S.79f.; Platz, Die Praxis der kritischen Theorie, S.320, 323, 332. 56 Archiv IfS, A 10: Betriebsuntersuchung Mannesmann: O. Vorarbeiten. Ordner 1.1: Werner Mangold, Protokoll der Besprechung vom 01.11.1954, Bl.1-3, hier: Bl.2. 57 Archiv IfS, A 10: Betriebsuntersuchung Mannesmann: O. Vorarbeiten. Ordner 1.1: Hermann Winkhaus [Dipl.-Ing. bei Mannesmann A.G.] an Direktor Karl Harzig, Mannesmann Hüttenwerke AG, vom 04.06.1955, Bl.1-6, hier: Bl.1-3, 4. 58 Betriebsklima; Platz, Die Praxis der kritischen Theorie, S.333, 367-370; Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, S.543.

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dass unkritische sozialempirische Forschung letztlich nur die Interessen von Politik und Industrie abbilde. Er sah sein schon früher geäußertes Unbehagen an sozialempirischen Methoden bestätigt, wonach diese nicht nur den Status quo der Gesellschaft bekräftigten, sondern auch noch Konsumindustrie und allumfassender Verwaltung, also seiner Ansicht nach totalitären Tendenzen, in die Hände spielten. Zwar war ihm klar, dass Soziologie auch Empirie erforderte. Die sozialempirischen Methoden konnten seiner Meinung nach jedoch nur von einer gesellschaftsphilosophischen Position heraus angeleitet werden, wollten sie kritische Sozialwissenschaft sein.59 Als Konsequenz gab Adorno die Leitung der sozialempirischen Projekte am IfS an Ludwig von Friedeburg und Rudolf Gunzert ab. Er widmete sich fortan wieder verstärkt seinen gesellschaftsphilosophisch-dialektischen Studien. Auch Schelsky, der wie Adorno in den frühen 1950er Jahren vornehmlich sozialempirische Untersuchungen geleitet hatte, formulierte 1959 in seiner Ortsbestimmung der deutschen Soziologie nicht nur eine Kritik an der empirischen Sozialforschung, sondern rechnete auch wissenschaftspolitisch mit der bundesdeutschen Soziologie ab.60 Weyer erkennt darin »ein gewachsenes Selbstbewußtsein der bundesdeutschen Soziologie, die eine Subordination unter die amerikanische Soziologie nunmehr ablehnte und zudem mit der Feststellung ähnlich gelagerter Entwicklungsprozesse in beiden nationalen Soziologien die Gleichwertigkeit der bundesdeutschen Soziologie beanspruchte.«61 Ende der 1950er Jahre entwickelten sich die Hauptrepräsentanten der beiden Denkkollektive, Adorno und Schelsky, aus ganz unterschiedlichen Gründen gewissermaßen zu »Antisoziologen«: Während sich Adorno zunehmend der Philosophie der negativen Dialektik und der Ästhetik zuwandte, sah Schelsky eine mögliche Neukonfiguration der westdeutschen Soziologie nicht nur in der Konkretisierung ihrer Forschungsgegenstände, die eine kritische Diagnose und eine daraus abgeleitete Korrektur der gesellschaftlichen Funktionssysteme erbringen sollte. Er forderte zudem eine theoretische Weiterentwicklung der deutschen Soziologie hin zu einer »transzendentale[n] Theorie der Gesellschaft«. Beide Akteure waren sich des Konfliktpotenzials ihrer gegensätzlichen Positionen bewusst und sie tauschten sich auch brieflich darüber aus. Im Dezember 1959 dankte Adorno etwa für die Ortsbestimmung der deutschen Soziologie, die Schelsky ihm deshalb zugeschickt hatte, weil er seinen Frankfurter Kollegen da59 Vgl. Benzer, The Sociology, S.71-74. 60 Weyer, Westdeutsche Soziologie, S.184. 61 Ebd., S.185. König war einer der wenigen westdeutschen Soziologen, der diese Skepsis gegenüber der sozialempirischen Forschung nicht teilte.

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rin kritisierte. Adorno fragte nach, »wie wir mit unserer Kontroverse weiterfahren«. Er schlug vor, keine öffentliche Polemik zu inszenieren. Stattdessen kündigte er Schelsky einen mit Horkheimer gemeinsam geplanten Band an, der auch seinen Aufsatz »Soziologie und empirische Sozialforschung« enthalten werde: »Ich würde gern als eine Art von Coda eine Entgegnung auf Ihre so ritterliche Kritik beifügen. Das nähme der Sache den lästigen Charakter einer ›Polemik‹, und wir könnten ein Beispiel dafür geben, wie solche wissenschaftlichen Divergenzen auf eine menschenwürdige Weise auszutragen sind.«62 Er schlug weiter vor, dass man die Debatte auch im Rahmen einer Radiodiskussion führen könne. Schelsky entgegnete, dass er sich zwar darüber freue, »wenn sich aus meiner Schrift eine Debatte entwickelte, die die Dinge bei uns in produktiver Weise in Fluß hielte, was ja auch die Absicht der Schrift war«. Er bevorzuge jedoch Adornos Vorschlag, dies publizistisch zu tun. Denn falls die angedachte Rundfunkdebatte eine weitgehende Einigkeit zwischen ihnen erbringe, hieße es in der FAZ bald, die ›Helden‹ seien müde. Leisteten sie sich hingegen »die Schauspielerei, uns wirklich expressiv in die Haare zu geraten«, so zähle nach Schelskys Erfahrungen »nicht das Gewicht des Arguments, sondern sprachliche Formulierungen und der emotionale Brustton der Überzeugung und was es sonst an meinungsbildenden Effekten gibt«. Stattdessen lud er Adorno nach Hamburg ein: »Eine gute Mahlzeit mit gutem Wein könnte ich wenigstens garantieren. Sonst müßten wir wieder einmal so etwas wie einen gemeinsamen Documenta-Besuch, diesmal geplant, inszenieren, aber dann mit dem festen Vorsatz, nach Möglichkeit auch wieder nicht über Soziologie zu sprechen.«63

11.1. Ein Treffen in Frankfurt am Main am 1. März 1957 Bereits auf dem 13. Deutschen Soziologentag 1956 in Bad Meinberg war es zu kontroversen Debatten zwischen den verschiedenen Sozialwissenschaftlern gekommen. Horkheimer hatte, so Weyer, in einem Vortrag die »zunehmende Apologie des ›Maschinenzeitalter(s)‹« bemängelt, während Noelle-Neumann auf die Ergebnislosigkeit dieser Ausführungen für die empirische Sozialforschung 62 Adorno-Archiv, 04.1. Privatkorrespondenz: TWAA_Br_1308 Schelsky, Helmut: Bl.5: Theodor W. Adorno an Helmut Schelsky vom 07.12.1959. 63 Adorno-Archiv, 04.1. Privatkorrespondenz: TWAA_Br_1308 Schelsky, Helmut: Bl.6: Helmut Schelsky an Theodor W. Adorno vom 11.01.1960. Schelsky und Adorno hatten sich zufällig auf der Documenta in Kassel 1959 getroffen.

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hingewiesen hatte. Arnold Bergstraesser und Helmuth Plessner hatten wiederum versucht, die Kluft zwischen Empirie und Theorie zu verringern, indem der eine die Möglichkeit der Integration beider Ebenen und der andere die notwendige Polyfonie der Methoden in der Soziologie hervorgehoben hatte.64 Horkheimer blieb bei seiner kritischen Haltung. In mehreren kleineren Schriften betonte er, dass die empirische Sozialforschung im Gegensatz zu früheren Ansätzen mittlerweile ›brav‹ geworden und zur bloßen Expertenwissenschaft verkommen sei. Aus seiner Sicht sollten die Sozialwissenschaften die Gesellschaft jedoch wieder als Ganzes betrachten und die Ziele gesellschaftlicher Entwicklungen reflektieren.65 Auf dem 14. Soziologentag 1959 in Berlin spitzte er seine Kritik zu. In seinem Vortrag »Soziologie und Philosophie« warf er der Soziologie vor, sich zunehmend in den bestehenden Verhältnissen eingerichtet zu haben. Sie sei dem Status quo der Gesellschaft gegenüber affirmativ und zur reinen Faktenwissenschaft geworden. Zudem reflektiere sie sich nicht mehr selbst und auch nicht mehr die Gesellschaft, die sie als Totalität aus den Augen verloren habe. Er griff damit nicht nur sozialempirische Untersuchungen an, sondern auch formalsoziologische Ansätze und »Theorien mittlerer Reichweite«, wie sie Leopold von Wiese, Robert K. Merton und Ralf Dahrendorf vertraten. Da die Soziologie als in seinen Augen unkritische Legitimationswissenschaft der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse die Ausbreitung totalitärer Haltungen begünstige, müsse eine enge Bindung zwischen Soziologie und Philosophie hergestellt werden. Nur so war für Horkheimer die Möglichkeit einer kritischen Durchdringung der Gesellschaftsverhältnisse wieder gegeben.66 Nach seinem Forschungsaufenthalt an der kalifornischen Hacker Foundation hatte auch Adorno sich ab 1953 wieder stärker der Philosophie zugewandt, wie unter anderem seine in Frankfurt gehaltenen Lehrveranstaltungen zeigen.67 Mit seinem 1955 publizierten Aufsatz »Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie« wollte er zudem die Verbindung zwischen kritischer Gesellschaftstheorie und Psychoanalyse kappen. Er sprach Vertretern psychologischer Ansätze die Fähigkeit zur Erforschung von Kultur und Gesellschaft ab. Die Psychoanalyse isoliere den Menschen klinisch, weshalb sie ihn und seine Entwicklung nicht als gesellschaftlich gewachsen begreifen könne.68 Sie und auch die Psychologie integrierten ähnlich wie Parsons’ Handlungs- und Systemtheorie den Menschen 64 Weyer, Westdeutsche Soziologie, S.103. 65 Zitiert nach: ebd., S.183f. 66 Max Horkheimer, Soziologie und Philosophie [1959], in: ders., Vorträge und Aufzeichnungen 1949-1973 (Bd.7), S.108-121, hier: S.114-121. Siehe Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle, S.778-780; Weyer, Westdeutsche Soziologie, S.105, 184. 67 Bobka/Braunstein, Die Lehrveranstaltungen Theodor W. Adornos, S.11-18; Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle, S.605. 68 Reimut Reiche, Adorno und die Psychoanalyse, in: Gruschka/Oevermann (Hrsg.), Die Lebendigkeit der kritischen Gesellschaftstheorie, S.235-254, hier: S.235.

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in die Gesellschaft. Sie negierten damit Nonkonformismus und Individualismus als entscheidende Elemente einer gerechten Gesellschaft. Das Zusammengehen mit der naturwissenschaftlich orientierten Psychologie schaffe demnach eine »Soziologie ohne Gesellschaft, Konterfei eines Zustandes, in dem die Menschen sich selber vergessen.«69 Deutlich äußerte sich darin, wie sich Horkheimer und Adorno ab Mitte der 1950er Jahre von der empirischen Sozialforschung und von psychoanalytischen Ansätzen vor allem amerikanischer Provenienz abwandten.70 Sie begriffen diese als lediglich instrumentelle Forschungspraktiken. Sie selber wandten sich wieder verstärkt ihrem gesellschaftsphilosophisch-dialektischen Idiom zu, in dem die Soziologie ein ›umkämpfter‹ Gegenstand blieb, der sich in die eine oder in die andere Richtung entwickeln könne. Diese Transformationen gingen mit der zunehmenden Rezeption vor allem der theoretischen Schriften Horkheimers und Adornos ab den späten 1950er Jahren einher. Ihre sozialempirischen Arbeiten wurden hingegen kaum mehr wahrgenommen.71 Besonders deutlich traten die hervorbrechenden epistemischen Differenzen innerhalb der westdeutschen Sozialwissenschaften auf einem Treffen am 1. März 1957 zutage, zu dem Adorno ans Frankfurter IfS eingeladen hatte. Neben Adorno nahmen daran Dahrendorf, Ludwig von Friedeburg, Rudolf Gunzert, Jürgen Habermas, Hans-Joachim Lieber, Elisabeth Noelle-Neumann, Heinrich Popitz und Otto Stammer teil. Sie alle wollten sich über das »Verhältnis von Soziologie und empirischer Sozialforschung« aussprechen.72 Eingeladen, jedoch verhindert waren Helmuth Plessner, Wilhelm Emil Mühlmann, Arnold Bergstraesser und René König.73 Vertreten waren damit sowohl Sozialwissenschaft69 Theodor W. Adorno, Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie [1955], in: ders., Soziologische Schriften I, S.42-85, hier: S.57. Siehe auch ebd., S.54, 68f., 82, 84f. 70 Vgl. Dahms, Positivismusstreit, S.268, 287-289. Dahms sieht zwei Gründe in Adornos Abkehr von der empirischen Sozialforschung: Eine »zunehmende Enttäuschung über die Entwicklungstendenzen der Bundesrepublik im allgemeinen und ihres Erziehungs- und Hochschulwesens im speziellen« sowie eine »zunehmende Enttäuschung über eine Soziologie, die die Symptome der Restauration nur bestenfalls registrierte«. Siehe ebd., S.290. 71 Philipp Felsch, Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960-1990. München 2015, S.26. 72 Archiv IfS, S 1: Tagungen 1950-1961, Ordner 1: 1950-1952: Protokoll der Sitzung vom 01.03.1957 »Zum Verhältnis von Soziologie und empirischer Sozialforschung«, Bl.1-29. Siehe auch Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle, S.761f. 73 Archiv IfS, Oe 1, Tagungen 1950-1961, Tagung 32-36, Bd.6: 32. Tagung »Zum Verhältnis von Soziologie und empirischer Sozialforschung«, 01.-02.03.1957 (Ludwig von Friedeburg): Helmuth Plessner an Theodor W. Adorno vom 08.02.1957; Arnold Bergstraesser an Theodor W. Adorno vom 27.02.1957; Wilhelm E. Mühlmann an Theodor W. Adorno vom 16.02.1957. König befand sich zu diesem Zeitpunkt in

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ler der älteren als auch solche der jüngeren Generation, alle Teilnehmenden kannten sich mehr oder weniger persönlich.74 Dass Schelsky fehlte, überrascht, weil das Denkkollektiv um Horkheimer bis Mitte der 1950er Jahre bei mehreren Gelegenheiten mit dem Hamburger Soziologen ähnliche Fragen erörtert hatte, so etwa im Rahmen von Radiogesprächen für den Hessischen Rundfunk.75 Weshalb keine Einladung an Schelsky ging, bleibt unklar. Lieber gegenüber meinte Adorno lediglich, dass er sich in dieser Sache »von Schelsky keinen Refus holen« wollte.76 Adorno wollte das Treffen nutzen, um seine Überlegungen zum Verhältnis von theoretischer Soziologie und empirischer Sozialforschung zu diskutieren, die er noch im selben Jahr als Aufsatz veröffentlichte.77 Alex Demirović interpretiert die Zusammenkunft deshalb als wichtigen Wendepunkt im Verhältnis Adornos zur empirischen Sozialforschung.78 Im letzten Teil der Aussprache sollten die einzelnen Standpunkte in Gesprächsform zusammengefasst, vom Hessischen Rundfunk aufgenommen und später im Radio übertragen werden.79 Das Thema beanspruchte demnach öffentliches Interesse. Bereits im Vorfeld des

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den Vereinigten Staaten. Siehe Theodor W. Adorno an René König vom 15.03.1957, in: König, Briefwechsel, Bd.1, S.491. Vgl. auch Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle, S.762. Für die Laufbahnen der Teilnehmerin und der Teilnehmer, insbesondere während des NS-Regimes, siehe Fabian Link, Die multiple Epistemologie der Sozialwissenschaften. Anmerkungen zu einer Sitzung über das »Verhältnis von Soziologie und empirischer Sozialforschung« am 1.  März 1957, in: Endreß/Lichtblau/Moebius (Hrsg.), Zyklos 2, S.101-129, hier: S.103-111. Archiv IfS, Aa1: Adorno-Korrespondenz H, Bd.8: Theodor W. Adorno an den Hessischen Rundfunk, Abt. Kulturelles Wort – Abendstudie vom 03.11.1954. Vgl. Archiv IfS, Ordner: Korrespondenzen mit Instituten, 1c, L-S: Theodor W. Adorno an Helmut Schelsky vom 16.05.1955; Theodor W. Adorno an Helmut Schelsky vom 28.12.1954; Helmut Schelsky an Theodor W. Adorno vom 26.11.1954. Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle, S.762. Theodor W. Adorno, Soziologie und empirische Forschung [1957], in: ders., Soziologische Schriften I, S.196-216. Bei diesem Aufsatz handelt es sich um die überarbeitete Version eines Texts Adornos, der in der Festschrift für Helmuth Plessner erschienen war. Siehe Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle, S.762, Fußnote 56. Siehe Theodor W. Adorno, Soziologie und empirische Forschung, in: Klaus Ziegler (Hrsg.), Wesen und Wirklichkeit des Menschen. Festschrift für Helmuth Plessner. Göttingen 1957, S.245-260. Vgl. Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle, S.761-769. Archiv IfS, Oe 1, Tagungen 1950-1961, Tagung 32-36, Bd.6: 32. Tagung »Zum Verhältnis von Soziologie und empirischer Sozialforschung«, 01.-02.03.1957 (Ludwig von Friedeburg): Theodor W. Adorno an Wilhelm E. Mühlmann vom 10.02.1957. Allerdings lässt sich heute nicht mehr sicher feststellen, ob die Aussprache tatsächlich im Rundfunk ausgestrahlt wurde. Fest steht nur, dass der Schlussteil fürs Radio aufgenommen wurde.

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Treffens hatte Adorno einige »Thesen über Soziologie und Research« an die Teilnehmenden verschickt. Diese bildeten vermutlich die Grundlage für seinen später auch publizierten Eröffnungsvortrag »Soziologie und empirische Forschung«.80 Aus seiner Argumentation lassen sich folgende Kernpunkte rekonstruieren: a) Die Kluft zwischen einer theoretisch orientierten, auf die Analyse der Gesellschaft als Ganzes gerichteten Soziologie und einer Einzelphänomene als soziale Tatsachen erforschenden empirischen Sozialforschung war für ihn kaum mehr zu überbrücken.81 Die Theorie der Gesellschaft leitete er aus der Philosophie ab. Sie war für ihn »unabdingbar kritisch«. Dagegen betrachtete er die empirische Sozialforschung als nomothetischen Grundsätzen folgende »Tatsachenforschung«, die keinen kritischen Anspruch aus sich selbst heraus entwickeln könne.82 Diese Tatsachenforschung gehöre selbst »schon wieder dem Verblendungszusammenhang« an, »den sie durchschlagen möchte«, weil sie Produkt dieses Zusammenhangs sei. Sie sei sogar doppelt verblendet, nämlich einerseits im Hinblick auf die von ihr festgestellten sozialen Phänomene und andererseits hinsichtlich der von ihr verwendeten Methoden.83 Um dem entgegenzuwirken, müssten empirische Sozialforscher ihre Forschungspraxis in zweierlei Hinsicht reflektieren: Sie müssten die Gebundenheit ihrer Methoden im Gesellschaftlichen in den Blick nehmen, die in den ungleichen, durch das kapitalistische Tauschsystem bestimmten Herrschaftsverhältnissen wurzele. Außerdem hätten sie die Eingebundenheit ihrer Untersuchungsgegenstände, also die Menschen mit ihren Beziehungen, Meinungen und Haltungen, kritisch zu analysieren. Von einer solchen Form der empirischen Sozialforschung sah Adorno die amerikanischen und die westdeutschen Sozialwissenschaften um 1957 weit entfernt.84 b) Durch die Kritische Theorie generierte Ergebnisse könnten außerdem nicht eins zu eins durch empirische Resultate bewiesen oder widerlegt werden.85 Ohne einen bedeutenden Verlust an Sinn und Tiefe seien theoretische Gedanken letztlich nicht in empirische Sozialforschung und logisch ableitbare Hypothesen zu übersetzen. c) Von systematischen Vereinheitlichungsversuchen, wie sie etwa Talcott Parsons mit seiner strukturfunktionalistisch-systemtheoretischen Gesellschaftsanalyse vorgenommen hatte, erwartete sich Adorno keinen Mehrwert. Einen solchen sprach er auch jeglichen Versuchen einer Harmonisierung von Theorie 80 Archiv IfS, Oe 1, Tagungen 1950-1961, Tagung 32-36, Bd.6: 32. Tagung »Zum Verhältnis von Soziologie und empirischer Sozialforschung«, 01.-02.03.1957 (Ludwig von Friedeburg): Ludwig von Friedeburg an Otto Stammer vom 21.02.1957. 81 Adorno, Soziologie und empirische Forschung, S.196. 82 Ebd., S.197. 83 Ebd., S.198. 84 Ebd., S.211. 85 Ebd., S.197.

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und Empirie ab. Für ihn ging es nicht darum, Divergenzen zwischen Theorie und Empirie einzuebnen, sondern deren Spannungen zu diskutieren.86 d) Dass der empirischen Sozialforschung das Primat über die Theorie zuerkannt werde, begründete Adorno mit der Desillusionierung über die geisteswissenschaftlich geprägte und die formale Soziologie sowie der Eigenschaft sozialempirischen Wissens, mehr oder weniger unvermittelt praktisch verwertbar zu sein – besonders für Verwaltung und Bürokratie.87 e) Auch neige die empirische Sozialforschung dazu, metaphysisch und subjektiv zu sein. Die Objektivität reklamierenden sozialempirischen Methoden würden – neben statistischen Daten – paradoxerweise gerade subjektive Gegenstände wie Geschlecht, den rechtlichen Status einer Person, Alter, Einkommen, Bildung, Meinungen, Einstellungen, Verhaltensweisen von Subjekten in den Forschungsfokus rücken. Adorno erklärte sich dies durch ihren »Ursprung in der Marktforschung«.88 Mit diesem Befund begründete er seine Ansicht, dass die empirische Sozialforschung gegenüber dem »Zwang zumal der ökonomischen Objektivität« blind bleibe.89 f) Ihre Methoden zeichneten sich für Adorno zudem durch eine »Dinghaftigkeit« aus. Sie würden so tun, als ob ihre Gegenstände »Dinge an sich wären und nicht mehr verdinglicht«, wodurch sowohl Methoden als auch Gegenstände zum Fetisch gerieten.90 Dadurch trage die empirische Sozialforschung zur technokratisch-totalitären Gesellschaftsordnung bei. Sie »wird Ideologie im strengen Sinn, notwendiger Schein«.91 g) Adorno ging dennoch nicht von einer grundsätzlichen Gegensätzlichkeit von soziologischer Theorie und empirischer Sozialforschung aus. Auch 1957 sah er die Möglichkeit einer fruchtbaren Beziehung zwischen Theorie und Sozialempirie. So seien die Gegenstände quantitativer und qualitativer Analyse nicht absolut. Vielmehr würde das Einzelne das gesellschaftlich Ganze und dieses Ganze wiederum das Einzelne durchdringen.92 Zwar räumte er der qualitativen Analyse eine Vorrangstellung ein, doch könnten viele »handfeste Behauptungen sozialer Theorien […] durch strenge Erhebungen überprüft und widerlegt werden«.93 Allerdings habe bislang kaum ein Sozialwissenschaftler empirische Erhebungen auf der Grundlage theoretisch zentraler Fragestellungen vorgenommen.94

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Ebd., S.198. Siehe auch Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle, S.763. Adorno, Soziologie und empirische Forschung, S.199. Ebd. Ebd. Ebd., S.201. Ebd., S.205. Ebd., S.204. Ebd., S.208. Ebd., S.212.

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Adornos Thesen wurden während des Treffens kritisch diskutiert. Dabei bildeten sich drei Lager heraus: Adorno, Habermas, Lieber, tendenziell auch von Friedeburg standen auf der einen, Noelle-Neumann und Dahrendorf auf der anderen Seite, wobei sich Letzterer im Laufe der Diskussion von Noelle-Neumanns Position distanzierte. Popitz, Stammer und Gunzert gaben sich neutral. Sie stellten den anderen Teilnehmern Fragen und hielten dadurch die kontroverse Diskussion am Laufen. Dass Adorno und Dahrendorf sich als schärfste Kontrahenten gegenüberstanden, war kein Zufall. Dahrendorf hatte 1954 als Assistent Horkheimers am IfS gearbeitet. Bereits nach knapp einem Monat war er jedoch an die Universität des Saarlandes gewechselt. Laut Lorenz Jäger habe er Horkheimer und Adorno für »intellektuelle Gurus« gehalten, »deren Gespräche für den Außenstehenden zuweilen von unfreiwilliger Komik waren.« Gretel Adorno gegenüber soll er geäußert haben, dass man ihm am IfS »alle möglichen und unmöglichen Nebenarbeiten« zugeschoben hätte. Zudem hatte er Horkheimers Führungsstil als autoritär empfunden.95 Adorno war vom plötzlichen Weggang Dahrendorfs, den er als fähigen Mitarbeiter betrachtet hatte, überrascht und enttäuscht.96 Gegenüber Horkheimer hatte er geäußert, dass für den jungen Soziologen in Saarbrücken sicher bessere Karrierechancen bestünden. Zudem fühle er »sich theoretisch nicht zu uns gehörig«, »weil wir ihm zu ›historisch‹ dächten«. Dahrendorf habe nach seiner eigenen Aussage »im Sinne der formalen und der Wissenssoziologie arbeiten [wollen] und passe überhaupt nicht in ein Institut, sondern ziele auf die ganz selbstständige Universitätslaufbahn ab.« Er sei zwar ein begabter Mensch, »aber verzehrt sich geradezu vor Ehrgeiz, und vor allem: er haßt im Grunde das, wofür wir einstehen.«97 Nun stand er auf dem Frankfurter Treffen seinen alten Dienstherren wieder gegenüber. Die Fraktion um Adorno vertrat die Ansicht, dass kritisch-philosophisches Bewusstsein in die Praxis der empirischen Sozialforschung eingebaut werden müsse. Ohne eine kritische Reflexion der gesellschaftlichen Verhältnisse mache die empirische Sozialforschung das Funktionieren von Verwaltung und Wirtschaft zum Fetisch.98 Synthesen, die Widersprüche der Gesellschaftsphänomene einebneten, sollten dagegen vermieden und das »fruchtlose Auseinanderfallen

95 Zitiert nach: Jäger, Adorno, S.238. Siehe auch Franziska Meifort, Ralf Dahrendorf. Eine Biographie. München 2017, S.61-64; Ralf Dahrendorf, Über Grenzen. Lebenserinnerungen. Frankfurt am Main 2004 [2002], S.172. 96 Archiv IfS, Aa1: Adorno-Korrespondenz M, 13: Protokoll der Mitarbeiter-Besprechung am 03.04.1954, Bl.1-11, hier: Bl.1. Siehe auch Müller-Doohm, Adorno, S.564f. 97 Theodor W. Adorno an Max Horkheimer vom 17.08.1954, in: Theodor W. Adorno – Max Horkheimer. Briefwechsel 1927-1969 (Bd.IV), S.276-280, hier: S.277. 98 Archiv IfS, S 1: Tagungen 1950-1961, Ordner 1: 1950-1952: Protokoll der Sitzung vom 01.03.1957: »Zum Verhältnis von Soziologie und empirischer Sozialforschung«, Bl.1-29, hier: Bl.3, 12.

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der Soziologie« überwunden werden.99 Adorno betonte abermals, dass seine Vorstellungen vom Verhältnis von Empirie und Theorie keineswegs gegen die quantitativen Methoden gerichtet seien. Er hielt zudem fest, dass er die Notwendigkeit von »administrative research« durchaus erkenne.100 Doch gleich darauf führte er als negatives Beispiel eine vom IfS durchgeführte empirische Altersuntersuchung an. Bei dieser sei zwar versucht worden, kritische Gesellschaftstheorie und empirische Sozialforschung zusammenzubringen. Die kritischen Fragen seien aber letztlich herausgefallen, weil sie nur unzureichend in »research terms« übersetzt werden konnten. Die Ursache für das Scheitern eines derartigen kollektiv-holistischen Forschungsansatzes war für ihn, dass sich die empirischen Sozialforscher zu wenig um die Verfeinerung ihrer Methoden bemühten.101 Nicht die theoretischen Annahmen seien anzupassen, sondern die empirischen Methoden weiterzuentwickeln und zu präzisieren. Adornos Kritik an den Methoden der empirischen Sozialforschung resultierte aus der Annahme, dass Bürokratie, Verlangen nach Ordnung, blinde Quantifizierung und empiristische Faktenhuberei im Zusammenhang mit dem Totalitarismus stünden. Ende der 1950er Jahre gab er sich diesbezüglich pessimistisch. Er schrieb von der »Erfahrung der Negativität und einer Gesellschaft«, die ihren ausgesprochen hoch entwickelten Produktivkräften zum Trotz »die Tendenz hat, sich zu vernichten.«102 Wer diese Grundhaltung nicht teilte, musste eine plausible epistemische Alternative zu Adorno formulieren. Das jedoch war nahezu unmöglich, wie sich anhand der Kritik Noelle-Neumanns zeigte. Während des Treffens vertrat sie die Ansicht, dass Adornos theoretische Überlegungen sehr wohl durch die zur Verfügung stehenden empirischen Methoden überprüft werden könnten. Überhaupt könnten erst dadurch dessen Thesen als möglicherweise zu sehr von der sozialen Wirklichkeit entfernt kritisiert werden.103 Ihre Gegenargumentation musste allerdings in einem Zirkelschluss enden, denn für eine solche Überprüfung hätten Adornos gesellschaftskritische Gedanken auf einzelne logische Sätze und Hypothesen heruntergebrochen werden müssen. Diese wären dann durch empirisch erhobenes Wissen jeweils individuell zu prüfen gewesen. Noelle-Neumanns Kritik ging daher in die gleiche Richtung wie diejenige Otto Neuraths an Horkheimers Aufsatz »Der neueste Angriff auf die Metaphysik« von 1937. Letzterer hatte darin den Logischen Empirismus Wiener Prägung als gegenüber Kapitalismus und Faschismus willfährige epistemologische Ausrichtung abgeurteilt. Wie Neurath in den 1930er Jahren, so scheiterte nun auch

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Ebd., Bl.13. Ebd., Bl.25, 12. Ebd., Bl.14. Ebd., Bl.24. Ebd., Bl.12f.

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Noelle-Neumanns Versuch, mit diesem Argument bei Adorno zu punkten.104 Dieser hielt das vorgeschlagene Vorgehen schlicht für nicht umsetzbar. Die Entwicklung von Teiltheorien für isolierte gesellschaftliche Bereiche betrachtete er als künstliche Begrenzung, weil der »Voraussehbarkeit selber aus der Sache heraus bestimmte Grenzen gesetzt sind, die man nicht methodisch heraus eskamotieren kann.«105 Bestimmte theoretische Sätze ließen sich zudem nicht in die analytische Sprache der empirischen Sozialforschung übersetzen, was er am Beispiel folgenden Satzes darlegen wollte: »[W]ir leben in einer verdinglichten Gesellschaft, in der die Beziehungen zwischen den Menschen vermittelt sind durch die objektiven Verhältnisse, diese zugleich aber für die Menschen verdeckt sind«. Dieser beinhalte deshalb Wahrheit, weil »die zur Verfügung stehenden technischen Verfahren selbst allesamt nur Ausdruck jener Verdinglichung sind, die dabei erklärt werden soll, so daß man dabei mit Methoden das erkennen sollte, was den Methoden selbst immanent ist.«106 Adorno argumentierte weiter, dass Dahrendorfs Modell der kritischen Hypothesenbildung ein den Naturwissenschaften entlehntes Verfahren sei. Dieses sei für die Analyse der Gesellschaft nicht anwendbar, da soziale Phänomene und Beziehungen in sich selbst sinnhaft und nicht regelgeleitet seien.107 Wer seine analytischen Kategorien dem »Erkenntnisideal der gesamten Wissenschaft«, das selbst ideologisch sei, unterstelle, verwissenschaftliche diese Ideologie, die doch nur die Erklärung verhindern wolle, was wirklich sei.108 Damit entzog er jeglicher Kritik an seinen theoretischen Überlegungen zwar den Boden. Zugleich aber mussten Noelle-Neumann und Dahrendorf dieses Argument als Bestätigung ihrer Ansicht auffassen, dass seine Theorie eine unbewiesene Weltanschauung sei.109 Adorno wandte sich nicht nur gegen eine »positivistische« empirische Sozialforschung, sondern auch gegen alle theoretischen Ansätze, deren analytische Instrumente losgelöst vom Forschungsgegenstand – die aus dem kapitalistischen Tauschprinzip hervorgegangenen Widersprüche und Ungerechtigkeiten der Gesellschaft – entwickelt worden seien. Auch wenn sich Soziologie seiner Meinung nach keineswegs ausschließlich auf Kritik beschränken dürfe, sah er eine Theorie, die die Gesellschaftsverhältnisse nicht ausreichend erfassen und reflektieren konnte, gleichwohl einem Verdinglichungsprozess unterliegen. Als Beispiel führte er Parsons’ Handlungs- und Systemtheorie an, die »antagonistische Dinge 104 Albrecht/Prager, Angriff oder Erwiderung, S.24-31. 105 Archiv IfS, S 1: Tagungen 1950-1961, Ordner 1: 1950-1952: Protokoll der Sitzung vom 01.03.1957: »Zum Verhältnis von Soziologie und empirischer Sozialforschung«, Bl.1-29, hier: Bl.6. 106 Ebd., Bl.9. 107 Ebd., Bl.19. 108 Ebd., Bl.23. 109 Ebd., Bl.7.

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auf einen Generalnenner« bringe.110 Die Frage aber, welche Kriterien für eine Theorie ausschlaggebend sein sollten, die sowohl auf Faktenwissen beruhte, von dem Forschungshypothesen abgeleitet werden konnten, als auch eine kritische Perspektive erlaubte, blieb auf dem Frankfurter Treffen ungelöst. Zwar warf Lieber diese Frage auf. Er kritisierte in diesem Kontext Dahrendorfs Hypothesen-Modell, da ihm fraglich schien, ob Hypothesen zur Erforschung empirischer Sachverhalte aus »den Konzeptionen der Gesellschaft« ableitbar oder »nicht vielmehr zufällig aufgegriffene Vorstellungen« seien. Wie Adorno bestritt er, dass Hypothesen, Theorie und empirische Fakten in ein kohärentes Bezugssystem gesetzt werden könnten, schließlich könne das eine nicht aus dem anderen abgeleitet werden und umgekehrt.111 Auch Habermas’ Redebeitrag thematisierte das Verhältnis von Theorien und Hypothesen zum Forschungsgegenstand. Die Entscheidung darüber, ob eine gesamtgesellschaftliche Theorie oder eher Teiltheorien die Widersprüche der Gesellschaft besser erfassten, warf für ihn die Frage auf, ob von einem geschlossenen, mit logisch-deduktiven und naturwissenschaftlichen Verfahren erfassbaren Gesellschaftssystem ausgegangen werden könne, wie Dahrendorf dies postuliert habe – oder eben nicht.112 Scharf kritisierte er Dahrendorfs Ansicht, dass sich der Unterschied zwischen Sozial- und Naturwissenschaften in einer systematischen Theorie aufhebe. Eine solche Sichtweise resultiere daraus, dass Theorieentwicklung nicht vom Untersuchungsgegenstand her geleistet werde. Für ihn selbst gehörten die Untersuchungsgegenstände der Physik und diejenigen der Soziologie nicht zur selben Kategorie. So sei Gesellschaft eben nicht gesetzmäßig im Sinne Comtes aufgebaut und könne demnach nicht durch Anwendung nomothetischer Methoden erfasst werden. Vielmehr müssten das historisch gewachsene Soziale und seine Widersprüche in einer philosophischen, erfahrungswissenschaftlichen Gesellschaftstheorie abgebildet werden. Diese habe methodisch offen zu sein, weil dies der in sich selbst kontingenten und offenen gesellschaftlichen Entwicklung entspräche. Zudem müssten jene Elemente in dieser Theorie hervorgehoben werden, die der historischen Individualität der sozialen Phänomene gerecht würden und sowohl Aussagen über die Entstehung der Gesellschaft als auch Möglichkeiten ihrer Veränderung beinhalteten.113 Historische Begriffe waren aus Sicht von Habermas nicht operational verwendbar und könnten auch nicht auf beliebige Gegenstände bezogen werden. Als Grund hierfür führte er ihr doppeltes historisches Moment an, also ihre Bezüge auf die konkrete historische Situation, in der sie entstanden waren, einerseits und auf

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Ebd., Bl.8f. Ebd., Bl.2. Ebd., Bl.4. Ebd., Bl.5.

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den historischen Gegenstand selbst andererseits.114 Die formallogischen Begriffe des Kritischen Rationalismus und der funktionalistischen Systemtheorie erschienen ihm deshalb für die Erfassung und die Analyse von Gesellschaft als inadäquat. Sie seien ›beliebig‹ und damit auch instrumentell für politische Zwecke gleich welcher Couleur einsetzbar. Dahrendorf erwiderte darauf, dass erfahrungswissenschaftlicher Wissensgewinn für ihn die einzige empirisch widerlegbare und verifizierbare Erkenntnisform sei.115 In der Soziologie sei deshalb zwischen theoretisch-spekulativer Meinung und logisch nachvollziehbarer Erkenntnisgewinnung zu unterscheiden. Seien alle historischen Situationen individuell  – so hatte er Habermas verstanden  –, dann bedeute dies, dass »die Begriffe, mit denen wir eine historische Situation zu erfassen versuchen, auf keine andere historische Situation sich übertragen lassen«. Verallgemeinerbare theoretische Erkenntnisse könnten somit gar nicht gewonnen und auch keine Theorie entwickelt werden.116 Für Dahrendorf bestand zwischen analytischen Begriffen und Forschungsmethoden kein unmittelbarer Zusammenhang zu den konkreten Untersuchungsgegenständen. Zwar sei Adorno und Lieber zuzustimmen, dass Theorien nicht immer empirisch überprüfbar sind. Er halte aber dennoch daran fest, dass sie die Basis für Hypothesen bilden müssten, die dann empirisch falsifiziert und auf ihre logische Konsistenz hin geprüft werden könnten.117 Die Soziologie könne deshalb nicht allgemeine Gesellschaftstheorie werden, sondern müsse spezifische Teiltheorien entwickeln, die mit begrenzter Reichweite auf konkrete soziale Gegenstände angewandt werden könnten. Er setzte dabei eine logisch aufgebaute Hierarchie von Theorie, Hypothese und empirischer Überprüfung voraus. Stellten sich theoriegeleitete Hypothesen als falsch heraus, gelte dies auch für die Theorie.118 Der deutlichste Unterschied zwischen den beiden Lagern war letztlich, dass für Adorno und Habermas Theorie als eine Gesamtkonzeption dessen, wie Gesellschaft kritisch zu analysieren sei, einen ganz anderen Stellenwert hatte als für Dahrendorf. Letzterer fasste auch deshalb Habermas’ Einwände gegen sein Konzept als eine Grundsatzkritik auf, die sein »intellektuelles Experiment« von vornherein zum Scheitern verurteilen würde.119 Adornos Kritik der Meinungsforschung teilte Dahrendorf jedoch.120 Damit werteten sie Noelle-Neumann intellektuell ab, die nicht mehr als gleichwertige 114 115 116 117 118 119

Ebd. Bl.7. Ebd. Ebd., Bl.7f. Ebd., Bl.7, 3. Ebd., Bl.3f. Siehe Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle, S.765f. Archiv IfS, S 1: Tagungen 1950-1961, Ordner 1: 1950-1952: Protokoll der Sitzung vom 01.03.1957: »Zum Verhältnis von Soziologie und empirischer Sozialforschung«, Bl.1-29, hier: Bl.6. 120 Ebd., Bl.1f.

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Mitspielerin angesehen wurde. Beide warnten, dass die auftragsbasierte Umfrageund Meinungsforschung die Gefahr einer Trivialisierung und Funktionalisierung der Sozialwissenschaften für privatwirtschaftliche und politische Interessen berge. Mit ihrer Kritik an der Demoskopie standen sie Ende der 1950er Jahre nicht allein. So schrieb etwa Paul Wilhelm Wenger im Rheinischen Merkur, dass die Demoskopie Politiker und Bevölkerung zu einer »Anpassungsmoral«, einem »Sog nach unten« verführe.121 Abschätzig äußerte sich auch Adorno in einem Brief an Horkheimer vom 4. März 1957 im Rückblick auf das Frankfurter Treffen. Darin heißt es: »Nur die Noelle-Neumann hat so mindere Propaganda für ihren Laden gemacht, daß man es wirklich schon kaum mehr verantworten kann, sie zu so etwas zu bitten.«122 In der Tat hatte Noelle-Neumann die Meinungsforschung verteidigt. Diese sei keine »untergeordnete und uninteressante Sache«. Zudem hätten ihre Forschungsergebnisse reale Effekte auf Gesellschaft und Verwaltung. Entscheidend sei jedoch die Frage, wie die richtigen Grundannahmen über die Analyse menschlichen Verhaltens geschlussfolgert werden könnten, denn die Verwaltung »nimmt zahlreiche Maßnahmen vor unter Voraussetzung von bestimmten Sachverhalten, ohne zu prüfen, wie weit die Unterstellungen wirklich fundiert sind.«123 Wie Dahrendorf fragte auch Noelle-Neumann, inwiefern es überhaupt sinnvoll sei, gesellschaftskritische Elemente in die empirische Forschungspraxis einzubinden, wenn diese doch weder empirisch noch hypothetisch überprüfbar seien.124 Damit warf sie Adorno indirekt vor, die Methoden der Meinungs- und Umfrageforschung nicht verstanden zu haben: Wenn er meine, dass durch die Erfassung von Meinungen und Haltungen in Statistiken und deren Wiedergabe in Zahlen die Menschen zu Objekten herabgewürdigt würden, dann sei dies eine Konfusion dessen, was die Methoden der Meinungs- und Umfrageforschung wirklich leisteten. Diese würden die Menschen nämlich nicht selbst erfassen, sondern sie als Träger von sozialen Merkmalen untersuchen.125 Die Aussprache am 1.  März 1957 erbrachte keinen Konsens  – und das war auch nicht ihr Zweck. Vielmehr sollten Vertreter unterschiedlicher Ansätze in den westdeutschen Sozialwissenschaften an einen Tisch gebracht werden und debattieren, wie es der demokratischen Kultur des freien Meinungsaustauschs 121 Hoeres, Aneignung und Abwehr der Demoskopie, S.71-73. Zu den weiteren Kritikern zählten mit unterschiedlicher Nuancierung Paul Sethe, Wilhelm Hennis, Wolfgang Abendroth und Ernst Fraenkel. 122 Theodor W. Adorno an Max Horkheimer vom 04.03.1957. Zitiert nach: Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle, S.769. 123 Archiv IfS, S 1: Tagungen 1950-1961, Ordner 1: 1950-1952: Protokoll der Sitzung vom 01.03.1957: »Zum Verhältnis von Soziologie und empirischer Sozialforschung«, Bl.1-29, hier: Bl.10f. 124 Ebd., Bl.12. 125 Ebd., Bl.26.

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entsprach. Auch deshalb organisierte Adorno noch für das Sommersemester 1957 einen Vortragszyklus, der die beim Frankfurter Treffen verhandelten Themen aufgriff. Als Referenten fragte er sowohl Dahrendorf als auch Lieber an. Ersterer trug am 27. Mai über »Möglichkeit einer erfahrungswissenschaftlichen Soziologie« vor, Letzterer referierte am 26. Juni über den »Erfahrungsbegriff in der empirischen Sozialforschung«.126 Was sich jedoch an der Aussprache zeigte, war, dass die sozialempirische Wissensebene ihre ehemals dominante Position innerhalb der westdeutschen Sozialwissenschaften verloren hatte. In der Kritik der empirischen Sozialforschung sowie insbesondere der Umfrage- und Meinungsforschung waren sich – bis auf Noelle-Neumann – scheinbar alle Protagonisten einig. Für Habermas war die Demoskopie nichts weiter als eine »Hilfswissenschaft für die Verwaltung«, die mit ihren exakten, naturwissenschaftlich orientierten Methoden inhumane Konsequenzen nach sich ziehe.127 Und auch der Politikwissenschaftler Wilhelm Hennis warf der Meinungsforschung die Abschaffung der öffentlichen Meinung vor, suggeriere sie diese doch bloß. De facto aber mache sie etwas ganz anderes: Sie verabsolutiere die nichtöffentliche, massenmedial gesteuerte Einzelmeinung und gebe sie als öffentliche Meinung aus.128 Auf dem Frankfurter Treffen kündigte sich damit eine Grundsatzdebatte zwischen Vertretern eines geisteswissenschaftlichen, dialektisch-gesellschaftskritischen und denen eines nomothetisch-deduktiven, an formallogischen Kriterien der Falsifizierbarkeit orientierten sozialwissenschaftlichen Denkstils an.129 Die Hauptprotagonisten beider Richtungen – Adorno und Habermas auf der einen, Popper und Dahrendorf auf der anderen Seite  – sollten ab 1961 abermals die Gelegenheit haben, ihre Argumente auszutauschen.

11.2. Schelskys Ortsbestimmung der deutschen Soziologie 1959 Gerhard Schäfer betont, dass die Ortsbestimmung der deutschen Soziologie eine »Schlüsselstellung innerhalb des Oeuvres [Schelskys, F.L.] und in der Fachgeschichte der Soziologie der ersten beiden Nachkriegsjahrzehnte der Bundesrepublik« einnähme.130 Schelsky beabsichtigte ursprünglich, die Hauptthesen seines Buchs 1959 auf dem 14. Deutschen Soziologentag vorzutragen. Er zog sein Referat aber zurück, weil er vom DGS-Vorstand zurücktrat und mit der Anordnung der Vorträge nicht einverstanden war.131 Die wissenschafts- und 126 127 128 129 130 131

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Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle, S.769f. Moses, German Intellectuals, S.122, 126, 129f. Mergel, Zählbarkeit, Stabilität und die Gesellschaft als solche, S.111f. Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle, S.770. Schäfer, Helmut Schelsky und die Soziologie, S.184. Ebd., S.184-186.

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vergangenheitspolitisch bedingten Spannungen bildeten den Hintergrund dieses Vorfalls. Am Anfang seiner Ortsbestimmung stellte Schelsky zunächst fest, dass sich die Soziologie mittlerweile als Wissenschaft mit allseits anerkanntem gesellschaftlichem Nutzen etabliert habe.132 Das mochte zwar richtig sein, war allerdings in seinen Augen vor allem eine »Selbstpropaganda der Soziologie«. Die daraus resultierenden Rückwirkungen auf die Soziologie betrachtete Schelsky mit Unbehagen. Bestes Beispiel für negative Rückkoppelungseffekte auf eine Disziplin, die sich als sozial relevant etabliert hatte, war für ihn die Psychologie. Diese habe durch ihre Anwendungsorientierung »ihren Charakter als eine der geistig bewegtesten Disziplinen der modernen Wissenschaft weitgehend eingebüßt«. Gleiches gelte für die Betriebswirtschaftslehre. Auch hier werde die Entwicklung neuer theoretischer Ansätze durch die reine Anwendung verhindert.133 Wie Horkheimer und Adorno befürchtete er angesichts der zunehmenden Vergesellschaftung sozialwissenschaftlicher Fächer durch die Anwendungsorientierung ihres Wissens einen Stillstand in der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung. Eine zweite Gefahr für die Soziologie lag für Schelsky darin, dass sie durch Überreflexion und zu abstrakte Bestimmung ihrer Methoden wie Gegenstände Letztere auflöse. Auch Ende der 1950er Jahre bestehe keine Klarheit darüber, ob die Soziologie »einen eigenen, autonomen wissenschaftlichen« Gegenstand besitze oder nicht eher »ein Denk- und Forschungsaspekt sei, den man auf die Gegenstände aller anderen Wissenschaften mehr oder weniger zusätzlich zu richten habe«.134 Die moderne Soziologie allein von ihren Gegenständen her zu bestimmen, sei deshalb unmöglich, sie müsse auch »in ihren sozialen Zielen« definiert werden. Mit seiner Ortsbestimmung wollte er deshalb eine »Soziologie der Soziologie« entwickeln, um einerseits die Spezifität der westdeutschen Sozialwissenschaften im Vergleich zu denen etwa in den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion herauszuarbeiten. Andererseits beabsichtigte er, Gegenstand und Beschaffenheit der westdeutschen Soziologie zu klären.135 Nach Schelskys Ansicht sei die Soziologie in Deutschland in einer Phase entstanden, als sich »Theorie und Problematik der liberalen Wirtschaftsgesellschaft mit der idealistischen Philosophie« verbunden hätten.136 Diese Verbindung zerfalle jedoch gegenwärtig. Nur noch wenige Gelehrte würden ein solches Konzept vertreten, unter ihnen Brinkmann, Mackenroth, Rüstow, Salin, Weippert, Plessner, Horkheimer, Adorno und Gehlen. Die deutsche Soziologie würde des132 133 134 135 136

Schelsky, Ortsbestimmung, S.5. Ebd., S.6. Ebd., S.7. Ebd., S.8f. Ebd., S.12.

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halb immer mehr zum selbstständigen Fach werden, wie dies in den Vereinigten Staaten bereits der Fall sei. An einer Einheit von Philosophie, Ökonomie und Soziologie halte nur noch die dogmatische sowjetische Wissenschaft fest.137 Institutionell stand die westdeutsche Soziologie für Schelsky immer noch zwischen Ökonomie und Philosophie. Das lasse sich schon daran ablesen, dass sie hier zu verschiedenen Fakultäten gerechnet wurde, den rechts- und staatswissenschaftlichen und wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen auf der einen Seite, den philosophischen auf der anderen. Nach 1945 sei die Soziologie allerdings tendenziell eher den Wirtschaftswissenschaften zugeordnet worden.138 Auch die epistemische Matrix der westdeutschen Soziologie sei ambivalent: Einerseits sei sie »funktionsanalytische Erfahrungswissenschaft«, die meist als empirisch-quantitative Sozialforschung daherkomme. In dieser Form sei sie jeweils als Spezialdisziplin definiert, wie etwa die Industriesoziologie, Familiensoziologie und Agrarsoziologie. Jene »Bindestrich-Soziologien« seien besonders in den Vereinigten Staaten ausgeprägt. René König habe diese als Soziologie, »die nichts als Soziologie ist«, bezeichnet.139 Für sie sei allein die Methode konstitutiv. Dies aber berge die Gefahr, dass sich die empirische Sozialforschung »rückhaltlos ihren Wertungen« unterwerfe, was letztlich zur »Exaktheit eines Wissens von Banalitäten« führe.140 Auf die andere Seite stellte Schelsky die sozial- oder kulturphilosophisch ausgerichtete Soziologie. Deren Anliegen seien »Kulturanalyse und Zeitkritik« mit universalem, orientierendem Anspruch. Problematisch sei bei den verschiedenen Arten der Sozialphilosophie, dass sie in seinen Augen zu bloßen Meinungssystemen geworden seien.141 Schelsky kam zu dem Schluss, dass »keine einheitliche und einigermaßen verbindliche Wissenschaftsgrundlage« der Soziologie in Westdeutschland und auch keine »entwicklungsleitende Programmatik« existiere. Problemstellungen würden vielmehr »privatisiert und beliebig aufgegriffen.«142 Jeder, »der sich heute in ein anderes Wissensfach nicht klar einfügt«, könne sich in Westdeutschland »beliebig als Soziologe bezeichnen«,143 was »profunden Dilettantismus« nach sich ziehe. Er

137 Ebd., S.13f. Vgl. Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle, S.782f. 138 Schelsky, Ortsbestimmung, S.18. Schelsky wollte in den späten 1960er Jahren, als er vom Erziehungs- und Kultusminister Nordrhein-Westfalens als Planer einer Reformuniversität in Ostwestfalen eingesetzt wurde, diesem Zustand entgegenwirken, indem er für die neue Universität Bielefeld eine eigene soziologische Fakultät plante, die erste ihrer Art in Westdeutschland. 139 Ebd., S.19f. 140 Ebd., S.21. 141 Ebd., S.21-24. 142 Ebd., S.25. 143 Ebd., S.30.

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stimmte damit König und Dahrendorf zu, die der westdeutschen Soziologie 1955 und 1959 Provinzialismus attestiert hatten.144 Schelsky sah in dieser Fragmentierung der westdeutschen Soziologie aber auch eine Chance dafür, gegenüber der »funktionalisierten Empirie der USASoziologie« eine eigenständige Position zu entwickeln. Aus seiner Sicht bot jener Dilettantismus die Gelegenheit für eine fruchtbare Grundlagendiskussion. Immerhin würde die westdeutsche Gesellschaft immer noch hohe Erwartungen an die Soziologie stellen. Man erwarte sich von ihr »eine Versöhnung der Tatsachenerfahrung, die man erst durch sie zu erhalten hofft, mit einer universalen Sinndeutung und denkerischen Bewältigung unserer ganzen sozialen Umwelt und unseres sozialen Lebens.«145 Wie Horkheimer und Adorno wollte Schelsky nicht, dass sich die westdeutsche Soziologie vollständig an die in vielen europäischen Ländern als vorbildlich angesehene amerikanische Soziologie vollständig anpasste. Schließlich sei Letztere aus den »eigentümlichen Wurzeln der nordamerikanischen Gesellschaftsverfassung« erwachsen und entwickle von dort her ihre Problemstellungen und Ansätze.146 Er beklagte zweierlei: Zum einen sah er einen Hang zum Kopieren der amerikanischen soziologischen Standards. Bessere epistemische Übersetzungsleistungen würden dagegen die Entwicklung eigener Ansätze ermöglichen. Zum anderen kritisierte er den »Mangel an produktiver Diskussion«, an »einer eigentlichen Fachdiskussion«.147 Dies beruhe in seinen Augen vor allem auf persönlichen Animositäten.148 Die Ursache für die teils sehr persönlichen Zwistigkeiten führte Schelsky auf die eigentümlichen Entwicklungen Deutschlands und seines Intellektuellen- wie Wissenschaftsfelds seit der Weimarer Republik zurück. Soziologie, Philosophie und Ökonomie der 1920er Jahre seien von ideologisch-weltanschaulichen sowie aggressiven Kämpfen um Ideen und Ordnungsvorstellungen charakterisiert gewesen. Diese Situation sei aus den »damals radikalen gesellschaftlichen Wandlungen der ersten Nachkriegszeit« hervorgegangen, wobei sich die verschiedenen Akteure unterschiedliche politische oder soziale Allianzpartner gesucht hätten, um den Kampf für sich zu entscheiden.149 Schelsky widersprach dabei König, der diese Entwicklung »um 1933 brutal zum Stillstand gebracht« sah. Eine solche Deutung sei »ein Fehler, den sich gerade eine wissenschaftsgeschichtliche oder -soziologische Betrachtung am wenigsten leisten dürfte.«150 Dabei wolle er die 144 145 146 147 148 149 150

Ebd., S.25. Vgl. Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle, S.783. Schelsky, Ortsbestimmung, S.30f. Ebd., S.26. Ebd., S.32. Ebd., S.33f. Ebd., S.35. Ebd., S.36.

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»Brutalität der Verfolgung, was das menschliche Schicksal vieler deutscher Soziologen betrifft, die als Juden, als Kommunisten oder Sozialisten, aber zuweilen auch als konservative Oppositionelle zur Emigration gezwungen wurden«,151 nicht banalisieren. Rein wissenschaftshistorisch müsse gleichwohl festgehalten werden, dass die Themen der deutschen Soziologie zu diesem Zeitpunkt durchgespielt und die Fronten erstarrt gewesen seien, worin sie »übrigens eben der deutschen sozialen und politischen Situation« entsprochen habe, »die den Nationalsozialismus zum Zuge kommen ließ.«152 Diese eigentümliche Lage der westdeutschen Soziologie am Ende der 1950er Jahre wollte Schelsky durch die Analyse von intellektuellen Positionen, Grabenkämpfen und den Biografien der jeweiligen Akteure ergründen. Er identifizierte dabei vier »Schicksalsgruppen«: 1) die älteren Gelehrten wie von Wiese, Brinkmann oder Alfred Weber, 2) die Remigranten wie Horkheimer, Adorno und Plessner, 3) jene Soziologen, die wie Schelsky selbst während der NS-Zeit in Deutschland geblieben waren, und schließlich 4) die jüngere Generation der »Flakhelfer«, zu denen er Habermas und Dahrendorf rechnete.153 Die persönlichen Animositäten zwischen diesen Gruppen deckten sich laut Schelsky zwar nicht mit den epistemischen Differenzen innerhalb der westdeutschen Sozialwissenschaften. Grundsätzlich sei aber zu konstatieren, dass »die letzten 50 Jahre Geschichte der deutschen Soziologie nicht nur in Büchern, sondern in persönlichen Lebensschicksalen von großer Härte, ja mit Leben und Tod der sozialen Denker aus Deutschland geschrieben worden sind.«154 Weiter sei festzustellen, dass 1959 die beiden mittleren, »in ihren Lebensschicksalen antagonistischen Gruppen von Gelehrten gemeinsam das Fach Soziologie in Deutschland tragen müssen«. Daraus hätten sich zwei »Fehlhaltungen« ergeben: Zum einen die Naivität, »so zu tun, als existiere diese Spannung nicht«, zum anderen das Ressentiment, die Soziologie als Fach betreffende sachliche Entscheidungen wie Stellungnahmen mit dem jeweiligen persönlichen Schicksal zu vermengen und sie aus der so entstehenden Gruppen- und Frontenbildung heraus abzuleiten.155 Schelsky charakterisierte diese Situation als »nachideologisches Vakuum in der deutschen Soziologie«. Er beklagte die Praxis ideologischer Anschuldigungen als »Nazi« oder »Kommunist«, für die aus dem Kontext gerissene Zitate älterer Publikationen einzelner Protagonisten veröffentlicht würden. Dies führte er darauf zurück, dass die Ankläger wohl davon ausgingen, dass nur sie ihre Hal151 152 153 154 155

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Ebd., S.36f. Ebd. Ebd., S.39-41. Siehe auch Schäfer, Helmut Schelsky und die Soziologie, S.194-199. Schelsky, Ortsbestimmung, S.41. Ebd., S.42.

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tung geändert hätten, nicht aber ihre Gegenspieler.156 Die Verankerung der Soziologie im westdeutschen demokratischen Staat und ihre tragende Rolle in demselben sah Schelsky dabei als Elemente, die eine offene Thematisierung dieser Problemlage gerade verhinderten. Die Soziologen müssten sich auf »das demokratische Moderato beschränken«, was dazu führe, dass Diskussionen mit »totalitären, nationalistischen oder sozialistischen Extremisten« nur noch über Staats- und Gesellschaftsgrenzen hinweg möglich seien.157 Ergebnis dieser Lage sei die Erschütterung des Glaubens an die Vorbildfunktion und universale Bedeutung der Soziologie sowie »der sozialen Gestaltung, der sozialen Besinnungen und Entscheidungen«: »Die ›unbewältigte Vergangenheit‹ ist eine unbewältigte Gegenwart, eine nicht ergriffene Zukunft.«158 Nach seiner biografiehistorischen Herleitung der Problemlagen der westdeutschen Soziologie schilderte Schelsky in seiner Ortsbestimmung die Situation der empirischen Sozialforschung und der soziologischen Theoriebildung. Zudem ging er auf Professionalisierungstendenzen ein. Dabei sah er die empirische Sozialforschung nicht als Subfach der Soziologie, sondern als »Richtungsunterscheidung«, die – darin war er sich mit Adorno einig – die anderen Aspekte des Fachs notwendig ergänzen sollte.159 Kritisch äußerte er sich zu Adornos Aufsatz über die empirische Sozialforschung, der sich zu einseitig auf die »Meinungsforschung amerikanischen Ursprungs« und die »sozialpsychologische empirische Forschung« kapriziere. Übersehen werde dabei, dass empirische Sozialforschung viel pluralistischer und komplexer sei.160 Adornos Vorwurf, dass die Empirie eine restaurative Wirkung habe, entgegnete er, dass für die während des NSRegimes in Deutschland gebliebenen Soziologen die Rezeption der amerikanischen empirischen Sozialforschung vor allem einem »antiideologischen Realitäts- und Orientierungsbedürfnis« entsprochen hätte.161 Zudem sei zu erwarten, dass in einer Gesellschaft, die durch »eine radikale und totalitäre ›Bewegung‹« einerseits, in der Nachkriegszeit aufgrund ihrer totalen Niederlage andererseits zu derart umfassenden sozialen Transformationen gezwungen worden sei wie Deutschland, »Bedürfnisse und Tendenzen der sozialen Restabilisierung« überwogen hätten.162 Grundsätzlich betrachtete Schelsky die empirische Sozialforschung »als Medium sozialer Veränderungsbestrebungen«. Dies zeige sich etwa an den Enqueten des Vereins für Socialpolitik, am Labour-Sozialismus in Großbritannien und am 156 157 158 159 160 161 162

Ebd., S.43f. Ebd., S.46f. Ebd., S.47. Ebd., S.49. Ebd., S.53. Ebd., S.55f. Ebd., S.58.

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amerikanischen New Deal. Sie stehe traditionell in enger Verbindung mit progressivem Denken und sozialer Reformpolitik.163 Allerdings gestalte sich ihr Verhältnis zu Politik, Wirtschaft, Bildungspolitik und Öffentlichkeit vielfach problematisch. Die Ergebnisse sozialempirischer Untersuchungen seien bislang oft zu wenig oder auf verzerrte Weise in die soziale Praxis umgesetzt worden. Mangelnde Übersetzungsleistungen sozialempirischen Wissens in gesellschaftliche Anwendungsbereiche seien etwa im Management, den Gewerkschaften oder in der Parteipolitik festzustellen. Besonders augenfällig sei die mangelhafte Implementation dieses Wissens in der Erziehungs-, Hochschul- und Berufspolitik.164 Großes Potenzial sah Schelsky in der durch die Empirie ermöglichten »Wirklichkeitserfassung«, die »ihrem Wesen nach jede ideologisch-gesinnungshafte totale soziale Revolution« verneine.165 Auch deshalb könne sie über den Eisernen Vorhang hinweg eine Ebene der Verständigung schaffen, wie seine Diskussionen mit Wissenschaftlern aus kommunistischen Ländern, die großes Interesse für die empirischen Sozialforschung bekundeten, gezeigt hätten.166 Die Grundlage hierfür bilde die reale Entwicklung der industriellen Gesellschaften und die mit diesen verbundenen sozialen Probleme, die weitgehend »gesinnungs- und ideologieneutral« seien. Somit wachse auch »in industriellen und sich industrialisierenden Gesellschaften mit totalitärer ideologischer Selbstdeutung« die Notwendigkeit, »diese sozialen Probleme in empirischer soziologischer Sachverantwortung zu erforschen und zu durchdenken.«167 Schelsky vertrat hier die Position strukturfunktionalistischer Konvergenztheoretiker. Diese gingen davon aus, dass bestimmte soziale Entwicklungen allen industriellen Gesellschaften ideologie- und politikneutral eingeschrieben seien. Wie schon in Bezug auf das Verhältnis von Remigranten und Dabeigewesenen schlug Schelsky hier einen versöhnenden Ton an. Die empirische Sozialforschung betrachtete er als Mittel, die antagonistischen ideologischen Lagen des Kalten Krieges zu überwinden, »sich friedlich zu verständigen und wissenschaftlich zusammenzuarbeiten«.168 Eine weitere positive Eigenschaft der empirischen Sozialforschung sah Schelsky in der Entsubjektivierung der primären Erfahrung der handelnden Akteure. Diese erfolge durch experimentierendes Denken, das eine wissenschaftlich begründete und kontrollierte »Beschreibung der Wirklichkeit« erschaffe, die er als den unmittelbaren Erfahrungshorizont des Einzelnen überschreitende »sekundäre Wirklichkeit« auffasste.169 Auch hier widersprach er Adorno, der der em163 164 165 166 167 168 169

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Ebd., S.59. Ebd., S.63. Ebd., S.67. Ebd., S.67f. Ebd., S.68. Ebd. Ebd., S.68f.

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pirischen Sozialforschung das bloße Reproduzieren von Fakten vorwarf. Er bezichtigte ihn gar »eines naiven Realismus der Primärerfahrung, die gerade für den Bereich des belangvoll Sozialen nicht zu halten ist.«170 Adornos Methodenkritik nahm er allerdings ernst. Er warnte »vor einer Verzerrung des Gegenstandes, einer Entstellung des wissenschaftlichen Faktums«, durch die Erhebungsmethode. Hier werde »von den Empirikern in einer ›zweiten Naivität‹, die eine Methodennaivität ist, viel gesündigt«.171 Dies sei etwa der Fall, wenn Meinungsforscher davon ausgingen, dass Personen, die in Befragungen keine Meinung äußerten, auch keine hätten. Er forderte für die empirische Sozialforschung deshalb eine dauerhafte kritische Methodenreflexion ein.172 Harsch widersprach er dagegen Adornos Positivismusvorwurf: Für Schelsky existierte die soziale Wirklichkeit, die durch »experimentelles und entsubjektivierendes Denken und Forschen« sozialwissenschaftlich erfahrbar gemacht werden könne. Den Glauben daran wollte er nicht als »Positivismus« denunziert sehen, denn dies sei der Glaubensgehalt »aller modernen Wissenschaftlichkeit«.173 Diesen Glauben aufzugeben hieße, »auf Wissenschaft verzichten und in der subjektiven Primärerfahrung bleiben: Kunst statt Kunstwissenschaft, Religion statt Religionswissenschaft, Politik statt Politikwissenschaft usw. treiben.«174 Gerade der Wissenspositivismus des 19.  Jahrhunderts sei heute selbst in den Naturwissenschaften nur noch selten anzutreffen und werde in der gegenwärtigen Soziologie nirgends mehr vertreten. In diesem Punkt nehme »die Kritik erst eine Ideologisierung der empirischen Sozialforschung vor, um die Ideologie dieser Wissenschaftshaltung dann zugkräftig enthüllen zu können.«175 Seine Aussagen richteten sich eindeutig gegen Adorno. Schelsky warf ihm zum einen vor, nicht auf der Höhe der sozialwissenschaftlichen Methodendiskussion zu stehen. Er unterstellte ihm zum anderen eine wissenschaftlich unredliche Diffamierung der empirischen Sozialforschung und verwies diese Haltung in den Bereich der »Primärerfahrung«. Er zeichnete Adorno damit mehr als Literaten, denn als ernstzunehmenden Sozialwissenschaftler.176 Nach dieser Kritik arbeitete Schelsky wiederum zwei »Fehlhaltungen« in der westdeutschen Soziologie heraus, nämlich die »Angst vor Zahlen« einerseits und die »Überschätzung der Zahlen« andererseits:177 Während mathematisierte Quantifizierung auf der einen Seite eine »reichere Wirklichkeit dem eigenen 170 171 172 173 174

Ebd., S.69f. Ebd., S.72. Ebd., S.72f. Ebd., S.75. Ebd., S.76. Siehe auch Schäfer, »Über die naive Phase empirischer Sozialforschung hinaus …«, S.132. 175 Schelsky, Ortsbestimmung, S.78. 176 Siehe dazu Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle, S.783f. 177 Schelsky, Ortsbestimmung, S.79.

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Urteil des Lesers« offenlege, als dies die verstehende Soziologie vermöge, führe die »Überschätzung der Zahlen«, die einer positivistisch-nomothetischen Wissenschaftsauffassung entspringe, auf der anderen Seite »allzu leicht zu einem vordergründigen Instrumentalismus der Wirklichkeitsbewältigung und hebt oft die Distanz der Einsicht zum Erkannten auf«.178 Daher müssten quantitative Daten interpretiert werden. Dieses Verfahren sei dabei »nicht einfach als ›intuitiv‹ oder als ›Verstehen‹« zu bezeichnen, »da zur Grundlage dieser Wirklichkeitserfassung außer Einfühlung, Nachempfinden, Einfall usw. vor allem bereits eine wissenschaftliche Denaturierung der primären Welterkenntnis als Gesamthabitus des Denkens gehört.«179 Schelsky schlussfolgerte, dass es zur Verantwortung eines Sozialwissenschaftlers gehöre, erst die Komplexität der modernen Welt auf gründliche Weise sozialempirisch zu erfassen, bevor eine neue Theorie ausgearbeitet werden könne. Er fügte aber sogleich an, dass er »persönlich die Theorie für das Ziel der Empirie« halte.180 Dies ist Evidenz dafür, dass die sozialempirische Wissensebene Ende der 1950er Jahre bei den beiden Denkkollektiven hinter die theoretische zurücktrat und auf diese Weise ihre werthaltigen philosophischen Idiome wieder dominanter wurden. Auch hinsichtlich der soziologischen Theorieentwicklung schilderte Schelsky in seiner Ortsbestimmung zunächst die Problemlagen. Er referierte das zeitgenössische amerikanisch-englische Theorieverständnis am Beispiel einer Schrift von William J. Goode über »Die Beziehung zwischen der amerikanischen und der deutschen Soziologie«. Theorie sei in dessen Verständnis eine strukturierte Anordnung von miteinander zusammenhängenden allgemeinen empirischen Aussagen über die Wirklichkeit beziehungsweise ein »›Gebäude‹ von Hypothesen«, die empirisch überprüft würden. Zu den Vertretern dieser Richtung zählte Schelsky Parsons, Edward Shils und Robert K. Merton in den Vereinigten Staaten sowie Georges Gurvitch in Frankreich.181 Für ihn war diese Art der Theorie das »kategoriale analytische System der allgemeinen Soziologie«, das die Sozialempirie systematisiere und in den größeren gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang stelle und zugleich »eine begleitende Kategorienanalyse der dazu verwendeten Begriffe« biete.182 Dieses analytische System erschien ihm besonders dann fruchtbar, wenn es mit den Ansätzen »der von Scheler herkommenden ›philosophischen Anthropologie‹ in Deutschland«, also der Fokussierung auf die Kategorien »Status«, »Rolle« und »Institution«, kombiniert würde.183 178 179 180 181 182 183

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Ebd., S.80. Ebd., S.81. Ebd., S.84. Ebd., S.86f. Ebd., S.88. Ebd., S.91. Schelsky nannte als Vertreter eines solchen Versuchs Eduard Baumgarten, Gehlen, Konrad Lorenz, Mühlmann, Plessner, Adolf Portmann, Rothacker,

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Daraus leitete Schelsky seinen Vorschlag für eine kritische Theorie des Sozialen ab. Kritik wollte er dabei nicht als werthaltige Kultur- und Zeitkritik verstanden wissen. Sie müsse vielmehr im Rückgriff auf Kant »die Bedingungen eines Denkens und einer Wirklichkeit« kritisch reflektieren.184 Weil »kritische Theorie« als Begriff bereits besetzt war, wählte Schelsky die Bezeichnung »transzendentale Theorie der Gesellschaft«.185 Deren formale und materielle Aufgabe bestehe darin, »Sinn und Grenzen des Sozialen und des soziologischen Denkens zu bestimmen.« Sie sei insofern originell, da es sie bislang noch nirgends gäbe. Zwar hätten Horkheimer und Adorno im letzten Jahrzehnt einen solchen Anspruch erhoben, diesen jedoch bislang noch nicht eingelöst.186 Ihren transzendentalen Standpunkt und damit ihre Freiheit von der Soziologie könne diese formale Theorie nur erlangen, wenn sie materiell würde, also »wenn in ihr die Freiheit des Menschen von der Gesellschaft zum materiellen Thema der Theorie selbst wird.« Erst dadurch lasse sich »der Sinn der ›Gesellschaft‹ und des sozialen Daseins überhaupt« bestimmen.187 Eine solche Bestimmung der »Freiheit des Menschen gegenüber der Gesellschaft« stecke sowohl in den älteren universalen als auch in den modernen empirisch-analytischen Soziologien.188 Eine transzendentale Theorie der Gesellschaft müsse sich jedoch »sowohl von der sozialen Utopie und Politik als auch von einer bloßen Glaubens-Erklärung der Gesellschaft« abgrenzen.189 Zentrale Punkte waren dabei »die subjektive Reflexion und der Zwang des Sozialen«: Als erste Aufgabe einer transzendentalen Theorie der Gesellschaft sah Schelsky daher die Bestimmung dieser beiden Punkte »als das formale und materielle, begriffliche und praktische Schema der Auseinandersetzung des Menschen mit unserer Gesellschaft«. Erst von dieser Definition aus sei »der Teil der Soziologie zu entwickeln, der Soziales durch Nichtsoziales erklärt.«190 Dabei sei in manchen intellektuellen Gebieten das von ihm vorgeschlagene »theoretische Grundproblem einer Theorie des Sozialen, ›die Subjektivität und die Institution‹, mit Händen greifbar, etwa in der protestantischen Theo-

184 185 186 187 188 189 190

Hermann Weber und sich selbst. Siehe ebd., S.92. Siehe auch Schäfer, »Über die naive Phase empirischer Sozialforschung hinaus …«, S.136. Schelsky, Ortsbestimmung, S.94f. Ebd., S.95. Siehe auch Schäfer, Helmut Schelsky und die Soziologie, S.204. Schelsky, Ortsbestimmung, S.96. Vgl. auch Dahms, Positivismusstreit, S.315-318. Schelsky, Ortsbestimmung, S.98f. Siehe auch Schäfer, »Über die naive Phase empirischer Sozialforschung hinaus …«, S.134f. Schelsky, Ortsbestimmung, S.100. Ebd., S.101. Ebd., S.105.

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logie, wo die Unterscheidung Bonhoeffers, Hammelsbecks u.a. von Evangelium und Religion eben die gleiche Grundthematik offenbart.«191 Der Verweis auf das Transzendentale und die protestantische Theologie zeigt deutlich, dass Schelsky jenen Idealismus in gewandelter Form wieder aufnehmen wollte, von dem er sich nach 1945 zunächst vehement distanziert und den er für die Anfälligkeit deutscher Denker sowie besonders Studierender für den Nationalsozialismus verantwortlich gemacht hatte. In seinem ab Ende der 1950er Jahre verstärkt theoretischen Denken aktualisierte er jene bereits weiter oben dargestellten religiösen Elemente aus den 1930er Jahren, die er nun in eine systematisch-analytische Sozialtheorie einpasste. Als Letztes thematisierte Schelsky in seiner Ortsbestimmung das Verhältnis von Soziologie und Praxis. Im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten, wo Tendenzen einer stärkeren Ausrichtung der soziologischen Ausbildung auf einen Beruf zu beobachten seien, zeige die westdeutsche Soziologie auf praktischer Ebene durch vermittelte Anwendung ihre Wirkung. Sie wirke so durch andere Berufe hindurch. Letzteres präferierte Schelsky. Entsprechend kritisierte er Professionalisierungstendenzen der Soziologie an den westdeutschen Hochschulen. Durch die Einführung eines Studiengangs und der Prüfung zum Diplomsoziologen orientiere man sich unreflektiert am amerikanischen Vorbild und den Professionalisierungsabsichten der Hochschulen insgesamt, nicht aber an den wirklichen praktischen Bedürfnissen der westdeutschen Gesellschaft.192 Zu Letzteren zählte er, »daß man heute in allen Formen der Praxis ›die soziale Seite‹ als Problem und notwendig bewußt zu beachtenden Gesichtspunkt des Handelns entdeckt« habe, dass also etwa in der Theologie und Pädagogik, im Bibliothekswesen und in der Sozialfürsorge soziologische Schulung als notwendig erscheine.193 Er warnte jedoch sogleich vor der hinter diesem Bedürfnis lauernden Gefahr eines »Soziologismus«: So dürfe sich die als gesellschaftlich wichtig angesehene soziologische Praxis weder in einen »Bekehrungs- und Perfektionsdrang des Religionslehrers und des Moralisten« verwandeln, noch zur Weltanschauung oder Ideologie werden. Letzteres sei bei Soziologien zu beobachten, »die Geschichtsphilosophie und Revolutionsprogramm, Analyse und Normsetzung vereinten«.194 Statt der in den Vereinigten Staaten erfolgreichen anwendungsorientierten empirischen Sozialforschung als instrumentelle Funktionswissenschaft wollte 191 Ebd., S.109. Vgl. auch Helmut Schelsky, Ist Dauerreflexion institutionalisierbar? Zum Thema einer modernen Religionssoziologie [1957], in: ders., Auf der Suche nach Wirklichkeit, S.268-297, hier: S.268-275. 192 Schelsky, Ortsbestimmung, S.110-112. 193 Ebd., S.112. 194 Ebd., S.118.

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Schelsky für Westdeutschland die Soziologie als ›Wirklichkeitskontrolle‹ stärken.195 Die Aufgabe liege dabei vornehmlich in der Sichtbarmachung dessen, »was sowieso geschieht und was gar nicht zu ändern ist«.196 Allerdings dürfe es sich dabei nicht um die reine Bestätigung des Status quo als »Tatsachenfatalismus der bloßen Anpassung« handeln.197 Die soziologische ›Wirklichkeitskontrolle‹ solle vielmehr das Realitätsbewusstsein stärken, die Stabilität sozialer Institutionen sichern und der »Realitätsverschätzung vom Sollen, von den Normen und Zielen des Handelns her« entgegenwirken, die er zu den »großen Gefährdungen einer Welt« zählte, »die in ihrer Komplexität nicht mehr in unmittelbarer Erfahrung ausreichend erlebt werden kann, aber von einem allumfassenden Gestaltungs- und Planungswillen beseelt ist.«198 Schließlich gehöre die »Möglichkeit selbstkritisch-analytischer Kontrolle« zu den Grundlagen stabiler Institutionen wie ein »motivstarkes Rechts- und Programmbewusstsein«.199 Hinsichtlich des Anwendungsbezugs sozialwissenschaftlichen Wissens konstatierte Schelsky ebenfalls zwei »Fehlhaltungen«: Auf der einen Seite standen für ihn Praktiker wie Seelsorger und Ärzte, die sich von der Sozialwissenschaft rezeptartige Handlungsanweisungen erwarteten, also »Einsichten der Soziologie gleicherweise unmittelbar funktionalistisch in Praktiken« ableiten wollten. Darin würden sie auch noch insbesondere von Soziologen unterstützt, die sich als Planungswissenschaftler verstünden. Auf der anderen Seite sah er die Vertreter derjenigen angewandten Wissenschaften, »die in diesen Berufen wirksam sind« und die ihre Kompetenz durch die Soziologie beschränkt sahen und darauf »abweisend, verdächtigend, polemisch« reagierten.200 Diese Schwierigkeiten könnten nur durch eine Kooperation von analytischen und angewandten Wissenschaften überwunden werden. Aus »spannungsgeladenen Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Gegenstands- und zugleich Denkaspekten der wissenschaftlichen Zivilisation« sollten so Handlungssysteme hervorgehen.201 Schelskys Ortsbestimmung der deutschen Soziologie bildete den epistemischen Abschluss seines Hamburger Wirkens. 1960 wurde er auf den Lehrstuhl für Rechtssoziologie an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Münster berufen. Damit war gleichzeitig die Leitung der SFS in Dortmund verbunden, die er personell und organisatorisch grundlegend neu-

195 Ebd., S.122. 196 Ebd., S.125f. 197 Ebd., S.127. Siehe auch Schäfer, »Über die naive Phase empirischer Sozialforschung hinaus …«, S.137. 198 Schelsky, Ortsbestimmung, S.126. 199 Ebd., S.130. Vgl. Schelsky, Ist Dauerreflexion institutionalisierbar?, S.282-295. 200 Schelsky, Ortsbestimmung, S.132. 201 Ebd., S.144.

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strukturierte.202 Insbesondere distanzierte er sich von der älteren Generation um Gunther Ipsen und förderte jüngere Sozialwissenschaftler wie Niklas Luhmann.203 Am 23. Mai 1960 hielt er bei der Sitzung des Kuratoriums und der außerordentlichen Mitgliederversammlung der Gesellschaft Sozialforschungsstelle an der Universität Münster, Sitz Dortmund, e.V . einen Vortrag.204 Darin umriss er das neue und seiner Ansicht nach moderne Forschungsprogramm der SFS, das auf die gesellschaftlichen Aufgaben der 1960er Jahre ausgerichtet sei. Jetzt sei die »Phase einer naiven und unmittelbar angewandten empirischen Sozialforschung« vorüber.205 Die vor allem von den Amerikanern sowie mit Abstrichen auch von den Engländern, Franzosen, Skandinaviern und Niederländern nach Westdeutschland transferierte moderne empirische Soziologie habe in den frühen 1950er Jahren ihre Aufgabe darin gefunden, den Deutschen ein »Realitäts- und Orientierungsbedürfnis« mit antiideologischem Impetus zu vermitteln.206 Nunmehr müsse sie jedoch auf eine neue epistemische Grundlage gestellt werden, womit er die »Forderung nach echter Theorie« verband. Zu diesem Zweck müssten zugleich »die Aufarbeitung unserer traditionellen und geisteswissenschaftlichen Soziologie« geleistet und der bislang wenig erforschte komplexe Stand der Theorie in der amerikanischen Soziologie endlich zur Kenntnis genommen werden.207 Schelsky kritisierte zudem die in Westdeutschland gängige Praxis, größere Meinungserhebungen als Auftragsforschung an privatwirtschaftliche Institute auszulagern, »deren wissenschaftliche Exaktheit, deren methodische Grundlagen begreiflicherweise nicht kontrolliert werden können.« Die empirische Sozialforschung befinde sich auf einem Stand, »der etwa dem in der Chemie zu vergleichen wäre, wenn chemische Forschungen nur in betriebseigenen Forschungslabors, dem in der Nationalökonomie, 202 UA MS, Bestand 8 (Rektorat (ab 1970), Personalangelegenheiten), Nr.9061, Bd.1: Der Dekan der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Westf. Wilhelms-Universität an den Kultusminister des Landes Nordrhein-Westfalen vom 24.02.1959, betr. Berufungsliste »Soziologie«, Bl.1f., hier: Bl.1. 203 Adamski, Zwischen Soziologie und Wissenschaftsmanagement, S.62-66; Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft, S.254f.; Weyer, Westdeutsche Soziologie, S.223. 204 Helmut Schelsky, Über die Aufgaben empirischer Sozialforschung heute [1960], hrsg. und kommentiert v. Gerhard Schäfer, in: Endreß/Lichtblau/Moebius (Hrsg.), Zyklos 2, S.347-361. Siehe Schäfer, »Über die naive Phase empirischer Sozialforschung hinaus …«, S.143. 205 Schelsky, Über die Aufgaben empirischer Sozialforschung heute, S.347f. 206 Ebd., S.348. 207 Ebd., S.349. Vgl. Adamski, Zwischen Soziologie und Wissenschaftsmanagement, S.60f.

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wenn exakte Konjunkturforschung nur von den volkswirtschaftlichen Abteilungen der Unternehmen getrieben würden«.208 Die sozialwissenschaftlichen »Zyklotrone – es sind noch ganz kleine – sind in Privatbesitz und werden gewerblich genutzt, wir arbeiten noch mit Anlagen für 220 Volt.«209 Schelsky wollte also nicht weniger, als die Sozialwissenschaften in Orientierung an der natur- und technikwissenschaftlichen Grundlagenforschung der »Big Science« organisatorisch und finanziell neu aufzustellen: »[E]ntweder arbeiten wir jetzt großzügiger, im Geistigen und im Praktischen der Forschung, oder wir kehren zu der spekulativen geisteswissenschaftlichen Soziologie zurück und bleiben empirisch bei der Gelegenheitsforschung.«210 Soziologische Großforschung würde indessen die weitere Ausbildung von Spezialisten erfordern, die dann im Rahmen kooperativer Arbeitsformen an der SFS als sozialwissenschaftlicher Großinstitution Synthesen erarbeiten sollten.211 Schelsky wandte sich daraufhin drei Anwendungsebenen sozialwissenschaftlichen Wissens für praktische gesellschaftliche Belange zu. Er zählte hierzu 1) die »unmittelbare Detailanwendung«, 2) die »umfassende Situationsinformation für große Entwicklungs- und Planungsvorhaben« und 3) die »providentielle Forschung«. Die ersten beiden Ebenen krankten seiner Meinung nach daran, dass entweder die Praktiker, also etwa Politiker, Industrielle und Ärzte, zu unmittelbar und zu naiv sozialwissenschaftliches Wissen in ihre Problemstellungen einbauen wollten beziehungsweise sich erst sozialwissenschaftlich informierten, wenn sie die entsprechenden Prozesse in Politik, Wirtschaft oder im Gesundheitswesen bereits in Gang gesetzt hätten.212 Dagegen hielt er den providentiellen Ansatz deswegen für besonders attraktiv, weil die Sozialwissenschaft auf diese Weise eine »Wissenschaft von der Zukunft« werden könne. Allerdings sei deutlich, »daß wir für solche Forschung keine Aufträge empfangen können und keine Auftraggeber finden als uns selber.«213 Er rekurrierte hier auf die relative Autonomie der Soziologie und griff dabei auf Argumente zurück, wie sie in ähnlicher Weise auch Adorno bei seiner Kritik an sozialwissenschaftlicher Auftragsforschung gebraucht hatte.

208 Schelsky, Über die Aufgaben empirischer Sozialforschung heute, S.350. 209 Ebd. Vgl. auch Schäfer, »Über die naive Phase empirischer Sozialforschung hinaus …«, S.145f. 210 Schelsky, Über die Aufgaben empirischer Sozialforschung heute, S.351. 211 Ebd., S.351f. 212 Schäfer, »Über die naive Phase empirischer Sozialforschung hinaus …«, S.146-148. 213 Schelsky, Über die Aufgaben empirischer Sozialforschung heute, S.355.

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12. Zweierlei Vergangenheitsbewältigung: Kritik und Ignoranz Im Jahr, in dem Helmut Schelskys Ortsbestimmung erschien und der 14. Deutsche Soziologentag in Berlin stattfand, kam es zu einer Welle von antisemitischen Übergriffen. In der Nacht vom 24. auf den 25. Dezember brachten zwei junge Rechtsradikale den von roten Hakenkreuzen flankierten Spruch »Deutsche fordern Juden raus« an der Kölner Synagoge an. Zudem verunstalteten sie die Inschrift eines in der Nähe der Synagoge gelegenen Mahnmals für die Opfer der Gestapo. Im Gegensatz zu Freiburg im Breisgau und Düsseldorf, wo sich zu Beginn des Jahres ähnliche Taten ereignet hatten, berichtete die Presse dieses Mal ungewohnt intensiv. Der Generalbundesanwalt setzte sogar 1.000 DM als Belohnung für Hinweise auf die Täter aus.214 Das mediale Echo zog allerdings zahlreiche Nachahmungstaten nach sich. Bis zum 28. Januar 1960 kam es in Westdeutschland nach Angaben der Bundesregierung zu 470 Fällen von antisemitischem Vandalismus gegen Synagogen, Friedhöfe und Denkmäler, Angriffen auf staatliche Behörden sowie persönlichen Beleidigungen und Beschimpfungen. Bis Mitte Februar wurden weitere 148 Fälle gemeldet. Die antisemitische Welle zog sich noch bis ins Frühjahr hin. Auch aus London, Paris, New York, Tel Aviv und anderen Städten berichtete die Presse von ähnlichen Vorfällen. Daraufhin formierte sich eine demokratische Gegenwehr aus Jugendverbänden, Studierendenvereinigungen, Gewerkschaften und Kirchen, die gegen den Antisemitismus demonstrierte.215 Diese eher symbolische Geste half allerdings nicht darüber hinweg, dass nun auch in der internationalen Öffentlichkeit das Bewusstsein wuchs, dass Antisemitismus in der westdeutschen Gesellschaft nicht nur latent vorhanden war, sondern sich auch wieder öffentlich Bahn breche. Max Horkheimer reagierte panisch auf die Vorfälle und sah eine internationale Verschwörung am Werk, die womöglich auf die Vernichtung Israels zielte. Eine im Januar 1960 am IfS durchgeführte Umfrage ergab, dass 16 Prozent der Befragten mit antisemitischen Haltungen sympathisierten, wogegen 43 Prozent ablehnend reagierten und 24 Prozent sich indifferent zeigten.216 Als Siegfried Kracauer 1958 drei Tage lang durch die Bundesrepublik gereist war, hatte er Leo Löwenthal berichtet, die Deutschen seien »alle völlig formlos 214 Wolfgang Kraushaar, Adorno, die antisemitische Welle (1959/60) und ihre Folgen, in: Klaus Ahlheim/Matthias Heyl (Hrsg.), Adorno revisited. Erziehung nach Auschwitz und Erziehung zur Mündigkeit heute (Kritische Beiträge zur Bildungsforschung, Bd.3). Hannover 2010, S.9-37, hier: S.13. 215 Heiko Buschke, Deutsche Presse, Rechtsextremismus und nationalsozialistische Vergangenheit in der Ära Adenauer. Frankfurt am Main/New York 2003, S.312f.; Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle, S.875f.; Freimüller, Frankfurt und die Juden, S.261; Herbert, Geschichte Deutschlands, S.770f. 216 Freimüller, Frankfurt und die Juden, S.263.

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und unkanalisiert, sie haben kein Außen (und ein ungeordnetes Innen). Es ist alles da, aber nichts am Platz. Daher das unechte, gekünstelte Benehmen, die stilted language, die komplette Unsicherheit.« Zudem sei die »Ignoranz gegenüber der Vergangenheit bei den Jungen« unvorstellbar.217 Die Ereignisse von 1959/60 sollten ihm Recht geben. Sie zeigten zudem, dass nicht nur ein amorphes Bewusstsein und eine unbewältigte Vergangenheit der Deutschen vorhanden waren. Sie neigten potenziell vielmehr auch zu gewalttätigem Handeln. Vor diesem Hintergrund vollzog sich um 1960, wie Dirk van Laak feststellt, ein Stimmungswandel in der Gesellschaft von der »Gnade des Vergessens« zur eigentlichen »Vergangenheitsbewältigung«.218 Diese Entwicklung stand einerseits mit einem seit den späten 1950er Jahren in der Öffentlichkeit laut gewordenen Bedürfnis im Zusammenhang, gesellschaftliche Ambivalenzen kritisch zu diskutieren.219 Andererseits war das Interesse an einer Aufarbeitung der NSVerbrechen stark gewachsen. So forderten die Betroffenen der antisemitischen Übergriffe von 1959/60, Vertreter der jüdischen Gemeinden sowie weitere in- und ausländische jüdische Organisationen von der Bundesregierung, nationalsozialistisch belastete Personen aus Politik, Justiz, Pädagogik und Wirtschaft zu entfernen. Die polizeiliche und strafrechtliche Verfolgung der antisemitischen Vorfälle trug teilweise drakonische Züge, da sich die Justiz bemühte, angesichts der aufgeheizten öffentlichen Stimmung Härte zu zeigen.220 1961 erschien das erste große Werk über die Geschichte des Holocaust. Raul Hilbergs The Destruction of the European Jews gilt zwar heute als Standardwerk. Allerdings blieb es »über Jahrzehnte ohne nennenswerte Rezeption«, wie Nicolas Berg schreibt: In Westdeutschland ignorierte es die Historische Zeitschrift ebenso »wie die wichtigste zeitgeschichtliche Fachzeitschrift, die ›Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte‹, von weniger bedeutenden Organen ganz abgesehen.«221 Trotz dieser Ignoranz intensivierten sich Nachfragen zur Verantwortung und Schuld von NS-Tätern auch in der Bundesrepublik. 1958 wurde die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialis217 Zitiert nach: Später, Siegfried Kracauer, S.522. 218 van Laak, Gespräche in der Sicherheit des Schweigens, S.177. 219 Moritz Scheibe, Auf der Suche nach der demokratischen Gesellschaft, in: Herbert (Hrsg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland, S.245-277, hier: S.253. 220 Buschke, Deutsche Presse, S.314f. 221 Nicolas Berg, Lesarten des Judenmords, in: Herbert (Hrsg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland, S.91-139, hier: S.92. Vgl. dazu auch Fries, Die transatlantischen Anfänge, S.60f. Bereits 1953 war Gerald Reitlingers The Final Solution: The Attempt to Exterminate the Jews of Europe 1939-1945 erschienen, das deshalb kaum beachtet worden war, weil es angeblich wissenschaftlichen Standards nicht genügt habe. Siehe Berg, Lesarten des Judenmords, S.91; Lenhard, Friedrich Pollock, S.301. 1960 lag zudem das Buch von Wolfgang Scheffler über die Judenverfolgung im Dritten Reich vor. Siehe Freimüller, Frankfurt und die Juden, S.263.

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tischer Verbrechen in Ludwigsburg eingerichtet. Ihr oblag die Aufgabe, Vorermittlungen zu NS-Verbrechen einzuleiten. Zunächst standen dabei die Verbrechen in den Konzentrationslagern und durch die Einsatzgruppen im Fokus. Annette Weinke hält allerdings fest, dass die Zentrale Stelle »in einem ideologischen und mentalen Umfeld« operierte, »das sich durch Schuldabwehr gegenüber dem Westen und einer auf dem Gefühl der Überlegenheit beruhenden Abgrenzung gegenüber dem kommunistischen Gegner im Osten auszeichnete.«222 So war auch die Zusammenarbeit des hessischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer mit der Zentralen Stelle nicht konfliktfrei.223 Gleichwohl war das Thema nun im Bewusstsein der westdeutschen Öffentlichkeit angekommen und gewann durch den Eichmann-Prozess von 1961/62 zusätzliche Brisanz.224 Auch Horkheimer brachte eine kurze Beurteilung des Eichmann-Prozesses zu Papier. Er kritisierte, dass ein solcher Mensch, der derartige Verbrechen begangen hatte, nicht nach juristischen Maßstäben verurteilt werden könne. Eichmann sei »stolz auf seine Rolle bei der ›Endlösung‹, und nach dem herrschenden Unrecht war er im Recht. Wenn das Gericht in Israel als kompetent sich erweisen will, erklärt es sich als inkompetent.« Was immer dem Angeklagten in Israel geschehen werde, beweise »die Ohnmacht, nicht die Macht der ihres Rechts bewußten Juden, die Anmaßung, nicht die Bekundung staatlicher Autorität.«225 Eichmann, der im Falschen einer pervertierten modernen Gesellschaft dasjenige beflissentlich und ehrgeizig erfüllt hatte, was ihm aufgetragen worden war, könne als Einzelperson nicht zur Verantwortung gezogen werden. Noch viel weniger könnten dadurch die Opfer des Holocaust gesühnt werden: Die Vorstellung, Eichmann könne nach menschlichem Urteil seine Taten sühnen, sei »ein grauenvoller Hohn« auf die Opfer. Eher könne Horkheimer den Willen verstehen, »Rache zu üben, so arm sie angesichts der Taten bleiben müßte.«226 Von einzelnen Tätern könne also weder Sühne erwartet werden, noch hätte ein solches Verfahren irgendeinen positiven gesellschaftlichen Effekt.

222 Annette Weinke, Die Zentrale Stelle Ludwigsburg. Versöhnung durch Aufklärung der NS-Verbrechen?, in: Defrance/Pfeil (Hrsg.), Verständigung und Versöhnung nach dem »Zivilisationsbruch«?, S.465-480, hier: S.470, 473f. Vgl. auch Edgar Wolfrum, Täterbilder. Die Konstruktion der NS-Täter durch die deutsche Nachkriegsjustiz, in: Braun/Gerhardt/Holtmann (Hrsg.), Die lange Stunde Null, S.117-139, hier: S.118. 223 Volker Rieß, Fritz Bauer und die Zentrale Stelle: Personen zwischen Konsens und Dissens, in: Fritz Bauer Institut/Rauschenberger (Hrsg.), Rückkehr in Feindesland?, S.131-149. 224 Herf, Divided Memory, S.335. Siehe auch Herbert, Geschichte Deutschlands, S.771f. 225 Max Horkheimer, Zur Ergreifung Eichmanns [1960/67], in: ders., Vorträge und Aufzeichnungen 1949-1973 (Bd.8), S.156-159, hier: S.156. 226 Ebd., S.158.

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Letzteres sei nach Ansicht Horkheimers durch eine intensivere politische Bildung und Erziehung im demokratischen Sinne zu erreichen. Horkheimer war unmittelbar nach der antisemitischen Schmierwelle zum Mitglied einer zwölfköpfigen Kommission, die die Bundesregierung in staatsbürgerlicher Erziehung und Bildung beriet, gewählt worden und forderte strukturelle Änderungen des westdeutschen Schul- und Hochschulsystems.227 In einem 1960 gehaltenen Vortrag anlässlich einer Arbeitstagung des Instituts für Staatsbürgerliche Bildung in Rheinland-Pfalz forderte er, dass schon im Geschichtsunterricht ein größerer Wert auf die Sensibilisierung der Schüler für Ungerechtigkeiten gelegt werden sollte. Sie müssten möglichst früh begreifen, dass die Menschheitsgeschichte in großen Teilen »eine Geschichte der Verfolgungen ist.«228 In weiteren Vorträgen und Hörfunkbeiträgen sprach er sich noch im selben Jahr für die Überwindung von Vorurteilen aus und wollte Verständnis für jüdische Kultur schaffen.229 Die eigentliche Aufgabe der Erziehung sei hierbei, die Menschen für Unrecht überhaupt zu sensibilisieren, nicht nur für das der Juden. Sie sollten dazu gebracht werden, dass »sich in ihnen etwas empört, wenn der Einzelne, wer er auch sei, nicht als vernünftiges Wesen geachtet wird.«230 Die Passagen aus Horkheimers Vorträgen zeigen, dass die Bewältigung der NS-Vergangenheit und die Ende der 1950er Jahre einsetzenden Debatten über die demokratischen Grundlagen der Bundesrepublik eng mit der Kritik des bisherigen Bildungs- und Erziehungssystems zusammenhingen. Dessen Defizite wurden auch durch Vergleiche mit den Nachbarstaaten Anfang der 1960er Jahre öffentlich sichtbar. Denn weder die Strukturen der Schulen und Hochschulen noch die darin vorherrschenden sozialen Ungleichgewichte hatten sich seit der Weimarer Republik profund verändert.231 Was der Heidelberger Philosoph Georg Picht in einer Artikelserie von 1964 als »Bildungskatastrophe« bezeichnen sollte, hatte seine Anfänge im letzten Drittel der 1950er Jahre. Zu dieser Zeit drangen breite gesellschaftliche Kreise nachdrücklich auf eine Reform des westdeutschen Bildungssystems.232 Allerdings war es bei der Debatte zunächst nicht primär um eine Anhebung des Reflexionsniveaus von Schülern und Studierenden 227 Freimüller, Frankfurt und die Juden, S.263. Weitere Mitglieder waren Arnold Bergrstraesser und Hans Rothfels. 228 Max Horkheimer, Gedanken zur politischen Erziehung [1960/63], in: ders., Vorträge und Aufzeichnungen 1949-1973 (Bd.8), S.147-155, hier: S.153f. 229 Max Horkheimer, Über die deutschen Juden [1960/61], in: ders., Vorträge und Aufzeichnungen 1949-1973 (Bd.8), S.160-174, hier: S.160; ders., Über das Vorurteil [1960/61], in: ebd., S.194-200. 230 Horkheimer, Über die deutschen Juden, S.174. 231 Herbert, Geschichte Deutschlands, S.766. 232 Anne Rohstock, Von der »Ordinarienuniversität« zur »Revolutionszentrale«? Hochschulreform und Hochschulrevolte in Bayern und Hessen 1957-1976 (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Bd.78). München 2010, S.17.

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in Bezug auf die NS-Vergangenheit ihres Landes gegangen. Vielmehr hatte die Optimierung von Wissenschaft und Forschung im Rahmen des Wettlaufs um Ideen, Techniken und Methoden im Geist des Kalten Krieges im Mittelpunkt gestanden. Die geforderte intensivere Ausrichtung wissenschaftlichen Wissens auf gesellschaftlichen Nutzen und die Anhebung des wissenschaftlichen Niveaus sollten den allseits konstatierten Akademikermangel beseitigen helfen. Sie war aber auch Resultat einer Ökonomisierung bildungs- und wissenschaftspolitischer Argumente sowie der verstärkten Förderung von Natur- und technischen Wissenschaften.233 Diese Entwicklung rief die Kritik von führenden Geistes- und Sozialwissenschaftlern hervor. Adorno etwa hielt auf dem 14. Deutschen Soziologentag in Berlin einen Vortrag über die »Theorie der Halbbildung«. Er stellte zunächst fest, dass der allgemein festgestellte Niveauverlust im deutschen Bildungssystem auch mit der zunehmenden Überfüllung der Universitäten zu tun habe und vom allseits konstatierten Akademikermangel flankiert werde. Dies führe dazu, dass die Studierenden von den Dozenten nicht mehr ausreichend betreut werden könnten.234 Diese strukturelle Lage sei aber nicht allein auf die Mängel im Erziehungssystem und der Erziehungsmethoden zurückzuführen. Um zu erklären, dass »Halbbildung, aller Aufklärung und verbreiteten Information zum Trotz und mit ihrer Hilfe, zur herrschenden Form des gegenwärtigen Bewußtseins wird«, brauche es intensive theoretische Reflexion.235 So sei die Halbbildung im »Doppelcharakter der Kultur« angelegt, »dessen Balance […] nur augenblicksweise glückte« und der dem »unversöhnten gesellschaftlichen Antagonismus, den Kultur heilen möchte und als bloße Kultur nicht heilen kann«, entsprungen sei. Sie folge dem Prinzip der Anpassung, die Adorno als das unmittelbare »Schema fortschreitender Herrschaft« bezeichnete. Dieser gehe es um die »Eliminierung des Subjekts um seiner Selbsterhaltung willen«.236 Eine richtige Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse müsse zwangsläufig an den ungleichen Machtverhältnissen scheitern. Insofern werde auch der »Traum der Bildung, Freiheit vom Diktat der Mittel, der sturen und kargen Nützlichkeit« zur »Apologie der Welt« verfälscht, »die nach jenem Diktat eingerichtet ist.«237 Besonders ländliche Regionen betrachtete Adorno als Orte, an denen Halbbildung grassiere. Dort hätten der Sportplatz und das Fernsehen die Autorität der Bibel ersetzt. Dies schaffe eine Situation, deren Bedrohlichkeit im »Reich des 233 Ebd., S.18-25. Vgl. auch Wehrs, Protest der Professoren, S.40-45. Vgl. Kurig, Bildung für die technische Moderne, S.620. 234 Vgl. Rohstock, Von der »Ordinarienuniversität« zur »Revolutionszentrale«?, S.25-30. 235 Theodor W. Adorno, Theorie der Halbbildung [1959], in: ders., Soziologische Schriften I, S.93-121, hier: S.93f. 236 Ebd., S.96. 237 Ebd., S.96-98. Vgl. Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle, S.787-789.

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Hitler« verwirklicht gewesen sei.238 In den letzten 100 Jahren habe sich an den ökonomischen Verhältnissen, genauer »dem Antagonismus wirtschaftlicher Macht und Ohnmacht, und damit an der objektiv gesetzten Grenze von Bildung«, nichts grundlegend verändert. Gleichzeitig habe sich aber die Ideologie umso gründlicher transformiert, die diesen Antagonismus auch denen verschleiere, »welche die Last zu tragen haben.« Diese ideologische Überlagerung des Systems beschrieb er mit dem Terminus »Integration«. Deren Mechanismus sah er in Schelskys Postulat von der »nivellierten Mittelstandsgesellschaft« verwirklicht, das sich auf rein ideologische, sozialpsychologische oder allenfalls personelle Funktionen bezog, »nicht aber objektiv-strukturell« angelegt sei.239 Diese »totalitäre Gestalt von Halbbildung« sei nicht bloß mit Sozialpsychologie zu erklären, sondern ergebe sich auch aus der Erkenntnis, dass die Einrichtung des von der bürgerlichen Gesellschaft einmal versprochenen emanzipierten Bewusstseinszustands von ebenjener Gesellschaft verweigert und »auf die bloße Ideologie abgedrängt« werde. Das versöhnende Zusammengehen dieses Bewusstseinszustands mit der materiellen Wirklichkeit müsse deshalb misslingen. Die »Allherrschaft des Tauschprinzips« verhindere zudem, dass ein Individuum Formen und Strukturen empfange, mit denen es sich identifizieren und an denen es sich bilden könnte. Das »Verlangen nach Leitbildern« strafe »genau die Substantialität Lügen«, »nach der man die Hände ausstreckt. Dieser Zug des Faschismus hat ihn überlebt.« In diesem Sinne gäbe »es in dem Augenblick, in dem es Bildung gibt, sie eigentlich schon nicht mehr. In ihrem Ursprung ist ihr Zerfall teleologisch bereits gesetzt.«240 Die fortschreitende gesellschaftliche Integration institutionalisiere die Halbbildung, denn der Bildungsanspruch bei der breiten Bevölkerung wachse ebenso wie der Wunsch, zu einer Oberschicht zu gehören. Als Antwort darauf würden »immense Schichten ermutigt, Bildung zu prätendieren, die sie nicht haben. Was früher einmal dem Protzen und dem nouveau riche vorbehalten war, ist Volksgeist geworden.«241 Für Adorno war das »Halbverstandene und Halberfahrene« nicht die Vorstufe der Bildung, sondern ihr Todfeind: Elemente einer wirklichen Bildung waren für ihn solche, die das Bewusstsein reflektiert hatte, sonst blieben sie Aberglauben. Er verwies dabei auf die Ergebnisse seiner während seines Aufenthalts bei der Hacker Foundation verfassten Abhandlung The Stars Down to Earth, in der er die Astrologie kritisch untersuchte.242 Für solche Haltungen sei die Bildungsidee prädestiniert, weil die Astrologie ähnlich der nationalsozialisti238 239 240 241 242

Adorno, Theorie der Halbbildung, S.99. Ebd., S.100f. Ebd., S.103f. Ebd., S.109f. Ebd., S.111f. Vgl. Theodor W. Adorno, The Stars Down to Earth [1956], in: ders., Soziologische Schriften II, Bd.2, S.7-120.

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schen Rassenlehre »vom Individuum bloß ein Minimum verlangt, damit es die Gratifikation des kollektiven Narzißmus gewinne«. Die Attitüde, »in der Halbbildung und kollektiver Narzißmus sich vereinen, ist die des Verfügens, Mitredens, als Fachmann sich Gebärdens, Dazu-Gehörens.«243 Die Halbbildung sei »geistig prätentiös und barbarisch anti-intellektuell in eins«. Sie weise daher eine Wahlverwandtschaft mit dem Kleinbürgertum auf.244 All dies belegt, dass für Adorno die mit den antisemitischen Vorkommnissen von 1959/60 unausweichlich gewordene Thematisierung der deutschen NSVergangenheit nur über eine Anhebung des Bildungs- und Reflexionsniveaus zu erreichen war. Halbgebildete konnten in seinen Augen diese Reflexionsanstrengung nicht nur nicht leisten. Sie seien sich deren Notwendigkeit womöglich gar nicht bewusst, weil sie selber faschistische Ideologeme unbewusst weitertrügen. Den Zustand des Bildungsniveaus sowie des Schul- und Hochschulsystems beklagte etwa zur gleichen Zeit auch Schelsky. Die von diesem vorgeschlagenen Reformkonzepte verfolgten allerdings ganz andere Absichten als Adorno: Schelsky wollte die westdeutsche Wissenschaft für die Anforderungen der enorm gestiegenen Komplexität der modernen Gesellschaft konkurrenzfähig machen. Auschwitz als elementarer Reflexionspunkt höherer Bildung spielte für ihn keine Rolle. Genau in diesem Schweigen über die deutsche Vergangenheit lag die große Kluft zwischen den beiden Denkkollektiven in erziehungspolitischer Hinsicht begründet. Sie tat sich Ende der 1950er Jahre auf und sollte sich in den Folgejahren weiter vertiefen.

12.1. Auschwitz als Angelpunkt demokratischer Erziehung In einem im Juni 1958 auf dem Internationalen Kulturkritiker-Kongress in München gehaltenen Vortrag sah Horkheimer »die philosophischen Fächer in ein Stadium getreten […], in dem sie für anziehende Karrieren in ihrem eigenen Bereich kaum mehr Aussicht gewähren«. Deshalb eröffne ihre Partizipation an der Erziehung ein neues Tätigkeitsfeld; bei der »Erziehung des wirtschaftlichen Nachwuchses« müssten die Geisteswissenschaften, insbesondere die Philosophie, eine gesellschaftstragende Rolle spielen.245 Die europäische Philosophie sei im 20. Jahrhundert an ihr Ende gekommen. In den Ländern hinter dem Eisernen Vorhang sei sie nicht mehr als »bloße Apologie«.246 Weil sie keine praktische Funktion in der Gesellschaft mehr ausübe, verliere sie ihre Kraft. Dabei habe die »höchst bescheidene Teilnahme an der Erziehung oder der Beitrag zum Kultur243 244 245 246

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Adorno, Theorie der Halbbildung, S.114f. Ebd., S.118. Horkheimer, Philosophie als Kulturkritik, S.82. Ebd., S. 90.

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konsum« nur wenig mit dem »Bewußtsein der großen Philosophen zu tun, wie sehr ihr Werk zur Entfesselung der Wirtschaft beigetragen haben mag«. Illusion sei, dass die Philosophie als geschichtliche Kraft politische Praxis mitbestimmen könne, außer sie bestätige den Gegenwartszustand der Gesellschaft, als den Horkheimer das kontinuierliche »Wachsen der autoritären Verhärtung der Demokratie« ansah.247 Diese Ansichten zeigen nicht nur, dass die erziehungspolitische und theoriegenerierende Wissensebene Ende der 1950er Jahre im Frankfurter Denkkollektiv an Dominanz gegenüber der sozialempirischen gewonnen und sich dabei enger miteinander verzahnt hatten. Horkheimer trennte zudem scharf zwischen seinem und Adornos dialektisch-geschichtsphilosophischem Idiom sowie der Ende der 1950er Jahre zunehmend einflussreicheren analytischen Philosophie nach Wiener/Berliner und amerikanischem Modell.248 Letzterer sprach er den Status einer kritischen Philosophie beziehungsweise überhaupt einer Philosophie ab. Es handele sich dabei vielmehr um ein linguistisch-logisches Verfahren, das den Status quo der Gesellschaft bekräftige. In der Selbstwahrnehmung waren Horkheimer und Adorno die letzten, vom Aussterben bedrohten Dinosaurier, die angesichts der Entwicklungen der modernen Gesellschaft eine wirklich kritische Philosophie mit der von ihnen geforderten Radikalität betrieben. So hatte denn auch Adorno den raschen Weggang Dahrendorfs vom IfS bei Horkheimer beklagt, der seiner Ansicht nach »wohl der stärkste Beweis für unsere These« sei, »daß in einem strengen Sinn nichts nach uns kommt.«249 Kritische Gesellschaftsphilosophie als demokratische Erziehungspraxis bildete den Hintergrund von Adornos Vortrag »Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit« beim Koordinationsrat der Gesellschaft für Christlich-Jüdische

247 Ebd., S.90, 95. 248 Siehe Michael Beaney, The Historiography of Analytic Philosophy, in: ders. (Hrsg.), The Oxford Handbook of the History of Analytic Philosophy. Oxford 2013, S.3060, hier: S.44-52; Albert Newen, Analytische Philosophie zur Einführung. Hamburg 2005, S.11-13. George Reisch weist darauf hin, dass die vor allem in den Vereinigten Staaten dominante analytisch-logisch-empirische Philosophie der späten 1950er Jahre infolge der Kommunistenhetze der McCarthy-Ära von ihren sozialistischen politischen Elementen gereinigt wurde. Siehe George A. Reisch, McCarthyism in philosophy and the end of the unity of science ideology, in: Kamminga/Somsen (Hrsg.), Pursuing the Unity of Science, S.223-238, hier: S.227-229. Siehe auch ders., How the Cold War Transformed Philosophy of Science: To the Icy Slopes of Logic. Cambridge 2005. Die Entpolitisierung dieser Art der Philosophie könnte mit ein Grund dafür gewesen sein, dass Horkheimer und Adorno glaubten, sie sei gegenüber den gesellschaftlichen Zwängen willfährig. 249 Theodor W. Adorno an Max Horkheimer vom 17.08.1954, in: Theodor W. Adorno – Max Horkheimer. Briefwechsel 1927-1969 (Bd.IV), S.276-280, hier: S.277.

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Zusammenarbeit im Herbst 1959.250 »Mit Aufarbeitung der Vergangenheit« sei demnach in der westdeutschen Öffentlichkeit nicht gemeint, »daß man das Vergangene im Ernst verarbeite, seinen Bann breche durch helles Bewußtsein.« Vielmehr wolle man einen »Schlußstrich darunter ziehen und womöglich es selbst aus der Erinnerung wegwischen.« Der Gestus, »es solle alles vergessen und vergeben sein, der demjenigen anstünde, dem Unrecht widerfuhr, wird von den Parteigängern derer praktiziert, die es begingen.« Die Aktualität und Relevanz dieser Worte untermauerte er mit der Feststellung, dass der Nationalsozialismus nachlebe, entweder als unsterbliches Gespenst oder als Kontinuität im Bewusstsein der Menschen und in den Strukturen der Gesellschaft. Er betrachtete »das Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie als potentiell bedrohlicher denn das Nachleben faschistischer Tendenzen gegen die Demokratie.«251 Nicht die Existenz faschistischer Gruppierungen in der Demokratie stellte für ihn die eigentliche Gefahr dar, sondern die Kontinuität autoritär-ethnozentrischnationalistischer Einstellungen in der Bevölkerung. Diese impliziere die Verdrängung, Abwehr und Negierung der Opfer und der eigenen Schuld. Das sei der Fall, wenn diejenigen zu Siegern gemacht würden, die doch die Urheber dessen waren, worunter die Besiegten zu leiden hatten. Es gelte auch, wenn jene für die NS-Verbrechen zur Verantwortung gezogen würden, die Hitler bloß duldeten, statt »jene, die ihm zujubelten«, wenn also die »Ermordeten noch um das einzige betrogen werden« sollen, »was unsere Ohnmacht ihnen schenken kann, das Gedächtnis.«252 Adorno konstatierte, dass Demokratie in Westdeutschland inzwischen zwar als »ein Funktionierendes, das bis jetzt Prosperität gestattete oder gar förderte«, akzeptiert worden sei. Sie habe sich aber noch nicht so etabliert, »daß sie die Menschen wirklich als ihre eigene Sache erfahren, sich selbst als Subjekte der politischen Prozesse wissen.« Das liege daran, dass sie in Deutschland historisch nicht mit dem Hochliberalismus zusammenfiel und dass sie den Deutschen von den westlichen Alliierten aufgezwungen wurde. Demokratie werde in Westdeutschland als rein formales System der politischen Herrschaft empfunden und nicht als Ausdruck der Mündigkeit des Volkes. Gleichwohl – hier redete er den Thesen Schelskys sowie später Dahrendorfs und Schoenbaums zum Verhältnis von Nationalsozialismus, Modernität und postnationalsozialistischer Demokratie das Wort – habe »der antifeudale, durchaus bürgerliche Nationalsozialismus« durch »Politisierung der Massen, gegen seinen Willen, der Demokratisierung in 250 Strote, Lions and Lambs, S.261. Siehe auch Müller-Doohm, Adorno, S.583-585. 251 Theodor W. Adorno, Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit [1959], in: ders., Kulturkritik und Gesellschaft II, S.555-572, hier: S.555f. Vgl. Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle, S.871-873; Kraushaar, Adorno, die antisemitische Welle (1959/60) und ihre Folgen, S.9f. 252 Adorno, Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit, S.557f.

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gewissem Sinn sogar vorgearbeitet.«253 Dabei betonte Adorno, dass sowohl für den Nationalsozialismus als auch den Sowjetkommunismus »die gleichen Typen anfällig« seien. Die Differenz zwischen den beiden »totalitären Formen« bestehe jedoch darin, dass solange der Westen den Osten ökonomisch überflügelte, der Faschismus »größere Chancen bei den Massen« habe als der Kommunismus.254 Was Hitler bei den Deutschen bewirkt hätte, sei »die Steigerung des kollektiven Narzißmus« ins Unermessliche gewesen. Dies erlaube nur die Schlussfolgerung, »daß insgeheim, unbewußt schwelend und darum besonders mächtig, jene Identifikation und der kollektive Narzißmus gar nicht zerstört wurden, sondern fortbestehen«. Dabei hätten die Deutschen die Niederlage von 1945 »innerlich so wenig ganz ratifiziert« wie nach 1918.255 Adorno präsentierte seinen Zuhörern damit mehr oder weniger die Ergebnisse des »Gruppenexperiments«. Aus seiner Sicht hatte sich im Bewusstsein der Deutschen zwischen 1950/51 und 1959 nur wenig geändert. Aus dieser düsteren Diagnose leitete er mehrere Forderungen ab: Zuvorderst müsse Aufklärung über die Verbrechen des NS-Regimes dem Vergessen entgegenarbeiten. Dies fange im Elternhaus an, etwa wenn Eltern, »schon um sich selbst weißzuwaschen, von den guten Seiten reden und davon, daß es eigentlich gar nicht so schlimm gewesen sei.« Dringend notwendig sei zudem, dass durch eine Zusammenarbeit von Soziologie, Geschichte und Pädagogik die nationalsozialistische Herrschaft und deren Auswirkungen intensiver erforscht würden. Hier sei auch an die Kriminologie, die in Deutschland den modernen Standard noch nicht erreicht habe, und an die Psychoanalyse zu denken, »die nach wie vor verdrängt wird.«256 Hinsichtlich der Bekämpfung des Antisemitismus maß er gut gemeinten Begegnungen junger Deutscher und Israelis und anderen Freundschaftsveranstaltungen keine große Wirksamkeit zu. Er begründete dies damit, dass man dabei zu sehr voraussetze, dass der Antisemitismus »etwas Wesentliches mit den Juden zu tun« habe und »durch konkrete Erfahrung mit den Juden bekämpft werden [könne], während der genuine Antisemit vielmehr dadurch definiert ist, daß er überhaupt keine Erfahrung machen kann, daß er sich nicht ansprechen läßt.« Antisemiten sollten deshalb vielmehr unmittelbar aufgeklärt werden.257 Lorenz Jäger betont unter Bezug auf die entsprechende These Clemens Albrechts, dass zum einen mit Adornos Übernahme der Leitung des IfS 1960 eine »marxistische Verschärfung« in seinem sozialwissenschaftlichen Denken festzustellen sei. Zum anderen habe in dieser Zeit der »pädagogische Einfluß der 253 254 255 256 257

Ebd., S.559. Ebd., S.561. Ebd., S.564. Ebd., S.568f. Ebd., S.570f.

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Frankfurter Schule mit einer zweiten Zündung« begonnen.258 Adorno, so Jäger, habe »die Katastrophe von Auschwitz zum Angelpunkt seines Denkens« gemacht.259 Für Christian Schneider markiert Adornos Referat von 1959 eine »Zeitenwende« im Umgang mit der NS-Vergangenheit in Westdeutschland, weil er der gängigen Rede von der »Vergangenheitsbewältigung« eine wirkliche »Aufarbeitung der Vergangenheit« als kritisches Konzept entgegensetzte.260 Die angeführten Zitate zeigen deutlich, dass Adorno zwei kulturelle Praktiken ins Zentrum seiner Überlegungen stellte: Erinnern und Vergessen. Nach Schneider seien diese »zum unverrückbaren Sockel all jener vergangenheitspolitischen Optionen [geworden], die eine Unterscheidung zwischen den ›Anständigen‹ auf der einen und den ›Unverbesserlichen‹ und ›Ewiggestrigen‹ auf der anderen Seite vornahmen. Diese Konstellation wurde als Ritus ›staatstragend‹ und eignete sich auch für höchst konservative Stellungnahmen.«261 Gleichzeitig  – dies bestätigt die These einer erkennbaren »marxistischen Verschärfung« um 1960 – betone Adorno, dass nur die Abschaffung des kapitalistischen Tauschprinzips das »Nachleben des Faschismus« und dessen mögliche Wiederkehr verhindern könne. Auch habe er die damals in Westdeutschland weitgehend verfemte Psychoanalyse für die Bekämpfung antisemitischer und faschistisch-nationalistischer Stereotype operationalisieren wollen, von der er sich noch Mitte der 1950er Jahre distanziert hatte.262 Adornos Vortrag war demnach von Ambivalenz gekennzeichnet: Er changierte zwischen einem marxistisch-gesellschaftsphilosophischen Festhalten daran, dass die objektiven Strukturen der modernen Gesellschaft den Faschismus ermöglichten, und einem psychoanalytischen Subjektivismus, der nach den faschistischen Charakterlagen der Deutschen fragte. Schneider stellt zu Recht fest, dass dieser Text »als wegweisender aufklärerischer Text der Bundesrepublik« verstanden werden muss, weil er sowohl zeitgeschichtlich als auch pädagogisch wirksam geworden sei.263 Wirkung entfaltete Adornos Forderung nach einer wirklichen Aufarbeitung der deutschen NS258 Jäger, Adorno, S.233. 259 Ebd., S.253. 260 Christian Schneider, Kulturpessimismus und Aufklärungspathos. Zu den Ambivalenzen von Adornos »Aufarbeitung der Vergangenheit«, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 8 (2011), S.161-166, hier: S.161, URL: https://zeithistorische-forschungen.de/1-2011/4686 (Stand: 19.05.2021). 261 Ebd., S.162. Kritisch dazu Rolf Peter Sieferle, Finis Germania. Schnellroda 2017, S.63-86. 262 Schneider, Kulturpessimismus und Aufklärungspathos, S.163f. 263 Ebd., S.166.

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Vergangenheit insbesondere im SDS. Dieser forcierte im unmittelbaren Zusammenhang mit Adornos Vortrag die Identifizierung von NS-Tätern öffentlichkeitswirksam.264 Das Erinnern an die von den Nationalsozialisten Ermordeten stand dabei im Zentrum, so auch in Siegfried Kracauers 1964 erstmals erschienener Theorie des Films. Nach Auschwitz konnte es für diesen nur noch um »die Rettung der physischen Realität« gehen, die die Solidarität mit den Ermordeten mittels Erinnerung einschließe.265 Die Jahre zwischen 1960 und 1965 können als Wendepunkt im öffentlichen und politischen Umgang mit der NS-Vergangenheit der Deutschen gesehen werden. Sie waren von Prozessen gegen NS-Verbrecher und öffentlichen Debatten gekennzeichnet. Für Edgar Wolfrum stellt schließlich 1965 das »Übergangsjahr in der öffentlichen Erinnerung der Bundesdeutschen an Krieg und NS-Diktatur« dar.266 Und Schelsky und Gehlen? Sie gingen auf diesen Aufarbeitungsdiskurs nicht ein. Ihre Vergangenheitsbewältigung bestand vielmehr darin, Auschwitz und den Nationalsozialismus nicht zu thematisieren. Während Adorno Auschwitz zum Angelpunkt seiner kritischen Gesellschaftstheorie machte, bewältigten Schelsky und Gehlen die NS-Vergangenheit der Deutschen dadurch, dass sie diese durch technikphilosophisch-funktionalistische Überlegungen überdeckten.

12.2. Technischer Sachzwang und Bildungsreform Gehlen veröffentlichte 1957 sein populäres und kommerziell erfolgreichstes Buch Die Seele im technischen Zeitalter, das »sozialpsychologische Probleme der industriellen Gesellschaft« behandelte. Es sollte bis zu seinem Tod 1976 in 15 Auflagen erscheinen.267 In seiner sozialanthropologischen und techniksoziologischen Diagnose kam er teilweise zu ähnlichen Ergebnissen wie Adorno und Horkheimer mit ihrer Kritik der kapitalistisch-hochindustriellen Gesellschaft. 264 Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle, S.875-877. 265 Zitiert nach: Später, Siegfried Kracauer, S.534f. 266 Edgar Wolfrum, Die Suche nach dem »Ende der Nachkriegszeit«. Krieg und NSDiktatur in öffentlichen Geschichtsbildern der »alten« Bundesrepublik Deutschland, in: Christoph Cornelißen/Lutz Klinkhammer/Wolfgang Schwentker (Hrsg.), Erinnerungskulturen. Deutschland, Italien und Japan seit 1945. Frankfurt am Main 2003, S.183-197, hier: S.186. 267 Daniel Morat, Der lange Schatten der Kulturkritik. Arnold Gehlen über »Die Seele im technischen Zeitalter«, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 6 (2009) 2, S.320-325, hier: S.320, URL: http://zeithistorische-forschungen.de/2-2009/4606 (Stand: 19.05.2021). Vgl. Kurig, Bildung für die technische Moderne, S.418f. Das Buch ist eine erheblich erweiterte Version des bereits 1949 publizierten Aufsatzes »Sozialpsychologische Probleme der industriellen Gesellschaft«.

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Auch er sah, dass Technisierung und Industrialisierung mit totalem Anspruch vor geisteswissenschaftlichem Denken und der Psyche nicht haltmachten. Allerdings unterzog er diesen Befund keiner Fundamentalkritik. Vielmehr gab er sich als kühler Beobachter, glaubte er doch, gegen diese Entwicklung ohnehin nichts ausrichten zu können. Wie Christoph Asendorf festhält, sah Gehlen in der Kybernetik als »eine Wissenschaft ›höherer Ordnung‹ aufscheinen«, von der er sich »die Zusammenschau und gegenseitige Befruchtung mehrerer Wissenschaften« sowie Aufschlüsse über die menschliche Gehirn- und Nerventätigkeit erwartete.268 Gehlen beobachtete unter dem »Stichwort Primitivisierung« den »Verfall der subtilen Denkkultur im sprachlichen Bereich (nicht im mathematischen). Für andeutungsreiche, beziehungsvolle Denkfiguren, für den Ausdrucksreichtum des Nichtgesagten, für stilistische Feinheiten, für trennscharfe begriffliche Distinktionen mit ihren Obertönen fehlt es heute in sehr weiten Kreisen an Organen, alles muß eingängig, einprägsam und gestanzt geboten werden.«269 Diese Bemerkung ist als Kritik an der vorherrschenden amerikanisch-englischen Wissenschaftssprache in der empirischen Sozialforschung und der westlichen analytischen Philosophie zu lesen, die Klarheit, Eindeutigkeit und Einfachheit der Aussagen kennzeichneten. Wie Adorno betrachtete Gehlen diese Entwicklung als Verfallsprozess der deutschen philosophischen Tradition, die auch er viel mehr schätzte als die pragmatische und logisch-empirische Wissenschaftsphilosophie. Heute sei schwer vorstellbar, dass Kants Schriften in gebildeten Kreisen einmal wirklich gelesen wurden. Besonders die geisteswissenschaftlichen Professoren klagten nicht selten darüber, dass die Studierenden komplexe Gedankenreihen kaum mehr nachvollziehen könnten.270 Damit berührte er die auch von Adorno thematisierte Absenkung des Bildungsniveaus bei den zukünftigen Akademikern. Ebenfalls einig war er sich mit dem Frankfurter Philosophen und Soziologen darin, dass technisches Denken und der ganze Habitus der Technisierung in alle Gesellschaftsbereiche diffundierten. So sei das »Prinzip der vollen Beanspruchung«, die Vermeidung ungenutzter Energien, zu einem gesellschaftlichen Grundsatz geworden: »Gilt jemand als ›nicht ausgelastet‹, so werden die Aufga268 Christoph Asendorf, Die Künste im technischen Zeitalter und das utopische Potential der Kybernetik, in: Michael Hagner/Erich Hörl (Hrsg.), Die Transformation des Humanen. Beiträge zur Kulturgeschichte der Kybernetik. Frankfurt am Main 2008, S.107-124, hier: S.107. 269 Arnold Gehlen, Die Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft. Hamburg 1957, S.35. Siehe auch Kurig, Bildung für die technische Moderne, S.421f. 270 Gehlen, Die Seele im technischen Zeitalter, S. 35.

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ben neu verteilt.« Kybernetisch-technische Prinzipien, wie etwa das der »Normgrößen« und der »auswechselbaren Teile«, würden sich selbst »in den Stellenangeboten der Zeitungen« finden. Die »Konzentration auf den Effekt« finde heute breite Anwendung – von der gezielten chemischen Therapie der Ärzte bis zur wohlüberlegten Propagandaformel. Denn über die Menschen »des technischen Zeitalters hat der Gedanke des optimalen Effekts eine ganz zwingende Gewalt«.271 Was Adorno negativ mit »Integration« meinte, nämlich den gesellschaftlichen Mechanismus der Einpassung des Menschen in die Strukturen der Gesellschaft, bezeichnete Gehlen als »Anpassung«, eine Form, in welche die großen, verselbstständigten und entfremdend wirkenden »Superstrukturen der neuen Zivilisation« die Menschen eingliederten. Dieser Vorgang spiele sich mehrheitlich unbewusst ab, weil er in »einer Veränderung der Auffassungsweisen, der Denkformen, ja der Bewußtseinsstrukturen selbst besteht«.272 In der industriellen technischen Moderne beobachte er die Installierung einer neuen Superstruktur durch die »Subjektivierung und Aufweichung der Kunst, des Rechts – aber auch der Religion«. Sie zeichne sich durch überall hervorschießende »Ideen« und durch die »Diskussion« als »zugeordnete, angemessene Form der Außenverarbeitung« aus. Das »welthistorisch Neue« dieser Superstruktur sah Gehlen in der »Intellektualisierung und Subjektivierung einer vom Handeln abgefilterten Kultur«.273 Diese sekundäre Ebene begriff er als »Erfahrung zweiter Hand«. Zu ihren Vermittlungsinstanzen zählte er »die Reportage, die über den Lesersinn, das Augenbild oder das Gehör noch einwirken will« und einen »pistolenschußartigen Stil« entwickele, sowie Psychologie und Psychoanalyse als ideologisches Fundament des industriellen Zeitalters.274 Gerade die Psychoanalyse arbeite seiner Meinung nach als Individualpsychologie gut, als Sozialpsychologie jedoch schlecht.275 Psyche und Charakterlagen der Menschen würden nach Gehlen im industriellen Zeitalter dergestalt versachlicht, dass der Mensch »die Maßstäbe seiner Selbstachtung« zunehmend aus »den Gesetzen der Sache selbst« ableite: »Seine Pflicht wird bestimmt von den Wünschen und Forderungen der Auftraggeber und von den stummen und eigensinnigen Geboten der realen Materie.«276 Sogar moralische Stellungnahmen müssten »automatisch oder quasiautomatisch ab271 Ebd., S.36f. 272 Ebd., S.39. Im Rückgriff auf David Riesman konstatierte er, dass in den Vereinigten Staaten gar »der voll Angepasste« beziehungsweise der »›Überangepasste‹ (overadjusted)« und das konforme Verhalten bereits als »defizienter Verhaltenstyp« gelten würden. Siehe ebd., S.39f. 273 Ebd., S.58. Siehe auch Kurig, Bildung für die technische Moderne, S.422f. 274 Gehlen, Die Seele im technischen Zeitalter, S.61. 275 Ebd., S.100. 276 Ebd., S.104.

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laufen, wenn sie sicher, ohne Reflexionsstörung, ohne Selbstunsicherheit und mit Eigenwertsättigung erfolgen sollen.«277 Im Unterschied zu Adorno sah er diesen Automatismus als eine »ungemeine Entlastungsleistung«.278 Im Gegensatz zur konservativen Kulturkritik, die in den 1950er Jahren etwa Hans Sedlmayr, Romano Guardini und Max Picard geäußert hatten, war seine Sichtweise jedoch »entschieden zukunftsoffen«. Gehlens Buch, so Asendorf, sei »ein prominentes Symptom der […] kulturellen Verarbeitung des Potentials der neuen Wissenschaft der Kybernetik.«279 Ähnlich wie Adorno sah Gehlen allerdings klar, dass »der spezialisierte Funktionär mit der heutzutage so schnell erworbenen Fachbildung höheren Namens […] den Rückfall in die Barbarei« nicht verhindern könne.280 Denn in der modernen, automatisierten Gesellschaft sei der »Über-Routinier, der Mann, der sich über die Routine erhebt und sie durchstößt, indem er sie beherrscht, eine ihrer Schlüsselfiguren.« Die rationalen Zwecke der Gesellschaft hätten »heute eine ungeheure Ausdehnung, der Mensch wird bis ins Innere hinein verwaltet; und diese Übermacht vernünftig zur Geltung zu bringen, genügt die schnell erworbene Fachbildung.«281 Mit der Ansicht, dass mit der fortschreitenden Technisierung der modernen Gesellschaft ein neues Zeitalter begonnen habe, stand Gehlen nicht allein da. In den späten 1950er und frühen 1960er Jahren sah eine ganze Reihe von Soziologen, Philosophen, Kybernetikern und Zukunftsforschern ein Zeitalter der Maschinen und der Information heraufdämmern. Zu ihnen zählten auch Soziologen, Sozialanthropologen und Philosophen, die wie Gehlen dem vormaligen Leipziger Denkkollektiv angehört hatten, wie Gotthard Günther und Helmut Schelsky. 1957 war Das Bewusstsein der Maschinen erschienen, mit dem Günther eine »Metaphysik der Kybernetik« begründen wollte.282 Im gleichen Jahr veröffentlichte zudem Schelsky seinen Aufsatz »Die sozialen Folgen der Automatisierung«. Unter »Automatisierung« verstand er »Erzeugungsprozesse mit elektronischen Steuerungs- und Kontrollverfahren, im weiteren Sinne aber auch alle anderen Produktionsvorgänge mit nur teilautomatisch arbeitender Mechani277 Ebd., S.106. 278 Ebd., S.105. 279 Asendorf, Die Künste im technischen Zeitalter, S.107f.; Kurig, Bildung für die technische Moderne, S.426-428. Vgl. auch Morat, Der lange Schatten der Kulturkritik, S.321. 280 Gehlen, Die Seele im technischen Zeitalter, S.113. Vgl. Kurig, Bildung für die technische Moderne, S.422f. 281 Gehlen, Die Seele im technischen Zeitalter, S.115. 282 Gotthard Günther, Das Bewusstsein der Maschinen. Eine Metaphysik der Kybernetik, 3., erw. Aufl. Baden-Baden 2002 [1957, 1963]. Zur Geschichte der Kybernetik siehe den Überblicksaufsatz von Michael Hagner, Vom Aufstieg und Fall der Kybernetik als Universalwissenschaft, in: ders./Hörl (Hrsg.), Die Transformation des Humanen, S.38-71.

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sierung«. Darunter fielen für ihn alle Rechenarbeiten mit elektronischen Geräten im Büro und in der Verwaltung. In den wenigen bisher erschienenen Arbeiten zum Thema werde dieser Prozess als solcher zwar von allen Seiten grundsätzlich bejaht. Sie würden sogar betonen, dass die Automatisierung langfristig »zu einer Verbesserung und neuen Stabilität der Wirtschaft und Gesellschaft beitragen« werde. Von einer der »Maschinenstürmerei« des 19. Jahrhunderts gleichwertigen »Automatenstürmerei« könne zu Beginn der »zweiten industriellen Revolution« deshalb keine Rede sein. Auch gäbe es »keinen Traditionalismus der technischen Methoden.« Das Fehlen eines grundsätzlichen Pessimismus sei für »die Mentalität der industriellen Gesellschaft kennzeichnend«.283 Den technischen und wirtschaftlichen Fortschritt dieser Entwicklung sah Schelsky darin, dass durch »die Automatisierung in Produktion und Verwaltung Arbeitskräfte an ihrem bisherigen Arbeitsplatz überflüssig« gemacht würden.284 Wie Peter F. Drucker befürchtete er, dass die damit »verbundene Steigerung der Löhne und Kürzung der Arbeitszeiten zu einer Steigerung des Konsums führen« könnte, der die Produktion nicht nachkommen könne und die Kosten für Arbeitskräfte hochtreiben würde. Bereits Drucker habe nicht die Arbeitslosigkeit als Hauptproblem der Periode nach der zweiten industriellen Revolution betrachtet, sondern die Inflation.285 Mit der Kürzung der Arbeitszeit verband Schelsky zwei Probleme: Einerseits fürchtete er einen »Aktivitätsstau« sowie »möglicherweise eine spezifische Langeweile und Ermüdung auf lange Sicht«.286 Andererseits stelle sich aber auch die Frage, ob die technische Produktionsform eine Verbesserung der beruflichen Qualifikation der Industriearbeiter und damit eine Erhöhung ihrer sozialen Position oder »eine Vermehrung der unqualifizierten Arbeitsformen auf Kosten der Fach- und Spezialarbeit« und somit eine Herabstufung des sozialen Status der Arbeiter bewirke.287 Schelsky sah klar, dass »die immer umfassendere Aufbereitung des Informationsmaterials« an den leitenden Stellen »ein systematisches und zugleich abstraktes Denk- und Urteilsvermögen« erforderte. Dieses verlange eine systematische und wissenschaftliche Aus- und Fortbildung der Unternehmer, Manager und Betriebsleiter. Denn durch die Automatisierung würde »vor allem das technische und wahrscheinlich auch das organisatorische Personal aller Stufen eine große Vermehrung« erfahren, womit er Techniker, Ingenieure, Zeichner, Manager und Vorplaner meinte. Hier setzte seine Kritik an, sähe man nämlich ins283 Helmut Schelsky, Die sozialen Folgen der Automatisierung [1957], in: ders., Die sozialen Folgen der Automatisierung, S.23-46, hier: S.24-26 [wieder abgedruckt in: ders., Auf der Suche nach Wirklichkeit, S.118-147]. 284 Ebd., S.26. 285 Ebd., S.27f. 286 Ebd., S.29. 287 Ebd., S.29f.

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besondere in Deutschland, dass nicht mangelhafte wissenschaftliche und ökonomische Leistungen den angestrebten technischen Fortschritt behinderten, »sondern ein veralteter und den technischen Anforderungen nicht gewachsener Ausbildungsstand der industriell-technischen Berufe.« In diesem Zusammenhang »könnte schließlich fraglich werden, ob ein hinreichender Anteil unserer Bevölkerung der Begabung und Intelligenz nach zu diesen beruflichen Höherqualifizierungen fähig ist.«288 In seinem Aufsatz ignorierte Schelsky keineswegs technikkritische Positionen, die »nur in Europa, vor allem in Westdeutschland« vorgebracht würden. Unter anderem rezipierte er diesbezüglich Friedrich Pollocks Abhandlung über die Automation von 1956.289 Demnach werde befürchtet, dass durch die Automatisierung »die technischen und wirtschaftlichen Entscheidungen und damit die innerbetriebliche Autorität und Machart […] in den kleinen Gremien der Spitzenmanager und -techniker des Betriebs konzentriert« würden. Es bestehe also die Angst vor der »Herrschaft der Technokraten der Automation« und man befürchte einen »Rückfall in eine totalitäre und faschistische Politik«.290 Er dagegen antizipiere zunächst eine »allgemeine soziale Nivellierung der Bevölkerung«. Die technische Entwicklung wirke lediglich als »eine Verstärkung einer bereits vorhandenen sozialen Tendenz. Arbeiter gleichen sich den Angestellten an.«291 Außerdem war für ihn unklar, ob die Menschen den erwarteten Gewinn an Freizeit sinnvoll nutzen würden, etwa für Kulturaktivitäten oder zur Selbstbildung, oder ob sie sich unter dem »Zwang von Verbraucherpflichten« weitgehend den neuen Massenunterhaltungs- und Zerstreuungsmitteln widmeten.292 Die Soziologie habe deshalb die Aufgabe, »eben diese Form der Bewußtseinsbildung über die Automatisierung zu kontrollieren und zu lenken, insbesondere die nicht aus der Sachlage der Automatisierung selbst, sondern aus vorgegebenen sozialen Faktoren sachfremd sich einschießenden Elemente der Meinungsbildung als sachunangemessen und verwirrend zu erkennen und nach Möglichkeit zu eliminieren.«293 In diesen Ausführungen offenbart sich der technokratische Aspekt in Schelskys Denken am Ende der 1950er Jahre deutlich. Er sprach den technischen Sachzwängen aufgrund ihres Funktionierens jenseits von Wahrheit und Vernunft unbedingte Richtigkeit zu, was auch im Hinblick auf die zukünftige soziale Ent288 289 290 291 292 293

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Ebd., S.31f. Vgl. Pollock, Automation. Schelsky, Die sozialen Folgen der Automatisierung, S.33. Ebd. Ebd., S.34. Ebd., S.35.

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wicklung gelte. Er wollte allerdings nicht von einer »zweiten industriellen Revolution« sprechen. Schließlich sei der aktuelle Strukturwandel keinesfalls mit der »ersten industriellen Revolution« vergleichbar, da bisher keine revolutionären sozialen Entwicklungen und Strukturen entstanden seien.294 Dies zeige sich an den wirtschaftspolitisch gegensätzlichen Ökonomien der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion: »Die offensichtliche Tatsache, daß die Automatisierung bisher am erfolgreichsten und weitesten sowohl in den USA als auch in der UdSSR […] durchgeführt worden ist«, lege den Schluss nahe, »daß diese technische Entwicklung wirtschaftsneutral ist«.295 Die Automatisierung hatte für Schelsky demnach antiutopischen sowie politik- und ideologieneutralen Charakter. Am Schluss seiner Abhandlung unterbreitete er denn auch konkrete Handlungsvorschläge. Auf der Basis der bisherigen »Aktionsprogramme, Vorschläge und Resolutionen mit praktischen Forderungen zur Automatisierung« sollten Information und Kooperation zur Verlagerung und Umschulung freiwerdender Arbeitskräfte und zum Neuaufbau des technischen Bildungswesens gefördert werden.296 Die Reflexion des wissenschaftlich-technischen Wandels verknüpfte Schelsky mit den Ergebnissen seiner Ortsbestimmung der deutschen Soziologie. Er dehnte sie auf die Gesamtgesellschaft aus und legte seine Kerngedanken 1960 in verdichteter Form in seinem Aufsatz »Zur Standortbestimmung der Gegenwart« vor. Darin stellte er zunächst eine allgemeine »Ratlosigkeit« eines »bestimmten gegenwärtigen Bewußtseins« fest, das er  – im Gegensatz zu Sachbezogenheit und Konkretheit – durch »Abstraktheit« charakterisiert sah.297 Letztere zeige sich in der »Zeit- und Kulturkritik«, die »in einer machiavellistischen Wendung längst in eben das System funktional eingearbeitet ist, das sie zu kritisieren, also souverän zu beurteilen und zu bekämpfen meint«. Unmittelbare Aktionskritik werde dahingehend abgemildert, dass politische Freund- und Feindpositionen auf Abstraktionen verlagert würden, »die weder einer persönlichen Zurechnung und Verantwortung noch dem Zugriff der Handelnden zugänglich sind.«298 Aus der Sicht Schelskys hatten sie deshalb ihre Existenzberechtigung verloren, weil sie nur Abstraktes, aber nichts Konkretes mehr kritisierten. Den einzigen Ausweg aus dieser Lage sah Schelsky darin, wenn sich Kritik fortan auf die »moderne Technik und ihre Folgen in allen Lebensbereichen des Menschen« konzentriere.299

294 295 296 297

Ebd., S.36. Ebd., S.38. Ebd., S.45f. Helmut Schelsky, Zur Standortbestimmung der Gegenwart [1960], in: ders., Auf der Suche nach Wirklichkeit, S.432-448, hier: S.434. 298 Ebd., S.435. 299 Ebd., S.437.

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1961 erschien Schelskys Aufsatz »Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation« in der Zeitschrift atomzeitalter. Dieser, so Patrick Wöhrle, »rief schnell hitzige Diskussionen und teils empörte Reaktionen hervor, die sich über die Jahre hinweg in umfangreichen Stellungnahmen und Textsammlungen […] verlängerten.«300 Schelsky analysierte darin einen in der Öffentlichkeit als neue Kulturschwelle wahrgenommenen anthropologischen Tatbestand, den er »zunächst als die ungeheure Ausdehnung und Wirksamkeit der Wissenschaften im modernen Leben« bezeichnete. Er vertrat die These, »daß die umfassende Verwissenschaftlichung unseres Daseins eine neue Zuordnung der Wissenschaft im Verhältnis Mensch und Welt erforderlich macht, ja, daß diese Verwissenschaftlichung unseres Lebens ein neuartiges Verhältnis von Mensch und Welt selbst entstehen läßt.«301 In der Analyse der Auswirkungen der Wissenschaften auf Handeln und Denken der Menschen liege der »Schlüssel zum Verständnis dieses neuen Weltverhältnisses des Menschen«.302 Seine Beobachtung einer allumfassenden Ausbreitung menschlicher Wissenschaft, Technik und Zivilisation sowie der zunehmend totalen Beherrschung der Natur werfe die Fragen auf, was es denn bedeute, »daß der einfache Mensch in der modernen Zivilisation sich in den Formen seiner Fortbewegung, in seinen Sinneswahrnehmungen, seinen Alltagserlebnissen den Grenzen seiner organischen Natur in einer Weise enthoben hat, daß er kaum noch Anlaß finden kann, sich als von Natur begrenztes, so und nicht anders geschaffenes Wesen zu verstehen«.303 Ebenso sei vor dem Hintergrund des atomaren Zeitalters zu bedenken, was die »totale Bedrohung des Menschen durch die vom Menschen selbst geschaffenen technisch-wissenschaftlichen Waffen« bedeute, »wenn sie zum normalen Selbstverständnis des Menschen in einer die Erde umfassenden technischen Zivilisation wird«.304 300 Wöhrle, Zur Aktualität von Helmut Schelsky, S.140. Vgl. Kurig, Bildung für die technische Moderne, S.433. 301 Helmut Schelsky, Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation [1961], in: ders., Auf der Suche nach Wirklichkeit, S.449-499, hier: S.449f. Schelskys Aufsatz basierte auf einem Vortrag, den er in der 79. Sitzung der Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen am 15.  März 1961 gehalten hatte. Siehe auch Kurig, Bildung für die technische Moderne, S.431f. 302 Schelsky, Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation, S.450. 303 Ebd., S.451. 304 Ebd., S.452.

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Eine der Folgen dieser Entwicklungen sei, »daß mehr und mehr die vermittelte Information an Stelle der persönlichen Erfahrung« trete und »zur unmittelbaren Wirklichkeit des modernen Menschen wird«. Daran schloss sich für Schelsky die Frage an, welche »Art von Mensch« sich entwickeln werde, wenn in Zukunft die Welt auf Information und Massenkommunikationsmittel aufbaue und die nächste Generation »es für das Natürlichste der Welt hält, nach diesen übermittelten Signalen und Informationen ihr Leben einzurichten und zu führen?«305 Technik bedeute dabei keineswegs nur »werkzeughafte Organfortsetzung des Menschen«. Vielmehr würden »in immer höherem Maße menschliche Sinnesleistungen und vor allem ganze Schichten von Denk- und Bewußtseinsleistungen in den elektronischen Computer technisch ersetzt und überboten«. Die technischen Möglichkeiten der »Durchrechnung des Handelns in den Unternehmungen, Parteien, Regierungen, also des politischen und ökonomischen Geschehens,« seien heute derart gewachsen, dass die dort zu fällenden Entscheidungen »mehr und mehr zu Deduktionen aus technisch aufbereiteten Daten« würden.306 Mit Jacques Ellul unterschied Schelsky drei Anwendungsbereiche von Technik: 1) in der Produktion von Sachgütern, 2) in der Organisation, womit er »die Methoden der Beherrschung und Erzeugung der sozialen Beziehungen, die den Inhalt der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften ausmachen und auch die Jurisprudenz weitgehend in eine Organisationslehre umgewandelt haben«, meinte, und 3) »die Technik der Veränderung, Beherrschung und Erzeugung des seelischen und geistigen Innenlebens des Menschen, die wir mit dem Begriff der Humantechniken bezeichnen«. Unter Letzterem subsumierte er Psychologie, Psychiatrie, Pädagogik, Publizistik und Meinungsforschung.307 Dabei kennzeichneten die moderne Technik wiederum drei Elemente: 1) Sie beruhe »auf der analytischen Zerlegung des Gegenstandes oder der Handlung in ihre letzten Elemente, die in der Natur nicht vorfindbar sind«, und 2) auf der Zusammenführung dieser Elemente, um deren maximale Wirksamkeit zu erreichen. Außerdem könne sie 3) mit den bisherigen anthropologisch-soziologischen Ansätzen nicht mehr ausreichend bestimmt werden. Auch Gehlen, der das Prinzip der modernen Technik in der künstlichen Organfortsetzung des Menschen als »Mängelwesen« sehe, könne diese Entwicklung nicht mehr in ihrer ganzen Dimension erfassen. Er setze dafür schlicht ein falsches und veraltetes Mensch-Welt-Verhältnis voraus. Der »entscheidende Umweg des Menschen über den Kopf, oder besser gesagt: über das die Welt analysierende und sie neu synthetisierende Be305 Ebd. Schelsky ging davon aus, dass »die Welterfahrung des modernen Menschen heute zu neunzig bis neunundneunzig Prozent aus Papier oder aus publizistisch vermitteltem Bild und Ton besteht«. 306 Ebd., S.452f. 307 Ebd., S.455.

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wußtsein, ist dabei unterschlagen.«308 Vielmehr müsse deshalb, so Schelsky, von der Technik nicht mehr nur als »künstlicher Natur« gesprochen werden, sondern »sie ist in viel exakterem Sinne der ›künstliche Mensch‹, die Form, in der der menschliche Geist sich als Weltgegenständlichkeit verkörpert und schafft.«309 Unter Bezugnahme auf Günther bezeichnete er diese Schöpfungsebene als zweite Realität, »die der Mensch selbst als geistige und materielle Produktion ist.«310 Dieses »neue Realitätsverhältnis des Menschen« müsse sich, wolle es nicht nur Spekulation bleiben, »in den konkreten Sachproblemen der Wissenschaften vom Menschen niederschlagen und als ihre Grundgesetzlichkeit nachweisbar sein.« Als Kern der »Produktionsrealität« bestimmte Schelsky dabei die Analyse und Synthese. Was die moderne Technik ausmache, sei »der menschliche Geist selbst, wie ihn Kant als die Funktion des menschlichen Verstandes und seiner Sinneswahrnehmungen verdeutlicht hat.« Überhaupt sei Kant »als der ursprüngliche Philosoph der modernen Technik« anzusehen, habe dieser doch »die entscheidende Wahrheit der Moderne« erkannt und durchgesetzt, nämlich »daß wir erkennen, weil wir konstruieren«.311 Mit der Herstellung immer neuer technischer Geräte und damit neuer technischer Umwelten würden »immer neue ›Gesellschaft‹ und neue menschliche ›Psyche‹« produziert und damit auch »die soziale, seelische und geistige Natur des Menschen umgeschaffen und neu konstruiert.« Dem Menschen würden Sachgesetzlichkeiten entgegentreten, »die er selbst in die Welt gesetzt hat, nun als soziale, als seelische Forderung«, die ihrerseits »gar keine andere Lösung zulässt als eine technische, eine vom Menschen her geplante und konstruktive, weil sie das Wesen der Sache ist, die es zu bewältigen gilt.«312 Sein Prinzip des Sachzwangs leitete er aus dem fortschreitenden Ausgreifen der Technik in die psychischen und sozialen Dimensionen der Gesellschaft ab. Dieser Prozess könne vom Menschen selbst nicht mehr gesteuert oder geplant werden, gleichwohl die Zukunft nie so offen gewesen sei »wie heute, wo wir erkennen, dass sie von unserer eigenen Produktion abhängt.«313 Daraus ließen sich eine pessimistische und eine optimistische Reaktion ableiten: »Auf der einen Seite ist die Befreiung vom Zwang der Natur zugleich eine Lösung von Jahrtausende währenden Verbindlichkeiten, die nicht nur Zwang, sondern zugleich Halt waren«. Pessimisten müssten das als »Zustand der Destruktion, als Endphase, als Verlust des Heils« verstehen, da jede geschichtliche Identität aufgelöst werde. Auf der anderen Seite sah Schelsky in der wissenschaftlich-technischen Zivilisation die Möglichkeit für eine »neue Form der 308 309 310 311 312 313

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Ebd., S.456f. Ebd., S.457. Vgl. Wöhrle, Zur Aktualität von Helmut Schelsky, S.141. Schelsky, Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation, S.457f. Ebd., S.460. Ebd., S.461. Ebd., S.462.

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Identifikation, die bloße Natur dem Bewußtsein nicht bot«. Diese speise heilsgewisse Zukunftshoffnungen.314 In beiden Reaktionen spiegelte sich nach Schelsky die neue Kluft in den Wissenschaften wider. Diese kennzeichne nicht mehr ein Dualismus zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, sondern »die viel tiefere Kluft [besteht] zwischen den historischen Wissenschaften einerseits und den technischen Wissenschaften andererseits«.315 Besonders betroffen vom profunden Wandel der modernen Gesellschaft waren in Schelskys Augen staatliche Herrschaft und Bildung. An die Stelle von politischen Normen und Gesetzen würden »Sachgesetzlichkeiten der wissenschaftlich-technischen Zivilisation treten, die nicht als politische Entscheidungen setzbar und als Gesinnungs- oder Weltanschauungsnormen nicht verstehbar sind.« Damit verliere auch die Idee der Demokratie ihre Substanz: Nicht mehr der politische Volkswillen sei ausschlaggebend für das Gemeinwesen, sondern die vom Menschen selbst produzierte Sachgesetzlichkeit. Dies verändere »die Fundamente der Legitimität, der Regierung als Herrschaft, der Staatsraison, der Beziehung der Staaten untereinander« fundamental.316 Schelsky setzte sich dabei auch von früheren Gesellschaftsutopien ab. Noch 1948 hatte der amerikanische Behaviorist Burrhus Frederic Skinner eine zukünftige Gesellschaft entworfen, deren Menschen von einer Gruppe von Planern möglichst optimal in ihrem Verhalten konditioniert werden sollten. Demokratische Politik betrachtete er deshalb als hinfällig.317 Schelsky dagegen übertrug diese Konditionierungsleistung nun der technischen Wissenschaft. Ähnlich dachte auch Gehlen, der 1958 in einem Vortrag darüber sprach, dass die jungen Leute sich stärker als früher von der Tätigkeit der Politiker abwenden würden. Stattdessen präferierten sie eher Professionen wie Arzt, Anwalt, Techniker und Kaufmann, weil sie eben an der Sache und nicht mehr an politischer Ideologie interessiert seien.318 Schelsky zufolge habe man es dabei mit einem wechselseitigen Prozess zu tun, der Technisierung des Staates und der Verstaatlichung der Technik. So müsse der Staat die Oberhand über die Technik behalten, neue Machtmittel bei sich konzentrieren, damit keine »technisch begründeten Nebenherrschaften oder Herrschaftskonkurrenzen« entstehen könnten. Zudem erfordere die moderne Technik einen immensen finanziellen Aufwand, der nur vom Staat bereitgestellt werden könne. Schließlich müsse der Staat die neuen technischen Möglichkeiten koordinieren, denn ohne seine Planung, Leitung und Kontrolle würde »das Funktionieren der in allen Lebensgebieten eng ineinandergreifenden Formen der modernen Technik« unmöglich. Der Staat war laut Schelsky demnach »ein universaler technischer Körper geworden und beweist seine staatliche Effizienz 314 315 316 317 318

Ebd., S.463. Ebd., S.464. Ebd., S.465f. Vgl. Kurig, Bildung für die technische Moderne, S.433f. Burrhus F. Skinner, Walden Two: An Utopian Novel. New York 1948. Arnold Gehlen, Das Elitenproblem [1958], in: ders., Einblicke, S.105-109, hier: S.106. 531

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nicht zuletzt in der Perfektionierung der technischen Möglichkeiten der Gesellschaft.« Auch außenpolitisch gehe es nicht mehr nur um »bloße Waffendemonstration in Paraden zur historischen Zeremonie«, sondern um die Präsentation überlegener wissenschaftlich-technischer Großtaten.319 Ziel des modernen technischen Staates sei also, »die höchste Wirksamkeit der in ihm verfügbaren technischen Mittel« zu erreichen. Er sei dabei dem Gesetz unterworfen, »daß sozusagen die Mittel die Ziele bestimmen oder besser, daß die technischen Möglichkeiten ihre Anwendung erzwingen.«320 Dies alles hänge lediglich vom einwandfreien Funktionieren der modernen Technik ab.321 Den von ihm beschriebenen Verwissenschaftlichungsprozess politischer Herrschaft beobachtete Schelsky etwa an den Sachgutachten, an die Politiker inzwischen vielfach gebunden seien. Wiesen die Fachgutachter einen optimalen Kenntnisstand von Wissenschaft und Technik auf, würden sie über die gleiche Sachlage auch zur gleichen Lösung kommen, was nur wenig Spielraum für politische Entscheidungsmöglichkeiten lasse. Das aber bedeute, dass umso geringerer politischer Entscheidungsspielraum bestehe, je besser Technik und Wissenschaft seien.322 Damit lag Schelskys Annahme einer fortschreitenden Technisierung und Verwissenschaftlichung der Politik ein Szientismus zugrunde, der modernisierungstheoretisch aufgeladen und seinem Charakter nach antitotalitär war. Denn je wirkmächtiger normative politische Weltanschauungen seien, desto schwerer verstoße ein solches Staatssystem gegen die Sachgesetzlichkeiten des »technisch-wissenschaftlichen Staates« und »geht dann womöglich geradezu an der Unsachlichkeit seiner Weltanschauung zugrunde.«323 Aber auch die Demokratie werde dadurch abgeschafft: »Der ›technische Staat‹ entzieht, ohne antidemokratisch zu sein, der Demokratie ihre Substanz. Technisch-wissenschaftliche Entscheidungen können keiner demokratischen Willensbildung unterliegen, sie werden auf diese Weise nur uneffektiv.«324 Alle politischen Ideologien würden obsolet, denn das »technische Argument setzt sich unideologisch durch, wirkt daher unterhalb jeder Ideologie und eliminiert damit die Entscheidungsebene, die früher von den Ideologien getragen wurde.«325

319 Schelsky, Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation, S.466f. 320 Ebd., S.468. 321 Ebd., S.469. Vgl. auch Breuer, Kritische Theorie, S.73; Hacke, Die Bundesrepublik als Idee. S.66f.; ders., Der Intellektuelle und die Industriegesellschaft, S.238. Vgl. Wöhrle, Zur Aktualität von Helmut Schelsky, S.140, 145-148. 322 Schelsky, Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation, S.470f. 323 Ebd., S.471f. 324 Ebd., S.472. 325 Ebd., S.473.

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Direkt daran schloss Schelsky »das gerade in der deutschen geistigen Tradition entscheidend wichtige Problem der Bildung der Person« an.326 Der Grundgedanke des herkömmlichen humanistischen Bildungsideals sei die »Gleichsetzung von Wissenschaft und Philosophie«.327 Traditionell grenze sich deshalb in Deutschland die Wissenschaft vom praktischen Leben ab. Dies widerspreche allerdings der Entwicklung der wissenschaftlich-technischen Zivilisation, die gerade die praktische Anwendung und Operationalisierung wissenschaftlich-technischen Wissens erforderte. Dagegen tradiere sich das alte Bildungskonzept nur noch als Ideologie oder allenfalls in den historischen Wissenschaften fort.328 Schelsky rekurrierte hier auf sein Theorem vom Überleben längst überholter Ideologeme in modernen Strukturen. Unter Rückgriff auf Günther betonte er, dass die wissenschaftlich-technische Zivilisation einen neuen Menschen und damit eine neue menschliche Identität verlange: »Der durch einen wissenschaftlich-technischen ›Schaffensprozeß induzierte Identitätswechsel‹ ist die metaphysische Gegenwartsaufgabe, der der Mensch in der wissenschaftlich-technischen Zivilisation gegenübersteht«.329 Die Problematisierung und Lösung dieser Gegenwartsaufgabe gewährleiste hierbei am ehesten das Prinzip der »metaphysischen Dauerreflexion«. Er verstand hierunter eine dauernde »Steigerung des reflektierenden Bewußtseins in sich selbst«, die »durch die technisch-wissenschaftliche Objektivierung von Bewußtseinsleistungen induziert« werde. Diese sei die Form, »in der das denkende Subjekt seiner eigenen Vergegenständlichung immer vorauszueilen trachtet und sich so seiner Überlegenheit über seinen eigenen Weltprozeß versichert.«330 Im Zusammenhang mit der von ihm angesichts der Entwicklungen der wissenschaftlich-technischen Gesellschaft geforderten Bildungsreform veröffentlichte Schelsky noch 1961 seine Streitschrift Anpassung oder Widerstand? Den Anlass bildete der vom Deutschen Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen erarbeitete »Rahmenplan zur Umgestaltung und Vereinheitlichung des allgemeinbildenden öffentlichen Schulwesens«, den er aus soziologischer Sicht für bedenklich hielt.331 Zwar würdigte er, dass die »wesentliche und günstige Wirkung dieses Plans […] schließlich bereits heute darin zu sehen [ist], daß er eine Frage von großer geistiger und sozialer Be-

326 327 328 329 330 331

Ebd. Ebd., S.475. Ebd., S.475-481. Ebd., S.483. Ebd., S.485f. Schelsky, Anpassung oder Widerstand?, S.5.

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deutsamkeit für unsere Zukunft dem öffentlichen Bewußtsein in einer Weise nahegebracht hat, wie sie es schon lange zu sein verdiente.«332 Kritisch diskutieren wollte er jedoch den von verschiedener Seite den Planern gemachten Vorwurf des Soziologismus.333 So lehnte er die im Rahmenplan weiterhin enthaltene Dreigliederung nach Begabung der Schüler – einer »geistig führenden, einer ausführenden und einer dazwischen vermittelnden Schicht praktischer Berufe mit erhöhter Verantwortung« – ab. Es sei wohl den Psychologen zu überlassen, festzustellen, »ob die Dreiertypologie der Begabung nicht in Wirklichkeit eine dualistische Typologie mit dem üblichen breiten Zwischenfeld der Schwerzurechenbaren darstellt; sie ist weder sozialgeschichtlich die Grundlage der Dreigliederung gewesen, noch in sich so begründet, daß sie mehr als eine bequeme Gewohnheit der psychologischen Zuteilung böte.«334 Sie entbehre einer »realsoziologischen Grundlage«, weil die »Dreiklassenstruktur von Arbeiterschaft, Mittelstand und Hochbürgertum« schlicht nicht mehr existiere.335 Und auch die »hochbürgerliche Berufsunterscheidung in Kopfarbeit und Handarbeit mit dem Eingeständnis, ›es gäbe noch was in der Mitte‹«, sei überholt. Außerdem sei das Prinzip grundsätzlich verkehrt: Weil sich die Dreigliederung des allgemeinen Schulsystems vorgeblich seit Generationen bewährt habe, seien ihr auch die Berufe, die »sich in ihren Nachwuchsforderungen darauf eingestellt haben«, zu unterwerfen. Dem allerdings liege ein falsches Verständnis der tatsächlichen Berufswirklichkeit zugrunde. So bestimme eben nicht »die Dreigliederung der Berufe […] das Schulsystem, sondern umgekehrt die Dreigliederung der Schule trägt eine Sozial- und Bildungssystematik in das Berufswesen hinein, die sozial und beruflich immer fraglicher wird.« In dieser Hinsicht habe »sich der Ausschuß dem sozialen Fortschritt an Hand der realen Berufsentwicklungstendenzen versagt.«336 Als Grund für das Festhalten an der Dreigliederung vermutete Schelsky »eine Rücksicht auf die festgelegten Interessen einer vorhandenen Lehrergruppierung in Volksschullehrer, Mittelschullehrer und Studienräte.«337 Die Nichtbeachtung soziologischer Expertise und statistischen 332 333 334 335 336 337

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Ebd., S. 6. Ebd. Ebd., S. 9. Ebd. Ebd., S.10. Ebd., S.12. Vgl. auch ebd., S.107-126. Schelsky sah dabei den Kern der sozialen Spannungen zwischen Interessen innerhalb der Lehrerschaft im Verhältnis von Volksschullehrern und Gymnasiallehrern.

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Materials durch den Ausschuss zeige sich auch in den neuen Bildungsformen von Berufsschul-, Fachschul- und Hochschulausbildung.338 Deshalb forderte Schelsky eine Anpassung des Bildungsreformplans an die sozialen Strukturen der wissenschaftlich-technischen Gesellschaft. Schließlich sei die moderne Gesellschaft »in ihrem Prinzip wissenschaftliche Zivilisation; erst auf dieser Grundlage ist ihre Arbeitsteilung, wie sie heute besteht, erwachsen. Eine Neugliederung des Schulwesens sollte auf das Prinzipielle der modernen Zivilisation zurückgehen, nicht aber sich nach der Symptomatik der bestehenden Arbeitsteilung richten, die zudem schnellen Veränderungen unterworfen sein kann.«339 Er schlug eine Neukonzeption des Stufenmodells vor, an das die Ausbildungsziele angepasst werden sollten, bestehend aus 1) der Stufe der »konkretistischpraktischen Anwendung von Technik und Organisationsmitteln der wissenschaftlichen Zivilisation«, 2) jener der »wissens- und gedächtnismäßigen Einführung in wissenschaftlich-abstrakte Materien und Denkweisen bis zu einem Grade, daß die selbständige Orientierung und Urteilsfähigkeit gegenüber den abstrakten ›sekundären Systemen‹ unserer Gesellschaft, ihrer Berufs- und Organisationswelt und ihrer allgemeinen geistigen Zusammenhänge erreicht wird«,340 und 3) jene der spezialisierten wissenschaftlichen Ausbildung, die den produktiven Einsatz wissenschaftlich-technischen Denkens und Könnens ermögliche. Daraus leitete er eine vertikale »Zweigliederung des auf der Grundschule aufbauenden Schulwesens mit dem Überbau der Fachschulen und der wissenschaftlichen Hochschulen« ab, was eine »einheitliche Schuldauer von 10 Jahren für das praktisch gerichtete, von 13 Jahren für das gymnasiale allgemeine Schulwesen« bedinge.341 Gegen die Einführung weiterer Schulgattungen argumentierte Schelsky vehement, weil damit »im Grunde die Sozialstruktur und ihre Problematik« einfach in der Schule abgebildet würden. Die tatsächliche Begabung der Schüler bliebe dabei unberücksichtigt.342 Vor allem die Förderstufe betrachtete er als Mittel der Wiederbelebung der nationalsozialistischen Volksgemeinschaftsidee durch »Zwangsvergemeinschaftung« nach dem vierten Grundschuljahr. Seiner Meinung nach solle dadurch einerseits »die geistige und sittliche Einheit des Volkes 338 339 340 341 342

Ebd., S.10-12, 19. Ebd., S.13. Ebd., S. 13f. Ebd. Ebd., S.18. Siehe auch ebd., S.26-42.

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gefördert werden; zweitens soll ein soziales Gemeinschaftserlebnis vertieft werden, auf dem eine spätere politische Zusammenarbeit der verschiedenen Sozialschichten und -gruppen« aufgebaut werden könne.343 Diese Erwartungen seien jedoch verfehlt. Vergemeinschaftungsfunktionen erfüllten Sportvereine, die Fußballtribüne und die Massenkommunikationsmittel »schon längst besser […], als es die Lehrer der Förderstufe je könnten«.344 Letztlich propagiere der Ausschuss mit dieser Idee eine politische Maxime, in der sich »in einer seltsamen Mischung der auf seinen Gegenwartswert hin ungeprüfte Standpunkt eines gegen den perhorreszierten Klassenkampf gerichteten Volksgemeinschaftsdenkens mit einem ebenso antiquierten sozialistischen Nivellierungswillen, dem es nicht um die soziale Gerechtigkeit der Differenzierung, sondern um die Demonstration der Gleichheit geht«,345 verschränkte. Unschwer zu erkennen ist bei diesem Argument, dass Schelsky aus dem Nationalsozialismus stammende Ideologeme auf eine Ebene mit sozialistisch-kommunistischen Ideenfragmenten stellte. Er kritisierte beide, weil sie seiner Ansicht nach den schulischen und beruflichen Sachanforderungen der wissenschaftlich-technischen Gesellschaft nicht mehr entsprachen. Sein Theorem des technischen Sachzwangs sollte die seiner Ansicht nach dringend notwendige Entideologisierung und Entpolitisierung – von links wie von rechts – des westdeutschen Bildungs- und Erziehungswesens vorantreiben. Schelskys Kritik, die westdeutsche Bildungslandschaft würde sich zur »schulsozialistischen Gesellschaft« entwickeln, richtete sich auch gegen Habermas’ Positionen zur Schul- und Bildungsreform, der klassengebundene Sozialisationseffekte für die schulische Leistung der Kinder als ausschlaggebend betrachtete. Schelsky dagegen hielt dafür den Schulwillen der Eltern für entscheidend.346 So sehe Habermas ganz zu Recht in der Förderstufe eine »sozialpolitische Funktion« und »entscheidet sich daher für die Förderstufe auch aus einer politischen, nämlich sozialistischen Gesellschaftsauffassung«.347 Dies aber berge die Gefahr, dass die Schule »so zum zentralen gesellschaftlichen Mittel für den sozialen Abstieg der Familien in der modernen Gesellschaft« werde.348 Die im Rahmenplan für die Schul- und Hochschulreform veranschlagte »soziale Gerechtigkeit« führte für Schelsky in eine totalitäre Richtung. Dagegen brachte er seine libera-

343 344 345 346 347 348

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Ebd., S.43. Ebd., S.47. Ebd., S.48. Ebd., S.55-58. Vgl. auch ebd., S.134-150. Ebd., S.59. Ebd., S.60.

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len, auf der Familiensozialisation und der individuellen Begabung der Kinder beruhenden Vorschläge in Stellung.349 Im Gegensatz zum Denkkollektiv um Horkheimer, das auf der erziehungspolitischen Wissensebene eine aktive Erinnerungspolitik an die Opfer des Holocaust einforderte, kam Auschwitz in den Schriften und Äußerungen der Gruppe um Schelsky nicht vor. Ganz im Gegenteil bewegte sich Schelsky erziehungspolitisch in eine völlig konträre Richtung: Er hob auf die Versachlichung wissenschaftlicher Bildung und schulischer Erziehung angesichts der fortschreitenden Technisierung und Verwissenschaftlichung der modernen westdeutschen Gesellschaft ab. Eine stärkere Demokratisierung solcher Bereiche erschien ihm als hinderlich. Hierzu rechnete er auch die von Adorno geforderte »Aufarbeitung der Vergangenheit«. Diese war für ihn nicht aus dem technischen Sachzwang heraus hervorgegangen, sondern einem ideologischen, nämlich erinnerungspolitischen Interesse einzelner Gruppen von Remigranten und Aufarbeitungswilligen entsprungen. Eine Aufarbeitung des Holocaust und die dazu gehörenden erinnerungspolitischen Debatten sah er deshalb als ideologische Elemente, die der technische Sachzwang gerade überwinden sollte. Folgt man Aleida Assmann, ließe sich diese Praxis als eine spezifische »Form des Vergessens« beschreiben, wobei sie unterschiedliche »Techniken des Vergessens« – das Löschen, Zudecken, Verbergen, Schweigen, Überschreiben, Ignorieren und Neutralisieren – unterscheidet. Diese würden bewusst oder unbewusst von den jeweiligen Akteuren betrieben.350 Legt man das Beispiel des deutschen Historikerstreits von 1986/87 zugrunde, in dem es um die Frage nach der Historisierbarkeit des Holocaust ging, lässt sich Schelskys Versachlichungstheorem am ehesten als eine Neutralisierung von Auschwitz beschreiben: Den Holocaust als historisches Erinnerungsmoment überblendete er mittels techniksoziologischer Theorie. Dies darf nicht mit seinem »defensiven« oder »komplizitären Schweigen«351 über die eigene NS-Vergangenheit verwechselt werden, über die er sich relativ offen äußerte.352 Er betrieb vielmehr eine epistemische Ausschließung von Auschwitz. Wie die Homosexuellen in seiner Soziologie der Sexualität erschien ihm auch der Holocaust nicht als wissenschaftlicher und schon gar nicht als soziologischer Gegenstand. Er gehörte stattdessen in die subjektive Erinnerung

349 Ebd., S.150-164. 350 Aleida Assmann, Formen des Vergessens (Historische Geisteswissenschaften. Frankfurter Vorträge, Bd.9). Göttingen 2016, S.21-26. Vgl. aus systemtheoretischer Perspektive auch Elena Esposito, Soziales Vergessen. Formen und Medien des Gedächtnisses der Gesellschaft. Frankfurt am Main 2002. 351 Assmann, Formen des Vergessens, S.57. 352 Werner Krawietz, Politisch-funktionaler Rechtsbegriff und neue normative Institutionen- und Handlungstheorie des Rechts nach Helmut Schelsky, in: Gutmann/Weischer/Wittreck (Hrsg.), Helmut Schelsky, S.133-215, hier: S.175f.

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der Juden und anderer Geschädigter, aber passte weder zu Schelskys Lebenswelt als Angehöriger des »Tätervolks« noch zu seiner Vorstellung von Wissenschaft.

13. Der »Positivismusstreit«: Die westdeutschen Sozialwissenschaften zwischen Emanzipation und Reprovinzialisierung Als sich 1961 die Situation zwischen den beiden Machtblöcken im Kalten Krieg auf innerdeutscher Ebene zuspitzte und der Bau der Berliner Mauer begann, fanden auch die westdeutschen Debatten über die Grundlagen sozialwissenschaftlichen Erkennens einen Höhepunkt. Dass diese zunehmend mit einem kritischen Demokratiediskurs verbunden waren, in dem erziehungspolitische Fragen eine herausgehobene Stellung einnahmen, wurde bereits gezeigt. Zu den zentralen Protagonisten der Auseinandersetzung gehörte Ralf Dahrendorf, der im gleichen Jahr fragte: »Wie muss die Gesellschaft aussehen – und wie darf sie nicht aussehen –, wenn die Institutionen des repräsentativen Staates in ihr wirksam werden?«353 In seinen Augen kam gerade die Soziologie ihrer Aufgabe nicht nach, die erziehungspolitischen und staatsrechtlichen Schieflagen der Bundesrepublik zu problematisieren. Dies richtete sich teils indirekt, teils direkt gegen Schelsky, der glaubte, dass die Deutschen ihre autoritätsgebundene Haltung immer mehr hinter sich lassen würden.354 Seine Kritik an der bundesdeutschen demokratischen Gesellschaft und der zeitgenössischen Soziologie bildete den Hintergrund für eine Arbeitstagung der DGS in Tübingen, die Dahrendorf organisierte. Hier 353 Zitiert nach: Scheibe, Auf der Suche nach der demokratischen Gesellschaft, S.247. Vgl. Herbert, Geschichte Deutschlands, S.764. 354 Scheibe, Auf der Suche nach der demokratischen Gesellschaft, S.250f. Dahrendorf hatte 1960 Schelskys Ortsbestimmung in der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie kritisch besprochen. Siehe Ralf Dahrendorf, Die drei Soziologien. Zu Helmut Schelskys »Ortsbestimmung der deutschen Soziologie«, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 12 (1960), S.120-133. Besonders scharf kritisierte er den »immanenten Totalitätsanspruch der Methodologie« Schelskys und dessen unzureichende Rezeption der methodologischen und erkenntnistheoretischen Positionen in der Vergangenheit. Vgl. ebd., S.126-129. Auch der Behauptung Schelskys, dass heute eine »nachideologische Epoche« herrsche, konnte Dahrendorf nicht folgen. Siehe Dahrendorf, Die drei Soziologien, S.132. 1961 publizierte auch M. Rainer Lepsius im Auftrag der DFG eine Denkschrift zur Lage der Soziologie und der Politikwissenschaft. Siehe M. Rainer Lepsius, Denkschrift zur Lage der Soziologie und der Politischen Wissenschaft. Wiesbaden 1961. Siehe auch Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle, S.747.

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der »positivismusstreit«

sollten sich Sozialwissenschaftler und Erkenntnistheoretiker treffen, um über die richtigen epistemologischen Voraussetzungen und Herangehensweisen zur Erforschung des Sozialen zu diskutieren. In der Forschungsliteratur gilt das Tübinger Treffen als Beginn des »Positivismusstreits«,355 einer Folge aufeinander bezogener Beiträge von Autoren wie Adorno, Habermas, Popper, Hans Albert, Dahrendorf und Harald Pilot. Diese erschienen ab 1961 mehrheitlich in René Königs Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie und wurden von Adorno 1969 in Buchform herausgegeben.356 Den »Positivismusstreit« kennzeichneten zwei Phasen: Zunächst stritten Adorno und Popper, also ein Remigrant und ein Emigrant miteinander, die beide eine demokratische wie antitotalitäre Haltung vertraten und sich als ideologiekritische Aufklärer sahen.357 In der zweiten Phase diskutierten dann Habermas und Albert, zwei deutsche Repräsentanten jener »45er-Generation«, zu der auch Dahrendorf zählte.358 Alex Demirović betont zu Recht, dass der »Positivismusstreit« zunächst von den Akteuren selbst nicht als solcher wahrgenommen und bezeichnet wurde. Erst in den Disputen auf den Soziologentagen in Heidelberg 1964 und Frankfurt 1968 habe sich der Begriff als feststehende Bezeichnung für die epistemischen Debatten innerhalb der damaligen westdeutschen Sozialwissenschaften etabliert.359 Vor der Tübinger Tagung hatte bereits Ende Oktober 1960 eine Diskussionsrunde, das sogenannte Niederwald-Treffen, stattgefunden. Unter der Moderation Otto Stammers waren Sozialwissenschaftler der älteren und der jüngeren Generationen zusammengekommen, darunter Horkheimer, Adorno, König, Gehlen, Schelsky, Helmuth Plessner, Carl Jantke, Arnold Bergstraesser, Wilhelm Emil Mühlmann, Hans Achinger, Hans Paul Bahrdt, Hellmut Becker, Dahrendorf und Heinrich Popitz. Auch Hans Freyer war eingeladen worden, hatte seine Teilnahme aber wegen einer anderen Konferenz abgesagt.360 In der aufgeladenen 355 Dahms, Positivismusstreit, S.323; Müller-Doohm, Adorno, S.643f.; Ritsert, Der Positivismusstreit, S.102. Vgl. Klaus Lichtblau, Die Stellung der »Frankfurter Schule« im deutschen Positivismusstreit [2015], in: ders., Zwischen Klassik und Moderne. Die Modernität der klassischen deutschen Soziologie. Wiesbaden 2017, S.375-391, hier: S.375f.; Marius Strubenhoff, The Positivism Dispute in German Sociology, 1954-1970, in: History of European Ideas 44 (2018), S.260-276. 356 Adorno u.a., Der Positivismusstreit. 357 Jäger, Adorno, S.245; Jeffries, Grand Hotel Abyss, S.331, 339. 358 Hübinger, Engagierte Beobachter, S.217-219, 222. 359 Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle, S.810. 360 SAK, Digitale Dokumentation zur DGS, DE-SAK-B1-3316: Otto Stammer an Hans Achinger, Theodor W. Adorno, Hans Paul Bahrdt, Hellmut Becker, Arnold Bergstraesser, Ralf Dahrendorf, Hans Freyer, Arnold Gehlen, Max Horkheimer, Carl Jantke, René König, Wilhelm Mühlmann, Helmuth Plessner, Heinrich Popitz, Helmut Schelsky vom 27.06.1960, Bl.1f., hier: Bl.1.

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Diskussionsatmosphäre waren auch persönlich belastete Kontroversen ausgetragen worden. Trotz Vermittlungsversuchen war eine Verständigung nicht gelungen. Die Teilnehmer hatten deshalb beschlossen, dass die erkenntnistheoretischen und praktischen Probleme innerhalb der Sozialwissenschaften im größeren Rahmen einer Konferenz behandelt werden sollten.361 Die Idee, eine Arbeitstagung im Rahmen der DGS über die erkenntnistheoretischen Grundlagen der Sozialwissenschaften abzuhalten, war schließlich, wie Dirk Braunstein dies jüngst nachgewiesen hat, auf einer Vorstandssitzung der DGS am 27. Oktober 1960 im IfS entstanden.362 Die Organisation der internen Arbeitstagung in Tübingen unter dem Titel »Die Logik der Sozialwissenschaften« übernahm Dahrendorf.363 Dieser stand erkenntnistheoretisch dem Kritischen Rationalismus Poppers nahe, wozu wohl auch seine ernüchternden Erfahrungen am IfS beigetragen hatten. So habe das »sagenumwobene Frankfurter Institut« lediglich »ganz normale Umfrageforschung [betrieben]. Wo Neues versucht wurde, erwies es sich als untauglich; was tauglich war, brachte nicht viel Neues«. Die intellektuelle Kultur am IfS hatte er als »eigentümlich geschlossene Gesellschaft« wahrgenommen, die seiner liberalen Grundhaltung entgegenstand.364 Nun hoffte er, Popper gegen die Kritische Theorie des Denkkollektivs um Horkheimer in Stellung bringen zu können, wobei es auf Schelskys Anregung zurückging, dass Adorno »das Korreferat zu Herrn Popper über die soziologische Methode übernommen« hatte.365 Dem Tübinger Treffen waren zahlreiche Vorabsprachen zwischen den beteiligten Akteuren sowie ihren jeweiligen Unterstützern und Schülern vorausgegangen. Bereits drei Wochen nach der Vorstandssitzung der DGS Ende Oktober hatte Adorno Stammer gebeten, Popper als Referenten mitzuteilen, dass er das Korreferat übernommen habe, sich aber unsicher sei, ob Popper »das recht sein wird, und ob er nicht gar seinen Beitrag zurückzieht.« Angesichts der inhaltlichen Gegensätze zu Popper war ihm daran gelegen, »die Humanität nicht zu verletzen und die Korrektheit wissenschaftlicher Formen zu wahren.« Zwar habe

361 Schäfer, »Über die naive Phase empirischer Sozialforschung hinaus …«, S.131-132; Strubenhoff, The Positivism Dispute, S.263f. Siehe Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle, S.799-802. 362 Dirk Braunstein, »Seien Sie also unbesorgt …«. Einleitung in den Briefwechsel zwischen Theodor W. Adorno und Karl R. Popper, in: WestEnd 2 (2019), S.197-204, hier: S.197. 363 Ágnes Heller, The Positivism Dispute as a Turning Point in German Post-War Theory, in: Gerard Delanty (Hrsg.), Theodor W. Adorno, Bd.I . London/Thousand Oaks/New Dehli 2004, S.243-251; Ritsert, Der Positivismusstreit, S.102. 364 Dahrendorf, Über Grenzen, S.170-172. Vgl. Gilbert A. Gratzel, Freiheit, Konflikt und Wandel. Bemerkungen zum Liberalismus-Verständnis bei Ralf Dahrendorf, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 2 (1990), S.11-45, hier: S.11f. 365 Archiv IfS, SAM 7/1: Theodor W. Adorno an Otto Stammer vom 07.11.1960.

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er das Gefühl, René König sei nicht recht damit einverstanden gewesen, dass er das Korreferat übernehme. Gleichwohl habe er »es um der Sache willen nicht verantworten […] können, daß man die Frage der sozialwissenschaftlichen Methodologie in unserem Kreis einspruchslos den logischen Positivisten überläßt, so als wären sie die Instanz, die darüber zu befinden hat.«366 Stammer sollte ihm zudem einen direkten Kontakt zu Popper vermitteln. Auch Popper sammelte Informationen über seinen Korreferenten, indem er seinen Schüler Hans Albert um eine Einschätzung über »die Soziologen und die Atmosphäre« bat. Nach Alberts Einschätzung gruppierten sich die Konflikte in der westdeutschen Soziologie um Schelsky und dessen Anhänger, die Gruppe um König sowie schließlich um Horkheimer, Adorno und ihre Adepten. Zusätzlich wies er darauf hin, dass Adorno Poppers Referat in einigen Punkte sicher kritisieren werde, »falls er glaubt, Dich als ›Positivisten‹ ansehen zu müssen.«367 Adorno und Popper traten tatsächlich in einen Briefwechsel ein. Die insgesamt elf Briefe sind von Braunstein ediert worden.368 Neben allen freundlichen Worten wollten beide den jeweils anderen für ihren Denkstil sensibilisieren. Sie schickten sich deshalb kürzere Arbeiten zu: Popper sandte Adorno am 14. Juli 1961 seinen noch nicht gedruckten Vortrag »Philosophical Lecture on the Sources of Knowledge and of Ignorance« zu.369 Dieser ließ ihm daraufhin seine beiden Aufsätze »Erfahrungsgehalte der Hegelschen Philosophie« und »Über Statik und Dynamik als soziologische Kategorien«, außerdem eine dritte Arbeit »mehr wissenschaftstheoretischen Charakters« zukommen.370 Popper antwortete mit zwei weiteren Briefen. Mit dem einen schickte er Adorno sein Referat zu, im zweiten dankte er für die zugesandten Arbeiten und äußerte zugleich ganz offen seine Meinung dazu: »I dislike Hegel, and I dislike existentialism; and I therefore felt quite unable to like your Hegel paper; and I did not like your ›Statik und Dynamik‹.« Dagegen lobte er Adornos »paper on Sociology and Psychology.« Besonders beeindruckte ihn dessen Kritik Anna Freuds und der Psychoanalyse: »The way in which you press your attack until it destr[o]ys […] the whole basis of psychoanalytic theory, is really a masterpiece.« In einem Punkt, der auch in Tübingen in abgeschwächter Form diskutiert werden sollte, 366 Zitiert nach: Braunstein, »Seien Sie also unbesorgt …«, S.197. 367 Zitiert nach: ebd., S.199. 368 Theodor W. Adorno und Karl R. Popper. Briefwechsel 1961, hrsg. v. Dirk Braunstein, in: WestEnd 2 (2019), S.205-219. 369 Karl R. Popper an Theodor W. Adorno vom 14.07.1961, in: Theodor W. Adorno und Karl R. Popper. Briefwechsel 1961, S.205f. 370 Theodor W. Adorno an Karl R. Popper vom 19.07.1961, in: Theodor W. Adorno und Karl R. Popper. Briefwechsel 1961, S.207.

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widersprach er Adorno jedoch deutlich: »I completely disagree with your categories which seem to imply (as you do in other places) that we live in a totalitarian world«. Vielmehr glaube er daran, »that the social world in which I live is the best that ever existed. I fear this confession will create a gulf between us; but maybe we can build a bridge across it.«371 Adorno wiederum dankte Popper für dessen Referat. Er wolle es mit in den Urlaub nehmen, dort sorgfältig lesen und dann sein Korreferat so gestalten, dass beide argumentativ »auch wirklich ineinandergreifen«. Wenn die Differenzen zwischen ihnen »in einem Bereich der Voraussetzungen liegen, die selber diskutiert werden müssten, so wie es mir, nach dem, was Sie über Dialektik schreiben, immerhin möglich erscheint«, werde er versuchen, »so sehr auf das von Ihnen Textierte einzugehen, wie es mir nur möglich ist.«372 Mit seinem Korreferat sandte er Popper noch zwei weitere Arbeiten zu: Zum einen eine Kritik der Wissenssoziologie Mannheims (»Das Bewusstsein der Wissenssoziologie«), zum anderen seinen »Beitrag zur Ideologienlehre«. Popper reagierte freundlich, sodass beide Briefe mehr die Gemeinsamkeiten als die Differenzen zum Ausdruck brachten. Adorno zeigte sich gar »erstaunt, wie weit die Übereinstimmungen gehen.«373 Schließlich sahen sich beide zum Treffen in Tübingen. Hier sollte Adorno die 27 Thesen Poppers zur Logik der Wissenschaften im Allgemeinen sowie der Sozialwissenschaften im Speziellen kritisch kommentieren. In der Forschungsliteratur wird allgemein konstatiert, dass Referent und Korreferent freundlich aneinander vorbeigeredet hätten. Zu einer Auseinandersetzung sei es gar nicht gekommen, weshalb die gesamte Diskussion als Evidenz für eine zunehmende Emanzipation der westdeutschen Soziologie und Philosophie von der hegemonialen amerikanisch-englischen Wissenschaftstheorie und Soziologie aufgefasst werden könne. Für Ágnes Heller etwa drückt sich in Adornos Korreferat dessen Antiamerikanismus aus.374 Gleichwohl erscheint diese Sichtweise als verkürzt: Was die Debatte zwischen Popper und Adorno vielmehr offenbarte, war eine profunde Differenz und gegenseitige Abstoßung zwischen dem zunehmend auch in Westdeutschland Fuß fassenden philosophisch-analytischen, aus der Verbindung von Logischem Empirismus und philosophischen Traditionen der 371 Karl R. Popper an Theodor W. Adorno vom 22.07.1961, in: Theodor W. Adorno und Karl R. Popper. Briefwechsel 1961, S.209. 372 Theodor W. Adorno an Karl R. Popper vom 28.07.1961, in: Theodor W. Adorno und Karl R. Popper. Briefwechsel 1961, S.211. 373 Theodor W. Adorno an Karl R. Popper vom 29.09.1961, in: Theodor W. Adorno und Karl R. Popper. Briefwechsel 1961, S.212; Karl R. Popper an Theodor W. Adorno vom 05.10.1961, in: Theodor W. Adorno und Karl R. Popper. Briefwechsel 1961, S.212f. 374 David Frisby, The Popper-Adorno Controversy: The Methodological Dispute in German Sociology, in: Delanty (Hrsg.), Theodor W. Adorno, S.253-268, hier: S.254; Heller, The Positivism Dispute, S.245f.

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Vereinigten Staaten und Englands hervorgegangenen Denkstil und einer dialektisch-philosophischen Gesellschaftstheorie, die Kritik der hochkapitalistischbürgerlichen Gesellschaft sein wollte. Poppers Kritik baute denn auch besonders auf Adornos Hegel-Rezeption auf.375 Adorno wiederum hatte seine Bedenken gegen das in der amerikanisch-englischen Sozialwissenschaft dominante nomothetische Schema des Erkennens bereits in seinem Aufsatz »Über Statik und Dynamik als soziologische Kategorien« zum Ausdruck gebracht. Er hatte sich dazu auf Auguste Comtes Positivismus bezogen, in dessen Werk sich »die fatale Divergenz zwischen der produktiv gehandhabten naturwissenschaftlichen Methode und ihrer unreflektierten Erhebung zur Philosophie« angekündigt habe.376 Darüber hinaus muss das Tübinger Treffen auch hinsichtlich seines stark performativen Charakters betrachtet werden:377 Den Teilnehmern ging es nicht nur um die Debatte, sondern auch darum, ihre Positionen und erkenntnistheoretischen Grundlagen, also Kritische Theorie und Kritischen Rationalismus, öffentlich zu präsentieren und die Aktualität ihrer jeweiligen Position herauszustellen. Dies war erst durch die im Vorfeld zwischen den Kontrahenten festgelegte kollegiale Atmosphäre möglich geworden. Gleichwohl darf es nicht über die tiefen Verwerfungen zwischen den beiden Denkstilen und ihren Vertretern hinwegtäuschen. So betonte Popper gegenüber Albert vom 7. Januar 1970, dass er das Denkkollektiv um Horkheimer »einfach nicht ernst nehmen [kann]. Der arme Adorno ist ja tot – aber er wußte ja nicht, was intellektuelle Verantwortlichkeit (oder Rechtschaffenheit) heißt. Und der Habermas ist ja ein Flachkopf.« In einem weiteren Brief schrieb er über »die geradezu vernichtete und vernichtende Sprache der Frankfurter«.378 Die tieferen Hintergründe und die Folgen des »Positivismusstreits« für die Entwicklung der westdeutschen Sozialwissenschaften werden im Folgenden detaillierter in den Blick genommen.

13.1 Poppers Thesen Karl R. Popper stammte aus einer jüdischen Wiener Familie. Er studierte Mathematik, Pädagogik und Psychologie in Wien. 1918 trat er in die Kommunistische Partei Österreichs ein und engagierte sich in der linken Sozial- und Volksbildungspolitik. Wenig später wandte er sich wieder vom Marxismus ab. Von 375 Braunstein, »Seien Sie also unbesorgt …«, S.199. 376 Theodor W. Adorno, Über Statik und Dynamik als soziologische Kategorien [1961], in: ders., Soziologische Schriften I, S.217-237, hier: S.225. 377 Vgl. dazu Thomas Etzemüller, »It’s the performance, stupid«. Performanz → Evidenz: Der Auftritt in der Wissenschaft, in: ders. (Hrsg.), Der Auftritt. Performanz in der Wissenschaft. Bielefeld 2019, S.9-43, hier: S.17-22. 378 Zitiert nach: Braunstein, »Seien Sie also unbesorgt …«, S.201.

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1930 bis 1935 arbeitete er als Hauptschullehrer in Wien. Hier war er auch mit Vertretern des Wiener Kreises in Kontakt gekommen, von deren Annahmen er sich zwar distanzierte, die das Denken Poppers aber durchaus beeinflussten. Gerade deren strikte Trennung zwischen wissenschaftlicher Methode und Sozialphilosophie wollte er überwinden. Er vertrat in dieser Zeit intellektuell wie politisch vor allem fortschrittsorientierte Philosophie, Kosmopolitismus und Antinationalismus.379 Aufgrund der Verfolgung während der NS-Zeit wanderten viele Intellektuelle, die dem Denkstil der späteren amerikanisch-englischen analytischen Philosophie zuzurechnen sind, nach Großbritannien und in die Vereinigten Staaten aus. Popper emigrierte 1937 nach Neuseeland und siedelte 1946 nach England über.380 Zunächst war diese Ausprägung der analytischen Philosophie als eine Verschmelzung von logisch-empiristischen und pragmatischen Ansätzen im amerikanisch-englischen Raum wirkmächtig. Nach 1945 fasste sie auch auf dem westeuropäischen Festland Fuß. Auf Basis dieser analytischen Philosophie hatte auch Popper »solide Fundamente für die Disziplin der Wissenschaftstheorie gelegt«, wie Albert Newen schreibt.381 Wie andere emigrierte liberale Intellektuelle sah der antiplatonisch gesinnte Denker in Hegel und Marx »falsche Propheten«, deren Lehren in den Totalitarismus und die Unfreiheit führten. Dagegen setzte er die Prämissen der Aufklärung Kants, die er in seinem berühmten zweibändigen Werk The Open Society ausführlich darstellte.382 Auf dem Tübinger Arbeitstreffen eröffnete Popper seine 27 Thesen mit zwei Aussagen zur Differenz zwischen Wissen und Nichtwissen, auf die er seine weiteren Ausführungen aufbaute. Beide leitete er aus seiner Beschäftigung mit der Geschichte, Soziologie und Philosophie der Naturwissenschaften ab. Die Thesen eins bis drei und sieben bezogen sich auf die Grundfrage, was Wissenschaftler wissen und was sie nicht wissen: Zwar wisse man eine ganze Menge über praktische und theoretische Dinge vor allem in den Naturwissenschaften. Mit diesem Wissen sei aber auch eine grenzenlose und ernüchternde Unwissenheit verschränkt, deren Ausmaß gerade der überwältigende naturwissenschaftliche Fortschritt immer von neuem zeige. Jeder Schritt vorwärts ziehe mehr Probleme, mehr Widerstände und mehr Nichtwissen nach sich.383 Deshalb habe die Erkenntnistheorie die Beziehungen zwischen dem zunehmenden Wissen und 379 Malachi Haim Hacohen, Karl Popper – The Formative Years, 1902-1945: Politics and Philosophy in Interwar Vienna. Cambridge 2001 [2000], S.23, 25, 53, 77-86, 104-178, 186-213. Vgl. auch Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, S.631. 380 Newen, Analytische Philosophie, S.12. Vgl. Hacohen, Karl Popper, S.1. Vgl. Dahms, Positivismusstreit, S.325-337. 381 Newen, Analytische Philosophie, S.13. 382 Karl R. Popper, The Open Society and Its Enemies, 2 Bde. London 1945. Vgl. Dubnov, Isaiah Berlin, S.210; Strubenhoff, The Positivism Dispute, S.270. 383 Karl R. Popper, Die Logik der Sozialwissenschaften [1961/62], in: Adorno u.a., Der Positivismusstreit, S.103-123, hier: S.103.

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dem parallel dazu zunehmenden Nichtwissen zu klären,384 ohne dass sie diese Spannung jemals ganz überwinden werde.385 In der vierten These spiegelte sich Poppers erkenntnistheoretische Haltung wider. Erkenntnis beginne demnach »nicht mit Wahrnehmung oder Beobachtung oder der Sammlung von Daten oder von Tatsachen, sondern sie beginnt mit Problemen.« Und jedes Problem beginne mit der Identifikation eines Widerspruchs zwischen dem, was Wissenschaftler als Wissen bezeichnen, und dem, was als Tatsachen aufzufassen sei.386 Die Auflösung eines solchen Widerspruchs und die daran anschließende Neufokussierung auf weitere Gegensätzlichkeiten kennzeichneten in seinen Augen wissenschaftlichen Fortschritt. Von dieser Feststellung ausgehend bezog Popper seine fünfte und sechste These auf die Sozialwissenschaften: Auch für diese müsse gelten, dass sich »Wert oder Unwert der wissenschaftlichen Leistung« ausnahmslos aus dem Charakter und der Qualität des Problems sowie aus der »Kühnheit und Eigenart der vorgeschlagenen Lösung« ergäben. Für die Methoden der Sozialwissenschaften wie auch der Naturwissenschaften gelte es deshalb, »Lösungsversuche für ihre Probleme« zu unternehmen, die dann diskutiert und kritisiert würden. Wenn ein solcher Vorschlag sachlich nicht kritisiert werden könne, werde dieser »als unwissenschaftlich ausgeschaltet, wenn auch vielleicht nur vorläufig.«387 In den Thesen sieben bis 13 kritisierte Popper den »verfehlten Naturalismus«, also den Versuch der Adaption naturwissenschaftlicher Verfahren für Gegenstände der Sozialwissenschaften, ebenso wie die Sozialanthropologie. Letztere bediene sich eines Behaviorismus und Relativismus, die keine Aussage mehr darüber zuließen, was wahr und was falsch sei. Diese Kritik schloss insbesondere Wissenssoziologien im Geiste Paretos und Mannheims ein. Zudem bestünden wissenschaftliche Disziplinen immer nur vorläufig und befänden sich im steten Wandel.388 Völlig falsch sei zu glauben, die Objektivität der Wissenschaft hänge von der Objektivität des Wissenschaftlers ab. Dies sei ebenso paradox wie die Vorstellung, Naturwissenschaftler seien objektiver als Sozialwissenschaftler. Wissenschaftliche Objektivität begründe sich stattdessen ausschließlich mit der Praxis der Kritik, »die es trotz aller Widerstände so oft ermöglicht, ein herrschendes Dogma zu kritisieren.« Die Objektivität der Wissenschaft war für Popper demnach eine soziale Angelegenheit.389 Und genau deshalb seien Mann384 Ebd., S.103f. 385 Ebd., S.106. 386 Ebd., S.104. Vgl. Ritsert, Der Positivismusstreit, S.109. Siehe auch Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle, S.804f. 387 Popper, Die Logik der Sozialwissenschaften, S.105f. 388 Ebd., S.107-111. Vgl. Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, S.631. 389 Popper, Die Logik der Sozialwissenschaften, S.112. Siehe auch Ritsert, Der Positivismusstreit, S.115f.

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heims Ansichten vom sozialen und ideologischen Standort des Forschers falsch, da sie »sich auf diese Weise mit der Zeit von selber« ausschalten würden.390 Daran schloss Popper seine Ausführungen zum Problem der Wertfreiheit von Wissenschaft und zu seiner präferierten Methode an (Thesen 14 bis 19). Eine Aufgabe der wissenschaftlichen Kritik und Diskussion sei es, die Vermengung von wissenschaftlicher und nichtwissenschaftlicher Wertsphäre zu bekämpfen, denn außerwissenschaftliche Wertungen hätten mit Wahrheitsfragen nichts zu tun. Dabei sei die reine Wissenschaft ein Ideal, »das vermutlich unerreichbar ist, für das aber die Kritik dauernd kämpft und dauernd kämpfen muß.«391 Als methodische Grundlegung einer solchen Kritik konzipierte er die »Funktion der reinen deduktiven Logik« als Theorie der Gültigkeit logischer Schlüsse oder logischer Folgebeziehung.392 Folglich müssten alle Prämissen wahr und die daraus abgeleiteten Schlüsse gültig sein. Dadurch werde die deduktive Logik »zur Theorie der rationalen Kritik«, die Popper als die wissenschaftliche Theorie schlechthin auffasste, denn nur »ein deduktives System […] ist durch seine Folgerungen rational kritisierbar«.393 Die Thesen 20 bis 25 bezogen sich wieder auf die Sozialwissenschaften. Popper hielt am Wahrheitsbegriff fest, ohne den Kritik nicht möglich sei. Er problematisierte jedoch den Wahrheitsanspruch. Ein rein theoretisches Problem fordere immer dazu auf, eine Erklärung zu finden.394 Deren logisches Grundschema bestehe wiederum »in einem logischen, deduktiven Schluß, dessen Prämissen aus der Theorie und den Anfangsbedingungen […] und dessen Konklusion [ist] das Explikandum«.395 Wie alle anderen Wissenschaften würden auch die Sozialwissenschaften niemals nur reine Beobachtungen anstellen, sondern diese immer auch kritisch theoretisieren. Die Psychologie sei dabei bloß eine Sozialwissenschaft unter anderen und könne nicht als »die Grundwissenschaft der Sozialwissenschaften« betrachtet werden. Denn das, was Voraussetzung jeder psychologischen Erklärung sei – die soziale Umwelt der Menschen – müsse erst mittels erklärender Theorien beschrieben werden. Das sah Popper als die »grundlegende Aufgabe der Sozialwissenschaft« an.396 Die Sozialwissenschaft könne sich daher von der Psychologie weitgehend unabhängig machen.397 Als »verstehende Sozio-

390 Popper, Die Logik der Sozialwissenschaften, S.112f. Vgl. Dahms, Positivismusstreit, S.338f., 345f.; Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle, S.805. 391 Popper, Die Logik der Sozialwissenschaften, S.114. 392 Ebd., S.115. 393 Ebd., S.116. Vgl. Jeffries, Grand Hotel Abyss, S.335; Ritsert, Der Positivismusstreit, S.112f. 394 Popper, Die Logik der Sozialwissenschaften, S.116f. 395 Ebd., S.118. 396 Ebd., S.119. Siehe auch Ritsert, Der Positivismusstreit, S.110f. 397 Popper, Die Logik der Sozialwissenschaften, S.119.

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logie« sei sie zudem autonom. Objektives Verstehen meine in diesem Zusammenhang die Erkenntnis, »daß die Handlung objektiv situationsgerecht war«.398 In seinen letzten beiden Thesen betonte Popper, dass die von ihm beschriebene Situationslogik eine rationale, theoretische sowie stark vereinfachte und schematisierte Rekonstruktion sei. Sie setze eine physische und eine soziale Welt voraus, wobei in Letzterer Menschen und Institutionen zentral seien, denn gerade die »sozialen Institutionen bestimmen den eigentlichen sozialen Charakter unserer sozialen Umwelt.«399 Als Grundprobleme der rein theoretischen Soziologie benannte Popper abschließend »vorläufig die allgemeine Situationslogik und die Theorie der Institutionen und Traditionen«. Dabei richtete er sich explizit gegen Nihilismus und Existenzialismus.400

13.2 Adornos Erwiderung Adorno stimmte Popper in vielen Punkten zu. Dahrendorf charakterisierte das Aufeinandertreffen deshalb wie folgt: »Obwohl Referent und Korreferent in ihren Ausführungen nicht gezögert hatten, eindeutig Stellung zu nehmen, fehlte der Diskussion durchgängig jene Intensität, die den tatsächlich vorhandenen Auffassungsunterschieden angemessen gewesen wäre.«401 Einige Diskussionsredner hätten gar die »fehlende Spannung zwischen den beiden Hauptreferaten und -referenten« beklagt. Tatsächlich hätte man zuweilen den Eindruck gehabt, dass sich beide »in verblüffender Weise einig« seien.402 Diese Wahrnehmung war sicher richtig. Sie lag unter anderem an dem Austausch beider Kontrahenten im Vorfeld der Arbeitstagung, der eine sachliche Debatte vorbereiten sollte.403 Bei mindestens einem Thema allerdings trat der Gegensatz unversöhnlich zutage:404 Adorno kritisierte deutlich Poppers Verständnis von gültigen Erkenntnisverfahren, das Letzterer auch für die Sozialwissenschaften geltend machte. Die analytische Wissenschaftstheorie beziehungsweise kritischrationalistische Philosophie Popperscher Prägung sah im mehrheitlich in den 398 399 400 401

Ebd., S.120. Ebd., S.121. Ebd., S.122f. Ralf Dahrendorf, Anmerkungen zur Diskussion der Referate von Karl R. Popper und Theodor W. Adorno [1961], in: Adorno u.a., Der Positivismusstreit, S.145153, hier: S.145f. 402 Ebd. 403 Archiv IfS, SAM 7/1: Theodor W. Adorno an Otto Stammer vom 28.11.1960. 404 Lichtblau, Die Stellung der »Frankfurter Schule«, S.382.

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Naturwissenschaften praktizierten deduktiven Erkenntnisverfahren die eigentlich wissenschaftliche, weil logisch nachvollziehbare und daher auch kritisierbare Methode.405 Das schloss eine spezifische Wissenschaftssprache ein. Alles, was nicht in dieser Sprache formuliert werden konnte, betrachtete Popper als unwissenschaftlich. Damit waren die Geschichte und viele weitere klassische Geisteswissenschaften nicht ausreichend wissenschaftlich unterlegt. Sie müssten deshalb den Künsten und der fantasiebegabten Schriftstellerei zugewiesen werden. Hierunter fielen auch hegelianische Annahmen wie diejenige Adornos, dass soziale Fakten und Phänomene durch die gesellschaftliche Totalität vermittelt seien.406 Adorno kritisierte dies als Selbstbeschränkung menschlicher Denkfähigkeit und Zeichen dafür, dass diese Art der analytischen Philosophie sich selbst intellektuelle Ketten anlege und nicht über den Status quo der Gesellschaft hinauskomme.407 Poppers Grundannahme musste ihm geradezu als Manifestation der fortschreitenden Technisierung und Vernaturwissenschaftlichung der modernen Gesellschaft erschienen sein. Aus Adornos Wahrnehmung flossen technisch-naturwissenschaftliche Methoden auch in Westdeutschland zunehmend in die Geisteswissenschaften ein. Auch Gehlen hatte dies in Die Seele im technischen Zeitalter beobachtet: »Wenn die hier geschilderte experimentelle Einstellung in die Geisteswissenschaften eindringt, ergeben sich Erscheinungen ganz neuen Stils, die selbst in Kreisen der Fachleute einige Verwirrung anrichten. Denn offenbar verwischt sich jetzt der Unterschied der Natur- und Geisteswissenschaften von der Methode her«.408 Für Adornos Denken blieben jedoch kritische Gesellschaftsphilosophie und Geschichte grundlegend. Nur sie waren für ihn Träger von Erinnerung an die Opfer der Shoah. Analytisch-philosophisches, ja geschichtsloses Denken kam aus dieser Perspektive einer Auslöschung der Erinnerung an die Opfer des NS-Regimes gleich. Dass Adorno in Tübingen als Korreferent auftrat, hing auch mit seinen eigenen explizit erkenntnistheoretischen Arbeiten zum Verhältnis von Philosophie und Soziologie zusammen. Dazu zählten die beiden bereits weiter oben besprochenen Aufsätze »Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie« (1955) und »Soziologie und empirische Forschung« (1957). 1959 publizierte er 405 Jutta Schickore, Vom Nutzen der Historie für die Wissenschaftsphilosophie, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 36 (2013) 1, S.83-95, hier: S.86. Vgl. auch Müller-Doohm, Adorno, S.644. 406 Ritsert, Der Positivismusstreit, S.110. 407 Benzer, The Sociology, S.94, 167, 193. 408 Gehlen, Die Seele im technischen Zeitalter, S.31.

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zusammen mit IfS-Mitarbeitern zudem den Forschungsbericht »Zum gegenwärtigen Stand der deutschen Soziologie«. Darin referierten die Autoren nicht nur die neueste soziologische Literatur in Westdeutschland. Vielmehr wurde auch ein zentraler Kritikpunkt am Fach deutlich benannt, der aus der Annäherung von amerikanischer und deutscher Soziologie resultiere: So sei die deutsche Soziologie »in jenen internationalen Integrationsprozeß einbezogen, der der Aufgliederung der Welt in Großräume mit sozialen Großplanungen zu entsprechen scheint«. Damit gehe eine weitgehende Abspaltung der Soziologie von der Philosophie deutscher Tradition einher.409 Diese Entwicklung, so die Befürchtung, könne zum vollständigen Verlust des Gesellschaftsbegriffs einerseits und zur endgültigen Ausrichtung der Soziologie auf die logisch-empirische, analytisch-pragmatische Wissenschaftstheorie Wiener und Berliner sowie amerikanisch-englischer Prägung andererseits führen. Dies zeige sich schon allein daran, dass mittlerweile der Begriff »Gruppe« an Stelle von »Gesellschaft« gerückt sei, wofür die Autoren insbesondere die Betriebs- und Industriesoziologie verantwortlich machten: »Aus der ›sozialen Frage‹ der Gesellschaft werde das Problem der ›human relations‹ im Betrieb.«410 Mit der Problematik des Verhältnisses von kontinentaleuropäischer Philosophie und Soziologie, die einem internationalen, besonders aber von Amerika geprägten Forschungsstand folgte, beschäftigte sich Adorno darüber hinaus im Sommersemester 1960 in einer Vorlesung an der Universität Frankfurt.411 Er analysierte dieses Verhältnis einerseits aus dem Blickwinkel des Problems »der Idee der Wahrheit« und andererseits der Idee »der gesellschaftlichen Determination von Erkenntnis«. Er hoffte, dass dieser Zugang es seinen Studierenden ermöglichen würde, das Vorurteil abzulegen, es handele sich hierbei um entgegengesetzte oder gar unversöhnliche Sphären.412 Er ging dabei besonders auf den von ihm beobachteten zeitgenössischen Widerstand der Soziologie gegen die Philosophie ein. Dieser gehe so weit, dass Philosophie bei manchen Soziologen und Soziologiestudierenden als unwissenschaftlich gelte, weil ihre Erkenntnisverfahren und -schritte nicht in die von ihnen verabsolutierte naturwissenschaftliche Erkenntnisweise hineinpassten.413 Er kontrastierte die in Deutschland vorherrschende philosophische Tradition seit Kants Lehre von der ewigen Wahrheit – und dazu zählte er auch die Heideggersche Existenzialontologie – mit dem Erkenntnisverfahren Auguste Comtes, das auf positiv Faktischem be409 Theodor W. Adorno u.a., Zum gegenwärtigen Stand der deutschen Soziologie [1959], in: ders., Soziologische Schriften I, S.500-531, hier: S.503. 410 Ebd., S.512f. 411 Theodor W. Adorno, Philosophie und Soziologie [1960], hrsg. v. Dirk Braunstein (Nachgelassene Schriften, Abteilung IV: Vorlesungen, Bd.6). Berlin 2011, S.9. Vgl. Lichtblau, Die Stellung der »Frankfurter Schule«, S.381. 412 Adorno, Philosophie und Soziologie, S.10. 413 Ebd., S.12.

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ruhe und einer dezidiert antiphilosophischen Gesinnung entsprungen sei.414 Allerdings stellte Adorno auch einige Ähnlichkeiten zwischen dem »Erzpositivisten Comte und dem Erzidealisten Hegel« fest.415 Insbesondere hätten beide dazu geneigt, theologisch und autoritär-restaurativ gegen die zeitgenössische Philosophie und Metaphysik zu argumentieren. Sie hätten die Gesellschaft lenken wollen, indem der eine die Soziologie zur Gesellschaftswissenschaft sowie sozialen Ordnungstechnik und der andere den Staat zum Endpunkt seiner Geschichtsphilosophie machte.416 Für Adorno lag »die Charakteristik des positivistischen Geistes im Gegensatz zu dem philosophischen« darin begründet, dass im Positivismus das Subjekt nicht als dazu fähig anerkannt werde, Wahrheit zu erkennen. Es müsse sich geradezu auslöschen, wogegen die Philosophen glaubten, dass gerade »durch die Kraft und durch die Freiheit des Subjekts hindurch überhaupt der Gegenstand sich offenbare«.417 Die Forschenden selbst hätten zu reflektieren, ob die positivistische »Art von Askese« tatsächlich »Freiheit zum Objekt« sei, also entweder das Objekt dadurch mehr oder aber weniger durchdrungen werde, oder ob diese Frage überhaupt entschieden werden könne. Ein solch entsubjektiviertes Denken werde kanalisiert, indem die Studierenden dazu angehalten würden, »nicht zu spekulieren, sondern sich nach Gegebenem zu richten«. Dadurch werde deren Denken von vornherein auf bereits festgelegte Kategorien und existierende Gegebenheiten festgelegt, ohne dass vorher reflektiert worden wäre, und das Bestehende zum »Kriterium nicht nur der Wahrheit gemacht, sondern eigentlich auch zu der Norm dessen erhoben, was das Denken überhaupt zu leisten habe.«418 Adorno formulierte in seiner Vorlesung demnach eine Grundsatzkritik am soziologischen Denken in der Nachfolge Comtes, dem die Fixiertheit auf den Status quo von Anfang an Grundlage gewesen sei. Für das Festhalten an einem Gesellschaftsbegriff und an der spekulativen Philosophie spräche jedoch, dass erstens die Existenz eines alles einschließenden gesellschaftlichen Systems nicht zu leugnen sei, dass zweitens die durch die Wissenschaft erfassten Tatsachen durch dieses System weitgehend vorbestimmt und dass drittens alle sozialen Handlungen miteinander verflochten seien, »und zwar nicht in einer zufälligen Weise verflochten, sondern verflochten nach Regeln, verflochten in einer ganz bestimmten Gesetzmäßigkeit.« Das soziale System könne nicht wie die Tatsachen fixiert werden. Dies war für Adorno die Legitimation dafür, »eben doch an Gesellschaft, an Reflexion, an der Vorstellung eines Zusammenhangs, einer vor-

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Ebd., S.12-27. Ebd., S.27. Ebd., S.27-33, 59, 63. Ebd., S.45. Ebd., S.46f.

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geordneten Struktur, eines Systems« festzuhalten, also an sozialen Kategorien, welche »die Soziologie ursprünglich von der Philosophie übernommen hat.«419 Hier schien bereits jenes Kernargument auf, das Adorno ein Jahr später gegen Popper ins Feld führte: Er hielt an der Tatsächlichkeit des gesellschaftlich Wirklichen, an den sozialen Tatsachen und Phänomenen fest. Sekundären Abstraktionen wollte er nicht folgen, egal, ob diese durch ein empirisches Kategoriensystem wie bei Comte oder durch auf Sprache und richtige Proposition von Sätzen sowie Hypothesen fokussiertes Denken wie bei der analytischen Philosophie geleistet wurden.420 Sie galten ihm als Ideologien, weil sie die Zusammenhänge gesellschaftlicher Verblendung lediglich reproduzierten. In diesem Kontext stand seine Überzeugung, dass sich deutsche Philosophie und Soziologie auf längere Sicht dem in den Vereinigten Staaten vorherrschenden naturwissenschaftlich-analytischen Denken angleichen würden. Deshalb befürwortete er, »daß wir von vornherein und jetzt schon Erwägungen, kritische Reflexionen anstellen, wie sie in Amerika selbst erst auf einer relativ späten Stufe eben dieses Prozesses angestellt worden sind.«421 Gegen diese Angleichung an die Erkenntnismodellierung der Naturwissenschaften422 spräche, dass man Soziologie »nicht einfach so studieren kann, wie man Naturwissenschaften studiert«. Denn Soziologen wüssten im Grunde nie ganz genau, womit sie anfangen sollen, und genauso wenig, was das Erste, was das Fortschreitende sei. »[E]ine feste Hierarchie der Gegenstände und damit auch der wissenschaftlichen Erfahrung« sei den soziologischen Gegenständen »nicht gegeben«.423 Die Unterscheidung zwischen natur- und sozialwissenschaftlichem Erkennen war einer seiner zentralen Kritikpunkte an Poppers Tübinger Vortrag. Zwar zielte Adorno nicht auf die von Wilhelm Windelband und Heinrich Rickert vorgenommene Trennung zwischen nomothetischer und ideografischer Forschung beziehungsweise individualisierender und generalisierender Methode. Aber das einheitswissenschaftliche Erkenntnisideal möglichst einfacher und mathematisch eleganter Erklärungen irre dort,

419 Ebd., S.53. 420 Ebd., S.72f., 218f. 421 Ebd., S.62f. Adorno ging aber davon aus, »dass bei uns im allgemeinen doch, trotz aller seitdem eingedrungenen wissenschaftlichen Amerikanismen, die Suggestionskraft jener älteren deutschen geisteswissenschaftlich-soziologischen Tradition von so einer außerordentlichen Gewalt ist, dass [es] zunächst einmal sehr gut ist, wenn Sie den Ernst dieses Einwandes gegen die Verstehbarkeit, wie er in den ›chosisme‹ von Durkheim vorliegt, sich sehr energisch zu Bewusstsein bringen.« Siehe ebd., S.96. 422 Ebd., S.65. 423 Ebd., S.122.

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»wo die Sache selbst: die Gesellschaft nicht einstimmig, nicht einfach ist, auch nicht neutral dem Belieben kategorialer Formung anheimgegeben, sondern anders, als das Kategoriensystem der diskursiven Logik von seinen Objekten vorweg erwartet.«424 Denn die Gesellschaft sei »widerspruchsvoll und doch bestimmbar; rational und irrational in eins, System und brüchig, blinde Natur und durch Bewusstsein vermittelt.« Die Soziologie müsse sich dieser Lage beugen, sonst gerate »sie, aus puristischem Eifer gegen den Widerspruch, in den verhängnisvollsten: den zwischen ihrer Struktur und der ihres Objekts.«425 Poppers Diktum von der Ehrlichkeit des Wissenschaftlers sowie von der Geradlinigkeit und Einfachheit der Darstellung könne nicht für komplexe Untersuchungsgegenstände gelten, die sich nicht in einfache Einheiten auflösen ließen.426 In vielen anderen Punkten stimmte Adorno trotz geringen Abweichungen und Modifikationen jedoch mit Popper überein. Dazu zählten dessen Kritik der unreflektierten Projektion naturwissenschaftlicher Methoden auf historische oder soziologische Gegenstände, seine Konzentration auf den Vorrang des Problems, seine Idee vom Lösungsvorschlag mit daran anschließender Kritik, seine Gleichsetzung von wissenschaftlicher Objektivität und kritischer Tradition sowie die Kritik der Wissenssoziologien Paretos und Mannheims, die beide als affirmierende Ideologienlehren mit zerstörerischer Wirkung betrachteten.427 In den seiner Ansicht nach starren und sprachlich begrenzten Denkhorizonten des analytischen Kritischen Rationalismus wollte sich Adorno aber nicht einrichten. Nur weil ein Lösungsversuch sachlich-empirisch nicht geprüft werden könne, war dies für ihn kein Grund, diesen Lösungsversuch als unwissenschaftlich, wenn auch nur vorläufig, abzutun. Für Adorno existierten »soziologische Theoreme, die, als Einsichten über die hinter der Fassade waltenden Mechanismen der Gesellschaft, prinzipiell, aus selbst gesellschaftlichen Gründen, den Erscheinungen so sehr widersprechen, daß sie von diesen her gar nicht zureichend kritisiert werden können.«428 Zudem seien nicht alle Theoreme Hypothesen und Theorie nicht das »Vehikel der Soziologie.« Auch das Experiment dürfe als offene Wissenschaftspraxis, die 424 Theodor W. Adorno, Zur Logik der Sozialwissenschaften [1961/62], in: ders., Soziologische Schriften I, S.547-565, hier: S.548. 425 Ebd. 426 Ebd., S.553. Vgl. Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle, S.806. 427 Adorno, Zur Logik der Sozialwissenschaften, S.550, 552, 554f., 558f. Siehe Lichtblau, Die Stellung der »Frankfurter Schule«, S.383f. 428 Adorno, Zur Logik der Sozialwissenschaften, S.554.

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der »positivismusstreit«

neues Wissen generiere, nicht allzu stark gewichtet werden, da experimentelle Praxis immer mit den Naturwissenschaften assoziiert werde.429 Für Adorno konnten auch Phänomene wissenschaftlich erfassbar sein, die sich einer methodischen Aufschlüsselung wie logischen Herleitung entzogen und denen nur mit spekulativer Philosophie beizukommen war. Die von Popper vertretene methodische Beschränkung war für ihn deshalb eine unzulässige Reduktion des Denkens auf naturwissenschaftliche Erkenntnisverfahren. Diese könne und dürfe für soziale Gegenstände nicht gelten. Es bestehe daher eine grundsätzliche Differenz zwischen »den mathematisch-naturwissenschaftlichen Verfahrensweisen« und »der spezifischen Beschaffenheit der soziologischen Gegenstände«.430 Ebenso konnte Adorno Poppers allzu formalistischer Aufteilung zwischen reiner Theorie als Idealtypus und außerwissenschaftlichen Einflüssen sowie dessen Unterscheidung von Psychologie und Soziologie nicht in Gänze folgen.431 So seien Werte einer Sache selbst immanent. Letztere sei als Gegenstand gesellschaftlicher Erkenntnis »so wenig Sollensfreies, bloß Daseiendes  – dazu wird sie erst durch die Schnitte der Abstraktion –, wie die Werte jenseits an einem Ideenhimmel anzunageln sind. Das Urteil über eine Sache, das gewiß der subjektiven Spontaneität bedarf, wird immer zugleich von der Sache vorgezeichnet und erschöpft sich nicht in subjektiv irrationaler Entscheidung wie nach [Max, F.L.] Webers Vorstellung.«432 Die Dichotomie von Sein und Sollen sei deshalb »so falsch wie geschichtlich zwanghaft; darum nicht schlicht zu ignorieren. Durchsichtig wird sie erst der Einsicht in ihre Zwangsläufigkeit durch gesellschaftliche Kritik.« Die Gesellschaft, »auf deren Erkenntnis Soziologie schließlich abzielt, wenn sie mehr sein will als eine bloße Technik, kristallisiert sich überhaupt nur um eine Konzeption von richtiger Gesellschaft.« Diese sei aber keine Abstraktion der bestehenden Gesellschaft. Sie konstituiere sich vielmehr aus der Kritik, die Adorno als »Bewußtsein der Gesellschaft von ihren Widersprüchen und ihrer Notwendigkeit« begriff.433 429 Ebd., S.555. 430 Dies hatten Horkheimer und Adorno bereits im Vorwort zu Werner Mangolds Dissertation über Gegenstand und Methode des Gruppendiskussionsverfahrens (1960) formuliert. Vgl. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Vorwort, in: Werner Mangold, Gegenstand und Methode des Gruppendiskussionsverfahrens. Aus der Arbeit des Instituts für Sozialforschung (Frankfurter Beiträge zur Soziologie, Bd.9). Frankfurt am Main 1960, S.5-8, hier: S.5. 431 Adorno, Zur Logik der Sozialwissenschaften, S.562f. 432 Ebd., S.561. 433 Ebd., S.561f.

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Adorno beschloss sein Korreferat, indem er auf die grundlegendste Differenz zu Popper einging: Während dieser überzeugt sei, »in der besten Welt, die je existierte«, zu leben, glaube er nicht, dass es nicht doch eine bessere geben könne, »als die, welche Auschwitz ausbrütete«.434 Einig sei man sich darin, dass beide »gleichermaßen negativ zur Standpunktphilosophie stehen [würden] und damit auch zur Standpunktsoziologie«. Denn die Widersprüchlichkeit der Gesellschaft sei keineswegs ein beliebiger Ausgangspunkt, sondern das Hauptmotiv, das Soziologie erst konstituiere: »Nur dem, der Gesellschaft als eine andere denken kann denn die existierende, wird sie, nach Poppers Sprache, zum Problem; nur durch das, was sie nicht ist, wird sie sich enthüllen als das, was sie ist, und darauf käme es doch wohl in einer Soziologie an, die nicht, wie freilich die Mehrzahl ihrer Projekte, bei Zwecken öffentlicher und privater Verwaltung sich bescheidet.«435 Gegen die zunehmende Vereinnahmung der an sich kritischen Philosophie durch den seiner Auffassung nach verdinglichten Geist amerikanisch-englischer sowie Wiener und Berliner Prägung argumentierte Adorno auch in der Zeit nach der Tübinger Tagung. In einem vom Hessischen Rundfunkt übertragen Vortrag im Frankfurter Studentenhaus im November 1961 kritisierte er die mangelnde Sensibilität für Philosophie, die seiner Meinung nach bei angehenden Lehrern herrsche. Oft höre man die Klage, »Philosophie belaste die zukünftigen Lehrer mit einem weiteren Fach, und gar mit einem, zu dem vielen die Beziehung fehle. Den Vorwurf muß ich zurückgeben: vielfach sind es die Kandidaten, die aus der Prüfung eine Fachprüfung machen, und keineswegs wir.«436 Die Lehramtskandidaten würden sich stärker nach der Prüfungsordnung als nach ihren Interessen richten, sofern sie überhaupt welche hätten. Er beklagte die verdinglichte Einstellung der Lehramtsstudierenden, deren Bewusstsein »überall nach Deckung, Vorschriften, nach bereits Kanalisiertem [sucht]; ebenso um in eingeschliffenen Bahnen sich zurechtzufinden, wie doch wohl auch, um den Gang des Examens selbst so zu normieren, daß eben jene Fragen unterbleiben, um derentwillen das ganze Examen da ist.«437 434 Ebd., S.563f. Vgl. Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle, S.809f. 435 Adorno, Zur Logik der Sozialwissenschaften, S.564. 436 Theodor W. Adorno, Philosophie und Lehrer [1961/62], in: ders., Kulturkritik und Gesellschaft II, S.474-494, hier: S.480. 437 Ebd., S.481f.

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Bei den Verhandlungen über die Themenwahl gewinne man »den Eindruck, als hätten die zu Prüfenden Brechts Satz: ›Ich will ja gar kein Mensch sein‹ sich zur Maxime erkoren, auch und gerade wenn sie den Kategorischen Imperativ in seinen verschiedenen Fassungen auswendig gelernt haben.«438 Dieses verdinglichte Bewusstsein des Auswendiglernens, die Unfähigkeit, kritische Positionen zu entwickeln, sowie die Phrasendrescherei betrachtete Adorno als komplementär zur Faktengläubigkeit des Fachmanns.439 In seinen Augen manifestierte sich darin das Nachleben des Nationalsozialismus. Dies nicht so sehr auf inhaltlicher Ebene, weil kaum jemand noch ernsthaft an dessen Weltanschauung glaube, sondern »in bestimmten formalen Beschaffenheiten des Denkens«, zu denen er »beflissene Anpassung ans je Geltende, zweiwertige Aufteilung nach Schafen und Böcken, Mangel an unmittelbaren, spontanen Beziehungen zu Menschen, Dingen, Ideen, zwanghafter Konventionalismus, Glaube an Bestehendes um jeden Preis«440 rechnete. Derartige »Denkstrukturen und Syndrome sind als solche, dem Inhalt nach, apolitisch, aber ihr Überleben hat politische Implikationen.«441 Solchem Bewusstsein könne man gute Bildung entgegenhalten, die jedoch nicht autoritär vermittelt werden dürfe. Für ihren Erwerb müssten die Studierenden vorgeschriebene Bahnen verlassen, denn »nur durch spontane Anstrengung und Interesse, nicht garantiert allein durch Kurse«, könnten sie dies mit Erfolg tun. Fürchte er nicht das Missverständnis der Sentimentalität, würde er sagen, »zur Bildung bedürfe es der Liebe; der Defekt ist wohl einer der Liebesfähigkeit. Anweisungen, wie das zu ändern sei, sind prekär; es wird darüber meist in einer früheren Phase der Kindheitsentwicklung entschieden. Aber wem es daran gebricht, der sollte kaum andere Menschen unterrichten.«442 Schließlich vererbe sich dieser Defekt an die Schüler. Die Lehramtsstudierenden orientierten sich jedoch statt an Bildung am »Begriff der Wissenschaft«, die sie für solche hielten. Sie täten dies zwar nicht im ursprünglichen Sinne, als Wissenschaft die »Forderung, nichts unbesehen und ungeprüft zu akzeptieren, Freiheit, die Emanzipation von der Bevormundung durch heteronome Dogmen« meinte, sondern im zeitgenössisch Verdinglichten. Das verdinglichte Bewusstsein schalte 438 Ebd. 439 Ebd., S.483f. Siehe auch Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle, S.620623. 440 Adorno, Philosophie und Lehrer, S.484. 441 Ebd. Vgl. Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle, S.621. 442 Adorno, Philosophie und Lehrer, S.485.

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also »Wissenschaft als Apparatur zwischen sich selbst und die lebendige Erfahrung.«443 Als Ritual befreie Wissenschaft damit vom Denken und von der Freiheit. Letztere sah Adorno nicht nur im »Ostblock« bedroht, denn manchmal scheine es, »als wäre die Freiheit schon unterhöhlt auch bei denen, die sie formell noch haben; als gliche ihr geistiger Habitus bereits dem regressiven sich an, auch wo er nicht eigens verordnet ist; als warte irgendetwas in den Menschen selbst auf jene Entlastung von der Autonomie, die alles meinte, was in Europa zu achten und zu erhalten war.«444 Dass die kritische Reflexion, zu der die zeitgenössische Wissenschaft in den Augen Adornos nicht mehr fähig war, von der Philosophie beziehungsweise der Kritischen Theorie geleistet werden sollte, die Popper als unwissenschaftlich galt, hat bereits Rolf Wiggershaus herausgearbeitet.445 Aus Sicht Dahrendorfs, der Poppers erkenntnistheoretischen Grundlegungen folgte, lag in der Verabsolutierung naturwissenschaftlicher Praktiken des Erkennens gerade ein antiautoritäres und per se demokratisches Moment begründet. Dagegen erschienen ihm, so Bernhard Plé, die traditionellen Geisteswissenschaften »in dem Masse für Totalitarismen anfällig«, wie sie von den empirischen Erfahrungswissenschaften differierten. Die Praxis der Geisteswissenschaftler im stillen Kämmerchen war seiner Meinung nach auch unter autoritären oder totalitären Verhältnissen möglich. Erfahrungswissenschaft dagegen könne nur in einem liberalen politischen Kontext betrieben werden.446 Diese, aus heutiger Sicht sicher naive Perspektive Dahrensdorfs hatte in den frühen 1960er Jahren eine gesellschaftspolitische Implikation: Gute Wissenschaft und damit auch richtige demokratische Politik mussten in seinen Augen international sein und durften sich weder auf eine national begrenzte Sprache noch auf einen individuellen Denkstil beschränken. Sie sollten also gerade das nicht sein, was das Denkkollektiv um Horkheimer praktizierte.

443 Ebd., S.490f. 444 Ebd., S.491f. 445 Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, S.632. Vgl. Massimo Pigliucci, The Demarcation Problem: A (Belated) Response to Laudan, in: ders./Maarten Boudry (Hrsg.), Philosophy of Pseudoscience: Reconsidering the Demarcation Problem. Chicago/ London 2013, S.9-28, hier: S.16. 446 Plé, Wissenschaft und säkulare Mission, S.292.

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13.3 Emanzipation oder Reprovinzialisierung? Adorno und Horkheimer verstanden unter »Positivismus« ein Bündel aus verschiedenen Bestandteilen sozial- und naturwissenschaftlicher sowie philosophischer Denkstile. Hierzu gehörten Logischer Empirismus, theoretisch unreflektierte empirische Sozialforschung, Pragmatismus, analytische Philosophie, Kritischer Rationalismus einerseits und Existenzialismus, Fundamentalontologie und Phänomenologie andererseits.447 Dem stellten sie ein radikal dialektischphilosophisches Verständnis soziohistorischer Prozesse und Entwicklungen entgegen, die sie mit Ereignissen und Phänomenen ihrer Gegenwart verknüpften. Popper war im engeren Sinne selbstverständlich kein Positivist. Er wehrte sich auch gegen solche Zuschreibungen und selbst Adorno hatte ihn in seinem Korreferat kein einziges Mal so bezeichnet.448 Vielmehr erschien ihm Popper als Vertreter eines verdinglichten, am Erkenntnisideal der Naturwissenschaften ausgerichteten philosophischen Denkens. Im Kontext des »Positivismusstreits« stimmte Adorno mit seiner Kritik an Popper und Dahrendorf mit Positionen Schelskys in dessen Ortsbestimmung der deutschen Soziologie überein.449 Beide sprachen sich für mehr Theorie im Sinne des deutschen philosophischen Idioms aus. Bei Adorno sollte dies eine gesellschaftsphilosophische, metaphysisch grundierte negative Dialektik sein, während Schelsky im Rückgriff auf Kant seine »transzendentale Theorie der Gesellschaft« entwarf. Beide wandten sich damit gegen den amerikanisch-englischen analytisch-philosophischen und logisch-empiristischen Denkstil.450 Diese Übereinstimmungen nahm auch René König wahr, der Adorno im Oktober 1961 schrieb, dass dieser hinsichtlich seiner kulturkritischen Standpunkte sich »immer mehr an die Gruppe Freyer, Gehlen, Schelsky« annähere. Dies schien ihm »das verhängnisvolle Ergebnis einer bestimmten Konstellation zu sein, die noch in den zwanziger Jahren verankert ist.«451 Im Ausblick blieb Schelskys Gesellschaftstheorie eher Postulat. In den 1960er Jahren verausgabte er sich vor allem als Wissenschaftsmanager in der SFS sowie als Planer einer Reformuniversität in Ostwestfalen. Adorno dagegen setzte seine Forderung in seinen Publikationen um. Dies gilt besonders für seine Negative Dialektik von 1966. Darin wandte er sich dem gesellschaftskritischen Moment autonomer und deshalb wahrer Kunst

447 448 449 450 451

Dahms, Positivismusstreit, S.192. Ebd., S.337, 341; Ritsert, Der Positivismusstreit, S.107. Vgl. Braunstein, »Seien Sie also unbesorgt …«, S.198f. Vgl. Schelsky, Ortsbestimmung, S.17. René König an Theodor W. Adorno vom 24.10.1961, zitiert nach: Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle, S.811.

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und Philosophie als widerständige Elemente gegenüber den Zwängen des Wissenschaftsbetriebs zu.452 In diesem Sinne symbolisierten Adornos und Schelskys Positionen gleichzeitig Emanzipation und Reprovinzialisierung der westdeutschen Sozialwissenschaften. Das Denkkollektiv um Horkheimer hatte seine sozialwissenschaftliche Ausrichtung im amerikanischen Exil zunächst in vielerlei Hinsicht erweitert und war mit dieser Haltung nach Westdeutschland zurückgekehrt. Schelsky und seine Mitstreiter hatten wiederum ab 1945 vor allem die amerikanische Sozialforschung in ihr Denken aufgenommen. Ende der 1950er Jahre zogen sich jedoch beide Gruppen in intellektueller Hinsicht wieder in die ›deutsche Provinz‹ zurück.453 So stellte die »bleierne Zeit« der 1950er Jahre in den westdeutschen Sozialwissenschaften eine Ära des Internationalismus dar, was vor allem die Anlehnung an Konzepte und Übersetzung von Elementen des amerikanisch-englischen analytisch-empiristischen Denkstils bedeutete. Als dieser Denkstil in Westeuropa ab den 1960er Jahren dominierte, begannen die Akteure beider Denkkollektive wiederum, sich von demselben zu emanzipieren.

452 Vgl. Theodor W. Adorno, Negative Dialektik [1966], in: ders., Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit, hrsg. v. Rolf Tiedemann, unter Mitwirkung v. Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz (Gesammelte Schriften, Bd.6). Frankfurt am Main 2003, S.9-412. Siehe auch ders., Ohne Leitbild. Anstelle einer Vorrede [1960], in: ders., Kulturkritik und Gesellschaft I, S.291-301, hier: S.299. Vgl. auch Jeffries, Grand Hotel Abyss, S.325. Siehe Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle, S.632-655. 453 Vgl. dazu Burke, Exiles and Expatriates, S.16, 18f.

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D. Schlussbetrachtungen: Fragmentierte Sozialwissenschaften, unvollständige Demokratisierung

Die Denkkollektive um Horkheimer und Schelsky hatten in den frühen 1930er Jahren einen spezifisch sozialwissenschaftlichen Denkstil entwickelt, der im ersten Fall kollektiv-holistisch und im zweiten philosophisch-anthropologisch ausgerichtet war. Bei beiden Gruppen spaltete sich dieser in drei Wissensebenen auf. Bei den Akteuren um Horkheimer geschah dies infolge der politischen, materiellen und wissenschaftsorganisatorischen Verschiebungen sowie den daraus resultierenden Anpassungen an das amerikanische Wissenschaftsfeld ab 1939/40. Die Aufgliederung des Denkstils der Gruppe um Schelsky setzte mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und des NS-Regimes ein. In beiden Fällen waren die neuen Wissensebenen dadurch gekennzeichnet, dass mehrheitlich amerikanische in deutsche epistemische und erziehungspolitische Elemente übersetzt worden waren. Als beide Denkkollektive um 1950 aufeinandertrafen, um gemeinsam die Sozialwissenschaften im nachkriegszeitlichen Westdeutschland zu etablieren, zeigte sich dies auf der sozialempirischen, der Orientierungswissen generierenden und der erziehungspolitischen Wissensebene. Neben allen Divergenzen zwischen den Vertretern beider Gruppen überwogen dabei in den frühen 1950er Jahren eindeutig die Gemeinsamkeiten. So sprachen beide Denkkollektive auf der sozialempirischen Wissensebene der Sozialempirie die Fähigkeit zu, verborgene soziale wie psychische Mechanismen aufzudecken und zur Darstellung zu bringen. Entsprechend betrieben sie empirische Sozialforschung als angewandte Aufklärung wie Ideologiekritik und sprachen ihr sowohl hinsichtlich der Untersuchungsobjekte als auch der zu untersuchenden Subjekte eine demokratisierende Wirkung zu. Sie verwendeten ähnliche methodische Verfahren, arbeiteten mit der ganzheitlich angelegten Darstellungsform der Monografie als Zusammenführung von mit unterschiedlichen Methoden erhobenem Datenmaterial und werteten das erhobene empirische Material qualitativ aus. Obwohl sie auch versuchten, soziale Lagen und Einstellungen zu quantifizieren, blieben sie gegenüber rein quantifizierenden Methoden skeptisch – und sie standen damit nicht allein: Selbst in Meinungsumfrageinstituten wie dem IfD überwog in den frühen 1950er Jahren die Skepsis gegenüber einer reinen Quantifizierung sozialer Phänomene.1 Bei keinem sozialempirischen Projekt wurde die Zusammenstellung eines repräsentativen Samples angestrebt, was 1 Allensbacher Archiv, IfD-Bericht 69: Adenauer in der öffentlichen Meinung. Das Echo der Politik des Bundeskanzlers. Januar-Juli 1950, S.2.

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schlussbetrachtungen

ebenfalls als Ausdruck des Misstrauens gegenüber den aus den Vereinigten Staaten stammenden, quantifizierenden Methoden interpretiert werden kann.2 Auch waren beide Denkkollektive bestrebt, eine Aufsplitterung der Soziologie in spezialisierte Subfächer, jene sogenannten Bindestrich-Soziologien, zu verhindern. Sie betrachteten die sozialwissenschaftlichen Spezialistenfächer als Fehlentwicklung, vor der sie warnten.3 Von einer Tendenz der Mathematisierung ihrer Erkenntnisverfahren und einem zunehmenden Einbau behavioristischer Modelle, wie dies Mark Solovey für die »Cold War Social Science« in den Vereinigten Staaten beobachtet, kann für die Sozialwissenschaften Westdeutschlands und insbesondere für die westdeutsche Soziologie kaum die Rede sein. Allerdings kennzeichneten auch sie ein Primat der Methoden über Theorien und die Dominanz der empirischen Sozialforschung.4 Im Verhältnis von quantifizierenden Verfahren und qualitativ-interpretativer Auswertung lagen denn auch in den frühen 1950er Jahren die größten epistemischen Schwierigkeiten in der sozialempirischen Praxis beider Denkkollektive. Am deutlichsten zeigte sich dies bei Adornos Methodenkritik, die er auch während den empirischen Erhebungen fortwährend in die Forschungspraxis einzubringen suchte. Ulrich Oevermann urteilt zu Recht, dass dessen konkrete »Einsichten und Deutungen, wie sie in der Konfrontation mit dem Forschungsmaterial und von seinen Wahrnehmungen im Alltag beständig angestoßen wurden«, immer »treffsicher und für den Fortschritt in den Projekten maßgeblich« gewesen seien, »aber wie er zu ihnen gelangte und wie sie methodisch erzeugt wurden und vor allem in ihrer Geltung abzusichern waren, das blieb doch weitgehend Adornos Geheimnis und musste einer umfassenden, unwiederholbaren Bildung und künstlerischen Empfindsamkeit zugeschrieben werden.«5 Adorno folgte Marx in der Annahme, dass zwischen Methode und Gegenstand ein inhärenter Zusammenhang bestehe und methodisches Vorgehen nicht von der fortwährenden Reflexion des Gegenstands entkoppelt sein dürfe.6 Insofern vertrat er ein offenes und bewusst unsystematisches Forschungskonzept, für das »die Form des Fragments, das Schlaglichter wirft, ohne sich zur Sache selbst identifizierend zu verhalten«, ausschlaggebend war.7 Theorie und Empirie muss2 3 4 5 6

Vgl. Desrosières, The Politics of Large Numbers, S.210. Vgl. etwa Schelsky, Aufgaben und Grenzen, S.38f. Vgl. Solovey, Cold War Social Science. Oevermann, Adorno als empirischer Sozialforscher, S.191. Vgl. Harald Bluhm, MEGA-Marx, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 11 (2017) 3, S.41-54, hier: S.44. 7 Wolfgang Bonß, Empirie und Dechiffrierung von Wirklichkeit. Zur Methodologie bei Adorno, in: Ludwig von Friedeburg/Jürgen Habermas (Hrsg.), Adorno-Konferenz 1983. Frankfurt am Main 1983, S.201-225, hier: S.202.

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schlussbetrachtungen

ten für ihn »die Starrheit des hier und heute fixierten Gegenstandes auflösen in ein Spannungsfeld des Möglichen und Wirklichen«.8 Diese Haltung gegenüber statistisch-sozialwissenschaftlichen Methoden beruhte darauf, dass für Adorno das »Nicht-Identische«, also die »Gebrochenheit und Zerrissenheit des gesellschaftlich Ganzen«, nicht durch irgendeine »synthetisierende Funktion der Methoden« in eine widerspruchslose Einheit gebracht werden konnte und sollte.9 Auch Schelsky und seine Mitarbeiter vertraten die Ansicht, dass das Material nicht von der Form seiner Bearbeitung getrennt werden könne. Obgleich Schelsky alles andere als ein Marxist war, ähnelten die Gründe hierfür denjenigen Adornos: Er wollte keine abstrakten, von den Forschungsgegenständen und der sozialen Wirklichkeit losgelösten Methoden nutzen, weil er befürchtete, dass dadurch der Gegenstand nicht hinreichend erfasst und interpretiert werden könne. Mehr noch als für Adorno versuchte er bis Mitte der 1950er Jahre, die Sozialempirie mit dem aus dem amerikanisch-englischen Wissenschaftsfeld in die westdeutschen Sozialwissenschaften übersetzten Strukturfunktionalismus in Einklang zu bringen. Und auch Adorno hielt es noch in den frühen 1950er Jahren für möglich, dass Theorie und Empirie einander befruchten könnten.10 Beide sozialwissenschaftlichen Denkkollektive – dies deckt sich mit den Charakteristiken der »Cold War Social Science« – generierten Expertisen für die Bildungs- und Erziehungspolitik, für den Aufbau der Bundeswehr, für Industrielle und allgemein für die politische Steuerung. Oftmals wurde dieses sozialwissenschaftliche Expertenwissen von den politischen Stellen nicht berücksichtigt und manche Projektideen scheiterten. Trotz anderer Lagerung und geringeren Umfangs als in den Vereinigten Staaten lässt sich auch für die Sozialwissenschaften in Westdeutschland nach 1945 von einer Kopplung zwischen Sozialwissenschaften und politisch-wirtschaftlich-militärischem Komplex sprechen. Übereinstimmungen zwischen beiden Denkkollektiven bestanden auch auf der Orientierungswissen generierenden und der erziehungspolitischen Wissensebene: Beide übersetzten aus dem amerikanisch-englischen Bildungs-, Politikund Wissenschaftsverständnis die herausgehobene Stellung des Individuums, jenes Ich-starken Zivilbürgers, in die intellektuellen Diskurse der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft. Horkheimer und Adorno konzipierten es als gegenüber

8 Zitiert nach: Jürgen Ritsert, Indizienparadigma und Totalitätsempirie. Kommentar zu einigen Thesen Adornos über das Verhältnis von Theorie und empirischer Sozialforschung, in: von Friedeburg/Habermas (Hrsg.), Adorno-Konferenz 1983, S.226233, hier: S.228. 9 Oskar Negt, Geboren aus der Not des Begreifens. Zum Empiriebegriff Adornos, in: Claussen/ders./Werz (Hgg.), Philosophie und Empirie, S.12-39, hier: S.29. Siehe auch Benzer, The Sociology, S.122. Vgl. auch Adorno, Wissenschaftliche Erfahrungen in Amerika, S.712f. 10 Benzer, The Sociology, S.66.

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schlussbetrachtungen

der Gesellschaft emanzipiert-widerständiges Individuum.11 Schelsky wollte den mündigen Staatsbürger erschaffen, der über die nötige Bildung zur Partizipation an demokratischer Politik verfügte. Ganzheitliche Bildung jenseits der reinen Fachausbildung setzten Theoretiker beider Gruppen für eine erfolgreiche Demokratisierung der Westdeutschen voraus. Auch Schelsky war Anfang der 1950er Jahre kein Technokrat. Seine Diagnosen konzipierte er eher als Kritik und Warnung, als dass sie die fortschreitende Technisierung der modernen Gesellschaft naiv bekräftigt hätten. Im Unterschied zu Horkheimer und Adorno verknüpfte Schelsky technologische Entwicklung und Konsumindustrie nicht mit dem Totalitarismus. Obwohl er diese Tendenzen kritisch betrachtete, waren sie in seinen Augen nicht grundsätzlich zu bekämpfen. Vielmehr sollten sie durch entsprechende wirtschafts- und bildungspolitische Stellen wie Maßnahmen gelenkt werden. Für Horkheimer und Adorno galten Konsumindustrie, Technisierung und Totalitarismus als Ausdruck der Barbarei, deren Kristallisationsmoment Auschwitz darstellte. Während sie eine Fundamentalkritik der Moderne schlechthin formulierten und für sie das Ganze der Gesellschaft im Falschen lag, agierte Schelsky als ›Kalter Krieger‹, für den in den 1950er Jahren der freie Westen auf der einen und der unfreie Osten auf der anderen Seite standen. Doch auch Horkheimer und Adorno betonten, dass der liberale Westen gegen totalitäre Zugriffe notfalls mit Waffengewalt verteidigt werden müsse. Alle drei Denker traten deshalb für den Aufbau der Bundeswehr ein und Horkheimer verteidigte später wiederholt militärische Aktionen Israels. Udi Greenberg hat diese Haltung im Rückgriff auf Karl Loewenstein als »militant democracy« bezeichnet, die im Zusammenhang mit einer von Männern wie Ernst Fraenkel, Waldemar Gurian und Carl J. Friedrich verfolgten Allianzenbildung zwischen den Vereinigten Staaten und den westeuropäischen Staaten, vor allem aber der Bundesrepublik, stand.12 Beide Gruppen bildeten in den frühen 1950er Jahren Allianzen mit anderen Denkkollektiven und Akteuren, deren Ansichten und epistemische Ansätze teils stark von ihren eigenen abwichen. Im Unterschied zu Schelsky, der derartige Positionsbezüge vermied, bezogen Horkheimer und Adorno auf der Orientierungswissen generierenden Wissensebene pointiert Stellung gegen Philosophien und sozialwissenschaftliche Ansätze, die sie als totalitär oder als Wegbereiter des Totalitarismus ansahen. Neben dem Logischen Empirismus, der sich vor allem in den amerikanisch-englischen Ländern entwickelnden analytischen und kritisch-rationalistischen Philosophie sowie Mannheims Wissenssoziologie traf ihre Gegnerschaft vor allem die Existenzialontologie Martin Heideggers. Besonders für Adorno stellte Heideggers Philosophie einen pessimistischen Relativismus dar, den er mit der Vernichtungspraxis der Nationalsozialisten inhärent ver11 Ebd., S.15. 12 Greenberg, Weimar Century, S.170f.

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bunden sah.13 Auch mit dieser Ansicht ging eine Forderung nach Rationalität, Vernunft und Aufklärung einher. Schließlich waren beide Denkstile mit einer intermediären Diskursschicht der frühen 1950er Jahre verbunden, die sich durch die Bekämpfung totalitärer Irrationalismen sowie die Proklamierung von Neutralität und Objektivität in den Wissenschaften wie der Philosophie auszeichnete. Paul Nolte erkennt für Schelsky und Adorno als Mitbegründer der bundesrepublikanischen Soziologie in dieser Hinsicht auch ein Moment der gemeinsamen Generationserfahrung: »Von Schelsky bis Adorno fand diese Gründergeneration ihren gemeinsamen intellektuellen Nenner in dem entschiedenen Willen zur politischen und gesellschaftlichen Aufklärung über die Gegenwart. Sie forderte und betrieb den Abschied von allem ideologischen und spekulativen Ballast, den Abschied von einer Romantisierung der Vergangenheit ebenso wie von jeder chiliastischen Übersteigerung der Zukunft.«14 Den Akteuren beider Denkkollektive war in diesem Zusammenhang bewusst, dass der Aufbau einer rationalen, vernünftigen und demokratischen Gesellschaft weder über eine orthodox-marxistische Revolutionsbewegung noch über eine plebejische Revolution nach Art der Nationalsozialisten, die Schelsky in studentisch-idealistischem Eifer in den frühen 1930er Jahren unterstützt hatte, möglich war. Um 1940 hatte sich die Gruppe um Horkheimer von solchen Ansichten vollends gelöst. Bei Schelsky kam die Ernüchterung vor allem während seines Kriegseinsatzes. Auch René König meinte in seinem Buch Soziologie heute (1949), dass spätestens das Scheitern einer sozialistischen Revolution in der späten Weimarer Republik und der darauffolgende »Übergang zur Planwirtschaft«  – er bezog dies etwa auf den New Deal, den italienischen und den deutschen Faschismus sowie den Marschallplan – bewiesen hätten, dass gesellschaftliche Entwicklung durch fortwährenden sozialen und vor allem technischen Wandel voranschreite und nicht durch Revolutionen.15 Hinsichtlich der Thematisierung der NS-Vergangenheit der Deutschen unterschieden sich beide Denkkollektive. Die Gruppe um Horkheimer formulierte eine wenn auch Fragment gebliebene Theorie des Totalitarismus und des Antisemitismus als Fundamentalkritik der modernen Gesellschaft, deren Kern Auschwitz bildete. Diese theoretische Grundannahme bildete genauso jene nach 1945 vorherrschende »Tendenz zu einer ›Anthropologisierung‹ der Vorgänge des

13 Vgl. etwa Gruppenexperiment, S.295f. 14 Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft, S.245f. 15 Zitiert nach: Weyer, Westdeutsche Soziologie, S.127.

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›Dritten Reiches‹« ab, wie sie Dirk van Laak beschreibt,16 wie Schelskys nebensächliche Bemerkungen über die NS-Vergangenheit der Deutschen. Letztere stellten seinen Versuch dar, den Nationalsozialismus strukturfunktionalistisch in die Entwicklung moderner Gesellschaften einzubinden. Dies erlaubte ihm, einerseits zu konstatieren, dass die deutsche Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht anormal sei. Andererseits konnte er argumentieren, dass die westlich-liberale Moderne gesiegt habe und der Faschismus letztlich historisch geworden sei. Seine Einsicht, dass der Nationalsozialismus ein deutscher Irrweg war, ist in dieser Hinsicht ernst zu nehmen. Er interpretierte ihn als fehlgeschlagenen Versuch, »sich gegen die Moderne zu behaupten, indem er sich ihrer Mittel, der Massengesellschaft, bediente«, wie Ulrich Herbert konstatiert.17 Bis Mitte der 1950er Jahre wurden die Sozialwissenschaften, besonders aber die Soziologie, in der Bundesrepublik massiv ausgebaut. Zahlreiche universitäre Seminare für Soziologie und außeruniversitäre Forschungsinstitute wurden gegründet. Zudem diffundierte sozialwissenschaftliches Wissen in viele gesellschaftliche Bereiche, allen voran in die Bildungs- und Erziehungspolitik. Mit dem Beginn dieser ›Versozialwissenschaftlichung‹ war die Demokratisierungspolitik der westlichen Alliierten und westdeutscher Bildungspolitiker aufs Engste verbunden. Das Beispiel der Sozialwissenschaften spiegelte demnach jene epistemische Westernisierung des deutschen Wissenschafts- und Intellektuellenfelds im frühen Kalten Krieg wider, die in diesem Fall mehrheitlich eine Amerikanisierung war: Die Mehrzahl der Ansätze und Methoden, die in die bundesrepublikanischen Sozialwissenschaften übersetzt wurden, stammten aus dem amerikanischen Wissenschaftsfeld. Westernisierung und Amerikanisierung berührten dabei nicht nur die rein formal-methodologische Ebene. Sie beinhalteten vielmehr auch die Einbindung westdeutscher Sozialwissenschaftler in die ethischen und moralischen Normen, Verhaltensweisen, Umgangsformen und Meinungssysteme des amerikanisch-westeuropäischen Wissenschaftsfelds, wie sie Robert K. Merton und Karl R. Popper in Abgrenzung zu jenen des Nationalsozialismus und Sowjetkommunismus formuliert hatten. Hierzu zählten Transparenz, internationaler Austausch statt nationalem Partikularismus und Autarkiestreben, außerdem Kritik und Kritikfähigkeit im Hinblick auf eine anzustrebende Verbesserung und den Fortschritt wissenschaftlichen Wissens, die vorgeblich in der demokratischen Grundstruktur angelegte Wahrung der Menschenrechte auch in der wissenschaftlichen Praxis sowie schließlich die grundsätzliche Ablehnung einer Unterstützung totalitär-diktatorischer Politiksysteme durch die Wissenschaftler.18 16 van Laak, Gespräche in der Sicherheit des Schweigens, S.103. Vgl. auch Schildt, Zwischen Abendland und Amerika, S.14. 17 Herbert, Geschichte Deutschlands, S.693. Vgl. Jarausch/Geyer, Zerbrochener Spiegel, S.37. 18 Vgl. Merton, Science and Technology; Popper, The Open Society.

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Die Westernisierung, die als Prozess bereits mit der europäischen Aufklärung begonnen und nach 1945 nochmals intensiviert worden war,19 repräsentierte aus deutscher Sicht eine Öffnung gegenüber liberalen Wertvorstellungen und demokratischer Politik. Aus kapitalismuskritischer und postkolonialer Perspektive kennzeichnet sie eine Selbstversicherung westlicher Gesellschaften gegenüber ihren Modernisierungsleistungen.20 Der Westen und Europa als durch Geschichtsschreibung und sozialwissenschaftliche Theorie konstituierte Endpunkte der Menschheitsentwicklung wurden mit Westernisierung auf den Begriff gebracht, an dem die Welt gemessen wurde. Auf diese Weise untermauerten westliche Wissenschaftler und Intellektuelle ideologisch die angebliche Überlegenheit des Westens gegenüber allen anderen Weltregionen.21 Während Schelsky diese Hegemonie des amerikanisch-englisch geprägten Westens – nicht des französischen – schon in seiner verfassungsrechtlichen Schrift Das Freiheitswollen der Völker und die Idee des Planstaates von 1946 bekräftigte, damit den Nationalsozialismus in die Versenkung beförderte und zugleich seine antikommunistische Haltung demonstrierte, und Gehlen in der Kybernetik eine neue Synthese von Geistes- und Naturwissenschaften erblickte, blieben Horkheimer und Adorno in innere Widersprüche verstrickt: Einerseits standen sie für westliche Werte ein und waren Teil des westlichen Bildungssystems, obwohl sie andererseits beides kritisierten. In dieser Hinsicht erscheinen die frühen und mittleren 1950er Jahre in Westdeutschland als eine ausgesprochen ambivalente und widerspruchsbehaftete Zeit. Dies deckt sich mit der historiografischen und medienwissenschaftlichen Deutung dieser Zeit.22 Georg Bollenbeck und Gerhard Kaiser sprechen gar von den »janusköpfigen 50er Jahren«. Auf der einen Seite stellen sie fest, dass die 19 Vgl. Anselm Doering-Manteuffel, Amerikanisierung und Westernisierung, Version: 2.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 19.08.2019, URL: https://docupedia.de/zg/DoeringManteuffel_amerikanisierung_v2_de_2019 (Stand: 19.05.2021). Siehe auch Riccardo Bavaj/Martina Steber, Germany and ›the West‹: The Vagaries of a Modern Relationship, in: dies. (Hrsg.), Germany and ›the West‹: The History of a Modern Concept. New York/Oxford 2017 [2015], S.1-37, hier: S.8-25. 20 Wolfgang Knöbl, Das Problem »Europa«. Grenzen und Reichweite sozialtheoretischer Deutungsansprüche im 20. Jahrhundert, in: Lutz Raphael (Hrsg.), Theorien und Experimente der Moderne. Europas Gesellschaften im 20. Jahrhundert (Industrielle Welt, Bd.82). Köln/Weimer/Wien 2012, S.253-286, hier: S.275-285. 21 Dipesh Chakrabarty, Provincializing Europe: Postcolonial Thought and Historical Difference. Princeton 2000, S. 3-23, 27, 29, 41-43. 22 Zur medialen Darstellung der 1950er Jahre siehe Mark Rüdiger, »Goldene 50er« oder »Bleierne Zeit?« Geschichtsbilder der 50er Jahre im Fernsehen der BRD, 19591989 (Historische Lebenswelten in populären Wissenskulturen, Bd.13). Bielefeld 2014. Vgl. auch Richard Vinen, Where Did You Leave Them? Historians and »Losing the 1950s«, in: Heiko Feldner/Claire Gorrara/Kevin Passmore (Hrsg.),

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1950er Jahre schon lange »nicht mehr als Zeiten einer bleiernen Restauration, in der die alten Eliten ihre Machtpositionen in einem autoritären Verwaltungsstaat wiederherstellten«, gelten würden. Nach Axel Schildt liegen zwei Ereignisse einer Neubewertung der 1950er Jahre in Westdeutschland zugrunde: die Abschaffung der Lebensmittelkarten 1950 und der Auftritt der Beatles in Hamburg 1960: »Zwischen diesen Eckdaten vollzieht sich […] ein enormer gesellschaftlicher Strukturwandel: eine erhöhte Mobilität und Verstädterung, die Herausbildung neuer Freizeitstile und Konsumerwartungen.«23 Die Entwicklung der Sozialwissenschaften im nachkriegszeitlichen Westdeutschland zeigt, dass sich dieser Wandel zumindest partiell auch im Wissenschafts- und Intellektuellenfeld vollzog. Paul Nolte betont deshalb, dass in keiner Zeit Menschen schneller wohlhabend geworden seien als in dem Vierteljahrhundert nach dem Zweiten Weltkrieg.24 Die frühen und mittleren 1950er Jahre müssten demnach als frühe Phase der »Goldenen Jahre« des Kalten Krieges (Eric Hobsbawm) interpretiert werden,25 als Zeitspanne eines vernunftbasierten modernen Bürgertums.26 Für dieses stand das Denkkollektiv um Horkheimer genauso wie die Akteure um Schelsky. Lediglich die intellektuellen Hintergründe und Akzentuierung unterschieden sich. Nils Gilman betont ganz allgemein für das intellektuelle Feld der westlichen Welt im Kalten Krieg, dass sich bindende und homogenisierende Elemente vor allem in den »Long Fifties« finden würden.27 Auf der anderen Seite charakterisierte das Unausgesprochene, das Latente und das Unaufgearbeitete die Zeit bis zum Ende der 1950er Jahre in Westdeutschland. Der Nationalsozialismus mit seinen Grundideologemen – Antisemitismus, Rassismus, Nationalismus und Imperialismus – war immer noch da. Auch die Netzwerke der Dabeigewesenen im westdeutschen Wissenschafts- und Intellektuellenfeld bestanden in der Regel fort. Horkheimer und andere Intellektuelle des linken Spektrums28 blieben in der Bundesrepublik deshalb fortwährend misstrauisch gegenüber Staat und Gesellschaft. Diese Haltung resultierte aus ihrer erzwungenen Emigration. Stefan Zweig stellte in Die Welt von Gestern

23 24

25 26 27 28

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The Lost Decade? The 1950s in European History, Politics, Society and Culture. Newcastle upon Tyne 2011, S.10-27. Georg Bollenbeck/Gerhard Kaiser, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Die janusköpfigen 50er Jahre, S.7-15, hier: S.7. Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft, S.232f. In der Bundesrepublik nahm die Zahl der Erwerbstätigen in den 1950er Jahren erheblich zu, von 23,5 Millionen im Jahr 1950 auf 26,8 Millionen im Jahr 1961. Siehe Herbert, Geschichte Deutschlands, S.679. Vgl. Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme, S.324-362. Zu diesem Thema vgl. Wolbring, Trümmerfeld der bürgerlichen Welt, S.131. Nils Gilman, The Cold War as Intellectual Force Field, in: Modern Intellectual History 13 (2016) 2, S.507-523, hier: S.512. So z.B. auch Walter Dirks. Siehe Moses, German Intellectuals, S.44.

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treffend fest, dass jede Emigration eine Art Gleichgewichtsstörung nach sich ziehe. Der Emigrant werde gegenüber seiner Umwelt und gegenüber sich selbst misstrauisch: »Etwas von der natürlichen Identität mit meinem ursprünglichen und eigentlichen Ich blieb für immer zerstört.«29 Adorno sah das ähnlich: Im April 1952 schrieb er an Thomas Mann über seine Situation als Remigrant, »daß es in einem zentralen Sinn eine Rückkunft nicht gibt«.30 Bei ihm und Horkheimer zeigte sich das Misstrauen ihrer Umwelt gegenüber auch darin, dass sie hinter gesellschaftlichen Phänomenen Antisemitismus vermuteten, wo möglicherweise gar keiner existierte. Sie betrachteten den Antisemitismus geradezu als einen Urmechanismus der Moderne. Kritik an seiner Minima Moralia war für Adorno deshalb auch antisemitisch motiviert. Dies war der Fall bei einer Besprechung des Buches durch Erich Brock in der Neuen Schweizer Rundschau, auf die Adorno Gershom Scholem aufmerksam machte. Dieser musste Adorno darauf hinweisen, dass diese Zeitschrift nicht zum antisemitischen Kreis um Carl Gustav Jung gehörte, wie dieser vermutet hatte.31 Für die Entwicklung der Kritischen Theorie, dies hebt Matthias Benzer hervor, blieb diese Haltung jedoch richtungsweisend. Der Verfolgte und Entrechtete, dessen Archetyp der Jude war, wurde vor allem bei Adorno zum kritischen Moment der Gesellschaft schlechthin und damit zum normativen Element.32 Das Grauen der zurückgekehrten Juden stand im Zusammenhang mit der nicht aufgearbeiteten NS-Vergangenheit in der frühen Bundesrepublik. Jeffrey Herf stellt zu Recht fest, dass in der Ära Adenauer weder die NS-Verbrechen konkret thematisiert wurden, noch nach den verantwortlichen Tätern gesucht wurde.33 Die Forderung nach Aufarbeitung der deutschen NS-Vergangenheit kam erst gegen Ende der 1950er Jahre auf. In dieser Phase war die kooperative Konstellation zwischen den beiden Denkkollektiven zerbrochen. Während Hunter Heyck eine Ausdifferenzierung der Erkenntnisweisen in den amerikanischen Sozialwissenschaften erst für die 1970er Jahre konstatiert – als Folge der Entwicklungen in den späten 1960er Jahren34  –, vollzog sich dieser Prozess in West29 Stefan Zweig, Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers. Frankfurt am Main 1993 [1944], S.468. 30 Theodor W. Adorno an Thomas Mann vom 13.04.1952, in: Theodor W. Adorno – Thomas Mann. Briefwechsel, S.102-105, hier: S.103. Vgl. Burke, Exiles and Expatriates, S.7. 31 Theodor W. Adorno an Gershom Scholem vom 06.07.1952, in: Theodor W. Adorno – Gershom Scholem. Briefwechsel, S.88-90, hier: S.89; Gershom Scholem an Theodor W. Adorno vom 11.07.1952, in: Theodor W. Adorno – Gershom Scholem. Briefwechsel, S.92f., hier: S.92. 32 Benzer, The Sociology, S.138f. 33 Herf, Divided Memory, S.282f. 34 Hunter Heyck, Age of System: Understanding the Development of Modern Social Science. Baltimore 2015, S.3.

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deutschland bereits ab Ende der 1950er Jahre. Damit verbunden war hier auch eine Abwendung vom amerikanisch-englischen sozialempirischen und dem analytisch-philosophischen Denkstil. Letzteres war mit dem Erstarken der Orientierungswissen generierenden Wissensebene verbunden. Beide Denkkollektive rekurrierten fortan wieder stärker auf ihr philosophisches Idiom, das sie in der deutschen idealistischen Tradition verankert sahen. Dies zeigte sich vor allem bei Adorno und Schelsky: Während Ersterer Hegels Dialektik wieder in den Vordergrund stellte, bezog sich Letzterer auf eine Kantische »transzendentale Theorie der Gesellschaft«. Beide unternahmen in dieser Zeit einen letzten Versuch, den Geist des deutschen philosophischen Idealismus mit dem Methodenarsenal der modernen Sozialwissenschaften zu verkoppeln – und, das zeigt die Retrospektive, beide scheitern damit. Um 1960, also nicht erst mit der 68er-Bewegung, wurden die Kooperationsverhältnisse und inhaltlichen Übereinstimmungen zwischen den beiden Denkkollektiven brüchig.35 Ab diesem Zeitpunkt zementierte sich die Aufspaltung der Denkstile der beiden hier behandelten Gruppen in jeweils drei Wissensebenen vollends. Danach sollte nie wieder eine Phase kommen, in der ernsthaft ein ganzheitlicher sozialwissenschaftlicher Denkstil zu begründen versucht wurde. Diese epistemische Entwicklung hing eng mit einem intensivierten kritischen Nachdenken über Gesellschaft und Politik Westdeutschlands zusammen: Nicht nur begannen Sozialwissenschaftler wie Adorno, Schelsky und Dahrendorf damit, die epistemologischen Grundlagen der Sozialwissenschaften zu reflektieren. Sie fragten vielmehr auch nach der demokratischen Verfasstheit der Bundesrepublik und insbesondere nach jenen Dingen, die schiefliefen. Insofern kann Adornos retrospektive epistemische Beurteilung der Sozialwissenschaften auf sein Denken über die westdeutsche Demokratie bezogen werden: Deren »Inhomogenität«, mäandrierend »zwischen kritischen Theoremen und den naturwissenschaftlich empirischen Verfahrungsarten«, sah er »nur mit äußerster Gewalttätigkeit« als integrierbar an. Gleichwohl wollte er an einer fruchtbaren Beziehung von Sozialempirie und Theorie festhalten.36 Die Missstände der Bundesrepublik sah er deutlich und kritisch. Er nahm ihren fragmentierten und bedrohten Zustand wahr, hielt aber an der Utopie fest, dass es dennoch die Möglichkeit gäbe, ein Besseres zu schaffen. Ein entscheidender Punkt, an dem sich die Schieflage der Bundesrepublik um 1960 deutlich zeigte, war nun gerade der Umgang mit der 35 Darauf hat auch Aleida Assmann aufmerksam gemacht: »Im historischen Rückblick war es die 1968er-Generation, die als historischer Akteur das Programm des Brechens mit der NS-Vergangenheit auf so viel eklatantere und durchschlagendere Weise in den Familien, auf der Straße, und in den Institutionen vollzogen hat. Das Brechen der 68er hat das Brechen der 45er deshalb gänzlich überschrieben und unsichtbar gemacht.« Siehe Assmann, Formen des Vergessens, S.181. 36 Adorno, Wissenschaftliche Erfahrungen, S.712f., 719, 722f., 729f.

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NS-Vergangenheit. Die erziehungspolitische Wissensebene war bei beiden Denkkollektiven dominanter geworden, hatte sich jedoch inhaltlich in jeweils diametrale Richtung entwickelt: Horkheimer und Adorno forderten mehr Demokratie und eine wirkliche »Aufarbeitung der Vergangenheit«. Schelsky und Gehlen dagegen kritisierten die ihrer Ansicht nach übergreifende und ›totalitäre‹ Demokratisierung. Sie konzentrierten sich deshalb auf die technokratische Techniksoziologie und -philosophie. Es waren diese zwei Positionen  – wirkliche Aufarbeitung der deutschen NS-Vergangenheit und Auschwitz als Angelpunkt für eine demokratische Erziehung der Deutschen einerseits sowie sozialwissenschaftlich und historisch distanzierte Analyse der deutschen Gesellschaft andererseits –, die die vergangenheitspolitischen Debatten in der Bundesrepublik von den 1960er bis in die 1980er Jahre bestimmen sollten. Dies zeigte sich noch im Historikerstreit in den späten 1980er Jahren, als westdeutsche Intellektuelle und Wissenschaftler über die Möglichkeiten und Grenzen der Historisierbarkeit des Holocaust stritten.

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E. Anhang 1. Abkürzungsverzeichnis ACLS Adorno-Archiv AJC Allensbacher Archiv ANT Archiv IfS Archiv SFS ASSA AStA Bibliothek IfS CDU CIA DAAD DAF DFG DGB DGS DIVO DLA Marbach DPs DRK EC EMNID ERP E-Skala FAZ FBI F-Skala Gestapo GfS HHStAW HICOG HJ HWWA IAO IBM IfD IfR IfS IfW IfZ

American Council for Learned Societies Theodor W. Adorno Archiv, Frankfurt am Main American Jewish Committee Archiv des Instituts für Demoskopie Allensbach Akteur-Netzwerk-Theorie Archiv des Instituts für Sozialforschung Archiv der Sozialforschungsstelle Dortmund American Social Science Association Allgemeiner Studentenausschuss Bibliothek des Instituts für Sozialforschung Christlich Demokratische Union Central Intelligence Agency Deutscher Akademischer Austauschdienst Deutsche Arbeitsfront Deutsche Forschungsgemeinschaft Deutscher Gewerkschaftsbund Deutsche Gesellschaft für Soziologie Deutsches Institut für Volksumfragen Deutsches Literaturarchiv Marbach Displaced Persons Deutsches Rotes Kreuz Emergency Committee in Aid of Displaced Foreign Scholars Institut zur Erforschung der öffentlichen Meinung, Marktforschung, Nachrichten, Informationen und Dienstleistungen European Recovery Program Ethnozentrismus-Skala Frankfurter Allgemeine Zeitung Federal Bureau of Investigation Faschismus-Skala Geheime Staatspolizei Gesellschaft für Sozialwissenschaft Hessisches Hauptstaatsarchiv, Wiesbaden High Commissioner for Germany Hitlerjugend Hamburgisches Welt-Wirtschafts-Archiv Internationale Arbeitsorganisation Internationale Büromaschinen GmbH Institut für Demoskopie Allensbach Institut für Raumforschung Institut für Sozialforschung Institut für Weltwirtschaft Institut für Zeitgeschichte

571

anhang

IIS ISA ISG KPD JLC LSE MIT NSD-Dozentenbund NSDStB NSLB OIR OMGUS OSS PEC-Skala

RAG RAS REM RfR RIAS SAK SBZ SDS SED SFG SFS SPD StAHH UAF UA MS UBA Ffm ULB Münster ÜDA VFG WiSo-Fakultät

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Institut International de Sociologie International Sociological Association Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main Kommunistische Partei Deutschlands Jewish Labor Committee London School of Economics and Political Science Massachusetts Institute of Technology Nationalsozialistischer Deutscher Dozentenbund Nationalsozialistischer Deutscher Studentenbund Nationalsozialistischer Lehrerbund Intelligence Research des amerikanischen State Department Office of Military Government for Germany, US Zone Office of Strategic Services Politico-Economic Conservatism-Skala Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung der deutschen Hochschulen Reaction Analysis Staff Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung Reichsstelle für Raumordnung Rundfunk im amerikanischen Sektor Sozialwissenschaftliches Archiv Konstanz Sowjetische Besatzungszone Sozialistischer Deutscher Studentenbund Sozialistische Einheitspartei Deutschland Sozialistische Freie Gewerkschaft Sozialforschungsstelle der Universität Münster in Dortmund Sozialdemokratische Partei Deutschlands Staatsarchiv Hamburg Universitätsarchiv Frankfurt am Main Universitätsarchiv Münster Archivzentrum – Universitätsbibliothek Frankfurt am Main Universitäts- und Landesbibliothek Münster Überparteiliche Demokratische Arbeitsgemeinschaft Volksdeutsche Forschungsgemeinschaften Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät an der Universität Frankfurt am Main

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2. Quellen- und Literaturverzeichnis (1) Archivquellen Adorno-Archiv 04.1. Privatkorrespondenz: TWAA_Br_0024 Andersch, Alfred; TWAA_Br_0315 Dirks, Walter; TWAA_Br_0453 Gehlen, Arnold; TWAA_Br_0780 Koenig, René; TWAA_Br_1145 Plessner, Helmuth; TWAA_Br_1308 Schelsky, Helmut; TWAA_Br_1664 Wiese, Leopold von; 04.2. Korrespondenz mit Institutionen und Organisationen, 04.2.1. Korrespondenz mit Rundfunkanstalten (Ru). Allensbacher Archiv IfD-Bericht 69. Amherst College Special Collection Box HC2, Series 13A: HICOG (Part 1), John J. McCloy Papers. Archiv IfS Aa1: Adorno-Korrespondenz, B, 2; D, 4; H, 8; I-J , 9; K, 1: 10; K, 2; L, 12; M, 13; S, 18; A 10: Betriebsuntersuchung Mannesmann: O. Vorarbeiten. Ordner 1.1.; A 20, P 14, Bundeswehr, Akte 1.1.; F 1/40-60: Studies in Prejudice: Nr.58; Nr.59; Heimkehrer-Studie, A 13 I-III , Ordner 1/6; Vorarbeiten: Ordner 1.1; Oe 1, Tagungen 1950-1961, Tagung 32-36, Bd.6; Ordner: Anlagen zum Tagebuch 14.11.1951; Ordner: Korrespondenzen mit Instituten, 1c, L-S; Ordner: U.S.A, A-L, allgem.; Ordner USA, M-Z, Korr. H. Marcuse; Ordner: Osmer Archiv; Ordner Pollock: Ausländische Institute, Seminare, Universitäten; Ordner: Briefe re: Library of Congress, 1951, K-Z; Ordner: Memorandum, Aufsätze (1950-1953); Projekte 2 (1): Gruppenexperiment/Gruppenstudie; Projekte 2 (2): Gruppenexperiment/Gruppenstudie; Projekte 2 (6): Gruppenexperiment/Gruppenstudie; Projekte 2 (15): Gruppenexperiment/ Gruppenstudie; SAM 3, Diedrich Osmer, 1-6: 1: Memoranden; 7/1; S 1: Tagungen 1950-1961, Ordner 1: 1950-1952; Ordner 2: 1952-1961; S, 18; A 7/I-III : Universitätsprojekt: Universität und Gesellschaft. O. Vorarbeiten, Korrespondenz, Aktennotizen: Ordner 1.1. Archiv SFS Bestand I , Karton 1/3, Ordner 1. Bibliothek IfS Sign. 122 858, 1-4; Sign. 1/520; Sign. F2 115; Sign. 31. DLA Marbach A Norbert Elias, No. 115; No. 1494; No. 46.2.2; No. 38.5.5; No. 50.6.8. Hoover Institution Archives Deutsche Forschungsgemeinschaft, Box No. 5, Accession No. XX086 8M.40, S.

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HHStAW Abt. 260, BD. 8/19-2/10; BD. 8/45-1/46; Abt. 504, Nr.374; Nr.1075a; Nr.7618; Nr.12.411. ISG S5/421 Bd. a Bl./S.301. Rauner Library, Dartmouth College Special Collections Folder 35, Correspondence A-J, 1951, Box 12, Series 4: High Commission For Germany (HICOG), 1949-1953, Shepard Stone Papers, ML-99. SAK Digitale Dokumentation zur DGS, DE-SAK-B1-3611; DE-SAK-B1-3316; DE-SAK-B1-3621. StAHH 731-8, A 796; 364-13: Inst f. Sowi u. Gesch 5: Errichtung des Ordinariats für Soziologie, Lehrstuhlinhaber Proff. Walther, Schelsky, und Kluth, 1934-1962: Bd.2; Hochschulwesen II, Af 12/1: Akademie für Gemeinwirtschaft. b. Personelle Angelegenheiten [nicht foliert]; Hochschulwesen II, Ai 5/19: Besetzung der Professur in der Philosophischen Fakultät. Heft 34: o. Professur für Soziologie (Prof. Dr. A. Walther); 361-6, IV 936: Hochschulwesen. Dozenten- u. Personalakten: Schelsky, Helmut; 621-1/144, 1782: NDR; 621-1/144, 2102: NDR. The Rockefeller Archive Center RG2-1948/717/428/2888. UAF Abt. 1, Nr.211; Nr.76; Abt. 130, Nr.82; Abt. 134, Nr.4; Nr.234; Abt. 154, Nr.100. UA MS Bestand 8 (Rektorat (ab 1970), Personalangelegenheiten), Nr.9061, Bd.1. UBA Ffm Na 1, 1; 2; 4; 5; 7; 10; 21; 26; 30; 31; 36; 61; 96; 97; 100; 103; 108; 109; 110; 129; 131; 133; 135; 138; 302; Nr.823, XIII 1a. ULB Münster, N. Schelsky 17,005; 17,008; 23,102; 23,103; 23,154; 23,159; 25,110; 26,001; 75,074; 165,01.

574

23,051; 23,105; 24,004; 26,004;

23,060; 23,107; 24,006; 26,013;

23,067; 23,109; 24,007; 44,058;

23,075; 23,112; 24,024; 45,031;

23,084; 23,116; 24,026; 45,034;

23,088; 23,118; 24,038; 45,035;

23,090; 23,119; 24,095; 46,005;

23,094; 23,127; 25,102; 63,055;

23,095; 23,130; 25,104; 63,066;

23,096; 23,151; 25,106; 63,068;

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Tagebuchblätter‹ 1914-1918, hrsg. v. Alfred Schmidt (Gesammelte Schriften, Bd.1). Frankfurt am Main 1988, S.158-169. Max Horkheimer, Zur Antinomie der teleologischen Urteilskraft [1922], in: ders., Philosophische Frühschriften 1922-1932, hrsg. v. Gunzelin Schmid Noerr (Gesammelte Schriften, Bd.2). Frankfurt am Main 1987, S.13-72. Max Horkheimer, Über Kants Kritik der Urteilskraft als Bindeglied zwischen theoretischer und praktischer Philosophie [1925], in: ders., Philosophische Frühschriften 1922-1932, hrsg. v. Gunzelin Schmid Noerr (Gesammelte Schriften, Bd.2). Frankfurt am Main 1987, S.75-146. Max Horkheimer, Rudolf Eucken. Ein Epigone des Idealismus [1926], in: ders., Philosophische Frühschriften 1922-1932, hrsg. v. Gunzelin Schmid Noerr (Gesammelte Schriften, Bd.2). Frankfurt am Main 1987, S.154-157. Max Horkheimer, Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie [1930], in: ders., Philosophische Frühschriften 1922-1932, hrsg. v. Gunzelin Schmid Noerr (Gesammelte Schriften, Bd.2). Frankfurt am Main 1987, 179-268. Max Horkheimer, Ein neuer Ideologiebegriff? [1930], in: ders., Philosophische Frühschriften 1922-1932, hrsg. v. Gunzelin Schmid Noerr (Gesammelte Schriften, Bd.2). Frankfurt am Main 1987, S.271-294. Max Horkheimer, Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben eines Instituts für Sozialforschung [1931], in: Werner Brede (Hrsg.), Max Horkheimer. Sozialphilosophische Studien. Aufsätze, Reden und Vorträge 1930-1972. Frankfurt am Main 1981, S.33-46. Max Horkheimer, Dämmerung. Notizen in Deutschland [1931/34], in: ders., Philosophische Frühschriften 1922-1932, hrsg. v. Gunzelin Schmid Noerr (Gesammelte Schriften, Bd.2). Frankfurt am Main 1987, S.312-452. Max Horkheimer, Bemerkungen über Wissenschaft und Krise [1932], in: ders., Schriften 19311936, hrsg. v. Alfred Schmidt (Gesammelte Schriften, Bd.3). Frankfurt am Main 1988, S.40-47. Max Horkheimer, Geschichte und Psychologie [1932], in: ders., Schriften 1931-1936, hrsg. v. Alfred Schmidt (Gesammelte Schriften, Bd.3). Frankfurt am Main 1988, S.48-69. Max Horkheimer, Materialismus und Metaphysik [1932], in: ders., Schriften 1931-1936, hrsg. v. Alfred Schmidt (Gesammelte Schriften, Bd.3). Frankfurt am Main 1988, S.70-105. Max Horkheimer, Vorwort [zu Heft 1/2 des I. Jahrgangs der Zeitschrift für Sozialforschung] [1932], in: ders., Schriften 1931-1936, hrsg. v. Alfred Schmidt (Gesammelte Schriften, Bd.3). Frankfurt am Main 1988, S.36-39. Max Horkheimer, Materialismus und Moral [1933], in: ders., Schriften 1931-1936, hrsg. v. Alfred Schmidt (Gesammelte Schriften, Bd.3). Frankfurt am Main 1988, S.111-149. Max Horkheimer, Vorwort [zu Heft 2 des II. Jahrgangs der Zeitschrift für Sozialforschung] [1933], in: ders., Schriften 1931-1936, hrsg. v. Alfred Schmidt (Gesammelte Schriften, Bd.3). Frankfurt am Main 1988, S.110. Max Horkheimer, Zum Rationalismusstreit in der gegenwärtigen Philosophie [1934], in: ders., Schriften 1931-1936, hrsg. v. Alfred Schmidt (Gesammelte Schriften, Bd.3). Frankfurt am Main 1988, S.163-220. Max Horkheimer, Vorwort [zu den Studien über Autorität und Familie] [1936], in: ders., Schriften 1931-1936, hrsg. v. Alfred Schmidt (Gesammelte Schriften, Bd.3). Frankfurt am Main 1988, S.329-335. Max Horkheimer, Autorität und Familie [1936], in: ders., Schriften 1931-1936, hrsg. v. Alfred Schmidt (Gesammelte Schriften, Bd.3). Frankfurt am Main 1988, S.336-417. Max Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie [1937], in: ders., Traditionelle und kritische Theorie. Fünf Aufsätze, 7. Aufl. Frankfurt am Main 2011, S.205-259. Max Horkheimer, Die Juden und Europa [1939], in: ders., Schriften 1936-1941, hrsg. v. Alfred Schmidt (Gesammelte Schriften, Bd.4). Frankfurt am Main 1988, S.308-331. Max Horkheimer, Philosophie und Studium [1949], in: ders., Vorträge und Aufzeichnungen 1949-1973. 4. Soziologisches, 5. Universität und Studium, hrsg. v. Gunzelin Schmid Noerr (Gesammelte Schriften, Bd.8). Frankfurt am Main 1985, S.361-377.

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Max Horkheimer, Ideologie und Handeln [1950], in: ders., Vorträge und Aufzeichnungen 19491973. 1. Philosophisches, 2. Würdigungen, 3. Gespräche, hrsg. v. Gunzelin Schmid Noerr (Gesammelte Schriften, Bd.7). Frankfurt am Main 1985, S.11-21. Max Horkheimer, Lehren aus dem Faschismus [1950], in: ders., Vorträge und Aufzeichnungen 1949-1973. 4. Soziologisches, 5. Universität und Studium, hrsg. v. Gunzelin Schmid Noerr (Gesammelte Schriften, Bd.8). Frankfurt am Main 1985, S.9-37. Max Horkheimer, Korreferat zu Rothackers Probleme und Methoden der Kulturanthropologie [1950], in: ders., Nachgelassene Schriften 1949-1972. 1. Vorträge, 2. Gespräche, 3. Würdigungen, 4. Vorlesungsnachschriften, hrsg. v. Gunzelin Schmid Noerr (Gesammelte Schriften, Bd.13). Frankfurt am Main 1989, S.13-18. Max Horkheimer, Politik und Soziales [1950], in: ders., Vorträge und Aufzeichnungen 19491973. 4. Soziologisches, 5. Universität und Studium, hrsg. v. Gunzelin Schmid Noerr (Gesammelte Schriften, Bd.8). Frankfurt am Main 1985, S.38-52. Max Horkheimer, Invarianz und Dynamik in der Lehre von der Gesellschaft [1951], in: ders., Vorträge und Aufzeichnungen 1949-1973. 4. Soziologisches, 5. Universität und Studium, hrsg. v. Gunzelin Schmid Noerr (Gesammelte Schriften, Bd.8). Frankfurt am Main 1985, S.53-63. Max Horkheimer, Soziologie an der Universität [1951], in: ders., Vorträge und Aufzeichnungen 1949-1973 4. Soziologisches, 5. Universität und Studium, hrsg. v. Gunzelin Schmid Noerr (Gesammelte Schriften, Bd.8). Frankfurt am Main 1985, S.378-380. Max Horkheimer, Akademisches Studium [1952], in: ders., Vorträge und Aufzeichnungen 19491973. 4. Soziologisches, 5. Universität und Studium, hrsg. v. Gunzelin Schmid Noerr (Gesammelte Schriften, Bd.8). Frankfurt am Main 1985, S.381-390. Max Horkheimer, Begriff der Bildung [1952], in: ders., Vorträge und Aufzeichnungen 19491973. 4. Soziologisches, 5. Universität und Studium, hrsg. v. Gunzelin Schmid Noerr (Gesammelte Schriften, Bd.8). Frankfurt am Main 1985, S.409-419. Max Horkheimer, Fragen des Hochschulunterrichts [1952], in: ders., Vorträge und Aufzeichnungen 1949-1973. 4. Soziologisches, 5. Universität und Studium, hrsg. v. Gunzelin Schmid Noerr (Gesammelte Schriften, Bd.8). Frankfurt am Main 1985, S.391-408. Max Horkheimer, Zum Begriff der Vernunft [1952], in: ders., Vorträge und Aufzeichnungen 1949-1973. 1. Philosophisches, 2. Würdigungen, 3. Gespräche, hrsg. v. Gunzelin Schmid Noerr (Gesammelte Schriften, Bd.7). Frankfurt am Main 1985, S.22-35. Max Horkheimer, Fragen der Geschichtsphilosophie [Vorlesungsnachschrift von Alfred Schmidt] (Wintersemester 1953/54), in: ders., Nachgelassene Schriften 1949-1972. 1. Vorträge und Ansprachen, 2. Gespräche, 3. Würdigungen, 4. Vorlesungsnachschriften, hrsg. v. Gunzelin Schmid Noerr (Gesammelte Schriften, Bd.13). Frankfurt am Main 1989, S.270-346. Max Horkheimer, [Das Europäische] [1954], in: ders., Vorträge und Aufzeichnungen 1949-1973. 4. Soziologisches, 5. Universität und Studium, hrsg. v. Gunzelin Schmid Noerr (Gesammelte Schriften, Bd.8). Frankfurt am Main 1985, S.84-89. Max Horkheimer, Kritik des Positivismus [Vorlesungsnachschrift von Alfred Schmidt] (Sommersemester 1954), in: ders., Nachgelassene Schriften 1949-1972. 1. Vorträge und Ansprachen, 2. Gespräche, 3. Würdigungen, 4. Vorlesungsnachschriften, hrsg. v. Gunzelin Schmid Noerr (Gesammelte Schriften, Bd.13). Frankfurt am Main 1989, S.347-396. Max Horkheimer, Die Psychologie des Totalitären [1954], in: ders., Vorträge und Aufzeichnungen 1949-1973. 4. Soziologisches, 5. Universität und Studium, hrsg. v. Gunzelin Schmid Noerr (Gesammelte Schriften, Bd.8). Frankfurt am Main 1985, S.77-83. Max Horkheimer, Verantwortung und Studium [1954], in: ders., Vorträge und Aufzeichnungen 1949-1973. 4. Soziologisches, 5. Universität und Studium, hrsg. v. Gunzelin Schmid Noerr (Gesammelte Schriften, Bd.8). Frankfurt am Main 1985, S.433-453. Max Horkheimer, Wert und Objektivität in der sozialwissenschaftlichen Erkenntnis [1954], in: ders., Nachgelassene Schriften 1949-1972. 1. Vorträge und Ansprachen, 2. Gespräche, 3.

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digungen, 4. Vorlesungsnachschriften, hrsg. v. Gunzelin Schmid Noerr (Gesammelte Schriften, Bd.13). Frankfurt am Main 1989, S.25-29. Max Horkheimer, Schopenhauer und die Gesellschaft [1955], in: ders., Vorträge und Aufzeichnungen 1949-1973. 1. Philosophisches, 2. Würdigungen, 3. Gespräche, hrsg. v. Gunzelin Schmid Noerr (Gesammelte Schriften, Bd.7). Frankfurt am Main 1985, S.43-54. Max Horkheimer, [Sigmund Freud – zum 100. Geburtstag] [1956], in: ders., Vorträge und Aufzeichnungen 1949-1973. 4. Soziologisches, 5. Universität und Studium, hrsg. v. Gunzelin Schmid Noerr (Gesammelte Schriften, Bd.8). Frankfurt am Main 1985, S.106-111. Max Horkheimer, [Sigmund Freuds Programm der Selbstbesinnung. Zum 100.  Geburtstag] [1956], in: ders., Nachgelassene Schriften 1949-1972. 1. Vorträge und Ansprachen, 2. Gespräche, 3. Würdigungen, 4. Vorlesungsnachschriften, hrsg. v. Gunzelin Schmid Noerr (Gesammelte Schriften, Bd.13). Frankfurt am Main 1989, S.259-263. Max Horkheimer, Zum Begriff des Menschen [1956], in: ders., Vorträge und Aufzeichnungen 1949-1973. 1. Philosophisches, 2. Würdigungen, 3. Gespräche, hrsg. v. Gunzelin Schmid Noerr (Gesammelte Schriften, Bd.7). Frankfurt am Main 1985, S.55-80. Max Horkheimer, Geschichte des Materialismus (ausgewählte Kapitel) [Einleitung in der Manuskriptfassung und Vorlesungsnachschrift von Hilmar Tillack] (Sommersemester 1957), in: ders., Nachgelassene Schriften 1949-1972. 1. Vorträge und Ansprachen, 2. Gespräche, 3. Würdigungen, 4. Vorlesungsnachschriften, hrsg. v. Gunzelin Schmid Noerr (Gesammelte Schriften, Bd.13). Frankfurt am Main 1989, S.397-451. Max Horkheimer, Die Idee der Freiheit [Vorlesungsnachschrift von Hilmar Tillack] (Wintersemester 1957/58), in: ders., Nachgelassene Schriften 1949-1972. 1. Vorträge und Ansprachen, 2. Gespräche, 3. Würdigungen, 4. Vorlesungsnachschriften, hrsg. v. Gunzelin Schmid Noerr (Gesammelte Schriften, Bd.13). Frankfurt am Main 1989, S.452-514. Max Horkheimer, Der Begriff der Seele seit Leibniz [Vorlesungsnachschrift von Hilmar Tillack] (Sommersemester 1958), in: ders., Nachgelassene Schriften 1949-1972. 1. Vorträge und Ansprachen, 2. Gespräche, 3. Würdigungen, 4. Vorlesungsnachschriften, hrsg. v. Gunzelin Schmid Noerr (Gesammelte Schriften, Bd.13). Frankfurt am Main 1989, S.515-569. Max Horkheimer, Erinnerung [1959], in: ders., Vorträge und Aufzeichnungen 1949-1973. 1. Philosophisches, 2. Würdigungen, 3. Gespräche, hrsg. v. Gunzelin Schmid Noerr (Gesammelte Schriften, Bd.7). Frankfurt am Main 1985, S.104-107. Max Horkheimer, Philosophie als Kulturkritik [1959], in: ders., Vorträge und Aufzeichnungen 1949-1973. 1. Philosophisches, 2. Würdigungen, 3. Gespräche, hrsg. v. Gunzelin Schmid Noerr (Gesammelte Schriften, Bd.7). Frankfurt am Main 1985, S.81-103. Max Horkheimer, Soziologie und Philosophie [1959], in: ders., Vorträge und Aufzeichnungen 1949-1973. 1. Philosophisches, 2. Würdigungen, 3. Gespräche, hrsg. v. Gunzelin Schmid Noerr (Gesammelte Schriften, Bd.7). Frankfurt am Main 1985, S.108-121. Max Horkheimer, Die Aufklärung [Vorlesungsnachschrift von Hilmar Tillack] (Wintersemester 1959/60), in: ders., Nachgelassene Schriften 1949-1972. 1. Vorträge und Ansprachen, 2. Gespräche, 3. Würdigungen, 4. Vorlesungsnachschriften, hrsg. v. Gunzelin Schmid Noerr (Gesammelte Schriften, Bd.13). Frankfurt am Main 1989, S.570-645. Max Horkheimer, Über das Vorurteil [1960/61], in: ders., Vorträge und Aufzeichnungen 19491973. 4. Soziologisches, 5. Universität und Studium, hrsg. v. Gunzelin Schmid Noerr (Gesammelte Schriften, Bd.8). Frankfurt am Main 1985, S.194-200. Max Horkheimer, Über die deutschen Juden [1960/61], in: ders., Vorträge und Aufzeichnungen 1949-1973. 4. Soziologisches, 5. Universität und Studium, hrsg. v. Gunzelin Schmid Noerr (Gesammelte Schriften, Bd.8). Frankfurt am Main 1985, S.160-174. Max Horkheimer, Gedanken zur politischen Erziehung [1960/63], in: ders., Vorträge und Aufzeichnungen 1949-1973. 4. Soziologisches, 5. Universität und Studium, hrsg. v. Gunzelin Schmid Noerr (Gesammelte Schriften, Bd.8). Frankfurt am Main 1985, S.147-155. Max Horkheimer, Zur Ergreifung Eichmanns [1960/67], in: ders., Vorträge und

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(4) Internetquellen http://www.berufsstart.de/unternehmen/gfk/firmengeschichte.php (Stand: 27.04.2021). https://www.geni.com/people/Charles-Hartshorne/285597090350007299 (Stand: 28.05.2021). http://arbeitskreis-zwingenberger-synagoge.de/unser-angebot/veranstaltungen/veranstaltungen2004/meschugge-zores-und-schlamassel.html (Stand: 28.05.2021).

(5) Forschungsliteratur Andrew Abbott, Library Research Infrastructure for Humanistic and Social Scientific Scholarship in the Twentieth Century, in: Charles Camic/Neil Gross/Michèle Lamont (Hrsg.), Social Knowledge in the Making. Chicago/London 2011, S.43-87. John Abromeit, Max Horkheimer and the Foundations of the Frankfurt School. Cambridge 2011. Dania Achermann, Institutionelle Identität im Wandel. Zur Geschichte des Instituts für Physik der Atmosphäre in Oberpfaffenhofen. Bielefeld 2016. Jens Adamski, Ärzte des sozialen Lebens. Die Sozialforschungsstelle Dortmund 1946-1969 (Veröffentlichungen des Instituts für soziale Bewegung. Schriftenreihe A: Darstellungen, Bd.41). Essen 2009. Jens Adamski, Zwischen Soziologie und Wissenschaftsmanagement. Helmut Schelsky an der Sozialforschungsstelle Dortmund, in: Thomas Gutmann/Christoph Weischer/ Fabian Wittreck (Hrsg.), Helmut Schelsky. Ein deutscher Soziologe im zeitgeschichtlichen, institutionellen und disziplinären Kontext  – Interdisziplinärer Workshop zum 100.  Geburtstag (Rechtstheorie, Beiheft 22). Berlin 2017, S.57-73. Urs Aeschbacher, C.G. Jung, das »Dritte Reich« und die Gewalt der Seele, in: Aram Mattioli (Hrsg.), Intellektuelle von rechts. Ideologie und Politik in der Schweiz 1918-1939. Zürich 1995, S.73-89. Michael Ahrens, Die Briten in Hamburg. Besatzerleben 1945-1958 (Forum Zeitgeschichte, Bd.23). München/Hamburg 2011. Andrea Albrecht/Martin Prager, Angriff oder Erwiderung. Neurath, Horkheimer und die Praxis der Kritik, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 13 (2019) 1, S.20-32. Clemens Albrecht, »Das Allerwichtigste ist, dass man die Jugend für sich gewinnt«. Die kulturund bildungspolitischen Pläne des Horkheimer-Kreises bei der Remigration, in: ders. u.a., Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule. Frankfurt am Main/New York 1999, S.97-131. Clemens Albrecht, Vom Konsens der 50er zur Lagerbildung der 60er Jahre: Horkheimers Institutspolitik, in: ders. u.a., Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule. Frankfurt am Main/New York 1999, S.132-168. Clemens Albrecht, Die Massenmedien und die Frankfurter Schule, in: ders. u.a., Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule. Frankfurt am Main/New York 1999, S.203-246.

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Personenregister Abendroth, Wolfgang  271, 294, (495) Abrams, Marc  311 Achinger, Hans  539 (230) Adenauer, Konrad  58, 232, 278, 445, 447, 472, (510, 559), 567, Adler, H. G.  456 Adorno, Gretel  319, (69, 92, 106, 108, 113, 129, 142, 257, 309, 335, 438, 558) 490 Adorno, Theodor W.  11ff., 44f., 47, 49, 50ff., (57), 59, 67ff., 77-81, (83), 84, (86), 87, (92), 96, 99, 100, 106-115, 117, (119), 120f., 123-126, 129-138, 140f., 143-148, 217, 234f., 251ff., 255-259, 261-265, 268, 269, 273-278, 281ff., 285f., 288-296, (298), 300ff., 309f., 313f., 319ff., 331, 334ff., 338-343, 345f., 352, 358, 362f., 375, (380), 382, 384, 386ff., 392-395, (396), (398), 399-408, 410, 413, 416, 418, 421, 429, 430-440, 442f., 446-454, 456ff., 462, (464), 468, 471ff., 475-497, 499ff., 503, 505, 509, 514-524, 537, 539-543, 547-558, 560-563, 565, 567ff., 571 Akzin, Benjamin  456 Albert, Hans  473, 539, 541, 543, Alexander, R. Thomas  425 Allport, Gordon   08 Allwood, Martin  275 Altmann, Alexander  456 Andersch, Alfred  270, 277, 291, (292) Anderson, Eugene N.  115f. Anderson, Nels  45, 271, 275f., 364, 372 Arendt, Hannah  28, 277, 312, 387, 388 Arendt, Walter  247 Arensberg, Conrad M.  46, 275 Armytage, Hugh  236, 245 Arndt, C. O.  453 Aron, Raymond  (104), 264 Aubin, Hermann  58 Bachelard, Gaston  74 Baeumler, Alfred  193 Bahrdt, Hans Paul  39, 53, 254, 409, 475f., 539 Barrès, Maurice  211 Basté, John  243 Bateson, Gregory  27 Bach, Johann Sebastian  401 Baeck, Leo  456 Bato, Ludwig  456 Baudissin, Wolf Graf von  447 Bauer, Fritz  264, 266, 512 Baumann, Zygmunt  23 Baumgarten, Eduard  44 Bebel, August  244 Beck, Fritz  320, Becker, Egon  448, Becker, Carl Heinrich  211, 269, Becker, Hellmut  269, 436, 539 Becker, Howard P.  82, 127, 223, 228 Bednarik, Karl  418, 464 Bee, Lawrence S.  452

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Beermann, Fritz  364 Benedict, Ruth  208, 466 Benjamin, Walter  90, 96, 125 Bente, Herman  243, Ben-Gavriêl, Moscheh Ya’akov  480 Bergstraesser, Arnold  43, (380), 446, 485, (486), 539 Berlin, Isaiah  133, 255, 376, 387 Bethe, Albrecht  225 Bettelheim, Bruno  136, 137 Beutler, Ernst  224f. Beveridge, William  103 Beyer, Hans Joachim  182, 243, Beyer, Helmuth  319 Biffault, Robert  352 Bigman, Stanley K.  454 Bila, Helene von  268 Blank, Theodor  445, (447), (464) Bloch, Ernst  31, 90, 124 Boas, Franz  208 Bockelmann, Werner  267 Boehm, Max Hildebert  48, 290, 296, 381 Bolte, Karl-Martin  475 Boncy, François  383 Bonde-Henriksen, Henrik  448 Bondy, Curt  275, 297, 446, 464 Bonhoeffer, Dietrich  506 Borkenau, Franz  28 Bormann, Martin  363 Böckenförde, Ernst-Wolfgang  52, 472 Böhm, Franz  267 Brandt, Willy  14, 264 Brauer, Max  271 Brepohl, Wilhelm  277, 296 Brinkmann, Carl  48, 275, 296f. Bronnen, Arnolt  266 Brown, Irving  383 Buber, Martin  90, Bucerius, Gerd  270 Burgess, Ernest W.  352, 452 Burnham, James  383, 412f., 417 Butler, Nicholas Murray  102f. Buytendijk, Frederik Jacobus Johannes  161 Bücher, Karl  208, Bürger-Prinz, Hans  151, 248, (249), 347, 358 Calhoun, Arthur Wallace  (352) Cantril, Hadley  431 Cassirer, Ernst  238, (455) Cattell, Raymond B.  454 Clark, Colin  418 Clay, Lucius D.  232 Cohen, Hermann  157 Comte, Auguste  64, 493, 543, 549ff.

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Cooley, Charles Horton  127, 352, 354 Cornelius, Hans  88, 103, (104, 123) Cottrell, Donald P.  424f., 428 Cottrell jr., Leonard S.  210 Creedon, Carol  452 Crespi, Leo P.  45, 302 Dahrendorf, Ralf  254, 277, 408, 410, 463, 476, 485f., 490, 493-496, 499f., 517, 538ff., 547, 556f., 568 Darré, Richard Walther  226 Darwin, Charles  154 D’Arms, Edward  452 Degkwitz, Rudolf  239 Denney, Reuel  139, 207 Dewey, John  109, 131, 160, 176, 302, 441 Décamps, Jacques  305, 320, 331 Dickson, William  420 Diederichs, Eugen  153, 169, 293, 381 Dilthey, Wilhelm  63f., 157, 158 Dirks, Walter  270, 292, 380, 382, 481, (566) Döblin, Alfred  380 Driesch, Hans  37, 89, 153, 160f., 171 Drucker, H.  166 Drucker, Peter F.  208, 417, 525 Eichmann, Adolf  (15), 512 Eisenhower, Dwight D.  222, 236 Elias, Norbert  83, 168, 310, 457 Ellul, Jacques  529 Erbe, Walter  295 Erhard, Ludwig  46 Eschmann, Ernst Wilhelm  18 Eucken, Rudolf  156 Ferber, Christian von  475f. Fichte, Johann Gottlieb  174f., 179, 184, (189), 195 Fischer, Eugen  39 Fischer, Fritz  15 Fischer, Hugo  153 Fischer, Joachim  13, 52 Flaskämper, Paul 47 Fleck, Ludwik  66f., 69, (74 Fleksche Theorie), 77f., (93 Flecksche Theorie), 94f., (96), 135, 386 Flik, Gotthilf  446 Flitner, Wilhelm  239 Flowerman, Samuel H.  123, 136, (254) Flüs, Günther  320, 331 Folsom, Joseph Kirk  352 Forsthoff, Ernst  270 Foulkes, S. H.  310 Fourastié, Jean  418 Fraenkel, Ernst  30, 258, (495), 562 Frazier, E. Franklin  352 Freedman, Paul  320 Frenkel-Brunswik, Else  123f., 140

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Freud, Sigmund  107, 392, 403f. Freyer, Hans  34, 39f., 47f., 53, 65, 68, 151ff., 155-160, 163, 165-170, 172, 174, 181, 183, 187, 192, 200, 207f., 211, 240, 243, 296, 372, 423, 476, 539, 557 Friedeburg, Hans-Georg von  275 Friedeburg, Ludwig von  275, 298, (302), 320ff., 472, 483, 486, (490), (560f.) Friedmann, Georges  418 Friedrich, Carl J.  30, 258 Fromm, Erich  93, 96-98, 100ff., 104f., 107f., 123, 136, 141f. Fuchs, Eduard  85 Gadamer, Hans-Georg  403 Gallup, George  45, 325 Gans, Oscar  269 Gehlen, Arnold  11, 34, 38f., 44, 48f., 53, 65, 68f., 77, 80f., 151ff., 156, 160-163, 169-172, 174-181, 184, 187, 190, 192, 196, 204-208, 210, 216, 248f., 251f., 255, 260, 270, 280-284, 293f., 355, 360f., 379, 381f., 408f., 411, 416f., 421ff., 429, 458, 460, 463-467, 476, 479, 497, 521-524, 529, 531, 539, 548, 557, 565, 569 Geiger, Theodor  165, 243 Geiler, Karl  267 Gelb, Adhémar  89 Gelzer, Matthias  224 Gerlach, Kurt Albert  85 Gerloff, Wilhelm  234 Gilbert, Felix  376 Gini, Corrado  48, 296, 476ff. Glazer, Nathan  132, 207 Goldstein, Kurt  89 Goldstein, Leon J.  140 Goode, William J.  504 Goodsell, Charles T.  352 Göhre, Paul  338 Göring, Hermann  182 Grass, Günter  472 Groedel, Frank Maximilian  225 Grollmuß, Maria  166 Grossmann, Henryk  86, 94, 96f., 107 Groves, Ernest R.  352 Grünberg, Carl  85, 107 Gumperz, Julian  84f., 97, 101f. Gundolf, Friedrich  37 Gunzert, Rudolf  275, 298, 302, 483, 486, 490 Günther, Gotthard  152f., 194f., 204, 206, 418, 524, 530, 533 Günther, Hans F. K.  39 Gurian, Waldemar  30, 258, 562 Gurland, Arkadij  27, 153 Gurvitch, Georges  208, 504 Habermas, Jürgen  13, 277, 379, 463, 472f., 486, 490, 493f., 496, 500, 536, 539, 543, Hacker, Frederick J. 263, 286, 439, 456, 485, 515 Haeckel, Ernst  154 Hagen, Volker von  318f., 446, 450 Hallstein, Walter  234f., 270, 295, 429, 453 Hammelsbeck, Oskar  506 Harmjanz, Heinrich  182, 200

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personenregister

Hartmann, Nicolai  127, 160, 180, 208, 608 Hartshorne jun., Edward Y.  223, 228 Hartshorne, James  223 Harzig, Karl  482 Haselberg, Peter von  319 Hassinger, Hugo  154 Hauenstein, Fritz  417 Havighurst, Robert J.  228 Hayek, Friedrich  383 Heard, Gerhard  208 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich  (84, 95, 548 hegelianisch), 89, (Hegelschen Geist 90, 141, 156f.), 91, 113f., 131, 133, 255, 431, 461, 466, 541, 543f., 550, 568 Heidegger, Martin 115, 174, 266, 389, 395-399, 433, 549, 562 Heimpel, Hermann  204f. Heiss, Robert  446 Helbok, Adolf  154 Heller, Ágnes  23, 542 Hennig, Arno  267f. Herberger, Lothar  319f. Herder, Johann Gottfried  162, 172 Hertz Levinson, Maria  145 Herzog, Erich  329 Herzog, Herta  105, 135, 330 Heuss, Theodor  403, 434, 476f. Hilberg, Raul  147, 511 Himmler, Heinrich  43, 226, 276 Hintze, Helene  125 Hitler, Adolf  (28 Hitler-Stalin-Pakt), 37, (41 Hitler Schulen), 170, 173, 184, 187, 191, (192 Hitler-Jugend, 220 Hitlerbilder), 241, 253, (300 Hitlersche Versuch), 307ff., 312f., 329, 364, 382, 388, 391, 430, 432ff., 441, 448f., 515, 518f. Hobbes, Thomas  89, 91, 150, 184, 196-199, 209f., 248 Hofstätter, Peter R.  344ff., 381 Hohmann, Georg  224f. Holborn, Hajo  43 Hollbach, Wilhelm  224 Hollerith, Herman  (314f., 316f, 369, 418f. Hollerithmaschine), 315, (330f. Hollerithkarte) Holzinger, Rudolf  320 Honigsheim, Paul  100 Hook, Sidney  383 Horkheimer, Maidon  234, 276f., 280, 455 Horkheimer, Max  11f., 37, 44, 81f., 84, 149, 222, 229, 430, 510 Hoult, Thomas  141 Höhn, Reinhard  170, 182 Huber, Ernst Rudolf  479 Hughes, Everett C.  228, 451 Huizinga, Johan  290 Humboldt, Wilhelm von  437 Hurwitz, H.  364 Husserl, Edmund  112, 113, 115, 186, 399 Huxley, Aldous  400, 405 Hynd, John B.  236 Ipsen, Gunther  37, 41, 48f., 65, 153, 163-165, 169, 171f., 181, 200, 208, 243, 277, 296, 508

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personenregister

Jaffé, Edgar  95 Jahoda, Marie/Jahoda-Lazarsfeld, Marie  98, 100, 105, 135, 139, 382 James, William  136, 159f., 177, 223, 383, 412 Jantke, Carl  283, 539 Jaspers, Karl  265, 380, 384, 427 John, Otto  449 Josselson, Michael  383 Joyce, James  466 Jung, Carl Gustav  134, 567 Jünger, Ernst  266 Jungk, Robert  418 Kallen, Horace M.  136 Kant, Immanuel  88f., 113, 146, 156, 162, 255, 438, 505, 522, 530, 544, 549, 557 Karsen, Fritz  122, 264, 424f., 428 Kästner, Erich  380 Keitel, Wilhelm  275 Kelsen, Hans  159, 211 Kierkegaard, Sören  112, 113, 114f., 183, 399 Kinsey, Alfred Charles  359, 361f., 363 Kirchheimer, Otto  27, 96, 107, 120, 254, 382 Klabunde, Erich  246 Klemperer, Victor  277f. Klineberg, Otto  264 Klingelhöfer, Paul  234 Kluckhohn, Clyde  360 Kluth, Heinz  364, 408, 464, 475 Kob, Janpeter  408 Koch, Erich  201 Koehne, Rainer  319f., 453 Koestler, Arthur  383 Kolb, Walter  230, 267, 429 Korsch, Karl  85 Köhne, Rainer  319, 320, 453 König, Josef  248 König, René  42, 48, 261, 265, 266, 295f., 378, 464, 477, 479, 498f., 541, 557, 563 Kötzschke, Rudolf  154 Knappen, Marshall M.  221, 247 Kogon, Eugen  234, 270, 380, 382 Kötter, Herbert  276 Kracauer, Siegfried  79, 112f., 124, 125, 186, 382, 388, 409, 439, 510, 521 Kranz, Werner  320 Krieck, Ernst  174, 193 Krieger, Leonard  376 Kriele, Martin  52 Kris, Ernst  264 Krould, Harry  229 Krüger, Heinz  388 Kuby, Erich  270 Lamprecht, Karl  153-156 Landahl, Heinrich  246, 247 Landshut, Siegfried  297 Lane, Frederick  452

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personenregister

Larenz, Karl  180 Laski, Harold  106 Lasky, Melvin J.  383 Lasswell, Harold D.  451 Laun, Rudolf  239 Lazarsfeld, Paul F.  98, 104ff., 108, 110ff., 115, 118, 124, 135, 139, 210, 264, 278, 305, 320, 330, 382, 453 Le Play, Pierre Guilleaume Fréderic  338 Lehmann, Gerhard  174 Leichter, Käthe  105, 135 Lemberg, Eugen  296 Lenin, Wladimir Ilijtsch  86, 412 Lenz, Charlotte  47 Lenz, Siegfried  472 Leontieff, Wassily  419 Lepenies, Wolf  20, 63 Lersch, Philipp  446 Levinson, Daniel J.  124, 136, 140 Lewin, Kurt  27, 136, 290 Ley, Robert  226 Lévi-Strauss, Claude  207 Lieber, Hans-Joachim  43, 486, 490, 493f., 496 Limmer, Herbert  320 Linde, Hans  277 Lindemann, Konrad  243 Litt, Theodor  152f., 160, 171, 185, 243, 249f., 426 Llewellyn, Karl N.  159 Loewenstein, Karl  30, 258, 562 Lohmar, Ulrich  364, 464 Lorenz, Konrad  160, 208, 360 Löwe, Adolf/Lowe, Adolph  86 Löwenthal, Leo  85, 87, 90, 96, 99f., 106f., 132, 295, 321, 382, 455f., 510 Löwith, Karl  31, 294, 479 Luetkens, Charlotte  291 Luhmann, Niklas  13, 508 Lübbe, Hermann  52, 285, 472 Lynd, Helen Merrell  101 Lynd, Robert S.  101ff., 105f. Mach, Ernst  405 Mackenroth, Gerhard  47, 200, 250, 272, 277, 283, 296, 497 Mackensen, Rainer  41 Maier, Hans  28 Malinowski, Bronislaw  127, 150, 208f., 212, 215, 260, 352, 360, 463 Man, Hendrik de  350, 417 Mann, Golo  380 Mann, Thomas  126, 278, 300, 313, 388, 438, 567 Manheim, Ernest  153, 166 Mannheim, Karl  83, 168, 284, 372, 457 Marcuse, Herbert  27, 96, 100, 106f., 120, 254, 376, 382 Marcuse, Ludwig  456 Marquard, Odo  52 Marr, Heinz  227

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personenregister

Marshall, Thomas H.  272 Martin, Alfred von  37 Marx, Karl  64, 90f., 94, 183, 409, 412, 431, 463, 544, 560 Massing, Paul  84 Maurras, Charles  211 Maus, Heinz  229, 282f., 319, 442 Mayer, Hans  100 Mayntz, Renate  47 Mayo, Elton  350, 420 McIver, Robert  102 Mead, George Herbert  109, 127, 160, 181, 207 Mead, Margaret  27, 264, 352, 360 Mehner, Harald  319 Meis, Walter  364 Mendelssohn Bartholdy, Albrecht  238 Meinecke, Friedrich  37 Merker, Egon  446 Merton, Robert K.  210, 255, 264, 485, 504, 564 Metternich, Klemens Wenzel Lothar von  211 Metzger, Ludwig  268, 445 Michel, Hartmut  225 Mielke, Fred  265 Mill, John Stuart  61 Mitscherlich, Alexander  265f., 301, 381, 403, 427 Mohler, Armin  165 Mollenhauer, Klaus  463 Montgomery, Bernard L.  235, (237), 243 Montgomery, Franz  223 Montgomery, John D.  222 Morgan, Lewis Henry  352 Morgenthau, Hans J.  30, 258 Morrow, William R.  145 Mühlmann, Wilhelm Emil  39, 47f., 291, 296, 480, 486, 539 Münster, Clemens  270 Münsterberg, Hugo  159f. Müller, Karl Valentin  37, 39, 182, 243, 291, 476 Myrdal, Alva  272 Nabokov, Nicolas  383 Nador, Georg  456 Nagel, Ivan  319 Natorp, Paul  157 Neuloh, Otto  275, 295f., 323f. Neumann, Erich Peter  45 Neumann, Franz L.  27f., 96, 106f., (120), 122, 233, 254, 256, 303, 376 Neundörfer, Ludwig  43, 182, 225-228, 230, 273f., 277, 296, 302, 324, 436 Niemöller, Martin  384 Nietzsche, Friedrich  161, 183, 403 Nimkoff, N. F.  352 Nipperdey, Thomas  472 Noelle-Neumann, Elisabeth  36, 45, 72, 275, 302, 337, 346, 446, 484, 486, 490ff., 494ff. Oberländer, Theodor  448 Oehler, Christoph  472

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personenregister

Ogburn, William F.  208, 352f., 354f., 466 Ohlendorf, Otto  182 Ortega y Gasset, José  417 Osmer, Diedrich  275, 316f., 319, 331, 336f. Ostwald, Wilhelm  153 Panofsky, Erwin  238 Pareto, Vilfredo  208, 545, 552 Park, Robert Ezra  109 Parsons, Talcott  82, 159, 207, 221, 466 Paty, Raymond R.  424 Pätz-Beck, Elfriede  364 Peirce, Charles S.  177 Petersen, Rudolf  245 Pfeffer, Karl Heinz  40, 65, 153, 163f., 181f., 272, 283, 479f. Pfeil, Elisabeth  41, 47, 255, 277, 283, 291 Pfister, Josef H.  445ff. Picht, Georg  513 Pilot, Harald  539 Platzhoff, Walter  280 Plenge, Johann  157 Plessner, Helmuth  38, 161, 248, 280, 284, 343, 426, 485f., 539 Plessner, Monika  320 Pollock, Friedrich  11, 27, 44, 305, 526 Popitz, Heinrich  39, 53, 254, 409, 475f., 486, 490, 539 Popper, Karl R.  13, 28, 473f., 496, 539-554, 556f., 564 Portmann, Adolf  161 Predöhl, Andreas  40 Pritzwald, Kurt Stegmann von  296 Przibram, Hans  125 Radcliffe-Brown, Alfred  127 Rajewsky, Boris  279f. Rath, Karl vom  267 Rathenau, Walther  412 Ratzel, Friedrich  153 Rau, Wilhelm  287 Ravenstein, Christa von  320 Reigrotzki, Erich  47 Rein, Adolf  194, 242 Richter, Hans Werner  264, 277 Riesman, David  132, 207, 354, 408, 417 Riezler, Kurt  86, 94 Ritter, Hellmut  286f., 289 Ritter, Joachim  52, 254, 271 Ritterbusch, Paul  180 Roethlisberger, Fritz  420 Rolfes, Max  45, 275ff. Roosevelt, Eleanor  149 Roscher, Wilhelm  155 Rosenberg, Alfred  171, 174, 179, 191ff., 205, 291 Rosenzweig, Franz  90 Ross, Edward A.  127 Rossbach, Gerhard  266

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personenregister

Rousset, David  390 Rothacker, Erich  161, 180, 397, 398 Rothfels, Hans  152, 450 Rothschild, Lothar  456 Rudolph, Fritz  320, 364 Rousseau, Jean-Jacques  211 Rüegg, Walter  44 Rüstow, Alexander  273, 275 Saint-Simon, Henri de  61 Salin, Edgar  497 Salomon, Ernst von  266, 315 Salomon, Richard  238 Salomon-Delatour, Gottfried  44, 100 Sanford, Nevitt R.  123, 136f., 140, 142f. Sardemann, Karl  319f., 331, 446, 450 Sauermann, Clemens  326 Sauermann, Heinz  44, 224f., 226, 227f., 230, 234f., 274, 277, 309, 324 Scheler, Max  38, 82, 86, 91, 155, 157, 160ff., 228, 360, 395, 504 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph  194f. Schelsky, Helmut  11, 37, 80f., 149, 152, 183, 202, 246, 381, 407, 475, 510 Schenck, Ernst von  321 Schiller, Karl  243, 247 Schirach, Baldur von  99f. Schlabrendorff, Fabian von  449 Schlesinger, Arthur M.  383 Schmidt, Fritz  233 Schmidt, Alfred  444 Schmidtchen, Gerhard  319 Schmitt, Carl  68, 151f., 163, 166ff., 180, 184, 189, 191, 196, 200, 211, 216, 254, 270f., 282 Schmoller, Gustav  165, 338 Schoenbaum, David  408, 518 Schoeps, Hans-Joachim  31 Schokking, Jan-Juriaan  46 Scholem, Gershom  79, 567 Schopenhauer, Arthur  87, 390, 403 Schorske, Carl  376 Schönfeld, Walther  180 Schramm, Franz  429 Schroeder, Claus Christoph  99 Schumacher, Kurt  203, 211, 245, 264, 277, 313 Schumpeter, Joseph  208 Schütte, Ernst  268 Schweppenhäuser, Hermann  319 Schwietering, Julius  235, 453 Sell, Hans Joachim  319, 325 Shils, Edward A.  136, 141, 463, 504 Shuster, Zachariah  458 Six, Franz Alfred  182 Siepman, Charles A.  105 Silone, Ignazio  383 Simmel, Georg  38, 156f. Simon, Heinrich  456

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personenregister

Simon, Marie  456 Sittenfeld, Hans  302, 319 Skinner, Burrhus Frederic  531 Slawson, John  458 Small, Albion  127 Snell, Bruno  230, 239, 248 Solms, Max Ernst Graf (-Solms-Roedelheim, Max Ernst zu)  42, 270, 277, 321 Sombart, Werner  95, 157 Sorel, Georges  177, 196, 211, 249, 463 Sorge, Richard  85 Spaemann, Robert  52 Spencer, Herbert  127, 154 Spengler, Oswald  157, 301 Spieldiener, F. R.  320, 326 Stackelberg, Karl-Georg von  46 Stalin, Joseph  222, 308, 388, 391 Stammer, Otto  42f., 47, 72, 257, 283, 348, 411, 476, 487, 490, 539, 541 Staudinger, Hans  149 Steltzer, Theodor  270f., 449 Stern, Fritz  376 Stern, Otto  238 Stern, William  238 Sternberger, Dolf  265, 295 Sternheim, Andries  97, 100 Stewart, Don  141 Stippel, Fritz  446 Stolberg, Hans Peter  320 Stone, Shepard  263 Strehl, Rolf  418 Stouffer, Samuel A.  210 Sturmfels, Wilhelm  225 Suchman, Edward A.  210 Suhrkamp, Peter  79, 292, 381, 388 Sulzbach, Walter  44 Sumner, William Graham  127 Szondi, Peter  31 Tartler, Rudolf  364, 408, 464 Taubes, Jacob  31, 456 Teschner, Manfred  447 Thomae, Jutta  319, 325 Thompson, John W.  295 Thurnwald, Richard  39, 352 Tillack, Hilmar  444 Tillich, Paul  86, 122, 149, 153, 171, 185f., 189, 301 Troeltsch, Ernst  156f., 186, 212, 218 Truman, Harry S.  428 Uexküll, Jakob von  160 Unseld, Siegfried  79, 292 Veblen, Thorstein  412 Velde, Theodore Hendrik van der  359 Vetter, Heinz Oskar  247 Vierkandt, Alfred  38, 243

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personenregister

Voegelin, Eric  456 Volz, Wilhelm  154 Vossler, Otto  281 Wagner, Robert  200, 402 Walther, Andreas  181, 240f. Weber, Alfred  36f., 157, 165, 211, 225f., 241, 265, 295, 380, 427, 500 Weber, Gottfried  287 Weber, Max  26, 37, 65, 82, 156, 186, 207, 213, 228, 338, 406, 412, 464 Wegener, Carl Richard  185 Wehler, Hans-Ulrich  471 Weil, Felix  84f., 106 Weil, Hermann  84f. Weinberg, W.  458 Weippert, Georg  248, 497 Weiß, Hilde  97 Welz, Friedrich  471 Wenger, Paul Wilhelm  495 Wertheimer, Max  89, 113 Westermarck, Edvard  352 Wiener, Norbert  418 Wiese, Leopold von  82, 170, 275, 290, 302, 442 Wiesengrund, Oscar  96, 252 Willeke, Eduard  296 Windelband, Wilhelm  63f., 156, 551 Winkler, Heinrich August  472 Wirth, Louis  295 Wittfogel, Karl August  84f., 96, 100, 107, 153 Wolff, Emil  239 Wolff, Kurt H.  319, 452 Wundt, Wilhelm  153-156, 159f., 208 Wurzbacher, Gerhard  40f., 47, 272, 274, 277, 296, 309, 351, 364-368 Zeisel, Hans  139 Zilsel, Edgar  124 Zimmerman, Carle C.  352 Zinn, Georg August  266 Zweig, Arnold  31 Zweig, Stefan  566

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