Geschichte im interdisziplinären Diskurs: Grenzziehungen – Grenzüberschreitungen – Grenzverschiebungen [1 ed.] 9783737006354, 9783847106357

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Geschichte im interdisziplinären Diskurs: Grenzziehungen – Grenzüberschreitungen – Grenzverschiebungen [1 ed.]
 9783737006354, 9783847106357

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Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik Herausgegeben im Auftrag der Konferenz für Geschichtsdidaktik vom Vorstand

Band 12 Herausgegeben vom Vorstand der Konferenz für Geschichtsdidaktik: Thomas Sandkühler, Charlotte Bühl-Gramer, Anke John, Astrid Schwabe und Holger Thünemann

Michael Sauer / Charlotte Bühl-Gramer / Anke John / Astrid Schwabe / Alfons Kenkmann / Christian Kuchler (Hg.)

Geschichte im interdisziplinären Diskurs Grenzziehungen – Grenzüberschreitungen – Grenzverschiebungen

Mit 18 Abbildungen

V& R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2198-5391 ISBN 978-3-7370-0635-4 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhÐltlich unter: www.v-r.de  2016, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Inhalt

Michael Sauer Zum Stand von Disziplin und Verband . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Charlotte Bühl-Gramer Geschichte im interdisziplinären Diskurs. Grenzziehungen – Grenzüberschreitungen – Grenzverschiebungen. Einführung in das Tagungsthema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Sektion 1: Historische Dimensionen in den Didaktiken kulturwissenschaftlicher Fächer Charlotte Bühl-Gramer Historische Dimensionen in den Didaktiken kulturwissenschaftlicher Fächer. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kunibert Bering Zwischen gestalterischer Praxis und Bildanalyse. Die Rolle der Kunstgeschichte im kunstpädagogischen Diskurs . . . . . . . . . . . . .

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Konstantin Lindner Die historische Dimension religiösen Lernens. Status Quo und Perspektiven einer Kirchengeschichtsdidaktik im Horizont des Religionsunterrichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Laurenz Volkmann History is bunk? Von der Gefahr des Verschwindens historischer Dimensionen im kompetenzorientierten Englischunterricht . . . . . . .

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Inhalt

Carolin Führer Herausforderungen historischen Lernens in der Literaturdidaktik – Empirische und theoretische Perspektiven auf (kultur-)historischen Literaturunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103

Sektion 2: Fächerübergreifendes und fächerverbindendes historisches Lernen und Lehren Astrid Schwabe Fächerübergreifendes und fächerverbindendes historisches Lernen und Lehren. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Peter Gautschi / Nadine Fink Lehrplanlyrik und Unterrichtsalltag in der Schweiz: Einblicke in fächerverbindendes historisches Lernen in der deutsch- und französischsprachigen Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Oliver Plessow Integrierte Lehrkräfte? Das Fach ›Geschichte mit Gemeinschaftskunde‹ an baden-württembergischen Berufsgymnasien in organisationsanalytischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Michele Barricelli Narrationen für den Raum. Geschichtsbewusstsein als Hinsicht geographischen Handelns – eine Chance für fächerverbindendes Lernen

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Nikola Forwergk / Wolfgang Moschek Gewagte Experimente. Interdisziplinäre Projekte in der universitären Lehramtsausbildung (Gesellschafts- und Geschichtswissenschaften und MINT) in der Reflexion – ein Werkstattbericht . . . . . . . . . . . . . . . 191

Sektion 3: Grenzen – Entgrenzungen – Grenzgänger Alfons Kenkmann Grenzen – Entgrenzungen – Grenzgänger. Einführung . . . . . . . . . . . 213 Wolfgang Hasberg Von Mythen und Ursprüngen der Geschichtsdidaktik. Grenz- und Wiedergänger in der Geschichtsdidaktik – epistemologische Erwägungen zur Disziplingeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219

Inhalt

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Patrick Ostermann Wie erfahrene Ausgrenzung transnationales Geschichtsbewusstsein schuf – Jüdische Intellektuelle als idealtypische Grenzgänger . . . . . . . . . . 243 Ullrich Kockel Europa in der Fremde / an der Grenze suchen: Öko-Ethnologische Reflexionen über geschichtliche Verortungen . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Daniel Groth Kolonialismus und Dekolonisation in nationalen Geschichtskulturen und Erinnerungspolitiken in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277

Sektion 4: Grenzverschiebungen und Raumbezüge historischer Bildung. Einführung Anke John Grenzverschiebungen und Raumbezüge historischer Bildung. Einführung

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Bernd-Stefan Grewe Entgrenzte Räume und die Verortung des Globalen. Probleme und Potentiale für das historische Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 Anja Neubert Von Grenzgängern und Zeitreisen. Historische Apps und Augmented Reality im Fokus historischen Lernens vor Ort . . . . . . . . . . . . . . . 321 Ivonne Driesner Alltägliches sehen lernen? Die Wahrnehmung und Verarbeitung der historischen Umgebung – eine empirische Studie . . . . . . . . . . . . . 341

Sektion 5: Quo vadis, Geschichtsdidaktik? Didaktik der Geschichte, ihre Bezugsdisziplinen und Bezugsfelder Christian Kuchler Quo vadis, Geschichtsdidaktik? Didaktik der Geschichte, ihre Bezugsdisziplinen und Bezugsfelder. Einführung . . . . . . . . . . . . . . 357 Bettina Alavi Pädagogik als Bezugsdisziplin der Geschichtsdidaktik . . . . . . . . . . . 363

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Inhalt

Bodo von Borries »Empirische Bildungsforschung« – die hauptsächliche (?) Bezugsdisziplin (?) der Geschichtsdidaktik? . . . . . . . . . . . . . . . . 381 Frank-Michael Kuhlemann Historische Religionsforschung und Geschichtsdidaktik . . . . . . . . . . 399 Thomas Sandkühler Geschichtsdidaktik und Geschichtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . 415 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435

Michael Sauer

Zum Stand von Disziplin und Verband

Der Vortrag zum Stand von Disziplin und Verband vereint traditionell den engeren Bericht über die Entwicklungen und Tätigkeiten des Verbandes in den letzten zwei Jahren mit einem weiteren Ausblick auf den Stand der Disziplin. Über einige Verbandsaktivitäten hatte ich schon auf der außerordentlichen Mitgliederversammlung berichtet, die im vergangenen Jahr am Rande des Historikertags in Göttingen stattgefunden hat. Ich greife diese hier noch einmal auf.1

Innere Entwicklung des Verbandes Ich beginne mit einigen grundlegenden Informationen. Die »Konferenz für Geschichtsdidaktik« hat momentan 337 Mitglieder, darunter 9 korporative. Wir haben damit nach Gewinnen und Verlusten in den letzten zwei Jahren 24 Mitglieder hinzugewonnen. Vor zehn Jahren hatte die KGD knapp über 200 Mitglieder. Im längerfristigen Vergleich zeigt sich also, dass wir ein erfreulich kontinuierliches Wachstum zu verzeichnen haben.

Information und Kommunikation Die Homepage der KGD hat sich in den letzten Jahren zu einer professionellen und gut frequentierten Informations- und Kommunikationsplattform entwickelt. Die Positionierung innerhalb des Portals historicum.net bietet einen Mehrwert für beide Beteiligte. Insbesondere die Rubrik »Aktuelles« präsentiert zuverlässig die zentralen Informationen für unser Fach, was allerdings auf einer 1 Der Text entspricht bis auf kleine Veränderungen dem Vortrag. Ergänzt wurde der Abschnitt »Geschichtsdidaktische Neuerscheinungen«, der im Vortrag aus Zeitgründen entfallen musste.

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intensiven Betreuung durch Astrid Schwabe, unsere Referentin für Öffentlichkeitsarbeit, beruht. Zu einem anderen Punkt muss ich wiederholen, was ich schon vor zwei Jahren angesprochen habe: Unsere Homepage bietet die Möglichkeit, unter dem Stichpunkt »Forschung« und weiter »Projektübersicht« über Qualifikationsvorhaben zu informieren, die an den einzelnen Standorten laufen. Diese Einträge dienen nicht nur der Information innerhalb der Disziplin, sondern können auch ein Ausweis entsprechender Aktivitäten nach außen hin sein. Leider nutzen noch nicht alle Standorte dieses Instrument konsequent – ich kann nur appellieren, dies im Interesse der einzelnen Standorte wie der Disziplin insgesamt zu tun. In diesen Tagen wird es noch eine Neuerung auf unserer Homepage geben. Die Informationen zum Thema Nachwuchs sind bislang unter verschiedenen Stichworten verstreut untergebracht – der Vorstand wird jetzt unter einem neuen Stichwort »Nachwuchs« den gezielten Zugriff darauf erleichtern. Wie die Homepage hat sich auch unser seit 2007 erscheinender Newsletter als Medium einer aktiven Verbandskommunikation etabliert. Hinweisen möchte ich noch auf ein brandneues Angebot, das zwar kein KGDProjekt ist, aber sich auf unser Fachgebiet bezieht und hier neue Maßstäbe setzt. Es handelt sich um den »Index Didacticorum«, eine kollaborative digitale Bibliografie. Sie ist in den vergangenen drei Jahren in einer Kooperation des Zentrums für Elektronisches Publizieren der Bayerischen Staatsbibliothek sowie der Geschichtsdidaktik-Standorte Essen und Basel entwickelt und gerade zu Wochenbeginn [39. KW 2015] freigeschaltet worden. Schon jetzt umfasst sie mehr als 6.000 Titel. Diese sollen fortlaufend ergänzt werden, auch redaktionell, vor allem aber durch die Beteiligung aller, die in diesem Fachgebiet arbeiten: als ein gemeinsames Projekt zu gemeinsamem Nutzen also. Dank und Gratulation dazu an Marko Demantowsky und Markus Bernhardt.

Nachwuchsförderung Auf der Mitgliederversammlung 2011 haben wir beschlossen, regelmäßig, aber an wechselnden Standorten Nachwuchstagungen zu veranstalten. Die letzte Nachwuchstagung hat im vergangenen Jahr, organisiert vom Kollegen Gerhard Henke-Bockschatz, an der Goethe-Universität Frankfurt stattgefunden. Auf die Ausschreibung zu dieser Tagung hat es weitaus weniger Anmeldungen gegeben als zwei Jahre zuvor. Sie fand deshalb in einem überschaubaren Rahmen mit insgesamt 20 Teilnehmern statt, was aber einen intensiven Austausch in einer sehr angenehmen Atmosphäre ermöglichte. Der Tagungsband ist in Vorbereitung [mittlerweile erschienen]. Für die Organisation der Tagung und des Bandes im Namen der gesamten KGD herzlichen Dank an Gerhard Henke-Bockschatz.

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Über die Ausrichtung der nächsten Nachwuchstagung werden wir uns in der Mitgliederversammlung verständigen. Noch ungeklärt ist die Frage, ob es von Seiten der KGD für den Nachwuchs Angebote zur Schulung in empirischen Methoden geben solle und, wenn ja, wie diese inhaltlich konturiert und organisatorisch verankert werden sollten. Aus Nachwuchskreisen war auf früheren Tagungen dieser Wunsch deutlich artikuliert worden. Um den tatsächlichen Bedarf zu erheben, hat der Vorstand dazu im vergangenen Jahr eine Umfrage vorgenommen. Das Echo war leider bescheiden und ernüchternd – es gab lediglich 14 Rückläufe. Die Ergebnisse lassen sich nicht direkt auf einen Nenner bringen: Gewünscht wird vor allem weiterführende Schulung in empirischen Methoden, quantitativ im Bereich induktiver Statistik und für die Arbeit mit SPSS, qualitativ für die Analyse von Videodaten und die Arbeit mit der Grounded Theory. Die Ergebnisse liegen momentan dem »Arbeitskreis empirische Geschichtsunterrichtsforschung« vor. An vielen, wenn nicht den meisten Universitäten existieren mittlerweile ja Methodenzentren oder Graduiertenschulen mit einschlägigen Angeboten, die freilich nicht speziell auf unser Fach abgestimmt sind. Ob und wie diese zielgerichtet und mit angemessenem Aufwand ergänzt werden können, ist in Vorstand und Arbeitskreis noch zu diskutieren.

Leitbilddiskussion Auf der ordentlichen Mitgliederversammlung 2013 haben wir beschlossen, uns in einer außerordentlichen Mitgliederversammlung intensiver der konzeptionellen Diskussion innerhalb des Verbandes zu widmen. Diese Versammlung hat im September 2014 am Rande des Göttinger Historikertags stattgefunden. Beschlossen wurde u. a., in Ergänzung zur Satzung über die Formulierung eines Leitbildes für den Verband nachzudenken. Bärbel Völkel und Martin Lücke haben dafür einen ersten Entwurf vorgelegt, zu dem es diverse schriftliche Rückmeldungen gegeben hat. Ein im Vorfeld der hiesigen Tagung geplantes Treffen fand wenig Zuspruch. Das Thema Leitbild wird Tagesordnungspunkt auf unserer morgigen Mitgliederversammlung sein.

Verbandspolitik und »Außenbeziehungen« Schon Ende 2013 sind die verschiedenen Disziplingesellschaften von der Kultusministerkonferenz dazu aufgefordert worden, die »Ländergemeinsamen inhaltlichen Anforderungen für die Fachwissenschaften und Fachdidaktiken in

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der Lehrerbildung« im Hinblick auf das Thema Inklusion zu ergänzen. Der Vorstand ist dem in Abstimmung mit mehreren Kolleginnen und Kollegen, die bei diesem Thema besonders engagiert sind, nachgekommen. Im Juli letzten Jahres hat die Kultusministerkonferenz den Entwurf von Empfehlungen zur »Erinnerungskultur als Gegenstand historisch-politischer Bildung in der Schule« vorgelegt. Im Rahmen der Verbändeanhörung wurde die KGD um Stellungnahme dazu gebeten. Das Papier enthielt eine ganze Reihe außerordentlich bedenklicher Ansätze und Formulierungen, die in Richtung auf ein verordnetes Gedenken zielten; dem Fach Geschichte wurde dabei keine besondere Rolle zugeschrieben. Die KGD und der »Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands« haben dazu auf Initiative des KGD-Vorstands ein gemeinsames kritisches Statement abgegeben. In der Endfassung der »Empfehlung« vom 11. 12. 2014 sind die von uns angesprochenen grundsätzlichen Monita zwar nicht in vollem Umfang berücksichtigt worden, jedoch ist das Papier im Sinne eines modernen Konzepts von Geschichts- oder Erinnerungskultur immerhin erkennbar differenzierter geworden. Insbesondere wird jetzt auch die genuine Zuständigkeit des Faches Geschichte explizit angesprochen. Unsere Stellungnahme kann auf der KGD-Homepage nachgelesen werden. Gewissermaßen der Dachverband aller didaktischen Disziplingesellschaften ist die »Gesellschaft für Fachdidaktik«. Wir gehören zu ihren Mitgliedern und führen jährlich einen Mitgliedsbeitrag von im Moment ca. 390 Euro an sie ab. Die GFD verstärkt zunehmend ihre Aktivitäten. Neben den inzwischen regelmäßig stattfindenden Tagungen wird jetzt dort eine eigene Zeitschrift mit dem Titel »Research in Subject Matters Teaching and Learning« (RISTAL) ins Leben gerufen, deren erstes Heft 2016 erscheinen soll. Finanziert wird sie zunächst über eingeworbene Mittel. Mit diesen Aktivitäten verbundene Steigerungen der Beitragskosten sollten wir im Auge behalten. Davon abgesehen stellt die GFD als Plattform gewiss ein sinnvolles Instrument dar, um die Position der Didaktiken gegenüber den Fachwissenschaften, Drittmittelgebern und Ministerien zu stärken. Der letzte Historikertag hat im vergangenen Jahr in Göttingen stattgefunden. Die Geschichtsdidaktik war lediglich mit einer Sektion beteiligt, die von Bettina Alavi, Martin Lücke, Bärbel Völkel und Heike Wolter organisiert worden war : »Geschichtsunterricht ohne Verlierer? – Inklusion als Herausforderung für die Geschichtsdidaktik in Theorie, Empirie und Pragmatik«. Als Mitglied des Ortskomitees habe ich selbst an der Organisation des »Forum Geschichte in Wissenschaft und Unterricht« mitgewirkt. Dies war ein spezielles Angebot an Geschichtslehrkräfte, das in dieser Form zum ersten Mal gemacht wurde. Es gab eine Diskussionsveranstaltung zu »Orientierungen, Konzepten und Prinzipien des Geschichtsunterrichts in Europa«, eine Debatte über den Beginn des Ersten Weltkriegs sowie eine Sektion zu neueren Turns in der Geschichtswissenschaft

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und ihre (mögliche) Bedeutung für den Unterricht. Das »Forum« soll auf dem nächsten Historikertag in Hamburg fortgesetzt werden. Dieser Historikertag wird unter dem Motto »Glaubensfragen« stehen, was sich natürlich nicht nur auf religionsgeschichtliche Fragestellungen bezieht. Thematische Stichworte und Hinweise zum Verfahren finden sich auf der Seite des Historikerverbands. Sektionsvorschläge können bis Ende Oktober dort angemeldet werden. Prinzipiell konkurrieren alle Bewerbungen miteinander ; die Ablehnungsquote lag beim Göttinger Historikertag bei über 50 Prozent. Üblicherweise können aber zumindest zwei Anträge aus der Geschichtsdidaktik zum Zuge kommen.

Publikationen der KGD Ich komme zu den Publikationen der KGD. Seit unserer letzten Tagung sind zwei Hefte der »Zeitschrift für Geschichtsdidaktik« erschienen, mit denen wir zentrale Problembereiche und Forschungsfelder des Faches thematisiert haben. Das Jahresheft 2014 war dem Thema »Forschungsfeld Geschichtslehrkräfte« gewidmet, Heftherausgeber war Manfred Seidenfuß. Das aktuelle Heft befasst sich mit dem Thema »Sprache und historisches Lernen«, es wurde betreut von Saskia Handro.2 Ihnen beiden sei an dieser Stelle noch einmal sehr herzlich für ihre engagierte Arbeit gedankt. Das Heft des nächsten Jahres wird dem Thema »Geschichtsdidaktik postkolonial« gewidmet sein, es wird betreut vom Kollegen Bernd-Stefan Grewe. Der Call for Paper zu diesem Heft wurde bereits per E-Mail versendet. Eine Anmerkung zum Ablauf des Peer-Review-Verfahrens: Der Heftherausgeber gibt die Beiträge anonymisiert an den Vorstand weiter, der sie dann an die Gutachter verteilt. Das Prozedere hat sich mittlerweile eingespielt, wenngleich der Pool der beteiligten Personen bei unserer kleinen Disziplin natürlich grundsätzlich überschaubar ist. In der Reihe »Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik« sind seit unserer letzten Tagung vier Bände erschienen: der Tagungsband der Ludwigsburger Nachwuchstagung3, der Tagungsband der Göttinger Zweijahrestagung4 sowie die Dissertationen von Georg Kanert5 und Christian Spieß6, beides em2 Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 13, 2014: Forschungsfeld Geschichtslehrkräfte; Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 14 (2015): Sprache und historisches Lernen. 3 Tobias Arand/Manfred Seidenfuß (Hrsg.): Neue Wege – neue Themen – neue Methoden? Ein Querschnitt aus der geschichtsdidaktischen Forschung des wissenschaftlichen Nachwuchses. Göttingen 2014 (Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, Bd. 7). 4 Michael Sauer/Charlotte Bühl-Gramer/Anke John/Marko Demantowsky/Alfons Kenkmann (Hrsg.): Geschichtslernen in biographischer Perspektive. Nachhaltigkeit – Entwicklung – Generationendifferenz. Göttingen 2014 (Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, Bd. 9). 5 Georg Kanert: Geschichtslehrerausbildung auf dem Prüfstand. Eine Längsschnittstudie zum

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pirische Studien, die sich mit der Professionalisierung von Geschichtslehrkräften bzw. mit der Praxis von Quellenarbeit im Geschichtsunterricht befasst haben. In Vorbereitung ist der Band zur Frankfurter Nachwuchstagung [mittlerweile erschienen]. Wie vor zwei Jahren darf ich bei dieser Gelegenheit noch einmal daran erinnern, dass in dieser Reihe, die vom jeweils amtierenden Vorstand herausgegeben wird, sowohl einzelne Forschungsarbeiten als auch Tagungsbände erscheinen können. Qualifikationsarbeiten von Mitgliedern werden mit einem Zuschuss von 625 Euro unterstützt. Voraussetzung für die Aufnahme in die Reihe ist bei Dissertationen eine Benotung mit mindestens magna cum laude.

Geschichtsdidaktische Neuerscheinungen Ein kurzer Blick sei noch auf andere geschichtsdidaktische Neuerscheinungen geworfen. Erwähnt werden einschlägige Reihen und einzelne Werke mit Handbuchcharakter. Im Jahre 2011 hatten Elisabeth Erdmann und Wolfgang Hasberg einen Doppelband vorgelegt, der unter dem Titel »Facing, Mapping, Bridging Diversity« eine Überblick über die Ausrichtung und Organisation von »History Education« in den Staaten der EU geben und damit die Basis für einen intensiveren übernationalen Diskurs legen sollte.7 Ähnliche Intentionen verfolgt der in diesem Jahr erschienene und von denselben Kollegen herausgegebene Band »History Teacher Education«8, in dem über 15 Staaten nicht nur der EU berichtet wird. Es geht um die Ausbildung von Geschichtslehrkräften und die Bedeutung von Geschichtsdidaktik, aber auch um allgemeinere Fragen wie den Stellenwert von Geschichte in der jeweiligen Gesellschaft. Beide Bände bieten eine sehr hilfreiche Orientierung, die auch zu einem verfremdeten Blick auf das Eigene, vermeintlich Selbstverständliche führt. Gleichfalls um eine internationale Perspektive geht es in dem 2014 erschienenen, von Manuel Köster, Holger Thünemann und Meik Zülsdorf-Kersting

Professionalisierungsprozess. Göttingen 2014 (Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, Bd. 6). 6 Christian Spieß: Quellenarbeit im Geschichtsunterricht. Die empirische Rekonstruktion von Kompetenzerwerb im Umgang mit Quellen. Göttingen 2014 (Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, Bd. 8). 7 Elisabeth Erdmann/Wolfgang Hasberg (Eds.): Facing, Mapping, Bridging Diversity. Foundation of a European Discourse on History Education. 2 Parts. Schwalbach/Ts.: Wochenschau 2011. 8 Elisabeth Erdmann/Wolfgang Hasberg (Eds.): History Teacher Education. Global Interrelations. Schwalbach/Ts. 2015.

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herausgegebenen Band »Researching History Education«.9 Er informiert über die Ausrichtung der empirischen geschichtsdidaktischen Forschung in verschiedenen Ländern Europas, in Kanada und in den USA. Dabei bilden sich, wie im Titel schon angesprochen, spezifische Forschungstraditionen der Länder ab. Auch dieser Band bietet eine gute Orientierungsgrundlage. Markus Furrer und Kurt Messmer haben das 2013 erschienene »Handbuch Zeitgeschichte im Geschichtsunterricht« herausgegeben.10 Man mag grundsätzlich darüber streiten, wie sinnvoll solche Ansätze einer »Epochendidaktik« sein mögen. Das von Hanns-Fred Rathenow, Birgit Wenzel und Norbert H. Weber herausgegebene »Handbuch Nationalsozialismus und Holocaust«11 vereint Beiträge von sehr unterschiedlichem Gewicht von Grundlagenartikeln bis zu Praxisberichten. In beiden Fällen wird, wie die Rezensenten einhellig bemerkt haben, der Anspruch eines »Handbuchs«, das einen systematischen Überblick über ein Forschungs- oder Arbeitsfeld geben soll, nicht in vollem Umfang realisiert.12 Auf unserer letzten Zweijahrestagung in Göttingen ging es in der Abschlusssektion um die »Zeitgeschichte der Geschichtsdidaktik«. Welche Diskurse, aber auch personellen Bezüge die Siebzigerjahre als Gründungsphase der modernen Geschichtsdidaktik prägten, rekonstruiert Thomas Sandkühler in seinem 2014 erschienenen Band »Historisches Lernen denken«, der hier als einzige Monographie erwähnt sei.13 Er dokumentiert 14 sehr detailliert kommentierte Interviews mit Protagonisten und Protagonistinnen dieser Zeit und bietet damit Einsichten in eine durchaus noch gegenwartswirksame Disziplingeschichte. Der größte Teil geschichtsdidaktischer Publikationen erscheint nach wie vor 9 Manuel Köster/Holger Thünemann/Meik Zülsdorf-Kersting (Hrsg.): Researching History Education. International Perspektives and Disciplinary Traditions. Schwalbach/Ts. 2014. 10 Markus Furrer/Kurt Messmer (Hrsg.): Handbuch Zeitgeschichte im Geschichtsunterricht (= Forum Historisches Lernen). Schwalbach/Ts. 2013. 11 Hanns-Fred Rathenow/Birgit Wenzel/Norbert H. Weber (Hrsg.): Handbuch Nationalsozialismus und Holocaust. Historisch-politisches Lernen in Schule, außerschulischer Bildung und Lehrerbildung. Schwalbach/Ts. 2013. 12 Vgl. zum Handbuch Zeitgeschichte die Rezensionen von Christoph Pallaske in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 13 (2014), S. 160f., Christian Schmidtmann in: H-Soz-Kult, 26. 6. 2014 (http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-21792) sowie Bernd-Stefan Grewe in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 10, 15. 10. 2014 (http://www.sehepunkte.de/2014/10/ 24379.html); zum Handbuch Nationalsozialismus und Holocaust vgl. Karl-Heinrich Pohl in Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 13 (2014), S. 186–189, Oliver Plessow in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 6, 15. 06. 2014 (http://www.sehepunkte.de/2014/06/24477.html) sowie Juliane Wetzel in: Medaon – Magazin für jüdisches Leben in Forschung und Bildung 9 (2015), H. 16, S. 1–4 (http://www.medaon.de/pdf/medaon_16_Wetzel.pdf), alle aufgerufen am 2. 9. 2015. 13 Thomas Sandkühler (Hrsg.): Historisches Lernen denken. Gespräche mit Geschichtsdidaktikern der Jahrgänge 1928–1947. Mit einer Dokumentation zum Historikertag 1976. Göttingen 2014.

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im Wochenschau Verlag im Rahmen unterschiedlicher Reihen, die das ganze Spektrum von forschungsorientierten Arbeiten bis zu Praxishandreichungen abdecken. Am umfangreichsten, am klarsten konturiert und wohl auch am erfolgreichsten ist die Reihe »Methoden historischen Lernens«, in der zuletzt die Bände »Historisches Lernen diagnostizieren«14 von Peter Adamski und »Oral History im Geschichtsunterricht«15 von Gerhard Henke-Bockschatz erschienen sind. In der Reihe »Geschichtskultur und historisches Lernen« des LIT-Verlages, herausgegeben von Bernd Schönemann und Saskia Handro, sind im Berichtszeitraum die Dissertationen von Manuel Köster über »Historisches Textverstehen«16 und von Markus Drüding über »Akademische Jubelfeiern«17 erschienen, dazu ein Sammelband der Reihenherausgeber über »Raum und Sinn – Die räumliche Dimension der Geschichtskultur«18. In der von denselben Kollegen herausgegebenen Reihe »Zeitgeschichte – Zeitverständnis« wurden vier studentische Abschlussarbeiten, drei davon in einem Sammelband vereint, und eine weitere Dissertation herausgebracht.19 In seiner Reihe »Historica und Didactica« hat der Röhrig Universitätsverlag in den letzten Jahren eine ganze Reihe geschichtsdidaktischer Veröffentlichungen publiziert. In der Unter-Reihe »Fortbildung Geschichte« sind seit 2013 vier Bände herausgegeben worden, drei von ihnen unter Beteiligung von Bärbel Kuhn.20 Adressaten sind Lehrkräfte sowie Fachleiterinnen und Fachleiter, die 14 Peter Adamski: Historisches Lernen diagnostizieren. Lernvoraussetzungen – Lernprozesse – Lernleistungen. Schwalbach/Ts. 2014. 15 Gerhard Henke-Bockschatz: Oral History im Geschichtsunterricht (= Methoden historischen Lernens). Schwalbach/Ts. 2014. 16 Manuel Köster : Historisches Textverstehen. Rezeption und Identifikation in der multiethnischen Gesellschaft. Berlin 2013. 17 Markus Drüding: Akademische Jubelfeiern. Eine geschichtskulturelle Analyse der Universitätsjubiläen in Göttingen, Leipzig, Münster und Rostock (1919–1969). Berlin 2014. 18 Saskia Handro/Bernd Schönemann (Hrsg.): Raum und Sinn. Die räumliche Dimension der Geschichtskultur. Berlin 2014. 19 Viola Schrader : Geschichte als narrative Konstruktion. Eine funktional-linguistische Analyse von Darstellungstexten in Geschichtsschulbüchern. Berlin 2013. Bernd Schönemann/ Holger Thünemann (Hrsg.): Kompetenzorientierung, Lernprogression, Textquellenarbeit. Aktuelle Schulbuchanalysen. Berlin 2013. Sabine Omland: NS-Propaganda im Unterricht deutscher Schulen 1933–1943. Die nationalsozialistische Schülerzeitschrift »Hilf mit!« als Unterrichts- und Propagandainstrument. Längsschnittuntersuchungen im Erscheinungszeitraum 1933–1943, Herausgabebedingungen, Autorenbiografien und tabellarische Darstellung von Analyseergebnissen. 2 Bde. Berlin 2014. 20 Bärbel Kuhn/Astrid Windus (Hrsg.): Umwelt und Klima im Geschichtsunterricht (Historica et Didactica. Fortbildung Geschichte, Bd. 4). St. Ingbert 2013. Michael Wobring/Susanne Popp/Daniel Probst/Claudius Springkart (Hrsg.): Flugblätter – Plakate – Propaganda. Die Arbeit mit appellativen Bild-Text-Dokumenten im Geschichtsunterricht (Historica et Didactica. Fortbildung Geschichte, Bd. 5). St. Ingbert 2013. Bärbel Kuhn/Susanne Popp/Jutta Schumann/Astrid Windus (Hrsg.): Geschichte erfahren im Museum (Historica et Didactica.

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Orientierungen und Materialangebote für innovative, noch wenig für den Unterricht erschlossene Themen erhalten sollen. Im Kohlhammer Verlag existieren momentan zwei geschichtsdidaktische Reihen. In der von Werner Heil herausgegebenen Reihe »Geschichte im Unterricht« liegen nach fünf Bänden aus seiner eigenen Feder inzwischen zwei weitere vor: »Vom Sinn des Lernens an der Geschichte« von Jens Dreßler21 sowie »Bilingualer Geschichtsunterricht« von Michael Maset22. Waltraud Schreiber ist die Herausgeberin der neuen Reihe »Geschichtsdidaktik qualifiziert«, in der bislang zwei Bände erschienen sind: Von ihr zusammen mit Alexander Schöner und Florian Sochatzy der Band »Analyse von Schulbüchern als Grundlage empirischer Geschichtsdidaktik«23, von Catrin B. Kollmann der Band »Historische Jubiläen als kollektive Identitätskonstruktion«24. Ganz neu schließlich ist die Reihe »Geschichtsdidaktische Studien«, die im Berliner Logos-Verlag von Bettina Alavi, Markus Bernhardt, Charlotte BühlGramer, Marko Demantowsky und Thomas Hellmuth herausgegeben wird. Als erste Bände dieser Reihe sind in diesem Jahr [2015] die Dissertation von Marco Zerwas mit dem Titel »Lernort ›Deutsches Eck‹«25 sowie der von Christoph Pallaske herausgegebene Tagungsband »Medien machen Geschichte«26 erschienen. Neben diesen Reihen gibt es selbstverständlich eine Vielzahl von Einzelveröffentlichungen. Welche inhaltlichen Schwerpunktbildungen lassen sich erkennen? Vor allem bei den Qualifikationsarbeiten stehen empirische Fragestellungen nach wie vor hoch im Kurs. Methodische Bandbreite und Kompetenz haben erkennbar zugenommen, wobei mit wenigen Ausnahmen nur qualitative Verfahren Anwendung finden. Unter den Empiriethemen scheint mir nach wie vor – ich habe das schon vor zwei Jahren angesprochen – die Lehrerforschung

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Fortbildung Geschichte, Bd. 6). St. Ingbert 2014. Bärbel Kuhn/Astrid Windus (Hrsg.): Der Erste Weltkrieg im Geschichtsunterricht. Grenzen – Grenzüberschreitungen – Medialisierung von Grenzen (Historica et Didactica. Fortbildung Geschichte, Bd. 7). St. Ingbert 2014. Bärbel Kuhn/Astrid Windus (Hrsg.): Der Erste Weltkrieg im Geschichtsunterricht. Grenzen – Grenzüberschreitungen – Medialisierung von Grenzen (Historica et Didactica. Fortbildung Geschichte, Bd. 7). St. Ingbert 2014. Jens Dreßler : Vom Sinn des Lernens an der Geschichte. Historische Bildung in schultheoretischer Sicht. Stuttgart 2012. Michael Maset: Bilingualer Geschichtsunterricht. Didaktik und Praxis. Stuttgart 2015. Waltraud Schreiber/Alexander Schöner/Florian Sochatzy : Analyse von Schulbüchern als Grundlage empirischer Geschichtsdidaktik. Stuttgart 2013. Catrin B. Kollmann: Historische Jubiläen als kollektive Identitätskonstruktion. Stuttgart 2014. Marco Zerwas: Lernort »Deutsches Eck«. Zur Variabilität geschichtskultureller Deutungsmuster. Berlin 2015. Christoph Pallaske: Medien machen Geschichte. Neue Anforderungen an den geschichtsdidaktischen Medienbegriff im digitalen Wandel. Berlin 2015.

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unterbelichtet zu sein, auch im Vergleich mit anderen Fachdidaktiken. Geschichtskulturelle Phänomene bleiben ein thematischer Schwerpunkt. Und schließlich nehmen unterrichtspraktische Arbeiten einen breiten Raum ein, wie es sich für eine Vermittlungswissenschaft auch gehört.

Stellenausschreibungen und Besetzungsverfahren Seit unserer letzten Tagung hat es wieder eine Reihe von Ausschreibungen und Besetzungen geschichtsdidaktischer Professuren gegeben; Stellen neu besetzt wurden in Bochum, an der PH Freiburg, in Köln, Mainz, Paderborn und Rostock, noch nicht abgeschlossen sind Besetzungsverfahren in Bielefeld, abermals Bochum, Flensburg (gleich zwei Stellen), Kiel, München und Tübingen. Den neu berufenen Kolleginnen und Kollegen sei an dieser Stelle herzlich gratuliert.

Drittmittel – DFG-Fachkollegien Vor zwei Jahren hatte ich das Problem angesprochen, dass es bei der DFG kein spezielles Fachkollegium für Fachdidaktiken gibt. Anträge aus unserem Bereich werden also in der Regel abschließend – je nach Thema – entweder von Fachhistorikern oder aber vornehmlich von Erziehungswissenschaftlern oder Psychologen beurteilt. In die Begutachtungen sind allerdings stets Geschichtsdidaktiker und Geschichtsdidaktikerinnen involviert; Voraussetzung ist, dass diese irgendwann einmal durch eigene Projekte bei der DFG aktenkundig geworden sind. In diesem Jahr werden nun wieder die Wahlen zu den Fachkollegien stattfinden, und es steht diesmal, soweit ich sehe zum ersten Mal überhaupt, für den Bereich »Allgemeines und fachbezogenes Lehren und Lernen« innerhalb des Kollegiums »Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung« auch ein Geschichtsdidaktiker zur Wahl, nämlich Dietmar von Reeken. Bei prominenter Konkurrenz haben wir hier also zum ersten Mal die Möglichkeit, einen eigenen Kandidaten zu unterstützen. Noch eine Anmerkung zum Verfahren der Kandidatenfindung. In früheren Jahren wurden die Kandidaten allein von den Fachgesellschaften vorgeschlagen. Diesmal sind auch alle Universitäten und andere Forschungseinrichtungen stimmberechtigt. Nominiert werden im Prinzip die Kandidaten mit den meisten Vorschlägen, wenngleich der Senat der DFG auch noch Gewichtungen vornehmen kann. Das hat dazu geführt, dass sich Universitäten zu Blöcken zusammengetan haben, um ihre gemeinsamen Kandidaten durchzubringen. Man mag bezweifeln, ob dies im Bereich der Forschung ein angemessenes Auswahlverfahren darstellt; im Historikerverband wird es kritisch gesehen. Die KGD war übrigens, wie auch alle anderen Didaktikge-

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sellschaften, nicht vorschlagsberechtigt, sondern nur die »Gesellschaft für Fachdidaktik«.

Umfrageergebnisse Ich komme zu den Ergebnissen der Umfrage zum Stand der Disziplin, die ich erneut im Vorfeld unserer Tagung vorgenommen hatte. Diese scheint mir ein sehr gutes Instrument zu sein, mit dem wir alle gemeinsam einen Überblick über die Situation und gewissermaßen auch die Stimmungslage in der Geschichtsdidaktik gewinnen können. Ich habe in diesem Jahr genau dieselben Items wie im Jahre 2013 verwendet, so dass Vergleiche möglich sind. Versendet wurden 58 Fragebögen an die einzelnen Geschichtsdidaktik-Standorte, es gab 31 Rückläufe, also eine Quote von 53 Prozent – die Beteiligung hätte ich mir durchaus etwas lebhafter vorstellen können.27 Da wir wegen der Anonymität der Auswertung nicht festgehalten haben, inwieweit die Rückläufe der beiden Erhebungsjahre im Hinblick auf die Standorte übereinstimmen, relativieren sich auch wieder die Vergleichsmöglichkeiten. Bei den geschlossenen Items ging es schlicht um die Häufigkeitsverteilung; bei den offenen Items wurden die Antworten in Kategorien zusammengefasst, von denen ich nur die relevantesten referiere.

Ausstattung Die Einschätzung der personellen Ausstattung hat sich nach den quantitativen Angaben verbessert. In Bezug auf die Lehre wird sie von 65 Prozent der Antwortenden als ausreichend angesehen; vor zwei Jahren waren es 47 Prozent. 27 Zu Beginn des Jahres 2014 hat eine größer angelegte Befragung von MINT-Fachdidaktikerinnen und Fachdidaktikern im Auftrag der Deutschen Telekom Stiftung stattgefunden. Versendet wurden hier 413 Fragebögen, die Rücklaufquote betrug 45,8 Prozent. Ergänzend wurde eine Zufallsauswahl von 100 Nicht-MINT-Fachdidaktikerinnen und Fachdidaktikern befragt; hier lag die Rücklaufquote bei 50 Prozent. Deutsche Telekom Stiftung: MINTFachdidaktiken in Deutschland. Eine empirische Erhebung zur aktuellen Situation. Bonn 2014, S. 5. Der Fragebogen enthielt Items zu folgenden Bereichen: 1 Fragen zur Person, 2 Zur Akzeptanz/Wahrnehmung in Fakultät und Hochschule, 2.1 Wissenschaftliche Einordnung der Fachdidaktik in Forschung und Lehre, 2.2 Konsequenzen aus der Bologna-Reform für die Fachdidaktik, 2.3 Zur Nachwuchssituation in den Fachdidaktiken, 3 Zur Forschung in der Fachdidaktik, 4 Forschungskooperationen, 5 Akzeptanz/Sichtbarkeit der fachdidaktischen Forschung bei Schulen/Lehrkräften, 6 Fortbildung von Lehrer/inne/n, 7 Theorie-PraxisAusbildung (Praxisphasen/Praxissemester), 8 »Quer- und Seiteneinsteiger«, 9 Beziehung/ Verhältnis zur Bildungsadministration (Wissenschaft und Kultus). In der genannten Broschüre werden die Items nicht einzeln genannt und die Ergebnisse nur kursorisch berichtet. Es ergeben sich deshalb nur wenige Vergleichsmöglichkeiten mit unserer Befragung.

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Umgekehrt beurteilen in diesem Jahr 35 Prozent die Personalausstattung im Hinblick auf die Lehre als unzureichend gegenüber 53 Prozent beim letzten Mal. Beklagt wird hier vor allem ein Mangel an festen Stellen, mit denen die Lehre verlässlich abgedeckt werden kann. Hoher Lehr- und Betreuungsbedarf entstehe durch neue Bachelor- und Masterstudiengänge sowie durch Praktika. Schlechter wird die Personalsituation im Hinblick auf Forschung eingeschätzt. 42 Prozent der Antwortenden sehen sie als ausreichend an, 58 Prozent als unzureichend; die Vergleichswerte für 2013 lauteten 41 und 59 Prozent, hier hat sich also fast nichts verändert. Was sind die Monita? An acht der beteiligten Standorte gibt es trotz Professur keine dauerhaften Qualifikationsstellen. Forschung müsse, das wird mehrfach angeführt, über Drittmittel finanziert werden, die wiederum schwer zu generieren seien. Die Beurteilung der finanziellen Ausstattung hat sich verbessert: Betrachteten sie vor zwei Jahren 53 Prozent als ausreichend und 44 Prozent als unzureichend, so lauten die Werte diesmal 58 und 42 Prozent. Trotz leicht positiver Tendenzen bleibt insgesamt die Ausstattung offensichtlich ein erhebliches Problem. Die Freitextantworten belegen, dass es dabei nicht um »Jammern auf hohem Niveau«, sondern um die Sicherung einer tragfähigen Grundausstattung geht.

Verhältnis zur Fachwissenschaft Das Verhältnis zur Fachwissenschaft vor Ort wurde vor zwei Jahren mit 64 Prozent überwiegend positiv eingeschätzt, von 19 Prozent als schwierig. Die positiven Voten sind leicht zurückgegangen auf 61 Prozent, die kritischen haben auf 29 Prozent zugenommen – man wird daraus gewiss keinen Trend ablesen können, es ist aber auf jeden Fall kein positives Signal. Die Freitextantworten sind hier relativ detailliert. Mehrfach beklagt wird, dass die Fachkolleginnen und -kollegen zu wenig Verständnis für die Disziplin Geschichtsdidaktik und ihre spezifischen Belange, Konzepte und Forschungsfragen aufbrächten; Kooperation gebe es kaum. Umgekehrt ist aber auch von problemloser Anerkennung und Zusammenarbeit die Rede. Mehrfach wird darauf hingewiesen, dass integrative Ansätze durch die Studienstruktur erschwert würden. In diesem Punkt scheint es eine besonders große Varianz je nach Standort und nach beteiligten Personen zu geben.

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Studiengänge Der Didaktikanteil an den Lehramtsstudiengängen wird von 58 Prozent als genau richtig angesehen – vor zwei Jahren waren es 67 Prozent. 35 Prozent halten ihn für zu gering gegenüber 30 Prozent 2013. Als zu hoch wird der Didaktikanteil kaum eingeschätzt, weder 2015 noch 2013. An 45 Prozent der beteiligten Standorte hat es in den beiden letzten Jahren eine Veränderung der Studiengänge gegeben. In der weit überwiegenden Zahl der Fälle, nämlich 71 Prozent, ist es dabei zu einer Erhöhung des Anteils der Geschichtsdidaktik gekommen. Dem stehen – in absoluten Zahlen – vier Standorte gegenüber, an denen sich die Anteile der Geschichtsdidaktik verringert haben. Wie es zu dieser Gegenbewegung zum generellen Trend kommt, lässt sich aus den Angaben nicht genau erkennen; als ein Punkt wird genannt, dass die Einführung neuer Aufgaben wie Inklusion und Sprachbildung auf Kosten genuin fachdidaktischer Inhalte gehe. Die Auswirkungen der Modularisierung werden wie vor zwei Jahren ambivalent beurteilt, allerdings ist die Zahl der Befürworter zurückgegangen. Waren es 2015 noch 64 Prozent aller Antwortenden, so sind es in diesem Jahr nur noch 55 Prozent; die negativen Voten sind von 25 auf 32 Prozent angestiegen. Wie schon vor zwei Jahren werden »Verschulung« mit inhaltlicher Einengung und »Jagd nach ECTS-Punkten«, außerdem ein erhöhter Verwaltungs- und Betreuungsaufwand der Lehrenden beklagt. Angeführt wird auch eine Schwerpunktverlagerung hin zu Pädagogik und Psychologie, die zu einer Schwächung der fachwissenschaftlichen Ausbildung führe. Positiv genannt werden eine stärkere Verbindlichkeit in den Studienstrukturen und -inhalten. Erfahrungen mit Praxissemestern liegen bei 55 Prozent aller Antwortenden vor. 71 Prozent von diesen äußern sich positiv ; vor zwei Jahren hielten sich positive und negative Voten noch genau die Waage. Hier scheint also die Zufriedenheit zugenommen zu haben. Positiv hervorgehoben wird der verstärkte Praxisbezug, der auch eine sinnvolle Verknüpfung mit fachdidaktischer Theorie und Reflexion zulasse. Moniert wird dagegen eine Entfachlichung der Ausbildung, da im Praxissemester allgemeindidaktische und schulpädagogische Fragen im Vordergrund ständen. Außerdem sei die Belastung der Studierenden sehr hoch, die Kontinuität der universitären Ausbildung werde unterbrochen. Der Erfolg des Praxissemesters sei von einer adäquaten Betreuung abhängig; diese sei in den Schulen aber nicht gewährleistet, und zwischen den beteiligten Hochschullehrern und Seminarausbildern komme es zu Verwerfungen.28 28 In der MINT-Befragung wird die Zusammenarbeit von erster und zweiter Phase bei den Praxissemestern in einem spezifischen Item vorwiegend positiv beurteilt. MINT-Fachdidaktiken, S. 14. Vgl. zu Erfahrungen mit Praxissemestern Kerstin Arnold: Das gymnasiale

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Schließlich liege der Zeitpunkt des Praxissemesters im zweiten Studienjahr zu früh, weil die Studierenden noch nicht über ausreichendes fachliches und fachdidaktisches Wissen verfügten. Zur bevorstehenden Einführung von Praxissemestern liegen nur fünf Antworten vor, bei denen mit drei zu zwei die kritischen überwiegen. Erhofft werden eine intensivere Theorie-Praxis-Verzahnung, eine Stärkung der Geschichtsdidaktik, auch verbesserte Möglichkeiten für empirische Zugänge. Die Befürchtungen entsprechen den Monita derjenigen, die bereits einschlägige Erfahrungen gesammelt haben; außerdem sei mit Kapazitätsproblemen in Schule und Hochschule zu rechnen, in einem Fall auch durch vorgesehene Schulungen von Mentoren an der Universität. An 13 Standorten ist die Geschichtsdidaktik in den letzten zwei Jahren evaluiert worden – das sind zwei Standorte mehr als im Vergleichszeitraum, wiederum eine erstaunlich hohe Zahl. In fünf Fällen habe dies positive Auswirkungen auf die Situation der Geschichtsdidaktik vor Ort gehabt, in ebenfalls fünf ausdrücklich nicht. In einem Fall habe die Evaluation zur Einrichtung einer Professur geführt, in einem anderen habe sich jetzt die Chance dazu eröffnet. Die Geschichtsdidaktik, ihre konzeptionelle und strukturelle Aufstellung, sei positiv gewürdigt worden. In einem Fall wird erwähnt, dass zwar im Rahmen der Evaluation eine unzureichende Ausstattung der Geschichtsdidaktik moniert worden sei, dies aber aufgrund der Finanzlage der Universität zu keinen Veränderungen geführt habe.

Qualifikationsarbeiten und Projekte An acht der beteiligten Standorte gab es in den letzten beiden Jahren geschichtsdidaktische Promotionen; insgesamt waren es 15. Laufende Promotionsprojekte gibt es an 26 Standorten, es sind insgesamt 81 Arbeiten im Entstehen. Zwar kann man die Zahlen für die laufenden und die abgeschlossenen Arbeiten nicht unmittelbar miteinander vergleichen, tendenziell scheint aber die Abschlussquote bei 50 bis 60 Prozent zu liegen. Weitaus seltener sind HaLehramtsstudium im Spannungsfeld zwischen Theorie und Praxis. Überlegungen zur Verzahnung von Geschichtsstudium und Praxissemester. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 65 (2014), H. 11/12, S. 660–671; Thomas Mayer: Das Praxissemester als Praxiselement in der Lehrerausbildung. Chancen und Bedenken. In: ebd. S. 672–682; Anke John: Das Praxissemester in der Mitte des Geschichtslehrerstudiums nach dem Jenaer Modell. Wie lassen sich Theorieskepsis und Transferwiderstände geschichtsdidaktischen Denkens auflösen? In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 67 (2016), H. 3/4, S. 187–189; Christoph Wilfert: Das Praxissemester als Element der universitären Geschichtslehrerausbildung. Strukturen, empirische Befunde und Perspektiven. In: ebd. S. 190–206.

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bilitationen: Es gab an vier Standorten jeweils eine abgeschlossene Habilitation, von fünf Standorten werden insgesamt acht laufende Habilitationsvorhaben angegeben. Drittmitteleinwerbungen gaben 71 Prozent der Standorte an; allerdings bezog sich das Item nicht ausdrücklich auf den letzten Zweijahreszeitraum, so dass der Anteil der Neueinwerbungen nicht genau zu beziffern ist. Darunter befanden sich lediglich fünf DFG-Projekte – immerhin zwei mehr als bei der letzten Umfrage.29 Das thematische Spektrum ist sehr weit gespannt, klare Schwerpunkte lassen sich kaum identifizieren; wie beim letzten Mal wird Geschichtskultur häufiger genannt. An internationalen Kooperationen beteiligt sind 68 Prozent der Standorte, ein gegenüber 2013 nochmals erhöhter Wert.

Standing der Geschichtsdidaktik Den Abschluss des Fragebogens bildete ein offenes, inhaltlich sehr weit gehaltenes Item zum aktuellen Standing der Geschichtsdidaktik: »Wie würden Sie insgesamt das heutige Standing der Geschichtsdidaktik in Deutschland charakterisieren? Welche Potentiale, Probleme und Desiderate sehen Sie?« Wie vor zwei Jahren hat es darauf zum Teil sehr ausführliche und detaillierte Antworten gegeben, in denen ganz unterschiedliche Aspekte angesprochen werden und abweichende, oft sogar gegensätzliche Wertungen zu Tage treten. Ich versuche die wesentlichen Tendenzen zusammenzufassen. Positive und negative Gesamteinschätzungen halten sich insgesamt die Waage. Als positiv werden im Einzelnen ein zunehmendes Selbstbewusstsein der Disziplin, eine stärkere Etablierung in den Studiengängen – das wurde schon vor zwei Jahren unterstrichen – und eine erfreuliche Publikationsbreite wahrgenommen. Der Nachwuchs bewege sich heute auf einem hohen theoretischen und methodischen Niveau. Negativ wird vor allem mangelnde Beachtung von Seiten der Fachwissenschaft und anderer Nachbardisziplinen vermerkt. Aufgabenüberbürdung gehe mit unzureichender Ausstattung einher. Noch immer gebe es an manchen für das Fach ausbildenden Hochschulen keine geschichtsdidaktische Professur. Berufungsverfahren seien oft von fachfremden Erwägungen bestimmt, die Besetzung von Professuren zuweilen problematisch. Auch hier werden noch einmal die Probleme bei der Drittmittelgewinnung angesprochen. Konzeptionell sei die Positionierung der Geschichtsdidaktik gegenüber und zwischen anderen Disziplinen unscharf. Genau wie vor zwei Jahren wird auf der einen Seite eine mangelnde Theoriediskussion konstatiert, auf der anderen Seite 29 Bei der MINT-Befragung ergibt sich ebenfalls ein geringerer Drittmittelanteil der DFG (und des BMBF) im Vergleich zu Ländern und Stiftungen. MINT-Fachdidaktiken, S. 11.

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vor zu großer Theorielastigkeit gewarnt. Im Hinblick auf die empirische Forschung dominieren die mahnenden Stimmen: Es bestehe die Gefahr einer »empirischen Schlagseite« insbesondere bei den Qualifikationsarbeiten; der heutige Nachwuchs habe auch kaum noch fachwissenschaftliche Kompetenz in Form einschlägiger Publikationen vorzuweisen. Die Empirie führe nur selten über eine Defizitanzeige hinaus. Es mangele an Praxisorientierung und »Praxiswirkungsabsicht«. Entwicklungspotentiale werden im Bereich von public history gesehen, zugleich wird aber moniert, man habe dieses Arbeitsfeld zu leicht preisgegeben. Stichworte zu den Perspektiven verweisen auf internationale und interdisziplinäre Kooperation.

Bilanz und Ausblick Der Gesamteindruck dieser Befragungsergebnisse ist wie vor zwei Jahren ambivalent. Trotz einer Verbesserung der personellen Lehrsituation sind wir von einer grundsätzlichen Zufriedenheit mit der Ausstattung noch weit entfernt. Das Verhältnis zur Fachwissenschaft und die Verankerung der Geschichtsdidaktik in den Studiengängen werden tendenziell kritischer gesehen als vor zwei Jahren. Die Argumente Pro- und Contra Praxissemester haben sich nicht verändert, wenn auch die Zustimmung offenbar zugenommen hat. Ziemlich weit auseinander gehen die Einschätzungen zur aktuellen Situation der Geschichtsdidaktik. Auffallend sind vor allem die gegensätzlichen Einschätzungen zu den Hauptarbeitsfeldern der Geschichtsdidaktik. Offenbar scheint es bei der Beurteilung von Theorie und Empirie innerhalb der Disziplin geradezu unterschiedliche Denkrichtungen zu geben. Die Frage, wie sich die Geschichtsdidaktik zu anderen Wissenschaften positionieren solle, wurde auf unserer Mitgliederversammlung vor zwei Jahren ebenfalls erkennbar kontrovers angesprochen. Aber ist es denn überhaupt notwendig, sich in diesen Punkten eindeutig zu positionieren? Selbstverständlich hat die Geschichtsdidaktik die beiden Bezugsbereiche der Geschichtswissenschaft einerseits und der Erziehungswissenschaften, Pädagogik oder auch der Pädagogischen Psychologie andererseits. Stärker als manch andere Didaktik ist sie an der Fachwissenschaft orientiert. Je ausschließlicher sich dagegen eine Didaktik als vorwiegend empirisch forschende Disziplin versteht, desto mehr wird sie sich zu Pädagogik und Psychologie als Bezugswissenschaft hinwenden. Gewiss besteht hier Diskussionsbedarf, und eben diese Diskussion wird in der Abschlusssektion unserer hiesigen Tagung auch geführt werden. Freilich kann es auf keinen Fall darum gehen, hier eine ein für allemal gültige Positionierung vorzunehmen oder etwa vorschreiben zu wollen, wie diese denn für die gesamte Disziplin auszusehen habe. Denn schließlich hängt dies immer ab von den Forschungsfeldern und For-

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schungsfragen, mit denen jede und jeder Einzelne sich beschäftigt. Solche Positionierungen sind mithin immer individuell und von Zeit zu Zeit wechselnd. Das gilt genauso für die Standortbestimmung innerhalb der drei klassischen Gegenstandsbereiche der Didaktik, also der Theorie/Konzeptionsbildung, Empirie und Pragmatik (dazu genommen vielleicht noch die Disziplingeschichte). Auch diese Standortbestimmung kann immer nur sehr persönlich ausfallen. Die Disziplin als Ganze sollte selbstverständlich Aktivitäten auf all diesen Gebieten nachweisen können. Die einzelne Vertreterin oder der einzelne Vertreter wird für sich stets – schon aus arbeitsökonomischen Gründen – Akzente setzen müssen. Gleichwohl sollten wir bei einer solchen Standortbestimmung nicht übersehen, dass es auch Erwartungen von außen gibt, die an uns gerichtet werden. Das gilt nicht nur für diejenigen, die wir an den Hochschulen ausbilden, sondern auch für eine weitere Klientel an den Schulen, die von uns Hilfestellungen bei der Gestaltung und Optimierung von Geschichtsunterricht erwartet. Diese Erwartungen können eher im Bereich von Konzepten, von Methoden oder von Unterrichtsvorschlägen liegen. Im Moment sind sie sicherlich besonders ausgeprägt bei den (alle miteinander zusammenhängenden) Fragen der Kompetenzentwicklung, des Umgangs mit Heterogenität (bis hin zur Inklusion), des Diagnostizierens und Differenzierens, dies alles fachspezifisch verstanden. Hier sehe ich durchaus eine gewisse Dienstleistungsfunktion, die wir erfüllen sollten: Mit einer erkennbaren Reichweite unterstützend und optimierend in die Schule hinein zu wirken sollte ein wesentliches Legitimationsmoment unserer Tätigkeit sein und zu unserem disziplinären Selbstverständnis gehören.

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Geschichte im interdisziplinären Diskurs. Grenzziehungen – Grenzüberschreitungen – Grenzverschiebungen. Einführung in das Tagungsthema1

Tagungsort und Tagungsthema sind auf der XXI. Tagung der Konferenz für Geschichtsdidaktik komplementär aufeinander bezogen: 1. Mit der Stadt Aachen, im Grenzgebiet zu den Niederlanden und Belgien bzw. im Zentrum der Euregio Maas-Rhein gelegen, einer Europaregion um die Städte Aachen, Lüttich und Maastricht sind wir, um nur einige Lagebeziehungen und Zuschreibungen zu nennen, mit dem Thema »Grenzen« als Gegenstandsbereich und mit der Frage nach Raumbezügen historischer Bildung gleichsam vor Ort. 2. Der Gastgeber dieser Tagung, Christian Kuchler, ist seit 2012 Inhaber eines Lehrstuhls an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen, der nicht nur mit seiner Denomination »Didaktik der Gesellschaftswissenschaften« in der bundesdeutschen Hochschullandschaft bislang einzigartig ist.2 Mit dem Versuch einer fachdidaktischen Verklammerung der Fächer Geschichte, Politik und katholische Religionslehre – unter Ausklammerung der Geographie – und der Geschichtsdidaktik als Leitdisziplin hat der Lehrstuhl einen Zuschnitt, der allerdings weniger programmatisch, sondern hauptsächlich den konzeptionellen hochschul- und finanzpolitisch motivierten Umgestaltungen der RWTH Aachen geschuldet ist.3 Die Frage nach Verhältnisbestimmungen, Selbstverständnissen und interdisziplinären Diskursen von Fachdidaktiken stellt sich somit auch untermittelbar an unserem Tagungsort.

1 Der Vortragstext wurde nur geringfügig verändert und mit Fußnoten versehen. Der Vortragsduktus ist im Wesentlichen erhalten geblieben. 2 Zwar wurde 1976 an der Universität Gießen ein eigenes »Institut für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften« gegründet, doch handelte es sich hierbei um Professuren zur Didaktik der politischen Bildung bzw. der Sozialwissenschaften. (URL: https://www.uni-giessen.de/ fbz/fb03/institute/isd/Abteilungen/Didaktik/Geschichte, aufgerufen am 12. 7. 2015). 3 Christian Kuchler : Didaktik der Gesellschaftswissenschaften in Forschung und Lehre: das Aachener Modell. In: zdg 5 (2014), H. 1, S. 159–163.

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3. Damit einher gehen schließlich Fragen nach fächerübergreifendem, fächerverbindendem oder in Fachverbünden situiertem historischem Lehren und Lernen und schließlich 4. Fragen nach der Bedeutung und dem Spektrum der sogenannten Bezugsdisziplinen der Geschichtsdidaktik. Bevor einige zentral erscheinende Aspekte und Fragestellungen in diesem weiten Feld umrissen werden sollen, gilt es, sich zunächst in gebotener Kürze den beiden Leitbegriffen der Tagung, der »Interdisziplinarität« und der »Grenze«, zu nähern: Unter Interdisziplinarität im Bereich von Wissenschaft und Universität kann man – dem Philosophen und Theologen Clemens Sedmak folgend – prinzipiell »eine Form der koordinierten Zusammenarbeit zwischen verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen verstehen, die stärker oder schwächer ausgeprägt sein kann und dem Ziel dient, Synergieeffekte zu erzielen und Forschungsarbeit zu optimieren.«4 Dabei gibt es stärkere und schwächere Versionen von Interdisziplinarität: Stärkere Varianten umfassen gemeinsame Arbeiten zu einem Thema, gemeinsame Projektarbeit oder ein gemeinsames Lehr- und Lernprogramm, schwächere einen Ideen- und Meinungsaustausch, fachübergreifende Kommunikation, Literaturrezeption oder die Benutzung disziplinfremder Quellen und Forschungsmethoden. Beide Kooperationsformen sind Thema unserer Tagung. Damit sind wir beim Begriff der Grenze, der kein theoriesprachlicher Begriff ist, sondern im Vokabular aller Sprachen existiert. Dadurch ist er zwar einerseits anschaulich, wird aber andererseits auch in hohem Maße metaphorisch verwendet. Christoph Kleinschmidt hat erst jüngst in einem Beitrag die Ambivalenz und Polyvalenz des semantischen Profils der Grenze als ein zentrales Charakteristikum entfaltet.5 Werden Grenzen heute vor allem im Bereich von Moral und Ethik beschworen, erfahren sie im Bereich der Politik mit guten Gründen eine normative Niedrigbewertung und sind dagegen aus sozialpsychologischer Sicht als Abgrenzungen für Ich- und Gruppenidentitäten wichtig.6 Bezogen auf das Tagungsthema des interdisziplinären wissenschaftlichen Diskurses ist auch das wissenschaftssoziologische Konzept der »Grenze« mehrdeutig: Zum einen wird die Verwendung von Territorialitätsmetaphern zur Charakterisierung des interdisziplinären Diskurses auch kritisch gesehen, da die Frage nach Machtan4 Clemens Sedmak: Zur Ethik der Interdisziplinarität. In: Historische Mitteilungen 21 (2008), S. 12–37, hier S. 12. 5 Christoph Kleinschmidt: Semantik der Grenze. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B 4–5/14, S. 3–8. 6 Harald Welzer : Grenzen, Identität und Erinnerung. In: Peter Lautzas (Hrsg.): Grenzenlos? Grenzen als internationales Problem. Schwalbach/Ts. 2010, S. 13–22.

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sprüchen, Koordinationsmechanismen, internen Hierarchien und strategischen Praktiken noch brennender werden, wenn der interdisziplinäre Raum »besetzt«, von »feindlicher Übernahme«, »Landgewinnen« oder einem »Pyrrhussieg« gesprochen wird.7 Kritisch eingewandt wird auch, dass die Verwendung von Grenzmetaphern das territoriale Aufteilen einer endlichen Ressource des Wissensbestandes suggeriert, wo doch Wissensgebiete und -gegenstände durch die Genese einer neuen Disziplin erst neu geschaffen werden, so dass sich das Territorium also erweitert. Interdisziplinarität bedeutet demgemäß eben nicht Wiedervereinigung, sondern das Ausprobieren von Unterscheidungen, die von bestehenden disziplinären Programmen abweichen.8 Zum anderen wird in durchaus positiver Bewertung unter disziplinären Grenzziehungen die notwendige Markierung einer Differenz als Ergebnis der Innendifferenzierung der Wissenschaft gesehen. Grenzziehungen sind damit nicht nur als »Teil interessengeleiteter Professionalisierungsstrategien der Wissenschaftler zu sehen«9, sondern wie der Philosoph Konrad Paul Liessmann in seinem Buch »Lob der Grenze« ausführt, auch als Voraussetzung zu verstehen, um in einem erkenntnistheoretischen Sinn unterscheiden und damit überhaupt erst erkennen zu können.10 Diese Grenzziehung ist dabei nicht statisch, nicht als Linie zu verstehen, sondern als dynamischer Prozess eines ständigen Neuziehens und Verwischens von Grenzen ebenso innerhalb wie auch zwischen Disziplinen aufzufassen, was in der Wissenschaftssoziologie als »boundary work«11, also als Arbeit an der Grenze bzw. den Grenzen bezeichnet wird. In diesem Sinne sind Grenzen von Disziplinen nicht nur im Sinne einer Distanznahme zu verstehen, sondern als produktive Aushandlungszonen, wie sie auch im kulturwissenschaftlich gewendeten Verständnis des »spatial turn« konzeptualisiert werden.12 Interdisziplinarität bedeutet demgemäß nicht Disziplinlosigkeit, sondern setzt disziplinäre Identitäten und eine »Gegenstandsgewissheit«13 voraus. Daher 7 Vgl. Sedmak (Anm. 4), S. 26. 8 Vgl. Falk Schützenmeister : Zwischen Problemorientierung und Disziplin. Ein koevolutionäres Modell der Wissenschaftsentwicklung. Bielefeld 2008, S. 44. 9 Jürgen Kocka: Disziplinen und Interdisziplinarität. In: Jürgen Reulecke/Volker Roelcke (Hrsg.): Wissenschaften im 20. Jahrhundert. Universitäten in der modernen Wissensgesellschaft. Stuttgart 2008, S. 107–117, hier S. 108f. 10 Vgl. Konrad Paul Liessmann: Lob der Grenze. Kritik der politischen Unterscheidungskraft. Wien 2012, S. 34. 11 Bettina Beer/Matthias Koenig: Grenzziehungen im System wissenschaftlicher Disziplinen – Der Fall der »Kulturwissenschaft(en)«. In: Sociologia Internationalis 47 (2009), H. 1, S. 3–38. 12 Vgl. Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns, Version: 1.0. In: Docupedia-Zeitgeschichte, 29. 3. 2010 (URL: http://docupedia.de/zg/Cultural_Turns?oldid=107014, aufgerufen am 12. 06. 2015). 13 Bernd Schönemann: Geschichtsdidaktik in erweiterten Perspektiven. Versuch einer Bilanz nach drei Jahrzehnten. In: Saskia Handro/Wolfgang Jacobmeyer (Hrsg.): Geschichtsdidak-

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beinhalten Überlegungen zum interdisziplinären Diskurs immer auch Überlegungen und Fragen zur eigenen Disziplin und ihren Erkenntnismöglichkeiten und -grenzen, zu ihrem Profil und Proprium. Interdisziplinarität kann die Sensibilität gegenüber den Grenzen der eigenen Möglichkeiten schärfen und diese Grenzen durch zusätzliche Instrumente hinausschieben. Der Grad interdisziplinärer Orientierung ist dabei auch stets eine Gratwanderung zwischen als notwendig erachteter Pluralisierung und befürchteter Unterminierung der Fachkohärenz. Aus dem Gegeneinander von zentripetalen und zentrifugalen Kräften entsteht, wie Jürgen Osterhammel dies für die Geschichtswissenschaft formulierte, ein Spannungsverhältnis zwischen Zunftautismus und Entgrenzung bzw. Grenzverlust.14 Es »räumelt« also nicht nur allenthalben15, so könnte man resümieren, sondern es »grenzelt« auch – nicht zuletzt bildeten »Grenzen« auch 2010 die Tagungsthemen des Historikertags in Berlin und der 2. Schweizerischen Geschichtstage in Basel. Mit Blick auf die Geschichtsdidaktik erfährt das Thema noch einmal eine erhebliche Komplexitätssteigerung. Denn im Unterschied zu Aufstieg und Fall verschiedener Leitdisziplinen der Geschichtswissenschaft, zu der Historiker besondere Nähe verspürten und verspüren, ist in der Geschichtsdidaktik von noch engeren Verknüpfungen mit anderen Fächern zu sprechen, die gemeinhin als »Bezugsdiziplinen« bezeichnet werden. Darüber hinaus ist der schulische Geschichtsunterricht als bedeutsamer Teil der Geschichtskultur nicht der ausschließliche Gegenstand geschichtsdidaktischer Reflexion und Forschung, die Beschäftigung mit Geschichtskultur aber auch kein Allsteinstellungsmerkmal der Geschichtsdidaktik. Und schließlich befassen sich auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler anderer Disziplinen mit Geschichte und deren Vermittlung. Das Feld historischen Lehrens und Lernens und der Vermittlung von Geschichte wird nicht allein von der Geschichtsdidaktik bestellt. Museen, Gedenkstätten und Archive sind wichtige Agenturen der Geschichtskultur und Instanzen der Geschichtsvermittlung. Die Einschätzung, wie intensiv hier Kontakte zu und Kooperationen mit Geschichtsdidaktik ausgebildet sind, fällt unter Geschichtsdidaktikerinnen und Geschichtsdidaktikern unterschiedlich aus und ist wohl auch individuell unterschiedlich.16 Oliver Plessow hat etwa tik. Identität – Bildungsgeschichte – Politik. Karl Ernst Jeismann zum 50jährigen Doktorjubiläum. Münster 2007 (ZfL-Texte Bd. 18), S. 9–30, hier S. 30. 14 Vgl. Jürgen Osterhammel: Die Einheit der Geschichtswissenschaft: vertikal, horizontal, diagonal. In: GWU 60 (2009), S. 166–172, hier S. 171. 15 Axel Gotthard: In der Ferne. Die Wahrnehmung des Raumes in der Vormoderne. Frankfurt a. M./New York 2007, S. 18–27, hier S. 19. 16 Vgl. Wolfgang Hasberg: Mapping Diversity – oder : Muss die Geschichtsdidaktik in Europa sich neu erfinden? In: Historische Mitteilungen 23 (2010), S. 104–137, hier S. 135f.; vgl. dazu auch den Zwischenruf von Michele Barricelli: Worüber sprechen wir eigentlich? In: Public

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jüngst darauf verwiesen, dass die geschichtsdidaktische Forschung zu historischem Lernen außerhalb schulischer Kontexte noch immer von einem schulbezogenen Verständnis dominiert ist und im Kontext des GeschichtskulturParadigmas angeleitete, nicht schulische, non-formale Bildungsangebote für Jugendliche in der nonformalen Jugendbildung derzeit nur ein Randphänomen und ein Forschungsdesiderat darstellen.17 Dieses komplexe Feld in Gänze zu erörtern, ist im Rahmen dieser Einführung nicht möglich und kann im Folgenden nur in Stichworten und Fragen angedeutet werden.

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Geschichtsdidaktik als Teildisziplin und Dimension der Geschichtswissenschaft

Da historisches Denken als eine spezifische Form von Lernen anzusehen ist und die Geschichtsdidaktik aus der historischen Kenntnis selbst Prozesse des Lehrens und Lernens entfaltet, ist sie sowohl Teildisziplin und als auch Dimension der Geschichtswissenschaft.18 Sie ist als »Praxis der zielgruppenorientierten, medienbedingten, wirkungsabsichtsleiteten intersubjektiven Konstruktion von Vergangenheitsdeutungen zu begreifen«19, so dass sie tief in die Matrix der Geschichtswissenschaft eingewoben ist. Wolfgang Hasberg bilanzierte jüngst in kritischer Absicht, dass dieses Selbstverständnis – bei unverzichtbarer Nähe zu den zahlreichen Bezugsdisziplinen – nicht mehr unumstößlicher Konsens in der geschichtsdidaktischen »scientific community« sei.20 Bodo von Borries hat da-

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History Weekly 1 (2013) 11. (DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2013–629, aufgerufen am 1. 7. 2015). Vgl. Oliver Plessow: Vom Rand in die Mitte der Disziplin: Historisches Lernen in der nonformalen beziehungsweise »außerschulischen« Jugendbildung und sein Stellenwert in der Geschichtsdidaktik. In: Tobias Arand/Manfred Seidenfuß (Hrsg.): Neue Wege, neue Themen, neue Methoden? Ein Querschnitt aus der geschichtsdidaktischen Forschung des wissenschaftlichen Nachwuchses. Göttingen 2014, S. 135–152, hier S. 146. Vgl. Jörn Rüsen: Historik und Didaktik. Ort und Funktion der Geschichtstheorie im Zusammenhang von Geschichtsforschung und historischer Bildung. In: Erich Kosthorst (Hrsg.): Geschichtswissenschaft. Didaktik – Forschung – Theorie. Göttingen 1977, S. 48–64, hier S. 50. Marko Demantowsky : Die Didaktik der Geschichte als »Fachdidaktik« – Abgrenzungen, Vereinnahmungen, Selbstverständnis. In: Ders./Volker Steenblock (Hrsg.): Selbstdeutung und Fremdkonzept. Die Didaktiken der kulturwissenschaftlichen Fächer im Gespräch. Bochum/Freiburg 2011, S. 93–53, hier S. 48; vgl. auch Bernd Mütter: Geschichtsdidaktik als Dimension der Geschichtswissenschaft. Ein Beispiel aus der Lehrbucharbeit (Geschichtsbuch 4). In: Internationale Schulbuchforschung 14 (1992), S. 251–277. Vgl. Wolfgang Hasberg: Unde venis? Betrachtungen zur Zukunft der Geschichtsdidaktik. In: Arand/Seidenfuß (Anm. 17), S. 15–62, hier S. 48.

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gegen diese Selbstzuordnung der Geschichtsdidaktik als »Babylonische Gefangenschaft«21 der Fachdidaktik in der Fachwissenschaft bezeichnet, die durch die Kategorie bzw. das Forschungsfeld der Geschichtskultur quasi auf kulturwissenschaftlichem Umweg eine Öffnung zur Interdisziplinarität erreicht habe. Versteht man Disziplinen als Voraussetzung für Interdisziplinarität, dürften geschichtswissenschaftliche Zuordnung und kulturwissenschaftliche Prägung jedoch keine Gegensätze darstellen. Ob die Zuordnung der Geschichtswissenschaft zu den Bezugsdisziplinen der Geschichtsdidaktik in der letzten Sektion lediglich äußeren, tagungsorganisatorischen Faktoren geschuldet ist, wird die Vermessung dieses Feldes durch die Vorträge erweisen.22

2.

Geschichtsdidaktik und ihre Bezugsdisziplinen

Wissenschaftliche Lehrerbildung ist durch Interdisziplinarität und eine Vielfalt der Bezugsdisziplinen gekennzeichnet, damit der Komplexität des Gegenstandes Rechnung getragen werden kann. Als zentrale Bezugsdisziplinen der Geschichtsdidaktik werden dabei in der Regel die Pädagogik und die Psychologie sowie die Sozial- bzw. Gesellschaftswissenschaften genannt. Doch schon diese Aufzählung bereitet Schwierigkeiten, da sich auch »die« Bezugsdisziplinen ihrerseits permanent ausdifferenzieren und innerdisziplinär die eigenen Zuständigkeiten, Grenzziehungen und -überschreitungen diskutieren und verhandeln. Stellvertretend hierfür soll auf die Pädagogik bzw. Erziehungswissenschaft und ihre Diskussion um den Begriff der Bildungswissenschaften23 sowie auf den 23. Kongress der deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft verwiesen werden, der 2013 unter dem Leitthema »Erziehungswissenschaftliche Grenzgänge. Markierungen und Vermessungen« stand.24 Mit der »empirischen Wende« in der Geschichtsdidaktik ist überdies die empirische Sozialforschung eine wichtige Bezugsdisziplin geworden. Der Kranz geschichtsdidaktischer »Bezugsdisziplinen« ist also sowohl mit Blick auf den Geschichtsunterricht wie auch mit dem Forschungsgegenstand außerschulischer Geschichtskultur in permanenter Erweiterung begriffen. An dieser Stelle können nur einige Beispiele aufgezählt werden: Die Medien- und Kommunikationswissenschaften und das 21 Bodo von Borries: Empirische – und andere? – Forschungsmethoden der Fachdidaktiken in den ›Humanities‹ – am Beispiel der Domäne Geschichte. In: Demantowsky/Steenblock (Anm. 19), S. 98–137, hier S. 102. 22 Vgl. den Beitrag von Thomas Sandkühler in diesem Band. 23 Vgl. Ewald Terhart: »Bildungswissenschaften«: Verlegenheitslösung, Sammeldisziplin, Kampfbegriff ? In: Zeitschrift für Pädagogik 58 (2012), H. 1, S. 22–39. 24 Vgl. Hans-Rüdiger Müller/Sabine Bohne/Werner Thole (Hrsg.): Erziehungswissenschaftliche Grenzgänge. Markierungen und Vermessungen. Opladen u. a. 2013.

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historische Lernen im digitalen Wandel25 oder der sich erst in Gang befindliche Kompetenztransfer zwischen der Geschichtsdidaktik und der Sonderpädagogik, um sich der Herausforderung der Inklusion – ein Modus der Grenzüberwindung im Sinne einer kulturellen Teilhabe – stellen zu können.26 Die fachspezifische Profilierung des Zusammenhangs von Sprachlichkeit und historischem Lernen, Thema der Zeitschrift für Geschichtsdidaktik im Jahr 2015, ist mit Blick auf die Flüchtlingskinder von tagesaktueller und höchster Brisanz und ohne die Bezugsdisziplinen Linguistik oder Sprachsoziologie nicht möglich.27 Und schließlich hat Hans-Jürgen Pandel bereits in seinem Bericht zur Sektion »Historische Sinnbildung« auf dem Historikertag in Halle im Jahr 2002 darauf verwiesen, dass im Zuge eines Geschichtsunterrichts in einer kleiner werdenden Welt28, also im Bezugsfeld von Migration, Fremdverstehen, interkulturellem Lernen und der Frage nach sog. hybriden Identitäten, Post- und Transdaseinsformen, die Ethonologie bzw. Sozial- und Kulturanthropologie als Bezugswissenschaften herangezogen werden sollten.29 Es stellt sich daher die Frage, ob der 25 Vgl. Uwe Danker/Astrid Schwabe (Hrsg.): Historisches Lernen im Internet. Geschichtsdidaktik und Neue Medien. Schwalbach/Ts. 2008; Bettina Alavi (Hrsg.): Historisches Lernen im virtuellen Medium. Heidelberg 2010; Astrid Schwabe: Historisches Lernen im World Wide Web: Suchen, flanieren oder forschen? Fachdidaktisch-mediale Konzeption, praktische Umsetzung und empirische Evaluation der regionalhistorischen Website Vimu.info. Göttingen 2012 (Beihefte zur ZfGD, Bd. 4); Jan Hodel: Verkürzen und Verknüpfen, Geschichte als Netz narrativer Fragmente. Wie Jugendliche digitale Netzmedien für die Erstellung von Referaten im Geschichtsunterricht verwenden. Bern 2013; Hannes Burkhardt: Anne Frank auf Facebook – Erinnerungskulturen im Social Web zwischen Trivialisierung und innovativer Erinnerungsarbeit. In: Peter Seibert/Jana Pieper/Alfonso Meoli (Hrsg.): Anne Frank: Mediengeschichten. Berlin 2014, S. 136–163; Marko Demantowsky/Christoph Pallaske (Hrsg.): Geschichte lernen im digitalen Wandel. Berlin u. a. 2015; Christoph Pallaske (Hrsg.): Medien machen Geschichte. Neue Anforderungen an den geschichtsdidaktischen Medienbegriff im digitalen Wandel. Berlin 2015. 26 Vgl. Sebastian Barsch: »Die Anderen da draußen« – Behinderung als Kategorie der Geschichtsdidaktik. In: ZfGD 10 (2011), S. 105–116; Birgit Wenzel: Heterogenität und Inklusion – Binnendifferenzierung und Individualisierung. In: Michele Barricelli/Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts. 2 Bde. Schwalbach/Ts. 2012, Bd. 2, S. 238–254; Bettina Alavi/Karin Terfloth: Historisches Lernen im inklusiven Unterricht. In: Theo Klauß/Karin Terfloth (Hrsg.): Besser gemeinsam lernen! Inklusive Schulentwicklung. Heidelberg 2013, S. 185–207; Sebastian Barsch/Wolfgang Hasberg (Hrsg.): Inklusiv – Exklusiv. Historisches Lernen fu¨ r alle. Schwalbach/Ts. 2014. 27 Vgl. Saskia Handro (Hrsg.): Geschichte und Sprache. Berlin u. a. 2010; ZfGD 14 (2015): Sprache und historisches Lernen, hrsg. v. Saskia Handro. 28 Vgl. hierzu auch Rolf Schörken: Geschichtsunterricht in der kleiner werdenden Welt. Prolegomena zu einer Didaktik des Fremdverstehens. In: Hans Süssmuth (Hrsg.): Geschichtsdidaktische Positionen. Bestandsaufnahme und Neuorientierung. Paderborn 1980, S. 315–336. 29 Vgl. Hans-Jürgen Pandel: Zusammenfassender Bericht. In: Andreas Ranft/Markus Meumann (Hrsg.): Traditionen – Visionen. 44. Deutscher Historikertag in Halle an der Saale 2002. Berichtsband. München 2003, S. 204–207. Vgl. den Beitrag von Ulrich Kockel in diesem Band.

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Begriff »Bezugsdisziplinen«, der in der geschichtsdidaktischen Literatur überall zu finden ist, aber nirgends spezifiziert wird, wirklich noch Aussagekraft besitzt.

3.

Didaktik der Geschichte und andere Fachdidaktiken – Interdisziplinäre Kontaktzonen

Die von der Erziehungswissenschaft häufig konstatierte Dichotomie zwischen Allgemeiner Didaktik hier und Fachdidaktik dort hat jüngst Marko Demantowsky noch einmal mit Blick auf die unterschiedlichen Fachkulturen und ihr jeweiliges spezifisches fachliches Selbstverständnis zurückgewiesen. Ein Makrokonzept der Fachdidaktik als Kollektivsingular gibt es nicht und kann es auch gar nicht geben, da sich die Fachdidaktiken im Kontext der jeweils korrespondierenden Fachwissenschaften disziplinär herausgebildet haben, so dass das Verhältnis der Didaktiken untereinander ein wesentlich interdisziplinäres ist. Eine Zuordnung der Fachdidaktiken und damit auch der Didaktik der Geschichte zu den Bildungswissenschaften bedeutet eine Fokussierung auf die empirische Unterrichtsforschung, die die Forschungsleistungen der Theorieentwicklung, der hermeneutisch ausgerichteten Fachdidaktik oder der Curriculumsforschung aus dem Blick geraten lässt.30 Die Kontaktzonen zu den verschiedenen Fachdidaktiken sind von unterschiedlicher Dichte und weisen ebenfalls unterschiedliche Konjunkturen auf. Hier kann stellvertretend nur auf die lange, hier nicht nachzuzeichnende Geschichte der Aushandlungszonen im Feld der historisch-politischen Bildung verwiesen werden.31 Neue interdisziplinäre Diskurse der Fachdidaktiken öffnen sich derzeit im Zuge des »kulturwissenschaftlichen turns« der Literaturdidaktik32 (linguistic turn), der Didaktik der Geographie (spatial turn) oder der Kunstdidaktik und -pädagogik (iconic turn).33 Literarisches Lernen in der 30 Vgl. Marko Demantowsky/Bettina Zurstrassen (Hrsg.): Forschungsmethoden und Forschungsstand – Zur Einleitung. In: Dies. (Hrsg.): Forschungsmethoden und Forschungsstand in den Didaktiken der kulturwissenschaftlichen Fächer. Bochum 2013, S. 7–19; Michele Barricelli: Geschichtsdidaktik nach PISA – Bilanzen und Perspektiven. Zum Jubiläum: Die Weisheit der Zahl und die Gründe des Erzählens. In: Michael Sauer u. a. (Hrsg.): Geschichtslernen in biographischer Perspektive. Nachhaltigkeit, Entwicklung, Generationendifferenz. Göttingen 2014, S. 365–384, hier S. 370f. 31 Vgl. etwa Tagungsthema und Tagungsband der VII. Zweijahrestagung der KGD 1987 in Loccum: Gerhard Schneider (Hrsg.): Geschichtsbewusstsein und historisch–politisches Lernen. Pfaffenweiler 1988. 32 Vgl. etwa das Heft Literatur und Geschichte der GWU 7/8 (2015), insbesondere Dirk van Laak: Erzählen, Erklären oder Erbsenzählen? Über das Verhältnis von Literatur und Geschichtsschreibung, S. 365–383. 33 Kunibert Bering u. a. (Hrsg.): Kunstdidaktik. 3. überarb. und erw. Aufl. Oberhausen 2013; ders./Rolf Niehoff: Bildkompetenz. Eine kunstdidaktische Perspektive. Oberhausen 2013.

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»Erinnerungskultur« und Konzepte erinnerungsgeleiteten Lernens nach Auschwitz in religionsdidaktischer Perspektive34 verweisen auf die Allgegenwärtigkeit des Erinnerungsparadigmas und zeigen den inflationären Gebrauch des Begriffs, so dass die geschichtsdidaktische Grenzziehung durch die Konzeption »Geschichtskultur« hier weiter an Plausibilität gewinnt.35 Ist also derzeit eine Intensivierung des interdisziplinären Fachdiskurses der Didaktiken zu verzeichnen, so erscheint in diesem Zusammenhang die Frage nach dem Selbstkonzept der Fachdidaktiken der »Deutungsfächer«36 als klärungs- und diskussionsbedürftig. Dies spiegelt sich bereits in den unterschiedlichen Begrifflichkeiten, wie etwa die Bezeichnung Didaktiken der gesellschaftswissenschaftlichen Fächer – verwiesen sei hier auf die 2010 gegründete interdisziplinäre Fachzeitschrift mit den Didaktiken der Geographie, Geschichte, Politik und Wirtschaft – bzw. Konzeptualisierungen als Didaktiken der kulturwissenschaftlichen Fächer.37

4.

Grenzüberschreitungen historischen Lehrens und Lernens im Unterricht

Sicherlich kann Geschichtsunterricht eo ipso bereits als fachübergreifend und damit als Metafach definiert werden, so wie auch die Geschichtswissenschaft in ihrer vielfältigen Binnendisziplinierung bereits als interdisziplinär charakterisiert werden kann und demgemäß der Geschichtsdidaktik die Aufgabe zufällt, »die Geschichte« im Schulfach wieder zu einer Einheit zu formen.38 Fragt man

34 Vgl. etwa Jens Birkmeyer (Hrsg.): Holocaust-Literatur im Unterricht. Perspektiven schulischer Erinnerungsarbeit. Hohengehren 2008; Carolin Führer (Hrsg.): Die andere deutsche Erinnerung. Tendenzen literarischen und kulturellen Lernens. Göttingen 2016; Reinhold Boschki/Wilhelm Schwendemann (Hrsg.): Vier Generationen nach Auschwitz – Wie ist Erinnerungslernen heute noch möglich? Münster 2010. 35 Vgl. dazu Beatrice Ziegler : »Erinnert euch!« – Geschichte als Erinnerung und die Wissenschaft. In: Peter Gautschi/Barbara Sommer Häller (Hrsg.): Der Beitrag von Schulen und Hochschulen zu Erinnerungskulturen. Schwalbach/Ts. 2014, S. 69–89. 36 Marko Demantowsky : Die Didaktik der Geschichte als »Fachdidaktik« – Abgrenzungen, Vereinnahmungen, Selbstverständnis. In: Demantowsky/Steenblock (Anm. 19), S. 39–52, hier S. 45. 37 Vgl. Eugen Kotte: Cultural turns und Geschichtsdidaktik. Impulse der Neuen Kulturgeschichte zur Erschließung geschichtsdidaktischer Forschungs- und Arbeitsfelder. In: Ders. (Hrsg.): Kulturwissenschaften und Geschichtsdidaktik. München 2011, S. 15–51. 38 Vgl. Hans-Jürgen Pandel: Fachübergreifendes Lernen. Artefakt oder Notwendigkeit? (URL: http://www.sowi-onlinejournal.de/2001-1/pandel.htm, aufgerufen am 4. 9. 2015); Manfred Hettling: Gibt es noch eine Einheit der Geschichtswissenschaft? In: GWU 60 (2009), S. 140–147; Winfried Schulze: Geschichte in der »permanenten Erweiterung« und die »Einheit des Fachs Geschichte«. In: Ebd., S. 159–165.

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nach Grenzüberschreitungen historischen Lehrens und Lernens im Unterricht, so findet dies im fachübergreifenden oder fächerverbindenden Lernen und Lehren oder in Fächerverbünden statt – Tobias Arand hat hier zuletzt wichtige begriffliche Klärungen vorgenommen.39 Er konstatiert keine breit angelegte Diskussion über fächerverbindenden Geschichtsunterricht innerhalb der Geschichtsdidaktik. In einem interdisziplinären Zugriff hat die neue Zeitschrift Didaktik der Gesellschaftswissenschaften zum Thema Fächerintegration, die in der bundesdeutschen sozialwissenschaftlichen Fächerlandschaft von hoher Heterogenität und Diffusität geprägt ist,40 im Jahr 2014 ein Themenheft vorgelegt. In Rekurs auf Hans-Jürgen Pandel, der zurecht Unterrichtsfächer als Denkweisen charakterisiert hat, liegt auch für Wolfgang Sander der didaktische Reiz der Fächerintegration nicht in der Vereinfachung, sondern in der sich daraus ergebenden Perspektivenvielfalt. Auch konstatiert Sander zu Recht, dass in die Debatte um ein gesellschaftswissenschaftliches Aufgabenfeld wieder Bewegung gekommen sei.41 Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass historisches Lernen auf der normativen Ebene von Lehrplänen und Richtlinien zwar in der Tat zunehmend in größeren Kontexten d. h. in Fächerverbünden situiert wird, was allerdings auch mit einer Verkürzung der Lernzeit v. a. in nicht-gymnasialen Schulformen einhergeht.42 Diese Entwicklung steht nicht nur im krassen Widerspruch zum Paradigmenwechsel einer fachspezifischen Kompetenzmodellierung im Gefolge von PISA, sondern erfährt überdies bislang auch keinerlei konzeptionelle Verankerung in der Lehrerbildung. So steht derzeit eine neue Generation an Curricula, in denen Geschichte – zumeist im Gymnasium – (noch) als eigenständiges Fach und in fachspezifischer Kompetenzmodellierung unterrichtet wird, neben Richtlinien und Lehrplänen für Fächerverbünde unterschiedlichsten Zuschnitts ohne fachspezifische Kompetenzmodellierung. Was den bilingualen Sachfachunterrichts als Spezialform fächerübergreifenden 39 Tobias Arand: Fächerverbindender Geschichtsunterricht. In: Barricelli/Lücke (Anm. 26), Bd. 2, S. 308–324; vgl. auch Franziska Conrad: Fachübergreifernder und fächerverbindender Unterricht. Ein Weg zur Förderung von historischem Denken? In: GWU 11 (2006), S. 650–664; Tobias Arand u. a. (Hrsg.): Geschichtsunterricht im Dialog. Fächerübergreifende Zusammenarbeit. Münster 2006. 40 Vgl. Birgit Weber : Fächerintegration – zur Einführung in das Schwerpunktthema. In: zdg 1 (2014), S. 7–20, hier S. 12; vgl. auch Thomas Brühne: Bestandsaufnahme gesellschaftswissenschaftliche Fächerbünde in Deutschland und Überlegungen zu einer stärker integrativ ausgerichteten Organisationsform. In: Ebd., S. 100–115. 41 Vgl. Wolfgang Sander : Fächerübergreifende politische Bildung – Ansätze und Perspektiven. In: Carl Deichmann/Christian K. Tischner (Hrsg.): Handbuch fächerübergreifender Unterricht in der politischen Bildung. Schwalbach/Ts. 2014, S. 15–26, hier S. 26. 42 Waldemar Grosch: Geschichte im Fächerverbund. In: Hilke Günther-Arndt (Hrsg.): Geschichts-Didaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II. 6. überarb. Aufl. Berlin 2013, S. 67–73, hier S. 68f.; vgl. auch Susanne Popp: Zum Stand der Disziplin. In: Dies. u. a. (Hrsg.): Zeitgeschichte – Medien – Historische Bildung. Göttingen 2010, S. 9–24, hier S. 21f.

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Unterrichts betrifft, nehmen in der Geschichtsdidaktik Skepsis bzw. Ablehnung eher zu als ab.43 Ob schließlich die zunehmende Enthistorisierung der Nachbarfächer – dem Fremdsprachen-, Deutsch-, Musik-, Kunst-, oder Religionsunterricht – weiter in Zunahme begriffen ist und damit fachübergreifender und fächerverbindender Unterricht weitgehend marginalisiert ist, wird die Sektion zur historischen Dimension in den Didaktiken der kulturwissenschaftlichen Fächer in den Blick nehmen.

5.

Nationale Grenzüberschreitungen der Geschichtsdidaktik als interdisziplinäre Diskurse?

Grenzen im Sinne territorialer, staatlicher Markierungen in der geschichtsdidaktischen Forschung zu überschreiten, ist eine unbestrittene Herausforderung und Notwendigkeit. Bodo von Borries hat hier mit seiner grenzüberschreitenden Studie »Youth and History« Pionierarbeit geleistet,44 ebenfalls im europäischen Bezugsrahmen sind Alois Eckers Erhebungen zur Geschichtslehrerbildung in Europa45 zu nennen. Arbeit an der Überwindung der nationalen Begrenzung der Geschichtsdidaktik46 hin zu einem internationalen geschichtsdidaktischen Diskurs leistet seit langem die Internationale Gesellschaft für Geschichtsdidaktik, seit seiner Ausweitung auf eine internationalen Autorenschaft auch das Blogjournal Public History Weekly. Eine dynamische und systematisch er-

43 Vgl. Wolfgang Hasberg: Bilingualer Geschichtsunterricht und historisches Lernen. Möglichkeiten und Grenzen. In: Internationale Schulbuchforschung 2004, H. 2, S. 119–139; ders.: Historisches Lernen im bilingualen Geschichtsunterricht. In: Andreas Bonnet/Stephan Breidbach (Hrsg.): Didaktiken im Dialog. Konzepte des Lehrens und Wege des Lernens im bilingualen Sachfachunterricht. Frankfurt 2004 (Mehrsprachigkeit in Schule und Unterricht, Bd. 2), S. 221–236; Markus Bernhardt: »Bilingualer Geschichtsunterricht – Nein Danke!« In: Public History Weekly 3 (2015) 22. (DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2015-4268, aufgerufen am 30. 06. 2015); ders.: Bilingualität und historisches Lernen. Förderung von historischen Kompetenzen oder soziales Differenzkriterium? In: Jan Hodel/B8atrice Ziegler (Hrsg.): Forschungswerkstatt Geschichtsdidaktik 09. Beiträge zur Tagung »geschichtsdidaktik empirisch 09«. Bern 2001, S. 214–223. Zu einer anderen Einschätzung vgl. dagegen Bärbel Kuhn: Bilingualer Geschichtsunterricht. In: Barricelli/Lücke (Anm. 26), S. 325–339. Vgl. auch den Beitrag aus der Perspektive der englischen Fachdidaktik von Laurenz Volkmann in diesem Band. 44 Magne Angvik/Bodo von Borries (Hrsg.): Youth and History, the Comparative European Survey on Historical and Political Attitudes among Adolescents. Hamburg 1997. 45 Alois Ecker : Well educated professionals to teach the next generation of European citizens? First results of the CHE-Study on civic and history teachers’ education in Europe. Strasbourg 2014. 46 Vgl. Markus Bernhardt: Geschichtsdidaktik nach PISA – Bilanzen und Perspektiven. Eine bibliometrische Analyse. In: Michael Sauer u. a. (Anm. 30), S. 349–363, hier S. 363.

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schlossene internationale Bibliographie wurde im September 2015 freigeschaltet.47 Die derzeit innerhalb der deutschen Geschichtsdidaktik zunehmend beklagte lasche Praxis des Umgangs mit Begriffen und die zuletzt vermehrt geäußerten Befürchtungen, ein starker, funktionsfähiger, konzeptioneller Konsens von Geschichtsdidaktik könnte innerdisziplinär in der deutschen Geschichtsdidaktik derzeit zumindest tendenziell entgleiten,48 verweist indirekt auf noch viel höhere Hürden hin zu einem gemeinsamen Begriffsrepertoire und Selbstkonzept im transnationalen Diskurs. In diesem Zusammenhang sind Elisabeth Erdmanns und Wolfgang Hasbergs Studien anzuführen, die zeigen, dass unterschiedliche Geschichtskulturen, nationalkulturelle Prägungen des Geschichtsunterrichts sowie die große Diversität hinsichtlich der Selbstkonzepte und der fachlichen Einbettungen dazu führen, dass in der universitären Ausbildung von Geschichtslehrkräften ganz unterschiedliche Professionsprofile zu beobachten sind.49 Auch der von Manuel Köster und Holger Thünemann 2014 herausgegebene Band leistet einen Beitrag zur Kartierung und Vernetzung geschichtsdidaktischer Forschung in internationaler Perspektive und macht auch hier – mit dem Fokus auf empirische Unterrichtsforschung – heterogene akademische Traditionen, unterschiedliche Kooperationsformen und Forschungskulturen geschichtsdidaktischer Forschung deutlich.50 Die Verständigung über Ländergrenzen ist also schwierig bzw. vorausset47 Vgl. etwa Elisabeth Erdmann/Robert Maier/Susanne Popp (Hrsg.): Geschichtsunterricht international. Hannover 2006; Susanne Popp (Hrsg.): Jahrbuch der Internationalen Gesellschaft für Geschichtsdidaktik/Yearbook of the International Society of History Didactics; Public History Weekly (URL: http://public-history-weekly.oldenbourg-verlag.de/, aufgerufen am 10. 12. 2015); Index Didacticorum. Research Collaborative Bibliography of History Education Research (URL: http://www.historicum.net/id, aufgerufen am 10. 01. 2016). 48 Vgl. Hans-Jürgen Pandel: Geschichtstheoretische Kenntnisse: Mangelhaft. In: Public History Weekly 3 (2015) 24. (DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2015-4422, aufgerufen am 12. 1. 2016). 49 Vgl. Hasberg (Anm. 20), S. 30; vgl. auch Elisabeth Erdmann/Wolfgang Hasberg: Facing, Mapping, Bridging Diversity. Foundation of a European Discourse on History Education. 2 Bde. Schwalbach/Ts. 2011, Bd. 2, S. 345–379; Elisabeth Erdmann/Wolfgang Hasberg: Proceedings in History Teacher education? Results of a global study of the impacts of the Bologna Reform. In: jahrbuch – yearbook – annales 36 (2015), S. 205–214. 50 Manuel Köster/Holger Thünemann/Meik Zülsdorf-Kersting (Hrsg.): Researching History Education. International Perspectives and Disciplinary Traditions. Schwalbach/Ts. 2014 (Geschichtsunterricht erforschen, Bd. 4). Die in Deutschland seit rund 20 Jahren stark nachrangige Rolle der quantitativen Forschung führen Michael Sauer und Michele Barricelli u. a. auch darauf zurück, dass in Deutschland weitaus weniger Psychologen in die empirische Lern-Lehrforschung zum Geschichtsunterricht involviert und damit die komplexen Methoden quantitativer Forschung selten verfügbar sind. Vgl. Michael Sauer/Michele Barricelli: Empirische Lehr-Lernforschung im Fach Geschichte. In: Georg Weißeno/Carla Schelle (Hrsg.): Empirische Forschung in gesellschaftswissenschaftlichen Fachdidaktiken. Wiesbaden 2015, S. 185–200, hier S. 194.

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zungsreich,51 so dass diese wichtigen grenzüberschreitenden geschichtsdidaktischen Diskurse durchaus auch Züge eines interdisziplinären Diskurses tragen.

6.

Räume und Grenzen – Gegenstandsbereiche historischen Lehrens und Lernens und geschichtsdidaktische Konzepte

Mit dem Thema Raumbezüge und Grenzen im historischen Lehren und Lernen als Verfahren oder Gegenstandsbereiche historischer Bildung und geschichtsdidaktischer Konzepte muss sich diese Einführung abschließend selbst auf einige Stichworte begrenzen. Die dimensionale Gliederung von Räumen, von Mikroräumen zu Makroräumen, vom historischen Ort, der Region über Europa zur Welt- bzw. Globalgeschichte sind schon lange Gegenstand geschichtsdidaktischer Reflexion.52 In einem engeren thematischen Sinne ist hier auf Grenzregionen und Grenzen als Lebensräume mehrdimensionaler Identität,53 als Kontaktarena, interkulturelle Brücke und/oder Ausweis kultureller Identitäten bzw. im biographisch-personengeschichtlichen Zugriff auf Grenzgänger und ihre Lebensläufe zu verweisen, die sich ohne nationales Referenzsystem bewegen und in denen die Überschreitung kultureller Grenzen zum leitenden Prinzip wurde.54 Mit seinem 51 Vgl. Barricelli (Anm. 30), S. 377f. 52 Vgl. etwa die XI. KGD-Tagung 1995: Regionale Identität und historisches Lernen. Bernd Mütter/Uwe Uffelmann (Hrsg.): Regionale Identität im vereinten Deutschland. Chance und Gefahr. Weinheim 1996; Bernd Schönemann: Lernpotentiale der Regionalgeschichte. In: Geschichte für heute 3 (2010), S. 5–16; Helmut Beilner : Die Bedeutung von Lokal- und Regionalgeschichte für das historische Lernen. In: Ders. (Hrsg.): Geschichtsdidaktische und fachliche Perspektiven in der Diskussion. Neuried 2001, S. 11–33; Dietmar Schiersner : Alter Zopf oder neue Chance? Regionalgeschichte in Historiographie und Geschichtsunterricht. In: GWU 62 (2011), S. 50–60; XVI. KGD-Tagung 2005: Europa in historisch-didaktischen Perspektive. Bernd Schönemann (Hrsg.): Europa in historisch-didaktischen Perspektiven. Idstein 2007; Jürgen Osterhammel: Weltgeschichte. Von der Universität in den Unterricht. In: Geschichte für heute. Zeitschrift für historisch-politische Bildung 2 (2009), H. 3, S. 5–13; Hilke Günther-Arndt/Urte Kocka/Judith Martin: Geschichtsunterricht zur Orientierung in der Welt. In: Ebd., S. 25–30; Susanne Popp: Globales Lernen im Geschichtsunterricht – weltgeschichtliche Perspektiven. In: Wolfgang Sander/Annette Scheunpflug (Hrsg.): Politische Bildung in der Weltgesellschaft. Herausforderungen, Positionen, Kontroversen. Bonn. 2011, S. 350–36; Dies./Johanna Forster (Hrsg.): Curriculum Weltgeschichte. Globale Zugänge für den Geschichtsunterricht. 2. Aufl. Schwalbach/Ts. 2008. 53 Vgl. Bärbel Kuhn: Grenzerfahrungen. Die deutsch-französische Grenze im Saarraum im 19. Jahrhundert. In: Bernd Schönemann/Hartmut Voit (Hrsg.): Europa in historisch-didaktischen Perspektiven. Idstein 2007, S. 80–93, hier S. 91–93. 54 Patrick Ostermann/Claudia Müller/Karl-Siegbert Rehberg (Hrsg.) Der Grenzraum als Erinnerungsort. Über den Wandel zu einer postnationalen Erinnerungskultur in Europa. Bielefeld 2012; Osterhammel (wie Anm. 52), S. 10; vgl. auch Christine Strobl: Brücke oder Schranke? Dimensionen interdisziplinärer Beschäftigung mit Grenzen. In: Markus Bies-

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systematischen Aufriss von Raumbezügen im Geschichtsunterricht und der Bedeutung des »spatial turn« für die Geschichtsdidaktik hat Vadim Oswalt – nach Georg Kirchhoffs fachdidaktischer Sektion »Raum als geschichtsdidaktische Kategorie« auf dem Trierer Historikertag 198655 – vor sechs Jahren einen grundlegenden Beitrag vorgelegt.56 Die geschichtsdidaktische Forschung hat sich mit dem Raum, der als »konzeptioneller Grenzgänger zwischen Physis (Materialität) und Idee (Mentalität)«57 charakterisiert werden kann, wie auch mit raumbezogenen Medien historischen Lernens oder Grenzen als Erinnerungsraum seither wieder intensiver befasst.58 Für die historische Raumforschung hat Susanne Rau dargelegt, dass es ganz unterschiedliche Fassungen des komplexen Begriffspaars Ort und Raum gibt und für eigene Untersuchungen auf die Notwendigkeit verwiesen, die Inspirationsquelle für die verwendeten Ort/ Raum-Unterschiede anzugeben.59 Auch in der Geschichtsdidaktik ist derzeit eine schwer überschaubare Vielfalt der Begrifflichkeiten zu konstatieren – Lernort, historischer Ort, außerschulischer Lernort, historische Stätte, Lernraum, Landschaft, Schauplatz, Erinnerungsort, Gedächtnis- bzw. Erinnerungsraum – deren Verwendung noch stärker ausgeschärft werden muss.60 Die Entgrenzung von Denk-, Lern- und Kommunikationsräumen im breiten Themenspektrum historischen Lernens im digitalen Wandel wird derzeit in der

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wanger u. a. (Hrsg.): Abgrenzen oder Entgrenzen: Zur Produktivität von Grenzen. Frankfurt a.M. 2003. Georg Kirchhoff (Hrsg.): Raum als geschichtsdidaktische Kategorie. Bochum 1987. Vadim Oswalt: Das Wo zum Was und Wann. Der »Spatial turn« und seine Bedeutung für die Geschichtsdidaktik. In: GWU 61 (2010), S. 220–233; vgl. auch ders.: Raum und historisches Lernen. Elaborierte Konzepte zu einer basalen Dimension historischen Denkens? In: Kotte (wie Anm. 37), S. 199–218. Judith Miggelbrink: Die (Un)Ordnung des Raumes. Bemerkungen zum Wandel geographischer Raumkonzepte im ausgehenden 20. Jahrhundert. In: Geppert/Jensen/Weinhold: Ortsgespräche, S. 80, zit. bei Matthias Renz: Kartierte Kolonialgeschichte. Der Kolonialismus in raumbezogenen Medien historischen Lernens – ein Vergleich aktueller europäischer Geschichtsatlanten. Göttingen 2014, S. 23. Raumkonzeptionen in der Historischen Bildung, ZfGD 10 (2011); Vadim Oswalt: Raum und historisches Lernen. Elaborierte Konzepte zu einer basalen Dimension historischen Denkens? In: Kotte (wie Anm. 37), S. 199–218; Saskia Handro/Bernd Schönemann: Raum und Sinn. Die räumliche Dimension der Geschichtskultur. Münster 2014; Sebastian Bode: Die Kartierung der Extreme. Die Darstellung der Zeit der Weltkriege (1914–1945) in aktuellen europäischen Geschichtsatlanten. Göttingen 2015. Susanne Rau: Räume. Frankfurt/New York 2013, S. 195. Vgl. Saskia Handro (Hrsg.): Orte historischen Lernens. Münster 2008; Christian Kuchler : Historische Orte im Geschichtsunterricht. Schwalbach/Ts. 2012; Saskia Handro (Hrsg.): Raum und Sinn: Die räumliche Dimension der Geschichtskultur. Berlin 2014; Dietmar von Reeken/Malte Thießen: Regionale oder lokale Geschichtskulturen? Reichweite und Grenzen von Erinnerungsräumen. In: Janin Fuge/Rainer Hering/Harald Schmid (Hrsg.): Gedächtnisräume. Geschichtsbilder und Erinnerungskulturen in Norddeutschland. Göttingen 2014, S. 71–96.

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Geschichtsdidaktik intensiv beforscht.61 Eine Facette ist in diesem Tagungsband mit dem Thema des geolokalisierten Storytellings über Mobile App und Augmented Reality als Möglichkeit historischen Lernens vor Ort vertreten. Verschwundene Orte aus der Vergangenheit am realen historischen, aber veränderten Ort virtuell wieder sichtbar machen – konzipiert als Couch-Tour wie als Vorort-Tour62 : Damit verschmelzen auch die Grenzen zwischen innen und außen und urbane Räume werden zu unsichtbaren Museen, indem der physischmaterielle Ort der Gegenwart als Schauplatz die Vergangenheit mithilfe einer raumwirksamen Technologie authentifiziert.63 Nicht zuletzt haben sich im digitalen Wandel auch die Diskursformen und -grenzen verschoben. Dagegen ist die Zweijahrestagung der Konferenz für Geschichtsdidaktik ein traditionelles Format wissenschaftlicher Kommunikation: Vor Ort. Analog. Face to face und im direkten Austausch.

61 Vgl. Demantowsky/Pallaske (wie Anm. 25). 62 (URL: https://zeitfenster.uni-leipzig.de/, aufgerufen am 15. 3. 2016). 63 Vgl. Eva-Ulrike Pirker (Hrsg.): Echte Geschichte. Authentizitätsfiktionen in populären Geschichtskulturen. Bielefeld 2010; Martin Sabrow/Achim Saupe (Hrsg.): Historische Authentizität. Göttingen 2016.

Sektion 1: Historische Dimensionen in den Didaktiken kulturwissenschaftlicher Fächer

Charlotte Bühl-Gramer

Historische Dimensionen in den Didaktiken kulturwissenschaftlicher Fächer. Einführung

Bereits im Jahr 2003 beklagte Waldemar Grosch aus geschichtsdidaktischer Perspektive den Verlust der historischen Dimension in den Fächern Deutsch, Musik, Kunst, Religion und den Fremdsprachen.1 Die dort geäußerte Sorge, dass die mit den Fächerverbünden einhergehende abnehmende Stundenzahl für das Fach Geschichte einen massiven Bedeutungsverlust mit sich bringen könnte und historisches Lernen überdies durch den Schwund der historischen Dimensionen in anderen Fächern zusätzlich erschwert würde, ist für den Verfasser elf Jahre später mittlerweile Realität geworden.2 Auch Bodo von Borries kam 2008 aufgrund der zunehmenden Enthistorisierung der Nachbarfächer zu folgendem Schluss: »Das Fach Geschichte steht mittlerweile bei der Einführung in die geschichtliche Welt ziemlich allein und kann sich nicht (mehr) auf die Hilfsdienste anderer verlassen.«3 Wie aber wird die Rolle des Historischen in den fachdidaktischen Diskursen der kulturwissenschaftlichen Fächer selbst beurteilt? In den vier Beiträgen aus deutsch-, kunst-, religions- und musikdidaktischer Perspektive in der GWU aus dem Jahr 2011 wurde der geschichtsdidaktische Befund bestätigt: Die Autoren erachteten eine historische Dimension für ihr Fach zwar als zentral, stellten aber ebenfalls eine deutlich erkennbare Enthistorisierung in Richtlinienvorgaben, Lehrbuchkonzepten und unterrichtspraktischen Angeboten bzw. Leerstellen im eigenen fachdidaktischen Diskurs hinsichtlich der historischen Situierung und Fundierung fest.4 Auch wenn aktuell keine explizite Trendwende zu verzeichnen 1 Vgl. Waldemar Grosch: Fächerverbindender und fächerübergreifender Geschichtsunterricht. In: Hilke Günther-Arndt (Hrsg.): Geschichtsdidaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II. Berlin 2003, S. 252–253, hier S. 233. 2 Vgl. Waldemar Grosch: Fächerverbindender und fächerübergreifender Geschichtsunterricht. In: Hilke Günther-Arndt (Hrsg.): Geschichtsdidaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II. 6. überarb. Neuaufl. Berlin 2014, S. 67–73, hier S. 67. 3 Bodo von Borries: Historisch Denken Lernen – Welterschließung statt Epochenüberblick. Geschichte als Unterricht und Bildungsaufgaben. Opladen u. a. 2008, S. 18. 4 GWU 62 (2011), H. 7/8: Ina Karg: Geschichte und Geschichtlichkeit von Sprache und Literatur. Ein Blick auf den Vermittlungsauftrag des Deutschunterrichts, S. 389–401; Dietrich

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ist, so ist in die fachdidaktische Forschung – wenngleich in unterschiedlicher Intensität – hinsichtlich der Frage nach Korrelationen zum Geschichtsunterricht, nach Problemanzeigen, Potenzialen und Spezifika einer historischen Situierung und nach der Relevanz von historischem Verstehen in »anderen« Fächern Bewegung gekommen. Für die Fächer Musik und Kunst wie auch für den Literaturunterricht sind im innerfachlichen Diskurs dabei divergente Positionen und Verortungen vorzufinden, die bisweilen auch konfrontative Züge tragen. Die historische Dimension wird dabei entweder als unwesentlich oder als konstitutiv erachtet, je nachdem, ob etwa Literatur-, Kunst- und Musikunterricht vorrangig unter der Fokussierung auf die subjektive Perspektive der Schülerinnen und Schüler als Ort individueller sinnlich-ästhetischer Erfahrungsmöglichkeiten konzeptualisiert wird oder die historische Wissensbasierung als wichtige Komponente einer Rezeptionskompetenz von historisch gewordener kultureller Praxis erachtet wird. Für die Literaturdidaktik stellte etwa Jörn Brüggemann ein bisweilen verbreitetes Konfrontationsschema von unhistorisch-subjektiven Vieldeutigkeitslektüren und historisch gesättigten Lektüren fest.5 In der Musikdidaktik stehen nicht nur individuelles sinnliches Musikerleben und/oder soziale und historische Situierung von Musik in einem bislang weitgehend ungeklärten Verhältnis. Zu dem Doppelcharakter des Faches6 tritt überdies noch die Aufgabe des Umgangs mit musikalischen Phänomenen durch die Musikpraxis (Singen und Musizieren) hinzu. Auch in der Kunstdidaktik finden sich gegenwärtig – wie Kunibert Bering in seinem Beitrag zeigt – stark konkurrierende Konzepte: eine tendenziell ahistorische und stark künstlerisch ausgerichtete Kunstpädagogik mit dem Fokus auf der Förderung individueller künstlerischer gestalterischer Praxis und eine stärker reflektierende Ausrichtung des Kunstunterrichts mit dem Ziel der Vermittlung von Bildkompetenz, in der Bildrepertoire und Bildrezeption als historisch geworden aufgefasst und historische Dimensionen damit als bedeutungsstiftend erachtet werden. Als Desiderat erachten dabei alle Fachdidaktiker, die einer historischen Fundierung Relevanz für ihr Fach zuschreiben, eine Intensivierung der didaktischen Reflexion, der theoriegeleiteten Begründung der Bedeutung »des Historischen« für das Fach wie auch die Frage nach der Auswahl historischer

Grünwald: Schnittstelle Bild. Kunstunterricht und Geschichte, S. 402–412; Andreas Lehmann-Wermser : Die Musikdidaktik und ihr schwieriges Verhältnis zum geschichtlichen Lernen, S. 413–421; Bernd Schröder : Geschichtliches im Religionsunterricht, S. 422–431. 5 Vgl. Jörn Brüggemann: Literarisches Lernen – Historisches Verstehen. Zur Explikation einer unterbewerteten Komponente literarischer Rezeptionskompetenz. In: Didaktik Deutsch 26 (2009), S. 12–30, hier S. 24. 6 Vgl. Lehmann-Wermser (Anm. 4), S. 413.

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Kontexte und ihrer Vermittlung.7 Nicht von ungefähr ist also in der fachdidaktischen Literatur hinsichtlich der historischen Dimension immer wieder von einem »Stiefkind«8 oder »Sorgenkind«9, einem »schwierigen Geschäft«10, von »Unbehagen«11 oder einem »schwierigen Verhältnis«12 die Rede. Diese Selbsteinschätzung als eine problembehaftete didaktische Herausforderung resultiert auch aus mittlerweile selbst schon historisch gewordenen didaktischen Vermittlungskonzepten, in denen der historischen Perspektive zwar ein höherer Stellenwelt eingeräumt wurde,13 die aber auch schon aus damaliger und insbesondere heutiger geschichtsdidaktischer Sicht als zumindest fragwürdige Konzeptualisierungen historischen Lernens einzustufen sind und geschichtsdidaktischen Ansprüchen an historisches Lernen möglicherweise sogar entgegenwirkten. Im Literaturunterricht wird dies an den »Meistererzählungen« vermeintlich konsistenter literarischer Epochen deutlich, die die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen eher verschleiern und in denen die historische und kulturelle Bedeutung von Autor, Werk, Stil und Gattung vorgegeben, eindeutig fixiert und durch schematische Zuweisungen von Epochenmerkmalen zu belegen sind.14 Große Ähnlichkeiten sind hier mit früheren kunsthistorischen Konzeptionen in der Kunstdidaktik zu beobachten, in denen Kunstgeschichte als in Epochen zu fassende Stilgeschichte von »Meisterwerken« der »Hochkunst« konzeptualisiert wurde.15 Dabei führt die wechselseitige Beweisführung der schematischen Epochenmerkmale mit einem etablierten Werkekanon zu einer Zementierung 7 Vgl. die Beiträge von Kunibert Bering und Carolin Führer in diesem Band; Lars Oberhaus/ Melanie Unseld: Musikpädagogik der Musikgeschichte. Eine Einleitung. In: Dies. (Hrsg.): Musikpädagogik der Musikgeschichte. Schnittstellen und Wechselverhältnisse zwischen Historischer Musikwissenschaft und Musikpädagogik. Münster u. a. 2016, S. 7–13, hier S. 7. 8 Dieter Haas: Ein Stiefkind der Religionspädagogik. Überlegungen zur Kirchengeschichte im Religionsunterricht. In: Hans Maaß (Hrsg.): Leben im Dialog. Festschrift für Eugen Engelsberger. Karlsruhe 1996, S. 89–98, hier S. 89. 9 Nina Tinter : Ein »Sorgenkind« der Deutschdidaktik? – Deutschdidaktische Perspektiven auf den Gegenstand der Literaturgeschichte. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 59 (2012), Ausgabe 4, S. 379–397, hier S. 379. 10 Hermann Korte: Editorial. Ein schwieriges Geschäft. Zum Umgang mit Literaturgeschichte in der Schule. In: Der Deutschunterricht 55 (2003), H. 6, S. 2–10, hier S. 2. 11 Brüggemann (Anm. 5), S. 13. 12 Lehmann-Wermser (Anm. 4), S. 422. 13 Vgl. Brüggemann (Anm. 5), S. 15; vgl. auch die kurzen historischen Rückblicke in den Beiträgen dieser Sektion. 14 Vgl. Korte (Anm. 10); vgl. auch Maximilian Nutz: Epochenbilder in Schülerköpfen? Zur Didaktik und Methodik der Literaturgeschichte zwischen kulturellem Gedächtnis und postmoderner Konstruktion. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 49 (2002), Ausgabe 3, S. 330–346; Ulf Abraham/Marja Rauch: Eine eigene Kompetenz für Literaturgeschichte als Vermittlungsauftrag des Deutschunterrichts? Ein Problemaufriss. In: Didaktik Deutsch 30 (2011), S. 57–73. 15 Vgl. den Beitrag von Kunibert Bering in diesem Band.

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kontextgebundener Interpretationen, eines starren Kanons und den Meistererzählungen von Epochen. Die traditionelle Landeskunde in der Fremdsprachendidaktik vermittelte zudem bis in die 1990er Jahre zum Teil sehr ausführlich ein positivistisches historisches Faktenwissen aus den Bereichen der Ereignis- und Personengeschichte der Zielkulturen, dem ein darüber hinausgehendes Erkenntnisinteresse fehlte und stattdessen der Stereotypenbildung von festgefügten Geschichtsbildern einer normativen Kulturhomogenität Vorschub leistete.16 Neue fachdidaktische Kontaktzonen eröffnen sich hingegen durch die kulturwissenschaftlichen Ansätze mit den Schlüsselkategorien »Gedächtnis« und »Erinnerung«17. So verweist etwa die Kirchengeschichtsdidaktik auf die Relevanz von Kirchengeschichte auch mit Blick auf die theologische Perspektive des Christentums als Offenbarungs- und damit Erinnerungsreligion.18 Die Neubewertung fiktionaler Gestaltungen von Geschichte in Geschichtswissenschaft und Geschichtsdidaktik19 findet Entsprechungen in literaturdidaktischen Ansätzen 16 Vgl. Laurenz Volkmann: Fachdidaktik Englisch: Kultur und Sprache. Tübingen 2010, S. 46; vgl. dazu auch den Beitrag von Laurenz Volkmann in diesem Band. 17 Vgl. Eugen Kotte: Geschichtsdidaktik als historische Kulturwissenschaft. In: GWU 62 (2011), S. 584–592; Ders.: Cultural turns und Geschichtsdidaktik. Impulse der Neuen Kulturgeschichte zur Erschließung. geschichtsdidaktischer Forschungs- und Arbeitsfelder. In: Ders. (Hrsg.): Kulturwissenschaften und Geschichtsdidaktik. München 2011, S. 15–51; Jürgen Vogt: Musikpädagogik als kritische Kulturwissenschaft – noch einmal. In: Art Education Research 5 (2014), H. 9, S. 1–7; Matthis Kepser : Deutschdidaktik als eingreifende Kulturwissenschaft. Ein Positionierungsversuch im wissenschaftlichen Feld. In: Didaktik Deutsch 34 (2013), S. 52–68; Laurenz Volkmann: Die Vermittlung kulturwissenschaftlicher Inhalte und Methoden. In: Klaus Stiersdorfer/Laurenz Volkmann: Kulturwissenschaft Interdisziplinär. Tübingen 2005, S. 271–303; Bernhard Dressler : Performativer Religionsunterricht. In: WiReLex – Das wissenschaftlich-religionspädagogische Lexikon im Internet 1 (2015) (URL: www.wirelex.de, aufgerufen am 15. 02. 2016). 18 Vgl. den Beitrag von Konstantin Lindner in diesem Band. 19 Vgl. Wolfgang Hardtwig: Fiktive Zeitgeschichte? Literarische Erzählung, Geschichtswissenschaft und Erinnerungskultur in Deutschland. In: Konrad H. Jarausch/Martin Sabrow (Hrsg.): Verletztes Gedächtnis. Erinnerungskultur und Zeitgeschichte im Konflikt. Frankfurt a.M. 2002, S. 99–123; Katja Stopka: Zeitgeschichte, Literatur und Literaturwissenschaft, Version: 1.0. In: Docupedia-Zeitgeschichte, 11. 02. 2010 (URL: https://docupedia.de/zg/Li teraturwissenschaft, aufgerufen am 06. 06. 2016); Gottfried Gabriel: Fakten oder Fiktionen? Zum Erkenntniswert der Geschichte. In: HZ 297 (2013), H. 1, S. 1–26; Dirk van Laak: Erzählen, Erklären oder Erbsenzählen? Über das Verhältnis von Literatur und Geschichtsschreibung. In: GWU 66 (2015), S. 365–383; Monika Rox-Helmer : Fiktionale Texte im Geschichtsunterricht. In: Vadim Oswalt/Hans-Jürgen Pandel (Hrsg.): Geschichtskultur. Die Anwesenheit von Vergangenheit in der Gegenwart. Schwalbach/Ts. 2009, S. 98–112; Dies.: Roman und Jugendbuch. Verarbeitung von Zeitgeschichte in der Literatur. In: Markus Furrer/Kurt Messmer (Hrsg.): Handbuch Zeitgeschichte im Geschichtsunterricht, Schwalbach/Ts. 2013, S. 268–292; Andreas Sommer : Räume erfahrbar machen. Überlegungen zum geschichtsdidaktischen Potenzial von Holocaust-Literatur. In: ZfGD 10 (2011), S. 43–55; Michele Barricelli: »Geteilte Träume«. Erinnerungen an die DDR, Popliteratur und histo-

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von Literatur als Medium der Erinnerung, der Erinnerungskultur bzw. als »Speicher kulturellen Gedächtnisses.«20 Der iconic turn und das Konzept der »visual history« weisen Konvergenzen mit der kunstdidaktischen Konzeptualisierung von Bildkompetenz,21 die »sound history« mit noch eher vereinzelten und zögerlichen Überlegungen der Musikpädagogik zum kulturellen Gedächtnis auf.22 Im Bereich Deutsch als Fremd- oder Zweitsprache schließlich sind Konzepte entwickelt worden, in denen Geschichte und insbesondere Erinnerungsorte bzw. Erinnerungskulturen in der Bundesrepublik als ein für die Sprach- und Kulturvermittlung relevanter Zugang für eine – geschichtsdidaktisch gesprochen – Befähigung zur Teilhabe an der Geschichtskultur erachtet wird.23 In der Geschichtsdidaktik hat dieses Modell historischen Lernens bislang leider kaum Beachtung gefunden.

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risches Lernen – ein anderes Beispiel von Aufarbeitung. In: Saskia Handro/Thomas Schaarschmidt (Hrsg.): Aufarbeitung der Aufarbeitung. Die DDR im geschichtskulturellen Diskurs. Schwalbach/Ts. 2011, S. 184–206. Karlheinz Fingerhut: Literaturgeschichte im Unterricht als Kulturgeschichte. In: Michael Kämper-van den Boogaart/Kaspar H. Spinner (Hrsg.): Lese- und Literaturunterricht. Teil 3: Erfolgskontrollen und Leistungsmessung. Exemplarische Unterrichtsmodelle. Hohengehren 2010, S. 255–293, hier S. 255; Clemens Kammler: Literarisches Lernen in der Erinnerungskultur. Anmerkungen zu einer Aufgabe des Deutschunterrichts. In: Jens Birkmeyer (Hrsg.): Holocaust-Literatur und Deutschunterricht. Perspektiven schulischer Erinnerungsarbeit. Baltmannsweiler 2008, S. 47–60; Jens Birkmeyer : Fakten und Fiktionen. Was vermag Literatur über den Holocaust im Unterricht? In: Duitsland Instituut bij de Universiteit van Amsterdam (Hrsg.): Forschungsberichte (6) 2010 aus dem Duitsland Instituut. Amsterdam 2011, S. 108–125. Vgl. Gerhard Paul (Hrsg.): Visual history. Ein Studienbuch. Göttingen 2006; Ders. (Hrsg.): Das Jahrhundert der Bilder. 2 Bde. Göttingen 2008/2009; Michael Wobring/Susanne Popp (Hrsg.): Der europäische Bildersaal. Europa und seine Bilder. Schwalbach/Ts. 2014; aus kunstdidaktischer Perspektive vgl. den Beitrag von Kunibert Bering in diesem Band. Vgl. Vogt (Anm. 17), S. 4; Adrian Niegot: »Die Zukunft war früher auch besser«: Anmerkungen zum musikpädagogischen Handlungs- und Geschichtsbegriff aus gedächtnis- und erinnerungstheoretischer Perspektive. In: Jens Knigge/Anne Nissen (Hrsg.): Musikpädagogisches Handeln. Begriffe, Erscheinungsformen, politische Dimensionen. Essen 2012, S. 41–55; Gerhard Paul/Ralph Schock (Hrsg.): Sound des Jahrhunderts. Geräusche, Töne, Stimmen 1889 bis heute. Bonn 2013; sowie das Themenheft »Sound history« der GWU 66 (2015) H. 11/12. Vgl. Jörg Roche/Jürgen Röhling (Hrsg.): Erinnerungsorte und Erinnerungskulturen. Konzepte und Perspektiven für die Sprach- und Kulturvermittlung. Baltmannsweiler 2014; Marc Hieronimus (Hrsg.): Historische Quellen im DaF-Unterricht. Göttingen 2012; Uwe Koreik/ Jörg Roche: Zum Konzept der »Erinnerungsorte« in der Landeskunde für Deutsch als Fremdsprache – eine Einführung. In: Jörg Roche/Jürgen Röhling (Hrsg.): Erinnerungsorte und Erinnerungskulturen. Konzepte und Perspektiven für die Sprach- und Kulturvermittlung. Baltmannsweiler 2014, S. 9–24; Uwe Koreik: Landeskunde, Geschichte und ›Erinnerungsorte‹ im Fremdsprachenunterricht. In: Camilla Badstübner-Kizik/Almut Hille (Hrsg.): Kulturelles Gedächtnis und Erinnerungsorte im hochschuldidaktischen Kontext. Frankfurt am Main u. a. 2015, S. 15–36; Katrin Biebighäuser : Fremdsprachenlernen in virtuellen

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Richtet man schließlich den Blick darauf, ob geschichtsdidaktische Konzepte und Kompetenzmodellierungen in den jeweiligen fachdidaktischen Diskursen rezipiert oder diskutiert werden, bietet sich ein heterogenes Bild: So ist etwa im Bereich der Musikpädagogik zwar kein Boom einer ›Historischen Musikpädagogik‹ festzustellen, aber doch ein seit 2009 zunehmendes Interesse an dem bislang vernachlässigten Bereich der Musikgeschichte im Unterricht zu verzeichnen.24 Dabei werden in direkter Anknüpfung an die geschichtsdidaktische Zentralkategorie des Geschichtsbewusstseins und an fachspezifische Kompetenzmodelle Bezugspunkte in musikhistorischer und musikdidaktischer Hinsicht freigelegt und diskutiert.25 »Historisches« und »Musikalisches Denken« werden dabei für den Musikunterricht als komplementäres Verhältnis beschrieben.26 Auch in der religionsdidaktischen Forschung wird die Bedeutung der Kirchengeschichtsdidaktik in Forschung und Lehre gegenwärtig ebenfalls (neu) entdeckt und auch bereits in interdisziplinärer Perspektive diskutiert.27 Für die Englischdidaktik konstatiert dagegen Laurenz Volkmann in seinem Beitrag insbesondere im Bereich des CLIL-Diskurses als ganz unmittelbarem Berührungspunkt zwischen Geschichts- und Fremdsprachendidaktik die Notwendigkeit einer stärkeren Rezeption und Berücksichtigung der Kompetenzdiskurse der »Sachfächer« durch die Fremdsprachendidaktik. Gerade auch an

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Welten. Empirische Untersuchung eines Begegnungsprojekts zum interkulturellen Lernen. Tübingen 2014, insbesondere S. 70–92. Vgl. Alexander J. Cvetko: »… nur ein ästhetisches Gebräu von Namen und Daten?«. Historische Etappen der Geschichte im Musikunterricht und aktuelle Aufgaben. In: Diskussion Musikpädagogik 56 (2012), S. 4–11; Stefan Orgass: Kategorien musikgeschichtlicher Erfahrung und ihre unterrichtliche Thematisierung. In: ebd., S. 30–37; Kai Martin: Warum Musikgeschichte? Über die Frage, ob musikhistorische Kenntnisse zur musikalischen Bildung beitragen. In: ebd., S. 26–29. Vgl. Alexander J. Cvetko/Andreas Lehmann-Wermser : Historisches Denken im Musikunterricht. Zum Potenzial eines geschichtsdidaktischen Modells für die Musikdidaktik, Teil 1: Theoretische Vorüberlegungen. In: Zeitschrift für kritische Musikpädagogik (2011), S. 18–41 (online abrufbar : URL: http://www.zfkm.org/11-Cvetko-Lehmann.pdf, aufgerufen am 12. 2. 2016). Alexander J. Cvetko/Andreas Lehmann-Wermser : Musikgeschichte unterrichten. In: Oberhaus/Unseld (Anm. 7), S. 29–50, hier S. 44. Vgl. Stefan Bork/Claudia Gärtner (Hrsg.): Kirchengeschichtsdidaktik. Verortungen zwischen Religionspädagogik, Kirchengeschichte und Geschichtsdidaktik. Stuttgart 2016. Die Geschichtsdidaktik hat sich ihrerseits schon seit längerem mit der religiösen Dimension befasst. Vgl. etwa Wolfgang Hasberg: Kirchengeschichte in der Sekundarstufe I. Analytische, kontextuelle und konstruktiv-pragmatische Aspekte zu den Bedingungen und Möglichkeiten der Kooperation von Geschichts- und Religionsunterricht im Bereich der Kirchengeschichte. Dargestellt am Beispiel der Kreuzzugsbewegung. Trier 1994; Waltraud Schreiber (Hrsg.): Die religiöse Dimension im Geschichtsunterricht. In: Dies. (Hrsg.): Die religiöse Dimension im Geschichtsunterricht an Europas Schulen. Ein interdisziplinäres Forschungsprojekt. Neuried 2000, S. 15–53; Bernd Schönemann: Die Dimension des Religiösen. In: ebd., S. 411–431.

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diesem Beispiel wird deutlich, dass Kompetenz zwar als domänen- bzw. fachspezifisch ausgeprägt anzusehen ist, dabei aber gleichwohl gemeinsame Zielstellungen der Fächer nicht aus dem Blick zu verlieren sind. Dies erfordert den Austausch darüber, was in den unterschiedlichen Fächern beispielsweise mit ein und demselben Kompetenzbegriff – z. B. der narrativen Kompetenz – verstanden wird.28 Denn die oft mit unterschiedlichen Begriffen ausgewiesenen Kompetenzen eröffnen auch Chancen, Fächer miteinander zu verbinden. Die Beiträge in dieser Sektion liefern dazu einige Überlegungen und Vorschläge. Weitere Forschungsdesiderate werden schließlich im Bereich der fachdidaktischen Professionsforschung und der empirischen Forschung zur Lehrerbildung sichtbar : Denn bislang ist weder Gegenstand fachdidaktischer Untersuchungen, dass bei Lehrkräften je nach Fächerkombination völlig unterschiedliche Voraussetzungen für die Vermittlung eines wie auch immer zu konzeptualisierenden historischen Orientierungswissens vorliegen, noch welche Unterschiede demzufolge in der Unterrichtspraxis festgestellt werden können. Zudem hat die Forschung bislang kaum Interesse daran gezeigt, ob und wie Geschichtslehrkräfte in ihr Zweit- oder Drittfach geschichtsdidaktische Konzepte einbringen oder mit welchen didaktischen Konzepten in der Lehrerbildung auf diese Differenzen zu reagieren wären. Man legt wohl kaum mehr Rechenschaft über die eigenen Annahmen, Begriffe und Konzepte ab, wenn man mit Kolleginnen und Kollegen aus einer anderen Disziplin ins Gespräch kommt. Die Beiträge dieser Sektion loten für die Fächer Deutsch, Religion, Kunst und Englisch Relationen zur historischen Dimension aus und geben dabei Einblicke in zukünftige Herausforderungen für einen zweifellos zu intensivierenden interdisziplinären fachdidaktischen Diskurs.

28 Zur narrativen Kompetenz aus Perspektive der Deutschdidaktik und Englischdidaktik vgl. die Beiträge von Carolin Führer und Laurenz Volkmann in diesem Band; für die Religionsdidaktik vgl. etwa Carsten Gennerich: Narrative Religionsdidaktik. Ansätze, empirische Grundlagen und Entwicklungsperspektiven. In: Theo-Web. Zeitschrift für Religionspädagogik 11 (2012), S. 226–247.

Kunibert Bering

Zwischen gestalterischer Praxis und Bildanalyse. Die Rolle der Kunstgeschichte im kunstpädagogischen Diskurs

Kaum ein anderes Fach im Fächerkanon der gegenwärtigen Schule erlebt derartige Auseinandersetzungen wie das Fach Kunst.1 Der Kunstunterricht ruht auf zwei Säulen: der Produktion und der Reflexion, der gestalterischen Praxis und dem Umgang mit Bildern einschließlich ihrer Rezeption – dazu gehört auch die historische Dimension. Beide Pole des Kunstunterrichts sollten sich ergänzen und den Heranwachsenden ein breites Spektrum der Auseinandersetzung mit Bildern in unserer von Bildern fundamental geprägten Welt bieten.2 Tatsächlich stehen sich allerdings die beiden Seiten häufig antagonistisch gegenüber. Jene Ansätze, die die gestalterische Praxis bevorzugen, favorisieren eine Künstlerische Kunstpädagogik. Ein bedeutender Vertreter dieses Ansatzes, Carl-Peter Buschkühle, bezieht sich dezidiert auf »die Kunst« und umriss seinen 1 Die hier vorgetragenen Überlegungen wurden auch auf der Tagung »Bild-/KunstGeschichte« an der Kunstakademie Düsseldorf (gemeinsam mit dem BDK – Fachverband für Kunstpädagogik) vorgestellt: Kunibert Bering: Kunstgeschichte im kunstdidaktischen Diskurs. In: Kunibert Bering/Rolf Niehoff (Hrsg.): Bild-/KunstGeschichte (artificium). Oberhausen 2016, S. 87–104; vgl. Kunibert Bering: Wie kam die »Kunst« in die Kunstpädagogik? In: Kunibert Bering u. a. (Hrsg.): Bildbegriff und Kunstverständnis im kunstpädagogischen Kontext (artificium, Bd. 51), Oberhausen 2014, S. 175–202. Zur Problematik der interdisziplinären Bedeutung des Faches Kunst und insbesondere dessen Relevanz für den Geschichtsunterricht s. die Beiträge in: Stefan Hölscher/Rolf Niehoff/Karina Pauls (Hrsg.): BildGeschichte. Facetten der Bildkompetenz (artificium, Bd. 38/Festschr. für Kunibert Bering). Oberhausen 2012 und Kunibert Bering/Rolf Niehoff (Hrsg.): Vom Bilde aus … Beiträge des Faches Kunst für andere Fächer (artificium, Bd. 25). Oberhausen 2007; zuletzt: Kunibert Bering/Rolf Niehoff: Schnittstellen: Bildgeschichte – Kunstgeschichte – Kunstpädagogik. In: Kunibert Bering u. a. (Hrsg.): Bildbegriff und Kunstverständnis im kunstpädagogischen Kontext (artificium, Bd. 51), Oberhausen 2014, S. 163–175. 2 Als Beispiel für die Aktualität dieser Überlegungen sei auf die Gründung einer »Arbeitsgruppe Kunstgeschichte in der Kunsterziehung« im BDK – Fachverband für Kunstpädagogik auf Initiative der Universität Wuppertal (Ulrich Heinen) verwiesen. Vgl. zuletzt Klaus-Peter Busse: Kunst unterrichten. Die Vermittlung von Kunstgeschichte und künstlerischem Arbeiten (Dortmunder Schriften zur Kunst. Studien zur Kunstdidaktik, Bd. 14). Oberhausen 2014 und Claudia Hattendorff/Ludwig Tavernier/Barbara Welzel (Hrsg.): Kunstgeschichte und Bildung (Dortmunder Schriften zur Kunst. Studien zur Kunstgeschichte, Bd. 5). Norderstedt 2013.

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Kunibert Bering

Ansatz folgendermaßen: »Künstlerische Bildung insistiert auf der fortgesetzten Befragung der Kunst als dem Horizont, dem Ziel und dem Wesen der Kunstpädagogik. Der tiefgreifende Faktor und das Leitmotiv dieser Bildung ist das künstlerische Denken, welches es zu bilden gilt. Dieses ist die Intention künstlerischer Bildung, dazu bewegt sie sich in der ›Welt der Kunst‹ […]. Das Herzstück künstlerischen Denkens bildet die Einbildungskraft (Hervorhebung: K. B.).«3 Derartige Ansätze orientieren sich an einem weit verbreiteten Kunstverständnis, das – formelhaft verdichtet – von einem ontologischen Kunstbegriff ausgeht. Häufig steht die Kunstauffassung einer bedeutenden Künstlerpersönlichkeit, z. B. Beuys, im Mittelpunkt. Damit ist vielfach eine Fortschreibung des Geniegedankens verbunden – das bedeutet, dass diese Vorstellungen weitgehend ahistorisch operieren. Demgegenüber ver(?)sucht die eher reflektierende Ausrichtung des Kunstunterrichts die Vermittlung eines kompetenten Umgangs mit Bildern, was aber auch deren Herstellung durchaus einschließt. Es kommt wesentlich darauf an, die Schülerinnen und Schüler zu befähigen, Kontexte zu konstruieren, die den Bildern eine Bedeutung verleihen. Dies ermöglicht zugleich die Orientierung in der Welt. Es öffnet sich ein bedeutungsstiftender kultureller Horizont, der die gesellschaftlichen Bedingungen der Bildproduktion und -rezeption berücksichtigt. Hier gilt es vor allem, die historische Dimension als wesentlich Grundlage für die Existenz der Kultur zu beachten. Damit ist die Kunstgeschichte eine entscheidende Bezugswissenschaft kunstpädagogischen Handelns. Es fragt sich jedoch: Welche Kunstgeschichte?

1.

Kunsthistorische Konzeptionen in der Kunstdidaktik

Ist eine Kunstgeschichte als Stilgeschichte gemeint, die schon Pinder 1926 als »Gänsemarsch der Stile«4 verspottete? Von dem aus dem 16. Jahrhundert stammenden stilgeschichtlichen »Evolutionsmodell der Kunstgeschichte«5, das 3 Carl-Peter Buschkühle: Kunst und Bildung. In: Impulse. Kunstdidaktik 8, 2010, S. 2–10, hier: S. 7. 4 Wilhelm Pinder : Das Problem der Generation in der Kunstgeschichte Europas. 4. Aufl. Köln 1949, S. 37. 5 Horst Bredekamp: Modelle der Kunst und der Evolution. In: Debatte, Heft 2: Modelle des Denkens. Streitgespräch in der Wissenschaftlichen Sitzung der Versammlung der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften am 12. Dezember 2003. Berlin 2005, S. 13–20, hier : S. 13; vgl. Udo Kultermann: Geschichte der Kunstgeschichte. München/New York 1996, S. 24–28.

Zwischen gestalterischer Praxis und Bildanalyse

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auf der Vorstellung basierte, »daß sich Kunststile aus Kunststilen entwickeln«6, hat sich die Kunstwissenschaft inzwischen deutlich entfernt – dazu mehr im Folgenden. Dennoch basieren grundlegende Unterrichtswerke wie »der Kammerlohr« auf diesem theoretischen Ansatz.7 Die beliebten, bis heute in immer neuen Varianten erscheinenden »Meisterwerke der Kunst«8 verfolgen vergleichbare Intentionen – die Auswahl geschieht ausschließlich nach Kriterien der traditionell anerkannten »Hochkunst«. Es wird außerdem immer wieder der Versuch unternommen, tradierte Bildungsgüter in kunsthistorisch fassbaren Kanones festzuschreiben. Ein wichtiger, in vielerlei Hinsicht auch durchaus gelungener Versuch wurde vor einigen Jahren von dem Autorenteam Karin Thomas, Fritz Seydel und Hubert Sowa unternommen, die versuchten, die riesige Fülle an Kunstwerken mit Hilfe eines »Atlasses« zu bändigen. Dazu nutzten sie das chronologische Gerüst der Kunstgeschichte, verbunden mit dem »Entwicklungsgedanken«, also der Vorstellung einer sich genetisch entwickelnden Historie der Kunst. Dies ist bekanntlich ein beliebtes, auf Vasari und insbesondere Winckelmann zurückgehendes Modell. Dieser Ansatz führt dazu, jene Arbeiten kanonisch zu behandeln, die traditionell als »bedeutend« und als »Kunstwerke« gelten. Darüber hinaus beginnt – anders als die einleitenden Übersichten und Schaubilder – der Text mit der Neuzeit. Allerdings wird – von einigen Ausnahmen abgesehen – die Kunst der Moderne und der Gegenwart nur wenig berücksichtigt – letztlich entsprechend der angewandten bildungsbürgerlich orientierten Kanonisierung, die mit der Akzeptanz der modernen Kunst stets große Probleme hatte. Das führt auch dazu, dass die Alltagswelt ebenso ausgeblendet wird wie die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler. In einem weiteren, im Dezember 2014 veröffentlichten Text mit dem programmatischen Titel »Kunstgeschichte lehren und lernen«, der sich ausdrücklich als »Vorbemerkungen zu einer kulturgeschichtlichen Didaktik des Kunstunterrichts«9 versteht, blendet Sowa die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler ebenso aus und vermeidet eine fachdidaktische Erörterung der – vermeintlichen oder tatsächlichen – Notwendigkeit kunsthistorischer Themen im 6 Bredekamp (Anm. 5), Modelle, S. 18. 7 Otto Kammerlohr (Begr.)/Werner Broer (Hrsg.): Epochen der Kunst. 5 Bde. München 1997 (und weitere Ausgaben und Auflagen). 8 Meisterwerke der Kunst des Neckar-Verlags – Villingen-Schwenningen (https://webshop. neckar-verlag.de/fileadmin/storage1/33/3344/inhaltsverzeichnis.pdf, aufgerufen am 25. 10. 2015). 9 Hubert Sowa: Kunstgeschichte lehren und lernen. Vorbemerkungen zu einer kulturgeschichtlichen Didaktik des Kunstunterrichts. In: zkmb – onlineZeitschrift Kunst Medien Bildung, Text im Diskurs (http://www.zkmb.de/index.php?id=198, aufgerufen am 25. 10. 2015).

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Kunibert Bering

Kunstunterricht. Dabei geht Sowa von einem »Projekt der allgemeinen Bildung«, ja von einem »Weltkulturerbe«, aus, das von Generation zu Generation weitergegeben werde, und das sich die jeweils Heranwachsenden »aneignen« sollen. Das (ver)führt jedoch zu Kanonisierungen, die offenbar keiner didaktischen Begründung bedürfen. Es gebe darüber hinaus, so meint Sowa mit Blick auf Aristoteles, Gadamer u. a. »alle Menschen verbindende anthropogene Konditionen«10. Hier liegen für Sowa nicht mehr zu hintergehende Phänomene – eine didaktische Reflexion, die die Schülerinnen und Schüler in den Mittelpunkt stellt, unterbleibt auch hier. Damit verzichtet Sowa aber auf die notwendige Legitimation, aus welchen Gründen Heranwachsende sich mit einem bestimmten Lernstoff auseinandersetzen sollen – sie haben sich dem Diktat der »allgemeinen Bildung« zu unterwerfen und sich ein »Erbe« anzueignen. Unbeirrt hält Sowa darüber hinaus an dem Begriff der »Epoche« fest, ungeachtet aller Diskussionen der Geschichtswissenschaft, die die Fragwürdigkeit von Epochen und Epochengrenzen belegen. Sowa dehnt demgegenüber die von frühen europäischen Historikern gesetzten Epochenbegriffe auf globale historische Verhältnisse aus und meint: »Wichtig erscheint hier vor allem die Bildung eines klaren epochalen Grundverständnisses von europäischer Geschichte und Welthistorie (Frühgeschichte – Antike – Mittelalter – Neuzeit – Moderne).«11 Kann man von aztekischer Antike oder dem Mittelalter in China sprechen?

2.

Zur Problematik kunsthistorischer Methoden

Von großer Bedeutung ist die Problematik der kunsthistorischen Methode, mit der der Bilderbestand zu erschließen ist. Sowohl Geschichts- als auch Kunstdidaktiker rekurrieren in der Regel auf Erwin Panofskys Ikonographie und Ikonologie, einen Ansatz, den dieser herausragende Kunsthistoriker in den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts in den USA entwickelte.12 Damit zielte Panofsky auf »die eigentliche Bedeutung oder [den] Gehalt«13, also auf eine letztlich werkimmanente Größe, wenn auch Panofsky zeitgenössische Zusammenhänge stets als relevante Strukturen in die Interpretationen einbezog, ja, als konstitutiv für die Methode der Ikonologie erachtete. Dem muß man allerdings die grundsätzliche Offenheit eines Werkes im Sinne

10 Ebd. 11 Ebd. 12 Erwin Panofsky : Ikonographie und Ikonologie. Eine Einführung in die Kunst der Renaissance (1939). In: Erwin Panofsky : Sinn und Deutung in der bildenden Kunst. Köln 1975, S. 36–67. 13 Ebd., S. 40.

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Umberto Ecos14 und die aus systemtheoretischen Erwägungen resultierende These von der Relevanz des bedeutungsstiftenden Kontextes entgegenhalten.15 Für diesen Zugang bietet sich z. B. die Philosophie Ludwig Wittgensteins an: »Jedes Zeichen scheint allein tot. Was gibt ihm Leben? – Im Gebrauch lebt es.«16 Die kunsthistorische Forschung der 60er und 70er des vorigen Jahrhunderts rezipierte Panofskys Ansatz intensiv. Parallel dazu griffen in diesen Jahren weitere Konzeptionen im Nachklang der ’68er Zeit sozialhistorische Fragestellungen auf. Unter dem Eindruck dieser Entwicklungen fragte Hans Belting 1983 programmatisch nach dem »Ende der Kunstgeschichte«.17 Damit meinte er allerdings nicht das Ende der kunsthistorischen Forschung oder Interpretation, sondern das Ende einer verklärenden Betrachtung und der stilgeschichtlichen Kategorisierung. Dieser Neuorientierung folgte 1992 der von Mitchell ausgerufene »pictorial turn«,18 gefolgt zwei Jahre später von Gottfried Boehms Formulierung des »iconic turn«.19 Damit verließ die Kunstgeschichte endgültig ausgetretene Pfade unter dem Eindruck der postmodernen Bilderflut – Horst Bredekamp formulierte 2003 treffend, man habe es »mit Stoffmengen zu tun«, »die das Fassungsvermögen des Gedächtnisses bei weitem übersteigen«.20 Horst Bredekamp untersucht beispielsweise jene »Kräfte der Bilder«, die so erhebliche Wirkungen auf den Betrachter ausüben können, dass sie sein Denken und Fühlen durch den »Bildakt« zutiefst beeinflussen können. Bildakte vollziehen sich »schematisch«, »substitutiv« oder »intrinsisch«, wobei Bredekamp den Bildern eine »Lebendigkeit« zuschreibt.21 Dies bezieht sich nun nicht mehr ausschließlich auf »Kunstwerke«, sondern schließt Bilder unterschiedlichster Herkunft ein – hier zeigen sich deutlich die Einflüsse der sich parallel entwickelnden Bildwissenschaft, die zunächst unter dem Dach der Philosophie angesiedelt war.22 14 Umberto Eco: Das offene Kunstwerk. 2. Aufl., Frankfurt/M. 1977. 15 Kunibert Bering: Kunst und Kunstvermittlung als dynamisches System (Interpretation und Vermittlung, Bd. 1). Münster/Hamburg 1993, S. 50–69, bes. S. 75–88. 16 Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen (1952), Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt/M. 1984, Nr. 432, S. 416. 17 Hans Belting: Das Ende der Kunstgeschichte? München 1983. 18 William J. Thomas Mitchell: The pictorial turn (1992). In: Ders.: Picture Theory. Essays on Verbal and Visual Representation. Chicago 1994, S. 3–24. 19 Gottfried Boehm: Die Wiederkehr der Bilder, in: Ders. (Hrsg.): Was ist ein Bild? München 1994, S. 11–38, hier : S. 31; vgl. den Briefwechsel zwischen Gottfried Boehm und William J. T. Mitchell: Hans Belting: Bilderfragen. Bildwissenschaften im Aufbruch. München 2007, S. 27f., 37f. 20 Bredekamp (Anm. 5), S. 20. 21 Ebd.; Juliane Rebentisch: Theorien der Gegenwartskunst, Hamburg 2013 erörtert das Spektrum der aktuellen Debatte. 22 Klaus Sachs-Hombach (Hrsg.): Wege zur Bildwissenschaft. Interviews. Köln 2004, S. 9 scheut

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Die Pfade der Integration traditioneller kunsthistorischer Themen in den Kunstunterricht vermögen in zunehmender Weise einem veränderten Stellenwert des Bildes in den gegenwärtigen Gesellschaften nicht mehr zu genügen. Johannes Kirschenmann und Ernst Wagner bezogen in einer Arbeit des Jahres 2006 spektakuläre Bilder aus der Lebenswelt in ihre Darstellung ein.23 Dies war nicht zuletzt eine Reaktion auf den von Mitchell und Boehm ausgerufenen »pictorial« bzw. »iconic turn«. Zugleich hatte die aufkommende Bildwissenschaft auch jene Medien in die Betrachtung einbezogen, die nicht unbedingt zum traditionellen, von der Kunstgeschichte erschlossenen Kunst-Kanon gehören. Mit dieser von Kirschenmann und Wagner vorgelegten Arbeit lassen sich durchaus Brücken zu vergleichbaren Versuchen in Geschichtswissenschaft und Geschichtsdidaktik schlagen, z. B. zu dem bekannten Werk »Das Jahrhundert der Bilder«24, das Gerhard Paul herausgab. Auf den »iconic turn« hat die Kunstpädagogik in vielerlei Hinsicht reagiert. Zugleich konnte die Kunstdidaktik aber auch an eine eigene, mittlerweile historisch gewordene Konzeption anknüpfen: die Visuelle Kommunikation – nicht zu verwechseln mit den Feldern gegenwärtigen Designs, die sich mit derselben Begrifflichkeit bezeichnen. Das kunstdidaktische Konzept der Visuellen Kommunikation bezog seit der 1968er Revolte – von materialistischen Vorstellungen ausgehend – die Alltagswelt mit ihrem Bilderrepertoire programmatisch ein.25 Wenn auch die damals vehement propagierte gesellschaftsverändernde Intention seit langem nicht mehr zeitgemäß ist, so öffnete dieser kunstpädagogische Entwurf doch den Kunstunterricht für die Betrachtung der Bilderwelt des Alltags und damit der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler. Diese Öffnung zur Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler ermöglichte die Integration von grundlegenden Prämissen des Konstruktivismus in die kunstdidaktischen Konzeptionen, wie auch die Kunstgeschichte sich – zumindest partiell – seit den 1990er Jahren über die Einbeziehung kontextualisierender Ansätze hinaus den Vorstellungen der Systemtheorie annäherte.26 Methoden jenseits der Stilgeschichte entwickelte bereits Hans Belting, um eine »Geschichte des Bildes« – nicht: der Kunst! – zu rekonstruieren, die die

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26

sich nicht, »der Philosophie eine zentrale Rolle« beim Verstehen der Bilder zuzusprechen, obwohl Disziplinen wie die Kunstgeschichte und die Kunstwissenschaft sich seit Generationen höchst erfolgreich um die Analyse der Bilderwelt bemühen. Johannes Kirschenmann/Ernst Wagner (Hrsg.): »Ikonen« des Bildgedächtnisses und ihre Vermittlung über Datenbanken. München 2006. Gerhard Paul (Hrsg.): Das Jahrhundert der Bilder, Göttingen 2008. Die Schlüsseltexte in: Cornelia Bering/Kunibert Bering (Hrsg.): Konzeptionen der Kunstdidaktik (artificium, Bd. 12). 3. Aufl., Oberhausen 2011, S. 106. Zu kunstdidaktischen Ansätzen zusammenfassend: Kunibert Bering u. a.: Kunstdidaktik (artificium, Bd. 15). 3. Aufl. Oberhausen 2013, S. 100–127. Bering (Anm. 15), S. 75–89.

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höchst unterschiedlichen Funktionen des Bildes in sozialen Strukturen Europas im Mittelalter und in der frühen Neuzeit in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt.27 Eine neuere Studie Beltings lenkt den Blick auf interkulturelle Zusammenhänge und analysiert die Relation zwischen Bild, Blick und Perspektive im Austausch zwischen arabischer und westlicher Kultur im Mittelalter.28 Hier liegen Ansätze, die in eine »Global Art History« münden, die sich in jüngster Zeit herauskristallisiert und in Heidelberg kürzlich zu einer ersten Lehrstuhlbesetzung führte. Seit dem Kunstpädagogenkongress in Nürnberg 2012 rücken die Fragen der Globalisierung, genauer der Interkulturalität und Transkulturalität zunehmend in das Blickfeld der Kunstpädagogik.29 Diese Tendenzen werden durch Inklusion sowie Migrations- und Flüchtlingsbewegungen erheblich forciert – der Blick auf die Global Art History ist daher von zunehmender Bedeutung.30 Es ist im Fächerkanon gerade der Kunstunterricht, der das Bild als Bild einschließlich der von der Architektur evozierten Bilder, vor allem auch in historischer Entfaltung, problematisiert. Die Kunstgeschichte stellt ein unermessliches Reservoir an Bildern und ein breites methodologisches Spektrum bereit, das für die Vermittlung von Bildkompetenz von größter Bedeutung erscheint, zumal mit der Nutzung dieser Ressourcen auch der latenten Gefahr einer ahistorischen Ästhetisierung in manchen Bereichen der Kunstpädagogik begegnet werden kann.31 Bildkompetenz zu vermitteln heißt, sich im Schnittpunkt dieser methodischen Ansätze und Zugänge zum Phänomen »Bild« zu bewegen.32 Das Ziel einer Vermittlung von Bildkompetenz besteht darin, Schülerinnen und Schüler zur selbständigen Erarbeitung von bedeutungsstiftenden Zusammenhängen zu befähigen und Orientierung in der Welt zu ermöglichen.33 Bildgeschichte und Kunstgeschichte sind heute feste Bestandteile kunstpädagogischen Handelns in

27 Hans Belting: Bild und Kult. München 1993. 28 Hans Belting: Florenz und Bagdad. München 2008. 29 Nürnberg-Paper 2013. Interkultur – Globalität – Diversity : Leitlinien und Handlungsempfehlungen für eine transkulturelle Kunstpädagogik, in: Barbara Lutz-Sterzenbach/Ansgar Schnurr/Ernst Wagner (Hrsg.): Bildwelten remixed. Transkultur, Globalität, Diversity in kunstpädagogischen Feldern. Bielefeld 2013, S. 325–335. 30 Vgl. die Beiträge in: Kunibert Bering/Stefan Hölscher/Karina Pauls (Hrsg.): Globalität – Transkulturalität – Partizipationen. Kunstpädagogische Perspektiven (Festschr. f. Rolf Niehoff / artificium, Bd. 52), Oberhausen 2015. 31 Kunibert Bering/Rolf Niehoff: Bildkompetenz. Eine kunstdidaktische Perspektive (artificium, Bd. 48). Oberhausen 2013, S. 17–34, 375f. 32 Vgl. Bering/Niehoff (Anm. 1), S. 169f. 33 Kunibert Bering: Kunstpädagogik und Bildkultur, in: Kunibert Bering/Clemens Höxter/Rolf Niehoff (Hrsg.): Orientierung: Kunstpädagogik. Bundeskongress der Kunstpädagogik 2009 (artificium, Bd. 35), Oberhausen 2010, S. 283–295.

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Kunibert Bering

dem weiten Spektrum zwischen gestalterischer Praxis und Bildanalyse – wo auch immer man den Akzent setzen mag.

3.

Kunstgeschichte und Kunstunterricht in historischer Perspektive – ein prekäres Verhältnis

Das Verhältnis von Kunstgeschichte und Kunstpädagogik war nicht immer ungetrübt, brachte aber auch kuriose Facetten hervor und hat seine eigene Geschichte, auf die abschließend ein kurzer Blick geworfen sei. Der Diskurs über die Bedeutung der Kunstgeschichte im Kunstunterricht steht seinerseits in einer Tradition, die bis in die Jahre um 1900 zurückreicht, als man auf dem Kunsterziehungstag 1901 in Dresden die Kunstgeschichte der klassischen Antike und der Renaissance in bildungsbürgerlichen Traditionen aufgab und durch die eher a-historische, pseudo-religiöse Kunstbetrachtung ersetzte. Die anti-intellektuelle Haltung weiter Kreise in der Zeit nach dem 1. Weltkrieg führte zu einer Verstärkung dieser Tendenz, wobei kunsthistorische Themen, vor allem Motive und kontextuelle Zusammenhänge, traditionell der Deutschunterricht behandelte und dem Zeichenunterricht lediglich stilistische und kompositorische Analysen blieben.34 Eine traditionell kritische Haltung gegenüber der Gegenwartskunst ging meist mit einer deutschtümelnden Sicht auf die Kunstgeschichte und der Bevorzugung der »deutschen Gotik« oder der Romantik einher.35 An die Stelle der wissenschaftsorientierten kunsthistorischen Analyse trat das irrationale »Kunsterlebnis«, das möglichst auch noch als »Schlüssel zum Verständnis des deutschen Wesens«36 fungieren sollte – so in einem Handbuch aus dem Jahr 1925. Allerdings sprach sich der »Verein akademisch gebildeter Zeichenlehrer Deutschlands« 1920 dafür aus, die »Gestaltungsfächer« als den übrigen Schulfächern gleichwertig anzuerkennen und die Zeichenlehrer zukünftig an neu einzurichtenden »Kunsthochschulen« auszubilden und begleitende Fächer der Zeichenlehrerausbildung wie Kunstgeschichte, Philosophie und Pädagogik an Universitäten und Technischen Hochschulen zu schaffen. Das Ziel bestehe in einem »gleichwertig wissenschaftlich und künstlerisch vorgebildete(n) Lehrerstand« (Hervorhebung: K. B.).37 34 Wolfgang A. Reiss: Die Kunsterziehung in der Weimarer Republik. Geschichte und Ideologie. Weinheim/Basel 1981, S. 124–130. 35 Reiss (Anm. 34), S. 126. Zur Darstellung der »Gotik« in gegenwärtigen Unterrichtswerken vgl. Bering: Kunstgeschichte (Anm. 1). 36 Walter Franke: Kunstbetrachtung und Arbeitsunterricht (Handbuch des Arbeitsunterrichts, Bd. 5), Frankfurt/M. 1925, S. 54. 37 Deutsche Blätter für Zeichen-, Kunst- und Werkunterricht 1920, S. 11, 121 (zit. n. Reiss

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Die preußischen Lehrpläne für höhere Schulen des Jahres 1925 verboten das Abzeichnen und die formalen Zeichenübungen und schrieben vor, »die Schüler (zu) befähigen, äußere Eindrücke, innere Erlebnisse und bewußt angestellte Beobachtungen durch Form und Farbe auszudrücken«.38 Zum gestalterischen Kunstunterricht trat die Kunstbetrachtung, vornehmlich die Behandlung der deutschen Kunst. Die Richtlinien behielten die Aufteilung der Behandlung der Kunstwerke bei, indem der Deutschunterricht inhaltliche und historische Komponenten vermitteln und der Kunstunterricht »die formale Gestaltung des Kunstwerkes und die persönliche Ausdrucksweise des Künstlers«39 thematisieren sollte. Nach langen Debatten änderte sich unter dem Einfluss der Neuen Sachlichkeit und danach durch die NS-Ideologie diese Haltung grundlegend. Dies kondensierte in dem von Bernhard Rust erstellten Lehrplan 1938: Von besonderer Bedeutung war für Rust das Verhältnis von gestalterischer Tätigkeit und Werkbetrachtung im Kunstunterricht, wobei von einer Aufgabenteilung zwischen Deutsch- und Kunstunterricht nicht mehr die Rede war : »(Es) dürfen freies Gestalten und Kunstbetrachtung praktisch nicht getrennt werden. Beide befruchten sich wechselseitig.«40 Damit griff der Lehrplan von 1938 wichtige Ergebnisse der kunstpädagogischen Debatten der Weimarer Zeit auf, durch die die Kunstbetrachtung in den Unterricht integriert wurde. Der Lehrplan verfolgte mit der Forderung nach Produktion und Reflexion in wechselseitiger Durchdringung zwei Ziele: Die historisch orientierte Betrachtung der »Werke der großen Meister« und der Volkskunst sollte dem Schüler einerseits das »Wesen unserer Rasse« nahe bringen, andererseits sollte er seine »Ausdrucksfähigkeit« steigern.41 Nach dem Zweiten Weltkrieg traten bei Reinhard Pfennig – wegweisend für die kunstpädagogischen Konzeptionen der Bundesrepublik – die Werke der Gegenwart an die Stelle der »alten Meister«. Konsequenterweise fehlte auch jede Anspielung auf die »Volkskunst«, die durch die Hinwendung zur »modernen«, »abstrakten« Kunst in Produktion und Reflexion ersetzt wurde.42 Die Konzentration auf Gegenwartskunst und gestalterische Praxis verbaute in der jüngsten

38 39 40 41 42

(Anm. 34), S. 46f.; vgl. die Forderungen, die ein Jahr zuvor der preußische Landesverein erhob, vor allem nach einer verbesserten Ausbildung der Lehrer im Fach Kunst, um sie dem Oberlehrer gleichzustellen: Reiss (Anm. 34), S. 45. Zit. n. Reiss (Anm. 34), S. 102. Ebd. Zit. nach Bering/Bering (Anm. 25), S. 44f. Ebd. Reinhard Pfennig: Gegenwart der Bildenden Kunst. Erziehung zum Bildnerischen Denken. Oldenburg 1958, bes. S. 49–52, 150–153.

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Vergangenheit oft die notwendige Rückbesinnung auf die historischen Dimensionen der Kunst.

4.

Ausblick

Daher besteht gegenwärtig ein wesentliches Desiderat kunstpädagogischer Grundlagenforschung in einer nur sporadisch erfolgten didaktischen Reflexion und Begründung der Bedeutung kunsthistorischer Kontexte für den Kunstunterricht. Bildungsbürgerlich grundierte Werte, die gern für eine Behandlung »klassischer« kunsthistorischer Themen und für die Kanonisierung von Werken der Vergangenheit herangezogen werden, reichen nicht mehr aus, vor allem, wenn »Ästhetische Bildung« nicht mehr das Privileg einer höheren Gesellschaftsschicht ist und Kunstunterricht auf »ästhetische Erfahrung«43 und den Erwerb von (Bild-)Kompetenzen ausgerichtet ist. Darüber hinaus bietet die Kunstgeschichte mit den wichtigen Analyseverfahren gemäß der Ikonographie, der Ikonologie etc. eine wesentliche methodische Grundlage für die Vermittlung von Bildkompetenz. Es wird damit aber auch die notwendige Berücksichtigung der historischen Dimension der Kunst unmittelbar deutlich.44 Bildkompetenz zu vermitteln meint, sich im Schnittpunkt dieser methodischen Ansätze und Zugänge zum »Bild« zu bewegen.45 Das Ziel einer Vermittlung von Bildkompetenz als Teil eines zur Orientierung in der Welt führenden Konzeptes besteht darin, Schülerinnen und Schüler zur selbständigen Erarbeitung von bedeutungsstiftenden Zusammenhängen befähigen.46 Es wird bei zukünftigen Reflexionen darauf ankommen, Möglichkeiten kunstdidaktischer Begründungszusammenhänge für kunsthistorische Problemstellungen im Kunstunterricht auszuloten.47 Der Ausgangspunkt der 43 So bereits früh Klaus Mollenhauer : Grundfragen ästhetischer Bildung – Theoretische und empirische Befunde zur ästhetischen Erfahrung von Kindern. Weinheim/München 1996, S. 57. 44 Vgl. dazu die Beiträge in: Stefan Hölscher/Rolf Niehoff/Karina Pauls 2012 (Anm. 1). 45 Die grundlegenden Dimensionen der Bildkompetenz entwickelte Rolf Niehoff: Bildung – Bild(er) – Bildkompetenz(en), in: Kunibert Bering/Rolf Niehoff: Bildkompetenz(en), Oberhausen 2009, S. 13–42. Zu den bildungstheoretischen Begründungen der bildkompetenzorientierten Konzeption vgl. Kunibert Bering/Niehoff 2013 (Anm. 31), S. 25–34. 46 Vgl. Werner Stegmaier : Philosophie der Orientierung, Berlin/New York 2008, bes. S. 34–36, 151–153. Zur kunstpädagogischen Diskussion vgl. Kunibert Bering: Kunstpädagogik und Bildkultur, in: Kunibert Bering/Clemens Höxter/Rolf Niehoff (Hrsg.): Orientierung: Kunstpädagogik. Bundeskongress der Kunstpädagogik 2009 (Artificium, Bd. 35), Oberhausen 2010, S. 283–295. 47 Dieser Aufgabe stellt sich ein Forschungsprojekt an der Kunstakademie Düsseldorf, das mit Mitteln des Wissenschaftsministeriums NRW im Zuge des Ausbaus der Fachdidaktiken gefördert wird: Kunibert Bering/Rolf Niehoff: Bildgeschichte – Kunstgeschichte – Kunst-

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Überlegungen besteht darin, das Individuum im Spannungsfeld des eigenen Daseins und einer geschichtlich gewordenen Welt zu problematisieren. Lernen und insbesondere der Kunstunterricht sollen Orientierung in der – historisch gewordenen – Welt und deren zukünftiger Gestaltung ermöglichen. Axiomatische Relevanz kommt dabei zwei Überlegungen zu: – Die Welt, in der die Heranwachsenden leben und leben werden, ist wesentlich von Bildern geprägt: Bilder sind jedoch interpretationsbedürftig, es muss ihnen eine Bedeutung verliehen werden, um in der Welt handeln zu können. Bedeutungen entstehen durch Kontexte. – Die Lebenswelt und mit ihr das Bilderrepertoire haben sich historisch entfaltet. Dies erfordert eine fundamentale Einbeziehung historischer Dimensionen in die Konstruktion bedeutungsstiftender Kontexte. Die geschichtlichen Dimensionen basieren auf den Leistungen des individuellen wie des kollektiven Gedächtnisses, die sich wesentlich durch Bilder konstituieren.

pädagogik (in Vorbereitung, erscheint 2016). Zahlreiche exemplarische Fälle für eine kunstpädagogische Problematisierung kunsthistorischer Fragestellungen bearbeiten Kunibert Bering/Rolf Niehoff (Anm. 31).

Konstantin Lindner

Die historische Dimension religiösen Lernens. Status Quo und Perspektiven einer Kirchengeschichtsdidaktik im Horizont des Religionsunterrichts

Schlägt man zum Lernfeld »Kirche(n) im Nationalsozialismus« ein Religionsbuch auf, so scheinen durchaus Nähen zur Präsentation dieser Thematik in einem Geschichtsbuch gegeben. In vielen Lehrwerken zum Religionsunterricht werden den Schülerinnen und Schülern Text- und Bildquellen zu christlich motiviertem Widerstand oder zur bisweilen ambivalenten Haltung von kirchlichen Funktionsträgern gegenüber dem NS-Regime angeboten, damit sich die Lernenden dem Vergangenem annähern können. Die formulierten Impulse aber verweisen auf das religionsunterrichtliche Setting, das weniger auf eine quellenanalytische Auseinandersetzung angelegt ist, sondern vornehmlich die Thematisierung des religiösen Weltzugangs im Blick hat.1 Mit diesem schlaglichtartigen Befund soll keine Verbesserungsanzeige markiert werden, wenngleich dieses in Religionsbüchern häufiger festzustellende quellenkritische Defizit aus kirchengeschichtsdidaktischer Sicht nicht unproblematisch ist. Vielmehr kann daran Wesentliches aufscheinen: Es macht einen Unterschied, ob Kirchengeschichte im Religionsunterricht oder im Geschichtsunterricht thematisiert wird – zwar weniger hinsichtlich der zur Geltung kommenden Methoden und Medien, wohl aber bezüglich des damit intendierten Bildungsgeschehens.

1 Im Religionsbuch »Mittendrin. Lernlandschaften Religion« findet sich beispielsweise im Anschluss an eine mit Quellen illustrierte Skizzierung der Lebensgeschichte der 1943 hingerichteten christlichen Widerstandskämpferin Maria Terwiel folgender Arbeitsauftrag: »Stelle Gründe zusammen, die für Maria Terwiel aus christlicher Überzeugung gegen die nationalsozialistische Weltanschauung sprechen mussten.« Iris Bosold/Wolfgang MichalkeLeicht (Hrsg.): Mittendrin. Lernlandschaften Religion. Unterrichtswerk für den katholischen Religionsunterricht an Gymnasien. Bd. 3. München 2009, S. 36.

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1.

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Historische Schlaglichter

Die Thematisierung von Kirchengeschichte in unterrichtlichen Zusammenhängen lässt sich in protestantischen Gelehrtenschulen seit Mitte des 17. Jahrhunderts nachweisen, auf katholischer Seite ab dem ersten Drittel des 18. Jahrhunderts. Grundlage dafür war die Etablierung der Kirchengeschichte als eigenständige Wissenschaftsdisziplin im Gefolge der Aufklärung. Die von Maria Theresia in Österreich forcierte Rautenstrauch’sche Studienreform führte auf katholischer Seite dazu, dass sich beginnend mit dem Jahr 1774 Kirchengeschichte als selbständiges theologisches Forschungs- und Lehrfach von der profanen »Universalgeschichte« absetzte – ein Prozess der bis ca. 1800 an fast allen deutschsprachigen Universitäten durchgeführt worden ist. Infolge dessen erwachte zunehmend die Idee, im katholischen Religionsunterricht neben biblischen und katechetisch-dogmatischen Inhalten auch kirchengeschichtliche Sachverhalte zu thematisieren. Zunächst wurde dieser Etablierungsprozess an höheren Schulen vollzogen, gegen Ende des 19. Jahrhunderts auch an Volksschulen. In protestantischen Volksschulordnungen wiederum finden sich bereits hundert Jahre früher Belege, dass kirchengeschichtliche Inhalte in die Glaubensunterweisung einbezogen worden waren.2 Fast alle staatlichen und kirchlichen Lehrpläne schrieben somit am Beginn des 20. Jahrhunderts die Thematisierung von kirchengeschichtlichen Inhalten im evangelischen wie katholischen Religionsunterricht vor. Infolge dessen wurde eine Vielzahl an konfessionell differenten kirchengeschichtlichen Überblicksbüchern vorgelegt, die vor allem in höheren Schulen zum Einsatz kamen. Das Grundinteresse der Darstellung der Kirchengeschichte in dieser Zeit begründete sich vor allem apologetisch: Es ging im Religionsunterricht meist darum, im Rekurs auf die Vergangenheit den wahren Glauben der jeweiligen christlichen Konfession zu erweisen und andere (christliche) Glaubensströmungen in ihrer Irrigkeit zu belegen. Dieser Duktus verlor nach dem Zweiten Weltkrieg an Bedeutung. Spätestens die mit dem Dekret »Unitatis Redintegratio« des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962–1965) eingeleitete ökumenische Neuausrichtung der katholischen Kirche führte zum Verschwinden der apologetisch angelegten Thematisierung von 2 Vgl. Winfried Blasig: Kirche Gottes – Kirche der Menschen. Ziel, Ansatz und Praxis des Unterrichts in Kirchengeschichte. München 1969, S. 21. Eine ausführliche, sich auf die Auswertung zahlreicher Lehrpläne und Schulbücher sowie religionsdidaktischer Überlegungen stützende Untersuchung zur Etablierung der Kirchengeschichte als eigenständigem Inhalt im Religionsunterricht an deutschen Schulen legte Ansgar Philipps vor. Vgl. Ansgar Philipps: Die Kirchengeschichte im katholischen und evangelischen Religionsunterricht. Eine historischdidaktische Untersuchung über die Entwicklung des kirchengeschichtlichen Unterrichts von seinen Anfängen bis zur Gegenwart. Wien 1971.

Die historische Dimension religiösen Lernens

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Kirchengeschichte aus dem katholischen Religionsunterricht.3 Selbiges gilt für den evangelischen Religionsunterricht. Mit Wegfall dieser Perspektivierung wurde die Relevanz kirchengeschichtlicher Inhalte für religionsunterrichtliches Handeln in Frage gestellt: »Die Geschichte der Kirche nur als geschichtlichen Lehrstoff zu unterrichten, um das Verständnis der Kirche und des Christentums der Gegenwart aus ihrem Gewordensein zu wecken, erschien vor allem den Volksschulkatecheten nicht als hinreichender Grund, sie im Unterricht zu besprechen.«4 Aus dieser Anfrage heraus, aber auch im Zuge dessen, dass sich Religionsunterricht als ordentliches Unterrichtsfach an der öffentlichen Schule erweisen muss,5 wurden ab den 1970er Jahren in der evangelischen wie katholischen Religionsdidaktik grundlegender als bisher kirchengeschichtsdidaktische Forschungen angestellt. Dabei kamen verschiedene konzeptionelle Perspektiven zur Geltung, die Kirchengeschichte z. B. als eigenständigen Inhalt – neben Bibel und Ethik – des Religionsunterrichts in ökumenischer Hinsicht profilierten, als Beitrag zu kritischer Erinnerungsarbeit oder zur Generierung von Wertmaßstäben einbrachten sowie als spezifische Denkform im Sinne eines Aufbaus von Geschichtsbewusstsein etablierten.6 Nach wie vor machen kirchengeschichtsdidaktische Studien nur einen geringen Prozentsatz religionsdidaktischer For3 An der Darstellung Martin Luthers in katholischen Unterrichtswerken lässt sich diese Wende gut nachzeichnen. Vgl. Konstantin Lindner : Vom Geächteten zum Geachteten. Martin Luther im katholischen Religionsunterricht. In: Thomas Breuer/Veit-Jakobus Dieterich (Hrsg.): »Luther unterrichten« – Fächerverbindende Perspektiven für Schule und Gemeinde. Stuttgart 2016, S. 36–50. 4 Ansgar Philipps: Fach: Kirchengeschichte. Düsseldorf 1972, S. 14. 5 So wurde z. B. katholischer Religionsunterricht bis zum Beschluss »Der Religionsunterricht in der Schule« der Würzburger Synode im Jahr 1974 vornehmlich im Sinne einer kirchlichen Glaubensverkündigung gestaltet. Im Zuge der Synode jedoch kam es zu einer Neujustierung: Religionsunterricht unterscheidet sich seither von einer Glaubenseinführung, die in die Gemeinden verlagert wird, insofern er sich an gläubige wie ungläubige Schülerinnen und Schüler richtet, einen Beitrag zur Allgemeinbildung leisten und in diesem Sinne »zu verantwortlichem Denken und Verhalten im Hinblick auf Religion und Glaube befähigen« will. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz: Der Religionsunterricht in der Schule. Ein Beschluß der Gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland. Bonn 1974, 2.5.1. 6 Vgl. Peter Biehl: Kirchengeschichte im Religionsunterricht. Konzeptionen und Entwürfe. Stuttgart/München 1973. Bernhard Jendorff: Kirchengeschichte – wieder gefragt! Didaktische und methodische Vorschläge für den Religionsunterricht. München 1982; Godehard Ruppert: Geschichte ist Gegenwart. Ein Beitrag zu einer fachdidaktischen Theorie der Kirchengeschichte. Hildesheim 1984; Wolfgang Hasberg: Kirchengeschichte in der Sekundarstufe I. Analytische, kontextuelle und konstruktiv-pragmatische Aspekte zu den Bedingungen und Möglichkeiten der Kooperation von Geschichts- und Religionsunterricht im Bereich der Kirchengeschichte. Dargestellt am Beispiel der Kreuzzugsbewegung, Trier 1994; Bernhard Gruber : Kirchengeschichte als Beitrag zur Lebensorientierung. Konzept und Modelle für einen aktualisierenden Kirchengeschichtsunterricht. Donauwörth 1995.

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Konstantin Lindner

schung aus. Dennoch hat sich der entsprechende Forschungssektor gegenwärtig stabilisiert, was im kontinuierlichen Erscheinen verschiedener größerer Publikationen seinen Niederschlag findet.7

2.

Religionsdidaktische Referenzkontexte

Wenn im Folgenden der gegenwärtigen Bedeutung der historischen Dimension im Religionsunterricht nachgegangen wird, so sind drei Klärungen von Bedeutung: zum einen bezüglich religiöser Bildung als grundlegender Zielperspektive dieses Unterrichtsfaches, zum anderen hinsichtlich des Verständnisses von Kirchengeschichte und zum letzten betreffs der Relevanz historischer Vergewisserungen im Rahmen religiöser Lernprozesse.

2.1

Religiöse Bildung als Zielperspektive von Religionsunterricht

Der konfessionelle Religionsunterricht ist in der Bundesrepublik Deutschland gemäß Art. 7 Abs. 3 GG ordentliches Unterrichtsfach an öffentlichen Schulen und wird in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der staatlich anerkannten Religionsgemeinschaften erteilt.8 Er ist ein so genanntes »res mixta« aus staat7 Rainer Lachmann/Herbert Gutschera/Jörg Thierfelder (Hrsg.): Kirchengeschichtliche Grundthemen. Historisch – systematisch – didaktisch. Göttingen 2003; Heidrun Dierk: Kirchengeschichte elementar. Entwurf einer Theorie des Umgangs mit geschichtlichen Traditionen im Religionsunterricht. Münster 2005; Konstantin Lindner : In Kirchengeschichte verstrickt. Zur Bedeutung biographischer Zugänge für die Thematisierung kirchengeschichtlicher Inhalte im Religionsunterricht. Göttingen 2007; Godehard Ruppert/Harald Schwillus/Konstantin Lindner : Kirchengeschichte im Religionsunterricht. Würzburg 2009 (Theologie im Fernkurs, Bd. 15); Gottfried Adam u. a. (Hrsg.): Didaktik der Kirchengeschichte. Ein Lesebuch. Münster 2008; Harry Noormann (Hrsg.): Arbeitsbuch Religion und Geschichte. 2 Bde. Stuttgart 2009 und 2012. Gerhard Büttner u. a. (Hrsg.): Religion lernen. Jahrbuch für konstruktivistische Religionsdidaktik. Bd. 2: Kirchengeschichte. Hannover 2011; Konstantin Lindner/Ulrich Riegel/Andreas Hoffmann (Hrsg.): Alltagsgeschichte im Religionsunterricht. Kirchengeschichtliche Studien und religionsdidaktische Perspektiven. Stuttgart 2013; Stefan Bork/Claudia Gärtner (Hrsg.): Kirchengeschichtsdidaktik. Verortungen zwischen Religionspädagogik, Kirchengeschichte und Geschichtsdidaktik. Stuttgart 2016. 8 Auf Bundeslandebene führt dies jedoch z. T. zu unterschiedlichen Ausgestaltungsformen und Ausnahmen. Zwei prominente Ausnahmenbeispiele seien gegeben: Gem. Art. 141 GG wird in Bremen bekenntnisungebunden und lediglich in staatlicher Verantwortung »Religion« erteilt. In Brandenburg wiederum ist »Lebensgestaltung – Ethik – Religionskunde« ordentliches Unterrichtsfach; von diesem Fach kann man sich abmelden und ersatzweise Religionsunterricht besuchen, der in Verantwortung der Religionsgemeinschaften besteht. In jüngster Zeit verändern sich angesichts sinkender Taufzahlen konfessionelle Organisationsstrukturen hin zu kooperativen Modellen der Zusammenarbeit von evangelischem und katholischem Religionsunterricht, aktuell insbesondere in Baden-Württemberg und Niedersachsen. Vgl.

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licher und kirchlicher Verantwortung: Der Staat stellt den notwendigen organisatorischen Rahmen zur Verfügung und verfügt als Aufsichtsorgan, weshalb Religionsunterricht – wie jedes andere Unterrichtsfach auch – seinen Beitrag im Sinne des schulischen Bildungsanspruchs erweisen muss. Den Religionsgemeinschaften kommt aufgrund der staatlichen Religionsneutralität die inhaltliche Verantwortung für dieses Unterrichtsfach zu, insofern sie an der Erstellung von Lehrplänen, bei der Zulassung von Lernmitteln und bei der Autorisierung der Lehrerinnen und Lehrer partizipieren. Entgegen der nicht selten unterstellten Idee, dass den Religionsgemeinschaften am Lernort Schule die Formierung beziehungsweise Rekrutierung von Gläubigen ermöglicht werde, ist zu betonen: Der religionsneutrale Staat unterstützt mit dem Religionsunterricht bewusst die Religionsfreiheit seiner Bürger, insofern ihnen in diesem Unterrichtsfach religiöse Bildung als Teil von Allgemeinbildung zugänglich ist. Die Schülerinnen und Schüler können sich aus der Teilnehmerperspektive heraus mit ihrer Religion resp. Konfession beschäftigen und auf dieser Basis eine reflektierte Position zu Religion und Glaube erarbeiten. Dabei ist es grundlegend, den Heranwachsenden Lernmöglichkeiten anzubieten, um Wechselbeziehungen zwischen Glaubensüberlieferungen und Lebenserfahrungen zu entdecken und diese für sich zu deuten. Dieses – auf katholischreligionsdidaktischer Seite mit dem Begriff »Korrelation« gekennzeichnete – Inbezugsetzen zielt auf einen wechselseitig kritisch-produktiven Prozess: Im Horizont des Evangeliums können Glaubensüberlieferungen Anstöße bieten, gegenwärtige Lebensgestaltungsweisen, Gesellschaftsformen oder auch religiöse Praxis anzufragen. Zugleich aber kann mit der Brille lebensweltlicher Erfahrungen auch die »Art, wie das Wort Gottes, die Botschaft des Evangeliums zur Sprache gebracht wird«,9 kritisch befragt werden. In dieser korrelativen Grundstruktur sind religiöse Lern- und Bildungsprozesse im Religionsunterricht angesiedelt. Dass es Schülerinnen und Schülern eventuell misslingt, ihre Gegenwartserfahrungen zu Glaubensüberlieferungen 1:1 in Beziehung zu setzen, bedeutet nicht das Scheitern, sondern markiert eine grundlegende Herausforderung religiöser Bildung. An dieser Stelle kommt die Bedeutung des Rekurses auf die historische DiEva-Maria Kenngott/Rudolf Englert/Thorsten Knauth (Hrsg.): Konfessionell – interreligiös – religionskundlich. Unterrichtsmodelle in der Diskussion. Stuttgart 2015; Bernd Schröder (Hrsg.): Religionsunterricht – wohin? Modelle seiner Organisation und didaktischen Struktur. Neukirchen-Vluyn 2014. 9 Georg Hilger : Korrelationen entdecken und deuten. In: Ders./Stephan Leimgruber/HansGeorg Ziebertz (Hrsg.): Religionsdidaktik. Ein Leitfaden für Studium, Ausbildung und Beruf. Neuausgabe. München 2010, S. 344–354, hier S. 346. Vgl. Mirjam Schambeck: Korrelationskonturen – Von der Weite des Korrelationsgedankens. In: Sabine Pemsel-Maier/Mirjam Schambeck (Hrsg.): Keine Angst vor Inhalten! Systematisch-theologische Themen religionsdidaktisch erschließen. Freiburg u. a. 2015, S. 40–66.

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mension ins Spiel, da auf die christliche Offenbarung bezogene Glaubenserfahrungen nicht einfach feststehen. Religiöse Traditionen bedürfen immer neu, in Abhängigkeit von zeitbedingten kulturellen und sozialen Kontexten, einer adäquaten Versprachlichung. Im Religionsunterricht kann daher mittels wechselbezüglichen Vergleichen überprüft werden, wie der christliche Glaube in verschiedenen Zeiten artikuliert und gelebt wird. Der Blick in die Kirchengeschichte erweist sich – mit dem niederländischen Dogmatiker Edward Schillebeeckx gesprochen – im Sinne dieser »kritischen Interrelation« als unverzichtbar : »Das Suchlicht richtet sich auf die Christen früher, wie sie in ihrer spezifischen Situation mit den Problemen umgegangen sind und wie wir darin Inspiration und auch Orientierung finden können, um heute, in einer ganz anderen Zeit, denselben Glauben zu leben.«10 Mittels der historischen Dimension wird den Schülerinnen und Schülern religiöses Lernen ermöglicht, indem sie verschiedene Weisen religiöser Wirklichkeitsdeutung kennenlernen, (probehalber) zu eigen machen, aber auch ablehnen können.11 So werden mündige, religiöse Selbstvergewisserungsprozesse angestoßen und religiöse Bildung vorangebracht.

2.2

Kirchengeschichtsverständnis als Vergewisserungshorizont

Von dieser, in 2.1 formulierten Zielperspektive des Religionsunterrichts her ergibt sich unter anderem die Frage nach dem Verständnis von Kirchengeschichte. In Abhängigkeit davon, wie diese Frage beantwortet wird, fallen nämlich kirchengeschichtsdidaktische Konzeptbildungen aus. Soll Kirchengeschichte im Sinne der oben beschriebenen Wechselbeziehungsidee einen Beitrag zu religiöser Bildung leisten, wäre beispielsweise ein ausschließlich theologischdogmatisches Verständnis zu eng: Kirchengeschichtsschreibung würde dabei vor allem als historische Ekklesiologie verstanden, die ihren Gegenstand »von 10 Edward Schillebeeckx: Tradition und Erfahrung. Von der Korrelation zur kritischen Interrelation. In: Katechetische Blätter 119 (1994), S. 756–762, hier S. 760. Schillebeeckx verweist darauf, dass Offenbarung nicht ohne den Menschen zu denken ist: »Offenbarung ist ebenso breit und lang das Werk suchender Menschen, die projektieren und interpretieren, wie sie auch das Werk Gottes ist.« (Ebd., S. 757.) Vgl. auch Rudolf Englert: Christen im Dilemma – geschichtliches Lernen. In: Ulrike Baumann u. a. (Hrsg.): Religionsdidaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II. Berlin 2005, 169–182, hier S. 177. 11 Vgl. Burkard Porzelt: Religiöses Lernen. Impulse zu einer brauchbaren Theorie eines schillernden Geschehens. In: Ulrich Kropacˇ/Georg Langenhorst (Hrsg.): Religionsunterricht und der Bildungsauftrag der öffentlichen Schulen. Begründungen und Perspektiven des Schulfaches Religion. Babenhausen 2012, S. 55–65, hier S. 63. Vgl. Bernd Schröder : Religionspädagogik. Tübingen 2012, S. 212f.

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der Glaubenswissenschaft empfängt«12 und dadurch auf veranschaulichende Aspekte hin funktionalisiert sowie ihrer berechtigten Eigenständigkeit als Wissenschaftsdisziplin beraubt wird. In der Folge diente die Thematisierung der Kirchengeschichte im Religionsunterricht vornehmlich der Kontextualisierung ausgewählter Glaubensfragen und/oder der Illustration bestimmter Zwecke.13 Ein historisch-kritischer Zugang zu Vergangenem, der sich mit geschichtswissenschaftlichen Verfahren der empirisch zugänglichen Welt Kirchengeschichte nähert, ist unaufgebbar. Als theologische Disziplin aber kann die Kirchengeschichtswissenschaft »in ihrer Fragestellung Geschichte als locus theologicus«14 verstehen, als Ort theologischer Erkenntnisgewinnung. Kirchengeschichte ist kein starres oder gar lineares Gebilde, sondern eine fragmentarische (Re-)Konstruktion im Plural, die sich zum einen geschichtswissenschaftlicher Methoden zur Erforschung ihrer Quellen bedienen und zum anderen Rechenschaft über ihre »Denkform« (Norbert Brox) ablegen muss. Denn wie jeder Geschichtsschreibung ist ihr ein »Standort, ein Vorurteil«15 eigen, welcher/-s vom Erkenntnisinteresse des sich mit ihr beschäftigenden Kirchenhistorikers abhängt. Diese Perspektive, mit der sie als theologische Wissenschaft vom christlichen Glauben her auf das Vergangene blickt, gilt es immer allgemeinverständlich zu artikulieren. Unter diesem Vorzeichen erweist sich die Eigenständigkeit der Kirchengeschichtsschreibung als theologische Disziplin, die verschiedene Optionen, den christlichen Glauben zu gestalten, ins Gedächtnis ruft. Dadurch kann sie zu einem besseren Verstehen des Gegen12 Hubert Jedin: Einleitung in die Kirchengeschichte. In: Ders. (Hrsg.): Handbuch der Kirchengeschichte 1. Freiburg 1965, S. 1–55, hier S. 2. 13 Vgl. Christian Hornung: Art. Kirchengeschichte. In: WiReLex – Das wissenschaftlich-religionspädagogische Lexikon im Internet 2 (2016), Kap 1.1 (www.wirelex.de, aufgerufen am 01. 02. 2016); Wolfgang Hasberg: Kirchengeschichte oder ancilla theologiae? In: Religionspädagogische Beiträge 34 (1994), S. 119–137, hier S. 135. 14 Vgl. Hubert Wolf: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Kirchengeschichte? Zu Rolle und Funktion des Faches im Ganzen katholischer Theologie. In: Wolfram Kinzig u. a. (Hrsg.): Historiographie und Theologie. Leipzig 2004, S. 53–64, hier S. 60. 15 Norbert Brox: Fragen zur »Denkform« der Kirchengeschichtswissenschaft. In: Zeitschrift für Kirchengeschichte 90 (1979), S. 1–21, hier S. 12f. In kirchengeschichtsdidaktischer Hinsicht bieten entsprechende Klärungen z. B. Ruppert (Anm. 6), S. 71–85, oder Hasberg (Anm. 6), S. 169–223. Vgl. zudem Dierk (Anm. 7), S. 45–65, und Lindner (Anm. 7), S. 22–26. Auf evangelischer Seite hat beispielsweise über Jahre hinweg Gerhard Ebelings Vorverständnis von »Kirchengeschichte als Geschichte der Auslegung der heiligen Schrift« (Tübingen 1947) stilbildend gewirkt. Jörn Rüsen verweist darauf, dass es »die Historiker [sind], die den Informationsgehalt der Quellen in narrative Sinnzusammenhänge hineinverarbeiten und damit aus einem Geschehen der Vergangenheit eine Geschichte […] machen«, die »nachträglich sinnbildend von der Gegenwart her« geschrieben wird. Jörn Rüsen: Faktizität und Fiktionalität der Geschichte – Was ist Wirklichkeit im historischen Denken. In: Jens Schröter/Antje Eddelbüttel (Hrsg.): Konstruktion von Wirklichkeit. Beiträge aus geschichtstheoretischer, philosophischer und theologischer Perspektive. Berlin/New York 2004, S. 19–32, hier S. 22.

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wärtigen, zur (Wieder-)Artikulation marginalisierter Positionen, zur Gewinnung von Handlungs- und Deutungsoptionen und damit letztlich zu einer kritisch-produktiven, Vereinseitigungstendenzen vermeidenden Urteilsbildung beitragen.16 Für den Religionsunterricht erscheinen angesichts dieser Klärungen mehrere Aspekte berücksichtigenswert: Den Schülerinnen und Schülern sollte der (re-)konstruktive, fragmentarische und damit bedingt vorläufige Charakter von Kirchengeschichtsschreibung zugänglich werden. Ebenso gilt es, zusammen mit den Lernenden das theologische »Vorurteil« kirchengeschichtlicher Darlegungen offenzulegen. Darin liegt bildungsbedeutsames Potenzial, nicht zuletzt weil »säkulare und religiöse Weltdeutung ganz unbestreitbar in einem Spannungsverhältnis [stehen], zu dem sich die Betroffenen selber noch verhalten müssen«17. Dadurch wird zum einen die Funktionalisierung von Kirchengeschichte vermieden. Zum anderen werden die Schülerinnen und Schüler aufgefordert, eigene geschichtsbewusste Urteils- sowie kirchenhistorische Sinnbildungen vorzunehmen. Dies bietet den Lernenden die Chance, gelebte Möglichkeiten christlich-religiöser Weltdeutung und -gestaltung zu entdecken, sich im Rekurs auf Aspekte der Kirchengeschichte religiös-orientierend zu verorten und so einen eigenen Standpunkt im Sinne religiöser Bildung auszuprägen.

2.3

Kirchengeschichtliches Lernen als Beitrag zu religiöser Bildung

Es ist religionsdidaktischer Common Sense, dass unter den in 2.1 und 2.2 dargelegten Voraussetzungen die Thematisierung kirchengeschichtlicher Inhalte im Religionsunterricht nicht lediglich in einer Art Parallelität das anzielen kann, was für die Schülerinnen und Schüler bereits im Geschichtsunterricht zugänglich wird: »Denn während historisches Lernen den re- und de-konstruktiven Umgang mit (historischen) Sinnkonstruktionen und damit letztlich eine prinzipielle Hypothetisierung des Wissens um vergangene Wirklichkeiten und deren gegenwärtige Bedeutung intendiert, geht es dem religiösen Lernen zudem um den Wahrheitsaspekt.«18 Somit gilt es, das Potenzial zu nutzen und den Ler16 Hubert Wolf spricht davon, dass kritisch betriebene Kirchengeschichtsschreibung »die ganze Bandbreite kirchlicher Tradition wieder für die heutige Diskussion präsent machen und […] geschichtliche Alternativen zu angeblich ewigen Wahrheiten aufzeigen« kann. Wolf (Anm. 14), S. 60. 17 Rüsen (Anm. 15), S. 24. 18 Wolfgang Hasberg: Art. Geschichtsbewusstsein. In: WiReLex – Das wissenschaftlich-religionspädagogische Lexikon im Internet 1 (2015), Kap. 3 (www.wirelex.de, aufgerufen am 01. 02. 2016). Von geschichtsdidaktischer Seite her verweist Bernd Schönemann darauf, dass Lernende durch die Thematisierung der Dimension des Religiösen im Geschichtsunterricht befähigt werden sollen, »Religionen und Kirchen als wirksame Kräfte zu erkennen, die

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nenden über die Auseinandersetzung mit kirchengeschichtlichen Aspekten Optionen zu bieten, eine eigene, wahrheitsbezogene Position hinsichtlich Religion(en) und Fragen der Religiosität auszuprägen und diesen Standpunkt für die persönliche Lebensgestaltung fruchtbar zu machen. Die Integration der historischen Dimension eröffnet entsprechende Möglichkeitsräume. Nicht zuletzt die zum Teil eklatante »Andersartigkeit der Geschichte«19 fordert diesen Selbstvergewisserungsprozess geradezu ein, der im Rahmen des Religionsunterrichts seitens der Schülerinnen und Schüler sowohl aus zustimmenden als auch aus ablehnenden Haltungen resultieren kann. Anhand von drei Kontextualisierungen soll im Folgenden überblicksartig belegt werden, weshalb die Beschäftigung mit Kirchengeschichte im Religionsunterricht für religiöse Bildung bedeutsam ist. Aus bildungstheoretischer Perspektive ist ernst zu nehmen, dass sich Heranwachsende trotz einer voranschreitenden Entkirchlichung nicht in a-religiösen Räumen bewegen. Vielmehr wachsen sie nach wie vor in von religiösen Weltdeutungen geprägten Kontexten auf, die religiöse Wahrnehmungs-, Deutungs- und Handlungskompetenzen erfordern. Nicht zuletzt die verstärkten Migrations- und Fluchtbewegungen bringen Religion wieder auf das öffentliche Tableau. Schülerinnen und Schüler müssen daher befähigt werden, religiöse Zusammenhänge decodieren und eigene religiöse Codierungen in reflektierter Weise vornehmen zu können. Unter anderem das Deutsche PISA-Konsortium verweist auf die Bedeutung »religiöskonstitutiver Rationalität«20 als unentbehrlichen und unersetzbaren Aspekt von historische Ereignisse, Strukturen und Prozesse […] geprägt und beeinflusst haben«. Bernd Schönemann: Die Dimension des Religiösen. Historisch-didaktische Befunde und Reflexionen. In: Waltraud Schreiber (Hrsg.): Die religiöse Dimension im Geschichtsunterricht. Ein interdisziplinäres Forschungsprojekt. Neuwied 2000, S. 411–431, hier S. 430. Wolfgang Hasberg wiederum identifiziert hinsichtlich des Geschichtsunterrichts drei Kontexte der »religiösen Dimension historischen Denkens«, die »Religiosität als einen auf die Transzendenz verweisenden Faktor des Verhaltens in der Vergangenheit bzw. des historischen Erklärens in der Gegenwart« tangieren: »Kulturelle Ausdrucksformen von Religiosität […] in der Vergangenheit als Inhalte historischen Denkens«, »Religiosität als Dimension des Handelns in der Vergangenheit und als Dimension der Erklärung vergangenen Geschehens«, »Religiosität als (latente) Komponente historischen Denkens«. Wolfgang Hasberg: Das Mittelalter als christlich-kirchliche Zeit? Religion und Kirche in der Darstellung des Mittelalters. In: Martin Clauss/Manfred Seidenfuß (Hrsg.): Das Bild des Mittelalters in europäischen Schulbüchern. Berlin u. a. 2007, S. 193–224, hier S. 194f. 19 Klaus König: Lernen in der Begegnung mit Geschichte. In: Hans-Georg Ziebertz/Werner Simon (Hrsg.): Bilanz der Religionspädagogik. Düsseldorf 1995, S. 351–367, hier S. 363. Vgl. auch Konstantin Lindner : Kirchengeschichte im Religionsunterricht ›er-innern‹ als Beitrag zu religiöser Selbstvergewisserung. In: Ders. u. a. (Hrsg.): Erinnern und Erzählen. Theologische, geistes-, human- und kulturwissenschaftliche Perspektiven. Münster 2013, S. 417–430. 20 Jürgen Baumert u. a.: PISA 2000: Untersuchungsgegenstand, theoretische Grundlagen und Durchführung der Studie. In: Deutsches PISA-Konsortium (Hrsg.): Pisa 2000. Basiskom-

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Allgemeinbildung. Freilich ist dieser Weltzugang vielen Lernenden mangels eigener religiöser Erfahrungen fremd. Religionsunterricht in der öffentlichen Schule muss daher den Schülerinnen und Schülern Handlungsoptionen im Umgang mit religionsgeprägten Kontexten eröffnen, jedoch ohne ihnen religiöses Handeln abzuverlangen. Die Beschäftigung mit kirchengeschichtlichen Sachverhalten birgt in diesem Sinne bedeutsame Chancen: Lernende können sich in der historischen Rückschau damit auseinandersetzen, wie Menschen vor ihnen die Welt im Lichte der christlichen Botschaft verstanden, gedeutet und gestaltet haben. Ausgehend von diesen religiös geprägten Handlungsoptionen können sie nach der Relevanz christlicher Religion für ihre eigene Lebensgestaltung und Weltdeutung fragen. Christlicher Religionsunterricht ist auf die Auseinandersetzung mit Kirchengeschichte auch aus einem theologischen Grund angewiesen. Als »Offenbarungsreligion ist [das Christentum] nicht anders denn als Erinnerungsreligion zu denken. Erinnerung gehört zum Wesen«21 dieser Religion, insofern die erzählende und ritualisierte Anamnese des Christusereignisses den Urgrund der Gemeinschaft der Christen darstellt. Erinnern lernen gehört folglich unaufgebbar zu religiösem Lernen.22 Will Religionsunterricht mehr als religiöses Wissen (Religionskunde) ermöglichen, muss er den Lernenden theologieaffine Bildungsoptionen zugänglich machen, die ihnen Räume eröffnen, ihren persönlichen Erinnerungsschatz mit Erinnerungen im »Horizont Gott« in Diskurs zu bringen und eventuell dadurch zu bereichern. Kirchengeschichte kommuniziert in den typisch christlichen Modi des Erinnerns und Erzählens, die den Gläubigen das aktualisierende Sich-Hineinstellen in die Glaubenstradition ermöglichen. Sie verweist auf das geglaubte Heilshandeln Gottes und kann somit selbst als ein »locus theologicus«23 angesehen werden. Die Auseinandersetzung mit kirchengeschichtlichen Aspekten bietet Schülerinnen und Schülern also die Chance, sich theologischen Fragen im typisch christlichen Resonanzraum des Erinnerns und Erzählens anzunähern und diesen Modus der Weltdeutung in persönlicher Hinsicht auszuloten. Dabei geht es neben vergewissernd-identipetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich, Opladen 2000, S. 15–68, hier S. 21. 21 Christoph Markschies/Hubert Wolf: »Tut dies zu meinem Gedächtnis«. Das Christentum als Erinnerungsreligion. In: Dies. (Hrsg.): Erinnerungsorte des Christentums. München 2010, S. 10–27, hier S. 11. 22 Vgl. u. a. Reinhold Boschki/Albert Gerhards (Hrsg.): Erinnerungskultur in einer pluralen Gesellschaft? Neue Perspektiven für den christlich-jüdischen Dialog. Paderborn 2010; Stephan Leimgruber: Erinnerungsgeleitetes Lernen. In: Ders./Georg Hilger/Hans-Georg Ziebertz (Hrsg.): Religionsdidaktik. Ein Leitfaden für Studium, Ausbildung und Beruf. Neuausgabe. München 2010, S. 365–373; Harry Noormann: Christliche Geschichte erinnern in Gegenwart der Anderen. Einleitung. In: Ders. 2009 (Anm. 7), S. 9–24. 23 Wolf (Anm. 14), S. 60.

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tätsbildender Rückschau auch um ein kritisches Anfragen der Gegenwart aus christlichem Bewusstsein heraus, um letztlich Zukunft humaner zu gestalten.24 Eine von mehreren Argumentationen für die Existenzberechtigung von Religionsunterricht an öffentlichen Schulen verweist auf die kulturgeschichtliche Bedeutsamkeit von Religion:25 Dieses Unterrichtsfach muss es in der öffentlichen Schule geben, weil es mit religiösen Kultur- und Wissensbeständen vertraut macht, deren Kenntnis Schülerinnen und Schülern hilft, die in ihrem Lebensumfeld wahrnehmbare, religiös geprägte Kultur zu erschließen. Dabei macht es einen Unterschied, ob diese Kultur lediglich aus einer Außenperspektive erschlossen wird oder aus einer Binnenperspektive. Für letztere stehen religiöse Lern- und Bildungsprozesse ein, die nicht bei einer lediglichen Einordnung des kulturellen Phänomens verweilen, sondern zugleich Fragen nach damit verknüpften Lebensrelevanzen wachhalten. So ist es beispielsweise ein Unterschied, ob eine mittelalterliche Kathedrale vornehmlich aus kunsthistorischer Perspektive betrachtet wird oder ob zugleich auch ihre noch gegenwärtig bedeutsame liturgische Bestimmung zur Geltung kommt. Will »Schule die Lernenden zu einer kompetenten, subjektiv gestalteten Teilhabe an der gegenwärtigen Religionskultur […] befähigen«26, ist jedoch neben der Frage nach praktischen Konsequenzen einer christlich geprägten Lebensidee auch das Thematisieren kirchengeschichtlicher Aspekte im Religionsunterricht notwendig. Einsichten in historisch-religiöse Zusammenhänge ermöglichen den Schülerinnen und Schülern den Aufbau von Verfügungswissen bezüglich kultureller Phänomene, das wiederum die Basis für einen reflektierten Umgang damit im Sinne eines religiösen Orientierungswissens ist: Lernende können sich dadurch herausgefordert sehen, ihre persönliche Religionsgeprägtheit geschichtsbewusst zu ergründen, ihre religionskulturelle Selbstverortung vorzunehmen und immer wieder neu zu justieren. Dieser Reflexionsprozess ist gegenwartsgesellschaftlich bedeutsam, nicht abschließend finalisierbar und lebt daher von permanenter Aktualisierung. 24 Johann Baptist Metz’ Kategorie der »gefährlichen Erinnerung« verweist darauf, dass im Verlauf der Kirchengeschichte auch viel Leid akkumuliert wurde. Vgl. Johann Baptist Metz: Glaube in Geschichte und Gesellschaft. Studien zu einer praktischen Fundamentaltheologie. Mainz 1977, S. 77–86. 25 Zur kulturgeschichtlichen Begründung von Religionsunterricht vgl. unter anderem Claudia Gärtner : Religionsunterricht – ein Auslaufmodell? Begründungen und Grundlagen religiöser Bildung in der Schule. Paderborn 2015, S. 189–198; Mirjam Schambeck: Religion in der Schule? Gründe für einen bekenntnisgebundenen Religionsunterricht. In: Stimmen der Zeit 233 (2015), S. 544–554, hier S. 547; Friedrich Schweitzer : Bildung. Neukirchen-Vluyn 2014, S. 204–206. 26 Klaus König: Mehr Religion. Die Bedeutung der Religionskultur für den Religionsunterricht. In: Ulrich Kropacˇ/Georg Langenhorst (Hrsg.): Religionsunterricht und der Bildungsauftrag der öffentlichen Schulen. Begründungen und Perspektiven des Schulfaches Religion. Babenhausen 2012, S. 98–112, hier S. 109.

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3.

Kirchengeschichtsdidaktische Tendenzen

3.1

Religionsunterrichtlicher Status Quo

Die vorangestellten Darlegungen erweisen, dass religiöse Bildung nicht auf die historische Dimension verzichten kann. Welcher Stellenwert aber kommt ihr in der Unterrichtspraxis zu? Dieser Frage wird im Folgenden auf Basis einer Auswertung der von einer Expertengruppe am Comenius-Institut Münster erarbeiteten Kompetenzen für den evangelischen Religionsunterricht in der Sekundarstufe I, der von der Deutschen Bischofskonferenz erlassenen Richtlinien zu Bildungsstandards für den katholischen Religionsunterricht in der Sekundarstufe I und mittels einer exemplarischen Analyse ausgewählter Lehrpläne nachgegangen.27 Diese Dokumente können dabei lediglich als Gradmesser gelesen werden, aktuelle (Unterrichts-)Forschungen zur religionsunterrichtlichen Umsetzung dieser Vorgaben liegen für kirchengeschichtsdidaktische Zusammenhänge nicht vor. Das Comenius-Institut Münster verweist auf zwölf grundlegende Kompetenzen religiöser Bildung, die sich in einem Raster von fünf Dimensionen (Perzeption, Kognition, Performanz, Interaktion, Partizipation) und vier Gegenstandsbereichen (subjektive Religion, Christentum in evangelischer Prägung, andere Religionen und/oder Weltanschauungen, Religion als gesellschaftliches Phänomen) aufspannen. Darunter findet sich eine dezidiert kirchengeschichtlich konturierte Kompetenz: »Über das Christentum evangelischer Prägung (theologische Leitmotive sowie Schlüsselszenen der Geschichte) Auskunft geben.«28 Aber auch andere Kompetenzbereiche können ohne Integration der historischen Dimension nicht realisiert werden. Kirchengeschichtliche Vergewisserungen benötigt z. B. auch das vorgesehene Erreichen einer kriterienbewussten Unterscheidung von lebensförderlichen und lebensfeindlichen Formen von Religion, ebenso das Erkennen religiöser Hintergründe gesellschaftlicher Traditionen und Strukturen oder aber die Identifikation und Erklärung religiöser Elemente in der Kultur.29 Die bezüglich des katholischen Religionsunterrichts formulierten Bildungsstandards der Deutschen Bischofskonferenz benennen sieben allgemeine Kompetenzen und sechs inhaltsbezogene Kompetenzbereiche. Unter den all27 Eine ähnliche Analyse bietet Bernd Schröder : Geschichtliches im Religionsunterricht. In: GWU 62 (2011), S. 422–432. Alternative konfessionelle Ausrichtungen wie z. B. orthodoxer oder alt-katholischer Religionsunterricht werden im Folgenden nicht berücksichtigt. 28 Vgl. Dietlind Fischer/Volker Elsenbast (Hrsg.): Grundlegende Kompetenzen religiöser Bildung. Zur Entwicklung des evangelischen Religionsunterrichts durch Bildungsstandards für den Abschluss der Sekundarstufe I. Münster 2006, S. 19f. 29 Vgl. ebd.

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gemeinen Kompetenzen finden sich Konkretisierungen, die ohne Kirchengeschichtsbezug nicht erreicht werden können, z. B. das Wahrnehmen religiöser Phänomene, das Verstehen religiöser Zeugnisse oder das begründete Urteilen in religiösen Fragen.30 Die sechs Gegenstandsbereiche, auf welche die inhaltsbezogenen Kompetenzen rekurrieren, nennen kirchengeschichtliche Zusammenhänge nicht explizit, was im Vergleich zu früheren Lehrplan-Strukturvorgaben einen scheinbaren Bedeutungsverlust dieses Themenfeldes anzeigt. Bei den Präzisierungen zu diesen Gegenstandsbereichen finden sich dagegen Hinweise auf historische Bezüge: zum einen mit den expliziten Verweisen, dass die Schülerinnen und Schüler »an einem geschichtlichen Beispiel (z. B. Judenverfolgung, […], soziale Frage im 19. Jahrhundert, Totalitarismus im 20. Jahrhundert) dar[stellen können sollen], inwieweit die Kirche ihrer Sendung gerecht wurde«, und »wichtige historische Ursachen der Reformation und der Kirchenspaltung« kennen sollen, zum anderen durch verschiedene Rekurse auf Personen der Kirchengeschichte.31 Bereits an diesen standardisierenden Kompetenzbeschreibungen für evangelischen und katholischen Religionsunterricht zeigt sich, dass die historische Dimension religiösen Lernens in verschiedener Hinsicht zwar zur Geltung kommt, aber gewissermaßen unterbelichtet bleibt, wenn man die Bedeutung der erinnernden Verortung in der christlichen Glaubenstradition bedenkt. Folgende Hauptvarianten des Rekurses auf historische Kontexte lassen sich für den Religionsunterricht in beiden Konfessionen herauskristallisieren: kirchen- und religionsgeschichtliche Einordnungen verschiedener Aspekte wie Gewissensentscheidungen oder geschichtliche Grunddaten der Weltreligionen (Variante a), Rekurse auf Lebensgeschichten sowohl »kleiner Leute« als auch prägender

30 Vgl. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.): Kirchliche Richtlinien zu Bildungsstandards für den katholischen Religionsunterricht in den Jahrgangsstufen 5–10/Sekundarstufe I (Mittlerer Schulabschluss). 4. überarb. Aufl. Bonn 2010, S. 16–18. Insbesondere die beispielhaften Konkretisierungen dieser allgemeinen Kompetenzen (vgl. ebd.) rekurrieren an geeigneten Stellen auf die historische Dimension. 31 Ebd., S. 32–33. Vgl. ebd., S. 21–35. Die Gegenstandsbereiche lauten: Mensch und Welt, die Frage nach Gott, Bibel und Tradition, Jesus Christus, Kirche, Religionen und Weltanschauungen. Zum Teil ist hier eine Vereinnahmung der Kirchengeschichte im Sinne einer Illustration vorgegebener Deutungsperspektiven – z. B. Widerstand gegen Machtmissbrauch – zu konstatieren. Im Gegensatz zu diesen Bildungsstandards haben Vorgängerdokumente wie der Grundlagenplan zum Religionsunterricht (1984), welcher vor den 2004 zum ersten Mal veröffentlichten Bildungsstandards das »Metadokument« für die Erstellung von Lehrplänen für katholische Religionslehre darstellte, deutlicher kirchengeschichtliche Lern- und Themenfelder benannt. Vgl. dazu Lindner (Anm. 7), S. 131–134. Vgl. auch Bernd Schröders Befund, der im Vergleich mit den 1960er Jahren für den gegenwärtigen Religionsunterricht »eine dramatische Straffung und Reduktion der geschichtlichen Anteile« diagnostiziert. Schröder (Anm. 27), S. 425.

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Persönlichkeiten der Kirchengeschichte (Variante b), aber auch eigenständige Thematisierungen kirchengeschichtlicher Sachverhalte (Variante c). Diese standardisierten Vorgaben werden in den bundeslandspezifischen Lehrplänen für evangelischen und katholischen Religionsunterricht in unterschiedlicher Weise operationalisiert. Im Zuge kompetenzorientierter Lehr- bzw. Bildungsplankonstruktionen wird vielfach gefordert, inhaltsspezifische Fokussierungen zugunsten der Beschreibung von Kompetenzen zu reduzieren. Ein einheitlicher Trend in diese Richtung ist in den Lehrplänen für evangelische und katholische Religionslehre gegenwärtig jedoch nicht zu entdecken. Vielmehr kommen die oben beschriebenen Hauptvarianten in lehrplanabhängiger Weise zur Geltung: Einerseits finden sich Rekurse auf die historische Dimension bei der Präzisierung prozessbezogener Kompetenzbereichen, insofern die Schülerinnen und Schüler kirchengeschichtliche Einordnungen (Variante a) vornehmen können müssen, um sich verschiedene Aspekte religiöser Kompetenz anzueignen. Das Niedersächsische Kerncurriculum nennt hinsichtlich religiöser Deutungskompetenz unter anderem: »religiöse Motive und Ausdrucksformen in der Kultur identifizieren und deuten«32 oder »die Bedeutung von Glaubenszeugen als Orientierungshilfe erkennen und Glaubenszeugnisse in Bezug zum eigenen Leben und zur gesellschaftlichen Wirklichkeit sehen«33 können. Andererseits ist Thematisierung kirchengeschichtlicher Aspekte häufig im Horizont einer biographischen Annäherung vorgesehen (Variante b). An Personen wie Franz von Assisi, Martin Luther, Friedrich Spee, Edith Stein, Dietrich Bonhoeffer, Sophie Scholl, Martin Luther King, Mutter Theresa soll zugänglich werden, wie Kirche-Sein in verschiedenen Zeiten gelebt wurde, wie Lebensgestaltung im Horizont des christlichen Glaubens möglich ist. Auf alltagsgeschichtliche Sichtweisen »kleiner Leute« wird dabei jedoch nur zum Teil rekurriert. Auch sind in vielen Lehrplänen weiterhin eigenständige kirchengeschichtliche Gegenstandsbereiche (Variante c) vorgesehen, so z. B. in den für das Schuljahr 2017/18 zur Implementierung vorgesehenen Lehrplänen für evangelische und katholische Religionslehre in Bayern. Hier wird es spezifische kirchengeschichtliche Lernbereiche geben, beispielsweise in Jahrgangsstufe 7: »Kirche im Wandel – Entstehung und Entwicklung« (ev., Mittelschule) oder »Verschiedene Konfessionen« (kath., Mittelschule), »Kirche hat Geschichte« (ev., Gymnasium) oder »Kirche zwischen Macht und Spiritualität: Christliche Grundüberzeugungen und gesellschaftliche Lebensweisen in Mittelalter« (kath.,

32 Niedersächsisches Kultusministerium: Kerncurriculum für die Oberschule. Schuljahrgänge 5–10. Evangelische Religion. Hannover 2013, S. 17. 33 Niedersächsisches Kultusministerium: Kerncurriculum für die Oberschule. Schuljahrgänge 5–10. Katholische Religion. Hannover 2013, S. 16.

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Gymnasium).34 Dabei prägt nach wie vor ein impliziter Themenkanon die kompetenzorientierten Lehr- und Bildungspläne bzw. Kerncurricula für evangelische und katholische Religionslehre, der bisweilen über verschiedene Jahrgangsstufen hinweg chronologisch angeordnet ist. Folgende kirchengeschichtliche Kontexte kommen vornehmlich zur Geltung: erste christliche Gemeinden, Christenverfolgung, konstantinische Wende, Christianisierung der Germanen, Kirche im Mittelalter, Kreuzzüge, Reformation und katholische Reform, Hexenverfolgung, Missionierung in der Kolonialzeit, Kirchen im Zeitalter des Nationalsozialismus, Kirche in der DDR.35 Ganz allgemein lassen sich über verschiedene Lehrpläne hinweg weitere Auffälligkeiten beobachten: In der Grundschule bzw. Primarstufe kommen entsprechend entwicklungspsychologischer Befunde historische Dimensionen im Religionsunterricht vornehmlich nicht im Interesse an historischer Sinnbildung zur Geltung. Wenn, dann geht es vor allem um das Vertrautwerden mit dem Wirken von Personen der Kirchengeschichte wie Martin Luther oder katholischerseits als heilig verehrten Menschen. Weiter ist auffällig, dass im Religionsunterricht an Mittel- und Realschulen der historischen Dimension seltener Raum gegeben wird als im Gymnasialkontext, insofern beispielsweise viele Mittelschullehrpläne weniger kirchengeschichtsbezogene Gegenstandsbereiche und Kompetenzpräzisierungen vorsehen. Und ein Trend deutet sich an: Nach und nach gelangt die geschichtskulturelle Dimension zur Geltung, insofern Lehrpläne die explizite Thematisierung christlicher »Inkulturation« oder des »Christentum[s] als kulturprägende Kraft« einfordern.36 Wie im Geschichtsunterricht auch kommen im Religionsunterricht ge34 Vgl. die gegenwärtig im Status von Arbeitsentwürfen online zugänglichen Lehrpläne: www. lehrplanplus.bayern.de/fachlehrplan/mittelschule/7/evangelische-religionslehre/regelklasse, www.lehrplanplus.bayern.de/fachlehrplan/mittelschule/7/katholische-religionslehre/regel klasse, www.lehrplanplus.bayern.de/fachlehrplan/gymnasium/7/evangelische-religionslehre und www.lehrplanplus.bayern.de/fachlehrplan/gymnasium/7/katholische-religionslehre (aufgerufen am 01. 02. 2016). 35 Im sachsen-anhaltinischen Lehrplan wird beispielsweise gleichlautend für evangelische und katholische Religionslehre in der Sekundarstufe »Kirchengeschichte/Ekklesiologie« als einer von sechs Kompetenzschwerpunkten mit folgenden Fokussierungen ausgewiesen: »Die Anfänge der christlichen Kirche« (Schuljahrgänge 5/6), »Kirche in konfessioneller Differenzierung« (Schuljahrgänge 7/8), »Kirche in der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart« (Schuljahrgänge 9/10) (www.bildung-lsa.de/lehrplaene_rahmenrichtlinien/sekundarschule. html, aufgerufen am 01. 02. 2016). Vgl. auch die verschiedenen Lehrpläne für evangelische und katholische Religion/slehre in Bayern (Anm. 34), Niedersachsen (Anm. 32 und 33) und Rheinland-Pfalz (Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Weiterbildung und Kultur: Rahmenlehrplan Katholische Religion für die Sekundarstufe I. Mainz 2012). 36 Vgl. z. B. Niedersächsisches Kultusministerium: Kerncurriculum für das Gymnasium – gymnasiale Oberstufe. Katholische Religion. Hannover 2011, S. 22 und S. 16. Vgl. auch Niedersächsisches Kultusministerium: Kerncurriculum für das Gymnasium – gymnasiale Oberstufe. Evangelische Religion. Hannover 2011, S. 9 und S. 31.

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Konstantin Lindner

schichtsspezifische Methoden und Medien zum Tragen, wenn es darum geht, kirchengeschichtliche Aspekte im Sinne religiöser Bildung zu thematisieren: Nicht zuletzt Religionsschulbücher bieten verschiedene Arten schriftlicher und ikonographischer Quellen an und fordern eine – meist reduzierte Variante – von Quelleninterpretation. Gegenständliche Quellen, oftmals gepaart mit Lernen vor Ort – häufig im Kirchenraum,37 Kloster, Museum oder an Denkmälern38 – sensibilisieren für christliche Weltdeutungsweisen und damit für christliche Codierungen, die in der Gegenwart aufscheinen. Im Rekurs auf Filme, Computerspiele oder neue Medien kann aufgespürt werden, wie Christsein im Verlauf der Geschichte gestaltet wurde und wie christlich geprägte Artikulationen auch die Medienwelten der Lernenden prägen.39 Die Befragung von Zeitzeugen40 zu Aspekten der jüngeren Kirchengeschichte wiederum bietet den Schülerinnen und Schülern Optionen, ihr eigenes Verstricktsein in Kirchengeschichte zu reflektieren und den christlich-religiösen Weltzugang in Selbstzeugnissen wahrzunehmen.

3.2

Forschungsperspektiven

Gegenwärtig forscht nur eine überschaubare Anzahl von Religionsdidaktikerinnen und -didaktikern intensiver zu kirchengeschichtlichen Fragestellungen: auf evangelischer Seite vor allem Heidrun Dierk41 und z. T. Harmjan Dam42 37 Zur so genannten Kirchen(-raum-)pädagogik wurden in den letzten Jahren viele religionsdidaktische Forschungen angestellt und zahlreiche Unterrichtsmaterialien entwickelt. Vgl. u. a. Holger Dörnemann: Kirchenpädagogik, ein religionsdidaktisches Prinzip. Grundannahmen, Methoden, Zielsetzungen. Berlin 2011; Margarete Goecke-Seischab/Jörg Ohlemacher : Kirchen erkunden, Kirchen erschließen. Ein Handbuch. Köln 2010; Hartmut Rupp (Hrsg.): Handbuch der Kirchenpädagogik. Bd. 1: Kirchenräume wahrnehmen, deuten und erschließen. 3. überarb. Aufl. Stuttgart 2016. 38 Vgl. u. a. Norbert Köster : Historische Orte als außerschulische Lernorte im Religionsunterricht. In: Bork/Gärtner (Anm. 7), S. 188–203; Andrea Kabus: Erinnerungslernen an Stolpersteinen. In: Lindner, Konstantin u. a. (Hrsg.): Erinnern und Erzählen. Theologische, geistes-, human- und kulturwissenschaftliche Perspektiven. Münster 2013, S. 393–404. 39 Vgl. Ulrich Riegel: Kinder und Jugendliche als Subjekte des Religionsunterrichts zu kirchengeschichtlichen Inhalten. In: Lindner u. a. (Anm. 7), S. 21–30, hier S. 22f. 40 Vgl. Konstantin Lindner: Kirchengeschichte im Religionsunterricht re-konstruieren – Perspektiven einer konstruktivistischen Kirchengeschichtsdidaktik am Beispiel »Oral History« als Zugang zum Vaticanum II. In: Büttner u. a. (Anm. 7), S. 85–98 und S. 156–175. Harald Schwillus: Kirchengeschichte im persönlichen Umfeld erforschen – Oral History, in: Lindner u. a. (Anm. 7), S. 243–254. 41 Vgl. u. a. Dierk (Anm. 7); Heidrun Dierk: Konstruktivistischer Kirchengeschichtsunterricht am Beispiel reformatorischer Flugschriften. In: Büttner u. a. (Anm. 7), S. 53–67; Dies.: Was leistet gender als Analysekategorie für die Kirchengeschichte? Ein Beispiel aus der Reformationszeit. In: Sabine Pemsel-Maier (Hrsg.): Blickpunkt Gender. Anstöß(ig)e(s) aus Theologie und Religionspädagogik. Frankfurt/Main 2013, S. 85–102.

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sowie Veit-Jakobus Dieterich,43 auf katholischer Seite sind dies Klaus König,44 Harald Schwillus45 und Konstantin Lindner.46 In vielerlei Hinsicht werden dabei geschichtsdidaktische Forschungsergebnisse rezipiert und in den Zusammenhang religiöser Bildung gestellt. Leitende Prämissen des im Horizont religiöser Lern- und Bildungsprozesse angesiedelten kirchengeschichtsdidaktischen Forschens sind einerseits die Orientierung an den Schülerinnen und Schülern als Subjekte ihres Lernens, andererseits die Wissenschaftsorientierung. So finden sich Forschungen zur Relevanz und zu Optionen regionaler Verortungen, unter anderem hinsichtlich Lern- und Bildungsermöglichung vor Ort, z. B. anhand steinerner Zeugnisse wie Kirchen und Kapellen, Wegkreuze etc. oder bezüglich der Befragung von Zeitzeugen, beispielsweise zu Veränderungen im Gefolge des Zweiten Vatikanischen Konzils. In diesen Kontext lassen sich auch die Bemühungen einordnen, alltagsund mentalitätsgeschichtliche Zugänge zur Kirchengeschichte für religionsunterrichtliches Lernen aufzubereiten und fruchtbar zu machen. Auch aus den oben unter 2.3 dargelegten Gründen spielen biographische Zugänge zur Kirchengeschichte im Religionsunterricht nach wie vor eine wichtige Rolle. Durch 42 Vgl. u. a. Harmjan Dam: Evangelische Kirchengeschichtsdidaktik im Horizont der Praxis. In: Bork/Gärtner (Anm. 7), S. 116–128. 43 Vgl. u. a. Veit-Jakobus Dieterich/Thoms Breuer : »Luther unterrichten« – Fächerverbindende Perspektiven für Schule und Gemeinde. Stuttgart 2016; Ders.: Heiliger – Ketzer – Protestant – Maskottchen? Konstruktionen des Franziskus in Kunst, Kirchengeschichte und Religionsunterricht. In: Büttner u. a. (Anm. 7), S. 68–84; Ders.: Hier stehe ich und kann auch anders! Kirchengeschichtliche (Re-)Konstruktionen in Theologie, Kunst und Religionspädagogik am Beispiel eines Reformators. In: Gerhard Büttner (Hrsg.): Lernwege im Religionsunterricht. Konstruktivistische Perspektiven. Stuttgart 2006, S. 23–39. 44 Vgl. u. a. Klaus König: Kirchengeschichte aus der Perspektive der Religionspädagogik. In: Bork/Gärtner (Anm. 7), S. 49–61; Ders.: Art. Vergegenwärtigung, kirchengeschichtsdidaktisch. In: WiReLex – Das wissenschaftlich-religionspädagogische Lexikon im Internet 1 (2015) (www.wirelex.de, aufgerufen am 01. 02. 2016); Ders.: Die Vielfalt christlicher Praxis. Kulturhermeneutische Perspektiven. In: Lindner u. a. (Anm. 7), 207–216; Ders.: Kirchengeschiche als Inkulturationsgeschichte von Christlichem (re-)konstruieren. In: Büttner u. a. (Anm. 7), S. 38–52; Ders.: Wo ist das Christentum? Plädoyer für einen kulturhermeneutisch akzentuierten Kirchengeschichtsunterricht. In: Katechetische Blätter 128 (2003), S. 397–404; Ders.: (Anm. 19). 45 Vgl. u. a. Harald Schwillus: Kirchengeschichte im Religionsunterricht im Spannungsfeld von Religionsdidaktik und Historischer Theologie. In: Bork/Gärtner (Anm. 7), S. 103–115; Ders.: (Anm. 40); Ders: Kirchengeschichte im Religionsunterricht. Kirche als Kommunikationskontext erschließen. In: Norbert Mette/Matthias Sellmann (Hrsg.): Religionsunterricht als Ort der Theologie. Freiburg i. Br. 2012, S. 198–211; Ders.: Kirchenpädagogische Annäherungen an Erbe und Vollzug des Chorgebets. Konkretisierungen am Ort Kloster Lehnin. In: Andreas Behrendt/Jens Rüffer (Hrsg.): Spiritualität in Raum und Bild. Berlin 2007, S. 161–174. 46 Vgl. über die bereits in Anmerkungen genannten Veröffentlichungen hinausgehend Konstantin Lindner: Religiöses Lernen mit Kirchengeschichte. Didaktische Verortungen und Perspektiven, in: Lindner u. a. (Anm. 7), S. 11–20.

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religionsdidaktische Forschungen sind dabei das Potenzial aber auch beachtenswerte Grenzen in den Blick zu nehmen – nicht zuletzt, weil diese unterrichtliche Herangehensweise an die Vergangenheit Personalisierungstendenzen vermeiden muss.47 Zwei weitere Entwicklungslinien zeigen sich: In Anlehnung an die Forschungen von Michele Barricelli48 gelangt zum einen auch in der Religionsdidaktik der Stellenwert von narrativer Kompetenz und Geschichtserzählung zu Neujustierungen. Die mit erzählenden Zugängen verknüpften Chancen werden dabei in ihrem kirchengeschichtsdidaktischen Stellenwert berücksichtigt.49 Zum anderen finden sich auf religionsdidaktischer Seite zunehmend Rekurse hinsichtlich geschichtskultureller Ansätze. Auffällig ist eine spezifische Publikationsgattung, die dem Bemühen um eine zeit- und schülergemäße Thematisierung kirchengeschichtlicher Aspekte im Religionsunterricht verschrieben ist: Um die Bandbreite aktueller (kirchen-)historischer Forschungsergebnisse für religionsunterrichtliche Kontexte zugänglich zu machen, werden von religionsdidaktischer Seite immer wieder Überblickswerke zur Kirchengeschichte herausgegeben. Neben thematisch angelegten Bündelungen zentraler historischer Erkenntnisse finden sich darin religionsdidaktische Kontextualisierungen sowie unterrichtspraktische Anregungen.50 Für den unterrichtlichen Einsatz ist jüngst eine Neuausgabe der »Brennpunkte der Kirchengeschichte«51 veröffentlicht worden: Dieses als Lernbuch für (Oberstufen-)Schülerinnen und Schüler angelegte Unterrichtswerk will anhand von Quellen und Arbeitsaufträgen sowohl einen Überblick über die 2000-jährige Geschichte des Christentums als auch vertiefende Einblicke in ausgewählte Themen bieten.

47 Vgl. u. a. Karolin Kuhn: An fremden Biographien lernen! Ein religionspädagogischer Beitrag zur Unterrichtsforschung. Berlin 2010; Konstantin Lindner : Biografische Zugänge zur Kirchengeschichte. Religionsdidaktische Auslotungen. In: Bork/Gärtner (Anm. 7), S. 204–219; Hans Mendl: Modelle – Vorbilder – Leitfiguren. Lernen an außergewöhnlichen Biografien, Stuttgart 2015. 48 Vgl. z. B. Michele Barricelli: »The story we’re going to try and tell«. Zur andauernden Relevanz der narrativen Kompetenz für das historische Lernen. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 7 (2008), S. 140–153. 49 Vgl. u. a. Heidrun Dierk: Art. Geschichtserzählung. In: WiReLex – Das wissenschaftlichreligionspädagogische Lexikon im Internet 1 (2015) (www.wirelex.de, aufgerufen am 01. 02. 2016). In unterrichtspraktischer Hinsicht vgl. Elisabeth Reil: Kirchengeschichte in Geschichten. Ein Lese- und Arbeitsbuch für den Religionsunterricht. München 2012. 50 Vgl. Harmjan Dam: Kirchengeschichte im Religionsunterricht. Basiswissen und Bausteine für die Klassen 5–10. Göttingen 2010; Lachmann u. a. (Anm. 7); Lindner u. a. (Anm. 7); Noormann (Anm. 7). 51 Wolfgang Michalke-Leicht/Clauß Peter Sajak (Hrsg.): Brennpunkte der Kirchengeschichte. Paderborn 2015.

Die historische Dimension religiösen Lernens

4.

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Ausblick

Die historische Dimension gehört unverzichtbar zu religiösen Lern- und Bildungsprozessen. Nach wie vor gibt es diesbezüglich enormen religionsdidaktischen Forschungsbedarf – nicht zuletzt was empirische Studien betrifft. Nachholbedarf auf religionsdidaktischer Seite besteht hinsichtlich Unterrichtsforschung zu Fragen der Kirchengeschichtsdidaktik. Auch fehlen empirische Studien dazu, wie Heranwachsende mit der Geschichte der Kirche umgehen – von welchen Stereotypisierungen sie bewegt sind, wo ihre Interessen liegen,52 wie sie durch populäre Medien in ihrer Wahrnehmung von kirchengeschichtlichen Themen beeinflusst werden oder welche Rolle die kirchliche (Anti-)Sozialisation beispielsweise bei der Auseinandersetzung mit der historischen Dimension religiöser Bildung spielt. Ebenso gilt es angesichts der den Religionsunterricht betreffenden gesellschaftlichen Umbruchsituation verstärkt interkulturelle und interreligiöse Perspektiven zu integrieren, aber auch den Blick von einer deutschland-eurozentrierten Kirchengeschichtsidee hin auf globale Verortungen zu weiten. Zudem zeigt sich bezüglich Medien- und Methodenfragen Forschungsbedarf, z. B. zu Formaten digitalen Lernens. Für viele der benannten Erfordernisse bietet die Geschichtsdidaktik der Religionsdidaktik wertvolle Impulse. Von der Intensivierung eines wechselseitigen Austauschs zwischen diesen beiden Fachdidaktiken könnte auch die Geschichtsdidaktik profitieren – nicht zuletzt angesichts des gegenwärtig wahrnehmbaren »religious turn«,53 der von verschiedenen Kulturwissenschaften aufgegriffen wird.

52 Die jüngsten entsprechenden Daten bieten Uwe Böhm/Manfred Schnitzler : Religionsunterricht in der Pubertät. Eine explorative Studie in den Klassen 7 und 8. Stuttgart 2008, S. 166. 53 Vgl. Daniel Weidner: Walter Benjamins Erfahrungen. Zum religious turn in der gegenwärtigen Literatur- und Kulturwissenschaft. In: Andreas Nehring/Joachim Valentin (Hrsg.): Religious Turns – Turning Religions. Veränderte kulturelle Diskurse – neue religiöse Wissensformen. Stuttgart 2008, S. 32–44.

Laurenz Volkmann

History is bunk? Von der Gefahr des Verschwindens historischer Dimensionen im kompetenzorientierten Englischunterricht

0.

Einleitung: Der Ansatz der key cultural concepts

»History is bunk. What difference does it make how many times the ancient Greeks flew their kites?« – Das als Teiltitel dieses Beitrags gewählte Zitat des amerikanischen Großindustriellen Henry Ford aus dem Jahre 19211 wird gerne als Beleg für ein typisch amerikanisches Mentalitätsmerkmal aufgeführt. Es zeige sich darin einerseits die Abwendung vom europäisch geprägten Verharren in den Gedankengängen der Vergangenheit, dem Festhalten an alten Traditionen und Gebräuchen. Andererseits verweise es auf das Nach-vorne-gerichtet-Sein, den Zukunftsoptimismus, den zupackenden Pragmatismus des Homo americanus. Auf paradigmatisch verknappte Weise kann dieses Zitat im Englischunterricht als Beispiel für ein key cultural concept einer der »Zielkulturen« des englischsprachigen Raums gelten. Die Fokussierung auf Mentalitätsstrukturen, die historisch gewachsen sind und in das Alltagsleben und die Alltagskommunikation der Menschen hineinwirken, erscheint gerade im Bereich der interkulturellen Wirtschaftskommunikation attraktiv, weil dies sich oftmals in erlernbaren Verhaltensregeln für interkulturelle Verständnisprozesse niederschlägt.2 Zugleich hat sich ein mentalitätsgeschichtlich orientierter Ansatz in der Englischdidaktik als eine verschiedentlich vertretene zielkulturbezogene Vermittlungsrichtung entwickelt, welche vor allem in der Amerikanistik – und dort beispielsweise einflussreich von Peter Freese – nach wie vor vertreten wird.3 1 Das Zitat stammt aus der New York Times vom 29. Oktober 1921 (zitiert nach https://de. wikiquote.org/wiki/Henry_Ford, aufgerufen am 23. 02. 2016). 2 Vgl. z. B. Arne Weidemann/Jürgen Straub/Steffi Nothnagel (Hrsg.): Wie lehrt man interkulturelle Kompetenz? Theorien, Methoden und Praxis in der Hochschulausbildung. Ein Handbuch. Bielefeld 2010. 3 Unter den vielen Publikationen von Peter Freese ragt besonders heraus: Peter Freese: ›America‹: Dream or Nightmare? 2., erweiterte Aufl. Essen 1991. Es sei zudem auf die von Peter Freese als General editor herausgegebene Viewfinder-Reihe bei Langenscheidt-Klett verwiesen. Es handelt sich dabei um Unterrichtsmaterialien mit Sachtexten und literarischen Texten sowie visuellen Quellen. Bei der Kompilation der Texte und Themen wird in der Regel

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Diesem Ansatz zufolge würde es allerdings einer eingehenderen, historisch reflektierten Analyse dieser Aussage zur »Nichtigkeit alles Historischen« bedürfen, etwa im Vergleich mit literarischen Texten, in welchen die historisch tief verwurzelte Wirkungsmächtigkeit weiterer key cultural concepts wie des frontier myth, des American Dream, des amerikanischen Exzeptionalismus oder der Ideologie des individuell einzulösenden Rechts auf the pursuit of happiness hervortritt. Erst in der multiperspektivischen und multimodalen Ausleuchtung derartiger Elemente des American creed könne, so eine der Grundaussagen von Anhängern des interkulturellen Lernens und Fremdverstehens, eine kritischreflexive Erörterung dieses anfänglich anklingenden Pauschalurteils über »die Amerikaner« erfolgen. Wenn nämlich erkannt wird, dass die Bedeutung historischer Sternstunden (»first man on the moon«) oder nationaler Traumata (»9/ 11«) in ihrer mentalitätsgeschichtlich höchst prägenden Auswirkung nicht unterschätzt werden kann. Und wer zudem einmal an einem historischen pageant, wie etwa der populären schauspielerischen Reinszenierung der blutigen Schlachten des amerikanischen Bürgerkriegs, teilgenommen hat, dem wird evident vor Augen geführt, wie wirkmächtig die kulturelle Repräsentation von Vergangenheit in den USA tatsächlich ist. Der Gedanke, es existiere die lehr- und lernbaren Identität einer bestimmten Nation, eines Landes oder einer Community steht, bei aller Kritik und bei allen Modifikationsbemühungen im Zeitalter der globalen transkulturellen Phänomene, nach wie vor im Zentrum der einflussreichen Disziplin der Interkulturellen Kommunikationswissenschaft.4 Im wissenschaftlichen Diskurs der Englischdidaktik, in den politischen Vorgaben wie Bildungsstandards sowie in Lehrplänen oder Lehrwerken spielt er allerdings inzwischen nur mehr eine untergeordnete Rolle.5 Die Erosion der Vorstellung von einheitlichen Kulturen, welche bekanntlich die Gefahr der Stereotypenbildung mit sich trägt, mag durchaus begrüßenswert erscheinen. Sie ist in der Englischdidaktik jedoch begleitet und gerahmt von einem generellen Paradigmenwechsel der letzten Jahrzehnte: Mit der Hinwendung zu pragmatischen und praktischen Kommunikationsakten seit der Kommunikativen Wende der 1970er Jahre, begleitet von einer sukzessiven Abwertung literarisch-ästhetischer Bildungsziele und mündend in die vom Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen von die historische Dimension stark berücksichtigt, vgl. z. B. die von Freese selbst verfassten Schüler- und Lehrerbände zu The American Dream: Humankind’s Second Chance? (München 2011). Vgl. auch die Ausführungen zu diesem Ansatz in Laurenz Volkmann. Fachdidaktik Englisch: Kultur und Sprache. Tübingen 2010, S. 98–117. 4 Vgl. Weidemann u. a. (Anm. 2). Vgl. auch exemplarisch Robert Gibson: Intercultural Business Communication. Berlin 2000. 5 Vgl. Elisabeth Kolb: Kultur im Englischunterricht. Deutschland, Frankreich und Schweden im Vergleich (1975–2011). Heidelberg 2013, S. 170–201 (Anglistische Forschungen, Bd. 434).

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2001 vorgegebene Kompetenz- und Standardorientierung mit Bezug auf interkulturelle Kommunikationssituationen des privaten und beruflichen Alltags ist nicht allein eine Verschiebung von inhaltlichen zu sprachlich-kommunikativen Schwerpunkten des Fremdsprachenunterrichts erfolgt.6 Zugleich hat sich im Zuge der globalen Ausbreitung des Englischen als lingua franca und der zunehmenden Berücksichtigung der ehemaligen Länder des Commonwealth und derjenigen Länder, in denen »Englisch als Verkehrssprache«7 Verwendung findet, also auch der Kommunikation von Nichtmuttersprachlern mit Nichtmuttersprachlern, und dem damit verbundenen Verlust der Vorstellung von einst deutlich auf Großbritannien und die USA beschränkten »Zielkulturen« eine Auflösung klar umrissener landeskundlicher Inhalte ergeben. Dies bedeutet entsprechend den im Titel dieses Beitrags anklingenden Verlust des Historischen, sei es als Vermittlung wesentlicher Faktenbestände einer bestimmten Zielkultur, sei es als Reflexion der historischen Bedingung gegenwärtiger soziokultureller Begebenheiten, sei es als Einsicht in die Facetten gegenwärtiger Strategien und Mechanismen von Geschichtskultur,8 beispielsweise bei der Konstruktion von Nationen als »imagined communities«.9 Geschichte und Englischunterricht – ist mit diesen Ausführungen zum zunehmenden Bedeutungsverlust der Vorstellung von historisch zu verstehenden Mentalitätsstrukturen der »Zielkulturen« damit auch unser Thema schon »abgehandelt«, bevor eine eingehendere Erörterung überhaupt begonnen hat? Dies natürlich nicht, aber im Sinne der Emplotment-Theorien eines Hayden White10 werden die folgenden Ausführungen eher den Modus eines Klagegesangs aufweisen, allerdings nicht ohne eine optimistische Coda am Ende. Die verschiedenen Facetten des Themas werden dabei, der Kürze des Beitrags entsprechend, jeweils in aller Knappheit in folgender Reihenfolge zu behandeln sein: (1) Aspekte der Geschichtsschreibung und -forschung zum Englischunterricht mit 6 Vgl. Europarat, Rat für kulturelle Zusammenarbeit. Goethe-Institut Inter Nationes u. a. (Hrsg.): Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprachen: lernen, lehren, beurteilen. Berlin 2001. 7 So die Terminologie in gängigen Lehrplänen, vgl. Thüringer Ministerium für Wissenschaft, Bildung und Kultur: Lehrplan für den Erwerb der allgemeinen Hochschulreife. Englisch. 2011, S. 53. (Online: https://www.schulportal-thueringen.de/media/detail?tspi=1395, aufgerufen am 22. 2. 2016). 8 Es sei an dieser Stelle auf eine Definition von Geschichte verwiesen, wie sie bei dem Cambridger Historiker G.R. Eton steht (The Practice of History. Glasgow 1967, S. 24): »[History] is concerned with all those human sayings, thoughts, deeds and sufferings which occurred in the past and have left present deposit; and it deals with them from the point of view of happening, change, and the particular.« 9 Benedict Anderson: Imagined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. London, New York 1983. 10 Hayden White: The Content of Form: Narrative Discourse and Historical Representation. Baltimore, MD 1987.

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einem Blick auf die Entwicklungsgeschichte des Englischunterrichts in Deutschland zum besseren Verständnis gegenwärtiger Paradigmen; (2) eine eingehendere Betrachtung des Hauptparadigmas der interkulturellen kommunikativen Kompetenz, vor allem mit Bezug auf die Fragestellung, ob und wie historische Elemente dabei überhaupt zum Tragen kommen; dies wird verbunden mit einer Skizzierung des gegenwärtigen Pragmatisierungsschubs bei der Entwicklung landeskundlicher, interkultureller und transkultureller Ansätze; (3) schließlich soll erörtert werden, wie verschiedene für den Englischwie Geschichtsunterricht tragfähige Kompetenzkonzeptionen zu modellieren wären. Vor allem geht es dabei um narrative und kritisch-reflexive Kompetenzentwicklung.

1.

Die Geschichte des Englischunterrichts und ihre Erforschung

Es ist ohne Zweifel bemerkenswert, dass das Thema der Geschichte des Englischunterrichts in mehreren gängigen Einführungen zur Englischdidaktik eine feste Stelle gefunden hat. Die Ausführungen gehen teilweise bis in die frühe Neuzeit zurück.11 Ein historischer Überblick setzt spätestens mit dem 18. Jahrhundert ein und der schulischen und universitären Aufwertung des Englischen gegenüber dem Lateinischen und Griechischen. Das Ziel historischer Überblicke besteht dabei in der Regel, gegenwärtige Usancen als entweder historisch gewachsen darzustellen, wie beim »Rückgriff« auf die neusprachliche Reformbewegung unter Wilhelm Vi[tor, dessen Pamphlet Der Sprachunterricht muss umkehren (1882/1905) einem an muttersprachlicher Kommunikation orientierten Fremdsprachenunterricht das Wort sprach. Diese pragmatische Ausrichtung setzte sich später in den Ansätzen der audio-lingualen Methode nach dem Zweiten Weltkrieg fort und in der kommunikativen Wende nach 1970. Zugleich wird in Ausführungen zur im 19. Jahrhundert vorherrschenden Übersetzungs-Grammatik-Methode, welch unter Umständen zum größten Teil auf Deutsch praktiziert wurde, der lange nachwirkende Einfluss der Vermittlung der »toten Sprachen« konstatiert und oftmals beklagt. Einen konzisen Überblick zur Geschichte des Englischunterrichts und der Englischdidaktik liefert die Münchner Professorin emeriti Friederike Klippel in einem Beitrag mit dem bezeichnenden Titel »The Cinderella of ›Anglistik‹: Teacher Education.«12 Der in einem Sammelband zur Geschichte der Anglistik und 11 Vgl. Nancy Grimm/Michael Meyer/Laurenz Volkmann: Teaching English. Tübingen 2015, S. 2–6, 61–75. 12 Friederike Klippel: The Cinderella of ›Anglistik‹: Teacher Education. In: Stephan Kohl (Hrsg.): Anglistik: Research Paradigms and Institutional Policies 1930–2000. Trier 2005, S. 423–444.

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Amerikanistik in Deutschland erschienene Übersichtsartikel erkennt dabei einen zwar langsamen, allerdings sukzessiv anwachsenden Bedeutungsgewinn der englischen Fachdidaktik als einst »stiefmütterlich« behandelter Wissenschaftsdisziplin. In ihrer Zusammenfassung wendet sie sich dabei explizit gegen ein rein auf den Zweck der internationalen Kommunikationsfähigkeit ausgerichtetes Verständnis des Englischunterrichts: »That would mean, of course, that in teaching English one need not bother with cultural content and intensive text analysis, maybe not even with the effort of meeting standards of pronunciation, lexical variation or grammatical correctness, as long as the intended meanings [sic] communicated successfully.«13

Klippel, stellvertretend hier zitiert für viele Kritiker des gegenwärtigen Paradigmas der fluency before accuracy, verweist damit deutlich auf die Gefahren, die eine Entkontextualisierung, Entphilologisierung und reine Orientierung an praxisnahen Kommunikationsabläufen mit sich bringt. Mit Friederike Klippel ist hier zugleich eine einflussreiche Fachdidaktikerin erwähnt, welche zahlreiche Qualifikationsschriften zu historischen Themen des Englischunterrichts betreute.14 Es seien hier zwei Studien exemplarisch hervorgehoben, welche als Dissertationsschriften historische Besonderheiten des Englischunterrichts herausarbeiten: Sabine Doff hat in dem Band Englischlernen zwischen Tradition und Innovation. Fremdsprachenlernen für Mädchen im 19. Jahrhundert15 unter anderem die Erkenntnis geliefert, dass die einst von männlichen Fremdsprachenforschern belächelte »Parliermethode«, nach der Mädchen und junge Damen der besseren Gesellschaft Sprachfertigkeiten vermittelt bekamen, im weiblichen Fremdsprachenunterricht markante Ähnlichkeiten zu modernen Vorstellungen zur Kommunikationsfähigkeit vorwegnahm, während der Sprachunterricht an den höheren Schulen für Knaben eher traditionelle linguistische und philologische Fähigkeiten betonte. Besonderheiten des deutschen Englischunterrichts kann Elisabeth Kolb in einem Vergleich kulturbezogener Inhalte in deutschen, französischen und schwedischen Fremdsprachendiskursen herauspräparieren – interessanterweise zeigt sich dabei, dass, bei aller Kritik 13 Ebd., S. 443. 14 Zu erwähnen sei zudem die vielfach als Forschungsmodell dienende Schrift zu den Anfängen des Englischlernens in Deutschland: Friederike Klippel: Englischlernen im 18. und 19. Jahrhundert: Die Geschichte der Lehrbücher und Unterrichtsmethoden. Münster 1994. Ein kurzer Überblick zur Geschichte des Englischunterrichts findet sich zudem bei der Publikation von zwei Fachdidaktikern, welche vielfach historisch geforscht und publiziert haben: Konrad Schröder und Thomas Finkenstaedt: Reallexikon der englischen Fachdidaktik. Darmstadt 1977. 15 Sabine Doff: Englischlernen zwischen Tradition und Innovation. Fremdsprachenunterricht für Mädchen im 19. Jahrhundert. München 2002 (Münchner Arbeiten zur FremdsprachenForschung, Bd. 5).

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Laurenz Volkmann

am gegenwärtigen Verlust bedeutsamer, klar umrissener Inhalte in sprachenpolitischen Dokumenten und Teilen der Fremdsprachendidaktik gerade der – auch historische Dimensionen beachtende – Aspekt der kulturellen Inhalte »besonders im deutschen Diskurs auftritt. Dies liegt [unter anderem] sicherlich daran, dass die Fremdsprachendidaktik in Deutschland bereits am längsten und stärksten institutionalisiert ist und dementsprechend auch der Gesamtumfang der Veröffentlichungen viel größer ist als in Schweden und Frankreich.«16 Wie sehr diese Ausrichtung inzwischen unter Druck geraten ist, soll im folgen Teil des Beitrags beschrieben werden.

2.

Kompetenzorientierung und Pragmatisierung: Das neue Paradigma

Es gehört mittlerweile zum Gemeinplatz der Kritik an der gegenwärtigen Kompetenz-, Output- und Standardisierungsorientierung sowie der Fokussierung auf »interkulturelle kommunikative Kompetenz«, dass mit diesem Paradigmenwechsel ästhetische und ethische Dimensionen des Fremdsprachenunterrichts auf dem Altar des Pragmatismus-Utilitarismus geopfert werden. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang nur auf die Tatsache, dass die literarischästhetische Bildung im politischen Kerndokument des modernen Fremdsprachenunterrichts, dem Europäischen Referenzrahmen für Sprachen (2001), nur in dürren Worten und in versteckten Passagen Eingang gefunden hat.17 Die Pragmatisierungstendenz lässt sich am anschaulichsten mit folgenden zwei Zitaten illustrieren, welche sich im ersten Fall auf die Praxis des Englischunterrichts beziehen, im zweiten Fall auf gegenwärtige Forschungstendenzen, welche mit dem Begriff des empirical turn am griffigsten gekennzeichnet sind. Zunächst eine gerne zitierte Passage der einflussreichen Pragmalinguistin und Fremdsprachenforscherin Juliane House, die in den 1990er Jahren, als Konzepte des interkulturellen Lernens sich breit machten, ein deutliches Signal gegen ein Wiedererstarken inhaltlicher Komponenten setzte: »What needs to be taught in view of students’ needs to hold their own in ELF [English as a Lingua Franca] talk, is less literature, less cultural studies in the traditional sense, less of a focus on so-called ›intercultural communication‹ in the humanistic and affective

16 Kolb (Anm. 5), S. 340. 17 Vgl. z. B. die Kritik bei Hermann Funk/Christina Kuhn: Der europäische Referenzrahmen für Sprachen und Profile Deutsch – ›McDonaldisierung‹ des Fremdsprachenunterrichts oder neue Qualität der Planung fremdsprachlichen Lehrens und Lernens? In: Klaus Petzold/ Volker Woest (Hrsg.): Leistung und Leistungsbewertung. Jena 2003, S. 187–201.

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sense […] and more intensive, more effective, more linguistically based ›ordinary‹ skill-based language teaching.«18

Flankiert wird dieser inzwischen gesteigerte Pragmatisierungsschub von einer veränderten Forschungslandschaft in der englischen Fachdidaktik, welche sich teilweise deutlich von hermeneutischen Traditionen abwendet und sich im Zuge des empirical turn zunehmend in Richtung einer datenbasierten Erforschung von Lehr-Lernsituationen entwickelt. Die Bezugswissenschaften sind nun nicht mehr die Fachwissenschaften der eigenen Sprache und Kulturen, nicht mehr die Geographie, die Geschichte oder Soziologie, sondern die Lernpsychologie sowie die empirische Bildungsforschung. Andreas Bonnet, ein prominenter Vertreter der Lehr-Lernforschung formuliert zu dieser neuen Richtung bei der Berücksichtigung quantitativ-hypothesenprüfender Verfahren wie folgt: »Die Fremdsprachendidaktik befindet sich auf dem Weg von einer vornehmlich normativen und deutlich philologisch-geisteswissenschaftlich geprägten zu einer immer stärker empirisch arbeitenden Disziplin. Indem dabei erziehungs-, kultur- und sozialwissenschaftliche sowie psychologische Theorien und Methoden eingeführt werden, wird aus der Fremdsprachendidaktik eine Fremdsprachenforschung als interdisziplinäres Forschungsfeld. […] Kerninteresse der Fremdsprachenforschung ist es, fremdsprachliche Lern- und Bildungsprozesse in institutionellen und nicht-institutionellen Zusammenhängen zu beschreiben und wenn möglich auch zu klären.«

Zwar zählt Bonnet zu den zu beforschenden Kompetenzen durchaus auch – unter anderem – die kulturelle Kompetenz, wendet sich hier aber dezidiert gegen den bisherigen »Schwerpunkt […] auf deklarativem Wissen«.19 Favorisiert werden dabei Kompetenzen wie »Strategien der Bedeutungsaushandlung, Ambiguitätstoleranz oder Perspektivübernahme«20 – es sind dies die Kernbegriffe des Gießener Projekts des »Fremdverstehens«, auf welche wir an späterer Stelle zurückkehren werden.21 Es bleibt vorläufig zu konstatieren, dass die gegenwärtigen Diskurse in Bildungspolitik, Lehrplänen, Lehrwerken und fachdidaktischen Veröffentlichungen eine pragmatische, kompetenzorientierte, tendenziell eher auf undefinierte Inhalte ausgerichtete Linie verfolgen. So erkennt Kolb 18 Juliane House. Misunderstanding in Intercultural Communication. Interactions in Englishas-lingua-franca and the Myth of Mutual Intelligibility. In: Claus Gnutzmann (Hrsg.): Teaching and Learning English as a Global Language. Native and Non-native Perspectives. Tübingen 1999, S. 73–93, hier S. 86. 19 Andreas Bonnet: Von der Rekonstruktion zur Integration: Wissenssoziologie und dokumentarische Methode in der Fremdsprachenforschung. In: Sabine Doff (Hrsg.): Fremdsprachenunterricht empirisch erforschen. Grundlagen – Methoden – Anwendungen. Tübingen 2012, S. 286–315, hier S. 287. 20 Ebd., S. 287. 21 Vgl. exemplarisch für diese hermeneutische Forschungsrichtung Lothar Bredella: Zur Dialektik von Eigenem und Fremdem beim interkulturellen Verstehen. In: Der fremdsprachliche Unterricht Englisch 5 (2001), S. 10–14.

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in einem Großteil der gegenwärtigen Publikationen in der Englischdidaktik die Tendenz, dass »kulturelle Inhalte keine oder nur eine minimale Rolle spielen«.22 Dem steht allerdings eine sich teilweise sehr explizit und wortgewaltig äußernde Gruppe von ForscherInnen entgegen, welche die Verflachung und Trivialisierung kultureller Inhalte in gegenwärtigen Unterrichtsmaterialien und Lehrbüchern beklagen und dies vor allem auf den Europäischen Referenzrahmen zurückführen, in dessen Zuge die im Referenzrahmen teilweise nur am Rande oder marginal aufgeführten soziokulturellen und interkulturellen Lernziele »nur noch der Dekoration [dienen]«.23 Während der inzwischen verstorbene Doyen der hermeneutisch ausgerichteten Literaturdidaktik Lothar Bredella als etablierter Vertreter einer Gegenposition auftritt, erstaunt es geradezu, dass Wolfgang Zydatiß, seines Zeichens empirischer Fremdsprachenforscher von erheblichem Renommee, die gegenwärtige Erosion von Bildungsinhalten beklagt und »eine geradezu erschütternde Trivialität der Themen und Inhalte« bei aktuellen Unterrichtsmaterialien und bei den in den Bildungsstandards der Länder genannten Themen erkennt: »Die Themen der Texte in den Standards sind ›generisch‹, austauschbar und ›dekontextualisiert‹, was ihre geographischen, historischen, sozialen oder gesellschaftlichen Koordinaten betrifft […]. Die Personen sind ›platt‹; die Zielsprache Englisch wird […] ihrer Kulturspezifik entleert […].«24

Das Schwinden von klarer umrissenen, tradierten und an die nächste Generation weiterzuvermittelnden Inhaltsbeständen – also in etwa das, was neben der Persönlichkeitsbildung und der Sozialisation im Geiste einer demokratischen Gesellschaft konventionell als wesentlicher Teil des schulischen Bildungsauftrags zu verstehen wäre – ist natürlich unmittelbar, wie in kommunizierenden Röhren, mit dem Aufwerten von Kompetenzen verbunden, also der »Kompetenzorientierung« der gegenwärtigen Bildungslandschaft. Gerade historisches Wissen erscheint dabei geradezu als überflüssiges Bildungsgut, wenn es nicht unmittelbar kompatibel mit den Kompetenzanforderungen des jeweiligen Bereichs ist, nämlich konkrete, variabel und komplex auftretende »Anforde22 Kolb (Anm. 5), S. 140. 23 Lothar Bredella: Lesen und Interpretieren im ›Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen‹. Die Missachtung allgemeiner Erziehungsziele. In: Karl-Richard Bausch u. a. (Hrsg): Der Gemeinsame europäische Referenzrahmen für Sprachen in der Diskussion. Arbeitspapiere der 22. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts. Tübingen 2003, S. 45–56, hier S. 55. 24 Wolfgang Zydatiß: Bildungsstandards für den Fremdsprachenunterricht in Deutschland. Eine hervorragende Idee wird katastrophal implementiert – oder : Von der Endkontrolle der Schüler zu strukturverbessernden Maßnahmen. In: Karl-Richard Bausch u. a. (Hrsg.): Bildungsstandards für den Fremdsprachenunterricht auf dem Prüfstand. Arbeitspapiere der 25. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts. Tübingen 2005, S. 272–281, hier S. 278.

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rungssituationen eines bestimmten Typs zu bewältigen«25. Für den Fall des Englischunterrichts bedeutet dies die flexible und situationsgerechte Bewältigung von fremdsprachlichen Kommunikationssituationen.26 Historisches Wissen gerät hier im Englischunterricht vor dem Hintergrund einer derart praktisch ausgerichteten Definition per se in den Verdacht, lediglich »träges«, deklaratives Wissen darzustellen. Um einige Beispiele zu nennen: Unnötig erschienen also demnach als isoliertes Faktenwissen abzulehnende Kenntnisse über die genaue Lebenszeit Shakespeares, die Zeit der amerikanischen Declaration of Independence oder in welchem Jahrzehnt Margaret Thatcher britische Premierministerin war ; gleichfalls eher träges Wissen wäre die Kenntnis darüber, welche Themen in Shakespeares Dramen behandelt werden, dass die Worte der Declaration of Independence nach wie vor nachhallen und dass Thatchers Neoliberalismus Großbritannien bis in die Jetztzeit hinein prägt. Denn nur und erst wenn dieses Wissen situativ, vernetzt, flexibel und situationsadäquat aktiviert und in Leistungen des Transfers und problemlösenden Denkens zum Einsatz kommt, erhält es das Prädikat des »prozeduralen Wissens« und damit die Erhebung zur Kompetenzdienlichkeit. Entsprechend wird in der Regel in den KMK-Standards und in den Lehrplänen der Bundesländer äußerst vage auf inhaltliche Themen eingegangen und mit Vokabeln wie »Orientierungswissen«, »Grundwissen«, »ausgewählte Informationen«27 operiert, oder mit der Worthülse »Weltwissen«. Ein Fazit, welches ich im Jahre 2010 zu den bildungspolitischen Dokumenten nach dem Europäischen Referenzrahmen für Sprachen zog, gilt nach wir vor und sogar verstärkt: »Das Thema Kultur oder Fremdkultur(en) erscheint aufgelöst in einem inhaltsentkernten, rein auf kommunikative Interaktion beschränkten Konzept von Sprachvermittlung. Jegliches abwägende oder gar wertende Verständnis von Kultur – schon gar von Hochkultur oder Bildung – erscheint mit dem vagen Begriff des ›deklarativen Weltwissens‹ eliminiert, welches ohne Konturen oder direkten Bezug auf historische Tradierung von Bildungsinhalten bleibt. Die Themen ›Kultur‹ oder ›Bildung‹ scheinen zum Trivial Pursuit- oder Who wants to be a millionaire-Faktenwissen zu gerinnen.«28

25 Eckhard Klieme u. a. (Hrsg.): Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards. Eine Expertise. Bonn 2003, S. 59. 26 Vgl. die eingehendere Definition von Skills und Kompetenzen bei Wolfgang Zydatiß: Kompetenzen und Fremdsprachenlernen. In: Wolfgang Hallet/Frank G. Königs (Hrsg.): Handbuch Fremdsprachendidaktik. Seelze 2010, S. 59–63, hier S. 59. 27 Zitiert nach Kolb (Anm. 5), S. 200. 28 Volkmann (Anm. 3), S. 9.

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3.

Von der Landeskunde zum inter- und transkulturellen Lernen

Für den Blick auf die Rolle der geschichtlichen Dimension bei der Auseinandersetzung mit den Zielkulturen des Englischunterrichts erscheint ein kurzer historischer Rückblick sinnvoll. Es geht dabei um die Entwicklung von der Landeskunde, die sich seit 1945 in Anlehnung an die »Kultur- und Völkerkunde« der Weimarer Republik etablierte, zu neueren Tendenzen einer inhaltsorientierten Fachdidaktik, welche starke Impulse aus den Cultural Studies und Kulturwissenschaften aufgreift.29 Bereits seit den 1970er Jahren stand die Landeskunde als Unterdisziplin anglistisch-amerikanistischer Studien und der Ausbildung zukünftiger Englischlehrkräfte in dem eher zweifelhaften Ruf, als eine relativ reflexionsfreie »Pseudowissenschaft« lediglich Faktenwissen zu vermitteln, lediglich Kontextwissen für Sprache und die Behandlung literarischer Texte zu liefern. Traditionelle Inhalte des Landeskundeunterrichts an Universität wie Schule (und dort primär im Oberstufenunterricht) bezogen sich bis in die 1980er und 1990er Jahre hinein auf ein Bündel von Themen, welche zentral auf die »Kernstaaten« Großbritannien und die USA zugeschnitten waren, mit gelegentlicher Berücksichtigung der Länder des Commonwealth. Dieses Themencluster beinhaltete dabei eher hochkulturelle Themen in den Gebieten von Kunst, Technik, Wissenschaft, Wirtschaft und Recht, Sozialstrukturen, politische Institutionen und Konventionen, Religionen und Weltbildern, Geografie und Regionalismen, Minoritäten und typischen Mentalitätsmustern. Es beinhaltete teilweise sehr ausführlich historische Aspekte, wie die geopolitische Lage der Zielkulturen, wichtige Etappen und Ereignisse der nationalen Entwicklung, Dynastien, Außenpolitik und bedeutende Persönlichkeiten. Auffallend ist ein gewisser Schwerpunkt, welcher in der Forschung meines Wissens allerdings nie eingehender untersucht wurde, in den historischen Bereichen der Demokratiebildung in den »Mutterländern« des Parlamentarismus, der Einwanderung und Besiedlung in den USA aus historischer Perspektive, der Geschichte der Afroamerikaner in den USA sowie bei historischen Aspekten der Industrialisierung und der Entwicklung vom British Empire zum Commonwealth. Interessant wäre hier sicherlich die Fragestellung, inwieweit diese präferierten Themencluster wie Demokratieentwicklung und parlamentarisches System gerade in der Nachkriegszeit von Lehrplanverantwortlichen als Mittel der politischen Bildung gewählt und eingesetzt wurden. Kritisiert wurde der Landeskundeunterricht als Vermittlungsinstanz für Baedeker-Wissen, welches der deutsche Gymnasialabgänger bei einem touristischen Kurzurlaub in London oder einer Bildungsreise nach Washington D.C.

29 Eingehender dargestellt bei ebd., S. 45–59, 193–206.

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benötige.30 Die Debatte um eine Abkehr vom Landeskundekonzept führte schließlich in den 1990er Jahren, vorangetrieben durch Theorien und Konzepte der Interkulturellen Kompetenz und den race, class and gender studies an Universitäten zu einem deutlich veränderten Verständnis von (Ziel-)Kultur im Sinne eines semiotischen Ansatzes, bei dem Alltagskultur, Populärkultur, Minoritätenkulturen sowie Normen, Regeln und Werte von Verhalten und Kommunikation in den Vordergrund gerieten. Zudem gelangten in Folge des postkolonialen Diskurses sukzessive weitere englischsprachige Kulturen wie Australien, Neuseeland, Südafrika, Indien, Jamaica usw. in das Blickfeld der Englischdidaktik, welche schließlich nach der Jahrtausendwende im Zeitalter der Globalisierung sich verstärkt transkulturellen und globalen Themengebieten zuwendet, als »pädagogische[…] Antwort auf Globalisierungsprozesse«.31 Als interdisziplinäres Projekt ist die global education in anglophonen Ländern seit etwa einer Generation wohl etabliert.32 Deutsche FremdsprachendidaktikerInnen betonen vor allem seine Wurzeln in anglophonen Richtungen der Friedenserziehung. Mit den global issues erscheint nun ein essenzielles Argument für einen inhaltlich und edukativ ausgerichteten Fremdsprachenunterricht gerade in der Auseinandersetzung mit der rein sprachlich-kommunikativ ausgerichteten Kompetenzorientierung gegeben. Wie Jancke und Surkamp betonen, ist globales Lernen beides: »Themenfeld und Unterrichtsprinzip«.33 Es wählt Schlüsselthemen der globalen Risikogesellschaft aus, die exemplarisch und unter Berücksichtigung ihrer Implikationen für die Lebenswelt der SchülerInnen behandelt werden. Der allen Richtungen der global education zugrunde liegende pädagogische Impetus wird im folgenden Zitat deutlich: »Der Ansatz ist insofern transformatorisch, als er auf persönliche und gesellschaftliche Veränderungen gerichtet ist und sich gegen wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Ungleichheiten sowie gegen strukturelle Gewalttätigkeiten auf allen Ebenen wendet […].«34 Wenn man sich die üblicherweise vorgeschlagenen global issues und transkulturellen Themengebieten und Lernzielen betrachtet,35 so ist unschwer zu erkennen, wie diesen eine historische Dimension anhaften kann: Es sind dies (1) Themen, die sich unmittelbar mit der Ausbreitung der englischen Sprache be30 Ebd., S. 48. 31 Marko Janke/Carola Surkamp: Global Education und der Film Hotel Rwanda: Neue Möglichkeiten für den neokommunikativen Fremdsprachenunterricht. In: Marcus Reinfried/ Laurenz Volkmann (Hrsg.): Medien im neokommunikativen Fremdsprachenunterricht. Frankfurt am Main 2012, S. 63–77, hier S. 64. 32 Vgl. Christiane Lütge (Hrsg.): Global Education: Perspectives for English Language Teaching. Münster 2015. 33 Janke/Surkamp (Anm. 31), S. 65. 34 Ebd. 35 Volkmann (Anm. 3), S. 195.

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fassen (Varietäten des Englischen, historische Ausbreitung des Englischen hin zur globalen Lingua franca), (2) Themen aus dem Bereich der kolonialen und postkolonialen Entwicklung von Gesellschafts- und Denkstrukturen wie beispielsweise historisch bedingte Ursachen von Alteritätszuweisung; (3) der große Themenkomplex von Multikulturalismus, Migrationsgesellschaften, Minoritäten und hybriden Identitäten; (4) Themen der interpersonalen Kommunikationsmuster, inklusive Höflichkeitsformen und Konversationsroutinen als Teil des Erlernens von interkultureller Kompetenz; (5) die Kernthemen der menschlichen Existenz aus den Bereichen Alltag, Gender, Erwachsenwerden, Umgang mit Technik und Medien usw.; (6) Themenbereiche, welche sich auf die »globale Risikogesellschaft« beziehen, wie Kulturkonflikte, Friedenserziehung, globaler Terrorismus, Ressourcen- und Reichtumsverteilung, Umwelterziehung usw. Selbstverständlich bleibt bei der Vielzahl der transkulturellen oder globalen Themengebiete eine gewisse Gefahr, dass Einzelthemen unverbunden nebeneinander stehen, nur oberflächlich Thema für Thema des Lehrplans abgearbeitet wird und vor allem die oftmals nötige historische und kontextuelle Einbettung der Themen zum Erreichen einer tiefendimensionalen Beschäftigung nicht genug zum Tragen kommt. Umso wichtiger erscheint es, dass bei der Behandlung globaler Themen mit dem Ziel, inter- und transkulturelle Kompetenzen zu fördern, stets berücksichtigt wird, wie historische Erfahrungen und Rahmungen Verstehens- und Kommunikationsprozesse mit beeinflussen. Deutlich wird dies in folgendem Beispiel: »[W]enn ein Franzose mit einem Algerier oder ein schwarzer Amerikaner mit einem WASP spricht, dann sind das nicht einfach zwei Personen, die miteinander reden, sondern, über sie vermittelt, die ganze Kolonialgeschichte oder die ganze Geschichte der ökonomischen, politischen und kulturellen Unterdrückung der Schwarzen […] in den Vereinigten Staaten.«36

4.

Kompetenzfelder für den fremdsprachlichen Geschichtsunterricht und den geschichtsorientierten Englischunterricht

Da Geschichte neben Erdkunde das am häufigsten bilingual unterrichtete Sachfach ist, erscheint es nur folgerichtig, dass dieser Beitrag mit der kurzen Erörterung einer Kernproblematik des bilingualen Geschichtsunterrichts endet – der Frage nach der Kompetenzentwicklung. Bekanntlich zeigen sich gerade 36 Georg Auernheimer: Interkulturelle Kompetenz revidiert. In: Heinz Antor (Hrsg.): Fremde Kulturen verstehen – fremde Kulturen lehren. Theorie und Praxis der Vermittlung interkultureller Kompetenz. Heidelberg 2007, S. 11–28, hier S. 20.

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Fremdsprachendidaktiker und -lehrkräfte mehrheitlich sehr aufgeschlossen gegenüber dieser Unterrichtsform und betonen vor allem den inzwischen empirisch belegten fremdsprachlichen »Mehrwert«. Zugleich herrscht in der fast ausschließlich von FremdsprachendidaktikerInnen geführten wissenschaftlichen Forschung zu CLIL durchgehend die Meinung vor, dass auch zumindest ein »Gleichwert« bezüglich der sachfachlichen Kompetenzen vorliege.37 Dies könne vor allem durch stärkere Visualisierungen, Scaffolding wie dem Vermitteln von Vokabeln und sprachlichen Strukturen, durch deep processing und die Fokussierung auf Kerninhalte bei »größerer Explizitheit, Klarheit und Kleinschrittigkeit«38 erreicht werden. GeschichtsdidaktikerInnen hingegen erscheinen dem bilingualen Geschichtsunterricht gegenüber eher »überwiegend skeptisch bis mühsam aufgeschlossen«.39 Ein Grund hierfür mag darin liegen, dass in der Regel in der Fremdsprachendidaktik entwickelte Kompetenzmodelle den CLILDiskurs beherrschen,40 ohne dass dabei spezifische Kompetenzdiskurse der jeweiligen Sachfachdidaktiken auch nur ansatzweise Berücksichtigung finden.41 Hier besteht aus meiner Sicht als Englischdidaktiker ein erheblicher Bedarf an selbstkritischer Reflexion meiner eigenen Zunft mit Bezug auf die Frage, ob hier nicht stillschweigend der Diskurs des eigenen Fachs zur Norm der notwendigerweise sehr pluralen Diskurse anderer Fächer gesetzt wird. Es verwundert nicht, wenn Geschichtslehrkräfte den bilingualen Sachfachunterricht als »verkappte[n] Sprachunterricht« begreifen, der von »fehlende[r] Problemorientierung« geprägt sei.42 In der Tat erscheint die gegenwärtige Fokussierung auf pragmatische Sprachkompetenzen in weiten Teilen der empirisch sich ausrichtenden Englischdidaktik wenig dazu geeignet, ein Vorbild für die Übernahme im Gebiet der 37 Vgl. Rolf Theis: Bilingualer Geschichtsunterricht. In: Sabine Doff (Hrsg.): Bilingualer Sachfachunterricht in der Sekundarstufe. Eine Einführung. Tübingen 2010, S. 44–57, hier S. 45. 38 Joachim Appel: Two for the price of one? Leise Zweifel am bilingualen Sachfachunterricht. Forum Sprache 6 (2011), S. 85–88, hier S. 86. 39 Vgl. Alexander Heimes: Geschichte. In Wolfgang Hallet/Frank G. Königs (Hrsg.): Handbuch Bilingualer Unterricht. Content and Language Integrated Learning. Seelze 2013, S. 345–352, hier S. 346. 40 Ebd. 41 Bisweilen wird geradezu eine Dienstleistungsfunktion beklagt, welche die Sachfachdidaktiken im BILI-Diskurs zugeordnet bekommen, wobei geschichtsdidaktische und geographiedidaktische Kategorien und Aspekte fehlen. Vgl. vor allem die kritische Studie von Wolfgang Hasberg: Historisches Lernen im bilingualen Geschichtsunterricht (?). In: Andreas Bonnet (Hrsg.): Didaktiken im Dialog. Konzepte des Lehrens und Wege des Lernens im bilingualen Sachfachunterricht. Zweite Bremer Tagung Bilingualer Sachfachunterricht im Frühjahr 2003 an der Universität Bremen. Frankfurt am Main 2004, S. 221–236. 42 Sylvia Semmet: Bilingualer Geschichtsunterricht – Verkappte Englischstunde oder zeitgemäßer Geschichtsunterricht. Geschichte für heute 3 (2010), H. 1, S. 5–11, hier S. 5.

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historischen oder geographischen Didaktikdiskurse zu liefern. Aus der Sicht eines Fachfremden, der allerdings selbst Geschichte studierte und unterrichtete, erscheint mir die Geschichtsdidaktik deutlich stärker als die Englischdidaktik gerade auf die Förderung kritisch-reflexiver Kompetenzen ausgerichtet zu sein. Bedeutsam wirkt dabei die in den Cultural Studies meines Fachs vielfach diskutierte Fragestellung, wie und zu welchem Zwecke »Geschichte als Repräsentation« – als mentales Konstrukt – kollektive und individuelle Sinnstiftung kreiert.43 Zur gegenwärtigen Kompetenzdiskussion möchte ich aus Sicht eines Englischdidaktikers zu dieser anhaltenden Diskussion insofern beitragen, als ich in den folgenden Passagen einige Kompetenzen formulieren möchte, welche die Disziplinen Englisch und Geschichte verbindet bzw. verbinden könnte.44 Dabei stellt dies eine insofern in etwa aufsteigende Taxonomie dar, als diese Kompetenzen zwar miteinander verknüpft und in Teilen kongruent sind, aber dennoch sukzessive einen höheren Grad an Problemorientierung und kritischem Urteilsvermögen anstreben, der zunehmend schwieriger in operationalisierbaren Kompetenzrastern abzubilden ist.

4.1

Text- und Medienkompetenz, insbesondere Genrekompetenz

Bei der Kompetenzentwicklung beider Fächer, Englisch und Geschichte, richtet sich die Aufmerksamkeit zunächst auf den Umgang mit Texten und Medien, wie sie von den Bildungsstandards für das Abitur (KMK 2012) im entsprechenden Kompetenzbereich definiert sind: »Text- und Medienkompetenz ermöglicht das Verstehen und Deuten von kontinuierlichen und diskontinuierlichen – auch audio-visuellen – Texten in ihren Bezügen und Voraussetzungen. Sie umfasst das Erkennen konventionalisierter, kulturspezifisch geprägter Charakteristika von Texten und Medien, die Verwendung dieser Charakteristika bei der Produktion eigener Texte sowie die Reflektion (!) des individuellen Rezeptions- und Produktionsprozesses.«45 43 Vgl. meinen Beitrag zur kulturtheoretischen Debatte mit Bezug auf »the uses of history«: Laurenz Volkmann: Reconstructing a Useable Past: The New Historicism and History. In: Rüdiger Ahrens /Laurenz Volkmann (Hrsg.): Why Literature Matters: Theories and Functions of Literature. Heidelberg 1996, S. 325–344. 44 Anders als im Fall des Europäischen Referenzrahmens für die Fremdsprachen fehlt es in der Geschichtsdidaktik an einer allseits anerkannten Definition und Skalierung historischer Kompetenzen, vgl. Susanne Staschen-Dielmann: Eine integrierte Beurteilung von fachspezifischen und fremdsprachlichen Kompetenzen: Vorschläge für die Leistungsfeststellung im bilingualen Geschichtsunterricht. In: Doff (Anm. 37), S. 228–239, hier speziell S. 228. 45 Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.): Bildungsstandards für die fortgeführte Fremdsprache (Englisch/ Französisch) für die Allgemeine Hochschulreife. (Beschluss der Kultusministerkonferenz

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Wenn zu dieser Definition noch die linguistischen und historischen Dimensionen der angesprochenen »Charakteristika« ergänzt werden, ergibt sich ein auf Rezeption und Produktion ausgerichtetes Kompetenzcluster, welches sich besonders in Form von Genrekompetenzen ausdrücken lässt. Hierauf wären Lehr-Lernprozesse zu richten, in welchen aus Sicht der Englischdidaktik jegliche Form von »kommunikativen Austauschformen als ›Text‹ mit einer identifizierbaren und erlernbaren generischen Form«46 zu verstehen wäre. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass jedes Genre, ob nun beispielsweise Film oder Gespräch, bestimmten Konventionen und kulturellen Skripten folgt, die analysiert, interpretiert und selbst angewendet werden können. Aus geschichtsdidaktischer Sicht wäre hier meines Erachtens der Blick eher darauf gerichtet, wie jedes Genre – sei es eine Kanzler-Depesche, sei es die Inauguralrede eines amerikanischen Präsidenten – durch seine jeweilige semantische und diskursive Verfasstheit eine bestimmte Sicht der Realität schafft und wie dies die Rezipientenhaltung heute und in der Vergangenheit affiziert. Damit einher geht die in der Geschichtsdidaktik wie in der Englischdidaktik stark betonte narrative Kompetenz.

4.2

Narrative und fiktionale Kompetenz

Narrative Kompetenz ist durchaus ein vielschichtiger Begriff, der in unterschiedlichen Fächern unterschiedlich definiert wird. Susanne Staschen-Dielmann erklärt die narrative Kompetenz zur essenziellen (bilingualen) »Brückenkompetenz«47 und beschreibt sie als »die erworbene und der lebenslangen Verfeinerung zugängliche Fähigkeit zur sinnbildenden Darstellung von Geschichte sowie die ›Fähigkeit zur Analyse und Beurteilung von historischen Narrationen‹, was in der Geschichtsdidaktik auch als ›reflektiertes historisches Erzählen‹ […] bezeichnet wird«.48 Ähnlichkeiten mit dem Begriff des »Geschichtsbewußtsein[s]«49 sind offenkundig. In der Fremdsprachendidaktik wird narrative Kompetenz, wie der synonyme Begriff erzählerische Kompetenz deutlich macht, häufig eher entweder als entwicklungspsychologischer Terminus verwendet zur Modellierung von Spracherwerbsphasen oder als Kompetenz begriffen, aus der Rezeption von Narrationen heraus sowohl die eigene

46 47 48 49

vom 18. 12. 2012), S. 23. (Online: http://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/veroeffentlichun gen_beschluesse/2012/2012_10_18-Bildungsstandards-Fortgef-FS-Abi.pdf, aufgerufen am 23. 02. 2016). Wolfgang Hallet: Genres im fremdsprachlichen und bilingualen Unterricht. Formen und Muster der sprachlichen Interaktion. Seeelze 2016, S. 9. Staschen-Dielmann (Anm. 44), S. 231. Ebd., S. 230. Sammet (Anm. 42), S. 7.

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Sprachaneignung voranzutreiben als auch die Welt erzählerisch zu modellieren.50 Gerade bei der Verwendung fiktionaler Texte kann dabei auch eine Art fiktionale oder mimetische Kompetenz anvisiert werden. Denn im Sinne der Emplotment-Theorien Hayden Whites51 können Schülerinnen und Schüler gerade mit Bezug auf Literatur und Filme dafür sensibilisiert werden zu erkennen, wie und mit welchen literarischen, rhetorischen und generischen Mitteln Texte eine bestimmte Form der Repräsentation von Realität vermitteln. Oder, mit Roland Barthes gesprochen, die Lernenden können erkennen, dass das Schaffen der Illusion von Authentizität unter Umständen stärker das Denken beeinflusst als die Existenz realer Dinge oder Ereignisse.52 Insofern ist der Begriff der narrativen Kompetenz ein höchst komplexer Terminus, der beispielweise aufzeigt, wie in verschiedenen Fachrichtungen unterschiedliche Akzente gesetzt werden.

4.3

Alteritätskompetenz und Fähigkeit zur Perspektivenkoordination

Neben der narrativen Kompetenz erscheint besonders die hier von mir als »Alteritätskompetenz« bezeichnete Fähigkeit und Fertigkeit der eingehenden Auseinandersetzung mit Fremdheit als eine Art Brückenkompetenz zwischen den Fächern Englisch und Geschichte erkennbar zu sein. Die Englischdidaktik hat den Begriff des »Fremdverstehens« insbesondere der hermeneutischen Tradition eines Hans-Georg Gadamers und der Pionierarbeit des Literaturdidaktikers Lothar Bredella zu verdanken. Bredella versteht interkulturelles Lernen als komplexen Austauschprozess – in Anlehnung an die dynamische Gadamersche »Horizontverschmelzung« zwischen Eigenem und Fremdem. »Intercultural understanding then implies that we become aware of the underlying value system of the foreign culture and learn to understand why the people in the foreign culture act as they do. This further implies that we resist the tendency to perceive and interpret the opinions and behaviour of other people by using our own cultural frame of reference.«53

Lothar Bredella hebt hier – repräsentativ für weite Teile der Forschung zum Thema – zwei aufeinander bezogene Elemente des Fremdverstehens hervor : 50 Vgl. den Überblick bei Hannah Ruhm: Narrative Kompetenz in der Fremdsprache Englisch: Eine empirische Studie zur Ausprägung mündlicher Erzählfertigkeiten am Ende der Sekundarstufe I. Frankfurt am Main 2014 (Fremdsprachendidaktik inhalts- und lernorientiert, Bd. 27). 51 Vgl. Anm. 10. 52 Roland Barthes: Mythen des Alltags. Frankfurt am Main 1964. 53 Lothar Bredella: Intercultural Understanding – AThreatening or a Liberating Experience. In: Michael Legutke (Hrsg.): American Studies in the Language Classroom: Intercultural Learning and Taskbased Approaches. Fuldatal/Gießen 1986, S. 5–15, hier S. 5.

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(1) Fremdverstehen stellt sich dar als Versuch, die Fremdkultur aus sich selbst heraus zu verstehen und dabei den Bezug auf die eigene Kultur so weit wie möglich auszublenden. (2) Zugleich ist das Fremdverstehen ein Bemühen darum, die fremde Kultur nicht interpretierend oder bewertend zu begreifen. Wenn dies geschieht, dann nach den Maßstäben, welche diese Kultur selbst liefert, und eben nicht bezogen auf die eigenen kulturellen Normen und Standards. Wenn dabei der Begriff des sprachlichen oder kulturell Fremden durch den des historisch Fremden ergänzt wird, erhält der (bilinguale) Geschichtsunterricht wichtige Impulse. Denn spezifisches Moment des bilingualen Geschichtsunterrichts ist die Perspektivierung verschiedener Blickwinkel. Fokussiert werden Außenblicke auf die deutsche Geschichte, die Binnenperspektive auf Aspekte englischsprechender Staaten, die Einschätzung international bedeutsamer Perioden oder Entwicklungen aus verschiedenen Blickwinkeln, auch aus der Fremdperspektive einer Quelle aus dem angelsächsischen Bereich.54 Besonders hervorzuheben ist dabei die multiperspektivische Einschätzung eines bestimmten Ereignisses durch jeweils unterschiedlich national eingefärbte Sichtweisen (beispielsweise bezüglich der Fragestellung, warum der Ausbruch des Ersten Weltkriegs in zahlreichen Hundertjahrfeiern zum Great War in Großbritannien 2014 regelrecht zelebriert wurde und warum deutsche Erinnerungsveranstaltungen eher von zurückhaltender Stimmung gekennzeichnet waren).55 Dabei erfordert der Ansatz des Fremdverstehens mit seinem Dreierschritt von Perspektivenwechsel, Perspektivenübernahme und Perspektivenkoordination einen komplexen hermeneutischen Prozess, bei dem es zentral um die Aushandlung von Bedeutung geht. Zu dieser Aushandlung von Bedeutung gehört zuletzt auch die im geschichtsdidaktischen Diskurs fokussierte »Beurteilungskompetenz«,56 gerade in der Begegnung mit dem kulturell oder historisch Anderen.

4.4

Kritisch-reflexive und ideologiekritische Kompetenzen

In weit stärkerem Maße als in der Englischdidaktik hat sich aus meiner Sicht die Geschichtsdidaktik eine kritisch-reflexive Dimension bei der Formulierung von zentralen fachlichen Zielsetzungen bewahrt. Unter kritisch-reflexiver Kompetenz verstehe ich hierbei die Fähigkeit, mit den Lerngegenständen kritisch 54 Theis (Anm. 33), S. 49. 55 Vgl. das vorgeschlagene Unterrichtsprojekt in Grimm/Meyer/Volkmann (Anm. 10), S. 77. 56 Jan Philipp Reemtsma: ›Wie hätte ich mich verhalten?‹ und andere nicht nur deutsche Fragen. Reden und Aufsätze. München 2001, S. 11.

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umzugehen, sie daraufhin zu hinterfragen, welches Menschenbild sie tragen, welche Rezeptions- und Produktionsreaktionen sie implizieren, welche ideologischen Subtexte bei den Prozessen der Sinnkonstitution mitschwingen. Damit einhergehen Ideale des mündigen, emanzipierten, kritischen Lernenden als aktiver Teilnehmer oder aktive Teilnehmerin einer demokratisch verfassten Gemeinschaft. Dies kann durchaus als Teil einer ideologiekritischen Position verstanden werden – in der Tradition von Horkheimer und Adorno, aber auch der Cultural Studies –,57 der gemäß der kritisch-reflexive Geist erkennt und aufdeckt, welche Mechanismen der Manipulation durch dominante oder repressive Strukturen die freie Entfaltung der Persönlichkeit und ihrer Gemeinschaft einschränken oder unterdrücken. Auch ohne eine derartige, den bildungspolitischen Auftrag des Unterrichts beachtende Rahmung bleibt aus meiner Sicht ein Fazit dieses Beitrags zu historischen Aspekten und Dimensionen des Englischunterrichts: Es gilt deutlich zu überlegen, inwiefern die bisher eher einseitig ausgerichtete Diskursführung von der Englischdidaktik zur (bilingualen) Geschichtsdidaktik nicht dringend einer Ausbalancierung bedarf. Die von den GeschichtsdidaktikerInnen besonders betonten Zielkompetenzen der narrativen bzw. reflexiven Kompetenzen scheinen mir dies sehr nahe zu legen.

57 Vgl. Doris Teske: Cultural Studies: Key Issues and Approaches. In: Werner Delanoy/Laurenz Volkmann (Hrsg.): Cultural Studies in the EFL Classroom. Heidelberg 2006, S. 23–33.

Carolin Führer

Herausforderungen historischen Lernens in der Literaturdidaktik – Empirische und theoretische Perspektiven auf (kultur-)historischen Literaturunterricht

Die Erkenntnis, dass Medien mit einem hohen Fiktionalitätsanteil wie Literatur und Film unsere (Re-)Konstruktionen zur Geschichte beeinflussen, besonders und gerade auch in Hinblick auf das biografische Erinnern von Vergangenheit1, gehört inzwischen zum geschichtswissenschaftlichen Common Sense. Daher wird die Vermittlung eines reflektierten Geschichtsbewusstseins, das die Historizität der Geschichtsschreibung selbst auf einer Metaebene im Unterricht thematisiert und die lebensgeschichtlichen sowie sozialen Bezugsrahmen und Orientierungsbedürfnisse der Schülerinnen und Schüler in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit reflektiert, immer deutlicher als wichtige Zieldimension des Geschichtsunterrichts konzeptualisiert.2 Während die Hybridisierung von Faktualität und Fiktionalität also das Selbstverständnis der Geschichtswissenschaft und -didaktik spätestens seit der Verbreitung von Hayden Whites Arbeiten grundlegend verändert hat3, bleibt ein traditionell geschichtlich fundierter Literaturunterricht demgegenüber paradoxer Weise nach wie vor einem Geschichtsverständnis verhaftet, in dessen Rahmen die Vermittlung von als vermeintlich gesichert angesehenen historischen »Fakten« und Epochenkonzepten im Vordergrund steht.4 Einerseits erhofft man sich durch die Erar1 Vgl. Sam Wineburg: Historical Thinking and Other Unnatural Acts. Charting the Future of Teaching the Past. Philadelphia 2001; Harald Welzer/Sabine Moller/Karoline Tschuggnall: »Opa war kein Nazi«. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Frankfurt a.M. 2002. 2 Vgl. Waltraud Schreiber u. a. (Hrsg.): Historisches Denken. Ein Kompetenz-Struktur-Modell. Neuried 2006; Waltraud Schreiber/Andreas Körber/Alexander Schöner (Hrsg.): Kompetenzen historischen Denkens. Ein Struktur-Modell als Beitrag zur Kompetenzorientierung in der Geschichtsdidaktik. Neuried 2007. 3 Vgl. Hayden White: Metahistory : die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa. Frankfurt a. M. 1991; Hayden White: Das Problem der Erzählung in der modernen Geschichtstheorie. In: Pietro Rossi (Hrsg.): Theorie der modernen Geschichtsschreibung. Frankfurt a. M. 1987. 4 Vgl. Maximilian Nutz: Epochenbilder in Schülerköpfen? Zur Didaktik und Methodik der Literaturgeschichte zwischen kulturellem Gedächtnis und postmoderner Konstruktion. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 49 (2002), H. 3, S. 330–346.

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beitung eines (historischen) Vorwissens im Literaturunterricht, den Schülerinnen und Schülern einen soliden Orientierungsrahmen zum (Text-)Verstehen eröffnen zu können. Andererseits läuft die literaturunterrichtliche Vermittlung von Geschichtskenntnissen Gefahr – gerade auch im Rahmen der Beschäftigung mit literarischen Werken, die inhaltliche historische Bezüge aufweisen – als Selbstzweck verstanden zu werden. Romane wie Malka Mai (Mirjam Pressler 2001) oder Der Junge im gestreiften Pyjama (John Boyne 2007) können Kenntnisse über die Zeit des Nationalsozialismus vermitteln, das literarische Lernpotenzial der Werke tritt dann hinter ein geschichtliches Lernen zurück – ein Zustand, der besonders von Seiten der Kinder- und Jugendliteraturforschung immer wieder kritisiert wird.5 Ein solcher Literaturunterricht steht damit diametral zu den Bestrebungen der aktuellen Geschichtsdidaktik, die um die Vermittlung eines grundlegenden Verständnisses der Fiktionalisierung von Geschichte und Erinnern bemüht ist. Diese Differenz bricht dann besonders auf, wenn im Literaturunterricht über die mangelnde Kenntnis der »historischen Fakten« geklagt wird, während Geschichtslehrerinnen und Geschichtslehrer mit einem quellen- und methodenorientierten Vorgehen um die Entfaltung einer narrativen (historischen) Kompetenz ringen6, eine Kompetenz, die man zunächst eher dem Deutschunterricht zuordnen würde. Mit der Ausdifferenzierung zur »Medien- und Wissensgesellschaft« wird zudem aufgrund sich ständig wandelnder Formate und Genres das Verhältnis von historischer Authentizität, Realität, Abbildbarkeit und Fiktion immer weniger (eindeutig) bestimmbar, was zur Folge hat, dass die Annäherung von faktualem und fiktionalem Erzählen über Vergangenheit inzwischen einen neuen Höhepunkt erreicht hat. Daher stellt sich die Frage, wie historisches Lernen in der aktuellen literaturunterrichtlichen Praxis verankert ist, welche Funktion die Kompetenzmodellierung in den beiden Fachdidaktiken hierbei einnimmt und welche fachdi5 Fiktionale Texte über die Vergangenheit würden so als »Themenlieferanten« instrumentalisiert: Dass im Unterricht behandelte Jugendbuch »zum Dritten Reich« wird gelesen, gesprochen wird dann aber allgemein über das Leben in der NS-Zeit oder die Politik in der Diktatur (vgl. zur themenorientierten Lektüreauswahl allgemein Gina Weinkauff/Gabriele von Glasenapp: Kinder- und Jugendliteratur. Paderborn 2010, S. 237). Von Glasenapp betont darüber hinaus, dass speziell der historischen Kinder- und Jugendliteratur oft ein stark wissensvermittelnder, aufklärerischer Charakter eingeschrieben sei, auf den hin von Seiten der Vermittler dann auch explizit ausgewählt werde. Vgl. Gabriele von Glasenapp: Geschichtliche und zeitgeschichtliche Kinder- und Jugendliteratur. In: Günter Lange (Hrsg.): Kinder- und Jugendliteratur der Gegenwart. Ein Handbuch. Baltmannsweiler 2012, S. 269–289, hier S. 287. 6 Zur Konstruktion von Geschichte vgl. grundlegend Michele Barricelli: Schüler erzählen Geschichte. Narrative Kompetenz im Geschichtsunterricht. 3. Aufl. Schwalbach/Ts. 2008 (Forum historisches Lernen).

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daktischen Positionen es derzeit zum historischen Lernen im Literaturunterricht gibt. Der vorliegende Beitrag geht auf diese Fragen ein, indem in einem ersten Teil empirische Beobachtungen aus einer Interviewstudie mit Deutschlehrerinnen und Deutschlehrern in den neuen Bundesländern rekonstruiert werden, wobei an dieser Stelle nur Signifikanzen herausgestellt, nicht jedoch das Design der Studie und deren Ergebnisse umfassend dargestellt werden können. In einem zweiten Teil werden theoretische Modellierungen der Literaturdidaktik diskutiert, wobei sich folgende Aspekte bezüglich der Auseinandersetzung mit historischem Lernen im Fachdiskurs als relevant erwiesen haben: Erstens die Frage, inwiefern der Anspruch der Kompetenzorientierung, auf andere Bereiche transferierbar zu sein, tatsächlich einzulösen ist; zweitens die Frage nach dem Verhältnis von (historischem) Wissen und literarischem Verstehen und drittens die Frage nach den übergeordneten (gesellschaftlichen) Zielen und Funktionen historischen Lernens im Literaturunterricht. Zum Abschluss sollen daraus offene Fragen der literaturdidaktischen Diskussion mit Blick auf das Thema umrissen sowie mögliche Perspektiven für historisches Lernen und Erinnern im Literaturunterricht entwickelt werden.

1.

Empirische Perspektiven auf historisches Lernen im Literaturunterricht Ostdeutschlands

Dass in der Unterrichtspraxis sich in Abhängigkeit von der Lehrperson sehr unterschiedliche Praktiken und Muster historischen Lernens im Literaturunterricht ausbilden können, scheint evident zu sein. Die konkrete Modellierung des Unterrichts ist dabei in besonderer Weise abhängig davon, wie gesellschaftlich forcierte Paradigmenwechsel im Literaturunterricht durch Sozialisation, Biografie und Mentalität der Lehrenden geformt und verarbeitet werden. Dies lässt sich am Beispiel einer Interviewstudie in Ostdeutschland zeigen, in dessen Vergangenheit historisches Lernen in Literaturdidaktik und -unterricht eine bedeutsame (ideologische) Rolle gespielt hatte.7 In dieser Interviewstudie mit Deutschlehrerinnen und -lehrern konnte in der Rekonstruktion von Typen gezeigt werden, dass die Einbettung historischen Lernens im Literaturunterricht zwar über politische und/oder gesellschaftliche Veränderungen determiniert wird, viel entscheidender für die Gestaltung der Unterrichtspraxis scheinen jedoch der typenspezifische Habitus und die indi-

7 Vgl. Carolin Führer : Transformationen des Deutschunterrichtes. Interviewstudien zu Selbstkonzepten, Kultur- und Geschichtsbewusstsein in Ostdeutschland. Wiesbaden 2013.

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viduelle Einstellung der Lehrenden gegenüber den gesetzlichen Rahmenbedingungen und Zielen zu sein.8 In der typologischen Auswertung des Interviewmaterials wurde auch deutlich, dass es nicht nur in der Vergangenheit des Deutschunterrichts eine Vielzahl misslicher Versuche zu verzeichnen gab, historisches Orientierungswissen interpretierend auf Texte und Medien zu beziehen.9 Auch und gerade nach 1990 kam es mit dem Wegfall der Deutungsparadigmen des historischen Materialismus in den neuen Bundesländern zu Inkonsistenzen historischen Lernens,10 die nicht als eine Etablierung einer demokratischen und/oder pädagogischen Vielfalt nach 1990 gewertet werden können. Entgegen aller Polemik11 änderten sich die Zielsetzungen »Historischen Verstehens und Lernens« im Literaturunterricht relativ schnell, nach 1993/94 mit der Einführung der neuen Schulformen und der neuen Lehrpläne aus Sicht der Befragten geradezu radikal. Die jeweiligen Unterrichtskonzeptionen formierten sich dann sukzessive in einem Kontinuum von Auseinandersetzung mit Historie als (kollektiver) Erinnerungskultur bis hin zu historischem Verstehen als geschichtswissenschaftlichem Erkenntnis- und Reflexionsprozess. Ein Teil der interviewten Lehrerinnen und Lehrer unterschied hier kaum und begegnete daher unterschiedlichen Narrativen zur Vergangenheit mit den gleichen Unterrichtskulturen. In dieser Befragtengruppe wird historisches Lernen im Deutschunterricht, wenn es überhaupt noch Platz findet, beschränkt auf ältere Literatur, die ohne intendierte historische Bezugnahmen gleichsam automatisch auf Geschichte rekurriert (da ihre Gegenstände per se der Vergangenheit entspringen).12 Zu diesen Texten dominieren dann in der Praxis Unterrichtsverfahren, die Literatur zum »Zeitkolorit« oder zur Manifestation von Historie machen. Nach wie vor besteht hierbei die große Gefahr, dass vereinfachende Geschichtsbilder im Literaturunterricht 8 Die rekonstruierten Typen aus der Studie lauten: optional-integrierend (Typ I), periphersensibilisiert (Typ II) und dominant-rekonstruierend (Typ III), vgl. ebd., S. 252–269. 9 Vgl. Maximilian Nutz: Historisches Verstehen durch Literaturgeschichte? Plädoyer für eine reflektierte Erinnerungsarbeit. In: Didaktik Deutsch 3 (1997), H. 2, S. 35–53; Jörn Brüggemann: Literarizität und Geschichte als literaturdidaktisches Problem. Eine Studie am Beispiel des Mittelalters. Frankfurt a. M. 2008 (Beiträge zur Geschichte des Deutschunterrichts, Bd. 62). 10 Dies gilt v. a. für das Fach Deutsch, welches zunächst nicht derart dringender Reformen bedurfte wie beispielsweise der Geschichtsunterricht, weshalb die Frage nach einer gelungenen Neustrukturierung hier nicht explizit gestellt bzw. auf die Beseitigung offensichtlich weltanschaulich-ideologischer Elemente im Lehrplan beschränkt wurde. Vgl. Dorit Stenke: Transformationen von Schulsystemen am Beispiel des Freistaates Sachsen. Mainz 2006, S. 18. 11 In öffentlichen Debatten kam nach der politischen Wiedervereinigung immer wieder die Frage auf, wie der Umbruch zu einer demokratischen Unterrichtskultur in Ostdeutschland mit einer fast vollständig übernommenen Lehrerschaft bewältigt werden könne. 12 Vgl. Tilman von Brandt: Historisches Lernen im Deutschunterricht (Basisartikel). In: Praxis Deutsch 259 (2016). i.V.

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vermittelt werden. So ergibt sich in Hinblick auf Literaturgeschichte das Problem, dass einzelnen Epochen Bestände an Merkmalen zugewiesen werden, die es dann auf einzelne Werke zu übertragen gilt. Nicht selten führt dies dazu, dass schematische Zuweisungen vorgenommen werden, die nicht oder nur bedingt zutreffen, so dass sie im schlimmsten Fall das Textverständnis eher behindern als befördern.13 Eine weitere Gruppe der Befragten ergänzte das Spektrum explizit auch um (aktuelle) literarische Werke sowie um ältere Literatur mit historischen Bezügen. Die Auswahl wurde hierbei jedoch zumeist auf Bestandteile beschränkt, die in der Erinnerungskultur als authentisch und passförmig zur jeweiligen Zeitdimension erschienen, das heißt, es wurden historische Meistererzählungen14 fokussiert. Ein anderer Teil der Befragten war hingegen darum bemüht, die Differenz von »memory« und »history« aufzulösen, indem im Deutschunterricht historische Komplexitäten bewusst gemacht, bei Schülerinnen und Schülern eine hinreichende Distanz hergestellt und historische Multiperspektivität fokussiert werden sollten. Unterrichtlich inszenierte Rituale, welche Schülerinnen und Schüler dazu befähigen sollten, Medienprodukten nicht blind Glauben zu schenken, untermauern derartige Positionen. An dieser Stelle erweist sich der methodenund quellenorientierte Geschichtsunterricht, den die neuen Bundesländer in den 1990er Jahren für sich entdeckt hatten und aus dem oftmals eine (ideologie-)kritische deutschdidaktische Konzeption abgeleitet wurde, als besonders verheerend. In diesem Konzept konzentrierte man sich aus der Erfahrung der Ideologisierung in der DDR zunächst auf die Dichotomie von »Faktizität und Fiktion« in historischen Narrativen, was zu gravierenden Defiziten im Umgang

13 So auch: Ulf Abraham: Lesarten – Schreibarten. Stuttgart 1994; Ricarda Freudenberg: Wer mehr weiß, ist klar im Vorteil? Der Einfluss domänen-spezifischen Vorwissens auf das Erschließen literarischer Texte. In: Irene Pieper/Dorothee Wieser (Hrsg.): Fachliches Wissen und literarisches verstehen. Studien zu einer brisanten Relation. Frankfurt a. M. u. a. 2012, S. 259–273; Kaspar H. Spinner: Wie Fachwissen das literarische Verstehen stört und fördert. In: Irene Pieper/Dorothee Wieser (Hrsg.): Fachliches Wissen und literarisches verstehen. Studien zu einer brisanten Relation. Frankfurt a. M. u. a. 2012, S. 53–69; Julia Knopf: Literaturbegegnung in der Schule. Eine kritisch-empirische Studie zu literarisch-ästhetischen Rezeptionsweisen in Kindergarten, Grundschule und Gymnasium. München 2009. 14 Historische Meistererzählungen nennt man historische Großdeutungen, die für eine bestimmte Zeit oder eine bestimmte historische Erzählperspektive leitend werden. Vgl. Konrad H. Jarausch/Martin Sabrow (Hrsg.): Die historische Meistererzählung. Deutungslinien der deutschen Nationalgeschichte nach 1945. Göttingen 2002. Für zeitgeschichtliche Literatur zur DDR bedeutet das beispielsweise, dass nur Aspekte, die nicht unter die Stichworte »Unterdrückungs- und Überwachungsstaat«, »Einengung individueller Freiheiten« etc. subsumiert werden können, im Unterricht Berücksichtigung finden.

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mit Geschichte führte.15 Diese bestehen u. a. in der Vernachlässigung des historischen Wissens, einer historischen Orientierungs- und Wertungskompetenz sowie der emotionalen Beteiligung – aus Sicht vieler Befragter Aspekte, die für die deutschunterrichtliche Aufarbeitung von Vergangenheit in der DDR kennzeichnend waren und die nach 1990 in Abgrenzung zum Unterricht in der Diktatur stark in den Hintergrund rückten. Im Hinblick auf die Medienentwicklung dürfte die Unterscheidung von Realitäts- und Fiktionalitätsanteilen in der deutschunterrichtlichen Auseinandersetzung mit Vergangenem perspektivisch zu strukturellen Problemen führen, da sie der geschichtskulturellen Sozialisation heutiger Schülergenerationen kaum noch gerecht wird: Zum einen hinterlässt ein historisches Lernen, welches Informationstransfer, Textverstehens- und Identitätsprozesse zentrifugiert, weiße Flecken in der Kompetenzmodellierung, da es diese Dimensionen nicht ausreichend miteinander vernetzt bzw. zusammen denkt. Zum anderen werden Strategien kritischen Lesens (aus dem Printmedienbereich), die weitestgehend noch im Unterricht der Interviewten vermittelt werden16, für die Auseinandersetzung mit Historie in mediendominierten Gesellschaften funktionslos, wenn nicht gar dysfunktional.17 Denn das Kritikparadigma (ähnlich der Kultur des kritischen Lesens in der Literaturdidaktik)18 blendet eine für Mediengesellschaften entscheidende Komponente historischen Lernens aus: Wenn Schülerinnen und Schüler Zusammenhänge nach der Dichotomie »fiktiv/faktual bzw. real« beurteilen, haben sie damit noch keine Handlungseinstellung gewonnen und zudem kann die Frage nach Realitäts- und Fiktionalitätsgehalt im medialen Kontext immer schlechter beantwortet werden. Eine Rezeptionsdiskreditierung von Fiktionalem im Zusammenhang mit Historie scheint ebenso wenig angemessen wie möglich zu sein. Viel bedeutsamer als die derzeit (von den Interviewpartnern) betriebene Reflexion der Kategorien »realitätsnah oder fiktiv« erscheint es 15 Vgl. Bodo von Borries: Nicht-nur-kognitive Motive des Geschichtsumgangs als Chancen des Literaturunterrichts? In: Der Deutschunterricht 6 (2003), S. 12–22. 16 Quantitative Bestätigung findet diese These bereits in empirischen Studien von Margrit Schreier/Markus Appel: Realitäts-Fiktions-Unterscheidungen als Aspekt einer kritischkonstruktiven Mediennutzungskompetenz. In: Bettina Hurrelmann/Norbert Groeben (Hrsg.): Medienkompetenz. Voraussetzungen, Dimensionen, Funktionen. Weinheim/München 2002, S. 231–254, hier S. 239. 17 Selbst wenn die Dichotomie real – virtuell (medial) bei den Befragten immer weniger als Gegensatz zur Bestimmung von Realität und Fiktion fungiert (was angesichts der Bedeutung der »virtuellen Welt« für die heutige Realität außer Frage stehen sollte), kann der Realitätsgehalt in den Medien selbst schon lange nicht mehr über die von den Befragten genannten kritischen (buchorientierten) Strategien wie Autor, paratextuelle Merkmale (Gattungsbezeichnungen etc.) usw. entschieden werden. 18 Zwischen 1971 und 1978 erscheinen zwölf Bände von Vertretern des Kritischen Lesens im »projekt deutschunterricht« (zuerst Heinz Ide (Hrsg.): Kritisches Lesen. Märchen, Sage, Fabel, Volksbuch. Stuttgart 1971).

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daher, Fragen nach Bewältigungsstrategien19 und nach seitens der Deutschdidaktik bereits eingeforderter kultureller Handlungsfähigkeit20 auf historisches Lernen in medialen Kontexten zu übertragen. Neben einem ausdifferenzierten Sortiermechanismus zu Realitäts- und/oder Fiktionalitätsanteilen historischer Narrative, speziell in verschiedenen Medienformtaten, lernen Schüler in dieser Zielperspektive, individuelle und kollektive Rezeptionsbedürfnisse jeweils identitätsstützend flexibel zu gestalten, zu steuern und vor dem eigenen kulturellen Hintergrund zu reflektieren. Der von den Befragten konstatierte radikale Wandel historischen Lernens ist insgesamt vor allem in Hinblick auf das Geschichtsbewusstsein der Lehrkräfte festzustellen. Denn den Interviewten wurde verstärkt die Transformativität historischer Narrative bewusst, was zur Entwicklung einer professionellen Reflexionskompetenz im Umgang mit gesetzlichen Rahmenbestimmungen beigetragen hat. Folgt man den Aussagen der Befragten, fehlen jedoch sowohl seitens der Literaturdidaktik als auch in den konkreten eigenen Entwürfen weiterhin nach wie vor Konzepte zu historischem Lernen, die explizit Lernbereiche des Geschichtsunterrichtes aussparen: Es finden sich unter den befragten ostdeutschen Lehrkräften keine oder kaum Aussagen zu historischen Aspekten wie Sprachgeschichte, ästhetische Geschichte, interkulturelle Geschichte(n)21, Mediengeschichte.

2.

Theoretische Perspektiven der Literaturdidaktik zu historischem Lernen

2.1.

Literaturdidaktische Perspektiven auf historische Kompetenzmodellierungen

Nachdem im vorhergehenden Kapitel ein Blick auf die Mikroebene des Literaturunterrichtes geworfen wurde, soll in den folgenden Ausführungen beleuchtet werden, welche fachdidaktischen Tendenzen es in der Kompetenzmodellierung der beiden Fächer gibt, bzw. welche literaturdidaktischen Bezugspunkte sich in den Kompetenzmodellierungen der Geschichtsdidaktik aufspüren lassen. Grundlegend lässt sich feststellen, dass trotz des Anspruches der Kompetenzorientierung, auf andere Bereiche transferierbar zu sein, es im Hinblick auf 19 Ähnlich auch Schreier/Appel (Anm. 16), S. 231–254. 20 Vgl. Volker Frederking/ Axel Krommer/ Klaus Maiwald: Mediendidaktik Deutsch. Eine Einführung. Berlin 2012. 21 Interkulturelle Geschichte(n) würde hier sowohl eine literarischen Komparatistik zu historischen Epochen als auch inhaltliche (historische) Bezüge in unterschiedlichen Literaturen umschließen.

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Historie zwischen den unterschiedlichen Fachdidaktiken bisher kaum einen Austausch gegeben hat. Dies hängt grundlegend auch damit zusammen, dass innerhalb der Literaturdidaktik Positionen vertreten werden, die einer differenzierten Kompetenzmodellierung im Bereich des literarischen Lernens kritisch gegenüberstehen.22 Fingerhut unterscheidet beispielsweise den Teilbereich der Lesekompetenz, sich in eine fiktive oder vergangene Welt zu versetzen (literarische Rezeptionskompetenz) von dem Aspekt der Lesekompetenz, erworbenes Wissen zur Problemlösung zu nutzen (Lesekompetenz nach PISA). Nach Fingerhut ist die Vorstellung, ersterer Aspekt lasse sich in einem umfassenden Kompetenzmodell erfassen »Wunschdenken der Modellbauer«. Daraus ergibt sich für ihn, dass man »sich intensiver hermeneutischer Traditionen des Faches auch bei der Leistungsfeststellung bedienen sollte.«23 Es gibt andere Stimmen in der empirisch (quantitativ) fundierten Literaturdidaktik, die dafür plädieren, zwischen literarischem Textverstehen und Lesekompetenz im Sinne von PISA zu differenzieren und diese in Kompetenzen zu modellieren, selbst wenn beim Leseverstehen ausschließlich literarische Stimuli einbezogen würden.24 In der Geschichtsdidaktik werden im Rahmen der Kompetenzorientierung narrative Kompetenzen, also Fähigkeiten, Geschichte denken und erzählen zu können, als grundlegende Kompetenzen historischen Denkens benannt.25 Nach Pandel drückt narrative Kompetenz die Fähigkeit aus, aus zeitdifferenten Ereignissen durch Sinnbildung eine Geschichte herzustellen.26 Die Nähe dieses Narrationskonzeptes zur Literaturdidaktik ist offensichtlich, weshalb ich mich an dieser Stelle in einer vergleichenden Gegenüberstellung auf Pandels Modell27 konzentrieren möchte um – trotz der innerdisziplinären Be-

22 Stellvertretend hierfür Kaspar H. Spinner : Der standardisierte Schüler. In: Didaktik Deutsch 18 (2005), S. 4–13. 23 Karlheinz Fingerhut: Literaturunterricht über Kompetenzmodelle organisieren? Zu Gedichten von Schiller und Eichendorf (9./10. Schuljahr). In: Clemens Kammler (Hrsg.): Literarische Kompetenzen – Standards im Literaturunterricht. Seelze 2006, S. 134–157, hier S. 154. 24 Vgl. Volker Frederking/Thorsten Roick/Lydia Steinhauer: Literarästhetische Urteilskompetenz. Forschungsansatz und Zwischenergebnisse. In: Horst Bayrhuber u. a. (Hrsg.): Empirische Fundierung in den Fachdidaktiken. Münster 2011, S. 75–94, S. 77. 25 Matthias Martens: Implizites Wissen und kompetentes Handeln. Die empirische Rekonstruktion historischen Verstehens im Umgang mit Darstellungen von Geschichte. Göttingen 2010, S. 63. 26 Ausführlich dazu Hans-Jürgen Pandel: Historisches Erzählen. Narrativität im Geschichtsunterricht. Schwalbach/Ts. 2009. Pandels Begriff der »narrativen Kompetenz« nähert sich auch sehr stark Abrahams literaturdidaktischen Überlegungen zur Imaginationsfähigkeit an. Vgl. Ulf Abraham: Vorstellungs-Bildung und Deutschunterricht. In: Praxis Deutsch 26 (1999), S. 14–22. 27 Hans-Jürgen Pandel (Hrsg.): Geschichtsunterricht nach PISA. Kompetenzen, Bildungsstandards und Kerncurricula. Schwalbach/Ts. 2005, S. 27–40.

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denken gegenüber Kompetenzmodellierungen – auf einige theoretische Verbindungen zwischen den Disziplinen aufmerksam machen zu können:28 Pandel (2005) Gattungskompetenz

Eggert (2006)29 Gattungswissen

Spinner (2006)30 Prototypische Vorstellungen von Gattungen gewinnen

Interpretationskompetenz

Kontextualisierung, kulturelles Wissen

Fähigkeit, verschiedene Textstellen zueinander in Beziehung zu setzen; verschiedene Ausdrucksweisen verstehen; Berücksichtigung von Erzählweisen und Perspektivierungen durch den Erzähler etc. (Beim Lesen und Hören) Vorstellungen entwickeln

Narrative Kompetenz Geschichtskulturelle Kompetenz

Rezeptionsgenuss zwischen Literaturhistorisches BeReflexion und Involviertwusstsein entwickeln heit

Der Vergleich, der hier nur angedeutet werden kann, zeigt, dass die Betonung der Domänenspezifik in der Kompetenzdebatte31 zwar einerseits logisch ist, andererseits für Geschichts- und Literaturunterricht jedoch nicht bedeuten kann, dass gemeinsame Zielstellungen aus dem Blick geraten. Speziell wenn poststrukturalistische Thesen der grundsätzlichen Narrativität von Historie berücksichtigt werden, dürften Kompetenzprofile für das Erarbeiten historischer Texte im Geschichtsunterricht und historischer Texte im Deutschunterricht ein besonders hohes Maß an Übereinstimmung erreichen.32 Die Analogien beschränken sich aus meiner Sicht jedoch nicht nur auf den hier fokussierten 28 Dabei handelt es sich keineswegs um eine vollständige Übertragung, da die Autoren selbst nur einzelne Aspekte und nicht das gesamte Spektrum des im Unterricht zu Lernenden aufzeigen wollen. Vgl. v. a. Kaspar H. Spinner : Literarisches Lernen (Basisartikel). In: Praxis Deutsch 200 (2006), S. 6–17. 29 Vgl. Hartmut Eggert: Literarische Texte und ihre Anforderungen an die Lesekompetenz. In: Bettina Hurrelmann/Norbert Groeben (Hrsg.): Lesekompetenz. Bedingungen, Dimensionen, Funktionen. Weinheim/München 2006, S. 186–194. 30 Bei Spinner handelt es sich ausdrücklich nicht um ein Kompetenzmodell, sondern um Aspekte literarischen Lernens, die miteinander im Zusammenhang stehen. Da Spinners »Aspekte« von der Deutschdidaktik jedoch sehr breit rezipiert worden sind, und durchaus Diskussionsflächen zu Pandels Konzept bieten, wird es an dieser Stelle aufgeführt. 31 Vgl. Heiner Willenberg: Kompetenzhandbuch für den Deutschunterricht. Baltmannsweiler 2007, S. 10. 32 Ohne hierbei von einer völligen Übereinstimmung sprechen zu wollen, schließlich stehen im jeweiligen Unterricht im Normalfall faktuale Texte, also Texte mit dem Anspruch, auf die Wirklichkeit zu rekurrieren, fiktionalen Texten gegenüber.

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Bereich der historischen Kompetenzen, sondern erstecken sich bis auf die Ausprägung eines grundlegenden Kulturbewusstseins. Eine interdisziplinäre Diskussion hätte hier bereits ab der zweiten Hälfte der 1970er Jahre, mit der Einführung der Kategorie des Geschichtsbewusstseins in den Geschichtsunterricht beginnen können. Die Gegenüberstellung macht auch deutlich, dass im Detail viele der Begrifflichkeiten unterschiedlich verwendet werden. Erste Ansätze um Grundlagen einer gemeinsamen Diskussion zu schaffen, lassen sich in der aktuellen Forschungsliteratur bereits beobachten.33

2.2.

Historisches Wissen im Kontext literarischen Lernens

Mit Beginn der deutschdidaktischen Diskussionen um das Verhältnis von Wissen und literarischer (Verstehens-) Kompetenz steht grundlegend die Frage im Raum, wie (historische) Wissensbasierungen den Leseprozess fördern können, ohne dabei die das literarische Verstehen so bereichernde Aktivierung eigener Wissensbestände zu verhindern. Kämper-van den Boogaart betont hinsichtlich des (kulturhistorischen) Wissens, dass im Zusammenhang mit literarischem Lesen und Interpretieren immer das Problem bestehe, dass streng genommen nur dasjenige kulturhistorische Wissen genutzt bzw. im Verfahren appliziert werden dürfe, das auch zuvor Unterrichtsgegenstand war.34 Wissen werde dann jedoch immer nur zielgerichtet mit Blick auf seine Verknüpfungspotentiale im Unterricht angeboten.35 Auch wenn er diese vorbereitenden Lernprozesse ausdrücklich befürwortet, weisen diese eine »Nähe zu Curriculumskonzepten vergangener Tage«36 auf. Denn hier scheint eine ganze Tradition der schulischen Funktionalisierung von kulturell vermitteltem Wissen auf, deren Wiederaufnahme historisch bedeutsame literaturwissenschaftliche und z. T. auch fachdidaktische Positionen (Rezeptionsästhetik, Poststrukturalismus etc.) negieren würde. Für die Spannung zwischen der in langen Prozessen gewonnenen Einsicht in die Kontingenz 33 Vgl. Volker Frederking/Jörn Brüggemann/Matthias Hirsch: Fünf Dimensionen von Literacy. Literacy und ihre interdisziplinären Implikationen am Beispiel der Geschichtsdidaktik. In: Katja Lehmann/Michael Werner/Stefanie Zabold (Hrsg.): Historisches Denken – jetzt und in Zukunft. Wege zu einem theoretisch fundierten und evidenzbasierten Umgang mit Geschichte. Festschrift für Waltraud Schreiber zum 60. Geburtstag. Berlin 2016 (im Erscheinen). 34 Michael Kämper-van den Boogaart: Kleinschrittiges Lesen als Kompetenz. Zu Johann Wolfgang Goethe: Das Göttliche (Jahrgang 11–13). In: Clemens Kammler (Hrsg.): Literarische Kompetenzen – Standards im Literaturunterricht. Seelze 2006, S. 158–175, hier S. 160. 35 Vgl. Ebd. 36 Ebd.

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der Wahrnehmung von (Literatur- und Kultur-)Geschichte und dem Ringen nach Standardisierung im Bildungswesen (und damit didaktischer Konkretion) finden sich in jüngerer Zeit v. a. Vorschläge für kulturhistorischer Lernarrangements. Durch »ein durchdachtes Arrangement von Texten, Paratexten und Aufgabenstellungen« soll eine Haltung gefördert werden, die »historisches und literarisches Bewusstsein umfasst.«37 Texte bzw. Textauszüge des literarischen Kanons werden als Repräsentanten bedeutsamer Problemstellungen bzw. epochenspezifischer Problemlösungen präsentiert und im Kontext mit thematisch verwandten Sachtexten, Bildern, Filmauszügen etc. sowie Kommentaren aus der Rezeptionsgeschichte so bearbeitet, dass es den Schülerinnen und Schülern möglich ist, historische und persönliche Beziehungen zu den verhandelten Problemen aufzubauen.38 Alte und aktuelle literarische Verarbeitungen von Erfahrungen, Themen, Stoffen sollen hierfür miteinander kontrastiert und literarische Texte auf ihren Modellcharakter für die Gegenwart hin befragt werden. Kommentare aus der Rezeptionsgeschichte werden reflektiert, so dass historische und politische Kontexte rekonstruierbar werden. Auch vergleichende Analysen von Periodisierungen und Epochenbezeichnungen in verschiedenen Literaturgeschichten werden in diesem Zusammenhang gefordert, um die Offenheit historischer Verläufe durch die Kontingenz ihrer Darstellungsversuche erfahrbar zu machen. Literaturgeschichte kann und soll so selbst als »historisch bedingte Form kultureller Erinnerungsarbeit«39 begriffen werden. Brüggemann fragt in diesem Kontext zurecht nach den damit verbundenen Anforderungen an die Lernenden, denn derartige literaturwissenschaftlichen Trends folgende Vermittlungsverfahren könnten bei diesen den Eindruck der Beliebigkeit historischen Wissenserwerbs erwecken und stellen zudem hohe Anforderungen im Bereich der Selbstregulation sowie hinsichtlich (bereits) vorhandener Epochenbilder. Angesichts des Aufwandes, der mit der Erschließung und der Auswahl verstehensrelevanten Kontextwissens verbunden ist40, besteht jedoch immer ten37 Karlheinz Fingerhut: Literaturgeschichte im Unterricht als Kulturgeschichte. In: Michael Kämper-van den Boogaart/ Kaspar H. Spinner (Hrsg.): Deutschunterricht in Theorie und Praxis, Bd. 11.3: Lese- und Literaturunterricht. Erfolgskontrollen und Leistungsmessung. Exemplarische Unterrichtsmodelle. Baltmannsweiler 2010, S. 255–293, hier S. 255. 38 Jörn Brüggemann: Inwiefern beeinflussen kulturhistorische Lernarrangements die Ausprägung literarischer Verstehenskompetenz? In: Irene Pieper/Dorothee Wieser (Hrsg.): Fachliches Wissen und literarisches verstehen. Studien zu einer brisanten Relation. Frankfurt a. M. u. a. 2011, S. 275–295, hier S. 218. 39 Sigrid Thielking: Didaktik der Literaturgeschichte als permanente Umbaulandschaft. Zum Beispiel: ›Poetischer Realismus‹. In: Der Deutschunterricht 55 (2003), H. 6, S. 44–53. zit. nach Brüggemann (Anm. 38), S. 282. 40 Vgl. Peggy Fiebich: Das Verschwinden des Textes hinter dem Kontext. Oder : warum und wie Abituraufgaben unvorhersehbare Deutungen verhindern. In: Dies./Sigrid Thielking (Hrsg.):

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denziell die Gefahr, dass das mühsam erschlossene Material zur Vermeidung einer vertieften Auseinandersetzung mit dem literarischen Text selbst führt.41 Insgesamt lässt sich feststellen, dass es in der wissenschaftlichen Literaturdidaktik nach wie vor eine anhaltende intensive Diskussion darüber gibt, welches Wissen (und damit auch welches historische Wissen) auf welche Art durch den Literaturunterricht vermittelt werden sollte. Je nachdem, ob Literaturunterricht als Ort ästhetischer Erfahrung oder als Ort von Wissenschaftspropädeutik und Kompetenzorientierung verstanden wird, steht man dem Erwerb von Wissen eher kritisch oder eher zustimmend gegenüber.42

2.3.

Literaturdidaktische Positionen zu den Zielen historischen Lernens am Beispiel zeitgeschichtlicher Literatur

Neben diesen Problemlagen bzw. der Frage des »Wie?« historischen Lernens im Literaturunterricht muss seitens der Literaturdidaktik auch die Frage beantwortet werden, mit welchen (gesellschaftlichen) Zielvorstellungen historisches Lernen – über die Kompetenzmodellierung bzw. den Unterricht hinaus – verbunden werden soll. Sowohl von der Literatur- als auch von der Geschichtsdidaktik ist vielfach betont worden, dass fiktionalen gegenüber faktualen Texten ein besonderes didaktisches Potenzial für spezifische Zielstellungen historischen Lernens zukommt.43 Speziell zu den Zielen, die mit zeitgeschichtlicher Literatur verbunden werden sollen, ist in der Literaturdidaktik ein Diskurs geführt worden, dessen unterschiedliche theoretische Positionen im Folgenden skizziert werden sollen. Adorno hatte für eine Bildung nach Ausschwitz v. a. Empathie und Autonomie in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit gefordert.44 Dieser Gedanke ist in Deutschland in Form der Demokratiepädagogik stark rezipiert worden

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Literatur im Abitur. Reifeprüfung mit Kompetenz? Bielefeld 2010 (Hannoversche Beiträge zu Kulturvermittlung und Didaktik, Bd. 1), S. 87–117, hier S. 88f. Vgl. Brüggemann (Anm. 38), S. 288. Daniel Scherf: Bericht zur Arbeitstagung »Wissen und Literarisches Lernen. LesebuchAufgabe-Gespräch«. In: Didaktik Deutsch 40 (2016), S. 70–75, hier S. 71. Zu den genannten didaktischen Potentialen fiktionaler Texte gehört beispielsweise die Präfiguration und Erschließung historischer Wirklichkeit, Empathie sowie die Schaffung eines (historischen) Vorstellungsvermögens. Vgl. Hans-Jürgen Pandel: Die Wahrheit der Fiktion. Der Holocaust im Comic und Jugendbuch. In: Bernd Jaspert (Hrsg.): Wahrheit und Geschichte. Vom Umgang mit deutscher Vergangenheit. Hofgeismar 1993, S. 72–108; Dietmar von Reeken: Das historische Jugendbuch. In: Hans-Jürgen Pandel/Gerhard Schneider (Hrsg.): Handbuch Medien im Geschichtsunterricht. Schwalbach/Ts. 2010, S. 69–83; Monika Rox-Helmer : Jugendbücher im Geschichtsunterricht. Schwalbach/Ts. 2006; von Brandt (Anm. 12). Vgl. Theodor Adorno: Negative Dialektik. Frankfurt a. M. 1980.

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und spielt in der Literaturdidaktik nach wie vor eine wichtige Rolle, da Empathieschulung zu den grundlegenden Anliegen literarischen Lernens generell gehört.45 Einher geht damit z. T. aber auch eine historische Perspektivierung der Vergangenheit, die als Betroffenheitspädagogik ihren Ausdruck findet, indem sie Schülerinnen und Schülern nahelegt, was sie »zu fühlen haben«. Daher bergen Werke mit einer moralischen Erzählperspektive oder ein auf universale Perspektiven angelegter Unterricht hohe Abwehrrisiken. Denn der Versuch, verschiedene historische Positionen, beispielsweise die Schuld von Tätern, Mitläufern etc. ebenso zu übertragen wie die Solidarität mit Opfern, kann bei den Schülerinnen und Schülern einen Überdruss erzeugen. Dies muss besonders beachtet werden, wenn im Literaturunterricht auch zeitgeschichtliche Phänomene, beispielsweise aus der DDR-Geschichte thematisiert werden – Erzählungen, die nur die Diktaturperspektive ausleuchten, stehen dann gegebenenfalls in zu starkem Kontrast zum familialen Gedächtnis.46 Eine Perspektive, die nach Jean Amery stärker partikular betrachtet, vergegenwärtigt die Vergangenheit und geht auf die Differenz zwischen verschiedenen Gedächtnisperspektiven ein.47 Juliane Köster hat aus Sicht der Literaturdidaktik die Bedeutung des Nachdenkens über universalistische und partikularistischen Positionen und Phänomene hervorgehoben.48 Gegenwartsbezogene Literaturdidaktik zur Vergangenheit sollte aus ihrer Sicht eine philosophierend-fragende Denkhaltung anstreben, in der sich Schülerinnen und Schüler bewusst in unterschiedliche Gedächtnisperspektiven hineinversetzen, um über die konkreten Entscheidungen des Individuums zu sprechen. Auf diese Weise reflektieren die Lernenden Rollen über die Affekte der beteiligten Akteure im Rahmen eines Themas, so dass echte Moraldiskussionen im Unterricht ermöglicht und die gängigen (vor-)schnellen universalistischen Positionen der Jugendlichen unterlaufen werden können. Köster plädiert daher für narrative Arrangements, die Nachfrageangebote liefern und Vorstellungsbildung befördern, was aus Ihrer Sicht besonders indirekte Darstellungen (zeit-)geschichtlicher Phänomene leisten können.49 Neben den Diskursen zu Formen der Empathie hinsichtlich der Auseinandersetzung mit Vergangenheit ist der Aspekt der Generationenverständigung in 45 Vgl. Spinner (Anm. 28). 46 Zur Differenz zwischen offiziellem Diktatur- und privatem Arrangementgedächtnis in der DDR-Erinnerung vgl. Martin Sabrow: Wem gehört ›1989‹? In: Ders. (Hrsg.): Bewältigte Diktaturvergangenheit? Leipzig 2010, S. 9–20, hier S. 16. 47 Vgl. Jean Amery : Ressentiments. In: Ders.: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten. Stuttgart 1980, S. 102–129. 48 Vgl. Juliane Köster : Archive der Zukunft. Der Beitrag des Literaturunterrichts zur Auseinandersetzung mit Auschwitz. Augsburg 2001, S. 16. 49 Ebd.

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der Literaturdidaktik immer wieder hervorgehoben worden. Speziell für die Kinder- und Jugendliteratur haben Ewers und Gremmel die besondere Bedeutung des offenen intergenerationellen Dialogs gegenüber dem ebenfalls möglichen intragenerationellen Dialog in der Allgemeinliteratur betont.50 Dieser intergenerationelle Dialog ist jedoch nur möglich, wenn zeitgeschichtliche Kinder- und Jugendliteratur eine Lücke »zwischen dem kulturellen und dem kommunikativen Gedächtnis«51 schließen kann, was nur erreicht werden kann, wenn die Schülerinnen und Schülern tatsächlich mit einem kommunikativen Gedächtnis, d. h. einer Zeitzeugengeneration im nächsten Umfeld, in Kontakt treten können. So hat Hoffmann in ihrer Dissertation gezeigt, dass ein zugleich literarisches und zeitgeschichtliches Gespräch im Literaturunterricht v. a. dann entsteht, wenn tatsächlich zwischen Familien- und offiziellem Gedächtnis vermittelt werden kann.52 Aus Sicht von Birkmeyer reicht es jedoch nicht, im Literaturunterricht ein Bewusstsein für den Unterschied zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnis zu fördern, da ein heute notwendiges medienkritisches Gedächtnis vom Erinnernden auch verlangt, sich in vielfältigen medialen Kodierungen zu orientieren und sicher durch diese zu navigieren. Angemessener wäre aus demnach, statt von einem kulturellen Gedächtnis von einem Gedächtnis zu sprechen, das folgende Dimensionen zu unterscheiden und zu reflektieren hätte: (1) die Medialität der Angebote bzw. die Repräsentationsformen; (2) die Regeln der vorherrschenden Diskurse und (3) die Kompetenz zur Dekodierung der unterschiedlichen kulturellen Narrative.53 Literaturdidaktisch betrachtet hat dies radikale Folgen, da der Diskurs nicht nur über Literatur und Medien, sondern auch anhand dieser geführt werden muss: Literaturunterricht müsste dann das Problem des »narrativen Modells« thematisieren.54 Ewers und Grem50 Hans-Heino Ewers/Caroline Gremmel: Zeitgeschichte, Familiengeschichte und Generationenwechsel: Deutsche Zeitgeschichtliche Jugendliteratur der 1990er und 2000er Jahre im erinnerungskulturellen Kontext. In: Gabriele von Glasenapp (Hrsg.): Kriegs- und Nachkriegskindheiten: Studien zur literarischen Erinnerungskultur für junge Leser. Frankfurt a. M. u. a. 2008 (Kinder- und Jugendkultur, -literatur und -medien, Bd. 57), S. 27–50. 51 Harald Welzer : Familiengedächtnis. Zum Verhältnis von familialer Tradierung und Aufklärung über Geschichte. In: Jahrbuch für Pädagogik 2003: Erinnern – Bildung – Identität. Frankfurt a. M. u. a. 2003, S. 155–171, hier S. 167. 52 Vgl. Jeanette Hoffmann: Literarische Gespräche im interkulturellen Kontext. Eine qualitativempirische Studie zur Rezeption eines zeitgeschichtlichen Jugendromans von Schülerinnen und Schülern in Deutschland und in Polen. Münster u. a. 2011. 53 Vgl. Jens Birkmeyer : Fakten und Fiktionen. Was vermag Literatur über den Holocaust im Unterricht? In: Duitsland Instituut bij de Universiteit van Amsterdam (Hrsg.): Forschungsberichte (6) 2010 aus dem Duitsland Instituut. Amsterdam 2011, S. 108–125, hier S. 124. 54 Dies würde beispielsweise bedeuten, folgende Modelle zeitgeschichtlicher Kinder- und Jugendliteratur zur DDR zu identifizieren:

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mel betonen in diesem Zusammenhang auch die Wichtigkeit der Reflexion der Repräsentationsformen von Vergangenheit, in deren Verlauf auch die Bedeutung der Form des literarischen und medialen Erinnerns für die (Re-)Konstruktion der Geschichte im Unterricht stärker aufgegriffen werden muss.55

3.

Schlussfolgerungen zu historischem Lernen in Literaturdidaktik und -unterricht

Führt man die theoretischen Diskussionen zu historischem Lernen im Literaturunterricht mit den empirischen Beobachtungen zusammen, so wird deutlich, dass es sich bei den didaktischen Konzepten der ostdeutschen Lehrenden zu historischem Lernen um eigenständige Modellierungen handelt, die von den wissenschaftlichen Ansätzen allenfalls irritierende oder bestätigende Impulse erhalten. Auffällig ist, dass der Schwerpunkt theoretischer deutschdidaktischer Reflexionen der Disziplin in der Sekundarstufe II liegt und konzeptionelle Vorschläge für die Sekundar- bzw. gar die Primarstufe vergleichsweise unterrepräsentiert sind. Da Geschichtsbewusstsein und Geschichtsverständnis jedoch bereits im Grundschulalter zu entwickeln sind,56 ergibt sich hier – auch wenn das Thema Literaturgeschichte naturgemäß erst in der Oberstufe seine besondere Bedeutung entfaltet – ein Desiderat. Zudem ist anhand erster begrifflicher Gegenüberstellungen von Kompetenzen in der Literatur- und Geschichtsdidaktik ersichtlich geworden, dass hier in Zukunft eine lohnenswerte Grundlagendiskussion geführt werden sollte. Trotz der evidenten Differenz zwischen empirischen Beobachtungen und theoreti– Lächerlichmachung/Komisierung (Thomas Brussig: Sonnenallee; Jakob Hein: Mein erstes T-Shirt etc.) – Repression und Widerstand (Sibylle Berg: Habe ich dir eigentlich schon erzählt…; Dorit Linke: Jenseits der blauen Grenze) – Kindliche Perspektivierungen (Nadja Budde: Such dir was aus, aber beeil dich!; Mawil: Kinderland). 55 Gremmel/Ewers (Anm. 50) heben auch die besondere Schwierigkeit kindlicher bzw. jugendlicher Rezeption und Reflexion medialer und/oder erzählperspektivischer Eigenlogiken an ausgewählten zeithistorischen Werken der Kinder- und Jugendliteratur hervor. 56 Ausführlicher dazu: Klaus Bergmann/Rita Rohrbach (Hrsg.): Kinder entdecken Geschichte. Theorie und Praxis historischen Lernens in der Grundschule und im frühen Geschichtsunterricht. Schwalbach/Ts. 2001; Markus Kübler u. a.: Historisches Denken bei 4- bis 10jährigen Kindern. Was wissen Kinder über Geschichte? In: Monika Waldis/Beatrice Ziegler (Hrsg.): Forschungswerkstatt Geschichtsdidaktik 13. Beiträge zur Tagung »geschichtsdidaktik empirisch 13«. Bern 2015 (Geschichtsdidaktik heute 7), S. 26–40; Ders.: Entwicklung von Zeit- und Geschichtsbewusstsein. In: Joachim Kahlert u. a. (Hrsg.): Handbuch Didaktik des Sachunterrichts. 2. Aufl. Bad Heilbrunn 2015, S. 335–340.

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schen literaturdidaktischen Positionen lassen sich auch gemeinsame Problemfelder und Aufgaben ausmachen. So muss die Literaturdidaktik die rasanten Umbrüche und Veränderungen in der Medienwelt besonders auch im Feld historischen Lernens im Literaturunterricht begleiten. Neben einem ausdifferenzierten Sortiermechanismus zu Realitäts- und/oder Fiktionalitätsanteilen historischer Narrative in den Medien sollten Schülerinnen und Schüler heute daher auch lernen, mit historischen Narrationen verstärkt konstruktiv statt kritisch umzugehen (vgl. auch Abschnitt 1), da sonst in der (medialen) Vielfalt und Unbestimmtheit historischer Narrationen die unterrichtliche Form der Konfrontation mit der Vergangenheit als beliebig und damit letztlich überflüssig erscheint. Konstruktiv meint hier, historische Narrationen stärker in Prozesse der Identitätsbildung und Abgrenzung einzubetten sowie verstärkt komplexe historische Kontextualisierungen entgegen vereinfachender (nichtkonkurrierender) historischer Lesarten anzuregen.57 Literaturunterricht könnte sich hier stärker Rezeptionsbedürfnissen und auch Entwicklungsständen anpassen, indem er den Auftrag einer Kommunikation zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnis ernst nimmt. Dafür muss im Literaturunterricht die Kommunikation aber auch tatsächlich mit Blick auf eine neue Zeitzeugengeneration ausgerichtet werden: Die eingangs zitierte Studie legt die Vermutung nahe, dass nach wie vor der Nationalsozialismus im Mittelpunkt der literarischen Auseinandersetzung mit Zeitgeschichte steht, wodurch das zuletzt genannte Anliegen (zunehmend) unterlaufen wird.58 Die Verknüpfung historischen Lernens im Literaturunterricht mit lebensgeschichtlichen Perspektiven kann nur dann gelingen, wenn auch die deutschdeutsche Geschichte und die dazu bestehende Familienkommunikation stärker als bisher in den Blick genommen werden. So könnte sich der Literaturunterricht einerseits auf sein von der Theorie eingefordertes Aufgabenspektrum innerhalb des historischen Lernens – dem Bewusstwerden über und Kennenlernen von individuellen, kommunikativen und kulturellen Gedächtniskonzepten – besinnen und andererseits eine demokratische Partizipation sowie den Aufbau eines individuellen Geschichtsbewusstseins (der Schülerinnen und Schüler) einschließen.

57 Dabei sei an dieser Stelle nicht verschwiegen, dass dieser Umgang mit (historischem) Kontextwissen dann systematisch aufgebaut und von den Lehrplänen eingefordert werden müsste. 58 Vgl. Führer (Anm. 7), S. 339f. Diese Beobachtung lässt sich neben der genannten Studie auch anhand der Anzahl literaturdidaktischen sowie kinder- und jugendliterarischen Publikationen im Rahmen historischen Lernens aus den letzten Jahren bestätigen.

Sektion 2: Fächerübergreifendes und fächerverbindendes historisches Lernen und Lehren

Astrid Schwabe

Fächerübergreifendes und fächerverbindendes historisches Lernen und Lehren. Einführung

Wie gestalten sich gegenwärtig die Realitäten des Geschichte Lernens und Lehrens im schulischen Rahmen? Überwiegt weiter der fachspezifische Unterricht? Oder wird Geschichte mittlerweile häufiger in Fächerverbünden oder gar im Rahmen von Integrationsfächern unterrichtet, und hat dabei als Fach schon stark an »Profil« verloren, wie Waldemar Grosch 2014 konstatiert?1 Richten wir zum Einstieg einen exemplarischen Blick auf die Gegebenheiten eines Bundeslandes in der heterogenen Bildungslandschaft der Bundesrepublik, blicken wir nach Schleswig-Holstein, wo ich an der Europa-Universität Flensburg tätig bin. Dort können zukünftige Lehrkräfte der so genannten »Gemeinschaftsschulen« im BA Bildungswissenschaften und MA Lehramt an Sekundarschulen unter anderem die Fächer Geschichte, Geographie und Wirtschaft/Politik studieren. Allerdings macht ein großer Teil der Studierenden in den Praktika und vor allem im 2014 eingeführten Praxissemester des Master-Studienganges die Erfahrung, dass sie in der Unterrichtsrealität das Fach »Weltkunde« unterrichten müssen. Es handelt sich dabei um einen gesellschaftswissenschaftlichen Fächerverbund, der in der Sekundarstufe I alternativ zu Geschichte und Geographie unterrichtet wird. Weltkunde basiert – zumindest theoretisch – explizit auf einem integrierten Ansatz, »der [es] ermöglicht […], unterschiedliche gesellschaftswissenschaftliche Perspektiven zur Bearbeitung von Kernproblemen zu verbinden. […] Das Fach Weltkunde ist mehr als die Addition der Einzelfächer [Geographie, Geschichte und Wirtschaft/Politik]; der Mehrwert des Faches liegt in der Vernetzung verschiedener Fachdisziplinen.«2 Die Frage, wie hoch der Integrationsgrad in der Praxis tatsächlich ist, muss zunächst offen bleiben. Es steht den Gemeinschaftsschulen in Schleswig-Holstein frei, Geschichte 1 Waldemar Grosch: Geschichte im Fächerverbund. In: Hilker Günther-Arndt/Meik ZülsdorfKersting (Hrsg.): Geschichtsdidaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II. 6. überarb. Neuaufl. Berlin 2014, S. 67–73, S. 67. 2 Ministerium für Schule und Berufsbildung Schleswig-Holstein: Fachanforderungen Weltkunde. Allgemein bildende Schulen. Sekundarstufe I. Kiel 2015, S. 13, verfügbar unter http:// lehrplan.lernnetz.de/index.php?wahl=199 (aufgerufen am 09. 03. 2016).

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oder Weltkunde anzubieten. Verbindliche statistische Daten über die jeweiligen Anteile des Geschichts- bzw. Weltkundeunterrichts werden vom zuständigen Bildungsministerium nach eigener Aussage nicht erhoben.3 Schätzungen des für die Aus- und Fortbildung der Lehrkräfte zuständigen »Instituts für Qualitätsentwicklung an Schulen Schleswig-Holstein« (IQSH), die mit einer gewissen Skepsis zu betrachten sind, gehen allerdings davon aus, dass Weltkunde seit 2007 immerhin an etwa 75 Prozent der Gemeinschaftsschulen angeboten wird, an manchen Schulen konstant in den Klassenstufen fünf bis zehn, an anderen zu Beginn in den Klassen fünf und sechs, bevor dann in höheren Klassen Einzelfächer unterrichtet werden.4 In der zweiten Ausbildungsphase der zukünftigen Lehrkräfte wird mit einem – so der Stand im Herbst 2015 – einzelnen »Modul« versucht, die so genannten Referendarinnen und Referendare auf den Unterricht im Fach Weltkunde vorzubereiten. Und, auch wenn die schriftliche Arbeit für das Zweite Staatsexamen im Fach Weltkunde verfasst werden darf: »(i)n der Prüfungsstunde müssen Methoden und Perspektiven des Ausbildungsfachs im Mittelpunkt stehen«,5 auch wenn der Klasse eigentlich Weltkundeunterricht erteilt wird. Seit einiger Zeit diskutieren Akteure an der Europa-Universität institutsübergreifend intensiv und durchaus kontrovers über die beschriebene gesellschaftliche Realität und ihre Konsequenzen für die Lehrkräfteausbildung: Wie lassen sich fachspezifische, zurecht auf ein fachwissenschaftliches Studium basierende Lehramtsausbildung und eine gesellschaftliche Verantwortung gegenüber unseren Studierenden und auch den Schülerinnen und Schülern im Land für eine fundierte Ausbildung in den existierenden Schulfächern vereinbaren? Die Diskussion steht noch am Anfang, zumal es sich um grundsätzliche bildungspolitische Fragen handelt, die auch und vor allem auf ministerieller Ebene zu entscheiden sind. Dieses beschriebene Spannungsfeld aus der Schulund Ausbildungspraxis eines einzelnen Bundeslandes führt zu einigen weiterreichenden Leitfragen in Bezug auf das – begrifflich schwammige – fächerübergreifende und fächerverbindende historische Lernen und Lehren, das im Fokus dieser Sektion steht.

3 Gemäß telefonischer Auskunft aus dem Bildungsministerium im Juni 2015. 4 Vgl. IQSH: Präsentation zu den Fachanforderungen Weltkunde 2015, verfügbar unter http:// www.faecher.lernnetz.de/faecherportal/index.php ?key=2& wahl=593& auswahl=116 (aufgerufen am 09. 03. 2016), hier Folie 29. In der Regel gehen im Falle des Weltkundeunterrichts die Fächer Geographie und Geschichte darin auf, Wirtschaft/Politik wird bemerkenswerterweise oft zusätzlich als Einzelfach unterrichtet, obwohl die politisch-ökonomische Perspektive eine der Fachperspektiven in Weltkunde ist (vgl. ebd. und Fachanforderungen Weltkunde (Anm. 2), S. 12f.). 5 Ebd., Folie 38.

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Unterrichtliche Realität Wie stellen sich die Realitäten des schulischen historischen Lehrens und Lernens in den verschiedenen Bundesländern dar, mehrheitlich fachspezifisch oder in Fächerverbünden? Eine von uns im Frühsommer 2015 durchgeführte, informelle Umfrage unter den Bildungsministerien der 16 deutschen Bundesländer6 ergibt folgendes, buntes Bild:7 – In den Gymnasien und den Oberstufen anderer Schulen erhalten Schülerinnen und Schüler bisher fast ausschließlich Unterricht im traditionellen Schulfach Geschichte; allerdings fordern alle Lehrpläne und Rahmenrichtlinien – oft sowohl begrifflich als inhaltlich unscharf – »fächerübergreifenden« oder »fächerverbindenden« Unterricht.8 – In den Hauptschulen, die es ja nur noch in wenigen Bundesländern gibt, werden überwiegend Fächerverbünde wie »Welt-Zeit-Gesellschaft« oder »Gesellschaftslehre« unterrichtet.9 – Bei den Gemeinschafts-, Mittel- bzw. Sekundarschulen oder wie diese hybride Schulform jeweils auch heißen mag, steht etwa in der Hälfte der Bundesländer noch das Fach Geschichte im Stundenplan, dabei vornehmlich in südlichen und östlichen Bundesländern. – In anderen Regionen ist die Sachlage für diese Schulformen uneindeutig, wie eben für Schleswig-Holstein skizziert: Teilweise existieren mehr oder weniger integrative Fächerverbünde wie »Gesellschaftslehre« oder der »Fächerverbund Gesellschaftswissenschaften« nur für die Unterstufe, teilweise auch für die gesamte Sekundarstufe I; zum Teil können Schulen bei den klassischen 6 Nicht repräsentative Umfrage durch schriftliche und telefonische Anfragen an die zuständigen Abteilungen bzw. Referate der Bildungsministerien der Bundesländer, durchgeführt am Institut für Zeit- und Regionalgeschichte der Europa-Universität Flensburg im Juni 2015, deren Ergebnisse der Verfasserin vorliegen. Die Auskünfte waren in Umfang und Detailreichtum sehr heterogen, nicht alle Behörden gaben bereitwillig Auskunft. Diese Umfrage kann folglich eine valide Statuserhebung keinesfalls ersetzen, allerdings erste Hinweise liefern. 7 Vgl. auch Thomas Brühne: Bestandsaufnahme gesellschaftswissenschaftlicher Fächerverbünde in Deutschland und Überlegungen zu einer stärker integrative ausgerichteten Organisationsform. In: Zeitschrift für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften (zdg) 5 (2014), H. 1, S. 100–115, S. 103f.; Daniel Ringk: Fächerintegration im gesellschaftlichen Lernbereich in der Sekundarstufe I. In: zdg 4 (2013), H. 2, S. 208–210. 8 Vgl. Tobias Arand: Fächerverbindender Geschichtsunterricht. In: Michele Barricelli/Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Praxis der Geschichtsunterrichts. Bd. 2. Schwalbach/Ts. 2012 (Forum Historisches Lernen), S. 308–324, S. 312. 9 Vgl. auch Georg Götz: »Ich mag Geschichte auch ganz gerne.« Fachfremde Lehrer und ihr Geschichtsunterricht. In: Michael Sauer u. a. (Hrsg.): Geschichtslernen in biographischer Perspektive. Göttingen 2014 (Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, Bd. 9), S. 253–269, S. 253f.; zum Stand Winter 2009: Arand (Anm. 8), S. 312f.

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Fächern bleiben oder das Verbundfach anbieten, das dann aber wiederum auch nach Fächer getrennt unterrichtet werden kann. – In den nicht in allen Ländern existierenden älteren Gesamtschulen ist die Situation unterschiedlich; während beispielsweise Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen angaben, in dieser Schulform Geschichte zu unterrichten, setzen Niedersachsen und Rheinland-Pfalz auf »Gesellschaftslehre«. – Existieren Fächerverbünde, dann setzen sie sich stark überwiegend aus den gesellschaftswissenschaftlichen Fächern Geschichte, Geographie oder Erkunde, oft auch aus Politik und eingeschränkt Wirtschaft zusammen.10 Die Ausgestaltung differiert: Es gibt sowohl integrativ angelegte Verbünde – also Integrationsfächer –, die auf einem gemeinsamen Lehrplan beruhen, als auch Konstruktionen, in denen – meist dieselbe Lehrkraft – auf Basis fachspezifischer Lehrpläne getrennt benotete Kernfächer unterrichtet.11 Über die genaue Verteilung wissen wir kaum etwas.12 Die eingangs referierte Beobachtung Groschs scheint durch diese nur kursorischen Einblicke bestätigt zu werden: Das klassische Schulfach Geschichte befindet sich auf dem Rückzug, zumindest was die nichtgymnasialen Schulformen angeht. Denn nach Ansicht des Autors bedeuten Fächerverbünde in der Regel Stundenreduktion, fachfremden Unterricht, Einschnitte in der Bandbreite der historischen Zugänge, ja oft sogar eine Konzentration auf die politische Geschichte und historische-politische Bildung im affirmativen Sinne.13

Lehramtsausbildung Welche Konsequenzen zieht die Lehrkräftebildung aus diesen Realitäten? Wie verhält sie sich zum Gegenstand historisches Lernen in Fächerverbünden? Im Rahmen unserer Anfragen haben wir zum Themenkomplex erste Phase der Lehramtsausbildung kaum verbindliche Aussagen erhalten; die Ministerien 10 Brühne (Anm. 7, S. 102) liefert als Definition solcher gesellschaftswissenschaftlicher Fächerverbünde: Sie »setzen sich aus mindestens zwei variablen Perspektiven tradierter sozialund gesellschaftswissenschaftlicher Unterrichtsfächer zusammen. Zentrales Merkmal des gesellschaftswissenschaftlichen Fächerverbunds ist eine angestrebte curricular-integrative Organisationsform, mittels derer dem Lernenden der mehrperspektivische Blick auf gesellschaftliche Fragestellungen und Probleme sowie deren Interdependenzen eröffnet werden kann.« 11 Vgl. auch Götz (Anm. 9), S. 254. 12 Michael Sauer mutmaßt, dass in den Fächerverbünden überwiegend additiv unterrichtet werde; vgl. Michael Sauer: Geschichte unterrichten. Eine Einführung in die Didaktik und Methodik. 10. akt. u. erw. Aufl. Seelze 2012, S. 72. 13 Vgl. Grosch (Anm. 1).

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verwiesen oft auf die Hochschulen, von dort Informationen zu bekommen erwies sich aus organisatorischen Gründen als schwierig. Eine systematische Abfrage und Analyse der zahlreichen Studienordnungen und Modulpläne war im Rahmen dieser kleinen Umfrage ebenso wenig zu leisten wie eine strukturierte Untersuchung der Regularien und Angebote an Veranstaltungen im Referendariat. Hier bedarf es unbedingt einer systematischen Bestandsaufnahme. Folgender – und ich will es noch einmal betonen – empirisch nicht abgesicherter Eindruck drängt sich aber auf: Die Universitäten und Pädagogischen Hochschulen bilden Geschichtslehrkräfte für die Sekundarstufen weiterhin weitestgehend fachbezogen aus. Sie konzentrieren sich gemäß der »Ländergemeinsamen inhaltlichen Anforderungen«14 – und sicherlich aus guten Gründen – auf eine starke fachwissenschaftliche und spezifische fachdidaktische Ausbildung, die unter Einbezug interdisziplinärer Anteile grundsätzliche Fragen des historischen Lernens reflektiert, unabhängig von Schulformen und Fächerzuschnitten.15 Module, die die zukünftigen Lehrkräfte auf den Unterricht in Fächerverbünden vorbereiten, scheinen in der ersten Phase der Lehramtsausbildung die Ausnahme zu sein (Modelle dieser Art gibt es beispielsweise in Bremen und im Saarland).16 Ähnliches scheint auch für die zweite Phase zu gelten, teilweise können die Referendare Fachseminare zu den Fächerverbünden oder Integrationsfächern belegen (beispielsweise in Hamburg, in Hessen und im Saarland).

Geschichtsdidaktischer Forschungsstand Wie ist es um den geschichtsdidaktischen Forschungsstand zum historischen Lernen in Fächerverbünden bestellt, auf den ich mich hier zunächst konzentrieren möchte? Kurz und bewusst provokant formuliert: Nicht gut. Über Unterrichtsrealitäten gesellschaftswissenschaftlicher Fächerverbünde, also nach Tobias Arand17 über transdisziplinäres historisches Lernen und Lehren, wissen wir wenig. Noch geringere Kenntnisse haben wir über Auswirkungen von historischem Lernen in Fächerverbünden und über Lernergebnisse. Befunde aus Großbritannien deu14 Kultusministerkonferenz: Ländergemeinsame inhaltliche Anforderungen für die Fachwissenschaften und Fachdidaktiken in der Lehrerbildung (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 16. 10. 2008, i. d. F. com 10. 09. 2015. Bonn 2015, verfügbar unter http://www.kmk. org/fileadmin/Dateien/veroeffentlichungen_beschluesse/2008/2008_10_16-Fachprofile-Leh rerbildung.pdf (aufgerufen am 09. 03. 2016)). 15 Vgl. hierzu auch Andreas Michler : Einführung. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik (ZfGD) 9 (2010), S. 5–12, S. 8; Brühne (Anm. 7), S. 104f. 16 Vgl. für Baden-Württemberg Grosch (Anm. 1), S. 72. 17 Vgl. hier und im Folgenden Arand (Anm. 8), S. 308–311.

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ten immerhin auf eine im Vergleich zum Einzelfachunterricht Geschichte vergleichsweise schwächere Wirksamkeit hin.18 Die referierten Schlüsse Groschs harren daher der empirischen Überprüfung. Bettina Alavi untersuchte Fächerverbünden an Hauptschulen,19 Manfred Seidenfuß gab erste Hinweise auf Einschätzungen von Lehrerbildnerinnen und -bildnern in Bezug auf die Fächerverbünde,20 eine Untersuchung zum in engem Zusammenhang stehenden fachfremden Unterrichten mit dem Fokus auf der Perspektive der Unterrichtenden ist in Arbeit.21 Hervorzuheben als Bestandsaufnahme ist zudem das entsprechende Themenheft der Zeitschrift für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften 1 (2014) mit der inhaltlichen Einführung von Birgit Weber und im Besonderen der Aufsatz von Thomas Brühne, der eine Skizzierung der Sachlage versucht22 und vor allem Desiderata benennt.23 Neben Fächerverbünden stellt sich in Bezug auf den Gegenstand der Sektion die Frage nach interdisziplinären Kooperationen zwischen fachspezifischen Zugängen, in bildungspolitischen Papieren oft begrifflich unscharf als »fachoder fächerübergreifender«, »fächerverbindender«, teilweise auch »fächerüberschreitender«, »fächerverknüpfender« oder »fächerkoordinierender« Unterricht bezeichnet.24 Die fachdidaktische Literatur unterscheidet in der Regel zwischen zwei Ausprägungen, nämlich die koordinierte Behandlung eines Themas in zwei oder mehreren Fächern aus der jeweils spezifischen Perspektive und den gemeinsamen Unterricht in Auflösung der üblichen Unterrichtsorganisation, meist in Projektform.25 Die Nutzung von Zugängen und Methoden 18 Vgl. Grosch (Anm. 1), S. 72. 19 Vgl. Bettina Alavi: Das Verhältnis von Disziplinarität und Interdisziplinarität in Fächerverbünden der Hauptschule am Beispiel Geschichte. In: Saskia Handro/Bernd Schönemann (Hrsg.): Geschichtsdidaktische Lehrplanforschung. Methoden – Analysen – Perspektiven. Münster 2004 (Zeitgeschichte – Zeitverständnis, Bd. 12), S. 137–152. 20 Manfred Seidenfuß: Disziplinarität und Interdisziplinarität. Historisches Lernen im Reformprozess der Hauptschule. In: ZfGD 9 (2010), S. 13–35. 21 Vgl. Götz (Anm. 9). 22 Vgl. hierzu auch Yvonne Rheindorf: Bestandsaufnahme und Analyse gesellschaftswissenschaftlicher Lernbereichsdidaktik in Deutschland unter besonderer Berücksichtigung von Lehr- und Bildungsplänen. Koblenz 2013 (unveröffentl. MA-Arbeit); vgl. auch Ringk (Anm. 7). 23 Zdg 5 (2014), H. 1. Siehe hier : Birgit Weber : Fächerintegration – zur Einführung in das Schwerpunktthema, S. 7–20; Brühne (Anm. 7). Mit Einschränkung beschäftigt sich auch der Jahresband der ZfGD 2010 zum Historischen Lehren und Lernen in Haupt-, Real- und Gesamtschulen mit dem Themenfeld. 24 Vgl. hier und im Folgenden Sauer (Anm. 12), S. 73–75; Arand (Anm. 8), S. 311–315; auch Franziska Conrad: Ein neuer Königsweg? Fächerübergreifender Unterricht. In: Hartmann Wunderer : Geschichtsunterricht in der Sekundarstufe II. Schwalbach/Ts. 2000, S. 132–153, S. 134. 25 Vgl. als allgemeine Einführungen u. a. Klaus Moegling: Fächerübergreifender Unterricht – Wege ganzheitlichen Lernens in der Schule. Bad Heilbrunn 1998 (hier mit Systematisie-

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anderer Disziplinen innerhalb des Geschichtsunterrichts gilt im Fach Geschichte als unumgänglich, und ist deshalb nicht der gesonderten Betrachtung wert.26 Auch wenn sich durchaus einige geschichtsdidaktische Publikationen dem interdisziplinären historischen Lernen widmeten, beispielhaft zu nennen wären hier im Besonderen Franziska Conrad, Arand und Grosch,27 konstatiert Arand für die Disziplin 2012 dennoch ein Fehlen tiefgreifender inhaltlicher Auseinandersetzung: Es mangele auch hier an fundierten empirischen Erkenntnissen über die tatsächliche Verbreitung und Umsetzung dieses so genannten »fächerübergreifenden« Unterrichts in der Praxis; zudem gäbe es wenig konkrete Lehr- und Lernarrangements wie Materialien, und bei den existierenden fehle oft die theoretische Unterfütterung.28 Arand selbst formuliert neben einer Zusammenstellung der didaktischen Potenziale und Grenzen dieses interdisziplinären Ansatzes wertvolle Ansprüche aus geschichtsdidaktischer Perspektive, die das historische Lernen dezidiert in den Blick nehmen.29 Wir können also eine Diskrepanz feststellen zwischen der in unzähligen Richtlinien und Lehrplänen postulierten Forderung nach interdisziplinären und vernetzenden Lehr-LernArrangements und der fundierten geschichtsdidaktischen Auseinandersetzung mit dem Gegenstand.

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rungsversuch, S. 57–60); Ludwig Duncker/Walter Popp (Hrsg.): Fächerübergreifender Unterricht in der Sekundarstufe I und II. Bad Heilbrunn 1998; Reinhard Golecki (Hrsg.): Fächerverbindender Unterricht auf der gymnasialen Oberstufe. Bad Heilbrunn 1999 (u. a. mit einigen Unterrichtsbeispielen unter Beteiligung des Faches Geschichte); Martina Geigle: Konzepte zum fächerübergreifenden Unterricht. Eine historisch-systematische Analyse ihrer Theorie. Hamburg 2005; Klaus Moegling: Kompetenzaufbau im fächerübergreifenden Unterricht – Förderung vernetzten Denkens und komplexen Handelns. Immenhausen bei Kassel 2010. Vgl. Arand (Anm. 8), S. 311f. Wolfgang Hasberg: Kirchengeschichte in der Sekundarstufe I. Analytische, kontextuelle und konstruktiv-pragmatische Aspekte zu den Bedingungen und Möglichkeiten der Kooperation von Geschichts- und Religionsunterricht im Bereich der Kirchengeschichte. Trier 1994; Conrad (Anm. 24); Dies.: Fächerübergreifender und fächerverbindender Unterricht. Ein Weg zur Förderung von historischem Denken. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 57 (2006), H. 11, S. 650–664; Arand u. a. (Hrsg.): Geschichtsunterricht im Dialog. Fächerübergreifende Zusammenarbeit. Münster 2006; Grosch (Anm. 1) wie auch in der Erstauflage des Bandes 2003; Arand (Anm. 8); Sauer (Anm. 12); Frauke Stübig: Fachübergreifender Unterricht. In: Ulrich Mayer u. a. (Hrsg.): Wörterbuch Geschichtsdidaktik. 3. Aufl. 2014 S. 65f.; ganz aktuell: das Themenheft »Fächerübergreifender und fächerverbindender Unterricht« Geschichte Lernen 28 (2015), H. 167 mit der thematischen Einführung von Franziska Conrad. Vgl. Arand (Anm. 8), S. 312f. und S. 318f. Vgl. ebd., S. 319.

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Herausforderungen für die Disziplin Welche Anregungen lassen sich aus dieser knappen Bestandsaufnahme für die geschichtsdidaktische Disziplin ableiten? Ich möchte im Folgenden einige Fragen formulieren, die das Spannungsfeld umreißen sollen, indem sich der Gegenstand dieser Sektion bewegt, nämlich das Historische Lehren und Lernen zwischen Fächerverbünden und fächerübergreifenden unterrichtlichen Zugängen. – Darf die Geschichtsdidaktik die Diskrepanz zwischen ihrer spezifischen Theorie, den Schwerpunkten ihrer empirischen Forschung und ihrer Pragmatik, in diesem Fall in der Lehramtsausbildung, auf der einen Seite und der Unterrichtsrealität in vielen Schulen auf der anderen Seite weiterhin übersehen, ohne – mit Ulrich Baumgärtner formuliert – Gefahr zu laufen, »den Anschluss an die Schulwirklichkeit […] zu verlieren«?30 Oder will sie sie vielleicht bewusst übersehen, um das Fach Geschichte gerade nicht zum Spielball oft bildungspolitischer Konjunkturen zu machen? Denn hinter der Einführung oder Ausweitung vieler gesellschaftswissenschaftlicher Fächerverbünde scheinen im Gegensatz zur Diskussion um »Gesellschaftslehre«/ »Sozialkunde« Anfang der 1970er Jahre31 oft weniger grundsätzliche bildungswissenschaftliche Überlegungen, denn kurz- und mittelfristige, wenig fundierte schulorganisatorische »Sachzwänge« zu stehen. – Bedarf es nicht einer fundierten Auseinandersetzung mit Lehren und Lernen in gesellschaftswissenschaftlichen Fächerverbünden und interdisziplinären Unterrichtsmodellen aus spezifisch geschichtsdidaktischer Perspektive in normativer, empirischer und pragmatischer Hinsicht, um das Feld nicht »den Lehrplankommissionen und Bildungsverlagen[n] samt ihrer Autorenschaft«32 zu überlassen? – Welche Möglichkeiten und Herausforderungen, aber auch welche Gefahren bringen Konzepte zum fächerübergreifenden rsp. fächerintegrierenden Unterricht für das historische Lernen mit sich? Wie können wir mehr über die Rahmenbedingungen, Umstände, Realitäten und Wirksamkeiten der verschiedenen Unterrichtsformen erfahren? Welche empirischen Untersuchungen sollten prioritär angegangen werden? 30 Ulrich Baumgärtner : Wissenschaftspropädeutik oder historische Bildung? Der Geschichtsunterricht am Gymnasium. In: Bernd Schönemann/Hartmut Voit (Hrsg.): Von der Einschulung bis zum Abitur. Prinzipien und Praxis des historischen Lernens in den Schulstufen. Idstein 2002 (Schriften zur Geschichtsdidaktik, Bd. 14), S. 230–242, S. 240. 31 Vgl. hierzu Grosch (Anm. 1), S. 68; auch Thomas Sandkühler : Geschichtsdidaktik als gesellschaftliche Repräsentation. Diskurse der Disziplin im zeitgeschichtlichen Kontext um 1970. In: Sauer u. a. (Hrsg.) (Anm. 9), S. 313–332, S. 329–331. 32 Brühne (Anm. 7), S. 105.

Fächerübergreifendes und fächerverbindendes historisches Lernen und Lehren

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– Wäre es vorstellbar, maßgeblich gestaltend an einer eigenständigen, wirklich integrativen Fachdidaktik für gesellschaftswissenschaftliche Fächerverbünde mitzuarbeiten, die bisher so nicht existiert?33 Gefährdete dies wirklich die eigenständige Geschichtsdidaktik und ihre Ziele oder könnte dieses Vorgehen nicht die historische Perspektive, das historische Lernen, gerade mehr in den Fokus rücken? Stärkte das Einbringen der geschichtsdidaktischen Theorie nicht das historische Lernen im Rahmen der doch in der Schulpraxis existierenden Fächerverbünde, in denen sonst die Förderung des Geschichtsbewusstseins unterzugehen droht bzw. ohne fachliche Fundierung ›versucht‹ wird? Kann vielleicht Lernen im Fachverbund sogar die spezifische fachliche Wissenschaftlichkeit stärken, wie Klaus Gebauer vor fast 20 Jahren vermutete?34 Lassen sich Fächerintegration und die Förderung spezifisch historischer Kompetenzen vielleicht sogar vereinbaren? Und: Wie kann bei der Reflexion dieser theoretisch-normativen Fragen der Blick über den Tellerrand helfen, auf den integrativen und dennoch unterschiedliche und unterscheidbare Fachkulturen berücksichtigenden Sachunterricht35 oder in andere Bildungssysteme, beispielsweise der Schweiz, Österreichs oder Frankreichs? – Welche spezifischen Lehr-Angebote ließen sich bezogen auf die Lehramtsausbildung für die erste und zweite Phase entwickeln, ohne die fundierte, kompetenzorientierte fachspezifische Ausbildung, und damit das Fach Geschichte und sein spezifisches Ziel der Ausbildung eines reflektierten und selbstreflexiven Geschichtsbewusstseins zu gefährden? Wie könnten diese Module gewährleisten mehr als eine rein additive Kombination von Fachunterricht zu befördern?

Zu den einzelnen Beiträgen Peter Gautschi und Nadine Fink ermöglichen mit ihrem pointierten Beitrag über fächerverbindendes historisches Lernen in der Schweiz den Blick ins Nachbarland. Sie stellen zunächst die aktuellen Lehrpläne sowohl der deutsch- als auch der französischsprachigen Schweiz mit ihren transdisziplinären Lernbereichen vor, bevor sie sich kritisch mit grundlegenden theoretischen Konzepten 33 Zur Didaktik der Gesellschaftswissenschaften, vgl. u. a. Christian Kuchler : Didaktik der Gesellschaftswissenschaften in Forschung und Lehre: das Aachener Modell. In: zdg 5 (2014), H. 1, S. 159–163. 34 Klaus Gebauer : Geschichtsunterricht an den Gesamtschulen. In: Klaus Bergmann u. a. (Hrsg.): Handbuch der Geschichtsdidaktik. 5. überarb. Aufl. Seelze-Velber 1997, S. 538–547, S. 540. 35 Gesellschaft für Didaktik des Sachunterrichts (GDSU): Perspektivrahmen Sachunterricht. Vollst. überarb. u. erw. Aufl. Bad Heilbrunn 2013.

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und Begriffen zwischen Fachspezifität und Fächerverbindung auseinandersetzen. Diese Klärungen münden in die Vorstellung und Diskussion zweier konkreter fächerverbindender Unterrichtsbeispiele, um die dauerhaft präsenten Berührungspunkte des historischen, geographischen und politischen Lernens zu verdeutlichen. Den Fokus auf Ansätze interdisziplinären Lernens in aktuellen Lehrplänen der Bundesrepublik richtet Michele Barricelli. Er untersucht in seinem Beitrag die neuen Rahmenlehrpläne Berlin-Brandenburg in Bezug auf fächerverbindende und -übergreifende Bezüge zwischen den gesellschaftswissenschaftlichen Schulfächern Geschichte und Geographie. Zuvor setzt sich der Autor im theoriebildenden Sinne mit den Fragen nach der Beziehung zwischen Raum und Zeit bzw. Raumverständnis und Geschichtsbewusstsein, Handeln und Deuten auseinander. Den Realitäten des historischen Lehrens und Lernens in Fächerverbünden widmet sich auch Oliver Plessow, allerdings mit einem anderen Fokus. Am Beispiel des Integrationsfachs Geschichte mit Gemeinschaftskunde an beruflichen Gymnasien in Baden-Württemberg richtet er den Blick auf die dieses Integrationsfach unterrichtenden Lehrkräfte und ihre, staatlich organisierte, Ausbildung in allen drei Phasen, um mit Hilfe einer Organisationsanalyse Rückschlüsse auf die tatsächliche Fächerintegration zu erlangen. Der Autor bietet damit eine Weiterführung seiner Analyse staatlicher Normen zu diesem Fach (Bildungsplan und Abituraufgaben) aus dem Jahr 2014.36 Basierend auf der Annahme, dass fächerverbindender Unterricht in der schulischen Praxis Lehrkräfte fordert, die interdisziplinäres und vernetztes fachwissenschaftliches und fachdidaktisches Denken im Laufe ihres Studiums kennen- und reflektieren gelernt haben, widmen sich Nikola Forwergk und Wolfang Moschek schließlich der Integration des fächerverbindenden historischen Unterrichtens in die universitäre Lehramtsausbildung. Sie stellen ein zahlreiche Fächer tangierendes interdisziplinäres Projektseminar vor, das sie an der TU Darmstadt angeboten und evaluiert haben, und versuchen auf diesem Wege erste Schlüsse über Potenziale solcher interdisziplinärer universitärer Lehr-Lern-Arrangements für die Lehramtsausbildung im Allgemeinen zu ziehen.

36 Oliver Plessow: »Geschichte mit Gemeinschaftskunde« in baden-württembergischen Berufsgymnasien – ein Beispiel für eine gelungene Fächerintegration? In: zdg 5 (2014), H. 1, S. 60–80.

Peter Gautschi / Nadine Fink

Lehrplanlyrik und Unterrichtsalltag in der Schweiz: Einblicke in fächerverbindendes historisches Lernen in der deutsch- und französischsprachigen Schweiz

Selbstverständlich ist auch in der deutsch- und französischsprachigen Schweiz in Diskussion, ob Geschichte nun fachspezifisch oder fächerverbindend unterrichtet werden soll. Die Diskussion findet nicht nur in Fachkreisen statt, sondern beschäftigt eine größere mediale und politische Öffentlichkeit. So hat beispielsweise die bekannte Westschweizer Tageszeitung »Le Temps« am 7. September 2015 darüber berichtet, dass die Schule Angst vor Vermittlung der Schweizer Geschichte habe. Der Artikel konstatiert unter anderem: »Von einem spezifischen Fach Geschichte ausgehend, vermischt sich Geschichte jetzt mehr und mehr mit den Fächern Geographie, Bildung für Nachhaltige Entwicklung und Politische Bildung zu einem interdisziplinären Unterricht, mit dem Risiko eines daraus folgenden Durcheinanders.«1 Auch in der Deutschschweiz wird gestritten, wo historisches Lernen stattfinden soll – ob in einem Fach Geschichte oder in einer Fächerverbindung. Der neue sprachregionale Lehrplan 21 hat für die Sekundarstufe I den Fachbereich »Räume, Zeiten, Gesellschaften« (RZG) gebildet, der die Fächer Geschichte, Geographie und Politische Bildung umfasst.2 Als Reaktion auf diesen durch den Lehrplan propagierten fächerverbindenden und interdisziplinären Unterricht hat nun die größte Schweizer politische Partei, die SVP, die geprägt ist durch national-konservative Positionen,3 Volksinitiativen lanciert, die mit der Festschreibung von Fächern im kantonalen Schulgesetz die Disziplinarität erhalten wollen. In Flugblättern wird beispielsweise wie folgt argumentiert: »Viele klassische Fächer (unter anderem Geschichte, Physik, Biologie) verschwinden. Nur ein Teil ihrer Inhalte wird, aus dem Zusammenhang gerissen, in Kompe1 Yelmarc Roulet: L’8cole a peur de l’histoire suisse. In: Le Temps vom 07. 09. 2015, S. 3 (Übersetzung N. F.). 2 http://vorlage.lehrplan.ch/ (aufgerufen am 16. 01. 2016). 3 Die SVP setzt sich für den Erhalt einer uneingeschränkten politischen Souveränität der Schweiz ein; sie verfolgt ein betont konservatives Gesellschaftsmodell. Aus den letzten gesamtschweizerischen Nationalratswahlen ging die Partei mit 26,6 % Wähleranteil als klar stärkste Partei hervor.

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tenzen gegossen und erscheint in neuen Gefäßen, z. B. ›Räume, Zeiten, Gesellschaften‹. Damit geht die Struktur des Wissens verloren – eigentlich Voraussetzung für Lernen und Verstehen.«4 Es ist also sowohl in der Westschweiz als auch in der Deutschschweiz eine Diskussion – um nicht zu sagen ein Kampf – im Gange um die Schulfächer, die gemäß Künzli als »die Maßeinheiten der staatlichen Schule«5 gelten. So bewirkt denn jede Form der Konstituierung der Fächerung sofort Kritik von der einen oder anderen Seite, weil jede Segmentierung und Differenzierung des Weltwissens auch die Weltwahrnehmung beeinflusst. Die Diskussionen werden umso erbitterter geführt, da bei der Konstituierung der Fächerung zwei unterschiedliche Logiken aufeinander prallen, nämlich die Psychologik und die Sachlogik.6 Wer öffentlich Stellung nimmt, navigiert zwischen Skylla und Charybdis: Weicht man der einen Gefahr aus, begibt man sich in die andere, so dass man aus diesem Dilemma ohne Schaden offenbar nicht herauskommt. Nun zeigt sich in der Debatte, dass viele Fachwissenschaftler/-innen, viele Didaktiker/-innen und viele Politiker/-innen der Sachlogik folgen und Schulfächer fordern, die sich an den tradierten Disziplinen orientieren. Demgegenüber sympathisieren viele Lehrplan-Macher/-innen, viele Pädagog/-innen und auch viele Lehrer/-innen mit der Psychologik, die die Welt aus Sicht der Kinder und Jugendlichen betrachtet, denen sie ungefächert entgegen tritt. Aus dieser Perspektive scheint es logischer, Fächerverbünde zu konstituieren. Der vorliegende Beitrag ermöglicht im ersten Teil Einblicke in die sprachregionalen Lehrpläne der deutsch- und französischsprachigen Schweiz. Die Passagen sind im Titel mit »Lehrplanlyrik« charakterisiert, um zu signalisieren, dass die Lehrplantexte zwar gut tönen, die Konkretisierung in Lehrmitteln und die Umsetzung im Unterrichtsalltag jedoch noch zu leisten ist. Im zweiten Teil folgen begriffliche Klärungen und theoretische Überlegungen zur Fachspezifität und zur Fächerverbindung im Bereich des historischen, geographischen und politischen Lernens. Eingegangen wird einerseits auf fachspezifische Basiskonzepte, die v. a. in der Politischen Bildung eine große Rolle spielen, in der Geschichtsdidaktik aber noch wenig thematisiert wurden. Vorgestellt wird andererseits ein fächerverbindendes Modell mit kompetenzorientierten Handlungsaspekten, das die Unterrichtsentwicklung in der Deutschschweiz prägt. Im dritten Teil werden daran anknüpfend zwei Unterrichtsvorschläge aus der West- und der Deutschschweiz vorgestellt, die fächerverbindenden Unterricht 4 http://www.zeit-fragen.ch/ARCHIV/ZF_88d/index.php?id=1885 (aufgerufen am 16. 01. 2016). 5 Rudolf Künzli: Das Lerngerüst der Schule. In: Zeitschrift für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften (zdg) 4 (2012), H. 2, S. 94–113, hier S. 94. 6 Ebd., S. 110.

Lehrplanlyrik und Unterrichtsalltag in der Schweiz

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zu konkretisieren suchen. Es geht erstens anhand der Beispiele Genf und Carouge um die Frage nach ›idealen Städten‹. Zur Beantwortung dieser Frage leisten Geschichte und Geographie wichtige Beiträge. Es geht zweitens um Umweltgeschichte und dabei besonders um den Wandel im Umgang mit giftigen Abfällen der chemischen Industrie in den letzten Jahrzehnten. Bei der Beschäftigung mit diesem Unterrichtsvorschlag »Sondermülldeponie Kölliken – eine teure Fehleinschätzung« werden historische, geographische und politische Perspektiven eingenommen. Zum Schluss dieses Beitrags plädieren wir dafür, in Schule und Unterricht von Phänomenen und Problemen auszugehen und auf deren Thematisierung hinzusteuern, den Weg allerdings über eine klare Perspektivierung, somit also über den Fachunterricht zu wählen, der fallweise und themenbezogen fächerverbindende Kooperationen mit anderen Fächern – in erster Linie mit denjenigen der Gesellschaftswissenschaften bzw. der Kulturwissenschaften – eingeht.

1.

Einblicke in Lehrpläne aus der deutsch- und französischsprachigen Schweiz

Seit Kurzem verfügen sowohl die deutsch- als auch die französischsprachige Schweiz über je einen sprachregionalen Lehrplan.7 In beiden Grundlagendokumenten ist historisches Lernen in einem größeren Kontext situiert, in der Deutschschweiz bei den Sozial- und Geisteswissenschaften in Verbindung mit den Naturwissenschaften, in der Westschweiz ohne die Naturwissenschaften. Die Lernbereiche heißen »Natur, Mensch, Gesellschaft« (NMG) und »Sciences humaines et sociales«.

1.1

Lehrplan in der deutschsprachigen Schweiz

Im neuen Deutschschweizer Lehrplan 21 wird die schulische Grundbildung in sechs Fachbereiche gegliedert: Sprachen, Mathematik, Natur, Mensch und Gesellschaft (NMG), Gestalten, Musik sowie Bewegung und Sport (vgl. Abbildung 1). Diese seien gesellschaftlich bestimmt und orientierten sich an kulturellen und schulischen Traditionen und Normen.8 Historisches Lernen findet im 7 Für die Deutschschweiz verfügbar unter : https://www.lehrplan.ch/ (aufgerufen am 17. 01. 2016), für die Westschweiz verfügbar unter : https://www.plandetudes.ch/ (aufgerufen am 20. 02. 2016). 8 Lehrplan 21, Grundlagen, S. 2, verfügbar unter http://vorlage.lehrplan.ch/gesamtausgabe/ Gesamtlehrplan%201%20FS%20Franzoesisch.pdf (aufgerufen am 17. 01. 2016).

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Fachbereich »Natur, Mensch, Gesellschaft« statt. Dazu wird festgehalten: »Die Schüler/-innen setzen sich mit der Welt in ihren natürlichen, technischen, historischen, kulturellen, sozialen, ökonomischen, ethischen und religiösen Dimensionen mit ihren je eigenen Phänomenen und Prozessen auseinander. Sie erweitern ihre Kenntnisse und Fähigkeiten, die es ihnen ermöglichen, sich in der Welt zu orientieren, diese immer besser zu verstehen, sie aktiv mitzugestalten und in ihr verantwortungsvoll zu handeln«.9

Fachbereiche Lehrplan 21 HarmoSBildungsbereiche

Fachbereiche Lehrplan 1. Zyklus K1 K2 1. 2. 3.

2. Zyklus 4. 5.

6.

7.

3. Zyklus 8.

9.

Schulsprache (Deutsch) Sprachen

Mathematik u. Naturwissenschaften

Sozial- und Geisteswissenschaften

Mathematik Natur und Technik

(mit Physik, Chemie, Biologie)

Natur, Mensch, Gesellschaft (NMG)

Wirtschaft, Arbeit, Haushalt

(mit Hauswirtschaft)

Räume, Zeiten, Gesellschaften

(mit Geografie, Geschichte)

Ethik, Religionen, Gemeinschaft (mit Lebenskunde) Bildnerisches Gestalten Musik, Kunst und Gestaltung

Gestalten Textiles und technisches Gestalten

Überfachliche Themen

2. Fremdsprache (F oder E)

Überfachliche Kompetenzen Personale, soziale und methodische Kompetenzen

1. Fremdsprache (F oder E)

Musik Bewegung und Gesundheit

Bewegung und Sport Zusätzliche kantonale Bildungsangebote

Abbildung 1: Schema der Fachbereichsordnung10

Deutlich wird die Orientierung des Lehrplans 21 an der Psychologik und die Propagierung des fächerübergreifenden Unterrichts insbesondere in den Passagen, die sich mit Bildung für Nachhaltige Entwicklung befassen: »Wie viele alltagsbezogene und komplexe Problemstellungen sind die Themen der Nachhaltigen Entwicklung in den seltensten Fällen einem einzelnen Fachbereich zuzuordnen.« Und weiter : »Formen fächerübergreifenden Unterrichts sind ge9 Ebd., S. 3. 10 Lehrplan 21, Überblick, S. 3, verfügbar unter : https://www.lehrplan.ch/ (aufgerufen am 17. 01. 2016).

Lehrplanlyrik und Unterrichtsalltag in der Schweiz

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eignet, die Vielschichtigkeit eines komplexen Themas sichtbar, zusammenhängend, Wechselwirkungen fassbar und verständlich zu machen. – Die Schüler/-innen erfahren, dass nicht nur eine Sichtweise richtig oder adäquat ist. Dabei lernen sie die Grenzen von Sichtweisen wahrzunehmen und konstruktiv damit umzugehen (z. B. bei Fragestellungen zu Konsum, Menschenrechten oder Energie).«11 Der Fachbereich Natur, Mensch, Gesellschaft (NMG) umfasst vier inhaltlichen Perspektiven: Natur und Technik (NT), Wirtschaft, Arbeit, Haushalt (WAH), Räume, Zeiten, Gesellschaften (RZG) und Ethik, Religionen, Gemeinschaft (ERG). Im 3. Zyklus werden die vier Perspektiven in jeweils spezifisch ausgerichteten Fachbereichen dargestellt.12 »Räume, Zeiten, Gesellschaften« (RZG; mit Geographie und Geschichte) besteht aus so genannten Kompetenzbereichen, in denen inhaltliche Bereiche und Handlungsaspekte verknüpft werden. Dies erfolgt sprachlich durch die Bildung von Wortketten: Substantive für Inhalte, Verben für Handlungsaspekte. Im Fachbereich »Räume, Zeiten, Gesellschaften« wurden acht solche Kompetenzbereiche festgelegt: 1. Natürliche Grundlagen der Erde untersuchen 2. Lebensweisen und Lebensräume charakterisieren 3. Mensch-Umwelt-Beziehungen analysieren 4. Sich in Räumen orientieren 5. Schweiz in Tradition und Wandel verstehen 6. Weltgeschichtliche Kontinuitäten und Umbrüche erklären 7. Geschichtskultur analysieren und nutzen 8. Demokratie und Menschenrechte verstehen und sich dafür engagieren.13 Die Auflistung der Kompetenzbereiche zeigt, dass sich die ersten vier Kompetenzbereiche schwergewichtig der Geographie, dass sich die drei Kompetenzbereiche fünf bis sieben schwergewichtig der Geschichte und dass sich ein Kompetenzbereich der Politischen Bildung zuordnen lässt. Das hat pädagogische, didaktische und vor allem schulpolitische Gründe. So steht es den Kantonen frei, ob sie Geschichte und Geographie gemeinsam oder getrennt anbieten wollen, und so steht es den Pädagogischen Hochschulen frei, ob sie Geschichtslehrpersonen oder Lehrpersonen für »Räume, Zeiten, Gesellschaften« ausbilden wollen. 11 Ebd., S. 21. 12 Lehrplan 21, Fachbereichslehrplan »Natur, Mensch, Gesellschaft«, S. 1, verfügbar unter http://vorlage.lehrplan.ch/gesamtausgabe/Gesamtlehrplan%201%20FS%20Franzoesisch.pdf (aufgerufen am 17. 01. 2016). 13 Lehrplan 21, Fachbereichslehrplan »Räume, Zeiten, Gesellschaften«, Inhaltsverzeichnis, verfügbar unter http://projekt.lehrplan.ch/lehrplan/V5/ablage/FS1F_Fachbereich_RZG_3. Zyklus.pdf.

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Kompetenzbereiche bestehen im Lehrplan 21 aus Kompetenzen. In den für historisches Lernen relevantesten Kompetenzbereichen sind dies zwölf Kompetenzen, die in der folgenden Tabelle zusammengestellt sind: Tabelle 1: Kompetenzbereiche und Kompetenzen für historisches Lernen und politische Bildung im Lehrplan 2114 Kompetenzbereich Schweiz in Tradition und Wandel verstehen

Weltgeschichtliche Kontinuitäten und Umbrüche erklären

Kompetenzen: Die Schüler/-innen können … Entstehung und Entwicklung der Schweiz erklären. aufzeigen, wie Menschen in der Schweiz durch wirtschaftliche Veränderungen geprägt werden und wie sie die Veränderungen gestalten. das Alltagsleben von Menschen in der Schweiz in verschiedenen Jahrhunderten vergleichen. die Geschichte vom Beginn der Neuzeit bis heute in ausgewählten Längsschnitten erzählen. Kontinuitäten und Umbrüche im 19. Jahrhundert charakterisieren. ausgewählte Phänomene der Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts analysieren und deren Relevanz für heute erklären.

Geschichtskultur analysieren und nutzen

Demokratie und Menschenrechte verstehen und sich dafür engagieren

sich an ausserschulischen geschichtlichen Bildungsorten zurechtfinden und sie zum Lernen nutzen. Geschichte zur Bildung und Unterhaltung nutzen. aus Gesprächen mit Zeitzeugen Erkenntnisse über die Vergangenheit gewinnen. die Schweizer Demokratie erklären und mit anderen Systemen vergleichen. die Entwicklung, Bedeutung und Bedrohung der Menschenrechte erklären. die Positionierung der Schweiz in Europa und der Welt wahrnehmen und beurteilen.

Schließlich wurde für jede Kompetenz die erwartete Kompetenzentwicklung mit drei bis vier Stufenbeschreibungen ausgeschildert. Auf diese Weise wurden die angestrebte Kompetenzentwicklung und damit Wege des kumulativen Lernens 14 Ebd., S. 10–17.

Lehrplanlyrik und Unterrichtsalltag in der Schweiz

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dargelegt, wobei verschiedene Möglichkeiten der Progression berücksichtigt wurden.

1.2

Lehrplan in der französischsprachigen Schweiz

Im neuen Westschweizer Lehrplan – plan d’8tudes romand (PER)15 – wird die schulische Grundbildung in sieben Fachbereiche gegliedert: Sprachen, Mathematik und Naturwissenschaften, Sozial- und Geisteswissenschaften, Musik, Kunst und Gestaltung, Bewegung und Gesundheit, Überfachliche Bildungsanliegen16, Allgemeine Bildung17. Historisches Lernen ist zusammen mit der Geographie und der Politischen Bildung im Fachbereich »Sozial- und Geisteswissenschaften« (sciences humaines et sociales) integriert. Der Bereich besteht aus drei Hauptachsen – Raum, Zeit und Gesellschaft – und wird in der Einleitung wie folgt bezeichnet: »Im Fachbereich Sozial- und Geisteswissenschaften wird der Erwerb von Erkenntnissen, Konzepten, Methoden und von Kompetenzen organisiert, die notwendig sind, um die Welt zu verstehen, in der man lebt, um sich einzugliedern und um teilzuhaben an einer Nachhaltigen Entwicklung.«18 Der Lehrplan ist in Bezug auf die Entwicklung von Kenntnissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie methodologischen Tools strukturiert. Einige davon gelten für den Bereich Sozial- und Geisteswissenschaften, andere sind spezifisch für Geschichte, für Geographie oder für Politische Bildung. Im Gegensatz zum Lehrplan 21 besteht im PER jedes Fach für sich und stellt eine besondere Sicht auf die Welt dar. Der Zugang zu Vergangenheit und Gegenwart ist im Bereich Sozial- und Geisteswissenschaften zugleich disziplinorientiert und vernetzt. Im Fach Geographie werden geographische Räume und Beziehungen zwischen Menschen und Gesellschaften analysiert. Im Fach Geschichte wird die kollektive Organisation der Gesellschaft hier, anderswo und durch die Zeit erforscht. Politische Bildung betrifft die Hauptmerkmale eines demokratischen Systems. Die disziplinäre Tradition zeigt sich folglich im PER deutlich. Die Interdisziplinarität besteht hauptsächlich aus Absichten, im Dokument konkretisiert mit interaktiven Links zu anderen Fächern. Einige Themen, die im Fach Geschichte untersucht werden (z. B. »Europäische Union« und »Migration«), sollten mit der Geographie und der Politischen Bildung in Verbindung 15 https://www.plandetudes.ch/ (aufgerufen am 20. 02. 2016). 16 Zu den »Überfachlichen Bildungsanliegen« gehören beispielsweise Kommunikation, Lernstrategien oder Kreatives Denken. 17 Bei der »Allgemeinen Bildung« werden unter anderem Politische Bildung, Gesundheitserziehung oder Informatik erwähnt. 18 Ebd., Cycle 3, SHS, S. 63.

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gebracht werden. Klickt man aber auf diese Links, wird man einfach auf den Bereich Geographie oder Politische Bildung geleitet. Die Verbindungen bleiben also implizit, unklar und bieten keinen praktischen Ansatz. Es ist zu hoffen, dass die neuen Lehrmittel, die noch in Ausarbeitung sind, eine konkrete Umsetzung dieses interdisziplinären Umgangs anbieten werden.

2.

Theoretische Überlegungen zur Fachspezifität und zur Fächerverbindung

Wer sich mit Fachspezifität und Fächerverbindung beschäftigt, kommt nicht umhin, sich mit den Begrifflichkeiten auseinanderzusetzen, nach Argumentationen für das Eine oder Andere sowie nach empirischen Untersuchungen zu suchen und schließlich generell die Frage nach der Fachspezifität und nach theoretischen und praktischen Möglichkeiten der Fächerverbindung zu stellen.19

2.1

Fachspezifität

Natürlich gibt es auch für Geschichtsunterricht seit Langem Bemühungen, um das Typische, Charakteristische und Unverwechselbare der historischen Bil19 Die deutschsprachige Geschichtsdidaktik hat seit Langem und relativ ausführlich Überlegungen zur Fachspezifität und zur Fächerverbindung publiziert. Vgl. dazu insbesondere Bettina Alavi: Das Verhältnis von Disziplinarität und Interdisziplinarität in Fächerverbünden der Hauptschule am Beispiel Geschichte. In: Saskia Handro/Bernd Schönemann (Hrsg.): Geschichtsdidaktische Lehrplanforschung. Methoden – Analysen – Perspektiven, Münster 2004, S. 137–149 oder Tobias Arand: Fächerverbindender Geschichtsunterricht. In: Michele Barricelli/Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts. Bd. 2. Schwalbach/Ts. 2012, S. 308–324, dann insbesondere Franziska Conrad: Ein neuer Königsweg? Fachübergreifender Unterricht. In: Hartmut Wunderer : Geschichtsunterricht in der Sekundarstufe II. Schwalbach/Ts. 2000, S. 132–153 und dies.: Fachübergreifender und fächerverbindender Unterricht. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 57 (2006), H. 11, S. 650–664 sowie natürlich pointiert Hans-Jürgen Pandel: Postmoderne Beliebigkeit. Über den sorglosen Umgang mit Inhalten und Methoden. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 50 (1999), H. 5, S. 282–291 und ders.: Geschichte: Schulfach oder Lernbereich? Verfügbar unter http://www.lehrplanforschung.ch/wp-content/uploads/2014/11/Pan del-Schulfach.pdf (aufgerufen am 17. 01. 2016). Auch für die Didaktiken der Geographie, der Politischen Bildung und natürlich für die Allgemeindidaktik stellt sich das Problem. Vgl. dazu etwa Carl Deichmann/Christian Tischner : Handbuch Fächerübergreifender Unterricht in der politischen Bildung. Schwalbach/Ts. 2013; Ludwig Duncker : Über Fachgrenzen hinaus: Chancen und Schwierigkeiten des fächerübergreifenden Lehrens und Lernens. Heinsberg 2000 und ausführlich Wilhelm H. Peterssen: Fächerverbindender Unterricht. Begriff, Konzept, Planung, Beispiele. München 2000.

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dung und des historischen Lernens zu bestimmen.20 Zentral waren sicher die »Kategorien der Geschichtsdidaktik«, die Ulrich Mayer und Hans-Jürgen Pandel 1976 formuliert haben.21 Der Selbstanspruch der Arbeit von Mayer und Pandel war hoch: Die beiden Autoren wollten mit ihrem Kategoriensystem »die Möglichkeit zu einer erwünschten und notwendigen Objektivierung des ›spezifisch Historischen‹ in Unterrichtsprozessen eröffnen«22 und auf diese Weise die Struktur der Disziplin bzw. die »Grammatik des Faches«23 in didaktischer Absicht zum Ausdruck bringen. Ihre Kategorien ordneten Mayer und Pandel in vier Dimensionen, die in der Fassung von Ulrich Mayer von 2005 wie folgt lauten:24 Die erste Dimension »Bezogenheit der Geschichte auf die eigene Situation« umfasst (in der neuen Fassung 2005) die drei Kategorien »Gegenwartsbezug«, »Identifikation« und »Perspektivität«. Die zweite Dimension »Methoden historischer Erkenntnis« umfasst zum einen das hermeneutische »Verstehen« und zum andern das sozialwissenschaftliche »Erklären«. Die dritte Dimension »Entwicklungszusammenhang aller Zustände und Veränderungen in der Zeit« enthält (in der neuen Fassung 2005) die Kategorien »Zeitpunkt«, »Dauer« sowie »Gewordenheit«, »Veränderbarkeit« und »Zukunftsperspektive« und damit diejenigen Aspekte, die in aller Regel Definitionen von Geschichte bestimmen. Die vierte Dimension »Menschliches Handeln im fortschreitenden Prozess gesellschaftlicher Praxis« macht deutlich, dass »die handelnden Menschen in den strukturellen Bezügen ihrer jeweiligen Zeit der zentrale Gegenstand der Geschichte sind«25. In ihr spiegeln sich ebenfalls die sozialgeschichtlichen Perspektiven »Herrschaft«, »Wirtschaft« und »Kultur« von Wehler.26 Neben Kategorien dienen vor allem Konzepte bzw. Basiskonzepte dazu, den Kern eines Faches herauszuarbeiten. Basiskonzepte werden verstanden als »die strukturierte Vernetzung aufeinander bezogenen Begriffe, Theorien und erklärender Modellvorstellungen, die sich aus der Systematik eines Faches zur Beschreibung elementarer Prozess- und Phänomene historisch als relevant her-

20 Ulrich Mayer: Qualitätsmerkmale historischer Bildung. Geschichtsdidaktische Kategorien als Kriterien zur Bestimmung und Sicherung der fachdidaktischen Qualität des historischen Lernens. In: Wilfried Hansmann/Timo Hoyer: Zeitgeschichte und historische Bildung. Festschrift für Dietfrid Krause-Vilmar. Kassel 2005, S. 223–243, hier S. 224. 21 Ulrich Mayer/Hans-Jürgen Pandel: Kategorien der Geschichtsdidaktik und Praxis der Unterrichtsanalyse. Zur empirischen Untersuchung fachspezifischer Kommunikation im historisch-politischen Unterricht. Stuttgart 1976. 22 Ebd., S. 46. 23 Ebd., S. 80. 24 Mayer (Anm. 20), hier S. 236. 25 Ebd., hier S. 238. 26 Hans-Ulrich Wehler : Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 1. 4. Aufl. München 2006, S. 7.

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ausgebildet haben.«27 Sie scheinen auch für Schüler/-innen nachvollziehbare Erklärungsansätze und Leitideen des fachlichen Denkens zu sein.28 Für Geschichtsvermittlung breit rezipiert sind die »Historical Thinking Concepts« vom Centre for the Study of Historical Consciousness um Peter Seixas: Dort findet sich auf der Website folgende Kurzübersicht über die sechs Konzepte: »To think historically, students need to be able to: 1. Establish historical significance 2. Use primary source evidence 3. Identify continuity and change 4. Analyze cause and consequence 5. Take historical perspectives, and 6. Understand the ethical dimension of historical interpretations.«29

Im deutschsprachigen Raum ist die Diskussion um Basiskonzepte für Geschichte und Geschichtsvermittlung nicht sehr weit gediehen – ganz im Gegensatz zur Politischen Bildung. Hier wird beispielsweise darüber diskutiert, ob und wie der fachliche Kern des Wissens in einer kompetenzorientierten Politischen Bildung in Form von Basiskonzepten definiert werden könnte.30 Zum einen identifizieren Weisseno u. a. drei Basiskonzepte der Politik, denen sie Fachkonzepte zuordnet:31 – Ordnung: Demokratie, Europäische Integration, Gewaltenteilung, Grundrechte, Internationale Beziehungen, Markt, Rechtsstaat, Repräsentation, Sozialstaat, Staat – Entscheidung: Europäische Akteure, Interessengruppen, Konflikt, Legitimation, Macht, Massenmedien, Öffentlichkeit, Opposition, Parlament, Parteien, Regierung, Wahlen – Gemeinwohl: Freiheit, Frieden, Gerechtigkeit, Gleichheit, Menschenwürde, Nachhaltigkeit, öffentliche Güter, Sicherheit. Etwas andere Akzente setzt die »Autorengruppe Fachdidaktik«: Sie betont zum Beispiel den Zusammenhang von Bildung und Kompetenz und plädiert deshalb für ein komplexeres Kompetenz- und Unterrichtsverständnis. Besand u. a. 27 Reinhard Demuth/Bernd Ralle/Ilka Parchmann: Basiskonzepte – eine Herausforderung an den Chemieunterricht. In: CHEMKON12 (2005), H. 2, S. 55–60, hier S. 57. 28 Vgl. Rainer Uphues: Basiskonzept. In: Dieter Böhn/Gabriele Obermaier (Hrsg.): Wörterbuch der Geographiedidaktik. Braunschweig 2013, S. 22–23. 29 http://historicalthinking.ca/historical-thinking-concepts (aufgerufen am 17. 01. 2016). 30 Wolfgang Sander : Kompetenzorientierung als Forschungs- und Konfliktfeld der Didaktik der Politischen Bildung. In: Ders. (Hrsg.): Handbuch Politische Bildung. Schwalbach/ Ts. 2014. S. 113–124, hier S. 120. 31 Georg Weisseno u. a.: Konzepte der Politik. Ein Kompetenzmodell. Schwalbach/Ts. 2009.

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(2011) präsentieren sechs Basiskonzepte als Leitideen der Politischen Bildung und schlagen dazu ausgewählte Teilkonzepte bzw. Teilkategorien vor :32 – System: Herrschafts- und ordnungsbildende gesellschaftliche Teilsysteme – Akteure: Individuen und Gruppen mit unterschiedlichen Partizipationschancen – Bedürfnisse: Knappheit als gesellschaftliche Grundbedingung und Auslöser von Kooperations- und Verteilungsproblemen – Grundorientierungen: Gemeinsame und unterschiedliche Deutungsmuster und Deutungskontexte – Macht: Kontextspezifische Mittel und Verfahren zur Durchsetzung allgemeiner Verbindlichkeit – Wandel: Gesellschaftliche Veränderungen als Ausdruck kontingenter Wertund Machtstrukturen. Für den schulischen Vermittlungsprozess von Politik sollen ausgewählte Fachkonzepte im Zentrum stehen, wobei zu beachten ist, dass diese vielfältige Beziehungen zu anderen Fachkonzepten aufweisen. Basiskonzepte werden auch in der Geographie diskutiert. Sie sollen als fachlicher roter Faden und als wiederkehrende Regelhaftigkeiten über die einzelnen Probleme und Themen hinweg den kumulativen Aufbau und den Erwerb geographischen Denkens unterstützen.33 Bekannt ist das so genannte »Nachhaltigkeitsviereck«, das »vor dem Hintergrund der Bedeutsamkeit des Globalen Lernens und der Bildung für nachhaltige Entwicklung für das Lernen im Geographieunterricht« als Modell für Basiskonzepte herangezogen wird.34 Das Modell umfasst zwischen den beiden Polen »Zeitliche Perspektive (Intergenerationale Gerechtigkeit)« und »Räumliche Perspektive (Weltweite Gerechtigkeit«) folgende vier Aspekte:35 – Soziales: Soziale Gerechtigkeit, Werte und Normen, Gesellschaft – Ökologie: Umweltverträglichkeit, Ökosystem – Politik: Good Governance, Rechtsstaat – Ökonomie: Wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, Markt. 32 Autorengruppe Fachdidaktik (Anja Besand, Tilman Grammes, Reinhold Hedtke, Peter Henkenborg, Dirk Lange, Andreas Petrik, Sibylle Reinhardt, Wolfgang Sander): Sozialwissenschaftliche Basiskonzepte als Leitideen der politischen Bildung – Perspektiven für Wissenschaft und Praxis. In: Dies.: Konzepte der Politischen Bildung. Eine Streitschrift. Bonn 2011, S. 163–171 (Schriftenreihe der Bundeszentrale für Politische Bildung, Bd. 1141). Ebenso: Schwalbach/Ts. 2011. 33 Tilman Rhode-Jüchtern: Eckpunkte einer modernen Geographiedidaktik. Seelze-Velber 2009. 34 Janis Fögele: Mit geographischen Basiskonzepten Komplexität bearbeiten. In: Geographie aktuell & Schule 37 (2015), H. 216, S. 11–21, hier S. 15. 35 Ebd.

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Neben den Kategorien und Konzepten, die aus der Systematik der jeweiligen Fachwissenschaften gewonnen werden und gewissermaßen den Kern der »Sache« spiegeln, dienen auch die durch die Fachdidaktiken entwickelten fachspezifische Lern-, Denk- und Kompetenzmodelle dazu, das Eigentliche eines Unterrichtsfaches näher zu bestimmen, um darauf aufbauend Bildungsstandards zu formulieren. »Bildungsstandards sollen die Kernideen der Fächer bzw. Fächergruppen besonders klar herausarbeiten, um Lehren und Lernen zu fokussieren. Zu diesen Kernideen gehören: die grundlegenden Begriffsvorstellungen, (…) die damit verbundenen Denkoperationen und Verfahren und das ihnen zuzuordnende Grundlagenwissen.«36 Wie schon das Zitat deutlich macht, dienen allerdings solche Kompetenzmodelle auch gerade dazu, Fächergruppen und damit Fächerverbindungen zu ermöglichen, wie dies beispielsweise im Lehrplan 21 erfolgt ist.

2.2

Fächerverbindung

Von Fächerverbindung wird dann gesprochen, wenn ein mehrperspektivisches und interdisziplinäres Lernangebot aufgrund eines gemeinsamen Lehrplans mit Hilfe von gemeinsamen Lehrmitteln und Lernmaterialien in einem gemeinsamen Zeitgefäß unterrichtet wird. Dies unterscheidet sich vom fächerübergreifenden Unterricht, in dem in einem spezifischen Fach auf Beiträge anderer Fächer Bezug genommen wird.37 Für fächerübergreifenden oder fächerverbindenden Unterricht gibt es viele Gründe:38 – Die Wirtschaft fordert von Schule und Unterricht, dass Problemlösekompetenz und vernetztes Denken ausgebildet und ausdifferenziert werden. – Die Wissenschaft fordert von Schule und Unterricht, dass in interdisziplinäres und projektartiges Arbeiten eingeführt wird. Nicht zerstückeltes deklaratives, sondern intelligentes und flexibel nutzbares Wissen sei das Ziel von Bildung. Dies sei das wesentliche Kennzeichen von Hochschulreife. – Die Politik ruft nach Anwendbarkeit und Gesellschaftsnähe von Schule und Unterricht. 36 Eckhard Klieme/Hermann Avenarius/Werner Blum u. a.: Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards. Eine Expertise. Herausgegeben von Bundesministerium für Bildung und Forschung 2003 (Bildungsforschung, Bd. 1), verfügbar unter http://www.bmbf.de/pub/zur_ entwicklung_nationaler_bildungsstandards.pdf (aufgerufen am 17. 01. 2016), hier S. 26. 37 Vgl. dazu Franziska Conrad: Fachübergreifender/fächerverbindender Unterricht und Kompetenzorientierung. In: Geschichte lernen 28 (2015), H. 167, S. 2–11, hier S. 5. 38 Ebd., S. 3–4.

Lehrplanlyrik und Unterrichtsalltag in der Schweiz

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Zwar existieren zur Wirksamkeit von fächerübergreifendem Geschichtsunterricht oder fächerverbindendem gesellschaftswissenschaftlichen Unterricht kaum empirische Studien. Angesichts des Umstandes, dass es sich hier doch um fundamentale Fragen der Unterrichtsgestaltung handelt, ist dies erstaunlich. Die wenigen größeren Untersuchungen heben eher die Vorzüge des fachspezifischen Unterrichts hervor. Die britische Untersuchung »Concepts of History and Teaching Approaches« hat gemäß Waldemar Grosch ergeben, »dass die Lerngewinne bei komplexeren Anforderungen dort deutlich höher ausfallen, wo Geschichte als ›eigener und abgrenzbarer Gegenstand unterrichtet wird‹«39. Bodo von Borries folgert zu dieser Studie: »Die Integration in ein Fach ›Politik‹ oder ›Gemeinschaftskunde‹ erweist sich – jedenfalls in England – für das historische Lernen als erheblicher Nachteil.«40 Ungeachtet dieser Befunde und trotz des geringen empirischen Wissens in diesen Fragen wird fächerübergreifender und fächerverbindender Unterricht in der Schweiz heute bei Lehrmittelentwicklungen gerade auch von den politischen Verantwortlichen und den Entscheidungsträgern stark propagiert.41 So wurde bereits im Grundlagenbericht zum Lehrplan 21 ein gemeinsames Kompetenzstufenmodell für alle Fachbereiche vorgegeben, und für den Fachbereich »Natur, Mensch, Gesellschaft (NMG)« wurde ein gemeinsames Modell für die Kompetenzentwicklung festgelegt, das für Biologie, Chemie und Physik genauso gelten soll wie für Ethik und Religionen, für Hauswirtschaft und Wirtschaft oder für Politische Bildung, Geographie und Geschichte. In all diesen Perspektiven ginge es um Weltbegegnung: »Wenn Kinder und Jugendliche der Welt begegnen und sich mit ihr auseinandersetzen, nehmen sie neue Phänomene, Sachen und Situationen wahr, erschließen sich diese und ordnen sie in ihre Vorstellungen zur Welt ein. Dabei gewinnen sie zunehmend Orientierung in der Welt und erlangen Handlungsfähigkeit. Dies alles erfordert Wissen und Können, Erfahrungen und Interessen und geschieht in einem Prozess, in dem die vier Handlungsaspekte verknüpft sind und sich permanent abwechseln.«42 Die vier Handlungsaspekte lauten:43 39 Waldemar Grosch: Geschichte im Fächerverbund. In: Hilke Günther-Arndt/Meik ZülsdorfKersting (Hrsg.): Geschichts-Didaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II. 6., überarb. Aufl. Berlin 2014, S. 67–73, hier S. 72. 40 Bodo von Borries: Lehr-/Lernforschung in europäischen Nachbarländern – ein Stimulus für die deutschsprachige Geschichtsdidaktik? In: Saskia Handro/Bernd Schönemann (Hrsg.): Methoden geschichtsdidaktischer Forschung. Münster 2002, S. 13–50, hier S. 26. 41 Vgl. dazu etwa Christian Amsler : Projekt Lehrplan 21 – die Politik und die Geschichte. In: Public History Weekly 1 (2013) 9, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2013-368 (aufgerufen am 4. 3. 2016). 42 Lehrplan 21, Fachbereichslehrplan »Natur, Mensch, Gesellschaft«, S. 1, verfügbar unter http://vorlage.lehrplan.ch/gesamtausgabe/Gesamtlehrplan%201%20FS%20Franzoesisch.pdf (aufgerufen am 17. 01. 2016), S. 2.

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Die Welt wahrnehmen Sich die Welt erschliessen Sich in der Welt orientieren In der Welt handeln.

Diese Handlungsaspekte sollen also einen orientierenden Rahmen für den Umgang mit Fragen, Problemen und Phänomenen bieten, die aus verschiedenen inhaltlichen Perspektiven sowie mit verschiedenen Zugangsweisen und Methoden studiert und bearbeitet werden können. Fächerübergreifender Geschichtsunterricht und fächerverbindender gesellschaftswissenschaftlicher Unterricht zeichnen sich also dadurch aus, dass entlang eines überfachlichen Handlungszyklus’ ausgewählte Fragen aus unterschiedlichen Fachperspektiven thematisiert und dabei ausgewählte Basiskonzepte verschiedener Disziplinen behandelt werden. Im Folgenden soll dies anhand zweier Beispielen konkretisiert werden.

3.

Zwei fächerverbindende Unterrichtsbeispiele

Die Entwicklung von Lehr- und Lernmaterialien mit dem Ziel einer Verbesserung des alltäglichen Unterrichts gehört zu den wichtigsten Aufgaben der Geschichts- oder einer wie auch immer zusammengesetzten Bereichsdidaktik.44 Fach- oder Bereichsdidaktik, so betrieben, wäre eine »Design Science« im Sinne von Simon,45 weil sie es mit künstlichen Dingen (Unterricht) zu tun hat und mit der Frage beschäftigt, wie man »Artefakte« (also Handlungspläne und Lernaufgaben) mit gewünschten Eigenschaften (fachspezifisch bedeutsam, lernerbezogen, anregend) entwirft und herstellt. Zwei solcher Unterrichtsvorschläge sollen im Folgenden kurz skizziert werden:

3.1

Was ist eine ›ideale Stadt‹?

Der erste Unterrichtsvorschlag stammt aus dem Westschweizer Lehrmittel »Histoire 7–8e. Sciences Humaines et Sociales«,46 welches für die zwei letzten 43 Ebd. 44 Vgl. dazu auch Erich Ch. Wittmann: Design und Erforschung von Lernumgebungen als Kern der Mathematikdidaktik. In: Beiträge zur Lehrerbildung 16 (1998), H. 3, S. 329–342, hier S. 330. 45 Herbert A. Simon: The Sciences of the Artificial. 3. Aufl. Cambridge 1996. 46 Conf8rence intercantonale de l’instruction publique de la Suisse romande et du Tessin: Histoire 7–8e, Sciences Humaines et Sociales, Cycle 2. Neuch.tel 2016 (im Druck).

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Jahre der Primarstufe47 entwickelt wurde. Er befasst sich im Rahmen eines Moduls über »Leben in der Gesellschaft« im Kapitel »17. und 18. Jahrhundert« mit dem Konzept der idealen Stadt. Das Ziel solcher Vorhaben in jener Zeit war es, Städte zu verwandeln oder neu zu erbauen, die die Lebensbedingungen der Bevölkerung verbessern und ihr Glück sicherstellen sollten. Die Stadt Carouge – heute mit dem Kanton Genf verbunden – ist dafür ein relevantes und verständliches Beispiel. Carouge wurde im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts durch das Königreich Sardinien von Grund auf neu erschaffen. Ganz bewusst haben die Erbauer von Carouge einen Ort ganz in der Nähe von Genf gewählt, um mit dieser blühenden und nie eroberten Stadt zu konkurrieren. Im so genannten »Aktivitäten-Heft«, das als Begleitmaterial zum Schulgeschichtsbuch dient, werden Lernende aufgefordert, eine alte Stadt, die innerhalb ihrer Befestigungsanlagen eingeschlossen war, mit der idealen Stadt Carouge zu vergleichen. Dafür stehen ihnen unter anderem Pläne von Bern (1634), Genf (1777), Carouge (1781) sowie eine Ansicht von Carouge (1799) zur Verfügung. Selbstverständlich erhalten die Lernenden neben diesen Dokumenten weitere Informationen. Carouge verfügte im Gegensatz zu Genf und Bern über keine Befestigungsanlagen, hatte breite Straßen und Plätze und wurde so entworfen, um verschiedene soziale Gruppen innerhalb eines Viertels zusammenzubringen. Die Bevölkerung war aufgrund signifikanter Einwanderung zum Zeitpunkt der Gründung der Stadt kosmopolitisch und multikonfessionell. Es herrschte für diese Zeit ein außergewöhnlicher Geist der religiösen Toleranz: Katholiken, Protestanten und Juden konnten ihre Religion frei praktizieren und hatten ihr eigenes Gotteshaus sowie jeweils einen Friedhof. Die Untersuchung von solchen Vorhaben idealer Städten macht deutlich, mit welchen Problemen und Fragen die damaligen Menschen konfrontiert waren und wie sie ihre Gesellschaft organisiert hatten. Viele dieser Probleme und Fragen stellen sich analog auch in der heutige Welt der Lernenden, und sie eröffnen verschiedene Verbindungsmöglichkeiten mit der Geographie, mit der Politischen Bildung und, im weiteren Sinne, mit Themen wie Raumplanung, soziale Vielfalt, religiöse Toleranz oder Migration. In ihrem »Aktivitäten-Heft« werden Lernende am Ende ihrer Arbeit dazu eingeladen, ihre eigene ideale Stadt zu planen, zu zeichnen, zu beschreiben. Damit können sie erworbene Kenntnisse und gemachte Erfahrungen interdisziplinär nutzen. Auf diese Weise wird fächerverbindendes Lernen entlang des gesellschaftswissenschaftlichen Zyklus Wahrnehmung, Erschließung, Orientierung und Handlung abgerundet. Dieser Unterrichtsvorschlag »Ideale Städte« zeigt die Notwendigkeit, be47 Gemäß deutscher System-Zählweise entspricht dies Klasse 5 und 6.

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Peter Gautschi / Nadine Fink

deutsame, anregende und interessante Themen mit großem Transferpotential zu finden, damit fächerverbindender Unterricht möglich wird.

3.2

Sondermülldeponie Kölliken – eine teure Fehleinschätzung

Um solch ein Thema handelt es sich zweifellos auch bei »Sondermülldeponie Kölliken – eine teure Fehleinschätzung«.48 Der hier präsentierte Unterrichtsvorschlag zielt bezüglich des Deutschschweizer Lehrplans 21 auf die Entwicklung und Ausdifferenzierung von Kompetenzen im Bereich »Schweiz in Tradition und Wandel verstehen« und insbesondere auf die Kompetenz »Die Schülerinnen und Schüler können Entstehung und Entwicklung der Schweiz erklären« und auf die Kompetenzstufe »Die Schülerinnen und Schüler können zu ausgewählten Veränderungen in der Schweiz der letzten 200 Jahre selbständig Materialien finden und damit die Veränderungen veranschaulichen (z. B. Umwelt, Alltag, Geschlecht, Migration, Religion)«. Bei der Sondermülldeponie Kölliken handelt es sich um eine ehemalige Tongrube, in die ab 1978 giftige Abfälle der chemischen Industrie entsorgt wurden. Die Fachleute versicherten damals, dass dies ein sicherer und idealer Standort für die Entsorgung sei. Aber schon bald nach Eröffnung der Deponie reklamierten die Anwohnerinnen und Anwohner Staub- und Geruchsbelästigungen und warnten vor Gewässerverschmutzung. Die Verantwortlichen schenkten dem vorerst keine Beachtung. Es zeigte sich jedoch, dass der Untergrund undicht war. Es kam zu einem Fischsterben. Jetzt wuchs der Widerstand der Bevölkerung. Daraufhin verfügten 1985 die Kölliker Behörden einen Deponiestopp: Zu diesem Zeitpunkt befanden sich in der Deponie etwa 350.000 Tonnen Abfälle auf einer Fläche von rund sieben Fussballfeldern, alles innerhalb von sieben Jahren eingelagert. Bis 1988 wurde die gesamte Deponie gegen Regenwasser abgedeckt, weil zu befürchten war, dass das gesamte Grundwasser der Region vergiftet würde. 1994 bauten die Betreiber der Deponie eine eigene Schmutzwasser- und Abluftbehandlungsanlage, was die Emissionen verringerte. Seit 2002 wird das vergiftete Wasser gesammelt. 2003 verfügte der Standortkanton Aargau den vollständigen Rückbau der Deponie, die als »größte Gifthalde der Schweiz« bezeichnet wird. Für die Sanierung musste eine riesige Abbauhalle erstellt werden. Sie ist stützenfrei und hängt an einem Bogentragwerk mit bis zu 170 Metern Spannweite. Unterdruck in den Hallen und eine intensive Abluftreinigung soll den Austritt von Schadstoffen verhindern. 48 Der Unterrichtsvorschlag ist ausführlich dargestellt in: Peter Gautschi: Umweltgeschichte anhand von Archivquellen. In: Markus Furrer/Kurt Messmer (Hrsg.): Handbuch Zeitgeschichte im Geschichtsunterricht. Schwalbach/Ts. 2013, S. 443–459.

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Das Beispiel der Sondermülldeponie Kölliken zeigt, wie sich in den letzten Jahrzehnten der Umgang mit giftigen Abfällen verändert hat. Während die Experten vor rund 40 Jahren überzeugt waren, eine gute Lösung für die Lagerung von Sondermüll gefunden zu haben, müssen für den Rückbau der Deponie rund 700 Millionen Franken aufgewendet werden.49 Der Unterrichtsvorschlag »Sondermülldeponie Kölliken – eine teure Fehleinschätzung« behandelt den Umgang mit Altlasten und thematisiert Landschaftsveränderungen unter Beizug von Archivquellen. Es wird in drei Schritten vorgegangen. In einem ersten Schritt beschäftigen sich die Schülerinnen und Schüler anhand des Fallbeispiels Kölliken während zweier Lektionen im Klassenzimmer mit »Umweltgeschichte«. Dabei schärfen sie ihren Blick für Umweltveränderungen und erfahren, wie sie dank Materialien aus der Vergangenheit die Gegenwart besser verstehen können. In einem zweiten Schritt lernen sie während eines Halbtags das Archiv ihrer Region kennen, wo sie Unterlagen zur »Wechselbeziehung von Gesellschaften mit ihrer natürlichen Umwelt« suchen und finden. In einem dritten Schritt bearbeiten die Schülerinnen und Schüler nach dem Fallbeispiel »Kölliken« und nach der Begegnung mit dem reichen Materialfundus im Archiv ein selber gewähltes Beispiel zum Themenschwerpunkt »Umweltgeschichte« aus ihrer Umgebung. Dass mit diesem Vorschlag fächerverbindender gesellschaftswissenschaftlicher Unterricht durchgeführt wird, verdeutlicht Tabelle 2. Sie dient als Checkliste um zu prüfen und zu diskutieren, ob erstens der durch den Lehrplan 21 vorgegebene Handlungszyklus und zweitens Aspekte aus unterschiedlichen fachspezifischen Konzepten (hier Geschichte, Geographie, Politische Bildung) berücksichtigt sind. Unterschieden wird, ob die einzelnen Kriterien voll umgesetzt, teilweise berücksichtigt oder nicht berücksichtigt sind. Für den Unterrichtsvorschlag »Sondermülldeponie Kölliken – eine teure Fehleinschätzung« sieht die ausgefüllte Checkliste wie folgt aus: Tabelle 2: Checkliste Fächerverbindender gesellschaftswissenschaftlicher Unterricht (Geschichte, Geographie, Politische Bildung): Profil des Unterrichtsvorschlags »Sondermülldeponie Kölliken – eine teure Fehleinschätzung« Aspekte

voll teilweise kaum / nicht umgesetzt berücksichtigt berücksichtigt

Handlungsaspekte Die Welt wahrnehmen

X

Sich die Welt erschließen

X

49 Umweltgeschichte bietet immer wieder gute Gelegenheiten, um Gegenwartsbezüge herzustellen. Vgl. dazu Klaus Bergmann: Der Gegenwartsbezug im Geschichtsunterricht. Schwalbach/Ts. 2002.

148 (Fortsetzung) Aspekte Sich in der Welt orientieren In der Welt handeln Kategorien der Geschichtsdidaktik Bezogenheit der Geschichte auf die eigene Situation Methoden historischer Erkenntnis Entwicklungszusammenhänge aller Zustände und Veränderungen in der Zeit Menschliches Handeln im fortschreitenden Prozess gesellschaftlicher Praxis Basiskonzepte Geographie Soziales: Soziale Gerechtigkeit, Werte und Normen, Gesellschaft Ökologie: Umweltverträglichkeit, Ökosystem

Peter Gautschi / Nadine Fink

voll teilweise kaum / nicht umgesetzt berücksichtigt berücksichtigt X X X X X X

X X

Politik: Good Governance, Rechtsstaat Ökonomie: Wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, Markt

X X

Basiskonzepte Politischer Bildung System: Herrschafts- und ordnungsbildende gesellschaftliche Teilsysteme Akteure: Individuen und Gruppen mit unterschiedlichen Partizipationschancen Bedürfnisse: Knappheit als gesellschaftliche Grundbedingung und Auslöser von Problemen Grundorientierungen: Gemeinsame und unterschiedliche Deutungsmuster und Deutungskontexte Macht: Kontextspezifische Mittel und Verfahren zur Durchsetzung allgemeiner Verbindlichkeit Wandel: Gesellschaftliche Veränderungen als Ausdruck kontingenter Wert- und Machtstrukturen

X X X X X X

Die ausgefüllte Checkliste für den Unterrichtsvorschlag »Sondermülldeponie Kölliken« zeigt, dass hier fächerverbindender gesellschaftswissenschaftlicher Unterricht realisiert wird, weil erstens mehrere Aspekte des durch den Lehrplan 21 postulierten Handlungszyklus realisiert und weil zweitens ausgewählte Kategorien der Geschichtsdidaktik sowie Basiskonzepte der Geographie und der

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Politischen Bildung voll umgesetzt werden. Der Unterrichtsvorschlag könnte auch als fächerübergreifender Geschichtsunterricht bezeichnet werden, weil alle vier Hauptkategorien der Geschichtsdidaktik teilweise berücksichtigt oder gar voll umgesetzt sind.

4.

Schluss

Der Lehrplan 21 und der Plan d’8tudes romand wurden beide im Sinne einer »epistemologischen Einheit«50 der Sozialwissenschaften ausgearbeitet. Beide Lehrpläne können als solche »Einheit« betrachtet werden, weil sie ein gemeinsames Ziel haben: die Untersuchung der Vergangenheit und der Gegenwart von Gesellschaften sowie die politische und geographische Bildung von Jugendlichen. Eine »Einheit« sind die Lehrpläne auch deshalb, weil sie ähnliche Methoden und Denkweisen haben und fordern. Schon mit der Wahl des Titels seines Artikels »Die Welt ist nicht disziplinär, die Lernenden auch nicht, und das Wissen?« stellte der Didaktiker FranÅois Audigier eine zentrale Frage: Da die Welt nicht disziplinär ist, da die Denkweisen der Lernenden auch nicht disziplinär sind, ist es richtig, das Wissen im Schulbereich disziplinär darzustellen? Demzufolge unterliegt die Ausarbeitung der Lehrpläne folgendem Dilemma: – »Ist es angemessen, der Welt unmittelbar zu begegnen und danach Wissen beizuziehen, disziplinäres aber auch interdisziplinäres Wissen, um auf diese Weise die Probleme zu lösen, denen man in der Welt begegnet? – Oder umgekehrt, ist es angemessen, sich zuerst in die verschiedenen Disziplinen einzuarbeiten, um so vorbereitet der Welt zu begegnen und sie zu verstehen?«51 Die erste Möglichkeit wurde im Lehrplan 21 bevorzugt und die zweite im Plan d’8tudes romand. Basierend auf der epistemologischen Einheit der Sozialwissenschaften entwickelte FranÅois Audigier ein interdisziplinäres Vorgehen, dass auf dem Prinzip »Umweg/Rückkehr« (d8tour/retour) gegründet ist. Das Prinzip »Umweg/ Rückkehr« besteht aus der Untersuchung von aktuellen Phänomenen mit einer Phase des »Umwegs« durch disziplinäres Wissen (Geschichte, Geographie, Politische Bildung, aber auch Ökonomie, Recht, Philosophie) und einer Phase der 50 Jean-Claude Passeron: Le raisonnement sociologique. L’espace non-popperien du raisonnement naturel. Paris 1991. 51 FranÅois Audigier : Le monde n’est pas disciplinaire, les 8lHves non plus, et les connaissances? In: Gilles Baillat/Jean-Pierre Renard (Hrsg.): Interdisciplinarit8, polyvalence et formation professionnelle en IUFM. Paris/Reims 2001, S. 43–59, hier S. 43–44.

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Peter Gautschi / Nadine Fink

»Rückkehr« auf das untersuchte aktuelle Phänomen. In der ersten Phase wird disziplinäres Wissen und Können aufgebaut, das in der zweiten Phase mobilisiert wird, um die Welt ganzheitlicher zu interpretieren.52 Damit hat FranÅois Audigier einen Vorschlag zur Auflösung eines Gegensatzes unterbreitet, den John Dewey schon vor über 100 Jahren als »fundamental opposition of child and curriculum«53 bezeichnet und analysiert hat: Die Welt kommt nun einmal den Kindern und Jugendlichen ungefächert entgegen. Deshalb scheint es plausibel, in der Primar-Unterstufe und der Primar-Mittelstufe (Klassen 1–4) Geschichte fächerverbindend zu unterrichten. Bewusste Weltbegegnung und Interdisziplinarität scheinen uns hingegen nur möglich, wenn die Jugendlichen einmal in ihrer Schullaufbahn Disziplinarität bewusst und diszipliniert gelernt haben. Dies sollte unserer Ansicht und Erfahrung nach jedenfalls in der Sekundarstufe I und ebenfalls in der Sekundarstufe II der Fall sein – günstigerweise zusätzlich noch in der Primar-Oberstufe (5. und 6. Klasse) wie in der Westschweiz. Bekannterweise lassen sich die Herausforderungen unserer Zeit jedoch ausschließlich durch die verschiedenen Disziplinen gemeinsam lösen. Deshalb sollte ab dem zweiten Teil der Sekundarstufe II (11. und 12. sowie falls vorhanden auch 13. Schuljahr) und auf der Tertiärstufe der Interdisziplinarität genügend Raum gegeben werden. Die Debatte zwischen Anhängern von fachspezifischem und fächerverbindendem (Geschichts-)Unterricht ist nicht zielorientiert, solange sie im Entweder-Oder verharrt. Lösungen ergeben sich erst, wenn ein angemessenes zeitliches Nacheinander oder ein themenbezogenes Miteinander des Fachspezifischen und Fächerverbindenden diskutiert werden. Immer aber ist wichtig, dass Inhalte und Themen didaktisch so transformiert werden, dass sie für Kinder und Jugendliche anschlussfähig werden. Bei Dewey heißt das dann: »The legitimate way out is to transform the material; to psychologize it – that is, once more,to take it and to develop it within the range and scope of the child’s life.«54 Das ist anspruchsvoll, unabhängig davon, ob der Unterricht jetzt fachspezifisch oder fächerverbindend angeboten wird.

52 FranÅois Audigier: Education en vue du d8veloppement durable et didactique. In: Ders./ Nadine Fink/Nathalie Freudigier/Philippe Haeberli (Hrsg.): L’8ducation en vue du d8veloppement durable: sciences sociales et 8lHves en d8bats. GenHve 2011, S. 47–71, hier S. 55–57. 53 John Dewey : The Child and the Curriculum. Chicago/London 1902, S. 9, verfügbar unter : https://archive.org/stream/childandcurricul00deweuoft/childandcurricul00deweuoft_djvu. txt (aufgerufen am 20. 02. 2016). 54 Ebd., S. 30.

Oliver Plessow

Integrierte Lehrkräfte? Das Fach ›Geschichte mit Gemeinschaftskunde‹ an baden-württembergischen Berufsgymnasien in organisationsanalytischer Perspektive

1.

Zur Einführung: Der Bildungsweg von Lehrkräften und die Fächerintegration

›Geschichte mit Gemeinschaftskunde‹ in der Forschung Wer ermitteln will, inwieweit der Bildungsweg von Lehrkräften als Indikator für den Stand der Integration von Fächern dienen kann, findet ein lohnendes Fallbeispiel im Fach ›Geschichte mit Gemeinschaftskunde‹, wie es an badenwürttembergischen Berufsgymnasien unterrichtet wird. Obwohl dieser Fächerverbund1 bislang selten im Rampenlicht stand, lassen sich an ihm gut die Herausforderungen zeigen, die sich stellen, wenn bei der Generierung des Lehrkräftenachwuchses unterschiedliche Bezugsdisziplinen zu berücksichtigen sind. Dabei liegt Geschichte mit Gemeinschaftskunde am Schnittpunkt von gleich drei Forschungsfeldern: Es kann gleichzeitig Auskunft über das Verhältnis zwischen den Disziplinen, über die Rolle von Lehrkräften und über den Stellenwert des historischen Lernens im beruflichen Bildungswesen geben. Nicht erst die Sektion »Fächerübergreifendes und fächerverbindendes historisches Lernen und Lehren« auf der Aachener Zweijahrestagung der Konferenz für Geschichtsdidaktik 2015, aus der dieser Beitrag erwachsen ist, belegt ein erneutes Interesse der Geschichtsdidaktik an den Beziehungen zu den Nachbarfächern: Schon 2014 konzentrierte sich ein ganzes Heft der – selbst transdisziplinären – Zeitschrift für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften auf die »Fächerintegration«.2 Hier wie in der Forschungsgeschichte insgesamt erfuhr

1 In der Literatur wird manchmal der Begriff ›Fächerverbund‹ für ein Zusammenkommen noch eigenständig wahrnehmbarer Fächer mit eigenen Noten und disziplinär distinktem Lehrpersonal vom Begriff ›Verbundfach‹ für ein vollintegriertes Fach abgehoben. Diese Unterscheidung wird aber vielfach ignoriert, zudem stehen beide Begriffe neben weiteren wie ›Lernbereich‹, ›Kombinationsfach‹ oder ›Integrationsfach‹. 2 Zeitschrift für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften (zdg) 5 (2014), H. 1.

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Oliver Plessow

namentlich das Verhältnis von Geschichte und Politik viel Aufmerksamkeit.3 Ebenso ist letzthin ein verstärktes Interesse der Forschung für das Lehrpersonal und besonders dessen Qualifikation und (trans)disziplinäre Ausbildung zu greifen.4 Immerhin sind es die Lehrenden, die in der Praxis vor der täglichen Aufgabe stehen, die unterschiedlichen fachlichen Zugriffe zusammenzuführen. Eher am Rande hat sich die Forschung bislang mit dem berufsbildenden Bereich befasst.5 Gerade die Rolle der allgemeinbildenden Fächer ist hier wenig untersucht.6 Wo diese erforscht werden, interessiert eher das Verhältnis zu den berufsbildenden Anteilen – etwa im Zusammenhang des Lernfeldkonzepts –7 als das Verhältnis der im beruflichen Schulwesen unterrichteten allgemeinbildenden Fächer zueinander. Hinzu kommt, dass sich Studien meist auf die Berufsschule beziehen und kaum einmal auf Vollzeitschulen wie die Berufsgymnasien. Eine Ausnahme bildet hier mein eigener Beitrag aus dem Jahr 2014 im oben 3 In Auswahl etwa Waldemar Grosch: Fächerverbindender und fächerübergreifender Geschichtsunterricht. In: Hilke Günther-Arndt/Meik Zülsdorf-Kersting (Hrsg.): GeschichtsDidaktik. 6. Aufl. Berlin 2014, S. 67–73; Michele Barricelli/Martin Lücke: Historisch-politische Bildung. In: Benno Hafeneger (Hrsg.): Handbuch Außerschulische Jugendbildung. 3. Aufl. Schwalbach/Ts. 2013, S. 325–343; Thomas Hellmuth/Cornelia Klepp: Politische Bildung. Wien/Köln/Weimar 2010, S. 124–140; Christoph Kühberger : Kompetenzorientiertes historisches und politisches Lernen. Methodische und didaktische Annäherungen für Geschichte, Sozialkunde und Politische Bildung. Innsbruck 2009 (Österreichische Beiträger zur Geschichtsdidaktik 2); Joachim Detjen: Politische Bildung. Geschichte und Gegenwart in Deutschland. 2. Aufl. München/Wien 2007, S. 286–289; Dirk Lange: Politische Bildung und historisches Lernen. Kategoriale Möglichkeiten der Zusammenarbeit zwischen den Fächern Geschichte und Politik. In: Tobias Arand u. a. (Hrsg.): Geschichtsunterricht im Dialog. Fächerübergreifende Zusammenarbeit. Münster 2006, S. 122–131; Andreas Körber : »Politikgeschichtliches Lernen«. Zur Frage der Zusammenarbeit von Geschichts- und Politikunterricht; Eine weiterführende Auseinandersetzung mit dem Konzept von Dirk Lange – mit Beispielen aus dem Themenbereich »Westfälischer Frieden«. In: Ebd., S. 132–161; Wolfgang Sander : Politische Bildung als fächerübergreifende Aufgabe der Schule. In: Ders. (Hrsg.): Handbuch politische Bildung. 3. Aufl. Schwalbach/ Ts. 2005, S. 258–264. 4 Eine aktuelle Aufstellung der Literatur zum »Forschungsfeld Geschichtslehrer/-lehrerin bzw. Geschichtslehrerbildung« bieten Martin Rothland u. a.: Berufswahl Geschichtslehrer/-lehrerin? Vergleichende Analysen zur Bedeutung fachbezogener Varianz der Berufswahlmotivation als Gegenstand fachdidaktischer Forschung. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 66 (2015), S. 497–514, hier S. 500f., Anm. 20–25. 5 Bei seiner verdienstvollen »Bestandsaufnahme gesellschaftswissenschaftlicher Fächerverbünde in Deutschland« überging Thomas Brühne im letzten Jahr das berufliche Schulwesen, in: zdg 5 (2014), H. 1, S. 100–115, insb. Tabelle S. 103f. 6 Vgl. Anja Besand: Monitor politische Bildung an beruflichen Schulen. Probleme und Perspektiven. Bonn 2014, S. 17–27. 7 Siehe etwa Volker Rexing: Curriculare Implikationen politischer Bildung in der Berufsschule – Chancen und Grenzen einer Fächerintegration im Kontext des Lernfeldkonzepts. In: zdg 5 (2014), H. 1, S. 81–99; Thilo Harth: Politisches Lernen und berufliche Lernfelder. In: kursiv – Journal für politische Bildung (2010), H. 1, S. 52–61; Bettina Zurstrassen: Das Lernfeldkonzept an Berufsschulen: Von der Chance, berufliche und politische Bildung zu vereinen. In: Gesellschaft, Wirtschaft, Politik 58 (2009), S. 437–448.

Integrierte Lehrkräfte? Das Fach ›Geschichte mit Gemeinschaftskunde‹

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genannten Heft zur »Fächerintegration«, der sich bereits auf das Fach Geschichte mit Gemeinschaftskunde konzentrierte; er beleuchtete die Ausgestaltung der normativen Regelungen und fragte, inwieweit die Lehrpläne und die Zentralprüfungen eine Integration historischer und politischer Fachanteile erkennen lassen.8

Fragestellung und Vorgehen Dieser Beitrag nähert sich dem Fächerverbund Geschichte mit Gemeinschaftskunde unter einem neuen Blickwinkel. Beispielhaft soll dargelegt werden, in welcher Weise die Ausbildung der Lehrkräfte in einem historisch-politischen Verbundfach über die Integration oder Nicht-Integration der jeweiligen Bezugsdisziplinen Auskunft geben kann. Dafür bedarf es eines geeigneten empirischen Zugriffs. Ausgangspunkt ist die Überlegung, dass der Weg von Lehrkräften in den Beruf in einem formalen Bildungssystem ein strukturiertes Vorgehen darstellt, das staatlich gesetzten Regeln gehorcht, zertifizierte Abschlüsse verlangt und die ausbildenden Einrichtungen bestimmt. Der analytische Blick folgt somit jenen Instanzen, die Bildungsvorgänge zu steuern versuchen. Eingedenk dieser Überlegungen wird hier kein samplebildendes Verfahren gewählt, das Erkenntnisse aus der quantitativen oder qualitativen Analyse von Erfahrungen, Einschätzungen oder Fertigkeiten eines Ausschnitts der Grundgesamtheit aller angehenden Lehrkräfte zieht. Gewiss ließen sich etwa geschichts- und politikdidaktische Lehrer*innenkompetenzen formulieren und ließe sich erforschen, in welchem Maße die Ausbildung deren Erwerb fördert; die mittlerweile formulierten kompetenzorientierten Fachdidaktikstandards für den Vorbereitungsdienst im baden-württembergischen beruflichen Schulwesen böten dazu eine Grundlage.9 Hier indes wird ein anderer Weg beschritten: Im Vordergrund steht eine systemische Betrachtung. Die geregelte Hinführung zum Lehrberuf ist Ausdruck einer bürokratischen Organisation, die analysiert werden kann. Eine solche Analyse kann triftige Aussagen in Bezug auf die Integration zweier Disziplinen generieren. Mit der Organisationsanalyse rückt ein empirischer Zugriff in den Vordergrund, der seinerseits in unterschiedlichen disziplinären Zusammenhängen 8 Oliver Plessow: »Geschichte mit Gemeinschaftskunde« in baden-württembergischen Berufsgymnasien – ein Beispiel für eine gelungene Fächerintegration? In: zdg 5 (2014), H. 1, S. 60–80. 9 Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg: Fachdidaktikstandards. Vorbereitungsdienst und pädagogische Schulung für den Schuldienst an beruflichen Schulen. Stand: September 2014.

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Konkretisierungen erfährt.10 Mittig in der Soziologie und der Betriebswirtschaftslehre verankert,11 ist ›Organisationsanalyse‹ dabei ein Sammelbegriff. Er verweist auf ein Bündel mehr oder weniger elaborierter Erhebungsmethodologien, die zum Teil auf konkurrierenden epistemologischen Grundauffassungen fußen. Es ist mithin zu klären, was hier gemeint ist. Das eben verwendete Attribut ›bürokratisch‹ lässt bereits ein von Max Weber inspiriertes Organisationsverständnis anklingen: In einem rationalen und legalen Herrschaftssystem übernimmt ein fachgeschulter, durch Prüfungen lizenzierter Verwaltungsstab sachlich klar abgegrenzte Ämter und übt diese normgebunden aus.12 Der Weg in das Lehr-›Amt‹ entspricht dem nahezu idealtypisch. In der Struktur der Lehramtsausbildung manifestieren sich die Prinzipien der Satzung, der unpersönlichen Ordnung, der rationalen Arbeitsteiligkeit, der Amtshierarchie und der Sicherung von Fachwissen. Die damit eingenommene Forschungsperspektive stellt eine gewollte Verengung dar, die alternative Zugriffe auf Organisationen ausblendet. So könnte ein systemtheoretischer (Luhmann) oder feldanalytischer (Bourdieu) Ansatz beispielsweise ans Licht bringen, dass ein fächerintegrativer Qualifikationszuwachs von Lehrkräften gar nicht der Rationalität der formalen Struktur folgt oder dass die Vorstellungen und Handlungsweisen der am Bildungsprozess Beteiligten anderen, von der formalen Struktur nicht erfassten Logiken gehorchen. Darum soll es hier jedoch nicht gehen: Vielmehr ist zu prüfen, inwieweit die formale Struktur auf das gesetzte Organisationsziel rational zugeschnitten ist. Diese Blickrichtung folgt der These, dass die zielführende Ausbildungsfunktion der Organisation insbesondere bei Fächerverbünden keinesfalls gewährleistet sein muss. Waldemar Grosch bemerkt dazu pointiert, dass diese »das fachfremde Unterrichten zum System« erheben, »denn das Studium eines der beteiligten Fächer reicht aus, um den Fächerverbund mit allen Fachanteilen unterrichten zu können.«13 Dies trifft ein Stück weit auf den hier untersuchten Fall zu, wie zu zeigen sein wird. Liegt der Fokus mithin auf der Struktur, lässt sich entlang einer etablierten Untersuchungsstrategie analytisch zwischen dem verstetigten Aufbau der Organisation ›Lehrkräfteausbildung‹ und ihrem pro10 Vgl. Lutz von Rosenstiel: Organisationsanalyse. In: Uwe Flick u. a. (Hrsg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch. 9. Aufl. Reinbek 2012, S. 224–238. 11 Stefan Titscher u. a.: Zur Praxis der Organisationsforschung. In: Ders. u. a. (Hrsg.): Praxis der Organisationsanalyse. Anwendungsfelder und Methoden. Wien 2010, S. 17–44, hier S. 18. Gleichzeitig setzt sich die Betriebswirtschaftslehre bereits auf Handbuchebene intensiv mit den soziologischen Organisationstheorien auseinander, siehe etwa Alfred Kieser/Mark Ebers (Hrsg.): Organisationstheorien. 7. Aufl. Stuttgart 2014; Alfred Kieser/Peter Walgenbach: Organisation. 6. Aufl. Stuttgart 2010, Kap. 2. 12 Max Weber : Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen 1922 (Grundriss der Sozialökonomie, Bd. III), S. 124–130. 13 Grosch (wie Anm. 3), S. 71.

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zesshaften Ablauf scheiden.14 Die in der Betriebswirtschaftslehre seit Jahrzehnten eingeführten Begriffe der »Aufbauorganisation« und der »Ablauforganisation« sollen hier ihre analoge erkenntnisleitende Verwendung finden.15 Für die empirische Fundierung sorgt eine Dokumentenanalyse. Allerdings ist der Verschriftlichungsgrad der Normierung der universitären Phase der Ausbildung ungleich höher als der des Vorbereitungsdienstes: Den 27 untersuchten, aktuell (März 2016) gültigen Vorgaben für Studiengänge stehen nur zwei dezidiert die zweite Ausbildungsphase steuernde Ordnungen gegenüber.16 Im Einzelfall wurde die Dokumentensichtung deshalb insbesondere für die Analyse des Referendariats um eine Sichtung der Selbstdarstellungen im WWW sowie um nicht-standardisierte Expert*innenbefragungen ergänzt, durch die das Wissen über die entsprechenden Verfahren gezielt konsolidiert werden konnte.17 Insgesamt ist in Erinnerung zu behalten, dass allgemein schriftlich normiertes staatliches Handeln ebenso wie Strukturentscheidungen der Bildungsverwaltung keine 100 %ige Umsetzung erfahren – gerade die Expert*innen thematisierten mehrfach Regelungsgrenzen und -lücken sowie Versuche, systemische Schwächen zu kompensieren. Hierauf kann indes nicht der Fokus liegen, wo primär nach der staatlich verantworteten Organisationsweise und ihrem disziplinären Integrationspotenzial gefragt wird. Dementsprechend konzentrierten sich die Anfragen auf eine Erhebung der geltenden Regelungen und Verfahren – und dabei gibt die schriftlich fixierte Norm nur unvollkommen über die aktuelle Regel Auskunft; zudem findet nicht jede Regulierung schriftlichen Niederschlag. Die Untersuchung folgt im weiteren Verlauf der in Deutschland etablierten Zweiphasigkeit der Ausbildung, die bereits ein Ausdruck der Ablauforganisation ist. Vorangestellt ist eine konzise Vorstellung der Schulform und des allgemein wenig bekannten Fachs Geschichte mit Gemeinschaftskunde.

14 Vgl. Rosenstiel (wie Anm. 10), S. 228f. 15 Maßgeblich immer noch die Definition bei Erich Kosiol: Organisation der Unternehmung. 2. Aufl. Wiesbaden 1976, S. 32. Siehe auch Franz Xaver Bea/Elisabeth Göbel: Organisation. Theorie und Gestaltung. 4. Aufl. Stuttgart 2010, S. 247–260 und allgemein Kap. 10–11. 16 Alle Ordnungen bibliographisch aufzuführen, erlaubt der begrenzte Raum dieses Beitrags leider nicht. Eine Aufstellung ist über den Verfasser zu beziehen. 17 Die Befragungen wurden protokolliert. Den 14 Kolleg*innen aus den Bildungseinrichtungen und der Verwaltung, die für institutionelle Auskünfte zur Verfügung standen, sei an dieser Stelle herzlich gedankt!

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2.

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Das Fach Geschichte mit Gemeinschaftskunde an baden-württembergischen beruflichen Gymnasien

Die mangelnde Beachtung durch die Forschung steht im Gegensatz zur Bedeutung der beruflichen Gymnasien zumindest in Baden-Württemberg. Im letzten von der Kultusstatistik erfassten Schuljahr 2014/2015 besuchten dort immerhin 66.070 Schüler*innen die 279 Berufsgymnasien des Landes.18 Mittlerweile werden in Baden-Württemberg mehr als ein Drittel aller allgemeinen Hochschulzugangsberechtigungen an dieser Schulform erworben; am Ende des Schuljahres 2013/14 waren dies 16.992 von 50.523 oder 33,6 %, Tendenz steigend.19 Dies ist im Bundesvergleich ein extrem hoher Wert.20 In ihm schlägt sich eine vergleichsweise hohe Durchlässigkeit des mehrgliedrigen Schulsystems nieder, denn ein Großteil der Berufsgymnasiast*innen kommt mit einem qualifizierten Mittleren Bildungsabschluss von einer Realschule.21 Die an beruflichen Gymnasien tätigen Lehrkräfte werden in der amtlichen Schulstatistik nicht eigens ausgewiesen, da diejenigen, die über die Berechtigung für den Höheren Schuldienst verfügen, auch in den anderen beruflichen Schulformen eingesetzt werden.22 Diese schultypenübergreifende Verwendung lässt sich bereits als Erkenntnis der Aufbauorganisation festhalten. Sie ist für die Frage nach der Fächerintegration relevant, weil in den anderen beruflichen Schulformen mit ›Gemeinschaftskunde‹ ein allein politikwissenschaftlich ausgerichtetes, nicht integriertes Fach unterrichtet wird. Insgesamt wirkten zu Beginn des Schuljahres 2014/15 33.904 Lehrkräfte an den beruflichen Schulen Baden-Württembergs.23

18 Vgl. Statistisches Landesamt Baden-Württemberg: Statistische Berichte Baden-Württemberg B II 1-j/14 vom 12. 11. 2015, S. 1 (Stand der Daten: 15. 10. 2014). 19 Rainer Wolf: Der mittlere Bildungsabschluss wird auch künftig der häufigste sein. Aktualisierte Modellrechnung zur Entwicklung der Schulabsolventenzahlen bis 2025. In: Statistisches Monatsheft Baden-Württemberg (2015), H. 11, S. 21–26, hier S. 22. 20 In den übrigen Bundesländern liegt der Anteil bei 7,07 % (Hamburg) bis 24,2 % (Sachsen), siehe Statistisches Bundesamt: Bildung und Kultur. Schnellmeldungsergebnisse zu Studienberechtigten der allgemeinbildenden und beruflichen Schulen – vorläufige Ergebnisse –. Abgangsjahr 2015. Wiesbaden 2016, S. 2. 21 Über zehn Jahre alt, bietet immer noch die TOSCA-Studie den besten Einblick in die Bildungslaufbahnen, siehe Kai Maatz u. a.: Führt institutionelle Vielfalt zur Öffnung im Bildungssystem? Sozialer Hintergrund und kognitive Grundfähigkeit der Schülerschaft an allgemein bildenden und beruflichen Gymnasien. In: Olaf Köller u. a. (Hrsg.): Wege zur Hochschulreife in Baden-Württemberg. TOSCA – Eine Untersuchung an allgemein bildenden und beruflichen Gymnasien. Opladen 2004, S. 153–203, hier insb. S. 161–164. 22 Zur Vielfalt der Einsatzmöglichkeiten im beruflichen Schulwesen insgesamt vgl. Besand (wie Anm. 6), S. 49, S. 83f. 23 Vgl. Statistisches Landesamt (wie Anm. 18), S. 12.

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Berufliche Gymnasien sind Vollzeitschulen, die in drei (ausnahmsweise auch sechs) Schuljahren zum Abitur führen. Von den sechs Richtungen dieser Schulform mit ihren namengebenden berufsbezogenen »Profilfächern« sind das Wirtschaftsgymnasium und das Technische Gymnasium die wichtigsten.24 Um die Anforderungen an die Allgemeine Hochschulreife zu erfüllen, ist ein großer Anteil der Stundentafel für allgemeinbildende Fächer reserviert. Hierhin gehört das Fach Geschichte mit Gemeinschaftskunde, das in den drei Jahren des Beruflichen Gymnasiums für alle Schüler*innen verpflichtend durchgehend zweistündig unterrichtet wird.25 Der stark mit kanonisierten Stoffen operierende Bildungsplan für das Fach setzt 224 unterrichtete Stunden an.26 Den Unterricht strukturieren Halbjahresthemen, bei denen solche mit einem historischen und einem gegenwartspolitischen Schwerpunkt einander abwechseln.27 Zwar folgen die historischen Anteile einem vorwiegend genetisch-chronologischen Strukturierungskonzept mit politisch-nationalgeschichtlichem Schwerpunkt, sie werden jedoch zugleich exemplarisch gewendet. Im Verein mit den synchron-politischen Anteilen thematisieren sie zentrale Herausforderungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens, wobei Klafkis ›Schlüsselprobleme‹ die Brücke zwischen dem historischen und dem politischen Lernen schlagen.28 Im Bildungsplan heißt es dazu wörtlich: »Von der Analyse gegenwärtiger Probleme ausgehend […] werden historische Beispiele und Entwicklungen untersucht und auf die Gegenwart bezogen«.29 Indessen sind der Integration der domänenspezifischen Perspektiven Grenzen gesetzt, wie meine Analyse von 2014 gezeigt hat: Die generelle Ausrichtung auf das Werden und Funktionieren der bundesdeutschen Demokratie rückt den exemplarischen Charakter in den Hintergrund. Sichtbar wird eine »Tendenz, gegenwartspolitische und historische Fragen gesondert zu behandeln«.30

24 Vgl. zum Überblick Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg: Berufliche Bildung in Baden-Württemberg, Stand: Dezember 2014, S. 22–24. 25 Verordnung des Kultusministeriums über die Jahrgangsstufen sowie über die Abiturprüfung an beruflichen Gymnasien (Abiturverordnung berufliche Gymnasien – BGVO) vom 12. 03. 2014 §2 und §12. Ausgegangen wird hier vom dreijährigen Normaltyp der beruflichen Gymnasien. 26 Bildungsplan für das berufliche Gymnasium der sechs- und dreijährigen Aufbauform, Bd. 1: Allgemeine Fächer, Aufgabenfeld II, H. 1: Geschichte mit Gemeinschaftskunde vom 07. 10. 2003, S. 5. 27 Vgl. Plessow (wie Anm. 8), S. 62–65. 28 Vgl. ebd., S. 63. 29 Bildungsplan (wie Anm. 26), S. 2. 30 Plessow (wie Anm. 8), S. 77.

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3.

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Analyse der Studiengänge

Während sie alle sonstigen Bildungsleistungen eines Studiums außer Betracht lässt, fragt die Organisationsanalyse der ersten Ausbildungsphase nach der Stringenz jener Mechanismen, die den Nachwuchs auf den Einsatz als akademisch-fachlich versierte Lehrkraft in einer bestimmten Schulform vorbereiten. Da die Hochschulen die staatlich gerahmte Angebotsstruktur mit Leben erfüllen, sind die institutionell-disziplinäre Anbindung des jeweiligen Studiums und die Ausgestaltung der Studiengänge zu ermitteln. Erstere lässt sich als Ausdruck der Aufbauorganisation, letztere als ablauforganisatorische Regelung begreifen. Welche Universitäten und Fachhochschulen haben also Studiengänge eingerichtet, die auf das Fach Geschichte mit Gemeinschaftskunde vorbereiten, und in welcher disziplinären Verantwortung liegen diese jeweils? Lässt man berufsbildende Studiengänge anderer Bundesländer, die ebenfalls den Eintritt in das berufliche Schulwesen Baden-Württembergs ermöglichen, unberücksichtigt,31 dann sind unterschiedlich modellierte Studiengänge an sieben Hochschulen einschlägig. Die Situation ist komplex, weil Universitäten, Pädagogische Hochschulen und Fachhochschulen im beruflichen Bereich zum Teil eigene Studiengänge entwickelt haben und zum Teil in unterschiedlicher Kombination miteinander in Kooperation berufsbezogene Studiengänge anbieten und diese um allgemeinbildende Anteile erweitern. Studierenden mit einem historischpolitischen Interesse eröffnen sich hier vielfältige Möglichkeiten, und diese Möglichkeiten differieren massiv im Hinblick auf das Zusammenkommen von politikwissenschaftlichen und geschichtswissenschaftlichen Anteilen. Insgesamt sind die berufsgymnasialen Studiengänge so angelegt, dass der zur Fakultas für Geschichte mit Gemeinschaftskunde führende Studienanteil als zweites, hinzukommendes Fachgebiet neben ein erstes, berufsbezogenes tritt. Studierende können zu ihrem Hauptfach ein weiteres berufsbildendes oder ein allgemeinbildendes Fach hinzuwählen – je nach Universität zählt hierzu eben auch ein historisches, politisches oder historisch-politisches Studienfach. Ein erziehungswissenschaftlicher Anteil ergänzt die jeweilige Fächerpaarung. Am Anfang steht also aus Studierendensicht eine Entscheidung für eines jener berufsbezogenen Fächer, die das jeweilige Berufsgymnasiumsprofil ausmachen. Dieses System hat die Konsequenz, dass Studierende ihr Studium an einer bestimmten Hochschule aufnehmen, die auf ebendieses Profil spezialisiert ist –

31 Von den 42 Absolvent*innen berufsbildender Lehramtsstudiengänge der insg. 94 Personen starken Kohorte 2016/17, die im Januar 2016 den Vorbereitungsdienst im Fach Geschichte mit Gemeinschaftskunde angetreten hat (siehe Anm. 47), haben fünf zuvor ein berufliches Lehramtsstudium in einem anderen Bundesland durchlaufen.

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und davon ist wiederum abhängig, welche allgemeinbildenden Fächer zur Wahl stehen.32 Wie aus Sicht von Studienanfänger*innen der Studiengang ausgestaltet ist, der zum Fach Geschichte mit Gemeinschaftskunde führt, ist also dadurch vorentschieden, welches Erstfach die Studierenden an welcher Hochschule wählen. Dabei variiert die Ausgestaltung der Studiengänge an den sieben einschlägigen Hochschulen so stark, dass sie sich sogar dann unterscheiden, wenn Studierende dieselbe berufliche Spezialisierungsrichtung einschlagen. Es würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen, die Studiengänge im Detail gegenüberzustellen, doch schon die synoptische Übersicht lässt die Heterogenität klar hervortreten: Lehramt an gewerblichen Schulen Karlsruhe Institute of Technology/ Pädagogische Hochschule Karlsruhe B.Sc./ M.Sc. Ingenieurpädagogik Wahlfach ›Geschichte mit Gemeinschaftskunde‹ Anteil Geschichte: KIT, Institut für Geschichte Anteil Politikwissenschaften: PH Karlsruhe, Institut für Politikwissenschaften Universität Stuttgart B.Sc./ M.Sc. Technikpädagogik Wahlfach ›Politikwissenschaft‹ Institut für Sozialwissenschaften

32 LP 33 LP

65 LP

74 LP33

Lehramt an kaufmännischen Schulen Universität Hohenheim B.Sc./ M.Sc. Wirtschaftspädagogik Besondere Profilfachkombination ›Geschichte‹ und ›Historische 72 LP Wirtschaftsforschung‹ (B.Sc.)/ Zweifachschwerpunkt ›Geschichte mit Politischer Wissenschaft‹ (M.Sc.) Lehrstuhl für Wirtschafts- und Sozialgeschichte mit Agrargeschichte Universität Stuttgart, Institut für Sozialwissenschaften34 Universität Konstanz B.Sc. Wirtschaftswissenschaften mit Vertiefung Wirtschaftspädagogik/ M.Sc. Wirtschaftspädagogik Wahlpflichtfach ›Geschichte‹ 69 LP Fachbereich Geschichte und Soziologie 32 Für eine Übersicht vgl. Baden-Württemberg, Ministerium für Kultus, Jugend und Sport: Berufsziel Lehrerin/Lehrer Höheres Lehramt an beruflichen Schulen, Stand: August 2015, S. 2–4. 33 Eingeschlossen eines zum erziehungswissenschaftlichen Studienteil zählenden Fachdidaktikmoduls. 34 Für die politikwissenschaftlichen Anteile erhält die Universität Hohenheim Unterstützung von der Universität Stuttgart, wo die Studierenden die Veranstaltungen besuchen, die dort auch von Technikpädagog*innen belegt werden, Auskunft des Lehrstuhls für Wirtschaftsund Sozialgeschichte mit Agrargeschichte vom 17. 02. 2016.

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(Fortsetzung) Lehramt an kaufmännischen Schulen Wahlpflichtfach ›Politikwissenschaften‹ 69 LP Fachbereich Politik- und Verwaltungswissenschaft Universität Mannheim B.Sc./ M.Sc. Wirtschaftspädagogik Wahlfach ›Geschichte‹ 67 LP Abteilung Volkswirtschaftslehre, Lehrstuhl für Wirtschaftsgeschichte Wahlfach ›Politikwissenschaften‹ 66–72 LP Fachbereich Politikwissenschaft Lehramt an pflegerischen und sozialpädagogischen Schulen35 Universität Heidelberg Gesundheit und Gesellschaft (CARE) – Höheres Lehramt an beruflichen Schulen Allgemein bildendes Fach ›Politikwissenschaften‹ 90 LP Institut für Politische Wissenschaft Universität Tübingen Sozialpädagogik/Pädagogik – Höheres Lehramt an beruflichen Schulen Allgemein bildendes Fach ›Geschichte‹ 90 LP Fachbereich Geschichtswissenschaft Allgemein bildendes Fach ›Politikwissenschaften‹ 90 LP Institut für Politikwissenschaft

Während Stuttgart und Heidelberg nur ein politikwissenschaftliches Wahlfach anbieten, müssen sich Studierende in Konstanz. Mannheim und Tübingen zwischen Geschichte und Politikwissenschaften entscheiden. Sowohl geschichtswissenschaftliche als auch politikwissenschaftliche Anteile berücksichtigen alleine die Studiengänge in Karlsruhe und Hohenheim: Für diese beiden Fälle ist es geboten nachzuprüfen, inwieweit es sich hier um ein Nebeneinander selbstständiger Studienteile handelt oder beide Bezugsdisziplinen integriert werden. Ins Auge sticht bei der Betrachtung dieser beiden Studiengänge, dass die berufliche Profilierung das jeweilige Angebot im allgemeinbildenden Bereich zusätzlich berufsbezogen einfärbt. Dies ist nicht zuletzt der institutionellen Fundierung geschuldet: In den Geschichtsanteil am Studium im Karlsruher Institute of Technology ist etwa die dort ansässige Professur für Technikgeschichte involviert; in Hohenheim gibt es entsprechend einen Lehrstuhl für Wirtschafts- und Sozialgeschichte mit Agrargeschichte, der den Studiengang betreut. 35 Das Land regelt diese Studiengänge derzeit noch in einer separaten Ordnung (WPrOSozPädCare 2009). Die Umstellung auf das Bachelor-Master-System befindet sich aktuell in der Anhörung. Diskutiert wird in diesem Zuge die Ausgestaltung der auf das Fach Geschichte mit Gemeinschaftskunde zuführenden Zweitfächer, Auskunft des Kultusministeriums Stuttgart vom 04. 03. 2016 und der Universität Tübingen, Institut für Erziehungswissenschaft, vom 07. 03. 2016.

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Analysiert man die Pflichtanteile des eben umrissenen Karlsruher Studienganges genauer, fällt besonders die konsequente Parallelführung auf. Beiden Bezugsdisziplinen werden im B.Sc. je 10 Leistungspunkte zugestanden. Im M.Sc. entfallen auf die Politikwissenschaften 23 und auf die geschichtswissenschaftlichen 22 ECTS. Der politikwissenschaftliche Anteil ist verhältnismäßig eng an die politikwissenschaftlichen Halbjahresthemen des Lehrplans des Faches Geschichte mit Gemeinschaftskunde angelehnt. Anders sieht es im geschichtswissenschaftlichen Anteil aus, der vor allem durch seine technikgeschichtliche Ausrichtung besticht. Im B.Sc. wie im M.Sc. sind einschlägige Veranstaltungen zu belegen, zudem können Studierende jeweils zwischen allgemein- und technikhistorischen Vertiefungsangeboten wählen. Anders sind in Hohenheim die Perspektiven beider Bezugsdisziplinen miteinander verschränkt. Die institutionelle Anbindung an den wirtschaftsgeschichtlichen Lehrstuhl spiegelt sich in der Ausgestaltung des dortigen Studiengangs. Markant ist etwa die der Synopse zu entnehmende Aufteilung der historischen Studienanteile auf zwei korrespondierende Profilfächer im B.Sc. Der historische Studienanteil ist hier wirtschaftswissenschaftlichen Profilfächern gleichgestellt. Das sowohl zukünftigen Lehrkräften als auch zukünftigen Ökonom*innen zugängliche Profilfach »Historische Wirtschaftsforschung« hat einführenden Charakter. Veranstaltungen zu Techniken wissenschaftlichen Arbeitens und empirischen Analysemethoden stehen neben wirtschaftsgeschichtlichen Überblicksvorlesungen. Das Lehramtsstudierenden vorbehaltene Profilfach »Geschichte« erweitert dies um agrargeschichtliche und allgemeine wirtschaftshistorische Veranstaltungen sowie um ein Seminar zur »Geschichte Deutschlands«. Im Masterprogramm »Geschichte und Politische Wissenschaft« setzt sich die Sonderstellung fort: Neben Wirtschaftsinformatik ist allein dieses historisch-politische Wahlfach als wirtschaftswissenschaften-»affin« definiert worden. Nun erst treten politikwissenschaftliche Anteile hinzu. Der historische Anteil ist weiterhin wirtschaftsgeschichtlich geprägt, und zwar sowohl makrohistorisch (Globalisierungsgeschichte) als auch mikrohistorisch (Unternehmensgeschichte). Die forschend-entdeckende eigenständige Auseinandersetzung mit Quellen wird in Form einer Archivübung gefördert. Hier wie in der unternehmensgeschichtlichen Vorlesung engagiert sich das an der Universität Hohenheim ansässige Wirtschaftsarchiv Baden-Württemberg.36 Sechs Ergebnisse gilt es vor dem Hintergrund der übergreifenden Fragestellung nach der Integration der Fächer als Ergebnis der Analyse der sieben Studiengänge festzuhalten: 36 Auskunft des Lehrstuhls für Wirtschafts- und Sozialgeschichte mit Agrargeschichte vom 17. 02. 2016.

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– Studiengängen an zwei Standorten, die als Kombination aus Geschichts- und Politikwissenschaften konstruiert sind, stehen an fünf Standorten solche gegenüber, die nur eine fachliche Perspektive berücksichtigen. Drei dieser Standorte erlauben die Wahl zwischen einem rein historischen und einem rein politikwissenschaftlichen Studium, zwei bieten nur Politikwissenschaften an. – Selbst dort, wo beide Fächer ausnahmsweise zusammenkommen, stellen sie sich als reine Addition von Elementen aus beiden Bezugsdisziplinen dar. – Soweit ersichtlich, handelt es sich im Vergleich zu einem vollen allgemeinbildenden Lehramtsstudium vielfach nur um ein Hineinschnuppern in diese Fächer – überwiegend werden den Studierenden im Wahlfach eingeschränkte Studien mit einer Leistungspunktlast um die 70 ECTS abverlangt. – Es ist kein Mechanismus erkennbar, der eine systematische und verpflichtende Auseinandersetzung mit dem Zusammenspiel der Bezugsdisziplinen befördern oder einfordern würde. Es mag vereinzelt Querbezüge geben, wenn etwa im Rahmen geschichtswissenschaftlicher Veranstaltungen politikhistorische Aspekte verhandelt werden.37 Davon gesondert zu betrachten ist das Instrument des Praxissemesters, das die Studierenden bereits während des Studiums mit der Lehrwirklichkeit ihres Faches und damit eben auch mit der disziplinären Integrationsaufgabe vertraut macht – doch werden die Studierenden in dieser vom Land verlangten Praxisphase bereits von den Staatlichen Seminaren aus der zweiten Ausbildungsphase betreut. – Aufbauorganisatorisch liegt die Verantwortung für die Durchführung der Veranstaltungen in der Regel bei einer der zugeordneten Fachwissenschaften; eine fächerintegrierende Kooperation lässt sich kaum greifen. Wo in einem Studiengang beide Bezugsdisziplinen ausnahmsweise Berücksichtigung finden, sind die jeweiligen Fachanteile Fachkräften aus der jeweiligen Disziplin überlassen. Meist besuchen die angehenden Lehrkräfte des beruflichen Schulwesens als kleine Minderheit fachliche Veranstaltungen gemeinsam mit einer großen Mehrheit von Studierenden aus dem allgemeinbildenden Bereich, die nur eine der beiden Bezugsdisziplinen studieren. – In der Gesamtschau ergibt sich für die erste Ausbildungsphase das Bild einer strukturell nur ausnahmsweise und ansatzweise aufscheinenden Integration bei einer vorherrschenden Separierung und Reduktion auf ein einzelnes Bezugsfach.

37 Nach Auskunft des Lehrstuhls für Wirtschafts- und Sozialgeschichte mit Agrargeschichte vom 17. 02. 2016 enthält die dortige Vorlesung zur deutschen Nachkriegsgeschichte beispielsweise zahlreiche wirtschaftspolitische Bezüge.

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Stellt man in Rechnung, dass in weitgehender Ermangelung einer systematischen Zusammenführung der Bezugsdisziplinen immerhin fachdidaktische Veranstaltungen prädestiniert sein könnten, die Ausgestaltung des nachmalig zu unterrichtenden Faches zu thematisieren, ist im Anschluss zu prüfen, inwieweit geschichtsdidaktische oder politikdidaktische oder auch allgemein gesellschaftswissenschaftlich-didaktische Anteile in den Studienplänen berücksichtigt werden. Ohne dass den Inhalten der einschlägigen Veranstaltungen Sitzung für Sitzung nachgegangen werden konnte, erlaubt zumindest der Überblick über die entsprechenden Regelungen in den Studienordnungen keine Rückschlüsse auf eine Integrationsleistung: Hochschule & Studiengang Universität Heidelberg Universität Hohenheim, B.Sc. WiPäd, Profile Hist. Wirtschaftsforschung & Geschichte, M.Sc. WiPäd Zweitfach Gesch mit PolWi Karlsruhe Institute of Technology/ PH Karlsruhe, IngPäd, Wahlzweitfach »Gemeinschafts- und Sozialkunde« Universität Konstanz, B.Sc. WiWi Vertiefung WiPäd /M.Sc. Universität Mannheim, WiPäd, Wahlfach PolWi Universität Stuttgart, TechnPäd, Wahlpflichtfach Politikwissenschaft

Historisch-politische fachdidaktische Studienanteile Module »Fachdidaktik Politik und Wirtschaft 1« (5LP) und »Fachdidaktik Politik und Wirtschaft 2« (5LP) Keine

B.Sc.: Veranstaltung »Einführung in die Didaktik der politischen Bildung« (2p) als Teil des Grundlagenmoduls/ M.Sc. Modul »Probleme der Fachdidaktik«, Veranstaltung »Ziele der politischen Bildung« (4LP) Wahlpflichtfach Politikwissenschaften: Politikwissenschaften (5LP); Wahlpflichtfach Geschichte: »Geschichtsdidaktik« (6LP) Wahlfach Politikwissenschaften: M.Sc. Seminar »Politikdidaktik« (4LP); Geschichte: M. Sc. Proseminar Fachdidaktik (5LP)

Modul »Politikdidaktik« (6LP) als Teil des erziehungswissenschaftlichen Studienanteils Universität Tübingen, Berufliches Lehramt Fachdidaktikveranstaltungen des gewählSozialwesen, Zweitfach Geschichte oder ten allgemeinbildenden Lehramtsfachs Politik (Geschichte oder Politikwissenschaften, 10 LP)

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4.

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Analyse der Ausgestaltung des Vorbereitungsdienstes

Die Ausgestaltung des Referendariats: aufbauorganisatorische Aspekte Im Rahmen der Analyse der zweiten Ausbildungsphase ist zunächst zu reflektieren, inwieweit die Aufbauorganisation geeignet ist, Foren der Integration politikwissenschaftlicher und geschichtswissenschaftlicher Zugänge zu schaffen. Der 18-monatige Vorbereitungsdienst im beruflichen Schulwesen folgt in Baden-Württemberg dem traditionellen Modell eines Nebeneinanders von Studienseminar und schulischem Einsatzort. Die Staatlichen Seminare erfüllen die Rolle als Ort der konzeptgeleiteten Heranführung an den Beruf, während die Schule Gelegenheit zur Einübung in den Unterrichtsalltag bietet. Die Tätigkeit in der Schule macht die Referendar*innen mit der Wirklichkeit des alltäglichen Lehrens vertraut: Der Einsatz im entsprechenden Fachunterricht an der Schule bringt für diese die Verpflichtung mit sich, sich mit dem Zusammenspiel historischen und politischen Lernens im Fach Geschichte mit Gemeinschaftskunde vertraut zu machen. Indes ist die ausbildende Funktion dieses ›Learning on the job‹ Zufälligkeiten unterworfen: Letztlich ist sie dem Angebot konkreter Klassen und Kurse in den jeweiligen Schulen geschuldet; welche dies sind, unterliegt schulspezifischen, nicht allein dem Ausbildungszweck verpflichteten Bedingungen wie dem Stundenplan, dem Lehrkräftebedarf und der Bereitschaft von Mentor*innen, Referendar*innen zu betreuen. Strukturell privilegierte Orte, im Zuge der Ausbildung eine systematische Integration zu leisten, sind eher die Staatlichen Seminare. Inwieweit existieren hier Mechanismen, die dies organisational begünstigen? Unabhängig von der konkreten inhaltlichen Ausgestaltung dieser Ausbildungsphase in jedem Seminar und jeder Seminargruppe ist zu betrachten, in welchem Maße das Zusammenkommen der disziplinären Perspektiven institutionell gesteuert wird. In Bezug auf die Aufbauorganisation ist zunächst die Zahl der Studienseminare und entsprechenden Fachgruppen relevant, denn im Gegensatz zu den 279 Schulen, in denen gleichzeitig Geschichte mit Gemeinschaftskunde unterrichtet wird, ist hier eine markante strukturelle Reduktion gegeben: Im ganzen Land gibt es für das berufliche Schulwesen nur vier Staatliche Seminare (Freiburg, Karlsruhe, Stuttgart und Weingarten). Eine im Bundesvergleich für die zweite Phase völlig normale Regelung gewinnt in Bezug auf die Frageperspektive dieses Beitrags eine zentrale Bedeutung: Die Lerngruppen an diesen Seminaren werden entlang der unterrichteten Fächer gebildet, so wie sie später im Beruf unterrichtet werden. Da Geschichte mit Gemeinschaftskunde ein integriertes Fach ist, entspricht dem die Denomination der fachdidaktischen Seminargruppen. Dies hebt das Setting einerseits von der Situation an den Schulen ab, wo die Referendar*innen (wenn

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überhaupt) auf Mitreferendar*innen mit unterschiedlichen Fächerkombinationen treffen, und andererseits von den oben beschrieben Verhältnissen im Studium, wo oft genug nur ein Bezugsfach zur Geltung kommt.38 Die Staatlichen Seminare richten mit jedem Einstellungstermin pro Standort ein bis fünf Fachdidaktik-Seminargruppen für angehende Geschichte-mit-Gemeinschaftskunde-Lehrkräfte ein. Entsprechend gering ist die Zahl der mit der Ausbildung Betrauten: Zu Beginn des Schuljahres 2015/16 gab es fünfzehn Ausbilder*innen im Land.39 Ausbildende betreuen meist über Jahre hinweg in der Regel ein oder zwei Seminargruppen mit jeweils circa fünf bis acht Referendar*innen. Aus der Perspektive der strukturellen Integration heraus ist die Gesamtzahl der Ausbildenden klein genug, eine Face-to-face-Kommunikation zu ermöglichen. Tatsächlich existiert ein Mechanismus, der einen regelmäßigen Austausch befördert: Die Ausbilder*innen treffen sich zu gemeinsamen Jahresfachtagungen,40 die einer Angleichung der Ausbildungspraxis Vorschub leisten. 2015 diente diese der Umsetzung der neuen Fachdidaktikstandards, was das fächerintegrative Potenzial dieser Veranstaltungen bezeugt.41 Diese kompetenzorientierten Standards selbst – eine Errungenschaft erst des Jahres 2015 – stellen die Grundlage für die Ausbildung in allen Seminaren dar und bieten damit ein weiteres organisationales Werkzeug, die Bezugsdisziplinen zueinanderfinden zu lassen.42

Die Ausgestaltung des Referendariats: ablauforganisatorische Aspekte Betrachtet man die Generierung von Lehrkräften für ein Fach als Gesamtsystem im zeitlichen Verlauf, ist aus ablauforganisatorischer Perspektive vor allem der Übergang zwischen den Ausbildungsphasen zu beleuchten, da hier der Nachwuchs auf jeweils neue aufbauorganisatorische Strukturen trifft. Aus den oben 38 Grundlegendes ist festgehalten in der Verordnung des Kultusministeriums über den Vorbereitungsdienstund die Zweite Staatsprüfung für die Laufbahn des höheren Schuldienstes an beruflichen Schulen (APrObSchhD) vom 10. 03. 2004 mit Änderungen bis zum 03. 11. 2015. 39 Freiburg 3, Karlsruhe 5, Stuttgart 5, Weingarten 2. 40 Auskunft der Staatlichen Seminare Weingarten und Karlsruhe vom 11. 09. 2015 und 04. 03. 2016. 41 Vgl. die vormalige Ausschreibung auf dem Landesfortbildungsserver Baden-Württemberg, Lehrgang 913450, 12.10.–14. 10. 2015 (nicht mehr abrufbar am 31. 03. 2016, Sicherungskopie liegt vor). Dass diese Veranstaltungen den Austausch zwischen den Ausbildenden systematisch forcieren, zeigte der erste Programmpunkt »Austausch über neue fachdidaktische Impulse aus den vier Seminaren« ebd. 42 Kultusministerium Baden-Württemberg (wie Anm. 9), insb. S. 53–55.

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beschriebenen Unterschieden der Organisationsweise von Studium und Vorbereitungsdienst resultiert, dass sich an den Seminaren fachdidaktische Lerngruppen mit unterschiedlichen Vorkenntnissen konstituieren. Selbst wenn man nur diejenigen Referendar*innen betrachtet, die ein berufsbildendes Lehramtsstudium abgeschlossen haben, mischen sich hier die Absolvent*innen der oben beschriebenen, die Bezugswissenschaften unterschiedlich berücksichtigenden Studiengänge. Ist damit schon eine Heterogenität zu greifen, wird diese noch dadurch massiv verstärkt, dass am Übergang von der Universität zum Vorbereitungsdienst zu jenen Studierenden, die in Baden-Württemberg einen beruflichen Lehramtsstudiengang durchlaufen haben, weitere stoßen: zum einen Absolvent*innen beruflicher Lehramtsstudiengänge anderer Bundesländer und zum anderen Studierende, die zunächst ein höheres Lehramt an allgemeinbildenden Gymnasien angestrebt haben. Zur Bedarfsdeckung werden sie zugelassen, wenn sie zwei an beruflichen Schulen unterrichtete Fächer studiert haben.43 Obwohl dieser Wechsel nominell als Ausnahme angelegt ist, wird er seitens der Bildungsadministration aktiv beworben. Dezidiert weist das Land in seinen Informationsbroschüren auf die »prognostizierten guten Einstellungschancen« im beruflichen Schulwesen hin.44 Für werdende Lehrkräfte des Faches Geschichte mit Gemeinschaftskunde hat diese Regelung die eigentümliche Konsequenz, dass Wechselnde fast ausnahmslos nur eine Bezugsdisziplin studiert haben. Weil das Kombinationsfach in den allgemeinbildenden gymnasialen Lehramtsstudienfächern außerhalb des beruflichen Bereichs nicht existiert, kommt hier in Ermangelung eines zweiten an Berufsgymnasien unterrichteten Faches gerade nicht zum Zuge, wer aus dem allgemeinbildenden Studium allein die Fächerkombination Geschichte und Politik beziehungsweise Geschichte und Sozialwissenschaften mitbringt.45 An dieser Stelle verhindert das System die Aufnahme von Nachwuchskräften, die eine Expertise in beiden Bezugsdisziplinen mitbringen! Freilich ist der in der Literatur zum beruflichen Schulwesen gerne problematisierte Wechsel vom allgemeinbildenden in den berufsbildenden Bereich46 nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Anhand der Ausbildungskohorte, die im Januar 2016 den Vorbereitungsdienst im beruflichen Schulwesen angetreten hat, 43 Vgl. Kultusministerium Baden-Württemberg (wie Anm. 32), S. 4. 44 Baden-Württemberg, Ministerium für Kultus, Jugend und Sport: Berufsziel Lehrer/in: Einstellungschancen für den öffentlichen Schuldienst in Baden-Württemberg. Informationen für Studienanfänger/-innen zum aktuellen Studienanfängerbedarf bzw. über die erwarteten künftigen Einstellungschancen in den Lehrämtern, Stand: April 2015, S. 3. 45 Auskunft des landesweit für die Anerkennung zuständigen Regierungspräsidiums Tübingen vom 29. 02. 2016. 46 Siehe etwa zuletzt Besand (wie Anm. 6), S. 87.

Integrierte Lehrkräfte? Das Fach ›Geschichte mit Gemeinschaftskunde‹

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lässt sich dies gut verdeutlichen: Von den 94 Referendar*innen, die im Fach Geschichte mit Gemeinschaftskunde ausgebildet werden, haben 52 einen allgemeinbildenden Studiengang durchlaufen (55,3 %). Ihnen stehen nur 42 Absolventin*innen eines berufsbezogenen Studiengangs gegenüber, von denen wiederum 35 einen der oben beschriebenen baden-württembergischen Studiengänge studiert haben. Auffällig ist die hohe Zahl an Absolvent*innen aus dem kaufmännischen Bereich: Die drei Wirtschaftspädagogik-Studiengänge in Konstanz (9), Mannheim (9) und Hohenheim (8) stellen von diesen alleine 26. Die Zahl der Absolvent*innen des Heidelberger CARE- (2) und des noch jungen Tübinger sozialpädagogischen Studiengangs (3) übertrifft zusammen noch die jener, die aus dem gewerblichen Bereich stammen (Stuttgart 3, Karlsruhe 1).47 Für den Übergang vom Studium zum Vorbereitungsdienst ergibt sich also ein divergentes Bild von Zugangswegen, welche markant von der Normalvorstellung einer direkten Zuordnung eines Studienfaches zu einem späteren Unterrichtsfach abweichen. Abbildung 1 visualisiert diese Vielfalt: Manche angehenden Referendar*innen haben bereits im Rahmen ihres beruflichen Lehramtsstudiums geordnete Einblicke in beide Bezugsdisziplinen erhalten, de facto betrifft dies aber derzeit nur Absolvent*innen aus Karlsruhe und Hohenheim. Daneben treten jene, die ein Höheres Lehramtsstudium für berufliche Schulen absolviert haben, aber nur eine Bezugsdisziplin durchlaufen haben, und eben all jene, die aus dem allgemeinbildenden Lehramt (hier heller unterlegt) kommen und meist nur Politik oder Geschichte studiert haben. Zusätzlich sind hier noch einige Sonderfälle zu verzeichnen – etwa das Studium eines affinen Fachs oder einer Dreifachkombination oder die Herkunft aus einem ganz anderen Bildungsgang. Diese Vielfalt der Zugangswege zum Vorbereitungsdienst muss vor dem Hintergrund der Fragestellung dieses Beitrags als Herausforderung für die Integration der Bezugsdisziplinen begriffen werden. Bei den meisten angehenden Lehrkräften führt erst der Eintritt in die zweite Ausbildungsphase die beiden fachspezifischen Perspektiven zusammen. Die Einteilung in unterrichtsfachspezifische Lerngruppen, die von qualifizierten, miteinander institutionell kommunizierenden Ausbildenden angeleitet werden, befördert nun strukturell die Fächerintegration. Doch jenseits der schieren Existenz der auf das Fach Geschichte mit Gemeinschaftskunde bezogenen Seminargruppen lassen sich keine institutionellen Instrumente ausmachen, die im Vorbereitungsdienst für die Kompensation von Defiziten im einen oder anderen Bezugsfach Sorge tragen könnten. Die Integrationspflicht wird an die einzelnen Referendar*innen weitergereicht: Die Studienseminare verweisen darauf, dass die Aufarbeitung et47 An dieser Stelle danke ich dem Kultusministerium in Stuttgart, das mir die Daten zu den Fächerkombinationen und Herkunftsuniversitäten der Kohorte 2016/17 in anonymisierter Form zugänglich gemacht hat.

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Oliver Plessow

waiger Defizite in einer der Bezugsdisziplinen von den Referendar*innen weitgehend im Selbststudium zu leisten sei.48 ›GGK‹ im beruflichen Schulwesen

Geschichte im beruflichen Schulwesen

Politik im beruflichen Schulwesen

Politik im allgemein bildenden Schulwesen

Geschichte im allgemein bildenden Schulwesen

affines allgem. bildendes Fach

anderes Fach















Vorbereitungsdienst in einem Seminar ›Geschichte mit Gemeinschaftskunde‹ Abbildung 1: Fach Geschichte mit Gemeinschaftskunde – Übergangswege vom Studium in den baden-württembergischen Vorbereitungsdienst

Die Vielfalt der Bildungsherkünfte bei der Übernahme in den Schuldienst Indessen kommen neue Lehrkräfte mit disziplinär disparatem Hintergrund nicht nur am Übergang vom Studium zum Vorbereitungsdienst in das System hinein. Denn in Bezug auf die Generierung von Nachwuchskräften für das Fach Geschichte mit Gemeinschaftskunde bildet die Übernahme in den Schuldienst im beruflichen Schulwesen nach dem Referendariat eine weitere Scharnierstelle, an der regelmäßig ein Quereinstieg aus dem allgemeinbildenden Bereich erfolgt. Die Schulen müssen zwar die Stellen erst entsprechend ausschreiben, doch geschieht dies häufig. Wer eine allgemeinbildende gymnasiale Lehrbefähigung für zwei auch an beruflichen Schulen angebotene Fächer mitbringt, dem eröffnet sich an diesem Punkt ebenfalls der Weg in diese Schulform.49 Systemisch ist festzuhalten, dass jene Lehrkräfte, die erst zu diesem Zeitpunkt in das berufliche Schulwesen eintreten, nun unmittelbar und ohne weitere Schulungen eigenverantwortlich das Fach Geschichte mit Gemeinschaftskunde unterrichten, gleich welche disziplinären Vorkenntnisse sie mitbringen. Dadurch ergibt sich bei den Lehrkräften des Landes, die das Verbundfach in beruflichen Gymnasien unterrichten, eine höchst disparate Situation, bei der sehr unterschiedliche disziplinäre Bildungssozialisationen zu verzeichnen sind. Anders als die fachspezifischen Lerngruppen in den Staatlichen Seminaren 48 Auskunft der Staatlichen Seminare Stuttgart, Karlsruhe und Freiburg vom 15. 09. 2015, 04. 03. 2016 und 08. 03. 2016. 49 Baden-Württemberg, Ministerium für Kultus, Jugend und Sport: Hinweise zur Lehrereinstellung für wissenschaftliche Lehrkräfte im Bereich Gymnasien und berufliche Schulen (Einstellungstermine 2016), Stand: Dezember 2015, S. 5). Vgl. auch dasselbe (wie Anm. 44), S. 3.

Integrierte Lehrkräfte? Das Fach ›Geschichte mit Gemeinschaftskunde‹

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bilden die Fachschaften in den Kollegien – bei aller Möglichkeit des Austausches und der Unterstützung – keinen Garant für eine geordnete Zusammenführung der Perspektiven. Denn welche disziplinären Vorkenntnisse an einer konkreten Schule versammelt sind, ist dem Zufall der Einstellungen unterworfen. Um das einmal beispielhaft zu illustrieren, sind nachfolgend die Bildungsgänge der Geschichte-und-Gemeinschaftskunde-Lehrkräfte an zwei realen baden-württembergischen Berufsgymnasien miteinander kontrastiert (Abbildung 2).50 Im ersten Fall zeigt sich, wie in einer Fachschaft ein einzelnes Bezugsfach dominieren kann: Von elf Lehrkräften haben acht ein politikwissenschaftliches und nur zwei ein geschichtswissenschaftliches Studium absolviert; ein Referendariat in den Staatlichen Seminaren haben nur vier absolviert, und nur eine einzige Lehrkraft hat bereits einen berufsbezogenen Studiengang durchlaufen. Eine Religionslehrkraft aus dem allgemeinbildenden Bereich ist ebenfalls als Geschichte-mit-Gemeinschaftskunde-Lehrer*in tätig. Das zweite Beispiel zeigt eine viel größere Durchmischung der disziplinären Herkünfte und immerhin eine leichte Mehrheit von Lehrenden, die bereits ein berufsbildendes Studium absolviert haben. Hier sind fast alle denkbaren fachlichen Hintergründe vertreten.

5.

Fazit

Die formale Struktur der Qualifikation des Nachwuchses für das an den badenwürttembergischen beruflichen Gymnasien unterrichtete historisch-politische Kombinationsfach Geschichte mit Gemeinschaftskunde ist zumindest in organisationsanalytischer Perspektive nur eingeschränkt geeignet, Lehrkräfte zu generieren, die im Zuge ihrer Ausbildung Kenntnisse in beiden Bezugsdisziplinen sowie zum Zusammenspiel von historischem und politischem Lernen erworben haben. In der ersten Ausbildungsphase fordern sogar die berufsbezogenen Studiengänge nur im Ausnahmefall den Aufbau einer Expertise in beiden Domänen. Häufiger ist die Vermittlung nur einer Bezugswissenschaft durch allein in dieser ausgewiesene universitäre Einrichtungen. Eine Integration ermöglicht erst der berufsbezogene Vorbereitungsdienst, wobei dieser kaum Mechanismen vorhält, Defizite aus der ersten Phase auszugleichen. Noch stärker wirkt einer systemischen Fächerintegration der regelhafte Übertritt von Nachwuchskräften aus dem allgemeinbildenden in den berufsbildenden Sektor ent50 Im Zuge der Recherche haben sich die Geschichte mit Gemeinschaftskunde unterrichtenden Kolleg*innen einiger beruflicher Schulen bereit erklärt, anonymisiert über ihren Bildungsgang (Studium/ Vorbereitungsdienst) Auskunft zu geben. Die beiden ausgewählten Beispiele sind nicht repräsentativ, verdeutlichen aber die Spannbreite der Möglichkeiten.

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POL

POL POL POL

POL POL POL POL

GES

GES

REL

Studium

GGK

GGK GGK GGK

POL POL POL POL

GES

GES

REL

Referen dariat























GGK GGK GGK

GGK GGK GGK GGK

GGK

GES

POL SOZ

GES

POL POL SOZ SOZ

HW

k.A.

Studium

GGK

GGK GGK

GGK GGK

GGK

POL POL

HW

k.A.

Referen dariat





GGK

GGK

↓ GGK



GES



GGK GGK

POL





GGK GGK

↓ GGK



GGK GGK



GGK GGK

GGK

aktiver Dienst

GGK

aktiver Dienst

Abbildung 2: Fachbezogener Ausbildungsgang der Geschichte-mit-Gemeinschaftskunde-Lehrenden an zwei (oben/unten) beispielhaften baden-württembergischen beruflichen Gymnasien (Stand: Schuljahresbeginn 2015/16, Dunkelgrau = berufsbildend, Hellgrau = allgemeinbildend, GGK = Geschichte mit Gemeinschaftskunde, GES = Geschichte, POL = Politik, HW = Hauswirtschaft, REL = Religion, SOZ = Sozialwissenschaften, k.A. = keine Angabe)

gegen. Dieser Vorgang generiert bislang die Mehrzahl der Lehrkräfte und erfolgt sowohl beim Eintritt in das Referendariat wie in den Beruf. Fast alle Quereinsteigenden bringen lediglich eine Fachperspektive mit, denn ironischerweise verhindern die Einstellungsbedingungen, denen zufolge zwei an beruflichen Gymnasien unterrichtete allgemeinbildende Fächer studiert worden sein müssen, dass Absolvent*innen aus dem allgemeinbildenden Bereich mit der Fächerkombination Politik und Geschichte hinzukommen. Was lässt sich allgemein aus der Analyse ziehen? Das Ergebnis weist – zum einen – methodisch über den Einzelfall hinaus. Hierfür ist in Erinnerung zu rufen, dass ein Staat nur begrenzt steuern kann, wie Unterricht tagtäglich in den vielen Tausend Lerngruppen konkretisiert wird. Einerseits bemüht sich ein formales Bildungssystem durch die Normierungen von Leitlinien zur Unterrichtsgestaltung (Bildungsstandards, Lehrpläne, Curricula) und durch zentrale Prüfungen Einfluss zu nehmen. Beide sind regelmäßig Gegenstand der Forschung, und auch das Fach Geschichte mit Gemeinschaftskunde ist wie erwähnt kürzlich einer solchen Analyse unterzogen worden.51 Andererseits bietet sich dem Staat ein zweiter Zugriffsweg auf Unterricht durch die regelhafte Auswahl 51 Plessow (wie Anm. 8).

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und Ausbildung der Multiplikator*innen, denen die Befugnis erteilt wird, zu lehren und Abschlüsse zu prüfen, die Berufs- und Universitätszugänge eröffnen. Hier zeigt sich, dass ein organisationsanalytischer Zugriff in Bezug auf die Fächerintegration wichtige Erkenntnisse liefern kann. Insgesamt deutet sich damit ein Instrument an, welches das empirische Repertoire geschichtsdidaktischer Forschung erweitern kann. Beurteilt man schließlich – zum anderen – den Modellcharakter des Wegs in das Fach Geschichte mit Gemeinschaftskunde für die Vorbereitung auf eine transdisziplinäre Lehrtätigkeit, regen sich Zweifel, inwieweit das System seine Aufgabe optimal erfüllt. Insgesamt rechtfertigt das Fallbeispiel die Skepsis, welche die Forschung der Qualifikation der Lehrkräfte in Fächerverbünden entgegenbringt.52 Dabei ist das Beispiel nicht marginal: Immerhin ist das Pflichtfach seit Langem in einer Schulform etabliert, die mehr jungen Menschen den Hochschulzugang eröffnet als das gesamte Bildungswesen vieler kleinerer Bundesländer. Gewiss stellt die Heterogenität der Ausbildungsgänge der Lehrenden eine dauerhafte und auch anderswo gegebene Herausforderung dar. Doch wäre es ein Trugschluss, nur aufgrund dieses Befunds nach dem Ausbau der transdisziplinären Studiengänge zu rufen. Ein*e Ausbilder*in betonte im Gespräch, dass die Frage der Fächerherkunft nicht so stark wiege wie die Frage der Studienintensität: Wer Politik oder Geschichte als ein Fach im Rahmen eines allgemeinbildenden Gymnasiallehramtsstudiengangs ordentlich studiert habe, besitze ein deutlich besseres Grundverständnis sogar für die nicht studierte Disziplin als viele Absolvent*innen der berufsbildenden Spezialstudiengänge, die in das geisteswissenschaftliche (Verlegenheits-)Zweitfach nur hätten ›hineinschnuppern‹ können. Diesen Eindruck empirisch zu untermauern, übersteigt indes die Möglichkeiten einer Organisationsanalyse: Angesichts von milieu- und leistungsniveauspezifischen Studienwahlmustern sowie denkbaren Kompensationsmechanismen greift zu kurz, wer die Kompetenzen von Lehrer*innen allein auf die Struktur eines Ausbildungsgangs zurückführt.

52 Siehe Anm. 13.

Michele Barricelli

Narrationen für den Raum. Geschichtsbewusstsein als Hinsicht geographischen Handelns – eine Chance für fächerverbindendes Lernen

Überschreitet der fächerverbindende Unterricht Grenzen? Gewiss sind Fächer und Fachgrenzen Konstruktionen, genauer Produkt von Vorstellungen und Sprache. Schon das Wort »Grenze« ist ein Grenzgänger, ein äußerst erfolgreicher dazu, denn in die deutsche Sprache ist es als eines der ganz wenigen aus dem slawischen Raum eingewandert und mit ihm das Konzept von Grenzen als Linien. Das zugleich verdrängte ältere germanische Wort »Mark« bezeichnete im Mittelalter das Denken in Grenzsäumen.1 Zeit und Raum können, wie sich schon an dieser kleinen interkulturellen Sprachbetrachtung zeigt, einen gemeinsamen Erkenntnisgegenstand rahmen. Nicht grundlos also werden Geschichte und Geographie seit langem als zwei für den fächerverbindenden Unterricht besonders gut geeignete Schulfächer angesehen. Das interdisziplinäre Lernen soll sich in Verbünden realisieren, die indes oft auch Politik und Wirtschaft einschließen und dann »Gesellschaftswissenschaften« o. ä. heißen. Wo es dazu nicht reicht, finden sich in Curricula regelmäßig zumindest Hinweise zur punktuellen bzw. modularen Zusammenarbeit.2 Die Praxis freilich sieht, was die tatsächlich komplementären Blickwinkel auf die gemeinsam zu untersuchenden Problemstellungen betrifft, trotz der unverkennbaren theoretischen Bezüge überall bescheiden aus. Kaum irgendwo ist es bisher gelungen, die beiden fachlichen Paradigmen von »Zeit« und »Raum« gleichwertig in einem kohärenten, systematischen Programm unterzubringen, selbst dort nicht, wo lange (nationale) Fachtraditionen dies eigentlich vermuten ließen.3 Stattdessen werden in den Klassenräumen die historischen und geo1 »An den Marken meiner Tage« (aus einem Gedicht von Karl Theodor Körner) findet sich heute noch in Inschriften auf Grabsteinen, z. B. jenem von Marlene Dietrich auf dem Friedhof von Berlin-Friedenau. 2 Grundsätzlich zum fächerverbindenden Lernen vgl. Tobias Arand: Fächerverbindender Geschichtsunterricht. In: Michele Barricelli/Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts Bd. 2. Schwalbach/Ts. 2012, S. 308–324. 3 Man denke etwa an die in Frankreich durch Fernand Braudel beförderte »G8ohistoire«, deren

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graphischen Hinsichten auf die gewählten Themen meist neben- oder nacheinander abgehandelt (z. B. Leben in der mittelalterlichen Stadt – Struktur einer islamischen Stadt, aber nicht: wie verschiedenartige kulturelle Praxen unterschiedliche Formen der Raumaneignung und Raumordnung hervorbringen). So erinnert die Unausgegorenheit der didaktischen Theorie in Bezug auf historisch-geographisches Verbundlernen an die Verhältnisse in der historisch-politischen Bildung mit ihrer viel längeren Diskurstradition (wenn auch nicht hinsichtlich der ideologischen Schärfe der Debatte).4 In einer solchen Lage darf man von einer einzelnen Fachdidaktik keine schnellen und eindeutigen Lösungen für die abstrakten Ansprüche erwarten, die von Bildungspolitikerinnen oder Rahmenplanautoren vorgebracht werden, nur vorläufige Empfehlungen. Vor allem sind erkenntnisleitende Theoriegerüste notwendig, die mehr leisten als das bloße Gegenüberstellen von Themen mit der komplementären Frage: Und wo fand dieses historisches Ereignis statt – und seit wann kennt man diese geographische Entwicklung (the where and the why where)? Theorie im Fach Geschichte heißt zu allererst Geschichtsbewusstsein und Narrativität. In diesem Beitrag soll daher gefragt werden, wie durch Erzählen das Geographielernen mit einer neuen Qualität zu versehen wäre. Das heißt, es wird, was selten der Fall ist, von Seiten der Geschichtsdidaktik eine geographiedidaktische Perspektive eingenommen: So wie nämlich der Raum bestenfalls Historizität zur Anschauung bringen kann, vermögen Narrationen für den Raum geographisches Lernen in der Schule mit Blick auf sein zentrales Ziel der »geografischen Handlungskompetenz«5 zu stärken. Ich gehe, um die verschränkte narrative Erfahrung von Raum und Zeit6 an relevanten Orten beispielhaft zu diskutieren, nach einem Problemaufriss von meiner älteren Untersuchung zum Geschichtsbewusstsein als messbarem Faktor im Zuge der so Entsprechung das weitgehend durchgesetzte Schulfach »Histoire-G8ographie« ist (oft ergänzt durch eine Komponente »8ducation civique«). Insofern enttäuschen die strikt getrennten Bereiche der zugehörigen zentralen Staatsprüfung, vgl. »Brevet des collHges 2015: L’8preuve d’histoire-g8ographie et 8ducation civique«. 4 Vgl. Michele Barricelli/Martin Lücke: Historisch-politische Bildung. In: Benno Hafeneger (Hrsg.): Handbuch Außerschulische Jugendbildung. Schwalbach/Ts. 2011, S. 325–343. 5 Vgl. unten RLP Geografie (siehe Anm. 17). 6 Zeit und Raum als Paradigmen der Fächer Geschichte und Geographie kommen bemerkenswerterweise weder in dem einen noch dem anderen zugeordneten Kompetenzmodell explizit vor (vgl. unten RLP Geschichte und Geografie). Wäre eigentlich »Zeitkompetenz«, die also auf temporalen Wandel abzielt, eine Alternative zur elenden »Sachkompetenz« einiger geschichtsdidaktischer Kompetenzmodelle? Jedenfalls werden in der Geographiedidaktik Raum und Raumerfahrung gerade so konstruktivistisch und individuell-subjektiv aufgefasst wie Zeit und Zeiterfahrung in der Geschichtsdidaktik, vgl. zuletzt Gabriela B. Christmann (Hrsg.): Zur kommunikativen Konstruktion von Räumen. Theoretische Konzepte und empirische Analysen. Wiesbaden 2016. Zentrale Kategorie der Raumbildung (»spacing«) ist hier wiederum das Handeln.

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genannten Gentrification von Stadträumen aus und wende mich sodann – um geographisches Handeln in der Zeit zu illustrieren – radikalen Stadtplanungsprojekten zu, die nämlich nie ohne historischen Bezug (wenn auch bisweilen einem negativen) auskommen. Im Anschluss werfe ich, um die Möglichkeiten der Schule auszuloten, einen Blick auf die aktuellen Ansätze eines curricular begrenzten interdisziplinären Lernens in den Fächern Geschichte und Geographie am Beispiel des demnächst in Kraft zu setzenden neuen Rahmenlehrplans in Berlin-Brandenburg für die Jahrgangsstufen 7–10 (»Module im gesellschaftswissenschaftlichen Verbund«). Ein Fazit führt die Ansätze im Hinblick auf die gekreuzten bzw. zu kreuzenden Perspektiven der beiden Fächer zusammen.

1.

Problemaufriss: Fachliche Ansprüche und interdisziplinäre Verschränkung

Wie jedes Lernen in der Schule muss auch das fächerverbindende kompetenzorientiert sein. Wie kann das gehen, wenn laut Definition Kompetenzmodelle fachlich spezifisch sein sollen? Doch besitzt diese Frage unter Bildungsplanerinnen und Bildungsplanern womöglich wenig Virulenz – denn mit der in vielen Bundesländern anzutreffenden Tendenz, für sämtliche Fächer eines Lehrplanwerks dieselben verbindlichen »Basiskompetenzen« festzulegen, die dann beispielsweise Sach-, Personal-, Methoden-, Urteils-, Handlungskompetenz heißen, erübrigt sie sich ganz einfach; freilich um den Preis, einen der großen und anfänglich laut gepriesenen Vorzüge der Kompetenzorientierung, die strikte Fachlichkeit, leichtfertig zur Disposition gestellt zu haben. Auch ohnedies finden sich in Curricula regelmäßig zumindest Hinweise zur »Verwandtschaft« von Fächern, nämlich in zumindest dem Namen nach gleich lautenden und trotzdem fachlich spezifischen Teilkompetenzen. So enthalten geschichtsdidaktische Modelle regelmäßig eine Urteilskompetenz, die aus der Politischen Bildung übernommen wurde, oder eine Interpretationskompetenz, die man ursprünglich wohl den Sprachfächern zuordnen müsste, und eben auch die für die Geographie erstgeborene Orientierungskompetenz.7 7 Manche Fachmodelle reklamieren die Orientierungskompetenz übrigens als Alleinstellungsmerkmal des Geographieunterrichts, vgl. unten RLP Geografie, S. 5. Man bedenke, was das für dieselbe im Hinblick auf das historische Lernen bedeutet, gehen doch hier die Modellvorstellungen innerhalb der Geschichtsdidaktik auseinander. Vgl. Michele Barricelli/Peter Gautschi/Andreas Körber : Historische Kompetenzen und Kompetenzmodelle. In: Barricelli/ Lücke (Hrsg.) (Anm. 2), S. 207–235. Das Wort »Orientierung« selbst ist in sich selbstverständlich narrativ, historisch und theologisch: die Ausrichtung (der Karten, des Denkens, des Menschen) nach Osten, zur aufgehenden Sonne, nach Jerusalem, ins Paradies, zu Gott.

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Nun ist nicht zu leugnen, dass spätestens mit dem spatial turn der Kulturwissenschaften raumbezogene bzw. raumkritische Faktoren auch das historische Erzählen prägen und bei Historikerinnen und Historikern damit ein gewisses Raumbewusstsein gepflegt wird. Ganz so überragend neu, wie teilweise gefeiert, war allerdings diese Einsicht der »raumbewussten Historiographie« ganz und gar nicht, mindestens nicht für das Fach Geschichte in der Schule. Denn erstens war ja schon im 19. Jahrhundert Kartenarbeit dem Geschichtsunterricht nicht fremd (in jedem kaiserzeitlichen Klassenzimmer hing zuerst einmal eine Karte des Heiligen Landes).8 Zweitens wurde im Unterricht bei der Erklärung der altgriechischen Poleis früh schon auf die geomorphologische Kleinkammerung der Peloponnes, bei der Völkerwanderung auf Missernten und generell die Bodenertragsfähigkeit oder für den Durchbruch der Aufklärung auch auf das Erdbeben von Lissabon 1755 hingewiesen. Genauso kannte die Geschichtswissenschaft immer Vernetzungen von Raumverhältnissen und Gesellschaftsordnungen: Für die Abschaffung der Sklaverei in der Karibik war die Verbreitung der Zuckerrübe in Europa mindestens so bedeutsam wie abolitionistische Geisteshaltungen, denn der Plantagenwirtschaft in den Amerikas wurde damit auf bodengeographischem Wege einfach ein großer Teil ihrer Geschäftsgrundlage entzogen; die Geschichte der Niederlande ist seit tausend Jahren ein einziges Wechselspiel zwischen dem schwierigen Naturraum und dem diesen beherrschenden Menschen; der deutsche Vormärz mit seinen Verfassungsbestrebungen wird neuerdings auch durch den Ausbruch des weit entfernten Vulkans Tambora im Jahr 1815 in Verbindung gebracht – weil auf diesen durch die Verunreinigung der Erdatmosphäre eine Reihe verregneter Sommer sogar in Europa folgten, was Missernten und Unmut in der Bevölkerung provozierte, worauf zahlreiche deutsche Fürsten mit Konzessionen reagierten bzw. reagieren mussten, da sie für ihre großen, auch als Wohlfahrtsprogramme angelegten Infrastrukturprojekte wie Kanal- und Straßenbau den Rückhalt eines Parlaments mit Budget-Hoheit benötigten.9 Weder sind also »Naturereignisse« nur aus einem Verständnis von Natur abzuleiten, noch lässt sich Soziales nur durch Soziales erklären. Die Triftigkeiten bleiben freilich fließend – Die ältere Kolonialgeschichtsschreibung baute klimatisch-geographisch-erdzonale Gege8 Die Arbeit mit historischen und Geschichtskarten im Geschichtsunterricht ist nicht grundlos aktuell wieder ein beliebtes Forschungsfeld der Geschichtsdidaktik. Aus den zahlreicheren neuen Publikationen vgl. insbes. die Beiträge von Vadim Oswalt, z. B. Weltkarten – Weltbilder. Zehn Schlüsseldokumente der Globalgeschichte. Ditzingen 2015. 9 Zur selben Zeit, in den Jahren 1816–1821, entstand jedes Jahr ein neuer US-Bundesstaat jenseits der Appalachen, hob die Massenauswanderung aus Europa in die Amerikas und Australien an, während sich China von dem Schlag der Naturkatastrophe nie wieder erholen konnte. Vgl. Wolfgang Behringer : Tambora und das Jahr ohne Sommer. Wie ein Vulkan die Welt in die Krise stürzte. München 2005.

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benheiten sogar systematisch als Letztbegründungen in ihr Gebäude ein: Unablässige Hitze, regennasse Schwüle und Sichtbeschränkung durch dichten tropischen Urwald ließen eben über Generationen träge und stumpfsinnige Menschenrassen entstehen, die den Europäern per se unterlegen sein mussten. So ist denn, was Schlögel10 für seinen Band »Im Raume lesen wir die Zeit« untersucht, eher nachtragend als grundstürzend, trotz der vorgestellten vielen erhellenden Einzelstudien. Darüber hinaus nimmt er den Konstruktcharakter der zwei Paradigmen Zeit und Raum noch zu wenig in Augenschein, indem er z. B. auf eine eher schlicht gedachte »Pluralität der Räume« hinweist und überhaupt etwas zu positivistisch »Fiktionen« und »Konstruktionen« verachtet. Am Ende ist sogar eine seiner Lieblingsmetaphern, nämlich die vom Schauplatz, entgegen der ersten Anmutung, gar nicht geographisch-räumlich, sondern theatralisch. Generell jedoch muss doch daran erinnert werden, dass es – nicht zuletzt in dem Bestreben, germanozentrische Lehren der Geopolitik (einschließlich der Volk-ohne-Raum-Propaganda) aus dem Gedankengut eines modernen Geschichtsunterrichts verlässlich herauszuhalten – alle geodeterministischen Theorien während der letzten Jahrzehnte in der deutschen Schule schwer hatten. Umgekehrt ist auf Seiten des Geographieunterrichts die historische Dimension sogar noch schwächer ausgeprägt. Zwar kennt auch die deutsche Anthropogeographie gewisse diachrone Erklärungsmodelle – etwa was Siedlungsformen, Bevölkerungsverteilungen, Migrationsgeschehen angeht –, aber der in Deutschland traditionell stärkere Teilbereich der Physischen Geographie möchte die Untersuchung von Einflüssen des Menschen auf Raum und Erdoberfläche möglichst gering halten und stellt im Übrigen die Kulturgeographie oft unter ideologischen Generalverdacht. Wie jede Grenzüberschreitung ist also auch jene zwischen Schulfächern – hier Geschichte und Geographie – mit zuweilen tief sitzenden Ängsten verbunden. Die Weltwirklichkeit schert sich freilich darum wenig, wie nun zu sehen sein wird.

2.

Geschichtsbewusstsein und Raumverständnis: Zwei Beispiele

Dass geographisches Handeln und historisches Denken zuweilen – nicht immer – sehr viel miteinander zu tun haben, habe ich vor ein paar Jahren mit Seminarteilnehmerinnen und -teilnehmern in einem Studienprojekt zum Thema

10 Karl Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik. München 2003.

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Gentrification untersucht.11 Als Gentrification (oder Gentrifizierung) wird der urbane Umbauprozess bezeichnet, in dem innenstadtnahe Bestandsviertel von Metropolen, deren Bausubstanz aus bestimmten Gründen längere Zeit nicht mehr gepflegt wurde und die daher nur mehr einkommensschwachen Gruppen als Wohnraum dienen, großflächig saniert und dadurch für einkommensstärkere Gruppen wieder interessant werden. Der Fachterminus – heute oft bereits ein politischer Kampfbegriff in der stadtsoziologischen Debatte der Printmedien – existiert seit den 1960er Jahren, eingeführt von der britischen Soziologin Ruth Glass, die übrigens aus Berlin gebürtig war und bereits vor 1933, die Zeichen der Zeit klug erkennend, ihre Heimat verließ.12 Sie entwickelte ihr Modell am Beispiel von Islington im Norden Londons und fand den Namen dafür in einer fast ironischen Anlehnung an die tief in der historischen Identität der Briten verwurzelte »gentry«, dem kleinen Landadel (der eben nie so vermögend, manierlich und sophisticated war wie die tatsächliche »nobility«). Der Entwurf enthielt bereits alle Komponenten, die wir heute mit ihm verbinden: die baulichphysischen wie ideellen Aufwertungsprozesse, die Diskussion von fortschreitender Segregation der Bewohner, den mentalen Imagewandel von Stadtquartieren.13 Gentrification nun mit ihren typischen Invasions- und Sukzessionszyklen wird in aller Regel soziologisch, politisch und ökonomisch, zuweilen auch psychologisch erklärt (das heißt, Wohnmobilität wird auf zeitlich veränderte Lebensstile zurückgeführt). Meine Hypothese ist aber seit langem, dass auch das Geschichtsbewusstsein der Prozessbeteiligten eine gewichtige Rolle spielt. Am Beispiel des Berliner Scheunenviertels und des Marais in Paris (die Stichprobe hätte sich genauso gut auf Soho in London, de Jordaan in Amsterdam, Nörrebro in Kopenhagen, Trastevere in Rom, Beyoglu in Istanbul, die Lower East Side von Manhattan oder Palermo in Buenos Aires beziehen können) konnten wir genau dies dann auch nachweisen.14 Für die Untersuchung im Feld nutzten wir zu11 Vgl. Michele Barricelli: Das Gedächtnis der Stadt. Urbaner Wandel und Gentrification als multidisziplinäres Forschungsfeld. In: Christiane Schröder u. a. (Hrsg.): Geschichte, um zu verstehen. Traditionen, Wahrnehmungsmuster, Gestaltungsperspektiven. Carl-Hans Hauptmeyer zum 65. Geburtstag. Bielefeld 2013, S. 465–477 und ders.: Gegenwart und Erinnerung in der großen Stadt. Ein Bericht über symbolisches Geschichtsbewusstsein in Prozessen des urbanen Wandels (»Gentrification«). In: Zeitschrift für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften 4 (2013), H. 1, S. 40–55. Dort finden sich zahlreiche weitere Literaturhinweise auch zur Geschichte des Begriffs. 12 So hat auch dieser NS-typische brain drain dazu geführt, dass ein Phänomen, das wir heute leichtfertig für typisch angelsächsisch halten, bei einem anderen Geschichtsverlauf auch hätte einen deutschen Namen tragen können. 13 Vgl. knapp zusammenfassend: Christian Krajewski: Gentrification in Berlin. Innenstadtaufwertung zwischen etablierten »In-Quartieren« und neuen »Kult-Kiezen«. In: Geographische Rundschau 65 (2013), H. 2, S. 20–27. 14 Vgl. für dieselben Untersuchungsgebiete zuletzt Katharina Bröcker : Metropolen im Wandel.

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nächst stadtgeographische Methoden wie Kartierung, Fußgängerzählung, Einwohner- und Passantinnenbefragung. Ganz deutlich wurde dabei, dass einer signifikanten Zahl von »Gentrifiern« die besondere Vergangenheit ihres Viertels – als Arbeitermilieu, Sammelpunkt für Juden, Prostituierte, Kriminelle sowie Entrechtete und Deklassierte aller Art – überaus bewusst war und dass sie bei der Entscheidung für den Zuzug in dieses Gebiet auch die Nähe zu genau dieser Geschichte suchten. Sie wollten, gar nicht nur im übertragenen Sinn gesagt, inmitten einer Erzählung leben, die ihrem Leben speziellen Sinn verleiht. Mehr Geschichtsbewusstsein unter Laien geht eigentlich nicht. Dieses Positivbeispiel lässt sich nun radikal umkehren, aber es bleibt immer noch ein Beleg für das hier geführte Argument, dass Geschichte unser Konzept von Raum und Raum unsere Vorstellung von Geschichte prägen. Das zweite Beispiel stammt erneut aus Paris: Dass die wirkmächtigsten Raumgestalter und damit geographischen Agenten Stadtplanerinnen und Architekten – oft in derselben Person – sind, braucht wohl keine weitere Begründung. Im Jahre 1925 entwarf und veröffentlichte der bereits seinerzeit sehr bekannte schweizerisch-französische Architekt Le Corbusier, eigentlich Charles-Edouard Jeanneret-Gris, einen avantgardistischen Entwurf bzw. eine Vision, den so genannten »Plan Voisin« (»Nachbarschaftsplan«), für die radikale Neugestaltung des rechten innerstädtischen Seine-Ufers der französischen Hauptstadt.15 Dort fand sich damals ein Gewirr von kleinteiliger Wohn- und Gewerbebebauung, und zwar auch, weil diese Bezirke im 19. Jahrhundert nur zum Teil in den großen Umbau des Barons Haussmann einbezogen worden waren. Der Plan – man bezeichnet ihn bis heute als utopisch, aber das ist gewiss gar nicht im Sinne des Erfinders – sah eine vollständige Niederlegung der seinerzeit in der Tat verkommenen und hygienisch katastrophalen Bausubstanz vor. Errichtet werden sollten an Stelle der traditionellen »Irregularitäten« achtzehn 60-stöckige Gebäude mit kreuzförmigem Grundriss in schematischer Rasterarchitektur. Interessant ist nun, dass Le Corbusier seinen Eingriff mit einer vollgültigen historischen Theorie unterlegte: Er dachte eben nicht nur, wie sämtliche Großmeister der Moderne, mit ihm allein beginne eine völlig neue Architektur (und überhaupt eine neue Zeit und damit Geschichte), die allem zuvor Gebauten weit überlegen sei. Das nahm wohl auch Walter Gropius – ein deutscher Flüchtling wie Ruth Glass – von sich an, als er 1937 seine Professur in Harvard antrat und erst einmal die gesamte bauhistorische Bibliothek entsorgen ließ. Le Corbusier meinte darüber hinaus viel Grundsätzlicheres, indem er beGentrification in Berlin und Paris. Darmstadt 2013, wiederum ohne Bezug zu Bewusstseinsfragen. Der Band war zum Zeitpunkt des Studienprojekts noch nicht erschienen. 15 Vgl. Robert Fishman: Urban Utopias in the Twentieth Century : Ebenezer Howard, Frank Lloyd Wright, Le Corbusier. New York 1977.

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fand: »Es bleibt uns nichts mehr von der Architektur früherer Epochen, so wenig wie uns der literarisch-historische Unterricht an den Schulen noch etwas geben kann.«16 Freilich kam Le Corbusiers Plan nie zur Ausführung, und das obwohl jener zunächst Unterstützung für dieses und andere Vorhaben erst in der Sowjetunion suchte (»Bolschewismus heißt: alles so groß wie möglich, die größte Theorie, die größten Projekte«) und danach, während der deutschen Besatzung von Paris, bei den Nationalsozialisten (»Hitler kann sein Leben mit einem großartigen Werk krönen: der Neugestaltung Europas«). Le Corbusier hatte wohl ein eher nihilistisches Verständnis von Geschichte, die Berliner und Pariser Gentrifier wahrscheinlich eher ein romantisches. Beides jedoch hat(te) Auswirkungen auf ihr zeitliches Handeln. So wie wir im Raume die Zeit lesen, erfahren wir Räume erst in der Zeit. Geschichtsbewusstsein als erzählte Zeit hilft also, räumliche Gestalt (besser) zu verstehen. Wenn diese Betrachtungen für heutigen Schulunterricht irgendetwas bedeuten, dann wohl dass es zumindest Plausibilität besitzt, hin und wieder historisches und geographisches Lernen gezielt miteinander zu verbinden und nach disziplinär parallelen Lösungen zu suchen. Das beginnt bereits mit dem grundlegenden, bei den Lernenden in den zwei Fächern oft anzutreffenden Abbildmissverständnis, Geschichte sei die Vergangenheit und die Landkarte die Landschaft. Doch ist neben dem Vergleich von Zugängen oder Methoden die interdisziplinäre Untersuchung gemeinsamer Themenfelder wohl ertragreicher, wie es viele Lehrpläne nahelegen und nachfolgend betrachtet wird.

3.

Curriculare Bezüge der Fächer Geschichte und Geographie: Das Beispiel des neuen Berliner Rahmenlehrplans

Einen curricularen Versuch des Lernverbunds von mittlerweile zahllosen in vielen Bundesländern unternimmt der ganz neue »Rahmenlehrplan für die Sekundarstufe I Jahrgangsstufe 7 bis 10« von Berlin (und angepasst Brandenburg) (RLP).17 Er wird zum Schuljahr 2017/18 in Kraft gesetzt, bekannt geworden ist

16 Vgl. für das Folgende, auch die Zitate: Rainer Haubrich: Was von Le Corbusier bleibt, ist epochales Scheitern. In: Die Welt vom 27. August 2015. 17 Die amtlichen Fassungen unter http://bildungsserver.berlin-brandenburg.de/rlp-online/ startseite/ (aufgerufen am 13. 03. 2016). Der Rahmenlehrplan ist als einheitliches Werk für alle allgemeinbildenden Fächer konzipiert. Die Fächer werden im Teil C einzeln abgehandelt. Im Folgenden gelten die Abkürzungen für die zwei C-Teile »Ge« (Geschichte) und »Geo« (Geografie), jeweils mit Seitenzahlen. Die im RLP gewählte Schreibweise ist »Geografie«, »geografisch«. Im Übrigen zeichnet sich das Gesamtwerk durch eine strikte Kompetenzorientierung und eine äußerst differenzierte Bildung von Niveaustufen bei den Regelstandards aus, ist also technisch auf der Höhe der Zeit.

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aber bereits der Fachteil C Geschichte, und zwar durch einen heftigen, zwischen der Bildungsverwaltung und den Lehrerverbänden geführten Streit über sein Strukturprinzip in der Jahrgangsstufe 7/8, wo Längsschnitte zunächst eine größere Rolle spielen sollten, als später durchgesetzt wurde.18 Hier jedoch soll eine andere Komponente interessieren, die zu keinem Zeitpunkt zur Debatte stand (obwohl von manchen Lehrkräften kaum weniger gefürchtet), nämlich die sogenannten »Curricularen Bezüge der Fächer Geografie, Geschichte und Politische Bildung im Verbund«.19 Es heißt konkret (Ge 21): »Für die Doppeljahrgangsstufe 7/8 sind ›Migration und Bevölkerung‹ sowie ›Armut und Reichtum‹ und für die Doppeljahrgangsstufe 9/10 ›Konflikte und Konfliktlösungen‹ sowie ›Europa in der Welt‹ für die drei Fächer Geografie, Geschichte und Politische Bildung als gemeinsame Themenfelder festgelegt. Eines davon wird in jedem Schuljahr im Verbund unterrichtet. Die organisatorische (zeitgleiche, zeitversetzte) Umsetzung erfolgt nach Absprache zwischen den Fächern (z. B. gegenseitige Abstimmung der Themenzugriffe; gemeinsame Planung und Durchführung von Projekten) und nach den schulspezifischen Gegebenheiten. In der Regel werden die Themenfelder gleichzeitig unterrichtet«.

Auffällig ist also zunächst, dass die interdisziplinäre, vernetzte Perspektive selbst in den eigens dafür geschaffenen gleich benannten Modulen nicht streng obligatorisch ist, sondern gemäß Absprachen und Umständen erfolgt. Irgendwelche Hinweise, wie die je für sich schlüssigen fachlichen Kompetenzmodelle für das angestrebte Verbundlernen zu kombinieren sind, gibt es indes nicht. Dies belegt ein weiteres Mal das Fehlen tatsächlich erprobter und praktischer Methoden für den fächerverbindenden Unterricht zumindest in den Lernbereichen Geschichte und Geographie (denn sonst würde man jenen kaum den Lehrkräften anheim stellen). Inhaltlich werden die besonderen Themenfelder in den »Wahlmodulen« für die entsprechenden Doppeljahrgangsstufen präzisiert, und zwar getrennt in den jeweiligen C-Teilen. Im Geschichtsteil treten hierbei Längsschnittbetrachtungen, Fallanalysen und der Vergleich als Strukturierungskonzepte auf, wobei die Thematiken grobchronologisch geordnet sind. Nachfolgend werden die Ausführungen für die Bezüge zwischen Geschichte und Geographie ausgehend vom Fachteil »Geschichte« und mit ergänzendem Blick auf den Fachteil »Geografie« diskutiert. 18 Vgl. für eine Position zur Debatte Michael Sauer : Noch einmal: Curricula. In: Public History Weekly vom 14. 05. 2015, http ://public-history-weekly.oldenbourg-verlag.de/3-2015-16/ once-again-curricula/ (aufgerufen am 22. 02. 2016). 19 Obgleich der Verfasser an der Ausarbeitung des RLP Geschichte und der Längsschnittkonzepte beratend beteiligt war, gilt dies für die hier diskutierten Abschnitte nur mittelbar, so dass eine distanzierte Betrachtung möglich ist.

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Doppeljahrgangsstufe 7/8 »Armut und Reichtum« Ge (28) »Im Geografieunterricht werden Armut und Reichtum als vorrangige Herausforderung an die Gesellschaft thematisiert und in ihrer Raumbedingtheit und Raumwirksamkeit auf unterschiedlichen Ebenen (lokal – regional – global) betrachtet. Armut und Reichtum kennzeichnen Gesellschaften in der Vergangenheit, Gegenwart und nahen Zukunft. Im Geschichtsunterricht wird die Veränderung des Verständnisses und gesellschaftlichen wie politischen Handelns im Kontext von Armut und Reichtum in verschiedenen Zeitebenen aufgezeigt, verglichen und beurteilt. (…) Längschnitt: Leitfrage (z. B. Hilfe bei individueller Armut – eine Verantwortung der Allgemeinheit?) – Mittelalter: Armut, Reichtum und Christentum – Frühe Neuzeit: Armenpolitik städtischer Eliten zwischen Fürsorge und Repression – Industriezeitalter : Soziale Frage – Antworten von Wirtschaft, Religion und Politik.« Geo (26): »Leben in der Einen Welt/Entwicklungsunterschiede. Mögliche Konkretisierungen: Hunger und Überfluss, Ursachen/Folgen von Armut, Wege aus der Armut, fairer Handel, Entwicklungsindikatoren«

»Armut« und »Reichtum« – wie immer man sie definieren mag, etwas wissenschaftlicher vielleicht als »soziale Ungleichheit« – können durch die gleichzeitige synchrone wie diachrone Hinsicht ganz sicher lernend besonders gut verarbeitet werden. Die vorgeschlagenen Teilthemen passen gut zueinander : Die längsschnittlich untersuchte »Hilfe bei individueller Armut« (»Armenpolitik städtischer Eliten« in der Frühen Neuzeit und die Antwort auf die Soziale Frage im »Industriezeitalter« – womit implizit auch »Reichtum« angesprochen ist) liefert historische Anschauung und Modellhaltungen für die lebensweltlich relevanten »Wege aus der Armut« und bereitet narrativ auf die Identifizierung moderner Entwicklungsindikatoren vor. Damit wird die Raumwirksamkeit sozialer Disparität in (ausgewählter) Vergangenheit und Gegenwart mit einem vergleichenden Blick auf die Gegenwart (und das heißt den erreichten humanen Fortschritten) sinnvoll zusammengeführt. Merkwürdigerweise jedoch spielt für Geographie der »Reichtum« in den Unterthemen keine explizite Rolle (er ist jedenfalls weder synonym mit »Überfluss« noch ein Antonym zur »Einen Welt«). Dadurch bleibt undeutlich, in welchem Sinne »Reichtum« überhaupt eine »Herausforderung an die Gesellschaft« darstelle. Missverständlich ist ebenso, wo und warum Armut eigentlich »raumbedingt« ist, denn das würde ja bedeuten, dass das Leben an einem bestimmten Ort »Armsein« disponiert und nicht, wie gegenteilig zu vermuten wäre, dass sich sozial schwache Bevölkerungsschichten an bestimmten Orten konzentrieren. Dafür ist die Ausdrucksweise für Geschichte unnötig umständlich bzw. vage (»Veränderung des Verständnisses und gesellschaftlichen wie politischen Handelns im Kontext von Armut und Reichtum«). Selbstverständlich wären auch andere narrative Füllungen der Thematik

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denkbar. Ein gutes Beispiel könnten die oben diskutierten Prozesse von Urbanität abgeben, gern auch das Phänomen der Gentrification. Bessere und schlechtere Stadtviertel hat es zu allen Zeiten der europäischen Geschichte gegeben, und man kann in einer das Historische und Geographische verschränkenden Erzählung noch viel weiter zurückgehen als in das Berliner Scheunenviertel und das Pariser Marais des 19. Jahrhunderts: Infolge des vorherrschenden Westwinds lagen die bevorzugten Wohngebiete wegen der frischeren Luft tendenziell im Westen der größeren Städte (Paris, London, Berlin). Dieser topographische Faktor erleichterte seinerzeit genauso den Umzug des Papstes und seines Hofstaats vom östlich des Kolosseums gelegenen Lateran in den Vatikan. Im antiken Pompeji lebte die ärmste Bevölkerung in der natürlichen Abzugslinie der Garum-Küchen, die einen bestialischen Gestank verbreiteten. Gleichzeitig war die römische wenigstens zu Teilen eine Überfluss-Gesellschaft bis hin zur sprichwörtlichen »spätrömischen Dekadenz«. Daraus wiederum ließen sich historisch belegbare »Folgen von Armut« und (avant la lettre) die Notwendigkeit von »fairem Handel« ableiten. Doppeljahrgangsstufe 7/8 »Migration und Bevölkerung« Ge (29) »Im Geografieunterricht werden demografische Prozesse und Strukturen auf allen Maßstabsebenen als eine Herausforderung für heutige und künftige Generationen thematisiert. Auf regionaler und globaler Ebene werden z. B. die wachsende Weltbevölkerung, Migration und deren Auswirkungen auf ländliche und urbane Räume betrachtet. Im Geschichtsunterricht wird Migration als ein zentrales Merkmal menschlicher Gesellschaften in der Vergangenheit und Gegenwart betrachtet. Unterschiedliche Faktoren kennzeichnen Wanderungsbewegungen. Diese Faktoren sowie der Umgang mit daraus resultierenden Problemen werden im Geschichtsunterricht in verschiedenen zeitlichen Ebenen untersucht, verglichen und beurteilt. (…) Längsschnitt: Leitfrage (z. B. Verlust, Herausforderung, Katastrophe?) – Ostsiedlung und Binnenkolonisation – Frühneuzeitliche (Zwangs-)Migration (z. B. Hugenotten, Böhmen, Türken, Afrikaner) nach Berlin und Brandenburg – Migration im 19. Jahrhundert nach Amerika, Verschleppung der afrikanischen und Vertreibung der indigenen Bevölkerung.« Geo (24) »Demografische Entwicklungen in regionaler und globaler Dimension. Verstädterung. Mögliche Konkretisierungen: Bevölkerungswachstum, Bevölkerungszusammensetzung nach Alter, Geschlecht, schrumpfende und alternde Bevölkerung als Herausforderung, Migration. Verstädterung: Ursachen und Folgen für städtische und/oder ländliche Räume, Landflucht, Stadt als Entwicklungsmotor.«

In diesem Modul zeigt sich erneut, dass die Geschichte aus den breit systematisch und kategorial entwickelten Gegenständen und Begriffen der Geographie stets nur einen Ausschnitt historisch konkretisieren kann. Im Fach Geographie

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wird Demographie als Bevölkerungswissenschaft mit Mobilität und »Verstädterung« in Verbindung gebracht. Das Fach Geschichte kann jedoch schon aufgrund der beschränkten Unterrichtszeit – und auch im Hinblick auf die lebensweltliche Relevanz der Thematik – nur Beispiele für den Teilbereich Migration liefern. Die synergetischen Effekte beziehen sich also insbesondere auf die Faktoren »Bevölkerungszusammensetzung nach Alter, Geschlecht« sowie »schrumpfende und alternde Bevölkerung als Herausforderung«. Für die geographischen Aspekte »Verstädterung« und die »Stadt als Entwicklungsmotor« haben die ausgewählten historischen Zwangswanderungen (Flucht, Verschleppung, Vertreibung) jedoch kaum Erklärungswert. Überhaupt gelten von den früheren Faktoren für (Städte-)Wachstum heute nur noch einige, während neue hinzutreten: Die wenigsten Wanderungen resultieren im 21. Jahrhundert noch aus demographischen Gründen (Überbevölkerung bzw. »Bevölkerungsdruck«), sondern haben humane Ursachen (Krieg, Diktatur, Verfolgung) oder werden ausgelöst durch Naturkatastrophen oder beruhen auf Gründen einer globalisierten Ökonomie mit ihren spezifischen Bewusstseinsphänomenen (man weiß oder glaubt wenigstens zu wissen, dass es woanders ein leichteres Leben mit besseren Verdienstmöglichkeiten gibt). Im historischen Rückblick gilt zudem, dass Zu- und Abwanderung generell (zumindest für die im RLP genannten Beispiele, mit Ausnahme der Massenimmigration in die USA) im Vergleich zur Residenzgesellschaft quantitativ nur bedingt ins Gewicht fielen,20 so dass sich daraus nur schwer Exempla für aktuell demographisch relevante Prozesse ableiten lassen. Selbst innerhalb des Geografiemoduls bleiben überdies Bezüge unklar : Verstädterung findet nämlich auch dort statt, wo die Bevölkerung nicht oder nur noch unwesentlich wächst, z. B. in Deutschland und Frankreich, auch den USA, hat dann also nichts mit »Demographie« zu tun und ist im Übrigen weder eigenes Signum für entwickelte noch unterentwickelte Gesellschaften. – Die im Vorspann angekündigten Absprachen im Schulkollegium zur Vorbereitung des fächerverbindenden Lernens werden für dieses Modul wichtig sein.

20 Das gilt übrigens ganz genauso auch für die aktuelle »massenhafte« Zuwanderung von Flüchtlingen nach Deutschland.

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Doppeljahrgangsstufe 9/10 »Konflikte und Konfliktlösungen« Ge (32) »Zum übergreifenden Themenfeld Konflikte und Konfliktlösungen finden sich im Fach Geografie Bezüge in den Themenfeldern 3.5 Umgang mit Ressourcen sowie 3.6 Klimawandel und Klimaschutz als Beispiel für internationale Konflikte und Konfliktlösungen. Im Geschichtsunterricht setzen sich die Schülerinnen und Schüler an einem Fallbeispiel mit den historischen Ursachen und den Handlungschancen wie -grenzen in den politischen und militärischen Konflikten auseinander. Sie analysieren die Mittel und Strategien der nationalen wie supranationalen Akteure. (…) Fallanalyse: Leitfrage (z. B. Viele Pläne – noch – keine Lösung?) z. B. Nahost-Konflikt.« Geo (27, 28) »Umgang mit Ressourcen (…) Ressourcen: Verfügbarkeit, Entstehung, nachhaltige Nutzung; Ressourcenkonflikte, Ressourcenschonung (…) Mögliche Konkretisierungen: Boden: konventionelle Landwirtschaft und ökologischer Landbau, Energierohstoffe (fossil und erneuerbar), seltene Erden, biotische Rohstoffe (z. B. Holz, Fisch) Klimawandel und Klimaschutz als Beispiel für internationale Konflikte und Konfliktlösungen (…), Ursachen und regionale/globale Folgen des Klimawandels; Nachhaltige Maßnahmen des Klimaschutzes; Interessenkonflikte beim Klimaschutz Mögliche Konkretisierungen: Wetter und Klima, Aufbau und Zusammensetzung der Atmosphäre; Treibhauseffekt; Klimaschutz und Nachhaltigkeit, Anpassung an den Klimawandel; Darstellung des Klimawandels in den Medien (z. B. Wettererscheinung/ Eisbären als Symbole des Klimawandels).«

Zum Themenfeld »Konflikte« bietet der RLP Geschichte wesentlich weniger als der RLP Geografie. Im letzten ist das Lernen im gesellschaftswissenschaftlichen Fächerverbund reichhaltig angelegt und sogar auf zwei übergreifende Themenfelder verteilt. In ihnen entstehen Konflikte aus dem Ringen um den Umgang mit Ressourcen und unterschiedlichen Positionen zum Klimaschutz. Eine Tendenz zur »Vernaturwissenschaftlichung« des Arguments ist dabei erkennbar (Rohstoffe, Wetter und Klima, Atmosphäre). Die Lösungsorientierung bleibt bestehen (»Anpassung«), während zugleich durch einen Exkurs auf die mediale Codierung von Konflikten ein bemerkenswerter Hinweis zum Konstruktcharakter auch dieser scheinbar mess- und berechenbaren Konflikte gegeben wird. Störend wirkt die sprachliche Unsicherheit in wichtigen Überschriften – denn selbstverständlich sind »Klimawandel« (physische Geographie) und Klimaschutz21 (Anthropogeographie) nicht selbst »Konflikte« bzw. hätten sie »als« 21 Die Vorstellung, dass es im gesellschaftlichen Leben Teilnehmer, Güter oder Ideen gibt, die schwach sind und des Schutzes bedürfen, ist seit dem Mittelalter tief in das Denken im deutschen Kulturraum eingelassen (»Schutz und Schirm«, »Schutz und Trutz«). Dementsprechend zahllos sind Wortverbindungen mit einem Schutz-Bestandteil, obgleich diese unterschiedlich gebildet werden. Während bei der korrekten Konstruktion von Verfassungs-, Vermögens-, Mieter-, Mutter-, Kinderschutz ein per se positives Gut geschützt wird und bei

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solche Beispielcharakter (sondern sie haben Potenzial oder sind Ursachen für Konflikte). Ob allerdings die daneben gestellte historische Fallanalyse zum NahostKonflikt als exemplarische Tiefenanalyse für eine Narrativierung jener geographisch (und eben nicht wie für Geschichte gefordert: religiös bzw. ethnopolitisch) grundierten Konflikte geeignet ist, bleibt fraglich. Die dortigen Konflikte entstehen sicher aus einer Rivalität um Land und auch Wasser (nämlich in der Wüste, wodurch auch klimatische Gegebenheiten ins Spiel kommen), kaum jedoch um »Ressourcen« im engeren Sinn wie Energie und Bodenschätze, womit der Anschluss an die geographischen Teilthemen schwierig bleibt, obgleich »Handlungschancen und -grenzen« sowie »Strategien supranationaler Akteure« im Ansatz studiert werden können. Möglicherweise zeigt sich hier die zumindest im Schulunterricht nur bedingte Tauglichkeit der zeitraubenden historischen Fallstudie. Statt der Konzentration auf einen selbst historisch sehr speziellen Fall hätte sich z. B. die gesamte Kolonialökonomie als Thema angeboten, die von der Ausbeutung der südamerikanischen Gold- und Silberminen über die Kautschuk-Plantagen in Belgisch-Kongo bis zur Erpressungspolitik im von NSDeutschland besetzten Europa seit je ein einziger Raubzug war, der in bis heute fortdauernde Auseinandersetzungen um Ressourcen mündete. Ein echter »ethnopolitischer« Konflikt wäre am Falle von Ruanda gut zu untersuchen, wo die Kolonialmächte zunächst Ethnien künstlich schufen und dann zuließen, dass diese im Völkermord von 1994 versanken.

Grenzschutz etwas, das zeitweilig als gut definiert wird, bezieht sich »Klimaschutz« gar nicht direkt auf das, sondern auf ein irgendwie als gut und richtig definiertes Klima (ähnlich Landschafts-, Umweltschutz; um eben diese Qualität des Schützenswerten entstehen dann Konflikte, nicht um die Sache selbst). Beim Arbeits- und Reiseschutz geht es um entsprechende Maßnahmen im Zuge einer Tätigkeit, bei Regen- und Sonnenschutz ist sogar das Gegenteil gemeint: Schutz vor einer Sache. »Schutz« ist in der deutschen Vorstellung ein so unhinterfragbar positiv konnotierter Wert, dass er genau deswegen auch zum Missbrauch anregt (Schutzgebühr, Schutzgeld, Schutzhaft). Solche narrativen Sprachbetrachtungen befördern interkulturelles und interdisziplinäres Lernen ungemein.

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Doppeljahrgangsstufe 9/10 »Europa in der Welt« Ge (33) »Im Geografieunterricht werden ausgewählte Wirtschafts- und Naturräume Europas mit dem Ziel untersucht, die Vielfalt des Kontinents sowie seine Stellung in der Welt zu verdeutlichen. Am Beispiel von Europa kann die Konstruiertheit von Räumen exemplarisch aufgezeigt werden. Der Geschichtsunterricht ergänzt die Binnenperspektive auf Europa durch eine globalhistorische Perspektive. Ziel ist es, den Austausch zwischen einer europäischen mit einer außereuropäischen Gesellschaft und Kultur an einem Fallbeispiel herauszuarbeiten. Dies kann anhand von historischen Dimensionen wie Herrschaft, Wirtschaft oder Kultur erfolgen. (…) Vergleich: Leitfrage (z. B. Wer lernt was von wem?) Europa im Austausch mit einer außereuropäischen Kultur: – China (in der Frühen Neuzeit und um 1900) oder – Osmanisches Reich (in der Frühen Neuzeit und um 1900).« Geo (29) »Grenzen setzen/europäische Identität, Potenziale und Herausforderungen, Grenzübergreifende Zusammenarbeit Mögliche Konkretisierungen: Vielfalt in Europa (z. B. Sprache, Währung, Kultur) mithilfe verschiedener Raumkonzepte, naturräumliche Vielfalt, ökonomische, soziologische und ökologische Disparitäten, multinationale Räume (z. B. Alpenraum, Ostseeraum, Naturparks).«

Am Ende der punktuellen fächerverbindenden Etappen steht also Europa. Die kulturelle und natürliche Vielfältigkeit des Kontinents kann durch die Betrachtung »ausgewählter Wirtschafts- und Naturräume« im Fach Geographie gewiss verdeutlicht werden. Zur Bestimmung der »Stellung« Europas in der Welt müssten daneben vergleichbare kontinentale Räume untersucht werden. Die »Konstruiertheit von Räumen« am Beispiel Europas »exemplarisch« aufzuzeigen, ist einerseits ein hehres Ziel. Auffällig ist andererseits, dass »Europa« trotz »multinationaler Räume« zuvorderst mit der Idee der »Grenze« in Verbindung gebracht wird (nebenbei: das Wort »grenzüberschreitend« wäre hier wohl doch dem unüblichen »grenzübergreifend« vorzuziehen). War die Idee der Europäischen Integration nicht eher die allmähliche Aufhebung der Staatsgrenzen? So frappiert, dass viele Geographie-Lernziele eigentlich nur durch eine historische Untersuchung zu erreichen sind. In diesem Modul »Europa« also hat die Geschichte das Prä. Genauer soll das – nicht näher bezeichnete – Eigene Europas durch einen sogar ziemlich aufwändigen historischen Vergleich mit einer »außereuropäischen Gesellschaft und Kultur« erschlossen werden. Es ist zwar nicht anzunehmen, dass hierbei geographische Faktoren eine besondere Rolle spielen werden (außer in der Feststellung, dass das alte China oder das Osmanische Reich eben topographisch woanders lagen22), so dass die »naturräumliche Vielfalt« und wohl auch die »ökologische Disparität« nicht zum Zuge kommen. 22 Um genau zu sein: Selbstverständlich war das Osmanische Reich weder geographisch noch kulturell je vollkommen »außereuropäisch«.

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Aber der verbindliche Inhalt der »europäischen Identität« ist anders als durch eine diachron vergleichende Hinsicht gar nicht zu erarbeiten. Quasi als Exkurs sei angefügt: Vollkommen unberücksichtigt lassen die Vorschläge des RLP für das Verbundlernen im gesellschaftswissenschaftlichen (!) Bereich die Physische Geographie, wohl weil man »Gesellschaft« nicht anders als durch die sichtbare Anwesenheit des handelnden Menschen definieren möchte. Aber das ist am Ende doch zu kurz gesprungen. Denn natürlich finden geographische Erkundungen des Naturraums durch den Menschen und für den Menschen statt, weshalb auch diese Wissenschaft nie eine conditio naturalis, sondern ausschließlich eine conditio humana beschreibt. Gäbe es keine nach Sinn suchenden Menschen auf der Erde, wäre Naturwissenschaft nicht nur nicht möglich, sondern vollständig nutzlos. Verbundperspektiven fänden sich daher, wie in allen Naturwissenschaften, über Begriffs- und Forschungsgeschichten. Fraglos sind Tektonik, Geologie, Geomorphologie, Orogenese (Genese!), Vegetationszonen, Klima als physisch-geographische Prozesse genau wie historische Bewegung bzw. Veränderung in der Zeit dem Grunde nach als Erzählung aufzufassen. Man könnte zwar einwenden, der fundamentale Unterschied liege eben darin, dass die Erzählung des Naturraums an und für sich keinen Sinn besitzen könne (was überhaupt nur stimmen kann, wenn wir alle religiösen Elemente im Kosmos bestreiten). Aber hier hilft wieder das Analogon der Geschichte: Menschliches Handeln in der Zeit ist ja an und für sich ebenso sinnlos, erst die Geschichten, die wir uns darüber erzählen, laden es mit Bedeutung auf. Insofern hat auch jede Erklärung der Eiszeit, eines Vulkanausbruchs, von Desertifikation echte sinnbildend-narrative Qualität. Man kann und wird davon auf dieselbe Weise erzählen wie von Gentrification und Stadtutopien, indem man nach Kräften und Faktoren, Phasen des Voranschreitens, Möglichkeiten der Einhegung oder Rückgängigmachung sucht.

4.

Fazit: Gekreuzte Perspektiven von Geschichts- und Geographieunterricht

Deuten und Handeln sind die zwei Grundmodi menschlicher Existenz. Richtigerweise werden sie in der Schule für gewöhnlich verteilt auf unterschiedliche Fächer. Sinnbildendes Deuten – d. h. die Angabe einer Richtung des Verstehens – ist Amt der historischen Erzählung, Orientierung im Raum, um gerichtet handeln zu können, Aufgabe der geographischen Erkundung. Es geht einmal um den diachronen, dann den synchronen Kulturvergleich. Oder anders: Während zentrales Ziel des historischen Lernens als einer Deutungspraxis die Erzählfähigkeit ist (im Hinblick auf eine für die Gegenwart als relevant wahrgenommene

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Vergangenheit), kulminiert geographisches Lernen in einer räumlich orientierten Handlungskompetenz. Diese disziplinär durchaus sinnvolle Scheidung kann im fächerverbindenden Unterricht durch spezifische Arrangements synergetisch genutzt werden. Die Stärkung der Raumdimension beim historischen Erzählen soll zu einer vertieften historischen Deutung beitragen. Die verstärkte Berücksichtigung der historischen Dimension beim geographischen Lernen soll das Handeln im Raum sicherer und zukunftsträchtiger machen. Daher könnten es die Chancen und Versprechen des fächerverbindenden Lernens in Geschichte und Geographie sein, diachrone und synchrone Perspektiven sinnfällig auf denselben Gegenstand zu werfen, wie der neue Berlin-Brandenburger Rahmenlehrplan an ausgewählten Themen (Migration, Städtewachstum, Konflikte, soziale Ungleichheit, Europa) durchaus einsichtig macht. Jener zeigt aber zugleich, wie schwierig die Konstruktion interdisziplinärer Lektionen bleibt und wie weit wir von verlässlichen Verfahren entfernt sind. Trotz allem Wohlmeinenden jedoch, das hier gesagt worden ist, gilt weiterhin: Schulisches Lernen ist (ab der Mittelstufe) fachliches Lernen. Es ist zwar wahr : Le monde ne conna%t pas de disciplines. Aber zum Zwecke eines gestuften Erkenntnisaufbaus, wie ihn die kompetenzorientierten Lehrpläne der Bundesländer fordern, können nicht immer alle möglichen Hinsichten auf einen Gegenstand zugleich untersucht, nicht alle Fragen auf einmal gestellt werden. Die fachliche Annäherung im Unterricht bereitet auf die lebensweltliche Erfahrung einer hyperkomplexen Welt erst vor. Die Fachdidaktiken bleiben demnach aufgefordert, zunächst ihre Ufer zu befestigen – um danach, wo es trägt, Brücken zu schlagen.

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Gewagte Experimente. Interdisziplinäre Projekte in der universitären Lehramtsausbildung (Gesellschafts- und Geschichtswissenschaften und MINT) in der Reflexion – ein Werkstattbericht

1.

Einleitung

Im Hessischen Schulgesetz1 sind fächerverbindende Lernvorhaben als obligatorischer Bestandteil schulischer Ausbildung verankert und in den für die Mittelstufe seit 2011 gültigen hessischen Kerncurricula ebenfalls festgeschrieben: »Im Sinne vernetzten Lernens ist eine Verknüpfung der verschiedenen Kompetenzbereiche und Inhaltsfelder untereinander notwendig. Für das Verständnis größerer Zusammenhänge ist es darüber hinaus unabdingbar, Kompetenzbereiche und Inhaltsfelder auch über die Fächergrenzen hinaus zu vernetzen […].«2 Eine solche thematische und kompetenzorientierte Vernetzung der Schulfächer soll die Entwicklung von rein fachlichem »Inselwissen« bei SchülerInnen vermeiden helfen. Die Umsetzung dieser Anforderungen sollen die Schulen selbständig in ihren Schulcurricula festschreiben – die hessischen Kerncurricula geben hierzu keine weiteren Vorgaben oder Hilfestellungen. Ausnahme hierbei sind die Kerncurricula der Fächer Geschichte, Politik& Wirtschaft und Erdkunde, denn hier werden Inhaltsfelder aufgezeigt, die sich für die Verbindung dieser drei Fächer im fächerverbindenden3 Schulunterricht eignen.4 Dieser vorgeschriebene fächerverbindende Ansatz wird jedoch in der Praxis von Schule und Universität durch die einzeln unterrichteten Fächer und deren separaten Didaktiken sowie Ausbildungsmöglichkeiten erschwert. Michaela 1 Hessisches Schulgesetz §§ 4a (1); 6 (1); 88. 2 Hessisches Kultusministerium (Hrsg.): Bildungsstandards und Inhaltsfelder. Das neue Kerncurriculum für Hessen. Sekundarstufe I – Gymnasium, Geschichte. Wiesbaden 2011, S. 7. 3 Fächerverbindend meint hier nach Wilhelm H. Peterßen »ein mittleres Prinzip zur Organisation von Unterricht, das […] als themenzentrierter integrativer Unterricht angelegt [ist, d.Verf.] an dem mehrere Fächer gleichwertig beteiligt sind. Zum Ausgangspunkt wird ein zentrales Thema.« (Wilhelm H. Peterßen: Fächerverbindender Unterricht. Begriff, Konzept, Planung Beispiele. Ein Lehrbuch. München 2000 (Erziehung – Gesellschaft –Schule), S. 79). 4 Vgl. Hessisches Kultusministerium (Anm. 2), S. 13.

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Artmann, Petra Herzmann und Kerstin Rabenstein bringen es auf den Punkt: »Mit fächerübergreifendem Unterricht werden große Hoffnungen verbunden, seine Erfolge sind wenig belegt, die Praxis findet nur punktuell statt.«5 Ihr Sammelband6 versucht daher einen Beitrag zur Erforschung fächerverbindenden Unterrichts auf Ebene der Schule zu leisten. Eine Feststellung dabei ist, dass von SchülerInnen der Sekundarstufe I und II »die Verbindung von Fachperspektiven sowie die Reflexion über die Möglichkeiten und Grenzen der Fächer im fächerübergreifenden Unterricht […] weder beiläufig noch von alleine wahrgenommen werden.«7 Hierzu bedarf es Lehrkräfte, die diese Verbindungen aufzeigen und die Möglichkeiten sowie Grenzen hervorheben und begründen.8 Wie beispielhaft an Artmann, Herzmann und Rabenstein aufgezeigt, setzt die bisherige Forschung zum Thema fächerverbindender Unterricht überwiegend im Bereich der Schule selbst an. Eine bislang wenig betrachtete und erforschte Möglichkeit, die Fächerverbindung eventuell langfristig etwas besser in die Schulen, insbesondere die Gymnasien, zu integrieren liegt in der Lehrerausbildung. Aufgrund dieser Überlegung wurde im Sommersemester 2015 ein Lernforschungsprojekt mit dem Titel »GuGw und MINT – spartenverbindende Lernvorhaben in der Lehrerausbildung« an der TU Darmstadt (Hessen) durchgeführt. Das Projekt war im Bereich der Geschichtsdidaktik angesiedelt und hatte Experimentcharakter. Die zugrundeliegende Idee war, dass sich Lehrkräfte, die während ihres Studiums für fächerverbindende Möglichkeiten sensibilisiert wurden, den fächerverbindenden Herausforderungen besser stellen können und so zu einem vermehrten Einsatz dieses Konzeptes in der Schule beitragen könnten – sowohl im Hinblick auf die Integration fächerverbindender Möglichkeiten in die Schulcurricula als auch über innerschulische Projektmöglichkeiten sowie im individuellen Unterricht. Ausgehend von Artmanns, Herzmanns und Rabensteins Forschungsergebnissen wurde für die Lehramtsstudierenden angenommen, dass sie selbst während ihrer Schulzeit bestenfalls punktuell fächerverbindend unterrichtet wurden. Ferner kann festgestellt werden, dass sie generell im Rahmen des Studiums fachliche Inhalte und Perspektiven vertiefen statt diese zu verknüpfen.9 Daher

5 Michaela Artmann/Petra Herzmann/Kerstin Rabenstein: Vorwort. In: Dies. (Hrsg.): Das Zusammenspiel der Fächer beim Lernen. Fächerübergreifender Unterricht in den Sekundarstufen I und II: Forschung, Didaktik, Praxis. Immenhausen bei Kassel 2011 (Theorie und Praxis der Schulpädagogik, Bd.11), S. 4–8, hier S. 4. 6 Artmann/Herzmann/Rabenstein (Hrsg.) (Anm. 5). 7 Petra Herzmann/Michaela Artmann/Kerstin Rabenstein: Forschungen zum fächerverbindenden Unterricht in der Sekundarstufe I und II: Ausgangspunkte, Befunde und Perspektiven. In: Artmann/Herzmann/Rabenstein (Hrsg.) (Anm. 6), S. 23–45, hier S. 28. 8 Vgl. ebd. 9 Katja Faulstich-Christ u. a.: Vom kulturellen Sinn und Unsinn der Fächer. Einführende

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wurde für das Lernforschungsprojekt die These aufgestellt, dass Lehramtsstudierende überwiegend noch nicht über die Fähigkeit verfügen, Möglichkeiten, Chancen und Grenzen für Fächerverbindung zu erkennen. Ziel des Lernforschungsprojektes war es, diese These zu überprüfen und dadurch im Projektverlauf Kenntnisse über praktikable Möglichkeiten der Integration des Themas fächerverbindender Unterricht in die Lehramtsausbildung zu generieren. Ferner wollte das Lernforschungsprojekt überprüfen, ob es gemeinsam mit Lehramtsstudierenden im Rahmen von Lehrveranstaltungen, die sich mit dem Thema fächerverbindender Unterricht beschäftigen, gelingt, fächerverbindende und kompetenzorientierte Unterrichtseinheiten mit passenden Materialien für den Einsatz in der Schulpraxis zu entwerfen. Dies wäre ein hervorragender Synergieeffekt, der es erlauben würde, gleichzeitig Lehramtsstudierende mit der Thematik fächerverbindender Unterricht vertraut zu machen und mittels ihrer Produkte gymnasialen Lehrkräften im aktiven Schuldienst Anregungen für fächerverbindenden Unterricht zu bieten. Der vorliegende Aufsatz orientiert sich an der Durchführung eines wissenschaftlichen Experiments und widmet sich daher zuerst Definition und Ansatz des Lernforschungsprojektes, d. h. es werden in Abschnitt 2 Konzeption und Hintergründe des Projektes erläutert, bevor in Abschnitt 3 auf die genaue Durchführung eingegangen wird. Im 4. Abschnitt wird das Experiment Lernforschungsprojekt ausgewertet und die gewonnenen Erkenntnisse und Ergebnisse vorgestellt. Der 5. und letzte Abschnitt widmet sich der Reflexion der Ergebnisse und versucht, allgemeine Übertragungsmöglichkeiten des Lernforschungsprojektes aufzuzeigen.

2.

Das Experiment – Definition und Ansatz

Laut Duden wird ein Experiment wie folgt definiert: »Wissenschaftlicher Versuch, durch den etwas entdeckt, bestätigt oder gezeigt werden soll; (Gewagter) Versuch, Wagnis; Ein Versuch, etwas anders zu machen, der ein gewisses Risiko hat.«10

Im Sinne dieser Definition lag der Anspruch des Projektes darin, etwas anders zu machen, etwas Neues zu versuchen, das bestenfalls übertragbare Rückschlüsse für die Integration des Themas fächerverbindender Unterricht in die Lehrerbildung ermöglicht. Überlegungen zum fächerübergreifenden Unterricht. In: Artmann/Herzmann/Rabenstein (Hrsg.) (Anm. 6), S. 9–22, hier S. 18. 10 Duden online: http://www.duden.de/rechtschreibung/Experiment (Unterstreichungen d. Verf.) (aufgerufen am 14.12.2015).

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Da lediglich die Kerncurricula zu Geschichte, Politik& Wirtschaft sowie Erdkunde Hinweise liefern, wie Interdisziplinarität – im schulischen Kontext fächerverbindender Unterricht – gestaltet werden kann, wurde der dort festgehaltene Ansatz, Fächerverbindung anhand bestimmter Inhaltsfelder, im Lernforschungsprojekt aufgegriffen und erweitert: Artverwandte Fächer, d. h. alle Schulfächer die sich z. B. den Gesellschafts- und Geschichtswissenschaften zuordnen lassen, wurden dafür zu einer Sparte zusammengefasst. Der Kern des wissenschaftlichen Versuchs, also des Lernforschungsprojektes, war nämlich eine Lehrveranstaltung, die im Format einer Übung durchgeführt wurde, an der Lehramtsstudierende aller Fächer11 teilnehmen konnten. Aufgrund des Fächerangebots an der TU Darmstadt entstanden somit zwei für das Projekt relevante Sparten – die Sparte der Gesellschafts- und Geschichtswissenschaften (GuGw) und die Sparte der Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik (MINT).12 Die Übung hatte somit einen interdisziplinären Ansatz und vertrat damit das Anliegen ein interdisziplinäres Bewusstsein bei den Studierenden zu initiieren. Dieser interdisziplinäre Ansatz beschränkte sich dabei nicht, wie in den hessischen Kerncurricula angedeutet, lediglich auf die Interdisziplinarität und damit Fächerverbindung innerhalb einer Sparte, sondern zielte auch auf die Überwindung der Spartengrenze zwischen MINT und GuGw ab. Durch diesen bislang weniger üblichen Ansatz der Spartenverbindung sollte die zweite These des Lernforschungsprojekts überprüft werden, dass gelungene Fächerverbindung grundsätzlich von der Wahl eines Themas abhängt und nichts mit einer Artverwandtschaft von Fächern, d. h. mit Spartenzugehörigkeit, zu tun hat. Verschiedene Themen eignen sich demnach verschieden gut für die Verbindung verschiedener Fächer. Im Rahmen der Übung sollte folglich bestätigt werden, dass mit dem »richtigen« Thema Fächerverbindung sowohl innerhalb einer Sparte als auch spartenübergreifend möglich ist. Das Lernforschungsprojekt wollte den Studierenden durch diesen Ansatz Raum für »neues Denken« im Bereich ihres Lehramtsstudiums geben. Sollte dies scheitern, so bestand das Minimalziel darin, den MINT-Studierenden die Historizität ihrer Fächer und den GuGw-Studierenden MINT-Bezüge in ihren scheinbar »MINTfreien« Fächern aufzuzeigen. Die Probanden des Experiments waren Studierende des Lehramts an Gymnasien, die aus bestimmen Gründen als Teilnahmevoraussetzung mindestens im 11 Im Studiengang Lehramt an Gymnasien sind folgende Fächer zur Zeit (Stand: 15. 01. 2016) studierbar : MINT: Mathematik, Biologie, Chemie, Physik, (Informatik). GuGw: Deutsch, Geschichte, Philosophie/Ethik, Politik& Wirtschaft. 12 Die Sparte der Sprachen konnte hier keine Berücksichtigung finden, da diese an der TU Darmstadt nicht auf Lehramt studierbar sind. Generell wird hier aber davon ausgegangen, dass das Experiment um die Sparte Sprachen erweitert werden kann.

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fünften Semester sein mussten und einen Nachweis über den erfolgreichen Abschluss des ersten (von insgesamt drei) Pflicht-Schulpraktika vorzuweisen hatten. Der erste Grund lag in der Aufgabenstellung, die die Studierenden im Rahmen der Lehrveranstaltung bewältigen mussten: Ziel war es, in kleinen spartenübergreifenden Gruppen gemeinsam eine fächerverbindende Unterrichtseinheit zu einem bestimmten Thema zu entwickeln. Dabei war jede Person der Gruppe »SpezialistIn« für ein Fach – dieses Fach musste von der/dem SpezialistIn auf Lehramt studiert werden. Ferner durfte ein Fach innerhalb der Gruppe nicht doppelt mit solchen »ExpertInnen« besetzt werden. Jede/r SpezialistIn sollte dann für sein/ihr Fach passend zum Gruppenthema ein Fachthema generieren und daraus eine kurze Reihe erstellen. Eine Einzelstunde aus dieser Reihe sollte mit Sachanalyse und didaktischer Analyse sowie Begründung für Methodik, Sozialform und Medien vollständig durchgeplant werden. Stundenverlaufsplan und verwendete Materialien waren beizulegen. Alle Reihen und ausgearbeiteten Stunden ergaben in ihrer Gesamtheit dann die fächerverbindende Unterrichtseinheit. Am Ende der Vorlesungszeit sollten die Studierenden die durchgeplante Stunde dann in Form eines Microteaching abhalten.13 Alternativ zu separat geplanten Stunden war es den Studierenden freigestellt, CoTeaching-Stunden zu erstellen. Die beschriebene Aufgabenstellung hatte zwei Ziele: Erstens sollte getestet werden, ob der Synergieeffekt in Bezug auf fächerverbindenden Unterricht zwischen Lehramtsausbildung und Gymnasien möglich ist. Zweitens weist die Aufgabenstellung eine Handlungsorientierung mit eindeutigem Bezug zur späteren Berufspraxis von Lehramtsstudierenden auf, der von Studierenden immer wieder gewünscht wird. In diesem Fall kann sogar von einer Art Simulation gesprochen werden: Die interdisziplinäre Gruppe stellt dabei das idealtypische LehrerInnenkollegium dar, in dem spartenübergreifend eine Unterrichtseinheit zu einem Thema erarbeitet wird. Der zweite Grund für die Aufnahmebedingungen war folgender : Die Durchführung des Projektes setzte voraus, dass die Studierenden, fachwissenschaftliche, fachdidaktische und allgemeindidaktische Kompetenzen aus ihrem Studium einbringen können. Dies war für die Zusammenarbeit der Studierenden in den spartenverbindenden Gruppen doppelt bedeutsam: Erstens kann die spartenverbindende Gruppenarbeit als interdisziplinäres Projekt angesehen werden, in dem die Teilnehmenden SpezialistInnen für ein jeweiliges Fach sind. Der Projekterfolg hängt davon ab, dass die teilnehmenden Personen eine fachliche Perspektive einnehmen und so ihr fachliches »Know-how« im Bereich

13 Aufgrund der für diese Form zu hohen Teilnehmerzahl wurde am Ende aus jeder Gruppe nur eine ausgewählte Stunde vorgestellt.

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Didaktik und fachwissenschaftlichem Inhalt gezielt einsetzen können.14 Zweitens sollte sich bei den Studierenden durch die interdisziplinäre Zusammenarbeit und die damit verbundene Abgrenzung des eigenen Faches von den anderen Fächern die bereits vorhandene Fachperspektive schärfen.15 Anzunehmen ist, dass je sicherer die Personen in ihrem Fach bereits sind, um so leichter können sie von den anderen TeilnehmerInnen fachfremde Methoden und Inhalte erlernen und so ihre fachlichen Fähigkeiten und Kenntnisse um fachfremde Elemente erweitern, um ihre Kompetenzen individuell auszubauen. Da mit der These des Projekts davon ausgegangen wurde, dass die Studierenden nicht bzw. kaum über fächerverbindende Fähigkeiten verfügen, war es das primäre Anliegen des Projektes, die teilnehmenden Studierenden anhand der Aufgabenstellung nachhaltig, ressourceneffektiv und kompetenzorientiert für fächerverbindende Unterrichtsmöglichkeiten zu sensibilisieren. Unter nachhaltig ist zu verstehen, dass die Studierenden in die Lage versetzt werden sollten, später als aktive Lehrkräfte fächerverbindend zu unterrichten: Da grundsätzlich eher Bekanntes und Vertrautes umgesetzt wird, werden Lehrkräfte, die bereits während ihrer Studienzeit für Fächerverbindung sensibilisiert wurden, hoffentlich eher fächerverbindend unterrichten als Lehrkräfte, denen dieses Konzept fremd ist und die sich erst zeitintensiv in die Materie des fächerverbindenden Unterrichts einarbeiten müssten. Da es an speziellen fächerverbindenden Unterrichtsentwürfen und Materialien mangelt, sollten die Studierenden zudem lernen, in bereits vorliegenden Themen und Materialien die Möglichkeiten für Verbindungen mit anderen Fächern zu erkennen. Diese Vorgehensweise wird hier als ressourceneffektiv bezeichnet. Kompetenzorientiert meint in diesem Fall die Stärkung der studentischen Fachkompetenzen (wissenschaftlich und didaktisch) durch die Bewältigung der Projektaufgabe. Bestenfalls eignen sich die Studierenden dabei auch fachfremde Methoden und Inhalte sowie fächerverbindende Fähigkeiten an. Die Projektaufgabe verlangt von den Studierenden außerdem, sich mit den von SchülernInnen zu erwerbenden Kompetenzen auseinander zu setzen und zu überlegen, wie diese von SchülerInnen anhand eines Themas erworben werden können – kompetenzorientiert wird also auch im Sinne der schulischen Kompetenzorientierung verstanden. Die Besonderheit dieses Experiments lag folglich darin, dass die Studierenden an einer interdisziplinären Veranstaltung teilnahmen, während sie gleich14 Vgl. Kirsten Hollaender : Interdisziplinäre Forschung. Merkmale, Einflussfaktoren und Effekte. Amsterdam 2003, S. 18. 15 In Hessen werden zwei Fächer im gymnasialen Lehramt frei miteinander kombiniert. An der TU Darmstadt gab es für die Kombinationsmöglichkeiten bislang keine Einschränkung, was sich voraussichtlich zum Wintersemester 2016/17 ändern wird.

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zeitig selbst fächerverbindenden Unterricht entworfen haben. Die Studierenden erlebten durch diesen Übungsaufbau selbst Interdisziplinarität/Fächerverbindung anhand der Aufgabe, fächerverbindenden Unterricht für SchülerInnen zu kreieren (Vgl. Abb.1).

Abbildung 1: Setting des Experiments (Eigene Darstellung).

Wie bei jedem Versuch etwas anders zu machen, war auch dieses Experiment nicht frei von Risiken. Ein Risiko lag in der Ausgangsthese begründet, dass mit einem geeigneten Thema Fächerverbindung sowohl innerhalb einer Sparte als auch spartenübergreifend möglich sei. Sollte hier ein Irrtum bestehen, wären die Studierenden unabhängig von ihren eigenen Kompetenzen gar nicht in der Lage, die Veranstaltungsaufgabe zu lösen. Weiterhin bestand die Gefahr, dass einige Studierende ihr Fach noch nicht sicher genug beherrschten. Die ungünstigste Konsequenz daraus wäre, dass diese Studierenden abspringen könnten und ihre jeweiligen Fächer folglich im Ergebnis nicht repräsentiert wären. Sollten diese Studierenden bleiben, bestand das Risiko einer Unterrepräsentation des Faches im Ergebnis. Schlussendlich bestand das Risiko, dass es den Studierenden misslingen könnte, gemeinsam fächerverbindenden Unterricht zu konzipieren; d. h. dass keine bis wenige studentische Ergebnisse am Ende des Experiments stünden. In diesem Fall wäre das Ziel, einen Synergieeffekt zu entdecken, zumindest in diesem Experiment nicht erreicht. Durch die Antizipation dieser Risiken sowie dem primären Projektziel, die Studierenden für fächerverbindende Möglichkeiten zu sensibilisieren, wurde

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der Fokus des Experiments auf die Nachhaltigkeit, Ressourceneffektivität und Kompetenzorientierung gelegt, anstatt den Schwerpunkt auf die studentischen Produkte zu setzen und möglichst brauchbare Ergebnisse anzustreben.

3.

Durchführung

An der interdisziplinären Übung nahmen insgesamt 23 Studierende teil. Aus dem Bereich GuGw waren mit Deutsch, Geschichte, Philosophie/Ethik und Politik& Wirtschaft alle möglichen Fächer der TU Darmstadt vertreten. Der MINT-Bereich wurde mit Teilnehmenden der Fächer Mathematik, Physik und Biologie hingegen nicht vollständig repräsentiert. Die VeranstaltungsleiterInnen hatten drei Themen zur Auswahl gestellt, die ihnen für fächerverbindenden Unterricht geeignet erschienen: Industrialisierung, Euthanasie und Atombombe. Diese Themen waren aufgrund der fachlichen Ausrichtung der VeranstaltungsleiterInnen historisch orientiert, bargen jedoch das Potential mit aktuellen Gegebenheiten verknüpft zu werden. Die Themen waren bewusst nur als Schlagworte formuliert, um keine unnötige Geschichtsfundierung hervorzurufen und den Studierenden die Möglichkeit zu geben, sich den Themen von allen fachlichen Seiten zu nähern. Ferner sollten die Studierenden möglichst wenig in ihren eigenen fachdidaktischen und methodischen Zugängen beeinflusst werden. Interessanterweise wählte niemand das Thema Atombombe, sodass schließlich je zwei Gruppen mit vier bis sechs Personen an den Themen Euthanasie und Industrialisierung arbeiteten. Die Aufgabe bestand, wie oben bereits beschrieben, darin, gemeinsam für das gewählte Thema eine fächerverbindende Unterrichtseinheit zu planen. Dieses Aufgaben-Setting für die Studierenden wurde der Monographie von Astrid Beckmann16 zum Thema fächerübergreifender Unterricht entnommen und entspricht der von ihr formulierten planungsbezogenen Parallelarbeit:17 »Die Zusammenarbeit eines Kollegenteams wird motiviert durch ein […] Thema, das gemeinsam durch viele Fächer behandelt werden kann […]. Die Lehrkräfte planen dafür […] gemeinsam die Unterrichtseinheit; sie sind ständig im Ge16 Astrid Beckmann: Fächerübergreifender Unterricht. Konzept und Begründung. Schwäbisch Gmünd 2003. 17 Beckmann formulierte insgesamt vier Kooperationsformen (Themen- und Leitfachbezogene Arbeit, Themenbezogene Parallelarbeit, Planungsbezogene Parallelarbeit, Planungsbezogene Gemeinschaftsarbeit) für fächerverbindenden Unterricht. Diese Formen wurden nach Intensität und Komplexität der Zusammenarbeit in vier im Schwierigkeitsgrad aufsteigende Stufen eingeteilt. Die Planungsbezogene Parallelarbeit stellt Stufe drei dar (vgl. ebd., S. 8–11).

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spräch und im Austausch. […] Der intensive Planungsaustausch bezieht sich auf Inhalte, Methoden und Ziele, auf die den Schülern und Schülerinnen zu vermittelnden Kompetenzen, aber auch die organisatorische Umsetzung.«18

Abbildung 2: Schema der planungsbezogenen Parallelarbeit. Nach Beckmann, Astrid: Fächerübergreifender Unterricht. Konzept und Begründung. Schwäbisch Gmünd 2003.

Die Übung war nach den grundlegenden Phasen eines Projekts gegliedert, was sich für die Studierenden sichtbar am Semesterverlaufsplan spiegelte (siehe Abb. 1): Information und Planung, Produktion, Verifikation, Präsentation und Evaluation.19 In der Informationsphase wurde mit den Studierenden das Prinzip fächerverbindenden Unterrichts, Kompetenzen und Kompetenzorientierung sowie die hessischen Kerncurricula diskutiert und besprochen – so sollten die Studierenden beispielsweise die Kerncurricula ihrer Fächer auswerten und nach Verknüpfungselementen jenseits der überfachlichen Kompetenzen suchen, um diese im weiteren Projektverlauf dann möglichst gewinnbringend in die Gestaltung des fächerverbindenden Unterrichts integrieren zu können. Nach Abschluss der Informationsphase fanden die Sitzungen nur noch alle zwei Wochen, dafür aber in doppelter Länge statt. Diese Konzeption sollte es den Studierenden ermöglichen, sich zu Absprachen in den Kleingruppen ort- und zeitunabhängig zu treffen und selbständig als FachexpertInnen zu arbeiten. In den Sitzungen stellten sie ihren aktuellen Stand der Dinge vor, anhand dessen – 18 Ebd., S. 10. 19 Vgl. Peterßen (Anm. 3), S. 72.

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im Austausch mit den VeranstaltungsleiterInnen und den anderen Gruppen – das weitere Vorgehen der Gruppe bis zur nächsten Sitzung festgelegt wurde. Dieses Arrangement wies den Studierenden eine aktive Rolle zu. Das heißt konkret, dass nicht nur in den Kleingruppen Methoden, Medien und Sozialformen in enger und permanenter Abstimmung mit den Inhalten und Zielen des Aufgabenthemas standen, das wiederum aus den Blickwinkeln unterschiedlicher Fächer zu betrachten war,20 sondern dies auch noch im Plenum mit dem Rest der Gruppe und den VeranstaltungsleiterInnen kontinuierlich reflektiert wurde. Die Sicherung der Projektergebnisse sollte jenseits klassischer schriftlicher Seminararbeiten liegen, weswegen als zeitgemäße Plattform für Zusammenarbeit, Austausch und Ergebnisoffenheit ein Online-Wiki eingerichtet wurde. Hier sollten die Studierenden ihre fächerverbindenden Unterrichtseinheiten komplett mit Sachanalyse, didaktischer Analyse etc. sowie den Materialien einstellen. Die kooperierenden Lehrkräfte und Dozierenden konnten so barrierefrei auf die (Zwischen-)Ergebnisse und Materialien zugreifen, diese gegebenenfalls bearbeiten und neu einstellen.

4.

Evaluation: Verlauf und Ergebnisse des Experiments

Zur Überprüfung der eingangs gestellten These – die Studierenden verfügen überwiegend nicht über die Fähigkeit der Fächerverbindung – sowie der Ideengenerierung für die Integration des Themas fächerverbindender Unterricht in die Lehramtsausbildung wurde dreimal während des Semesters ein immer gleich aufgebauter »Test« durchgeführt: Er enthielt stets zwei Fragen, die entsprechend des Prinzips der Ressourceneffektivität anhand eines Materials (z. B. eines Quellenauszugs) analysiert werden mussten. In jedem Test wurde den Studierenden ein anderes Material vorgelegt, sodass sie insgesamt anhand dreier verschiedener Materialien stets dieselben zwei Fragen beantwortet hatten: Frage I: Arbeiten Sie anhand des vorliegenden Materials heraus, a) welche Schulfächer zur erweiterten Erschließung des Materials hilfreich sein könnten, b) welche vielleicht nicht direkt für die Erschließung des Materials notwendig sind, aber für die Einordnung in den weiteren Kontext nützlich wären, c) welche Fächer sich neben denen aus a+b noch gut eignen würden, um das Thema zu diskutieren bzw. zu besprechen, auch unter aktuellerer Frage- bzw. Problemstellung.

20 Vgl. ebd., S. 72.

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Frage II: a) Überlegen Sie sich für zwei Fächer, die Sie identifiziert haben, zunächst fachliche Themen, die Ihnen für die Mittelstufe geeignet erscheinen. Bedenken Sie dabei, dass sich diese Themen an das gegebene Material thematisch anschließen sollen (z. B. Atombombe !Wissenschaftler im Dritten Reich…), um sich für fächerverbindenden Unterricht, der von diesem Material ausgehen soll, zu eignen. Entwickeln Sie anschließend b) aus den entwickelten Fachthemen heraus Frage- bzw. Problemstellungen, die über mehrere Unterrichtsstunden besprochen werden können (Reihe). c) Stellen Sie sich vor, dass nur die zwei von Ihnen identifizierten Fächer am fächerverbindenden Unterricht beteiligt sind. Suchen Sie daher Verbindungen zwischen diesen Fächern speziell für das Thema des Materials, die z. B. innerhalb einer Schulstunde hergestellt werden könnten. Nehmen Sie für alle Aufgabenteile den hessischen Lehrplan und das Kerncurriculum zu Hilfe.

4.1.

Die Testergebnisse

Der erste Test fand zum Abschuss der Informationsphase statt und hatte als Material einen Auszug der Farm-Hall-Protokolle.21 Die Studierenden sollten in Einzelarbeit, unter Angabe von Name und Fächerkombination, beide Fragen beantworten.22 Anschließend wurde der Test eingesammelt und die Testfragen im Plenum gemeinsam besprochen. Die schriftlichen Testergebnisse zu Frage I ergaben in etwa folgendes Bild: Niemand beantwortete die Fragestellung im Sinne der fächerübergreifenden Aufgabe. Stattdessen hatten die Studierenden eines der von ihnen studierten Fächer – oder auch ihre beiden Fächer – in der Quelle identifiziert. Dann sortierten sie diese, bestenfalls mit Begründung, Fragenteil a) b) oder c) zu. Der Lösungsvorschlag eines Physikers zur Fragestellung lautete folgendermaßen: »In der Quelle ist des Öfteren von ›Uranium 235‹ und seiner Bedeutung für die Atombombe die Rede. Da ›235‹ zur Radioaktivität zählt, kann das Fach Physik sicherlich für die weitere Erschließung und das Verständnis der Quelle beitragen und daher auch als fächerverbindendes Fach sich eignen.« Die Studierenden erkannten ihre Fächer in der Quelle unabhängig davon, ob sie in der Quelle in irgendeiner Form unmittelbar auftauchten, ob sie sich im weiteren Kontext der Quelle verorten ließen oder ob zur Identifikation »um die 21 Die Farm-Hall-Protokolle sind am 6./7. August 1945 heimlich aufgezeichnete Unterhaltungen deutscher Kernphysiker, die auf Farm Hall, einem Landsitz in England, interniert waren. Deutsche Fassung online unter : http://germanhistorydocs.ghi-dc.org/pdf/deu/Ger man101ed.pdf (aufgerufen am 17.03.16). 22 Den Studierenden wurde erklärt, dass der Test und alle weiteren Tests bewertungsfrei wären und der Erhebung von fächerverbindenden Informationen dienten.

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Ecke gedacht« werden musste. Andere Fächer als ihre eigenen zu identifizieren, fiel den Studierenden jedoch sehr schwer und führte meist zu wenigen und unpräzisen Lösungsvorschlägen wie z. B.: »Vielleicht Geschichte, da es eine Quelle ist« (Lösung eines Biologen). Frage II lösten die Studierenden zumeist für ihre eigenen Fächer, da sie diese sicher identifiziert hatten. Die Ergebnisse waren jedoch sehr »durchwachsen«. Einige Studierende konnten ohne Probleme die Hinweise aus dem Material zu Fachthemen zusammenfügen und diese im Lehrplan verorten. Andere Studierende, insbesondere wenn die Fächer nicht explizit aus dem Material herausgelesen werden konnten, sondern eher durch »um die Ecke denken« zu identifizieren waren, taten sich deutlich schwerer. Alle Studierenden hatten jedoch Schwierigkeiten aus gegebenenfalls identifizierten Fachthemen Problemfragen zu kreieren bzw. Ideen zu entwickeln, anhand derer dieses Thema über mehrere Schulstunden behandelbar wäre. Die wenigsten Studierenden waren außerdem in der Lage, zwei der identifizierten, also überwiegend ihre eigenen Fächer, anhand des Themas zu verknüpfen. Hier kamen nur grundständige Überlegungen, wie z. B.: »Im Physikunterricht kann man kurz darauf eingehen, dass die Atombombe während des zweiten Weltkrieges gebaut wurde.« (Lösung eines Physik-Geschichte-Studierenden). Die Besprechung von Frage I im interdisziplinären Plenum ergab dann eine Art Puzzle: Da die FachexpertInnen ihre Fächer selbst identifiziert und vielfach auch zugeordnet hatten, waren am Ende alle möglichen Andockfächer für das Material herausgefunden. An dieser Stelle zeigte sich deutlich der Mehrwert, den die Interdisziplinarität der Übung tatsächlich mit sich brachte: Alle Studierenden hatte die eigenen Fächer erkannt, für fremde Fächer mehr oder weniger fundiert spekuliert, gemeinsam waren aber alle Fächer identifiziert worden. Dieses Ergebnis verhalf den Studierenden zu der Erkenntnis, dass »vernetztes Denken häufig durch die gedankliche Verhaftung […] in den Fachgrenzen erschwert wird.«23 Im Plenum wurde für Frage II dann gemeinsam eine grob gefasste Problemstellung von den Studierenden angefertigt: Warum funktionierten die US-Atombomben, während die deutschen Physiker keine funktionierende Bombe erstellen konnten? Für die Vorbereitung auf die zwei verbleibenden Tests wurde gemeinsam mit den Studierenden eine Vorgehensweise erarbeitet, anhand derer in Materialien fremde Fächer entdeckt werden können – die »Stolpersteinmethode«. Die Studierenden sollten, während sie das Material lasen, alles notieren, was sie nicht verstünden bzw. wozu sie weitere Fragen hätten (W-Frage-Prinzip). z. B.: Was ist »schweres Wasser«? Solche »Stolpersteine« sind zumeist nicht in den eigenen Fächern verhaftet. Daher können sie, wenn sie recherchiert werden, für die 23 Artmann/Hermann/Rabenstein: Vorwort (Anm. 5), S. 7.

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Fächeridentifikation hilfreich sein und ggf. auch einen Hinweis auf ein mögliches Fachthema enthalten. Während die Studierenden zur Identifikation ihrer eigenen Fächer in Materialien vom Bekannten ausgingen und dadurch ihre eigenen Fächer erschließen konnten, sollten sie somit nun das Unbekannte finden und damit fremde Fächer identifizieren. Im zweiten Test ließ sich erkennen, dass die Studierenden besser in der Lage waren Fächer zu identifizieren, die nicht ihre eigenen waren. Hierunter fielen insbesondere die Fächer, die zum besseren Verständnis des gegebenen Materials herangezogen werden konnten. Im Plenumsgespräch äußerten die Studierenden außerdem zu Frage I, dass sie ihre eigenen Fächer schneller als im ersten Test identifiziert hätten. Außerdem war die überwiegende Anzahl der Studierenden bei Frage II in der Lage, mindestens einem der eigenen Fächer mit Hilfe von Lehrplan und Kerncurriculum ein Fachthema zuzuordnen, das zum Material passte. Ideen für Problemstellungen bzw. Unterrichtsstunden gab es nach wie vor jedoch kaum. Allerdings wurden die Ideen zur Verbindung von zwei Fächern innerhalb einer Unterrichtsstunde sehr viel kreativer, was hier auf die Arbeit der Studierenden an ihren Gruppenaufgaben zurückgeführt wird. In Test drei gab es im Vergleich zu Test zwei keine signifikant anderen Ergebnisse; eine leicht bessere Tendenz ließ sich im Kreieren von Problemfragen für Reihen feststellen. Die eingangs aufgestellte These, dass Studierende überwiegend nicht in der Lage seien, Fächerverbindungen herzustellen, konnte hier also bestätigt werden. Im Einzelnen lassen sich die Befunde wie folgt zusammenfassen: 1. Die eigenen Fächer konnten zuverlässig identifiziert werden, im Material vorhandende Verbindungen oder Ansatzpunkte zu anderen Fächern wurden jedoch zunächst überwiegend nicht wahrgenommen und so kaum fremde Fächer identifiziert. 2. Erst nach Übung und Sensibilisierung unter Zuhilfenahme von Lehrplänen und Kerncurricula gelang es den Studierenden, Möglichkeiten und Grenzen ihres eigenen Faches bzw. des identifizierten Fachthemas für fächerverbindenden Unterricht zu erkennen; allerdings waren hierfür die fachwissenschaftlich und fachdidaktischen Kompetenzen der einzelnen ExpertInnen ein ausschlaggebendes Erfolgskriterium. Auch ihre eigenen Fächer verbanden die Studierenden zunächst nur grundständig miteinander. Hier zeigte sich aber eine deutliche Verbesserung anhand kreativer Vorschläge mit zunehmender Übung durch die Arbeit in den Gruppen. 3. Die Studierenden hatten selbst im dritten Test noch Schwierigkeiten aus generierten Fachthemen »Reihenthemen« zumindest ideenhaft zu skizzieren.

204 4.2.

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Projektergebnisse der Studierenden

Im Lernforschungsprojekt sollte überprüft werden, ob ein Synergieeffekt erzielbar ist: Können Lehramtsstudierende im Rahmen von Lehrveranstaltungen, die sich mit der Thematik des fächerverbindenden Unterrichts befassen, fächerverbindende und kompetenzorientierte Unterrichtseinheiten mit passenden Materialien für den Einsatz in der Schulpraxis entwerfen und so mittels ihre Produkte gymnasialen Lehrkräften im aktiven Schuldienst Anregungen für fächerverbindenden Unterricht bieten? Bevor diese Frage abschließend beantwortet werden kann, muss hier zunächst die Vorgehensweise der Studierenden innerhalb ihrer Gruppen-Projekte erläutert werden. Ursprünglich sollten die Studierenden, wie referiert, ihre Gruppenarbeiten nach Beckmanns Modell als planungsbezogene Parallelarbeit durchführen und dementsprechende Ergebnisse erhalten. Dafür hatten sie durch den ersten Test und dessen ausführliche Besprechung eine Methode an die Hand bekommen – nämlich sich Material bzw. Quellen oder einen ausführlichen Informationstext zu ihrem Gruppenthema, z. B. Eugenik, genau anzusehen und daraus die beteiligten Fächer und zugehörigen Fachthemen zu generieren. Die FachexpertInnen sollten dann für ihr jeweiliges Fach erweitertes Material suchen und eine kleine Reihe mit einer ausgearbeiteten Stunde kreieren. Diese Reihen und ausgearbeiteten Stunden ergaben in ihrer Gesamtheit dann die fächerverbindende Unterrichtseinheit. Trotz dieser sorgfältigen Vorbereitung gingen die Studierenden in ihren eigenen Kleingruppen meist umgekehrt vor. Sie häuften Informationen zum gegebenen Thema an und suchten Materialien. Dadurch verloren sie schnell den Überblick und waren kaum mehr in der Lage, für die einzelnen Fächer spezifische Fachthemen zu identifizieren und daraus Reihen zu entwerfen. Zumeist wurden die Arbeiten sukzessive geplant und durchgeführt, was sich in den Endergebnissen widerspiegelte. Statt entsprechend der planungsbezogenen Parallelarbeit verschiedene aufeinander abgestimmte Fachreihen zum Gruppenthema zu erstellen und so fächerverbindende Einheiten zu generieren, entstand eine andere Ergebnisform. Stellvertretend für die Ergebnisse wird hier das Ergebnis einer Gruppe zum Thema Eugenik herangezogen: Die Zusammenarbeit innerhalb der Kleingruppe ging überwiegend von einer Person aus, einer Historikerin. Sie nutzte Inhalte und Methoden der anderen beteiligten Fächer, um das Gruppenthema Eugenik innerhalb ihres Faches Geschichte für das historische Fachthema Eugenik im Nationalsozialismus zu vertiefen und differenziert zu behandeln. So hatte die Historikerin dem Fach Biologie Vererbungslehre im Nationalsozialismus als Fachthema zugewiesen, in Philosophie/Ethik sollte über Menschenwürde und dessen Verletzung im Na-

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tionalsozialismus gesprochen werden. Für das Fach Mathematik wurde keine richtige Verwendung gesehen. Es diente zur Prozentrechnung bei Statistiken und wurde daher ausschließlich genutzt, um das Fach Geschichte zu vertiefen. Mathematik selbst hatte daher kein eigenes Fachthema mit Reihe. Die anderen Fächer waren zwar auch überwiegend mit der Zuarbeit für das Fach Geschichte beschäftig,24 sie hatten allerdings die von der Historikerin identifizierten eigenen Fachthemen, die die ExpertInnen zu einer jeweils eigenen Reihe ausgebaut haben. Am Ende der Einheit wurde dann das »Gelernte« aus allen Fächern in einer abschließenden Co-Teaching-Geschichtsstunde, die als Micro-Teaching im der Übung auch präsentiert wurde, zusammengesetzt. Das Ergebnis entsprach also eher einem breit gefächerten Geschichtsprojekt. Ausgehend von Beckmanns Modellen zur fächerverbindenden Arbeit können die Ergebnisse der Studierenden daher als Mittelding zwischen ihrer themenund leitfachbezogenen Arbeit und der projektbezogenen Parallelarbeit beschrieben werden. Wie in der von ihr beschriebenen themen- und leitfachbezogenen Arbeit ging hier die Zusammenarbeit überwiegend von einer Person der Gruppe aus, deren Fach dann zum Leitfach wurde. Ferner nutzte, wie in dieser Form üblich, das Leitfach Inhalte und Methoden der anderen Fächer, um sein Fachthema zu vertiefen. Entsprechend der planungsbezogenen Parallelarbeit hatten alle beteiligten Fächer, außer Mathematik, aber eigene, wenn auch historisierte, Fachthemen und zugehörige Reihen. Die Ursachen für dieses Ergebnis können an dieser Stelle nur spekulativer Natur sein, da keine Vergleichsgruppe existierte. Zu vermuten ist, dass sich die Historikerin sehr sicher in ihrem Fach fühlte. Fachwissenschaftlich konnte sie sagen, welche weiteren Themen (Bio: Vererbung, Ethik: Menschenwürde) sich gut eignen würden, um die Eugenik zu unterfüttern. Damit hat sie es gleichzeitig geschafft, andere Fächer und deren Fachthemen zu identifizieren. Die Historisierung spricht aber dafür, dass sie ihr Fach im Blick hatte und nicht auch noch für die anderen Fächer Reihen mit Problemstellung jenseits des historisierten Teils erstellen wollte bzw. für die fremden Fächer konnte. Die anderen Studierenden ließen sich vom Gesamtplan der Historikerin leiten. Da die Historikerin bereits die gut passenden Fachthemen identifiziert hatte und die Studierenden der anderen Fächer dem nichts entgegensetzten, lässt dies keine Rückschlüsse auf die Fähigkeiten der Studierenden aus Biologie und Ethik zu. Ein Abgleich mit den Testergebnissen dieser beiden Studierenden ergab, dass sie zwar in der Lage waren, ihre Fächer zu identifizieren, aber erst in Test 2 die Fachthemen generieren konnten. Dies lässt auf die Historikerin als Urheberin des Ergebnisses schließen. Das Fach Mathematik sticht hier hervor. Anscheinend waren weder die Mathestudierende noch eine andere Person aus der 24 Vgl. Beckmann (Anm. 16), S. 8.

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Gruppe in der Lage für Mathe ein Fachthema zu identifizieren. Dies kann entweder am Fach Mathematik generell gelegen haben oder den Fähigkeiten der studentischen Fachexpertin für das Fach Mathematik. An dieser Stelle ist es allerdings erwähnenswert, dass das Fach Mathematik nicht nur in dieser Gruppe Schwierigkeiten bereitete. Die Mathematik-ExpertInnen hatten in jeder Kleingruppe Probleme ihr Fach einzubringen und eine Reihe zu erstellen – sie wurden zu überwiegend zu Zuarbeitern für die anderen beteiligten Fächer, d. h. sie waren für alles Mathematische in den anderen Fächern in Material und Aufgabenstellung zuständig. Dies endete in allen Gruppen in der Unterrepräsentation des Faches Mathematik im Endergebnis, womit eines der oben genannten Risiken Realität geworden war. Dieses beschriebene Problem muss in diesem Fall aber nicht an der eingangs genannten Ursache, dass die Studierenden nicht sicher in ihrem Fach sind, liegen. Es kann auch mit den gewählten Themen Eugenik bzw. Industrialisierung zusammenhängen. Scheinbar standen damit gleich zwei Themen im Lernforschungsprojekt zur Wahl, die beide zumindest für die Studierenden nur sehr schlecht mit Mathematik zu verbinden waren. Da die anderen FachexpertInnen aber keine grundsätzlichen Probleme hatten ihre Fächer mit den beiden Themen zu verbinden, wird die These der VeranstaltungsleiterInnen, dass fächerverbindender Unterricht nicht sparten- sondern themenabhängig ist, hier als bestätig angesehen. Der »Fall Mathematik« bedarf daher einer weiteren Überprüfung. Die Frage, ob nun ein Synergieeffekt, der es erlaubt gleichzeitig Lehramtsstudierende mit der Thematik fächerverbindender Unterricht vertraut zu machen und mittels ihrer Produkte gymnasialen Lehrkräften im aktiven Schuldienst Anregungen für fächerverbindenden Unterricht zu bieten, generell möglich ist, kann mit einem »ja, aber….« beantwortet werden. Das oben erläuterte Beispiel zeigt, dass es prinzipiell möglich ist, mit den Studierenden fächerverbindende Materialien bzw. Einheiten herzustellen. Bei einem erneuten Versuch dieser Veranstaltungsart müsste allerdings die Aufgabenstellung für die Studierenden deutlich vereinfacht und viel enger geführt werden, als es in diesem Experiment der Fall war : Die Planung von Einheiten und Generierung von Lehrmaterialien bzw. Einzelstunden ist für Studierende, die sich im zweiten Drittel ihres Studiums befinden, sehr anspruchsvoll. Üblicherweise ist dies erst Gegenstand des Referendariats. Durch eine Vereinfachung ließe sich auch der Fokus viel stärker auf das gewünschte Ziel, die Sensibilisierung für Fächerverbindung, ausrichten. Ein für die Studierenden einfacheres Vorgehen wäre z. B. gewesen, die Quellen bzw. Materialien des ersten Tests nach dessen Durchführung als Grundlage für das weitere Arbeiten an fächerverbindendem Unterricht zu nehmen. Dadurch hätten sie eine konkrete Start- und Arbeitsgrundlage gehabt und im weiteren Verlauf wäre es einfacher gewesen, die Studierenden anzuleiten, da dieses Material von den VeranstaltungsleiterInnen bereits im Hin-

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blick auf Fächerverbindung durchdacht wurde. Ferner ist es ratsam, den Schwerpunkt noch stärker auf die Gestaltung von fächerverbindenden Einzelstunden zu legen und diese gründlich ausarbeiten zu lassen. Ob die Ergebnisse dadurch für die Schulpraxis »brauchbarer« würden, bedarf einer Überprüfung. Weiterhin ist festzuhalten, dass die Studierenden gelegentlich fachdidaktische Unterstützung für ihre Arbeit benötigten. Sollte eine Veranstaltung im gleichen interdisziplinären Format und Aufgabenstellung erneut durchgeführt werden, lautet die Empfehlung daher, fachdidaktische Kooperationspartner aus möglichst allen Fächern zu gewinnen, die den Studierenden im Zweifelsfall helfen können.25

5.

Reflexion und Ideen zur Weiterarbeit

Sowohl die obige Auswertung des Übungsverlaufs und der studentischen Ergebnisse als auch die sich hier anschließende Reflexion des gesamten Projekts können keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben, da eine Teilnehmerzahl von 23 Studierenden [n=23] am Experiment nicht repräsentativ ist. Dieser Aufsatz möchte daher in erster Linie als »Ideensteinbruch« für künftig hoffentlich vermehrt stattfindende Lehrveranstaltungen zum Thema fächerverbindender Unterricht im Rahmen der universitären Lehramtsausbildung verstanden werden. Im Rahmen des Lernforschungsprojektes wurden von den Studierenden mit ihren fächerverbindenden Projekten keine »direkt brauchbaren« Ergebnisse für die Schulpraxis entworfen, also kein Synergieeffekt erzielt. Die Ursachen für die wenig praxistauglichen Studierendenergebnisse sind vielfältig. So war der Anspruch der Aufgabe fächerverbindenden Unterricht zu erstellen sehr hoch, da die Studierenden zu Beginn weder über »fächerverbindende Kompetenz« verfügten noch viel Erfahrung im Erstellen von Unterrichtsstunden oder gar ganzen Unterrichtsreihen besaßen. Dies sollten sie jedoch alles auf einmal im Rahmen der Lehrveranstaltung versuchen. Dies deckt sich mit den Aussagen der Studierenden in der Veranstaltungsevaluation: Sie empfanden es zwar als sinnvoll und hilfreich neben der Theorie zu fächerverbindendem Unterricht dazu passend etwas Praktisches selbst entwerfen zu können; allerdings wurde gleichzeitig sowohl Arbeitsaufwand als auch Schwierigkeitsgrad als sehr hoch empfunden. Die Ansätze der Nachhaltigkeit, Ressourceneffektivität und Kompe25 Aufgrund der nur einsemestrigen Laufzeit des Projekts an der TU Darmstadt war es zeitlich vor Beginn der Veranstaltung nicht möglich mit entsprechenden KooperationspartnerInnen Abkommen zu treffen. Die gestarteten Versuche während der Projektlaufzeit erwiesen sich als langwierig.

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tenzorientierung wurden von den Studierenden hingegen gelobt und mit Begriffen wie »praktisch, logisch, kann ich für später brauchen« bewertet. Daher sollte bei weiteren Versuchen der Materialkonzeption, wie oben bereits erläutert, die Aufgabenstellung für die Studierenden deutlich vereinfacht werden und der Schwerpunkt auf der Gestaltung von Einzelstunden liegen. Zum Synergieeffekt lässt sich daher insgesamt sagen, dass eine solche interdisziplinäre Lernforschungsveranstaltung für alle Beteiligten großes Potential birgt – auch mit den genannten Problemen und Hindernissen. Eine gut geplante und enge Verzahnung zwischen Universität und Schulen könnte dazu beitragen, die Studierenden nachhaltig an das Thema fächerverbindenden Unterricht heranzuführen. Die Ergebnisevaluation durch Lehrkräfte bzw. ihre Mithilfe bei der Erstellung solcher Unterfangen kann dabei gleichzeitig eine weitere Integration der Fächerverbindung an Gymnasien begünstigen. Allerdings sollte der Kosten- bzw. Aufwand-Nutzen-Faktor genau geprüft, und Kriterien wie persönliche Kontakte zu Schulen bzw. Lehrkräften, kooperationswillige Fachdidaktik-KollegInnen sowie Unterbringung der Veranstaltung im Lehrangebot gut durchdacht und das Arrangement für die Studierenden genau definiert und an ihre Leistungsmöglichkeiten angepasst werden. Im Gegensatz dazu hat das Experiment in Bezug auf die Integration des Themas fächerverbindender Unterricht in die Lehramtsausbildung relativ eindeutige Ergebnisse geliefert. Die eingangs gestellte These, dass »die Verbindung von Fachperspektiven sowie die Reflexion über die Möglichkeiten und Grenzen der Fächer im fächerübergreifenden Unterricht […] weder beiläufig noch von alleine wahrgenommen werden«,26 wurde bestätigt. Dies ließ sich im Projekt daran erkennen, dass die Studierenden zwar in der Lage waren, ihre eigenen Fächer im Material zu identifizieren, zunächst aber überwiegend keine anderen Fächer erkannten. Ferner waren sie vielfach erst nach einer Übungseinheit fähig, mit Kerncurricula und Lehrplan Fachthemen für ihre eigenen Fächer zu identifizieren bzw. zu generieren. Um die Möglichkeiten und Grenzen ihrer Fächer für dieses identifizierte Fachthema im fächerübergreifenden Unterricht zu erkennen, bedurfte es anschließend außerdem der ExpertInnen der anderen Fächer. Nur so waren die Studierenden in der Lage, gewinnbringende Verbindungen herzustellen. Aus diesen Ergebnissen kann geschlossen werden, dass die Studierenden eine »fächerverbindende Kompetenz« erst allmählich entwickeln müssen und dazu Unterstützung in Form von Lehrveranstaltungen während ihrer Lehramtsausbildung gebrauchen können. Die sich anschließende Frage, für die das Experiment, wie in der Einleitung dargelegt, Ideen generieren wollte, lautet: Wie könnte eine (pragmatische) In-

26 Vgl. Herzmann/Artmann/Rabenstein (Anm. 7), S. 28.

Interdisziplinäre Projekte in der universitären Lehramtsausbildung

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tegration des Themas fächerverbindender Unterricht in die Lehramtsausbildung jenseits des hier durchgeführten Lernforschungsprojekts aussehen? Das Experiment lieferte hierfür einige Ansatzpunkte: Es hat sich anhand der Tests gezeigt, dass die Studierenden ihre eigenen Fächer sicher in Materialien identifizieren und bereits mit verhältnismäßig wenig Übung Fachthemen unter Zuhilfenahme von Lehrplan und Kerncurricula generieren können. Wenn sie für den nächsten Schritt, das Verbinden eines eigenen Faches mit fremden Fächern, im Experiment studentischen FachexpertInnen für die fremden Fächer benötigten und von deren Expertise abhängig waren, lässt sich hier folgende Überlegung anstellen: Wäre es vielleicht geschickt, wenn die Studierenden ihre eigenen Fächer im Lehramtsstudiengang verbinden lernten? Für die eigenen Fächer sind sie, fachwissenschaftlich und fachdidaktisch, ExpertInnen. Dazu passend haben die Testergebnisse gezeigt, dass die Studierenden von sich aus automatisch überwiegend ihre eigenen Fächer miteinander verbanden und dabei durch Übung, hier in ihren Gruppen-projekten, signifikant kreativer und besser wurden. Da im Experiment ferner nachgewiesen wurde, dass fächerverbindendes Arbeiten nichts mit der Zugehörigkeit zu einer Sparte zu tun hat, sondern dass es vom Thema abhängig ist, welche und wie viele fächerverbindende Möglichkeiten es gibt,27 ist die Idee, Studierende ihre eigenen Fächer verbinden lernen zu lassen, außerdem auch realisierbar ; die Fächerkombination der Studierenden spielt somit für den Erwerb einer fächerverbindenden Kompetenz keine ausschlaggebende Rolle. Eine pragmatische Lösung, jenseits eines interdisziplinären Projekts bzw. einer interdisziplinären Veranstaltung, ist daher die Thematisierung fächerverbindenden Unterrichts innerhalb einer (vorhandenen) fachdidaktischen Veranstaltung. Der im Experiment beschriebene Test kann zur Übungsaufgabe umgewandelt und mit den Studierenden im Verlauf einer Veranstaltung in beliebiger Häufigkeit durchgeführt werden. Die Studierenden können so für ihre eigenen Fächer nach Verbindungsmöglichkeiten suchen und Ideen für eine fächerverbindende Umsetzung entwickeln. Dies kann im Rahmen der fachdidaktischen Veranstaltung in Kombination aus Besprechungen während der einzelnen Sitzungen sowie Seminarhausaufgaben durchgeführt werden. Der Fokus sollte hierbei auf der Gestaltung einer einzigen Schulstunde liegen. Dies kann dann zu z. B. einer Unterrichtsstunde führen, die in der Geschichte angesiedelt ist, gleichzeitig aber einen hohen Biologieanteil aufweist. Zur Unter-

27 Innerhalb einer Sparte gibt es allerdings mehr Themen, die sich gut miteinander verbinden lassen als dies spartenübergreifend möglich ist. Zahlen darüber, wie viele Lehrkräfte Geschichte und ein MINT-Fach studieren und auch an den Schulen unterrichten, sind nicht publiziert. Diese Lehrkräfte hätten im Ansatz quasi in personam die besten Voraussetzungen, beide »Welten« gewinnbringend zu vereinigen.

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Nikola Forwergk / Wolfgang Moschek

stützung der Studierenden können hierzu als Literaturgrundlage28 bereits vorhandene Beispiele für die Verbindung zweier Fächer verwendet werden. Durch diese Vorgehensweise kann eine fächerverbindende Kompetenz entwickelt und ressourceneffektiv eingeübt werden. Für die Thematisierung innerhalb der Fachdidaktik spricht weiterhin die dort gegebene Möglichkeit, aus Fachthemen konkrete Unterrichtsthemen und Stunden generieren üben zu können. Dies fiel den Studierenden laut Testergebnis im Regelfall schwer, so dass durch diese Herangehensweise nicht nur die Fächerverbindung gefördert, sondern zugleich auch ein grundsätzliches Anliegen der fachdidaktischen Ausbildung unterstützt werden würde. Es ist zu hoffen, dass sich die Thematisierung und Sensibilisierung für Fächerverbindung in der Lehramtsausbildung auch als Initialzündung im Sinne der Nachhaltigkeit für die Studierenden in ihrer späteren Schulpraxis erweist – sowohl für den eigenen fächerverbindenden Unterricht als auch für die fächerverbindende Zusammenarbeit im Kollegium. Für den Geschichtsunterricht bedeutet dies zugleich eine Anregung, den bislang vorherrschenden chronologischen Durchgang durch die Geschichte aufzubrechen und dadurch historische Zusammenhänge jenseits der Linearität für den Unterricht zu entdecken.

28 Siehe hierzu: Carl Deichmann/Christian K. Tischner (Hrsg.): Handbuch fächerübergreifender Unterricht in der politischen Bildung. Schwalbach/Ts. 2014 (Politik und Bildung, Bd. 68). Dieses Werk beschäftigt sich sowohl mit Fächerverbindung innerhalb einer Sparte als auch spartenübergreifend und gibt Praxisbeispiele.

Sektion 3: Grenzen – Entgrenzungen – Grenzgänger

Alfons Kenkmann

Grenzen – Entgrenzungen – Grenzgänger. Einführung

Drei historische Zugriffe aus der Region Aachen auf die Trias »Grenzen – Entgrenzungen – Grenzgänger« mögen die Felder der Sektion exemplarisch umreißen. Im Dreiländereck haben wir es mit erheblich weniger natürlichen Grenzen zu tun als zum Beispiel im Kolumbien des Gabriel Garcia M#rquez. Dieser hat in seinem Roman »Hundert Jahre Einsamkeit«1 die kulturell-mentale Sonderentwicklung Kolumbiens mit ihrer vierfachen Einhegung durch die Anden, den Dschungel sowie den Atlantik und Pazifik erklärt. Im Gegensatz dazu waren Grenzziehungen hier in der Region Aachen politisch vollzogene. Der erste Zugriff »Grenzen« ist ein räumlicher und territorialer2 : Vor 70 Jahren, nach der Befreiung vom NS-Regime, waren eine Reihe nationalstaatlicher Grenzen obsolet geworden. Grenzänderungen wurden nicht nur im Osten Europas zum Thema, sondern ebenso im Westen. Die Region um Eupen-Malmedy – im Dritten Reich zum rheinisch-westfälisch dominierten Wehrkreis VI zählend – wurde wieder Belgien übertragen. Die Aachen nahegelegenen Niederlande stellten nach 1945 umfangreiche Gebietsforderungen, die Teil der Reparationen für die schweren Kriegsschäden sein sollten. Um die niederländischen Grenzziehungen (sogenannte »Auftragsverwaltungsgebiete« bei Emmerich und im Kreis Heinsberg) wurde nahezu 20 Jahre gerungen. Erst 1960/1963 wurden die einverleibten Gebiete im Zuge einer vollzogenen »Generalbereinigung« wieder an die Bundesrepublik zurückgegeben und per finanziellem Ausgleichsvertrag ratifiziert. Die deutsche Haltung, die sich in erster Linie mit der Abwehr der Annexionspläne befasste und nicht mit der Frage von Verantwortung und Wiedergutmachung, sollte für lange Zeit das niederländische Bild von Deutschland prägen und die bilateralen Beziehungen nicht nur in der Grenzregion belasten. 1 Gabriel Garcia M#rquez: Hundert Jahre Einsamkeit. Roman. Ersterscheinung 1967, Deutsche Erstauflage. München 1970. 2 Vgl. Bernd Weisbrod (Hrsg.): Grenzland. Beiträge zur Geschichte der deutsch-deutschen Grenze. Hannover 1993.

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Alfons Kenkmann

Abb. 1: »Duitsch Grundgebeit zonder Duitschers« (1945/46). Dt. Übersetzung: »Deutsches Geld, deutsche Unterschriften, deutsche Versprechen sind wertlos. Für unsere unter Wasser gesetzten Polder, zerstörten Häfen, Eisenbahnen und Städte verlangt das niederländische Volk: Deutsches Gebiet ohne Deutsche«

Nicht weit vom Tagungsort Gmünd entfernt liegt die ehemalige NS-Ordensburg Vogelsang, die Ende der 1930er Jahre ein zentraler Ort zur Ausbildung des NSDAPNachwuchses war. Sie führt uns zum zweiten Zugriff »Entgrenzungen«. Der sogenannte NS-Ordensjunker war der Führungsnachwuchs von morgen. Exkludiert von der alltäglichen Lebenspraxis erlebten die Ordensjunker eine fast schon redundante Verdichtung ihres Burgalltags als »Festigung der nationalsozialistischen Weltanschauung«. Auf Vogelsang sollte der völkische Zukunftsentwurf gelebt werden. Die Plastik zeigt einen unbekleideten Athleten, dessen linke Hand zur Faust geballt ist, während die rechte eine Fackel emporhält. Die Fackel symbolisiert die an den Ordensburgen vermittelte NS-Ideologie. An der Wand neben dem Fackelträger war zu lesen: »Ihr seid die Fackelträger der Nation. Ihr tragt das Licht des Geistes voran im Kampf für Adolf Hitler«. Zentrale Bedeutung kam in der Ordensjunkerheranziehung dem Rassismus zu. »Als künftige ›Prediger der nationalsozialistischen Weltanschauung‹ sollten die Ordensjunker für rassistische Anschauungen und insbesondere den Antisemitismus werben«3, der auf die eigene Selbsterhöhung abzielte. Vogelsang selbst 3 Displayentwurf der Dauerausstellung: »Bestimmung: Herrenmensch«, die im September 2016 in der Eifel eröffnet wurde.

Grenzen – Entgrenzungen – Grenzgänger. Einführung

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Abb. 2: Plastik »Der Fackelträger« auf dem ehemaligen »Sonnenwendplatz«; 1936–1938 (Kölner Bildhauer Willy Melber), Aufnahme aus dem Jahre 2004 von Ingrid Schupetta

ist mit seinem monumentalem Wurf Ausdruck dieser fatal entgrenzten nationalsozialistischen Hybris, die alternativen politischen und gesellschaftlichen Konzeptionen von vornherein keinen Raum ließ. Die Situierung der NS-Ordensburg Vogelsang in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre macht unschwer deutlich, wie im Zeitgeist der Begriff der »politischen Landschaft« nationale Grenzen nicht nur semantisch entgrenzt, sondern ebenso panoramatisch gefüllt wurde. Ihre »Einschlagung« in die »als unverbraucht und zivilisatorisch unverfälscht […] geltende Eifellandschaft mit ihrer asketischen Aura der Kargheit […] sollte absichtsvoll die scheinbar unabänderliche Naturgesetzlichkeit« allen nationalsozialistischen Handelns unterstreichen. Nicht nur die Erziehung und Bildung des Parteinachwuchses ist Teil der Traditionsbildung für die Zukunft, sondern »die Landschaft selbst ist schon eine Lektion. Ordensburgen sind in dieser Hinsicht Stein gewordener Widerwille gegen jegliche soziale Diskursivität oder […] gegen das argumentative Klein-Klein des politischen Alltags. Stattdessen sollte eine Erhabenheits- und Überwältigungsarchitektur dem Betrachter, zumal dem unbedarften oder dem fremdem, die Sprache verschlagen – bei gleichwohl eindeutiger Klarstellung darüber, wer Herr im Hause der Geschichte sei.«4 Wir haben es hier mit in Stein geschlagener 4 Alfons Kenkmann: Die Verortung der Ordensburg: »Vogelsang« in der deutschen Erinne-

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Alfons Kenkmann

Abb. 3: Vogelsang-Panorama (Aufnahme privat, 2010)

Ideologie zu tun, bei der der Herrschaftsanspruch über Natur und Mensch aufwändig über alle Grenzen hinweg inszeniert wurde. Der dritte Zugriff ist ein biographischer : Im Winter 1946 geht ein deutscher Mann einen Monat vor seinem 37. Geburtstag illegal von Ost nach West über die niederländische Grenze – und das, nachdem er nur ein halbes Jahr zuvor noch rund 1000 Kilometer zu Fuß durch holländische Internierungslager zurücklegen musste. Josef Henneböhl war Westfale und hatte ab 1942 Dienst in der Ordnungspolizei in den besetzten Niederlanden geleistet. Als »grüner« Polizist war er Teil der deutschen Besatzungsverwaltung gewesen und hatte an Razzien teilgenommen. Anders aber als seine deutschen Kollegen half der katholische Westfale den Niederländern: Er warnte vor Straßendurchsuchungen und befreite am 6. Dezember 1944 sogar eine Gruppe von Geistlichen, die schon zum Abtransport in ein Konzentrationslager an einem Bahnhof bereit standen. Gegen Kriegsende kam Henneböhl mit seinen Kollegen von der deutschen Polizei in kanadische Gefangenschaft. Er wurde im Sommer 1945 wieder entlassen. Gegenüber den alliierten Behörden in Westdeutschland versuchte Henneböhl seinen Widerstand zu beschreiben und ging, als man ihm keinen Glaurungslandschaft. In: Paul Ciupke/Franz-Josef Jelich (Hrsg.): Weltanschauliche Erziehung in Ordensburgen des Nationalsozialismus. Zur Geschichte und Zukunft der Ordensburg Vogelsang (= Geschichte und Erwachsenenbildung, 20). Essen 2006, S. 141–149, S. 148.

Grenzen – Entgrenzungen – Grenzgänger. Einführung

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ben schenkte, heimlich über die grüne Grenze. In Amsterdam suchte er alte Freunde auf und es gelang ihm, seine Geschichte den niederländischen Behörden zu erklären. Im Jahre 1950 veröffentlichte er einen autobiographischen Bericht unter dem Titel Ik kon niet anders. Joep Henneböhl vertelt.5

Abb. 4: Untertitel des Buches. Dt. Übersetzung: »Hunderte von Niederländern verdanken ihm Hilfe; viele wusste er zu befreien«.

Henneböhl verbleibt in den Niederlanden, arbeitet als Gelegenheitsarbeiter in den Tulpenfeldern. 1953 stellt er einen Antrag auf die niederländische Staatsbürgerschaft; 1957 heiratet er die Fremdsprachenkorrespondentin Cissy van Putten. Mit ihr eröffnet er einen Tabakwarenladen in Amsterdam, und erhält endlich 1962 die niederländische Staatsbürgerschaft. Nach über zwei Jahrzehnten veröffentlicht er seine Geschichte in deutscher Sprache. 1983 wird dem ehemaligen deutschen Polizisten das Widerstandskreuz der Niederlande verliehen. Henneböhl war einer der seltenen humanen und zivilcouragierten Grenzgänger in der Zeit in den Reihen des »Fußvolks der Endlösung«. Soweit die exemplarischen regional verankerten Ouvertüren zu den zentralen 5 Christoph Spieker (Hrsg.): Freund oder Vijand? Ein »Grüner Polizist« im niederländischen Widerstand. Hrsg. im Auftrag von Nederlandse Politiebond und Gewerkschaft der Polizei NRW. Göttingen 2004, S. 53.

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Alfons Kenkmann

Begriffen der Sektion. Sie ist offen für biographische Zugriffe auf Grenzgänger – und vielleicht auch kreative Schmuggler? – in der geschichtsdidaktischen Disziplin. Hier verspricht der Beitrag von Wolfgang Hasberg einen interessanten Zugriff. Das Panel wird daneben aber auch die Herausforderung der transnationalen Identitätsbildung in Grenzregionen – hier setzt der Beitrag von Ullrich Kockel an – und das Wagnis entgrenzter Erinnerungskulturen aufgreifen. Hierzu zählen auch Rückgriffe auf Biographien von Juden, die geradezu das Transnationale immanent in sich tragen, »über Grenzen«6 gehen und geschichtlich aus ihrer Diaspora- und Assimilationserfahrung eine spezifische Sicht sowohl auf kulturelle als auch nationale Grenzen entwickelt haben. Patrick Ostermann wird uns hier zu einer exemplarischen Spurensuche verhelfen. Ebenso werden mit dem Beitrag von Daniel Groth aber auch die zu überwindenden Grenzen einer avisierten transnationalen Bildungsarbeit in Schule und Erwachsenenbildung angesprochen, die sich trotz der Überlieferung unterschiedlicher Geschichtsbilder und Geschichtskulturen an dem Konstrukt eines europäischen Geschichtsbewusstseins versucht. In diesem Kontext dürfen wir sicherlich gespannt sein auf die Geschichtsbilder, die im künftigen »Haus der europäischen Geschichte« im von hier nicht weit entfernten Brüssel mit seiner geplanten Eröffnung im nächsten Jahr offeriert werden. Was wird überwiegen? Die geschichtspolitische Normierung von »oben«? Oder wird es gelingen, regional ge- und verwachsene Geschichtsbilder in die Masternarration Europas miteinzuschreiben?

6 Gabriele Metzler/Michael Wildt (Hrsg.): Über Grenzen. 48. Deutscher Historikertag in Berlin 2010. Berichtsband. Göttingen 2012.

Wolfgang Hasberg

Von Mythen und Ursprüngen der Geschichtsdidaktik. Grenz- und Wiedergänger in der Geschichtsdidaktik – epistemologische Erwägungen zur Disziplingeschichte

1.

Methodologische Begrenzungen

In diesen Tagen erfahren wir in eindrücklicher Art und Weise – und dennoch traut man es sich in Zeiten der Inklusion kaum auszusprechen1 –, dass Grenzen wichtig sind.2 Sie sind wichtig, nicht nur um Asylantenströme zu kanalisieren und Aufnahmeverfahren zu organisieren. Wichtig sind sie ebenso für die Organisation der eigenen Erfahrung, für das Erkennen langfristigen Erfahrungswandels und der darauf gründenden Zäsuren, die vorgenommen werden, um Erfahrungsräume abzustecken. Denn granizze – ein polnisches Lehnwort, das um die Mitte des 13. Jahrhunderts eher gemächlich in die deutsche Sprache eindrang, also selbst einen Migrationshintergrund besitzt3 – bezeichnete zunächst eine territoriale Marke (Gemarkung), Demarkation oder Trennlinie. Nur ganz allmählich löste es sich von seinem engen Bezug auf lokale Gegebenheiten und konnte zeitliche Übergänge bezeichnen. Schließlich – nicht aber vor dem 18. Jahrhundert – wird das Wort auch gebräuchlich, um den Umfang von Vorstellungen zu markieren, und wird auch auf weitere Abstrakta übertragen (z. B. Grenzen des Gesetzes).4 Offenkundig in diesem ausgeweiteten Verständnis ist das Wort zum Leitbegriff dieser Tagung geworden. Deshalb ist es gar nicht so einfach zu bestimmen, welches die Grenzen der Geschichtsdidaktik sind, wer als Grenz- oder Wider-

1 Zur Kultur der Inklusion s. jetzt Andreas Rödder : 21.0. Eine kurze Geschichte der Gegenwart. 4. Aufl. München 2016, S. 116–126. 2 Vgl. Petra Deger : Grenzen. In: Pim den Boer/Heinz Durchard/Georg Kreis/Wolfgang Schmale (Hrsg.): Europäische Erinnerungsorte, Bd. 1: Mythen und Grundlagen der europäischen Selbstverständnisses. München 2012, S. 247–256, deren Darstellung nach den Migrationsströmen von 2015 einigermaßen antiquarisch klingt. 3 Jacob Grimm/Wilhelm Grimm: Wörterbuch der Deutschen Sprache, Bd. 9. Leipzig 1899, Sp. 124–153. 4 Grimm/Grimm: Wörterbuch (Anm. 3), Sp. 133f.

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Wolfgang Hasberg

gänger derselben gelten kann und wie sie ihre Grenzen sprengen, das heißt sich grenzgängerisch entgrenzen kann – wenn sie denn sollte! Kehren wir zur räumlichen Bedeutung zurück, dann ist die Didaktik der Geschichte sprachlich begrenzt. Denn trotz aller Bemühungen kommt ein internationaler Austausch schwerlich voran. Und History Education ist ebenso wenig ein Synonym für Geschichtsdidaktik wie Historical Reasoning oder Historical Argumentation für das, was in der deutschsprachigen Geschichtsdidaktik mit historischem Lernen/Denken bezeichnet wird.5 Damit ist eine Grenze benannt, die an dieser Stelle nicht überwunden werden soll. Die folgenden Überlegungen begrenzen sich auf die deutschsprachige, eigentlich sogar auf die deutsche Geschichtsdidaktik, und sind mithin deutlich begrenzt. Und sie befassen sich mit den zeitlichen Grenzen der Disziplin, um darüber epistemologische Erwägungen zur Disziplingeschichte anzustellen. Ab wann kann eigentlich die Rede von Geschichtsdidaktik oder Didaktik der Geschichte gehen? Wann hat diese Denkform ihren Anfang genommen? Entsprechende zeitliche Zäsuren zu nennen, setzt voraus, eine Vorstellung von dem, was Geschichtsdidaktik eigentlich ist, begrifflich zu umreißen (definieren) und damit zu begrenzen. Und schon hört man die Kritiker rufen, das sei kein probater Weg. Wer begriffliche Grenzen vom Standpunkt der Gegenwart aus setzt, wird die Vergangenheit schwerlich verstehen. Er tute ihr vielmehr Gewalt an, indem er nur das gelten lasse, was seinen Vorstellungen entspricht.6 Denn wenn man nach den Ursprüngen fragt, welche in zeitlicher Hinsicht die Geschichten über den Werdegang der Geschichtsdidaktik begrenzen, dann sucht man nach einem Erfahrungswandel, der das Einsetzen des Denkstils – darin kann man H. J. und Th. Sandkühler im Anschluss an Ludwig Fleck (1986–1961) folgen,7 alldieweil man ebenso am Begriff der Denkform festhalten kann8 – 5 Vgl. Elisabeth Erdmann/Wolfgang Hasberg (Hrsg.): Facing – Mapping – Bridging Diversity. Foundation of a European Discourse on History Education, 2 Bde. Schwalbach/Ts. 2011. 6 So etwa Thomas Sandkühler : Geschichtsdidaktik als gesellschaftliche Repräsentation. Diskurse der Disziplin im zeitgeschichtlichen Kontext um 1970. In: Michael Sauer u. a. (Hrsg.): Geschichtslernen in biographischer Perspektive. Nachhaltigkeit – Entwicklung – Generationendifferenz. Göttingen 2015 (Beih. zur ZfGd 9), S. 313–332, insb. S. 315f. S. die Erwiderung von Wolfgang Hasberg/Manfred Seidenfuß: Bewegende Reformen. Biografische Erfahrung in der Reform. Eine Einführung. In: dies. (Hrsg.): Reform – Erfahrung – Innovation. Biografische Erfahrungen in der Region. Ein Kapitel aus der Geschichte der Geschichtsdidaktik. Berlin 2015 (GVG 8), S. 7–24, insb. S. 23. 7 Thomas Sandkühler : Geschichtsdidaktik als gesellschaftliche Repräsentation (Anm. 6), S. 318 im Anschluss an Hans Jörg Sandkühler: Kritik der Repräsentation. Einführung in die Theorie der Überzeugungen, der Wissenschaftskulturen und des Wissens. Frankfurt a.M. 2009 mit Verweis auf Ludwig Fleck: Über die wissenschaftliche Beobachtung und die Wahrnehmung im Allgemeinen (1938). In: ders.: Erfahrung und Tatsache. Gesammelte Aufsätze, hrsg. Lothar Schäfer/Thomas Schnelle. Frankfurt a.M. 1983, S. 59–83. 8 S. Wolfgang Hasberg: Kirchengeschichte in der Sekundarstufe I. Trier 1994, insbes. S. 187–194

Von Mythen und Ursprüngen der Geschichtsdidaktik

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markiert. Am gelegensten käme uns dazu ein Mythos,9 der nicht nur den Ursprung als solchen beschreibt, sondern seine Geltung traditional befestigen und symbolisch überhöhen könnte. Am besten geeignet wäre geradezu ein Entstehungsmythos wie die Genesis, der aus dem Tohuwabohu, aus dem Nichts, etwas Ganzes entstehen lässt. Allerdings – das ist bekannt – setzt die Genesis sich aus verschiedenen Berichten zusammen und geht auf den babylonischen Gilgamesch-Epos zurück, eine Reihe von Schriften, welche die Juden aus ihrem Exil in Babylon importiert hatten.10 Mythen, so wird daran deutlich, gehören nicht nur auf ihren Wirklichkeitsgehalt hin befragt, sondern selbst historisiert.11 An ihnen ist leicht zu erkennen, wie der kurzfristige Erfahrungswandel geradezu danach schreit, durch dauerhafte Sinnkonstruktionen überschrieben zu werden und ihm dadurch das vielleicht Bedrohliche, auf alle Fälle aber seine Singularität zu nehmen, wie R. Koselleck (1923–2006) schon vor Jahrzehnten ausgeführt hat.12 Und der Rückbezug auf die Theorie von R. Koselleck entdeckt den hier vorgenommenen Versuch der Absicherung dessen, was gesagt wurde, indem dieses in einen längerfristigen Erfahrungswandel eingereiht wird. Nicht von ungefähr wird dazu auf den Bielefelder Geschichtstheoretiker zurückgegriffen, der für die gegenwärtige Generation ein Gewährsmann für die theoretische Erneuerung der Geschichtswissenschaft ist.13 Schließlich bildet die Geschichtsdidaktik als scientific community eine generative Gemeinschaft, die sich auf gemeinsame Werte bezieht.14 Diese, eine Generation überwölbende Erfah-

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u. ders.: Denkform Kirchengeschichte – oder : Geschichte einer Wallfahrt. In: Informationen zum Religionsunterricht im Bistum Augsburg 2/2003, S. 6–14. Zum Mythosbegriff s. Wilhelm DuprH: Mythos. In: Hermann Krings (Hrsg.): Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Bd. 2. Kassel 1973, S. 948–956 sowie Hubert Irsigler : Mythos. In: Bibelwissenschaft.de (http://www.bibelwissenschaft.de/wibilex/das-bibellexi kon/lexikon/sachwort/anzeigen/details/mythos/ch/cf099eb92e77eb6083d42e5f443485a7/). Alle Internetverweise sind letztmalig kontrolliert worden am 14. 02. 2016. Zur Form- und Gattungsgeschichte der Genesis s. Matthias Millard: Genesis. In Bibelwissenschaft.de (http://www.bibelwissenschaft.de/wibilex/das-bibellexikon/lexikon/sachwort/ anzeigen/details/genesis/ch/31682f628edb3532c0f9734bb2ac1f0c/). Das ist noch keine »Entmythologisierung« im Sinne von Rudolf Bultmann: Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung (1941). In: Hans-Werner Bartsch (Hrsg.): Kerygma und Mythos, Bd. 1. 4. erw. Aufl. Hamburg 1960, S. 15–48, wenngleich in Rechnung zu stellen ist, dass die Symbole, die zur Konstruktion eines Mythos dienen, zeitbedingt und daher in der Gegenwart nur historisch zu entschlüsseln sind. Reinhart Koselleck: Erfahrungswandel und Methodenwechsel. Eine historisch-anthropologische Skizze. In: ders.: Zeitschichten. Studien zur Historik. Frankfurt a.M. 2003, S. 27–77. Zu seiner Person vgl. Ute Daniel: Reinhart Koselleck. In: Lutz Raphael (Hrsg.): Klassiker der Geschichtswissenschaft, Bd. 2. München 2006, S. 166–194. Vgl. Wolfgang Hasberg: Unde venis? – Betrachtungen zur Zukunft der Geschichtsdidaktik. In: Tobias Arandt/Manfred Seidefußen (Hrsg.): Neue Wege – neue Themen neue Methoden? Ein Querschnitt aus der geschichtsdidaktischen Forschung des wissenschaftlichen Nachwuchses. Göttingen 2014 (Beih. zur ZfGD 7), S. 15–62, insb. S. 17f.

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Wolfgang Hasberg

Abb. 1: Gilgamesch-Epos, Tafel 11: Sintflutgeschichte (Bibliothek des Asˇˇsurbanipal, Ninive).

rungsspanne meinen wir noch bewältigen zu können, greifen allenfalls sozialwissenschaftliche Methoden auf, um ihr gerecht werden zu können.15 Den langfristigen, die Grenzen des kommunikativen Gedächtnisses – so ließe sich erinnerungstheoretisch sagen16 – sprengenden Erfahrungswandel kann man indes ausschließlich mithilfe der historischen Methode einholen. 1. Singuläre Erfahrung 2. (Durch Sammeln) wiederholte Erfahrung 3. Historische (langfristige) Erfahrung

! Aufschreiben

Individuum

! Fortschreiben

Generation

Übergenerativer (geschichtlicher) Gemeinschaft Abb. 2: Erfahrungswandel und Methodenwechsel nach R. Koselleck. ! Umschreiben

Den drei Formen des Erfahrungswandels korrespondieren bekanntlich die methodischen Bewältigungsstrategien: Aufschreiben, Fortschreiben und Um15 Vgl. in Bezug auf die Geschichtsdidaktik den bibliometrischen Versuch von Markus Bernhardt: Geschichtsdidaktik nach PISA – Bilanzen und Perspektiven. Eine bibliometrische Analyse. In: Sauer u. a.: Geschichtslernen in biographischer Perspektive (Anm. 6), S. 349–363. 16 Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. TB-Aufl. München 1999, S. 42–45 macht eben an dieser Schwelle den Unterschied zwischen Gedächtnis und Historie fest, ohne dass dieser Disktinktion an dieser Stelle uneingeschränkt zu folgen wäre.

Von Mythen und Ursprüngen der Geschichtsdidaktik

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schreiben.17 Im Folgenden geht es nicht darum, Ursprungsmythen auf- oder fort-, sondern umzuschreiben; man könnte das »Entgrenzung« nennen. Die Möglichkeit des Umschreibens von Geschichte liegt in der seit Thukydides bekannten Differenz von vergangenem menschlichen Handeln (res gestae = Vergangenheit) und seiner sprachlichen Deutung (narratio rerum gestarum = Geschichte).18 Deshalb bedarf es – immer noch R. Koselleck folgend, obwohl das erzähltheoretische Paradigma deutlich anklingt – eines narrativen Arrangements, um im Akt des Erzählens Sinn zu bilden, der Antwort auf gegenwärtige Problemlagen zu geben vermag. Geschichte, oder besser : die Anwendung der historischen Methode, so folgert daraus, ist stets und unabdingbar selbstreferentiell, insofern sowohl die Heuristik als auch der Begriffsapparat und das Methodenrepertoire, die zur Anwendung gebracht werden, aus der Gegenwart stammen. – Das gilt es zunächst festzuhalten, um später darauf zurückzukommen. Warum sollte die Geschichtsdidaktik sich mit dem eigenen Erfahrungswandel und das auch noch in langfristiger Perspektive befassen? Diese Frage trieb schon K. Bergmann (1938–2002) und G. Schneider um, als sie ihr Handbuch konzipierten, das nicht zufällig den Titel »Gesellschaft – Staat – Geschichtsunterricht« trägt.19 Denn den Zusammenhang von wirtschaftlich-gesellschaftlicher Entwicklung und Geschichtsunterricht wäre das »Interesse der Geschichtsdidaktik an der Geschichte der Geschichtsdidaktik«, führten sie an anderer Stelle aus.20 Das verrät ein besonderes Interesse an der zeit-, vor allem sozialgeschichtlichen Einordnung des seit der Neuzeit sich entwickelnden Diskurses um das historische Lernen, insbesondere im Geschichtsunterricht, schließt indes die Rekonstruktion und Reflexion der Disziplingeschichte nicht aus, die in einem dezidiert zeitgeschichtlichen Zugriff Gefahr laufen, der Einordnung der Disziplin in den zeithistorischen Kontext zum Opfer zu fallen.21 Ein solcher Zugang fragt nach der gesellschaftlichen Rolle der Geschichtsdidaktik und umgekehrt nach den 17 Koselleck: Erfahrungswandel (Anm. 12), S. 41ff. 18 Ebd., S. 57. 19 Klaus Bergmann/Gerhard Schneider (Hrsg.): Gesellschaft – Staat – Geschichtsunterricht. Beiträge zu einer Geschichte der Geschichtsdidaktik und des Geschichtsunterrichts von 1500–1980. Düsseldorf 1982. 20 Klaus Bergmann/Gerhard Schneider : Das Interesse der Geschichtsdidaktik an der Geschichte der Geschichtsdidaktik. In: Informationen zur erziehungs- und bildungshistorischen Forschung 8 (1977), S. 67–93, hier S. 70. Vgl. auch Klaus Bergmann/Volkmar Preisler/ Detlev Wischniowski: Geschichtsunterricht – Relikt oder Notwendigkeit. In: Das Argument 70 (1972), S. 195–217. 21 Eine solche Blickrichtung verfolgt Sandkühler : Geschichtsdidaktik als gesellschaftliche Repräsentation (Anm. 6) u. ders.: Einleitung. Biographie und/als historisches Lernen. Generation, Konflikte und Deutungsmuster in der Geschichtsdidaktik der Siebzigerjahre. In: ders.: Historisches Lernen denken. Gespräche mit Geschichtsdidaktikern der Jahrgänge 1928–1947, Göttingen 2014, S. 7–34, insb. S. 22–29.

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gesellschaftlichen Bedingungen des geschichtsdidaktischen Diskurses. Er befasst sich also zuvörderst mit den Grenzen der Disziplin, während ein an der disziplinären Matrix angelehnter Zugriff deren Entstehen und Veränderungen zu erfassen sucht, um die zeitlichen und begrifflichen Grenzen zu anderen Wissenschaftsdisziplinen oder Denkstilen auszuloten. Dass die disziplinäre Entwicklung ihrerseits gesellschaftlich umfangen ist, erklärt sich von selbst, so dass beide Zugriffsweisen einander nicht ausschließen, sondern geradezu komplementär ergänzen. Wenn die Geschichtsdidaktik sich ihrer Geschichte zuwendet, um das eigene Selbstverständnis zu schärfen, dann tut sie das – wenn nicht ausschließlich antiquarisch (F. Nietzsche) – angesichts einer aktuellen Erfahrung, welche der Bewältigung bedarf – was als historisches Interesse oder Orientierungsbedürfnis angesprochen werden kann. Im Rahmen einer scientific community entsteht eine solche nach historischer Vergewisserung heischende Irritation, wenn die eingeübten Methoden, angewandten Prinzipien und zentralen Kategorien den Anforderungen nicht mehr gewachsen erscheinen, kurz: das Paradigma an der einen oder anderen Stelle erschüttert ist. Ein solcher Erfahrungswandel kommt selten mit der Wucht, wie er unter dem von Th. S. Kuhn geprägten Begriff des »Paradigmawechsels« thematisiert wurde.22 Langfristiger Erfahrungswandel vollzieht sich peu # peu und verändern nur ganz allmählich die Parameter. Als Seismograph, solche leichten Erschütterungen aufzuspüren, kann im Rahmen eines epistemologischen Diskurses das Paradigma oder die disziplinäre Matrix dienen, die einem permanenten Wandel unterworfen sind und in einer kurzund mittelfristigen Erfahrungsperspektive doch eigentümlich statisch erscheinen, indem sie eingebürgerte Verfahrensweisen und symbolische Verdichtungen denjenigen entgegen halten, die sich in der Gemeinschaft bewegen, für die es Gültigkeit beansprucht. Insofern die Befassung mit der Vergangenheit und mit der Geschichte stets und unabdingbar in Referenz zum erkennenden Subjekt – sei es individuell oder kollektiv – steht, kann einem am Paradigma angelehnten, theoriegeleiteten Zugriff auf die Vergangenheit schwerlich der Vorwurf unterbreitet werden, er sei selbstreferenziell und verstelle die Möglichkeit, die Denkform Geschichtsdidaktik induktiv aus den vergangenen Gegebenheiten, die es bekanntlich nicht gibt, oder dem status quo abzuleiten. Es gehört zu den methodologisch akkumulierten Erfahrungen – es wurde bereits erwähnt –, dass die Vergangenheit nicht zugänglich ist, es sei denn, sie wird sprachlich erschlossen. Zur Sprache der Wissenschaft gehören deren Begriff, die sich im (virtuellen) Paradigma ver22 Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. 2. rev. Aufl. Frankfurt a.M. 1976 u. ders.: Die Entstehung des Neuen. Studien zur Struktur der Wissenschaftsgeschichte. Frankfurt a.M. 1978.

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dichten. Deshalb kann ein theoriegeleiteter Zugriff sehr wohl am Paradigma ausgerichtet werden, sofern er erfahrungsoffen bleibt und transparent macht, wo er selbst Einfluss auf die Deutung des vermeintlich Vorgefundenen nimmt.

Abb. 3: Disziplinäre Matrix historischen Denkens nach J. Rüsen in einer Bearbeitung von W. Hasberg23.

Die von J. Rüsen vorgeschlagene und in modifizierter Form mehrfach disziplingeschichtlich erprobte disziplinären Matrix besitzt die notwendige Offenheit und kann für die eingeforderte Transparenz sorgen, wenn im Folgenden an kursorischen Beispielen Ursprungsmythen (Abschnitt 2) sowie Grenz- und Wiedergänger (Abschnitt 3) der Geschichtsdidaktik zur Sprache gebracht werden, um abschließend den Faden wieder aufzunehmen und zu eruieren, inwiefern die methodische Eingrenzung, die vorgenommen wurde, dazu geeignet ist, einer Entgrenzung der disziplinhistorischen Debatte den Weg zu ebnen. 23 Zuerst bei Jörn Rüsen: Historische Sinnbildung durch Erzählen. Eine Argumentationsskizze zum narrativistischen Paradigma der Geschichtswissenschaft und der Geschichtsdidaktik im Blick auf nicht-narrativistische Faktoren. In: Internationale Schulbuchforschung 17 (1996), S. 501–544, hier S. 518. Modifiziert zuletzt bei Wolfgang Hasberg: Historiker oder Pädagoge? Geschichtsdidaktiker im Kreuzfeuer der Kompetenzdebatte. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 9 (2010), S. 159–179, hier S. 176–179.

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Ursprungsmythen

Denn eine solche, so wird beschworen, sei neuerlich wieder im Schwange.24 Vielleicht hat das mit generationeller Erfahrung zu tun. Denn schließlich haben sich diejenigen aus dem aktiven Dienst verabschiedet, denen gemeinhin die Verantwortung für den Paradigmawechsel von 1970, der das Selbstverständnis der geschichtsdidaktischen scientific community nachhaltig bestimmt, zugesprochen wird.25 Auch erinnerungstheoretisch wären wir – 40 Jahre nach Göttingen – bei der Halbwertszeit des kommunikativen Gedächtnisses angelangt, einem Zeitpunkt, an dem nach J. Assmann eine erste Abbindung der Erfahrungen erfolgt, die schließlich in das kulturelle Gedächtnis übergeht.26 Ob das aber der Grund für eine neuerliche Forcierung der Disziplingeschichte ist, muss ebenso bezweifelt werden, wie die Behauptung, dass sie überhaupt je in Vergessenheit geraten war. Anstatt zum Beweise eine umfängliche Liste einschlägiger Publikationen vorzulegen, soll darauf hingewiesen werden, dass es zum Teil rein äußerliche Gründe, wie das 100-jährige Bestehen der Verbands der Geschichtslehrer Deutschlands waren, die entsprechende Studien hervorgerufen haben.27 Was der Anlass für U. Thiel war, sich der Geschichte des sächsischen Geschichtsunterrichts zuzuwenden, wird in seinen Publikationen kaum expliziert. Der Generationenwechsel war es wohl kaum, der ihn motiviert hat, die Verformungen des sächsischen Geschichtsunterrichts im 19. Jahrhundert zu rekonstruieren.28 Ein 24 So stellt Sandkühler : Geschichtsdidaktik als gesellschaftliche Repräsentation (Anm. 6) fest: »Die Selbsthistorisierung der Geschichtsdidaktik hat in den letzten Jahren Fahrt aufgenommen. Auffällig sind in die Lücken der Disziplingeschichtsschreibung für die bundesdeutschen 70er Jahre«. Ganz anders Marko Demantowsky : Zur Zeitgeschichte der Geschichtsdidaktik. Einleitung. In: Sauer u. a.: Geschichtslernen in biographischer Perspektive (Anm. 6), S. 309–312, hier S. 310, wo hervorgehoben wird: »Die Geschichtsdidaktik hat disziplingeschichtlich sehr viel aufzuweisen und steht mit diesem Forschungsstand vergleichsweise sehr gut da.« 25 So auch Demantwosky : Zur Zeitgeschichte der Geschichtsdidaktik (Anm. 24), S. 309f. 26 Assmann: Das kulturelle Gedächtnis (Anm. 16), S. 51. 27 S. zuletzt Tobias S. Schmuck: 100 Jahre Geschichtslehrerverband. Eine bildungspolitische Analyse 1913–2013. Schwalbach/Ts. 2014. Ebenfalls einem Jubiläum ist der im Auftrag des VGD herausgegebene Sammelband von Paul Leidinger (Hrsg.): Geschichtsunterricht und Geschichtsdidaktik vom Kaiserreich bis zur Gegenwart. Stuttgart 1988 geschuldet, nämlich dem 75jährigen Bestehen des Verbandes. 28 Während Ulf Thiel: Historische Bildung in Sachsen 1830–1933. Ein Längsschnitt zur Genese des sächsischen Geschichtsunterrichts vor dem Hintergrund von Schulstrukturen und Geschichtslehrerbildung. Hamburg 2012 sich angesichts der gegenwärtigen Problemlagen der Vergangenheit zuwendet, bleibt bei dems.: Was heißt und zu welchem Ende studiert man historische Geschichtsdidaktik. In: Geschichte für heute 2/2015, S. 36–52 unklar, wozu die Befassung mit der Geschichte des Geschichtsunterrichts beitragen soll. Ob der Rückgriff auf die Didaktik und Methodik des 19. Jh. bei der Fundierung gegenwärtigen Geschichtsunterricht hilfreich sein kann (ebd. S. 49), lässt sich einerseits nicht bezweifeln, bleibt ande-

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Motiv war womöglich die Suche nach didaktischen und methodischen Alternativen in der Vergangenheit, die auch K. Engeler angetrieben hat, sich der Reformpädagogik in der Geschichtsdidaktik anzunehmen.29 Der Generationenwandel mag dagegen Th. Sandkühler geleitet haben, als er das Konzept für seinen spannenden Interview-Band entwickelt hat.30 Dagegen war keineswegs der Übergang der Generationen der Anlass für die Sammlung von autobiographischen Essays der geschichtsdidaktischen Protagonisten der 1970er Jahre. Ursprünglich sollte damit der regionale Effekt auf die Entwicklung der Geschichtsdidaktik eingeholt werden, der – wie das Bändchen zeigt – breit gestreut ist.31 Insgesamt aber steht es in einer Reihe, in der unterschiedlichste Aspekte der neuzeitlichen Disziplingeschichte zur Sprache gebracht werden.32 Ebenso wie der geschichtsdidaktische Diskurs33 oder der Geschichtsunterricht34 in verschiedenen Epochen immer wieder rekonstruiert wurde, nicht zuletzt in SBZ, DDR und Wendezeit.35 – Nein, die historische Dimension ist im geschichtsdi-

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rerseits derart vage, dass Zweifel angebracht erscheinen, ob der historische Aufwand lohnen kann. Knut Engeler : Geschichtsunterricht und Reformpädagogik. Eine Untersuchung zur Praxis der Weimarer Republik. Berlin 2009 (GVG 7). Sandkühler : Historisches Lernen denken (Anm. 21). Wolfgang Hasberg/Manfred Seidenfuß: Reform – Erfahrung – Innovation (Anm. 6). Wolfgang Hasberg/Manfred Seidenfuß (Hrsg.): Geschichtsdidaktik(er) im Griff des Nationalsozialismus? Münster 2005 (GVG2); dies. (Hrsg.): Modernisierung im Umbruch. Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht nach 1945. Berlin 2008 (GVG 6). In Vorbereitung sind Bände von Wolfgang Hasberg, Wolfgang: Schriften zur Formierung der Geschichtsdidaktik und des Geschichtsunterrichts, 3 Bde. Berlin 2017 (GVG 1) u. dems: Katechese und Narratio. Paradigmatischer Wechsel im 19. Jahrhundert. Berlin 2017 (GVG 10). Als Klassiker sei genannt Jochen Huhn: Politische Geschichtsdidaktik. Untersuchungen über politische Implikationen der Geschichtsdidaktik in der Weimarer Republik und in der Bundesrepublik. Kronberg/Ts. 1975 u. aus neuerer Zeit Sven Pflefka: Zwischen nationaler Tradition und transnationaler Hoffnung. Idstein 2011 (SGD 27). Ein Klassiker ist unbestritten der Band von Hilke Günther-Arndt: Geschichtsunterrichts in Oldenburg 1900–1930. Oldenburg 1980. Als ein neueres Beispiel sei genannt das Buch von Ulrich Baumgartner : Transformationen des Unterrichtsfaches Geschichte. Staatliche Geschichtspolitik und Geschichtsunterricht in Bayern im 20. Jahrhundert. Idstein 2007 (SGD 21) oder die wenige rezipierte, aber nicht nur von ihrem Umfang her gewichtige Untersuchung von Waltraud Schreiber : Schulreform in Hessen zwischen 1967 und 1982. Die curriculare Reform der Sekundarstufe I. Schwerpunkt Geschichte in der Gesellschaftslehre. Neuried 2005 (BStG 10). Die Geschichte des Geschichtsunterrichts ist gerade für Bayern durch eine Reihe weiterer Autoren (H. Beilner, M. Fenn, K. Filser, S. Ullwer u. a.) gut erschlossen. Nur beispielhaft seien genannt für SBZ/DDR: Saskia Handro: Geschichtsunterricht und historisch-politische Sozialisation in der SBZ und DDR (1945–1961). Eine Studie zur Region Sachsen-Anhalt. Weinheim/Basel 2002 (SGD 13) u. Marko Demantowsky : Die Geschichtsmethodik in der SBZ und DDR. Idstein 2003 (SGD 15) u. für die Wendezeit: Friedemann Neuhaus: Geschichte im Umbruch. Geschichtspolitik, Geschichtsunterricht und Geschichtsbewußtsein in der DDR und den neuen Bundesländern 1983–1993. Frankfurt a.M.

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daktischen Diskurs zu keiner Zeit zum Erliegen gekommen,36 sie wurde im Gesamtdiskurs indes kaum wahrgenommen. Das gilt ohne Einschränkung auch für die hier willkürlich herausgestellten Werke. Die eher sporadische Kenntnisnahme der Disziplingeschichte hat eigentümliche Blühten getrieben, das heißt Mythen hervorgebracht, die in zum Teil traditionaler Weise einen Ursprung der Geschichtsdidaktik zur eigenen Identitätsvergewisserung oder -befestigung zu sichern suchen.37 So wenn U. Mayer 2014 lapidar erklärt: »Am Anfang war das Seminar in Gießen.«38 Oder wenn G. Schneider ähnlich pathetisch beteuert, der Mannheimer Historikertag von 1976 sei die Wende gewesen, weil damals die Gründung der Zeitschrift »Geschichtsdidaktik« vollzogen worden sei;39 weniger zielt er damit auf die in einem schmalen roten Vandenhoeck-Bändchen dokumentierte Sektion ab, in der das Geschichtsbewusstsein zur zentralen Kategorie der Geschichtsdidaktik erhoben wurde.40 Dabei lassen sich nicht nur die Ursprünge der Überlegungen zum Geschichtsbewusstsein als zentrale Kategorie geschichtsdidaktischer Forschung wesentlich früher datieren,41 sondern auch die der Institutionalisierung des wissenschaftlichen Diskurses, wenn man mit W. Fürnrohr und H. Kuss die Versammlung der Fachgruppe Geschichte in der Hochschulkonferenz für Erzie-

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1998 sowie Uwe Uffelmann/Heinz Pfefferle: Geschichtsdidaktik und Wiedervereinigung. Verstehen, Verständigen, Versagen? Münster 2006 (GVG 3). Deshalb lässt sich auch die Einschätzung von Gerhard Schneider : Interview in Berlin, 18. Dezember 2012. In: Sandkühler: Historisches Lernen denken (Anm. 21), S. 435–474, hier S. 468 nicht aufrechterhalten, die Publikation des Bandes von Bergmann/Schneider : Gesellschaft – Staat – Geschichtsunterricht (Anm. 19) sei Ausdruck einer beginnenden Stagnation des geschichtsdidaktischen Diskurses gewesen. Traditional ist an dieser Stelle ganz im Sinne von Jörn Rüsen: Die vier Typen des historischen Erzählens. In: ders.: Zeit und Sinn. Strategien historischen Denkens. Frankfurt a.M. 1990, S. 153–230, hier S. 179–181 oder ders.: Historik. Theorie der Geschichtswissenschaft. Köln/ Weimar/Wien 2013, S. 209–215, insb. 210f. gemeint, als Verewigung eines historischen Moments (bei Rüsen: Zeit). Ulrich Mayer: Interview in Wetzlar, 30. September 2013. In: Sandkühler: Historisches Lernen denken (Anm. 21), S. 357–389, hier S. 365. Gerhard Schneider : Wie die Zeitschrift GESCHICHTSDIDAKTIK entstand. Erinnerungen eines beteiligten. In: Ursula A. J. Becher/Klaus Bergmann (Hrsg.): Geschichte – Nutzen und Nachteil für das Leben. Düsseldorf 1986 (Geschichtsdidaktik. Studien, Materialien 43), S. 157–165. An anderer Stelle betont ders.: Interview (Anm. 36) die Bedeutung des Mannheimer Historikertags weniger stark. Erich Kosthorst (Hrsg.): Geschichtswissenschaft. Didaktik – Forschung – Theorie. Göttingen 1977. Den entscheidenden Impuls dafür setzte Rolf Schörken: Geschichtsdidaktik und Geschichtsbewußtsein. In: Süssmuth, Hans (Hrsg.): Geschichtsunterricht ohne Zukunft. Stuttgart 1978 (AuA), S. 87–101 [zuerst in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 23 (1972), S. 81–89].

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hungswissenschaft und Fachdidaktik als deren Beginn und »Aufbruch zu einer neuen Geschichtsdidaktik« ausmacht.42 Einen Aufbruch in den 1970er Jahre konstatiert auch Th. Sandkühler, dokumentiert aber eine der anderen Sektionen des Mannheimer Historikertags, bei der auf der einen Seite J. Rohlfes und M. Dörr, auf der anderen A. Kuhn aneinander gerieten. Es handelte sich ganz offenkundig um einen Richtungsstreit zwischen der lerntheoretischen Position und der emanzipatorischen Ausrichtung, wie sie auch durch die Gießener Schule gestützt wurde.43 Dass es allerdings diese aus dem Umkreis von Friedrich J. Lucas (1927–1974) hervorgegangene Gießener Schule44 und die mit ihr verbundenen Kräfte gewesen seien, die vornehmlich den Verwissenschaftlichungsschub der Geschichtsdidaktik in den 1970er Jahre getragen habe,45 scheint angesichts der diversen Standorte, an denen geschichtsdidaktische Forschung in höchst unterschiedlichen Formen betrieben wurde,46 wenig plausibel und bedarf zumindest weiterer disziplinhistorischer Erkundungen. Was also kennzeichnet die zeitlichen Grenzen der Geschichtsdidaktik: der Gewinn eines gemeinsamen Gegenstandes und der kontroverse Diskurs oder die Begründung einer (halbwegs) institutionalisierten Diskursgemeinschaft sowie die Etablierung eines den wissenschaftlichen Diskurs tragenden Publikationsorgans? Es kreisen mithin eine Menge Mythen um die 1970er Jahre, die in ihnen den Ursprung der Geschichtsdidaktik suchen, als hätte es entsprechende Denkformen nicht bereits früher gegeben. Schließlich erhob B. Mütter die »Grundlagen des Geschichtsunterrichts« von E. Weniger bereits frühzeitig zur »Gründungsurkunde der modernen Geschichtsdidaktik« und vertrat 2013 die kaum wahrgenommene These, die Ver42 Walter Fürnrohr : Von der engen Schulmethodik zur globalen wissenschaftlichen Geschichtsdidaktik. In: Wolfgang Hasberg/Wolfgang E. J. Weber (Hrsg.): Geschichte entdecken (FS Karl Filser). Berlin 2007 (GVG 4), S. 167–192, hier S. 184f. u. Horst Kuss: Aufbruch zu einer neuen Geschichtsdidaktik? Ein Rückblick auf Göttingen 1973. In: Sauer : Geschichtslernen in biographischer Perspektive (Anm. 6), S. 37–45. 43 Dokumentation. Die Kontroverse zwischen Joachim Rohlfes und Annette Kuhn beim 31. Deutschen Historikertag in Mannheim, September 1976. In: Sandkühler: Historisches Lernen denken (Anm. 21), S. 505–538. 44 Zu deren inhaltlicher Ausrichtung s. Ursula A. J. Becher u. a. (Hrsg): Geschichte als engagierte Wissenschaft. Zur Theorie einer Geschichtsdidaktik. Stuttgart 1985 (AuA). 45 So behauptet nicht nur Mayer: Interview (Anm. 38). S. 365, sondern suggeriert auch die Auswahl der Interviewpartner bei Sandkühler : Historisches Lernen denken (Anm. 21) sowie die darin enthaltenen Aussagen, die nicht zuletzt durch die in den Interviews immer wiederkehrenden Fragen nach der Bedeutung der Zeitschrift »Geschichtsdidaktik«, der emanzipatorischen Position, den Hessischen Rahmenrichtlinien etc. evoziert zu sein scheinen. 46 Vgl. dazu Hasberg/Seidenfuß: Bewegende Reformen (Anm. 6).

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selbstständigung der Geschichtsdidaktik als wissenschaftliche Disziplin resultierte aus der Notwendigkeit einer Verarbeitung der Kriegsniederlagen von 1918 und 1945. Historisch-politische Bildung als Reaktion auf kriegerische Niederlagen, das klingt bedenkenswert.47 Aber die These von der Eigenständigkeit des Geschichtsunterrichts und die daraus gerierte Notwendigkeit der Geschichtsdidaktik leitete E. Weniger aus seinen Lehrplananalysen des 19. Jahrhunderts, also historisch, her.48 Deshalb lässt sich wohl eher G. Kawerau (1885–1935) als ein Vorreiter der »modernen Geschichtsdidaktik« bezeichnen, von der B. Mütter spricht. Er machte das historisch-politische Bewusstsein zum Gegenstand, den es zu erforschen gelte. Dass es dazu nicht kam, ist eine andere Geschichte.49 Er aber erhob seine Stimme in einen breiten Spektrum von Positionen, die in den Weimarer Jahren eine geschichtsdidaktische Kakophonie erzeugten, aus der – bei allen ihr anhaftenden Mängel – ein geschichtsdidaktischer Diskurs hervorging, in dem sich Vieles präfiguriert findet, was in den 1970er Jahren neuerlich aufgegriffen wurde.50 Das gilt auch für die Historiomathie, mit der man im Anschluss an H.-J. Pandel die Ursprünge eines geschichtsdidaktischen Diskurses bis in die Spätaufklärung zurückverfolgen kann, als »distributionstheoretische Reflexionen historiographisch erzeugten Wissens« dringlich wurden und Eingang in die Methodik-Vorlesungen der im Entstehen begriffenen Geschichtswissenschaft fanden. Die Hinwendung zum Erzählparadigma in der Geschichtswissenschaft machte es notwendig, sich mit den Vertriebsweisen des narrativen Geschichtswissens zu befassen und rief einen rudimentären Diskurs hervor, für den im universitären Wissenschaftssystem der Zeit zunächst kein systematischer Ort

47 Bernd Mütter : Die Entstehung der Geschichtsdidaktik als Wissenschaftsdisziplin in der Epoche der Weltkriege. Oldenburg 2013 (Oldenburger Schriften zur Geschichtswissenschaft, Bd. 14). S. dazu die Rezension von Wolfgang Hasberg. In: Neue politische Literatur 58 (2013) 2, S. 249f. Zu seiner Beschäftigung mit E. Weniger s. Bernd Mütter : Historische Zunft und historische Bildung. Beiträge zur geisteswissenschaftlichen Geschichtsdidaktik. Weinheim 1995 (SGD 2). 48 Erich Weniger: Grundlagen des Geschichtsunterrichts. Leipzig/Berlin 1926. 49 G. S. Kawerau fiel 1935 dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums zum Opfer und starb nach einer KZ-Haft 1936. Zur seiner Person und seinem Werk s. Jochen Huhn: Georg Siegfried Kawerau (1886–1936). In: Siegfried Quandt: Deutsche Geschichtsdidaktiker des 19. und 20. Jahrhunderts. Paderborn u. a. 1978, S. 280–303 u. Wolfgang Hasberg: Siegfried Kawerau (1886–1936). In: Fröhlich, Michael (Hrsg.): Die Weimarer Republik. Portrait einer Epoche in Biographien. Darmstadt 2002, S. 293–304. Zum Umfeld s. Huhn: Politische Geschichtsdidaktik (Anm. 33), S. 118–297 u. Wolfgang Hasberg: Geschichtsdidaktik in der Weimarer Republik. Präfiguration einer Wissenschaftsdisziplin? In: Geschichte/Politik und ihre Didaktik 29 (2001), S. 215–223. 50 S. Hasberg: Geschichtsdidaktik in der Weimarer Republik (Anm. 49).

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zur Verfügung stand, der ihm eine eigenständige Entwicklung hätte gewährleisten können.51 Wann endlich sind die (zeitlichen) Grenzen der Geschichtsdidaktik erreicht? Wann ist man am Beginn, am Ursprung eines geschichtsdidaktischen Diskurses angelangt? Die Problematik potenziert sich zudem, wendet man sich den Grenzgängern zu, die Geschichtsdidaktiker doch immer sind – nicht weil die Geschichtsdidaktik eine »Brückenschlagsdisziplin« ist,52 sondern weil sie heimatlos herumirren, zwischen der Geschichtswissenschaft und einem beachtlichen Bündel an Bezugswissenschaften, zu denen – wie Ch. Bühl-Gramer zu Recht ausgeführt hat – das Verhältnis neu bestimmt werden muss, weil die Grenzen zu ihnen mehr und mehr unsichere Konturen angenommen haben, seitdem auch sie sich in den Bahnen der Transdisziplinarität bewegen.53 Damit erhöht sich zwangsläufig das Grenzgängertum, das es allerdings in der Geschichtsdidaktik von jeher gegeben hat, und die euphemistische Rede von den »Quereinsteigern« versichert: es existiert noch immer. Um nach den zeitlichen Grenzen auch die synchronen Grenzen zu verflüssigen, stehen im Folgenden allerdings die frühen Quereinsteiger im Blickfeld.

51 Hans-Jürgen Pandel: Historik und Didaktik. Das Problem der Distribution historiographisch erzeugten Wissens in der deutschen Geschichtswissenschaft von der Spätaufklärung zum Frühhistorismus (1765–1830). Stuttgart/Bad Cannstatt 1990 (Fundamenta Historica, Bd. 2). Vgl. demnächst Wolfgang Hasberg: Zurück zur Historiomathie? Disziplinhistorische Aspekte der Geschichtsdidaktik. In: ders.: Geschichtszeichen. Geschichtsdidaktische Analekten (Geschichtsdidaktik diskursiv. Public History und Historisches Denken, Bd. 2). Frankfurt u. a. 2016 u. ders.: Von der Akroma zur Narration. Paradigmatische Wende im 19. Jahrhundert? In: Ders: Katechese und Narratio (Anm. 32) . 52 Die Metapher von der Brückenschlagsdisziplin stammt von Joachim Rohlfes: Geschichte und ihre Didaktik. 3. erw. Aufl. Göttingen 2005, S. 20f. u. 191f. Vgl. auch ders.: Die zwei Standbeine der Geschichtsdidaktik. In: Geschichte lernen 18/1990, S. 4f. u. ders.: Geschichtsdidaktik – Geschichte, Begriff, Gegenstand. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 42 (1991), S. 669–673. 53 S. Charlotte Bühl-Gramer : Geschichte im interdisziplinären Diskurs. Grenzziehungen – Grenzüberschreitungen – Grenzverschiebungen. Tagungseinführung in diesem Band. Das Verhältnis zu den Bezugswissenschaften suchten schon frühzeitig zu klären Karl Pellens: Zu den Methoden geschichtsdidaktischer Forschung. In: Hans Georg Kirchhoff (Hrsg): Neue Beiträge zur Geschichtsdidaktik. Bochum 1986 (Dortmunder Arbeiten zur Schulgeschichte u. zur hist. Didaktik, Bd. 11), S. 33–42 u. Jochen Huhn: Arbeitsbereiche der Geschichtsdidaktik. In: Ebd., S. 19–32 sowie ders.: Arbeitsbereiche der Geschichtsdidaktik. Skizze des Arbeitszusammenhanges einer Teildisziplin der Geschichtswissenschaft. In: Göran Behre/ Lars-Arne Norburg (Hrsg.): Geschichtsdidaktik – Geschichtswissenschaft – Gesellschaft. Stockholm 1985, S. 9–25. Vgl. auch Wolfgang Hasberg: Methoden geschichtsdidaktischer Forschung. Problemanzeige zur Methodologie einer Wissenschaftsdisziplin. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 1 (2002), S. 59–78.

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Grenz- oder Widergänger der Geschichtsdidaktik »Tria igitur sunt in quibus praecipue cognitio, pendet rerum gestarum, id est, personae a quibus res gestae sunt/ le loca in quibus gestae sunt, et tempora quando gestae sunt. Haec tria quisquis memoriter animo tenuerit, inveniet se fundamentum habere bonum, cui quicquid per lectionem postea superedificaverit sine difficultate et cito capiet et diu retinebit.«54

Abb. 4: Hugo von St. Viktor (Universitätsbibliothek Oxford).

Hugo (1097–1141), deutschstämmiger Magister an der Abtei Sankt Viktor, in unmittelbarer Nähe von Paris, hat sich mehrfach mit der Gedächtniskunst befasst und nennt an dieser Stelle nicht nur die drei wichtigsten Umstände des vergangenen Geschehens, er weist – was bei der Rezeption nicht selten unbeachtet bleibt – darauf hin, wie solches eingeprägt werden kann, indem es nämlich in animo unter entsprechenden Kategorien abgelegt und mit der Zeit sukzessive ergänzt wird. In beiderlei Hinsicht legt er ein naiv-positivistisches 54 Hugo of St. Victor : De tribus maximis cirumstantiis gestorum; ed. William M. Green. In: Speculum 18 (1943), S. 484–493, hier S. 491.

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Verständnis an den Tag, das sein Augenmerk ganz auf die res gestae richtet, die Geschichte konstituierten und die es deshalb zu merken gilt. Aus heutiger Sicht wirkt die historische Lerntheorie, die Hugo von St. Viktor entwirft, naiv – aber man kann ihr nicht abstreiten, dass sie aufgrund eines vermeintlichen Lernbedürfnisses (über Vergangenheit als Wissen zu verfügen), eine didaktische Perspektive kreiert und auch pragmatische Hinweise gibt. Die Regeln geschichtsdidaktischen Denkens waren in seinen Tagen allerdings noch wenig entfaltet. Das gilt neben Hugo v. Victor, der hier nur als Beispiel für die Anfänge geschichtsdidaktischen Denkens in der Vormoderne steht, auch für seine Vorgänger, die sich bis in die Antike zurückverfolgen lassen, oder die zahlreichen Historiographen des Spätmittelalters, die in ihren (häufig stadtgeschichtlich ausgerichteten) Chroniken, die Absichten ihrer Werke erläutern und dabei nicht selten eine durchaus als historische Lerntheorie zu bezeichnende Vorstellung offenbaren, wie ihre historischen Exempla praktisch wirksam werden sollen – moralisch oder politisch.55 Die Fürstenspiegel des Spät- und Hochmittelalters sind ein Beleg dafür, dass den politisch Verantwortlichen historisches Wissen in nicht unerheblichem Maße zugemutet wird.56 Das geht zurück bis auf die »Gesta Karoli« des Notker Balbulus’ (ca. 840–912), der 883 Karl dem Kahlen in historiographischer Form Kaiser Karl d. Gr. als Muster eines Königs vorstellt, ohne diese Absicht ausschweifend erläutern zu müssen.57 Sein Werk ist ein klassisches Muster exemplarischer Geschichtsvermittlung und Historiographie, die in vormodernen Zeiten selten anders als exemplarisch verfährt.58 Auch wenn das in den Prologen der früh- wie spät55 Als Beispiel sei auf die stadtkölnische Geschichtsschreibung des späteren Mittelalters verwiesen, s. Wolfgang Hasberg: Reichsstädtisch-bürgerliches Geschichtsbewußtsein im Spätmittelalterlichen Köln. In: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 72 (2001), S. 9–52 u. ders.: Interessen und Funktionen der volkssprachlichen Stadtgeschichtsschreibung im Köln des späteren Mittelalters. In: ders./Josef Schröder (Hrsg.): Flores considerationum amicorum (Fs Carl August Lückerath). Gleichen/Zürich 2006, S. 165–216, jeweils mit verallgemeinernden Ausblicken und Literaturangaben. 56 Eine umfassende kritische Edition der Herrscher- oder Fürstenspiegel fehlt. Vgl. die Sammlung einschlägiger (häufig gekürzter) Texte bei Hans Hubert Anton (Hrsg.): Fürstenspiegel des frühen und hohen Mittelalters (FStGA 45). Darmstadt 2006. Vgl. ders.: Fürstenspiegel und Herrscherethos in der Karolingerzeit. Bonn 1968 (Bonner historische Forschungen 32). 57 Notkeri Gesta Karoli, ed. Rau, Reinhold. Quellen zur Karolingischen Reichgeschichte, Bd. 3 (FStGA 7, 3), Darmstadt 1992, S. 322–427. Zur geschichtsdidaktischen Einordnung s. Wolfgang Hasberg: Geschichte(n) erzählen – aber wie? In: Anregung 45 (1999), S. 308–328, insb. S. 309f. 58 Ganz im Sinne von Rüsen: Die vier Typen des historischen Erzählens (Anm. 37), hier S. 181–184, wonach exemplarisches historisches Erzählen Sinn verräumlicht, indem es aus einer »Reihe von Anwendungsfällen zeitlos geltende Handlungsregeln« ableitet (ebd., S. 182).

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mittelalterlichen Chroniken nicht selten zur Sprache kam, konnte sich ein Diskurs zu den Vermittlungsfragen nicht entspinnen, da es der Geschichte insgesamt eines systematischen Ortes im Wissenschaftsgefüge des Mittelalters ermangelte59 – bis zur Verwissenschaftlichung der Geschichte im späten 18. Jahrhundert.60 Nicht zuletzt deshalb sind alle erwähnten Protagonisten Grenzgänger, weil die Schranken der Wissenschaftsdisziplinen noch gar nicht errichtet sind. Gleichwohl lassen sich ihre Bemühungen mit der disziplinären Matrix erfassen. Das gilt auch für die Protagonisten der Spätaufklärung: Johann Christoph Gatterer (1727–1799), August Ludwig Schlözer (1735–1809),61 Heinrich Martin Gottfried Köster (1734–1802) und andere, die noch keine spezialisierten Wissenschaftler waren, sondern sich – wie H.-J. Pandel in einem wenig rezipierten Aufsatz erläutert – sich bis in die Anfänge des 19. Jahrhunderts hinein als Lehrer verstanden62 und deshalb die »distributionstheoretischen Reflexionen historiographisch erzeugten Wissens« anstellten, auf die hier nicht näher einzugehen ist, weil H.-J. Pandel sie im schönsten seiner Bücher so minutiös wie präzise dargestellt hat.63 Auch sie, die frühen Historiker, sind allesamt Grenzgänger und scheuen sich nicht, wie Schlözer, sich als Pädagogen zu geben.64 Auch zieren sie sich nicht, Weltgeschichten für Kinder zu schreiben und in deren Vorworten auf ihre eigenen Lehrerfahrungen – zumeist als Hauslehrer – hinzuweisen und aufzubauen. So werden diese Prologe zu rudimentären historischen Lerntheorien,

59 Hans-Werner Goetz: Die »Geschichte« im Wissenschaftssystem des Mittelalters. In: FranzJosef Schmale: Funktion und Formen mittelalterlicher Geschichtsschreibung. Eine Einführung. Darmstadt 1985, S. 165–213. 60 Ob dieser Prozess bereits in der Spätaufklärung einsetzte, ist bekanntlich umstritten, s. Ulrich Muhlack: Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung. Die Vorgeschichte des Historismus. München 1991. Vgl. dazu Friedrich Jaeger/Jörn Rüsen: Geschichte des Historismus. München 1992. 61 Zur Göttinger Schule s. Hartmut Boockmann/Hermann Wellenreuther (Hrsg.): Geschichtswissenschaft in Göttingen. Eine Vorlesungsreihe. Göttingen 1987 (Göttinger Universitätsschriften A 2). 62 Hans-Jürgen Pandel: Wer ist ein Historiker? Forschung und Lehre als Bestimmungsfaktoren in der Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts. In: Wolfgang Küttler/Jörn Rüsen/Ernst Schulin (Hrsg.): Geschichtsdiskurs, Bd. 1: Grundlagen und Methoden der Historiographiegeschichte. Frankfurt a.M. 1993, S. 346–354. 63 Pandel: Historik und Didaktik (Anm. 51). 64 August Ludwig Schlözer : »De la Chalotais«. Versuch über den Kinderunterricht, mit Anmerkungen und einer Vorrede über die Unbrauchbarkeit und Schädlichkeit der Basedow’schen Erziehungsprojekte. Göttingen 1771. Vgl. dazu Pandel: Historik und Didaktik (Anm. 51), S. 202, der feststellt: »Damit stand der Historiker Schlözer am Anfang der modernen Erziehungswissenschaft …« u. Wolfgang Hasberg: Empirische Forschung in der Geschichtsdidaktik, Bd. 1. Neuried 2001 (BStG 3,1), S. 194–196.

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welche die Lernbedürfnisse und Lernfähigkeiten ihrer Edukaten wohl meinend reflektieren. Grenzgänger sind auch die Geschichtsmethodiker des 19. Jahrhunderts, nicht nur, aber vor allem die, deren Bemühungen sich auf das niedere Schulwesen konzentrieren und die sich vor allem in der zweiten Hälfte des Säkulums auf die Formal- und Kulturstufentheorie Johann Friedrich Herbarts (1776–1841) stützen. Historisches Lernen wird im Geschichtsunterricht zur Gesinnungsbildung und spätestens gegen Ende des 19. Jahrhunderts bewusst politisch in Dienst genommen.65 Grenzgänger sind schließlich auch diejenigen, die sich in den Weimarer Jahren geschichtsdidaktischen Fragen zuwendeten. Zwar beginnt hier eine Professionalisierung des Geschichtslehrerstandes mit der Einrichtung des Geschichtslehrerverbandes 1913, und bereits 1911 werden mit Gründung der Zeitschrift Geschichte in Vergangenheit und Gegenwart die Diskursgrenzen abgesteckt,66 wodurch Ausgrenzungen zustande kommen, denen nicht zuletzt G. Kawerau zum Opfer fiel, der als Oberlehrer der Sozialdemokratie angehört und dem Bund der entschiedener Schulreformer in herausgehobener Position diente, mithin in vielfacher Hinsicht ein Außenseiter des Gymnasiallehrerstandes war und blieb. So sind seine innovativen Ideen heute weitgehend verhallt.67 Bekannter ist da schon Kurt Sonntag, der als einer der ersten das historische Bewusstsein von Schülern erfahrungswissenschaftlich untersuchte. Als Psychologe zweifellos ein Grenzgänger, dem wir – wie Herbert Freudental (1894–1975) – den Eingang empirischer Instrumente verdanken.68 Auf diese Weise ließe sich das Grenzgängertum in einer kontinuierlichen Linie fortsetzen: über Heinrich Roth (1906–1983) und Waltraud Küppers, die als Psychologen bzw. Pädagogen den geschichtsdidaktischen Diskurs zwei Jahrzehnte lang (1950–1970) dominiert haben,69 bis hin zu C. Kolb und J. Straub, die heute diese grenzgängerische Tradition der Psychologie aufrecht erhalten.70 65 Anstatt Einzelbelege anzuführen, sei verwiesen auf Hasberg: Empirische Forschung (Anm. 64), S. 189–224. 66 Michael Riekenberg: Die Zeitschrift »Vergangenheit und Gegenwart« (1911–1944). Konservative Geschichtsdidaktik zwischen liberaler Reform und völkischem Aufbruch. Hannover 1986 (Theorie und Praxis, Bd. 7). Vgl. auch die Ausführungen bei Schmuck: 100 Jahre Geschichtslehrerverband (Anm. 27), S. 33–82. 67 Vgl. neben den in Anm. 49 aufgeführten Studien auch Bärbel Völkel: Soziologisch oder sozialistisch? Wie soll der neue Geschichtsunterricht in der Weimarer Republik aussehen? In: Hasberg/Seidenfuß: Geschichtsdidaktik(er) im Griff des Nationalsozialismus? (Anm. 32), S. 57–70. 68 Wiederum ohne Einzelnennungen der Verweis auf Hasberg: Empirische Forschung (Anm. 64), S. 275–296. 69 Vgl. dazu ebd., S. 363–402 u. 435–438. 70 Carlos Kölbl: Geschichtsbewußtsein im Jugendalter. Grundzüge einer Entwicklungspsychologie historischer Sinnbildung. Bielefeld 2004 u. Jürgen Straub: Erzählung, Identität und

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Grenzgänger anderer Art sind bildungstheoretische Pädagogen wie H. Nohl (1879–1960) und vor allem Th. Litt (1880–1962), die in ihren Schriften das historische Bewusstsein thematisieren und – um nur ein Beispiel zu nennen – dabei frühzeitig die zentrale Funktion der Geschichts- oder besser Traditionsvermittlung erkannt und aufgezeigt haben.71 Ihre Gedanken sind unweigerlich in das Konzept vom Geschichtsbewusstsein eingegangen – obwohl allzu selten thematisiert wird, dass dieses Forschungsparadigma bildungstheoretische Wurzeln hat, die letztlich bis auf Wilhelm Dilthey (1833–1911) zurückgehen.72 Schließlich geht es um »Geschichtsbewusstsein in der Gesellschaft«. Doch auch dass Maurice Halbwachs (1877–1945) dabei Pate gestanden haben muss, wird aus den Fußnotenapparaten der einschlägigen Aufsätze der 1970er Jahre selten ersichtlich.73 Wieder an den Grenzen unseres generationellen Erfahrungshorizonts angelangt, kann kurz zusammengefasst werden: 1. Sich mit der Disziplingeschichte zu befassen, heißt nicht, die Widergänger zu beschwören, also die Verstorbenen in die Welt der Lebenden zurückzurufen, damit sie darin ihr Unwesen treiben können. Wiedergänger beim Namen zu rufen, beugt zum einen der Selbstüberheblichkeit vor, insofern klar wird, dass Vieles, was in der Gegenwart erdacht zu sein scheint, historische Wurzeln hat. Die Bedeutsamkeit des historischen Bewussteins und die der bildenden Einflussnahme auf dasselbe sind eben keine Errungenschaften der 1970er Jahre, sie haben einen langen Vorlauf. Nicht anders die Forderung, es historisches Bewußtsein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte. Frankfurt a.M. 1998; ders.: Die dunkle Spur der Vergangenheit. Psychoanalytische Zugänge zum kulturellen Gedächtnis. Frankfurt a.M. 1998 u. zuletzt ders./Jörn Rüsen (Hrsg.): Dark Traces of the Past. Psychoanalysis and Historical Thinking. New York/Oxford 2011. 71 S. u. a. Hermann Nohl: Das historische Bewußtsein. Göttingen 1979 u. Theodor Litt: Geschichte und Leben. Von den Bildungsaufgaben geschichtlichen und sprachlichen Unterrichts. Leipzig/Berlin 1918 sowie ders.: Die Wiedererweckung des geschichtlichen Bewußtseins. Heidelberg 1956. 72 Vgl. etwa Bernd Schönemann: Geschichtsbewusstsein und Geschichtskultur. In: Wolfgang Hasberg/Holger Thünemann (Hrsg.): Geschichtsdidaktik im Dialog. Frankfurt a.M. u. a. 2016 (Geschichtsdidaktik diskursiv. Public History und Historisches Denken, Bd. 1). S. dagegen Wolfgang Hasberg: Geschichtsbewusstsein (https://www.bibelwissenschaft.de/ de/stichwort/100050/). 73 Vgl. etwa die Beiträge von Karl-Ernst Jeismann: Geschichte als Horizont der Gegenwart (Fs K.-E. Jeismann). Hrsg. Wolfgang Jacob-Meyer/Erich Kosthorst. Paderborn 1985 sowie in Günter C. Behrmann/Karl-Ernst Jeismann/Hans Süssmuth: Geschichte und Politik. Didaktische Grundlegung eines kooperativen Unterrichts. Paderborn 1978 (Studien zur Didaktik, Bd. 1) bis hin zu ders.: Geschichtsbewusstsein. Überlegungen zur zentralen Kategorie eines neuen Ansatzes der Geschichtsdidaktik. In: Hans Süssmuth (Hrsg.): Geschichtsdidaktische Positionen. Paderborn u. a. 1980, S. 179–222 u. ders.: Geschichte und Bildung. Beiträge zur Geschichtsdidaktik und zur Historischen Bildungsforschung. Hrsg. Wolfgang Jacobmeyer/Bernd Schönemann. Paderborn u. a. 2000.

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psychologisch und mit empirischen Mitteln zu erkunden. In nicht wenigen Fällen erweisen sich die Innovationen der 1970er Jahre als Wiedergängertum, wie ein Blick in H.-U. Wehlers (1931–2012) Reihenwerk zu den deutschen Historikern erweist, in dem viele der Totgeglaubten in ihrer urtümlichen Frische auferstehen.74 Aber nicht nur die Erinnerung an die eigenen Wurzeln erweist sich als ein veritabler Vorzug disziplinhistorischer Bemühungen. Mit Blick auf das Tagungsthema zeigt sich stärker als die wirkungsgeschichtliche Potenz historischer Vergewisserung deren Alternativitätspotenzial als Vorzug, indem es vor Augen führt, wie fluide die Grenzen der Disziplin in ihren Anfängen – auf welchen Zeitpunkt man diese auch immer terminieren wollte – waren und bis heute sind: Sind es die Theologen, Philosophen, Psychologen oder Pädagogen, die den Diskurs um das historische Lernen begründet haben? Oder vielleicht doch die Historiker des 18. Jahrhunderts, die sich ihrer eigenen Rolle noch ganz ungewiss waren? 2. Also nicht nur in zeitlicher Hinsicht werden in der disziplingeschichtlichen Rückschau die Grenzen zunehmend verflüssigt. Richtet man sich an der disziplinären Matrix aus, lassen sich kaum Grenzen abstecken, die den Diskurs um das historische Lernen begrenzen. Wem sollte man mit welchen Gründen die Berechtigung entziehen, sich zum historischen Lernen zu äußern, solange er sich im Rahmen derselben bewegt? Um die einzelnen Felder des geschichtsdidaktischen Paradigmas zu füllen, muss man nicht Historiker sein. Mit dem historischen Lernen befassen sich Viele! Sind also alle Grenzen aufgehoben, wenn man die Geschichtsdidaktik als Wissenschaft vom historischen Denken und Lernen beschreibt? Es scheint so – und doch muss man mit K. P. Liessmann, dem bildungskritischen Philosophen aus Wien, den Grenzen ein Loblied singen. Denn sie sind für kritisches Denken absolut notwendig, weil dieses sich in Distinktionen bewegt. Definitionen, die zum Begriffsapparat einer jeden Wissenschaft gehören, bewirken nicht nur, sie sind Mittel der Ab- und Ausgrenzung.75 Was nun ist das durch Grenzen abgesicherte Proprium der Geschichtsdidaktik, ihr Paradigma? Es sind nicht die Methoden, die sie sich mit vielen Wissenschaften teilt; seien es die philologischen, die hermeneutischen oder empirischen. Es ist auch nicht der Gegenstand, sei er das historische Bewusstsein oder der Geschichtsunterricht. Die Philosophie und die Erziehungswissenschaften, die sich neuerdings 74 Hans-Ulrich Wehler : Deutsche Historiker, 9 Bde. Göttingen 1971–1982. Mancher der Nochnicht-Historiker des 18. Jahrhundert kommt darin wieder zum Vorschein. 75 Konrad Paul Liessmann: Lob der Grenze. Kritik der politischen Unterscheidungskraft. Wien 2012.

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als Bildungswissenschaften deklarieren, beanspruchen gleichermaßen einen Anspruch darauf, zur Erforschung dieser Gegenstände ihr Scherflein beitragen zu können. Und das nicht ohne Recht, wie auch die Psychologie und die Soziologie und so viele Lebenswissenschaften, die man heute gerne als Humanties bezeichnet. Bekanntlich sind es nicht die Dinge, die sachlichen Zusammenhänge, die gedankliche Zusammenhänge und damit das Arbeitsgebiet einer Wissenschaft konstituieren, sondern – wie Max Weber (1964–1920) vor nahezu 100 Jahren hervorhob – die Probleme, die mit ihnen verbunden werden.76 Es sind – mit den Worten J. Habermas’ – die Erkenntnisinteressen, die den Forschungsprozess leiten.77 Das Erkenntnisinteresse der Geschichtsdidaktik ist darauf gerichtet, Regelhaftigkeiten der Vermittlung und Rezeption von Vergangenheit/Geschichte (Inhalt) respektive von historischem Denken/Lernen (Form) zu erkunden,78 und zwar eingedenk der M. Weber geschuldeten Einsicht, dass es den Geistes- und Sozialwissenschaften nicht gegeben ist, »bindende Normen und Ideale zu ermitteln, um daraus für die Praxis Rezepte ableiten zu können.«79 In diesem Sinne kann die Geschichtsdidaktik weder eine Handlungswissenschaft sein, noch eine Disziplin, die sich anderen gegenüber abgrenzt. Nicht zuletzt der disziplinhistorische Rückblick vermag diese systematische Einsicht zu nähren, insofern er lehrt, dass die Geschichtsdidaktik zu keiner Zeit in exklusiver Weise über ihren Gegenstand verfügt und ihre Forschungsabsichten verfolgt hat.

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Radikale Entgrenzung und historische Besonnenheit

Im Vorausstehenden wurde über die Notwendigkeit und die Möglichkeit eines theoriegeleiteten und methodisch regulierten Zugriffs auf die Disziplingeschichte räsoniert und transparent gemacht, wie sehr die Gefahr besteht, durch eine generationenspezifische Blickwinkelverkürzung den langfristigen Erfahrungswandel und den daraus zu ziehenden Erkenntnisgewinn zu ignorieren. Die Bedrängnis ist umso größer, als »die kurzfristigen und mittelfristigen sowie die

76 Max Weber : Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. ND Tübingen 1988, S. 166. 77 Jürgen Habermas: Erkenntnis und Interesse. Frankfurt a.M. 1968. 78 Vgl. Rüsen: Hisotrik (Anm. 37), S. 254, wonach die Geschichtsdidaktik die Wissenschaft vom historischen Lernen ist. Ob sie sich tatsächlich so sehr vom Feld der Geschichtswissenschaft unterscheidet und ob ihr wissenschaftliches Interesse darin besteht, »das Wissen (zu gerieren), das man benötigt, wenn man Lernprozesse in denen es um Geschichte geht, verstehen und sich sachverständig in ihnen betätigen will«, sei dahin gestellt bzw. einer genaueren Prüfung aufgegeben. 79 Weber: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre (Anm. 76), S. 149.

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langfristigen Erfahrungsspannen gleichursprüngliche Geschichten ermöglichen«80 und – so ist hinzuzufügen – denselben Legitimationsanspruch erheben. Dass diese Gefahr zumindest nicht ganz ausgeschlossen ist, hat die Revue der Gründungsmythen gezeigt, die weitgehend im 20. Jahrhundert, zumeist in dessen siebten Jahrzehnt zu verorten sind. Dass damit eine Epochenschwelle benannt ist, die deutlich über den deutschen Bereich hinaus Wirksamkeit entfaltet hat, ist sattsam bekannt.81 Immerhin aber ließ sich zeigen, dass Geschichtsdidaktik als Denkform – zumindest in fragmentarischen Umrissen – deutlich früher erkennbar ist und im 18. Jahrhundert – das darf man nicht verkennen – einen integralen Bestandteil der historischen Methodenlehre bildet. Auf diesem Wege konnte eine deutliche zeitliche Entgrenzung vorgenommen werden: Geschichtsdidaktik als Denkform besteht längst, bevor sie einen eigenen wissenschaftlichen Diskurs ausbildet, in anderen Diskurskreisen, seien es die vormoderne Geschichtstheologie82 oder die Geschichtsunterrichtsmethodik des 19. Jahrhunderts. Solche Traditionen aus dem Blick zu verlieren oder sie als vermeintliche Lehre von der Unterrichtskunst gering zu achten, ist nicht nur fahrlässig, sondern strafwürdig in Hinsicht auf einen langfristigen Erfahrungsgewinn. – Oder ist diese Chance längst vertan? Auf dem Boulevard der elektronischen Eitelkeit hat H.-J. Pandel jüngst ausgeführt, dass es der Geschichtsdidaktik an Protagonisten ermangele, die den hohen Ansprüchen der Theorie zu genügen vermöchten.83 Faulenzertum und »lasche Borgepraxis« in Bezug auf die Begriffsbildung hat er der Zunft pauschal zum Vorwurf gemacht.84 Einige Berufene haben sensibel reagiert und die Vorhaltungen, die der Hallenser Emeritus vermeintlich ihnen entgegen gebracht hatte, vehement zurückgewiesen.85 Dabei hätte die Reaktion zu einem früheren 80 Koselleck: Erfahrungswandel und Methodenwechsel (Anm. 12) S. 40. 81 Vgl. Elisabeth Erdmann/Wolfgang Hasberg: Bridging Diversity. Towards a European Discourse on History Education. In: dies.: Facing – Mapping – Bridging Diversity (Anm. 5), S. 345–379, insb. S. 353–355. 82 Hans Reinhard Seeliger : Kirchengeschichte – Geschichtstheologie – Geschichtswissenschaft. Düsseldorf 1981. 83 Hans-Jürgen Pandel: Theory of History Knowledge: Poor/Geschichtstheoretische Kenntnisse: Mangelhaft. In: Public History 3 (2015) 24 (http://public-history-weekly.oldenbourgverlag.de/3-2015-24/theory-of-history-knowledge-poor/). 84 Hans-Jürgen Pandel: Geschichtsdidaktische Begriffe: Lieber borgen als bilden? In: Wörterbuch der Geschichtsdidaktik. Schwalbach/Ts. 2006, S. 9–14. Dazu grundsätzlich Robert Dittrich: Begriff und Erkenntnis der »laschen Borgepraxis« in der Geschichtsdidaktik. In: Saskia Handro/Bernd Schönemann (Hrsg.): Geschichte und Sprache. Berlin 2010 (Zeitgeschichte – Zeitverständnis, Bd. 21), S. 205–220. Wie der von H.-J. Pandel als Beispiel für eine lasche Borgepraxis gerne herangezogene Begriff der De-Konstruktion in der Geschichtsdidaktik gebildet wurde, legt dar Wolfgang Hasberg: Die Entzauberung der Hrosvith von Gandersheim – oder : De-Konstruktion als Akt entdeckenden historischen Lernens. In: ders./Weber : Geschichte entdecken (Anm. 42), S. 211–242, insb. 220–226. 85 Vgl. die Repliken von Ch. Pallaske, M. Bubliz, L. Schroer, Th. Hellmuth, M. Demantowsky, M.

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Zeitpunkt viel vehementer ausfallen könnte, hatte der selbsternannte Doyen der Geschichtsdidaktik doch bereits 2014 der Disziplin entgegen gerufen: »Die Geschichtsdidaktik ist bis heute keine ernstzunehmende wissenschaftliche Disziplin. Das sollte man eigentlich nicht laut sagen und schon gar nicht drucken.«86 Das sollte man in der Tat nicht drucken – ist aber geschehen. Hätte H.-J. Pandel Recht, könnten die zusammenfassenden Überlegungen an dieser Stelle beendet werden. Denn über die Ursprünge einer nicht-existenten Disziplin nachzudenken wäre müßig. Aber H.-J. Pandel hat keineswegs Recht damit, dass die Geschichtsdidaktik theoretisch unterbelichtet sei. Und er irrt auch darin, dass die Didaktik der Geschichte »keine ernstzunehmende wissenschaftliche Disziplin« sei. Dass sie nicht ernst genommen wird, heißt keineswegs, dass sie nicht ernst zu nehmen wäre – würde man ihr nur den gebührenden Ernst entgegenbringen87 –, was unter anderem zur Voraussetzung hätte, die Produkte der eignen Disziplin zur Kenntnis zu nehmen. Es mangelt der Geschichtsdidaktik nicht – zumindest nicht durchgängig – an theoretischem Tiefgang; nirgends sonst hat die analytische Geschichtsphilosophie eine derartige Resonanz erfahren wie in ihr. Woran es ihr gebricht, ist die Selbstreflexion, sind epistemologische Debatten, die schließlich auf eine historische Selbstbespiegelung nicht verzichten können. Bräche man dabei die Dominanz der Zeitgeschichte, von welcher der langfristige Erfahrungswandel stets bedroht ist,88 dann würden die tiefer liegenden Strukturen sichtbar, von denen der mittelfristige Erfahrungsbestand einer scientific community als Generation als auch der kurzfristige des Individuums respektive des individuellen Forschers umfangen und überlagert sind. Wissenschaftliche Disziplinen strukturieren sich nach formalen Kriterien und einer begrifflichen Systematik, die einer disziplineigenen Epistemologie folgt, die als Paradigma bezeichnet werden kann. Diese richtet sich danach, was Wissenschaftler tun und was sie tun sollen. Wer sich an den vereinbarten Kodex nicht hält, wird aus der Genossenschaft der Forschenden ausgeschlossen.89 Dabei sind es weder die Gegenstände noch die Inhaltstheorien, die zum Aus-

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Nitsche u. B. Vajda (http://public-history-weekly.oldenbourg-verlag.de/3-2015-24/theoryof-history-knowledge-poor/). Hand Jürgen Pandel: Interview in Halle an der Saale, 10. August 2012. In: Sandkühler : Historisches Lernen denken (Anm. 21), S. 326–356, hier S. 351. Zu Recht – um nur ein Beispiel zu nennen – hat Rüsen: Historik (Anm. 37), S. 224 darauf hingewiesen, wie sehr die Erinnerungskulturalisten um J. Assmann oder P. Nora von den Errungenschaften der Geschichtsdidaktik hätten profitieren können. Wie sehr das Gegenteil der Fall war, zeigt ein Blick in Aleida Assmann: Erinnerungsräume. München 1999, S. 143, wo der Umweg über eine Zitation gewählt wird, um sich despektierlich über die Historik J. Rüsens auszulassen. Koselleck: Erfahrungswandel und Methodenwechsel (Anm. 12), S. 42. Karl Popper: Logik der Forschung. 6. verb. Aufl. Tübingen 1976.

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schluss führen. Und selbst die grundlegenden Kategorien und Prinzipien einer Wissenschaftsdisziplin stehen grundsätzlich zur Disposition. Das ist legitim und förderlich, wird dabei nicht der langfristige Erfahrungswandel der disziplinären Entwicklung aus den Blick verloren, der – um mit R. Koselleck zu sprechen – seinerseits nur historisch einzuholen ist. In diesem Verständnis ist die Disziplingeschichte unentbehrlich, insofern sie eine radikale Entgrenzung ermöglicht, wenn sie die disziplinäre Matrix auf ihre zeitlichen Wurzeln (radices) zurückführt, und auf diesem Wege begriffliche Kritik und Säuberung ermöglicht wird. Im Modus eines langfristigen Erfahrungswandels, der sich nicht auf die generative Zeitgeschichte begrenzt, muss sie nicht beim Fortschreiben stehen bleiben, sondern kann zum Umschreiben übergehen. Wenn das mit dem Augenmaß geschieht, das dem Historiker qua Methode eigen ist, kann sie die »engagierten Besonnenheit« hervorrufen,90 die der Geschichtsdidaktik so dringend Not tut.

90 Karl-Ernst Jeismann: Didaktik der Geschichte. Das spezifische Bedingungsfeld des Geschichtsunterrichts. In: Günther C. Behrmann/Karl-Ernst Jeismann/Hans Süssmuth (Hrsg.): Geschichte und Politik. Didaktische Grundlegung eines kooperativen Unterrichts. Paderborn 1978, S. 20–108, hier S. 63. Aufgegriffen von Jörn Rüsen: Lebendige Geschichte. Göttingen 1989 (Grundzüge einer Historik, Bd. 3), S. 91f.

Patrick Ostermann

Wie erfahrene Ausgrenzung transnationales Geschichtsbewusstsein schuf – Jüdische Intellektuelle als idealtypische Grenzgänger

Im Oktober 1956, knapp vier Jahre vor seinem Tod, genoss Victor Klemperer in der DDR höchste gesellschaftliche Reputation. So war er, der jüdische Romanistik-Professor, Lehrstuhlinhaber an der Humboldt-Universität in Ostberlin zugleich Abgeordneter der DDR-Volkskammer, Mitglied der Deutschen Akademie der Wissenschaften und Nationalpreisträger für Kunst und Kultur. Dennoch schrieb er resigniert in sein Tagebuch: »Ich bin lebenslänglich zwischen den Stühlen geblieben.«1 Dieses Gefühl des Nichtdazugehörens kann als typisch für deutschsprachige jüdische Intellektuelle des 20. Jahrhunderts gelten. Klemperer fühlte sich zeitlebens –mal mehr, mal weniger und endgültig ab 1933 – als von den anderen Deutschen zurückgewiesen. Diese Erfahrung des Andersseins durchlebten auch diejenigen Juden, die im Unterschied zu Klemperer, der in Dresden wegen seiner nichtjüdischen Frau überlebte, von den Nationalsozialisten ins Exil gezwungen wurden. Zu dieser Gruppe gehören etwa der Komponist Erich Wolfgang Korngold, der Philosoph und Publizist Theodor Lessing2, der Maler Felix Nussbaum, der Schriftsteller Stefan Zweig oder die Wissenssoziologen Karl Mannheim und Alfred Schütz. Ganz ähnlich wie Klemperer empfand der 1934 aufgrund seiner jüdischen Herkunft aus Nazi-Deutschland geflohene Heidegger-Schüler Karl Löwith ein Gefühl der völligen Entwurzelung: »Wenn uns die Zeitgeschichte irgend etwas lehrt, dann offenbar dies, dass sie nichts ist, woran man sich halten und woran man sein Leben orientieren kann. Sich inmitten der Geschichte an ihr orientieren wollen, das wäre so, wie wenn man sich bei einem Schiffbruch an den Wogen festhalten wollte.«3

1 Victor Klemperer: So sitze ich denn nun zwischen allen Stühlen. Bd. 1: Tagebücher 1950–1959. Berlin 1999, S. 584 und 585. 2 Ria Endres: »In welcher Bestienwelt wohnen wir?«: Theodor Lessing: Opfer der Mordmaschine einer »verfluchten Kultur«. In: Der Literaturbote 29 (2014), H. 112, S. 46–56. 3 Zitiert nach Kilian Bartikowski: Karl Löwiths Exil in Japan und Italien im Vergleich. Möglichkeiten und Grenzen der Wahrnehmung eines Zeitzeugen. Vgl. in: Claudia Müller/Patrick

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In diesem Beitrag soll überprüft werden, inwieweit diese Fremdheitserfahrungen in den kultursoziologischen Arbeiten verfolgter und ausgegrenzter deutschsprachiger jüdischer Intellektueller des 20. Jahrhunderts für eine geschichtsdidaktische Theoriebildung nutzbar gemacht werden können. Hierbei sollen Kultur und Gesellschaft nicht als Gegensatzpaare, sondern als aufeinander bezogene Bereiche verstanden werden: Denn geht man wie u. a. Arnold Gehlen von der anthropologischen Voraussetzung aus, dass der Mensch »von Natur ein Kulturwesen« ist, und die Kultur die der Natur abgerungene Welt beinhaltet, dann sind – so Karl-Siegbert Rehberg – »alle Formen der Vergesellschaftung grundsätzlich als Kulturtatsachen zu verstehen«.4 Im Folgenden sollen drei aufeinander bezogene Theorieentwürfe von Klassikern der Kultursoziologie, die für die geschichtsdidaktische Theoriebildung besonders vielversprechend erscheinen, zunächst vorgestellt werden, und zwar : – Karl Mannheims Grundlage des sozialen Standorts; – Georg Simmels Figur des Fremden als der Wanderer; – die Figur des Fremden von Alfred Schütz, über die er den Prozess der sozialen Annäherung beschreibt. Am Anfang steht jeweils eine biografische Annäherung an die drei Soziologen. Es folgt dann die eigentliche Analyse, in der anhand der drei genannten Entwürfe nach Verbindungslinien zwischen den kultursoziologischen Ansätzen und der geschichtsdidaktischen Theoriebildung gesucht wird. Abschließend soll skizziert werden, wie eine durch diese kultursoziologischen Klassiker inspirierte Geschichtsdidaktik aussehen könnte. Eine Vorbemerkung zur möglichen Relevanz der Theorieentwürfe für die Geistes- und Sozialwissenschaften sei gestattet: Ist es überhaupt sinnvoll, sich mit soziologischen Klassikern zu befassen, die wie Mannheim und Schütz ihre Hauptwerke vor dem Zweiten Weltkrieg verfassten oder gar wie Simmel vor allem noch vor dem Ersten Weltkrieg wirkten? Meines Erachtens haben viele soziologische Klassiker das Potenzial, neu gelesen und entdeckt zu werden. Insbesondere der starke kultursoziologische Strang der deutschen Soziologie, für den die drei Genannten stehen, geriet durch die Zäsur der NS-Diktatur in Vergessenheit. Im Kaiserreich wurde Simmels akademische Karriere von Antisemiten über drei Jahrzehnte torpediert; Mannheim und Schütz wurden vom NS-Regime verfolgt. Mannheim lag erst in Ostermann/Karl-Siegbert Rehberg (Hrsg.): Die Shoah in Geschichte und Erinnerung. Perspektiven medialer Vermittlung in Italien und Deutschland. Bielefeld 2015, S. 89–106. 4 Karl-Siegbert Rehberg: Kultur versus Gesellschaft? Anmerkungen zu einer Streitfrage in der deutschen Soziologie. In: Stephan Moebius/Clemens Albrecht (Hrsg.): Kultur-Soziologie. Klassische Texte der neueren deutschen Kultursoziologie. Wiesbaden 2014, S. 367–396, hier S. 395.

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den 1960er-Jahren wieder in deutscher Sprache vor. Simmel und vor allen Dingen Schütz wurden in der kulturwissenschaftlichen Wende der 1970er-Jahre neu entdeckt. Für Schütz gilt, dass er erst dadurch zum Klassiker wurde. Alle drei haben darüber hinaus eine höchst aktuelle Bedeutung: Die Identitätsbildung der deutschsprachigen jüdischen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts ist durch die massive Zurückweisung seitens der Mehrheitsgesellschaft geprägt. Das daraus resultierende Gefühl des Ausgegrenztseins ist demjenigen ähnlich, das heute von nicht wenigen MigrantInnen in den (west)europäischen Einwanderungsgesellschaften empfunden wird und diese im Extremfall in die Isolierung und Radikalisierung treibt. Als erste Generation der Grenzgänger zwischen den Kulturen stehen die jüdischen Intellektuellen damit emblematisch für die gebrochenen transkulturellen Identitätskonstruktionen, wie sie für die globalisierte Moderne typisch geworden sind. Vor allem aber beeinflusste die Auseinandersetzung mit der erlittenen Fremdheitserfahrung ihr intellektuelles Schaffen in Kunst und Wissenschaft, nicht zuletzt in den Sozialwissenschaften. Allen drei auf diese Weise biografisch geprägten Ansätzen ist gemein, dass die jüdischen Intellektuellen als »Ausgegrenzte« – quasi erzwungen – ohne nationales Referenzsystem operieren, was ihre Werke mental »entgrenzt« und universal verständlich macht. Sie sind daher potenziell geeignet, eine transnational angelegte Geschichtsdidaktik bzw. historische Bildung zu begründen (nicht von ungefähr war Karl Mannheim im Jahr 1946 designierter Chairman der europäischen Sektion der UNESCO). Ein solches Wiederaufgreifen ihres Oeuvres erscheint vor allem deshalb besonders für die europäischen Migrationsgesellschaften vielversprechend, weil sich mithilfe dieser Theorieentwürfe geschichtsdidaktische Schlüsselbegriffe wie Geschichtsbewusstsein oder historisches Erzählen von ethnischen Denkmustern entkoppeln lassen.

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Die Konstruktion des Anderen: Die wissenssoziologische Perspektive der Seinsverbundenheit von Karl Mannheim

In Mannheims Wissenssoziologie geht es in erster Linie um die soziale Bedingtheit von Wissen. Letzteres ist demnach abhängig vom sozialen Standort. Mannheim nennt das die Seinsverbundenheit des Denkens. Unter Wissen versteht er recht allgemein Denken, Erkennen, Ideologien, aber auch Alltagswissen. Wissen ist relational, weil es abhängig von der Zugehörigkeit zu einer Kultur – beispielsweise auch einer Wissenschaftskultur –, zu Schichten, Konfessionen oder Generationslagen ist. Mannheim glaubte allerdings, eine Gruppe ausgemacht zu haben, die sich von ihrem sozialen Standort lösen könne, nämlich die

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»freischwebende Intelligenz«.5 Diese umfasse »geistige Berufe« und zeichne sich durch ihr besonderes, bildungsbedingtes Reflexionsvermögen aus. Auch hier gibt es biografische Bezüge: Die Überwindung der großen weltanschaulichen Gegensätze in der Weimarer Republik durch eine wissenssoziologische Synthese war das Ziel Mannheims, der als ungarischer Jude erst 1920 nach Deutschland gekommen war. In gewisser Weise verkörperte Mannheim, der als Immigrant eine Außenperspektive einnehmen konnte, selbst den Typus des »freischwebenden Intellektuellen«. Sein Versuch einer Synthese scheiterte mit Beginn der NS-Diktatur. 1933 emigrierte er nach Großbritannien. Mannheim geht von spezifischen Denkstilen aus, die sozialen Gruppen jeweils eigen sind und ihr Geschichtsbewusstsein prägen. »Historisches Denken« ist für ihn »die Art und Weise wie man sich Geschichte vorstellt und für andere darstellt«.6 Allerdings hätte der Wissenssoziologe jeden absoluten Wahrheitsanspruch einer Ideologie abgelehnt, wie dies 1967 der Leiter des Lehrstuhls Geschichte Deutschlands und der deutschen Arbeiterbewegung am Institut, der späteren Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED Walter Schmidt für den Staatssozialismus der DDR einforderte, weil, so Mannheim, keine politische Strömung für sich beanspruchen könne, »Träger einer transzendierenden Rationalität zu sein«.7 Hingegen stellte für Schmidt die Herausbildung eines proletarischen Geschichtsbewusstseins, verstanden als die kollektive historische Erfahrung der Arbeiterklasse, die emanzipatorische Aufgabe der DDR-Geschichtswissenschaft dar. Interessanterweise hat wohl Schmidt den Begriff des Geschichtsbewusstseins als Erster verwendet.8 Schmidt gibt folgende 5 Karl Mannheim: Wissenssoziologie. Neuwied/Berlin 1964, S. 455. 6 Ebd., S. 569. 7 David Kettler/Volker Meja: Karl Mannheim (1893–1947). In: Dirk Kaesler (Hrsg.): Klassiker der Soziologie. Bd. 1: Von Auguste Comte bis Alfred Schütz. 6. Aufl. Göttingen 2012, S. 314–334, hier S. 318. 8 Walter Schmidt: Geschichtswissenschaft und Geschichtsbewusstsein. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 2 (1967), S. 205–223, hier S. 209. Ziel sei es, in Gegenwart und Zukunft ein »sozialistisches Nationalbewusstsein« der Bevölkerung herauszubilden, ebd., S. 217. Walter Schmidt selbst ordnet die Genese der Begriffsbildung wie folgt ein: »In der DDR entstand das Problem ganz praktisch und elementar im Zusammenhang mit den Debatten um die angestrebte sozialistische Bewusstseinsentwicklung in der neuen Gesellschaft, die in der Mitte der 60er Jahre einsetzte. Zur gleichen Zeit nahm auch die Soziologie als selbständiger Zweig ihren Anfang. Da tauchten dann auch Staatsbewusstsein, Nationalbewusstsein etc. auf, und eben auch das Geschichtsbewusstsein. Was darunter verstanden wurde, ist ja aus den zahlreichen Artikel gut zu entnehmen. Aber niemand machte sich die Mühe – und dies bis heute – nach der Herkunft des Begriffs zu suchen. Zuerst habe ich ihn offensichtlich benutzt in dem Ihnen bekannten Artikel in ZfG 2/67, dann auch Joachim Streisand in ZfG 5/67. In der ZfG gab es eine bis 1969 anhaltende Diskussion darum. Ein gewisses Resümee brachte der Sammelband ›Geschichtsbewusstsein und sozialistische Gesellschaft‹, 1970. […] Ausgeschlossen ist es sicher nicht, dass er früher schon gebraucht wurde. Bei Marx scheint es diesen Begriff nicht gegeben zu haben, denn in meinem Sachregister gibt es zwar neben vielen

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Definition von Geschichtsbewusstsein: »Geschichtsbewußtsein ist ein immanenter Bestandteil des allgemeinen gesellschaftlichen Bewußtseins. Es stellt nicht nur eine bestimmte Form der Widerspiegelung eines bereits vollzogenen, der Vergangenheit angehörenden materiellen Lebensprozesses der Gesellschaft dar, sondern wirkt seinerseits selbst als aktiver Faktor auf die Gestaltung gegenwärtiger und zukünftiger gesellschaftlicher Verhältnisse ein.«9 Das Hervorbringen eines sozialistischen Geschichtsbewusstseins, so der ostdeutsche Historiker weiter, sei einerseits nötig, weil »das subjektive Erleben die wirklichen Tatbestände und geschichtlichen Abläufe oft verzerrt«.10 Andererseits müsse der falschen westdeutschen Geschichtsschreibung entgegengetreten werden, weshalb die marxistisch-leninistische Historiografie das »geschlossen wissenschaftliche« und »wahre Geschichtsbild der Arbeiterklasse« verbreiten müsse.11 Karl Mannheim hatte schon in seiner Schrift »Ideologie und Utopie« von 1931, die Relationalität von Denkstandorten betont, indem er den Kommunismus – in Konkurrenz mit Liberalismus und Konservatismus – lediglich als eine von drei großen Denkströmungen der Moderne betrachtete.12 Wie Schmidt geht aber auch Mannheim davon aus, dass sich Ideologien13 und Wissenschaft gegenseitig durchdringen. Mehr noch, er spricht Ideologien sogar Erkenntnis-

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anderen Geschichts-Kombinationen Geschichtsphilosophie, aber nicht Geschichtsbewusstsein. Hätte es ihn gegeben, wir hätten ihn – ebenso wie bei Lenin – sicher zitiert.« Schriftliche Auskunft von Walter Schmidt an den Verfasser vom 7. Januar 2016. Vgl. Walter Schmidt: Geschichtsbewusstsein und sozialistische Persönlichkeit bei der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft. In: Helmut Meier/ders. (Hrsg.): Geschichtsbewusstsein und sozialistische Gesellschaft. Beiträge zur Rolle der Geschichtswissenschaft, des Geschichtsunterrichts und der Geschichtspropaganda bei der Entwicklung des sozialistischen Bewusstseins. Berlin (Ost), S. 8–40 sowie Anmerkungen S. 218–221, hier besonders Anmerkung 3 auf S. 218. Für die Vermittlung des Kontaktes zu Walter Schmidt danke ich Dr. Marion Freund. Vgl. Schmidt (Anm. 8), S. 212. Hier erinnert Schmidt gar an die bekannte Definition von Jeismann. Hingegen scheint Jeismann selbst Walter Schmidt nicht näher rezipiert zu haben. In seinem Aufsatz über das Geschichtsbewusstsein führt er bezeichnenderweise »Helmut Meier und Walter Schwicht [sic!]« als Herausgeber des oben zitierten Sammelbands an, vgl. Karl-Ernst Jeismann: »Geschichtsbewusstsein«: In: ders.: Geschichte als Horizont der Gegenwart. Über den Zusammenhang von Vergangenheitsdeutung, Gegenwartsverständnis und Zukunftsperspektive. Paderborn 1985, S. 43–72 sowie Anmerkungen, S. 322–324, hier S. 323. Ebd., S. 213. Ebd., S. 218 und S. 216. Laut Luk#cs propagierte Mannheim einen »skeptischen Relativismus«, der ihn in die Nähe von Spengler rücke, vgl. David Kettler/Volker Meja/Nico Stehr : Karl Mannheim und die Ermutigung der Intelligenz. In: Zeitschrift für Soziologie, 2 (1990), S. 117–130, hier S. 122. Ideologie versteht Mannheim »im pejorativen Sinne als eigennützige Entstellung wahrer gesellschaftlicher Sachverhalte und Realitäten (Webers ›Wort als Waffen‹)«, vgl. David Kettler/Volker Meja: Karl Mannheim: Ideologie und Utopie. In: Dirk Kaesler/Ludgera Vogt (Hrsg.): Hauptwerke der Soziologie. Stuttgart 2000, S. 261–267, hier S. 262.

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charakter zu: »Jede Ideologie ist auf eigene Weise unvollkommen, beschränkt, perspektivisch einseitig und der Korrektur durch andere Perspektiven unterworfen, aber dennoch wissenserzeugend.«14

Inwieweit ist die Mannheim’sche Wissenssoziologie für die geschichtsdidaktische Theoriebildung relevant? Aus der wissenssoziologischen Auffassung der Relationalität ergibt sich zunächst einmal, dass das Denken der Geschichtsdidaktiker sowohl zeit- (aufgrund ihrer Generationenzugehörigkeit) als auch standortgebunden (in Bezug auf ihre soziale Stellung) ist. Ebenso ist jede Wissenschaftskultur mit ideologischen Strömungen in ihren historischen Wechselwirkungen verbunden, wenn auch in sublimierter Form.15 Jedoch sind Wissenschaftler als »freischwebende Intellektuelle« am ehesten in der Lage, sich diese Bindungen zu vergegenwärtigen. Die übergreifende wissenssoziologische Perspektive ist also immer selbstreflexiv und löst damit eine zentrale Forderung ein, die an die Geschichtsdidaktik gestellt wird. Ebenfalls lassen sich die nach Jörn Rüsen drei ästhetischen, politischen und kognitiven Dimensionen der Geschichtskultur16 mit Mannheim fassen, denn politische Urteile und ideologische Texte sind für Letzteren nur Oberflächenphänomene eines alle gesellschaftliche Bereiche umfassenden Denkstils.17 Darüber hinaus ist seine Konzeption an die strukturanalytischen Ansätze des Geschichtsbewusstseins anschlussfähig. Die drei Dimensionen der Erkenntnis Analyse, Sachurteil und Wertung von Karl-Ernst Jeismann ähneln der wissenssoziologischen Methode, was an seinem Begriff der »Denkformen« evident wird, der dem Terminus des Denkstils von Mannheim sehr nahe kommt. Auch die Standortgebundenheit hat Jeismann von Mannheim übernommen. Mehr noch: Jeismann fordert für die Geschichtsdidaktik explizit die Anwendung der wissenssoziologischen Methode: »Wir ziehen […] die didaktische Konsequenz: daß eine angemessene, begründbare Auseinandersetzung mit historischen Aussagen als Elementen von Geschichtsbewußtsein, die Entwicklung der Fähigkeit voraussetzt, dieses Miteinander von Analyse und Stellungnahme zu er14 Vgl. Kettler/Meja (Anm. 7), S. 316. 15 Vgl. Kettler/Meja (Anm. 13), S. 264. 16 Jörn Rüsen: Historisches Erzählen. In: Handbuch der Geschichtsdidaktik. Seelze-Velber 1997, S. 57–63, hier S. 57. 17 Dies geht aus dem offenen Begriff des Weltwollens, der Wirtschaftswollen, Denkwollen, Kunstwollen etc. umfasst, hervor, vgl. Mannheim (Anm. 5), S. 381. Zum Beispiel kann eine Generationeneinheit durch eine Idee (z. B. die Idee der Freiheit für die Liberalen im 19. Jh.) oder gar durch ein Kunstwerk geprägt werden, ebd., S. 545.

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kennen und zu problematisieren – eine Fähigkeit, die keineswegs nur im Raum der Wissenssoziologie, der Ideologiekritik […] zu üben ist, sondern […] auch auf einfachere Aussagen über Vergangenheit, wie sie der Geschichtsunterricht vorstellen kann, anwendbar wird.«18 So überrascht es nicht, dass mit dem Mannheim’schen Begriff der Generationseinheit sich überdies Jeismanns zeithistorische Fassung von Geschichtsbewusstsein als Produkt von Vergangenheitsdeutung, Gegenwartsverständnis und Zukunftserwartung individuell und kollektiv fassen lässt. Hingegen weist der strukturanalytische Ansatz von HansJürgen Pandel der Gesellschaft eine geringere Bedeutung zu, als dies bei Mannheim der Fall ist.19 Eine interessante Lösung bietet das wissenssoziologische Projekt hinsichtlich der normativen Begründung des Geschichtsbewusstseins, für die Jeismann »Vernunft und Humanität« als Grundlagen vorgeschlagen hat.20 Denn der als Rationalisierungsstrategie verstandenen Wissenssoziologie kommt als »Organon«, so Mannheim, die didaktische Aufgabe zu, in einer Synthese die in den Ideologien enthaltenen Erkenntnisse – im Rahmen eines pluralistischen Wettbewerbs – zusammenzuführen und deren irrationalen Anteile21 herauszufiltern.22 Für die Geschichtsdidaktik bedeutet dies ein de- sowie zugleich konstruktivistisches Vorgehen mit den Instrumenten der Kontroversität und der Multiperspektivität, wie sie Rüsen in seiner funktionalen Typologie des Erzählens einfordert.23 Bezieht sich Rüsen auf Mannheim? Häufig zitiert er in den betreffenden Passagen den Bonner katholischen Philosophen und Geschichtstheoretiker Hans Michael Baumgartner, hingegen findet Mannheim keine Erwähnung.24 Aber implizit ist die Parallelität der Argumentation doch frappie18 Jeismann (Anm. 9), S. 61f. Der Begriff der Denkformen findet sich auf Seite 67, der der Standortgebundenheit auf Seite 59. 19 Geschichtsbewusstsein basiert nach Pandel – folgt man zumindest der schematischen Zusammenfassung von Dietmar von Reeken – sowohl auf Gesellschaftlichkeit als auch auf Geschichtlichkeit. Für Mannheim wäre entsprechend der kultursoziologischen Perspektive auch die Geschichtlichkeit eine Form von Vergesellschaftung und damit als eine Kulturtatsache sozial bedingt, vgl. Bernd Schönemann: Geschichtsbewusstsein – Theorie. In: Michele Barricelli/Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts, Bd. 1. Schwalbach/Ts. 2012, S. 98–111, hier S. 105. 20 Ebd., S. 110. 21 Laut Mannheim ist das liberale Denken tendenziell am rationalsten, während der Konservatismus auf dem Primat des Irrationalen, d. h. in seinem weltanschaulichen Bezug (z. B. kapitalistische Buchführung), bestehe. Im Sozialismus sei das Irrationale hingegen das klassenmäßig gebundene Interesse, vgl. Mannheim (Anm. 5), S. 598–600. 22 Vgl. Kettler/Meja/Stehr (Anm. 12), S. 128. 23 Jörn Rüsen: Geschichtsdidaktische Konsequenzen aus einer erzähltheoretischen Historik. In: Siegfried Quandt/Hans Süssmuth (Hrsg.): Historisches Erzählen. Göttingen 1982, S. 129–170, hier S. 163. 24 Sehr wahrscheinlich erfolgte die wissenssoziologische Rezeption Rüsens über Baumgartner durch den – neben Mannheim – zweiten großen klassischen Wissenssoziologen, den

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rend, denn nach Rüsen »ist Geschichte als Wissenschaft die Ausschöpfung der Rationalitätschancen des historischen Erzählens in der Form methodischer Regeln«.25 Dies ermögliche einen kontinuierlichen Erkenntnisfortschritt.26 Auch den seltenen Mannheim’schen Begriff des Organons verwendet er : »Die Geschichtsdidaktik […] bedient sich der Historie […] als eines Organons zur Klärung ihres Gegenstandes«, formuliert Rüsen.27 Die Entwicklung von narrativer Kompetenz sei das Ziel historischen Lernens als Fähigkeit zu vernünftigem historischem Erzählen.28 Mannheim und Rüsen – Letzterer spricht von »Vernunfts- und Rationalitätschancen« des historischen Lernens29 – betrachten die Theorien ihrer Disziplin als diskursives Erkenntnismittel.

2.

Georg Simmel »Exkurs über den Fremden« – Die Figur des Wanderers

Der 1858 geborene Simmel stammte aus einer von Breslau nach Berlin übergesiedelten jüdischen Familie. Sein Vater gründete die Schokoladenfabrik »Felix und Sarotti«.30 Bis 1914 lehrte er als Privatdozent an der Universität. Erst dann erhielt er an der Universität Straßburg einen Lehrstuhl für Philosophie. Im bekanntesten Text seines Gesamtwerkes, dem »Exkurs über den Fremden«31 aus dem Jahre 1908, charakterisiert Georg Simmel das Fremdsein als »Wechselwirkungsform« zwischen einem Fremden und den Einheimischen. Simmel sagt: »Der Fremde ist nicht der Wandernde, der heute kommt und morgen geht, sondern der, der heute kommt und morgen bleibt.«32 Der Fremde ist aber nicht ein völlig Außenstehender, so Simmel, sondern ein Element der

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ebenfalls wie Baumgartner katholisch geprägten Philosophen und Soziologen Max Scheler, der bis zu seinem Tod im Jahre 1927 mit seiner Lehre der Wissensformen die Wissenssoziologie begründet hatte, vgl. Max Scheler : Probleme einer Soziologie des Wissens. München 1924. Jörn Rüsen (Anm. 23), S. 138 Ebd., S. 153. Ebd., S. 156. Ebd., S. 155f. Ebd., S. 153. Der Sarotti-Mohr wurde – durchaus passend zur Simmel’schen Konzeption – in den 1960erJahren als Inbegriff eines rassistisch, in infantile Niedlichkeit typisierten Fremden kritisiert, vgl. Rita Gudermann/Bernhard Wulff: Der Sarotti-Mohr. Die bewegte Geschichte einer Werbefigur. Berlin 2004, S. 7. Georg Simmel: Exkurs über den Fremden. In: Almut Loycke (Hrsg.): Der Gast, der bleibt. Dimensionen von Georg Simmels Analyse des Fremdseins. Frankfurt a. M. 1992 u. a., S. 9–16, hier S. 9. Erstmals in ders.: Soziologie. Untersuchung über die Formen der Vergesellschaftung. Leipzig 1908, S. 509–512. Ebd.

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Gruppe selbst wie »die Armen und die mannigfachen ›inneren Feinde‹«.33 Der Fremde ist Teil einer städtischen oder dörflichen Gemeinschaft, ohne wirklich dazuzugehören. Zwar hat er häufige soziale Kontakte, aber keine verwandtschaftlichen Beziehungen. Nach einer ersten Euphorie fühlt er sich umso fremder. Da er zugleich fern und nah, gleichgültig und engagiert ist, erlaubt ihm seine Distanz, Simmel zufolge, eine besondere Objektivität. Als Beispiel nennt Simmel die Praxis norditalienischer Renaissance-Städte, Richter von außen zu berufen, weil sie keine Eigen- und Parteiinteressen wie der ansässige Stadtadel hatten. Es ist dieselbe Unvoreingenommenheit, die auch dem Mannheim’schen »freischwebenden Intellektuellen« zu eigen ist. Diese Objektivität, die Distanz gegenüber den besonderen Loyalitäten innerhalb einer Gesellschaft, mache ihn aber auch verdächtig. Wenn es zu Unruhen komme, so werde der Fremde als erster der Verschwörung bezichtigt. Das klassische Beispiel des Fremden sind für Simmel explizit die europäischen Juden!34 Exemplarisch für den Fremden ist laut Simmel der Händler, der in einen Wirtschaftsraum tritt, in dem die Positionen eigentlich schon besetzt sind.35 Das Simmel’sche Merkmal des Fremden ist der »Gast, der bleibt«. Es wird jedoch in Simmels Exkurs deutlich, dass er sich letztlich nicht auf das Ausland bezieht, sondern auf seine eigene Fremdheitserfahrung im Kaiserreich. Dem im bornierten akademischen Milieu Berlins verleumdeten und angefeindeten Simmel wurde selbst als Angehöriger einer assimilierten, christlich getauften jüdischen Familie eine ordentliche Universitätsprofessur über Jahrzehnte verweigert. Die Gründe waren mehr als fadenscheinig: Simmels assoziative Methode galt als jüdisches Wesensmerkmal. Seine viel besuchten, wortgewaltigen Vorlesungen seien ein »Tummelplatz der Halbwissenschaft«.36 Die von Simmel mitbegründete moderne Soziologie wurde gänzlich verworfen, weil sie, so der Treitschke-Schüler Dietrich Schäfer, die Gesellschaft an die Stelle von Staat und Kirche setze. Besonders missfiel Schäfer das Publikum, das Simmel mit seinen Vorlesungen anzog: »Die Damen bilden ein […] starkes Kontingent. Im Übrigen ist die orientalische Welt, die seßhaft gewordene und die allsemesterlich aus den östlichen Ländern zuströmende, überaus stark vorhanden.«37 Simmel sei »Is-

33 Ebd., S. 10. 34 Ebd., S. 11. 35 Almut Loycke: Der Gast, der bleibt. Dimensionen von Georg Simmels Analyse des Fremdseins. In: dies. (Anm. 31), S. 103–123, hier S. 111. 36 Claudius Härpfer : Georg Simmel und die Entstehung der Soziologie in Deutschland. Eine netzwerksoziologische Studie. Wiesbaden 2014, S. 149. 37 Brief Schäfers an das badische Kultusministerium vom 26. Februar 1908, zitiert nach Kurt Gassen/Michael Landmann (Hrsg.): Buch des Dankes an Georg Simmel. Briefe, Erinnerungen, Bibliographie zu seinem 100. Geburtstag am 1. März 1958, Berlin 1958, S. 26f.

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raelit durch und durch«.38 Mit diesen Äußerungen verhinderte Schäfer die u. a. von Max Weber forcierte Berufung Simmels nach Heidelberg. Der solchermaßen als Jude ausgegrenzte Simmel entwickelte als »objektiver Fremder« ein feines Gespür für die bestenfalls nationalistischen, schlimmstenfalls vulgärdarwinistischen und deutschvölkischen Ressentiments der Eliten des Kaiserreichs.

Welche Bedeutung könnten Georg Simmel und seiner Figur des Fremden für die Geschichtsdidaktik zukommen?

Über die Figur des Fremden lassen sich Ausgrenzungsprozesse der Mehrheitsgesellschaft und Alteritätserfahrungen der MigrantInnen vor allem auf Mikround Mesoebene erfassen. Nicht von ungefähr ist die zentrale Kategorie seiner formalen Soziologie – präziser wäre die Bezeichnung »Soziologie der (in der Gesellschaft vorhandenen ritualisierten) Formen« – die Wechselwirkung, aus der heute der Begriff der Interaktion geworden ist. Simmels formale Soziologie beruht eben gerade nicht auf einer holistischen Vorstellung von Gesellschaft (etwa als klassenübergreifende Gesellschaft bei Marx oder als kollektive Moralordnung bei Durkheim), sondern will die »Wechselwirkungen zwischen Individuen sichtbar machen, die inoffiziellen Formungen, aus denen ein dauerhafter Zusammenhang entsteht«.39 Diese dynamischen Prozesse nennt er Vergesellschaftung, wozu er konstante Formen wie Über- und Unterordnung oder Herrschaft zählt. Martin Lücke greift in seinem Aufsatz über »Diversität und Intersektionalität als Konzepte der Geschichtsdidaktik« genau den Simmel’schen Ansatz auf: »Hier geht es also nicht um die Herrschafts-Makroebene einer übergeordneten Sozialstruktur, sondern darum wie Individuen durch ihre Interaktionen ihre […] Identitäten im Spannungsfeld von etabliertem Wissen […] herstellen.«40 Darüber hinaus kann die Distanz zur eigenen Gesellschaft und die damit verbundene Objektivität in der Figur des Fremden bei Simmel – oder des »freischwebenden Intellektuellen« bei Mannheim – als Leitbild fungieren, um sich als Wissenschaftler selbstreflexiv mit der eigenen kulturellen und sozialen Prägung auseinanderzusetzen. Im 21. Jahrhundert sind damit zwar sicherlich 38 Wolfgang Lepenies: Georg Simmel. Grundfragen der Soziologie. In: Die Zeit, Nr. 35 vom 26. August 1983, S. 34. 39 Ebd. sowie Uwe Krähnke: Georg Simmel (1858–1918). In: Dirk Kaesler (Hrsg.): Klassiker der Soziologie. Bd. 1, S. 147–164, hier S. 153. 40 Martin Lücke: Diversität und Intersektionalität als Konzepte der Geschichtsdidaktik. In: Michele Barricelli/ders. (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts. Bd. 1, Schwalbach/Ts. 2012, S. 136–146, hier S. 141.

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weniger die großen Ideologien wie Konservatismus, Liberalismus und Sozialismus gemeint, die viel von ihrer Strahlkraft eingebüßt haben, wohl aber die arrivierte Position in der Gesellschaft. Das, was Ralf Dahrendorf für die Soziologie zugespitzt formulierte, ließe sich zumindest metaphorisch auf die Geschichtsdidaktik als Desideratum übertragen: »Die Soziologie ist immer unbequem. […] Da alle Soziologen sozial, nämlich in ihrer peripheren sozialen Stellung, ein wenig wie Juden sein müssen, werden so viele Juden Soziologen; hier sind sie gleichsam zu Hause bei den anderen, die auch nirgends zu Hause sind.«41 Diesen objektiven Blick fordert höchstwahrscheinlich ebenso Hans-Jürgen Pandel ein, wenn er kritisiert, die Geschichtsdidaktik orientiere sich unter Vernachlässigung der Randgruppen einseitig an der bürgerlichen Mittelschicht42, der – so lässt sich vermuten – die meisten Geschichtsdidaktiker entstammen und die überdies ganz mehrheitlich biodeutscher Herkunft sein dürften. Zwingend ergibt sich daraus die Konsequenz nach mehr lebensweltlicher Orientierung, die einhergeht mit der dringenden Notwendigkeit, so Joachim Rohlfes, sich von ethnischen Konzepten zugunsten von interkulturellem Lernen zu lösen, um der Realität der multiethnischen Einwanderungsgesellschaft mit ihrem stetig wachsenden Anteil von SchülerInnen mit Migrationshintergrund Rechnung zu tragen.43

3.

Alfred Schütz: Der Fremde. – Der Prozess der sozialen Annäherung

Weniger bekannt als Simmels phänomenologischer Exkurs ist die Studie, die Alfred Schütz über den Fremden 1944 im amerikanischen Exil verfasste, wohin er als Jude 1938 nach dem Anschluss Österreichs an Hitler-Deutschland emigrierte. Schütz, 1899 in Wien geboren, nahm 1944 die US-amerikanische Staatsbürgerschaft an. Er kehrte nicht nach Europa zurück und starb 1959 in New York. Laut Schütz ist ein Fremder »ein Erwachsener unserer Zeit und Zivilisation, der von der Gruppe, welcher er sich nähert, dauerhaft akzeptiert oder zumindest geduldet werden möchte.«44 Als hervorragendstes Beispiel nennt er den Immigranten. 41 Ralf Dahrendorft: Soziologie und Nationalsozialismus. In: Andreas Flitner (Hrsg.): Deutsches Geistesleben und Nationalsozialismus. Tübingen 1965, S. 108–124, hier S. 114f. 42 Hans-Jürgen Pandel: Geschichtsdidaktik. Eine Theorie für die Praxis. Schwalbach 2013, S. 7. 43 Joachim Rohlfes: Geschichte und ihre Didaktik. Göttingen 2005, S. 401. 44 Alfred Schütz: Der Fremde: Ein sozialpsychologischer Versuch. In: ders.: Gesammelte Aufsätze: Bd. 2: Studien zur soziologischen Theorie. Den Haag 1972, S. 53–69, hier S. 53.

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Schütz’ Ziel ist es nicht, den Prozess der Assimilation und sozialen Anpassung zu beschreiben, sondern die vorangehende Situation der Annäherung.45 Der Handelnde ordnet die Welt nach der Relevanz seiner Handlungen, wobei er an jenem Ausschnitt besonders interessiert ist, den er für sein Alltagsleben benötigt. Er will deshalb nur ein graduelles Wissen über die relevanten Elemente erwerben. Das inkohärente Wissen dieser Alltagslogik stützt sich, so Schütz, auf das Denken-wie-üblich. Darunter versteht er das »fix-fertige standardisierte Schema kultureller und zivilisatorischer Muster, die ihm seine Vorfahren, Lehrer und Autoritäten als Anleitung für die Bewältigung aller lebensweltlichen Situationen übermittelt haben«.46 Ausgehend von diesem Muster stellt der Fremde die Kultur- und Zivilisationsmuster des anderen Landes infrage. Denn der Fremde steht nach Schütz vor dem Problem, dass sein eigenes, auf den Lebensstil seiner Heimat ausgerichtetes Relevanzsystem auf die für ihn fremde Kultur nicht anwendbar ist. Auch wenn er sich mit deren Geschichte befasst habe, sei sie doch kein Bestandteil seiner Identität.47 Bestenfalls könne er die Gegenwart und die Zukunft des Gastlandes teilen. Auch hier ist der biografische Bezug, den Schütz selbst zur Figur des Fremden hatte, offenkundig, denn er beschreibt seine ambivalenten Erfahrungen in der Emigration in den USA. Laut Schütz verunsichert die missglückte Anwendung seines alten Orientierungsschemas den Fremden und führt zu einer Krisis. Das Entstehen einer Krisis ist laut Schütz durch den »Umsturz aller Relevanzsysteme« gegeben.48 Die Wiener Soziologin Roswitha Breckner betont, dass bei Schütz der Fremde irreversibel verunsichert wird.49 Wie können MigrantInnen auf einen solchen erlittenen Kulturschock reagieren? In diesem Zusammenhang 45 46 47 48

Ebd., S. 54. Ebd., S. 57. Ebd., S. 59. Das Phänomen der Krise ist durch das fünfstufige Modell des Kulturschocks des US-Anthropologen Kalvero Oberg weiter präzisiert worden, vgl. Kalervo Oberg: Cultural Shock: Adjustment to New Cultural Environments. In: Practical Anthropology 7/4 (1960), S. 177–182. Die erste Phase ist diejenige der Euphorie, in der die neue Kultur nicht infrage gestellt wird. Die zweite ist die Entfremdungsphase, in der es zu ersten Kontaktschwierigkeiten kommt. In der dritten Phase eskaliert die Situation. Die Schuld wird der fremden Kultur gegeben. Die vierte Phase ist die der Missverständnisse. Konflikte werden jetzt auf kulturelle Unterschiede zurückgeführt. In der fünften Phase findet eine Verständigung statt, weil die fremde Kultur nun verstanden und wertgeschätzt wird. Die fünfte ist die Phase der Verständigung. 49 Roswitha Breckner : Migrationserfahrung – Fremdheit – Biografie. Zum Umgang mit polarisierten Welten in Ost-West-Europa. Wiesbaden 2005, S. 74. Schütz gehe noch von scharf getrennten Zivilisations- und Kulturmustern aus und stelle die Frage der heutigen Zwischenwelten nicht. Außerdem beziehe sich Schütz lediglich auf das Phänomen der erzwungenen Abkehr von der eigenen Kultur, also auf Zwangsmigration. Das Konzept von Schütz sei daher nicht auf die freiwillige Migration übertragbar, die Breckner untersucht, ebd. S. 76.

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ist auf eine Form der Loyalität hinzuweisen, der weder Simmel noch Schütz Beachtung geschenkt haben. Beide sind der Auffassung, dass der Fremde eine zweifelhafte Loyalität besitze bzw. sie ihm zumindest unterstellt werde. Sie blenden aber das Phänomen der Überloyalität aus, wie sie bei Einwanderern oder Konvertiten immer wieder auftritt.50 Ein historisches Beispiel aus der Zeit des Ersten Weltkrieges wäre der deutsche Soziologe Robert Michels, der, weil ihm als Sozialdemokrat in Preußen eine akademische Laufbahn verwehrt wurde, die italienische Staatsangehörigkeit annahm und sich in den 20er-Jahren zu einem glühenden Mussolini-Anhänger und Verteidiger der Idee des Faschismus entwickelte.51 Der Grund für die Überloyalität der Konvertiten ist ebenso in deren schwankender Identitätskonstruktion zu suchen. Und auch die phänomenologische Erklärung des Schütz-Schülers Thomas Luckmann kann für die Erklärung von religiösem Extremismus herangezogen werden. Demnach hat die Religion, Luckmann spricht von »Heiligem Kosmos«52, in der modernen Industriegesellschaft ihre frühere Dominanz verloren und wird unsichtbar, indem sie soziale Formen annimmt. Die Privatisierung des Religiösen bringt eine Schrumpfung der Transzendenzen mit sich: »Ins Zentrum des Heiligen Kosmos moderner Gesellschaften rücken zunehmend Themen, die eigentlich zu den mittleren und kleineren Transzendenzen gehören:«53 Religiöse Bemühungen dienten nun der persönlichen Identität oder der Selbstverwirklichung. Damit lässt sich die Motivation des extremen Fanatismus der IS-Kämpfer exakt fassen, die einerseits zur Selbstdarstellung ihre angeblich im Namen des Islam verübten Morde auf Youtube posten, andererseits über nur sehr geringe Koran-Kenntnisse verfügen.

Worin könnte die Relevanz der Relevanzsysteme von Alfred Schütz für die Geschichtsdidaktik bestehen? Der sozialpsychologische Versuch über den Fremden, wie Schütz seine Ausführungen betitelt, trägt heute schon dazu bei, geschichtsdidaktische Aussagen 50 Man denke, um ein aktuelles Beispiel aufzugreifen, an deutsche militante Konvertiten zum Islam, die – wie der Hassprediger Pierre Vogel – als Salafisten eine besonders rigide Koranexegese betreiben. 51 Erhard Stölting: Robert Michels (1876–1936). In: Dirk Kaesler (Hrsg.): Klassiker der Soziologie. Bd. 1: Von Auguste Comte bis Alfred Schütz. 6. Aufl. Göttingen 2012, S. 247–268. 52 Der »Heilige Kosmos« findet seinen Ausdruck in Symbolen, Ikonen und Ritualen, vgl. Hubert Knoblauch: Thomas Luckmann. In: Dirk Kaesler (Hrsg.): Aktuelle Theorien der Soziologie. Von Shmuel N. Eisenstadt bis zur Postmoderne. München 2005, S. 127–146, hier S. 134f. 53 Ebd., S. 137.

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über Vergesellschaftung zu präzisieren. Hierzu sei noch einmal ausführlicher auf das Konzept der historischen Identität von Schütz verwiesen, der schreibt: »Sicherlich hat auch vom Standpunkt des Fremden aus die Kultur der Gruppe, welcher er sich nähert, ihre besondere Geschichte, und diese Geschichte ist ihm sogar zugänglich. Aber sie wurde niemals ein integraler Teil seiner eigenen Biographie, wie es mit der Geschichte seiner Heimatgruppe der Fall war. […] Gräber und Erinnerungen können weder übertragen noch erobert werden. Bestenfalls ist er willens und fähig die Gegenwart und die Zukunft mit der Gruppe, welcher er sich nähert, […] zu teilen. Er bleibt jedoch unter allen Umständen von den Erfahrungen ihrer Vergangenheit ausgeschlossen. Vom Standpunkt der Gruppe aus, welcher er sich nähert, ist er ein Mensch ohne Geschichte.«54 Daraus ergibt sich geradezu ein geschichtsdidaktisches Handlungsprogramm für Einwanderungsgesellschaften. Jan Motte und Rainer Ohliger, Herausgeber des Sammelbandes »Geschichte und Gedächtnis in der Einwanderungsgesellschaft«, leiten aus der Konzeption des »Fremden« von Schütz die Forderung ab, die »divided memories« der verschiedenen nationalen Gruppen in gemeinsame »shared memories« zu überführen.55 Die Narrative der Migrationskulturen sollten über Denkmäler, in Museen und in Schulbüchern Eingang finden in die Alltagswelt56, um so die bislang in ihren Augen noch zu nationalzentrierte deutsche Geschichtskultur zu erweitern. Auch Jürgen Bolten, Lehrstuhlinhaber für interkulturelle Wirtschaftskommunikation sieht die Ergänzung des »Geschichtsunterrichts um fremdkulturelle Perspektiven als zentrales Medium der Lehrerfortbildung im Bereich des Interkulturellen Lernens«.57 Ebenfalls korrespondiert Rüsens funktionale Typologie des historischen Erzählens mit Schütz. Dies wird deutlich in Rüsens Aussage, Geschichte sei ein Sinngebilde des menschlichen Bewusstseins. Bei der Form einer historischen Erzählung »handelt es sich um den Vorgang, in dem sich das menschliche Be54 Vgl. Schütz (Anm. 44), S. 59f. 55 Jan Motte/Rainer Ohliger: Einwanderung – Geschichte – Erinnerung. Auf den Spuren geteilter Erinnerungen. In: dies. (Hrsg.): Geschichte und Gedächtnis in der Einwanderungsgesellschaft. Migration zwischen historischer Rekonstruktion und Erinnerungspolitik. Essen 2004, S. 17–49, S. 47. Vgl. auch Johannes Meyer-Hamme: Historische Identitäten in einer kulturell heterogenen Gesellschaft. In: Michele Barricelli/Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts, Bd. 1. Schwalbach/Ts. 2012, S. 89–97, hier S. 95. 56 Wie bilden sich nach Schütz aus dem menschlichen Zusammenleben soziale Ordnungen heraus? Die kulturell vorgeformte Alltagswelt ist keine Privat-, sondern eine »intersubjektive Kulturwelt«, weil sie aus einem Vorrat früherer, in der Gesellschaft gemachter Welterfahrungen besteht. In ihr ermitteln die Individuen einen gemeinsamen Nenner durch Perspektiventausch, der über die Annäherung ihrer Relevanzstrukturen erreicht wird (die Relevanzstrukturen werden kongruent). Vgl. Volker Kruse: Geschichte der Soziologie. Konstanz 2008, S. 300f. 57 Jürgen Bolten: Interkulturelle Kompetenz. Erfurt 2012, S. 164.

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wusstsein als Geschichtsbewusstsein und zugleich ›Geschichte‹ als Inhalt dieses Bewusstseins konstituieren. Es handelt sich um das lebensweltliche Phänomen der Orientierung handelnder und leidender Menschen in der Zeit. Menschen können nur handeln, wenn sie über Orientierungen ihres Handelns verfügen, die ihre handlungsleitenden Erfahrungen so aufeinander abstimmen, daß die Handelnden jeweils wissen können, was sie tun.«58 Dies entspricht vollständig dem sinnhaften Aufbau der Sozialwelt nach Schütz, der aus dem interaktiven Prozess von Selbstverstehen und Fremdverstehen resultiert59, in dem der Perspektiventausch die Voraussetzung der Annäherung der verschiedenen Relevanzstrukturen ist.60

Drei Thesen zur Berechtigung einer kultursoziologischen Orientierung der Geschichtsdidaktik Erstens kann bestätigt werden, dass die 1933 ins Exil gezwungene Kultursoziologie seit dem »cultural turn« in den 1970er-Jahren in den bundesdeutschen Geistes- und Sozialwissenschaften nicht zuletzt durch die US-amerikanische Soziologie breit rezipiert wurde.61 Dennoch erfolgte diese Rezeption nur selektiv. In diesem Zusammenhang stellt Hans-Jürgen Pandel fest, dass »die Geschichtsdidaktik die gesellschaftlich-soziale Lebenswelt aus den Augen verlo58 Vgl. Rüsen (Anm. 23), S. 133f. 59 Martin Endreß: Alfred Schütz (1899–1959). In: Klassiker der Soziologie. Bd. 1, S. 354–373, hier S. 358. Die Individuen agieren in der Sozialwelt, die die Anderen mit einschließt. In der Begrifflichkeit von Schütz wäre historisches Erzählen eine subjektive Sinnbildung durch den Bezug auf seine Vor- und seine Folgewelt. Beide, die Folgewelt der Nachfahren und die Vorwelt »als der geschichtlich bereits vergangenen Sozialwelt der Vorfahren«, bilden zusammen mit der Umwelt und der Mitwelt die Lebenswelt (Sozialwelt), ebd., S. 362. 60 Vgl. Kruse (Anm. 56), S. 301. 61 Schon 1892 hatte Simmel einen Ruf auf einen soziologischen Lehrstuhl an der Northwestern University in Chicago erhalten. Seit den 20er-Jahren ist sein Text über den Fremden als »The Stranger« in der amerikanischen Soziologie zu einem wissenschaftlichen Klassiker geworden. Robert E. Park übernahm die auf Alltagsphänomene basierende Betrachtungsweise seines Lehrers für die »Chicago School of Sociology«. Robert K. Merton entwickelte daraus seine Rollentheorie. Simmels Kulturtheorie hatte Einfluss auf seine Schüler wie Ernst Block, Georg Luk#cs oder Siegfried Krakauer. Eine von Otthein Rammstedt herausgegebene Simmel-Ausgabe in 24 Bänden erschien bis 2008. Dank Zygmunt Baumann und David Frisby gilt er gar als postmoderner Denker, vgl. Krähnke (Anm. 39), S. 158–160. Karl Mannheim wurde durch Robert Merton in den USA schon während des Krieges zum Klassiker. Alfred Schütz’ Phänomenologie ist seit der 1969 erschienenen Übersetzung der Neubegründung der Wissenssoziologie von Peter Berger und Thomas Luckmann »Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit« und durch die Veröffentlichung seiner »Gesammelten Aufsätze« 1972 ein Klassiker. Seine Theorien wurden von zahlreichen Soziologen, darunter Bourdieu, Goffman, Habermas, Luhmann etc., aufgegriffen, vgl. Endreß (Anm. 59), S. 368.

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ren« habe und als Kulturwissenschaft wieder die sozialen Tatsachen der Gesellschaft zur Kenntnis nehmen müsse.62 Sicher kann die Kultursoziologie die Geschichtsdidaktik darin unterstützen, die Verbindung von Geschichtsbewusstsein und Gesellschaft noch systematischer zu erfassen. Denn während die wissenssoziologische Analyse nach Mannheim ihr Augenmerk auf die geschichtskulturelle Makroebene – man könnte auch sagen auf das kollektive Geschichtsbewusstsein – legt, sind die individuellen Ansätze von Simmel und Schütz für die Herausbildung von individuellem Geschichtsbewusstsein auf der Mikro- und Mesoebene erkenntnisleitend. Ein solch kombinierter Ansatz wird nicht zuletzt von Jörn Rüsen in seiner funktionalen Typologie des historischen Erzählens implizit vertreten. Einerseits will Rüsen wie Mannheim und Jeismann über die Reflexion von Standpunkten sowie von Erfahrungs- und Bedeutungsgehalten eine diskursiv ermittelte Synthese und Perspektivenerweiterung erzielen.63 Andererseits hält es Rüsen unter ausdrücklichem Bezug auf den Schütz-Schüler Thomas Luckmann für nötig, dass sich die angesprochene Synthese jeweils als subjektiver Sinnbildungsprozess des historischen Erzählens vollzieht. Der Ansatz Rüsens, der von historisch sinnhaft handelnden Menschen ausgeht, ist streng kulturwissenschaftlich im Sinne von Simmel und Schütz. Desgleichen sind große Teile seines Ansatzes mit Mannheims Konzept kompatibel. Dementsprechend wäre es ein lohnender Beitrag zur geschichtsdidaktischen Theoriebildung, Rüsen mit Jeismanns auf Mannheim basierenden Ausführungen zu verbinden und zu systematisieren. Denn damit ließe sich einerseits der von Jeismann geprägte zentrale geschichtsdidaktische Begriff des Geschichtsbewusstseins weiter präzisieren, andererseits eine Unschärfe in Mannheims Wissenssoziologie überwinden, die sich bei Jeismann wiederfindet.64 Aus Mannheims wissenssoziologischer Perspektive ist weiter der soziale Standort von Denkstilen noch vor allem auf Gruppen bezogen und weniger auf die einzelnen Akteure. Über die Figur des Fremden bei Georg Simmel wird die individuelle Außenseiterposition der Fremden deutlich, in der sich die erlittene Ablehnung durch die deutsche Gesellschaft niederschlug, die Simmel aufgrund seiner jüdischen Wurzeln erfuhr. Schütz und seine Schule analysieren die Phasen des

62 Vgl. Pandel (Anm. 42), S. 6. 63 Vgl. Rüsen (Anm. 23), S. 138f. 64 Ebd., S. 155 und S. 147. Daher kritisiert Rüsen an Jeismanns strukturanalytischem Ansatz, dass dort ausgeblendet werde, dass Geschichtsbewusstsein eine »Tätigkeit des menschlichen Subjekts« darstelle, ebd. S. 146. Tatsächlich geht Jeismann sehr wohl auf den individuellen »Bewusstseinsbildungsprozess« ein, ohne jedoch dieses Problem, darin hat Rüsen recht, systematisch anzugehen, vgl. Jeismann (Anm. 9).

Wie erfahrene Ausgrenzung transnationales Geschichtsbewusstsein schuf

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subjektiven Integrationsprozesses und dessen Auswirkungen auf ihre soziale und historische Identität. Für die Geschichtsdidaktik lassen sich damit zweitens Phänomene wie die objektive (soziale wie kulturelle) oder auch nur subjektiv empfundene Ausgrenzung von Einwanderern, Xenophobie und Rassismus sowie als deren Folge die mögliche Radikalisierung von Migranten kultur- und wissenssoziologisch nicht nur konziser fassen, sondern auch therapieren, gerade durch ein diskursives, an der Lebenswelt orientiertes interkulturelles Lernen. Ein historisches Lernziel bietet etwa Jürgen Boltens Definition des Kulturwissens an, wonach ein »Wissen primär nicht über kulturelle Fakten und ›Normen‹ als vielmehr über deren Hintergründe und die Systemzusammenhänge der eigenen und der fremden Lebenswelt« erfahrbar ist.65 Vor allem ergibt sich drittens aus den Grenzerfahrungen der jüdischen Intellektuellen im Deutschland der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eindringlich die Ermutigung zu wissenschaftlicher Freiheit und Unabhängigkeit. Aus der erzwungenen Distanz zu den Anderen, leiten Simmel und Schütz die Schärfung des Blicks ab, die den Fremden auszeichnet. Diese Unvoreingenommenheit charakterisiert auch den »freischwebenden Intellektuellen« nach Mannheim, einer, der in der deutschen Gesellschaft zu den Anderen gehört, der sich, – so Simmel – der Gesellschaft »zugleich fern und nah« fühlt66, und »der [deshalb] – so Schütz – nicht weiß, wohin er gehört«.67 Hier zeigt sich ein gemeinsames Element aller drei kultursoziologischen Theorieentwürfe, die auf die Beschreibung der jüdischen Identität absichtlich oder unabsichtlich verweisen. Diese Unabhängigkeit des Blicks sollte als Plädoyer – so sei noch einmal betont – für eine lebensweltlich-orientierte, weil interkulturelle und kritisch distanzierte Geschichtsdidaktik, die ein transnationales Geschichtsbewusstsein ermöglicht, gelesen werden.

65 Vgl. Bolten (Anm. 57), S. 167. 66 Vgl. Simmel (Anm. 31), S. 15. 67 Vgl. Schütz (Anm. 44), S. 68.

Ullrich Kockel

Europa in der Fremde / an der Grenze suchen: Öko-Ethnologische Reflexionen über geschichtliche Verortungen

1.

Europas Einheit in Vielfalt – Von der Utopie zum Alptraum

In den letzten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts erfreute sich die Idee einer europäischen »Einheit in Vielfalt« zunehmender Popularität und wurde zu einem wichtigen Schlagwort der Europäischen Union. Gleichzeitig mit dem Zerfall des »real existierenden Sozialismus« führte dies zu einem wachsenden Diskurs über tief greifende und letztendlich, wie manche Kritiker ausführten,1 unbeantwortbare Fragen in Bezug auf eine europäische Identität und die äußeren wie auch inneren Grenzen Europas in Raum und Zeit – eine Kritik, die angesichts der so genannten Migrationskrise seit 2015 in Politik, Wissenschaft und Gesellschaft wieder verstärkt aufgenommen wird. Der einstige Wunschtraum eines grenzenlos verbundenen Europas der freien Mobilität droht zum Alptraum zu werden. Wie andere kulturelle Konstrukte, so sind auch historische Konzepte oder Repräsentationen Europas nur haltbar, wenn und solange wir deren Prämissen akzeptieren,2 und die Prämissen, auf welche die verschiedenen Ideen eines »Europa« gründen, werden zunehmend in Frage gestellt, nicht zuletzt von Europas Grenzräumen her.3 Die Perspektive, die ich hier vorstelle, wurde ansatzweise zunächst aus ethnologischer Feldforschung in drei europäischen Grenzregionen – Ulster, Euskadi und Schleswig – unter Bezug auf innereuropäische Migration entwickelt.4 Seitdem habe ich in weiteren Grenzregionen, vor allem in 1 Beispielsweise Wolf Lepenies: Kultur und Politik – deutsche Geschichten. München 2006, S. 411. 2 Michael Borgolte: Wie Europa seine Vielfalt fand. Über die mittelalterlichen Wurzeln für die Pluralität der Werte. In: Hans Joas/Klaus Wiegandt (Hrsg.): Die kulturellen Werte Europas. Frankfurt am Main 2005, S. 117–63, hier S. 124. 3 Ullrich Kockel: Re-Visioning Europe. Frontiers, Place Identities and Journeys in Debatable Lands. Basingstoke 2010. 4 Ullrich Kockel: Borderline Cases. The Ethnic Frontiers of European Integration. Liverpool 1999.

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Ullrich Kockel

Polen und dem Baltikum, sowie unter deutschen, polnischen und litauischen Migranten im Vereinigten Königreich Forschungen unternommen. Daneben habe ich Hinweise aus früheren Episoden im ethnographischen Feld weiter verfolgt, die mich über historische und philosophische Untersuchungen zu gegenkulturellen Bewegungen ins Grenzgebiet von Kunst und Anthropologie führten. Als Anthropologe bin ich mir meiner disziplinären Grenzgängerschaft durchaus bewusst, die zudem außerhalb der Anthropologie ihren Anfang nahm und zeitlich mit der »Heimkehr« der Anthropologie zusammenfiel. Wegen ihrer Kolonialvergangenheit verurteilt, und angesichts der vom aufsteigenden Neoliberalismus zunehmend verknappten Mittel für Feldforschung in Übersee, begann die Anthropologie sich stärker für ethnographische Felder näher an zuhause zu interessieren. Ohne dies statistisch exakt belegen zu können lässt sich doch beobachten, dass der wissenschaftliche Nachwuchs dieser Periode das Fach weitgehend anders verstand als vorherige Generationen. Das traf umso mehr zu auf diejenigen unter uns, die, wie ich, ursprünglich in einer anderen Disziplin sozialisiert worden waren. Hinzu kommt, dass ich seit über dreißig Jahren zwischen zwei – manchmal auch mehr – Sprachen arbeite. Aus dieser persönlich wie professionell multiplen Grenzerfahrung heraus möchte ich hier, aufbauend auf die oben skizzierte langjährige »multi-sited« ethnologische Feldforschung in europäischen Grenzbereichen, ein wenig über das »neue Europa« nachdenken, das vor unseren Augen entsteht. Statt empirische Einzelstudien im Detail zu diskutieren, soll daher eher ein analytischer Blick auf Grenzlande geworfen und dabei einige Modebegriffe kritisch abgeklopft werden. In einer Zeit zunehmend diagnostizierter post- und trans-Daseinsformen sollten wir kritisch fragen, inwiefern diese Formen wirklich gelebter Alltagserfahrung entsprechen, oder ob es sich eher um analytische Modefantasien der Kulturwissenschaften handelt, die nicht zuletzt der hegemonialen Ideologie freier Mobilität der Produktionsfaktoren Vorschub leisten. Um die Jahrhundertwende bereits habe ich die Verortungen, Entortungen und Umortungen, die ich beobachtet hatte, als Suche nach Wurzeln interpretiert, die am besten in der Fremde wachsen, entlang von Lebensläufen durch welche Zugehörigkeiten in Raum und Zeit verzeichnet werden.5 Im Lichte der Heimatdebatte, die nach der deutschen Vereinigung neu Gestalt annahm, habe ich diesen Ansatz seit dem 33. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde in Jena 2011 weiter entwickelt und beziehe mich im Folgenden darauf.6 5 Ebd. 6 Ullrich Kockel: Heimat als Widerständigkeit. Beobachtungen in einem Europa freischwebender Regionen. In: Silke Götsch/Christel Köhle-Hezinger (Hrsg.): Komplexe Welt. Kultu-

Öko-Ethnologische Reflexionen über geschichtliche Verortungen

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Aus physischen und geometrischen Gründen ist das Zentrum unserer Welt der Ort, von dem aus wir sie betrachten. Susan Sontag, die als Amerikanerin lange Zeit in Paris lebte, sah das Territorium »Europa« zunehmend schrumpfen und kam zu dem Schluss, dass eine wachsende Zahl derer, die – ob als Bürger oder auf andere Weise – eine Affinität (wörtlich: ein »an der Grenze sein«) zu »Europa« verspüren, sich zunehmend als 8migr8s, Exilanten und Ausländer verstehen müssten.7 Migration, unter welchem Namen auch immer, wird zu einem modus vivendi und damit wird das Zentrum der individuellen, eigenen Welt immer beweglicher und wechselhafter. Als Anthropologe, der seit Jahren im geographischen Kontext jener Ansammlung kleiner Inseln und teils größerer Halbinseln arbeitet, die gemeinhin als »Europa« bezeichnet wird, habe ich mit einer doppelten Ephimeralität zu ringen, denn weder »Anthropologie« noch »Europa« sind intellektuelle terrae firmae – historisch und konzeptuell sind beide »bewegliche Ziele« so flüchtig, dass ihre Realität außerhalb unserer Vorstellung zweifelhaft erscheint.8 Was geschieht nun, wenn anthropoi solche imaginären Territorien durchmessen? »Europa« mag im Diskursnebel verschwunden sein. Aber wie es der Titel des Lissaboner Ethnologie- und Volkskunde-Kongresses 2011 ausdrückte: »Menschen machen Orte« (SIEF 2011), und so kann »Europa« doch wieder erscheinen, erzeugt durch Bewegungen in ethnischen Grenzräumen.9 An anderer Stelle habe ich argumentiert, dass Europa nur in solchen Grenzräumen zu finden ist als ein Europa kultureller Begegnungen, die durch ineinander verwobene Trajekte strukturiert werden.10 Ethnische Grenzräume können aus dieser Perspektive erkannt werden als historische Erfahrung, die aus dem Diskursnebel heraustritt, aber auch als Vision einer Zukunft, in der wir endlich die umstrittenen Landstriche eines entorteten Europas wiedergewinnen können, indem wir sie neu verorten.11 Wie und woher aber wissen wir, ob das, was wir dabei finden und vor uns

7 8 9 10 11

relle Ordnungssysteme als Orientierung. Münster 2003, S.167–176; weiter entwickelt in Kockel (Anm. 3), S. 97–108. Zur Heimatdebatte siehe u. a.: Christian Graf von Krockow: Heimat. Erfahrungen mit einem deutschen Thema. München 1992; Burghart Schmidt: Am Jenseits zu Heimat: Gegen die herrschende Utopiefeindlichkeit im Dekonstruktiven. Wien 1994; Martin Hecht: Das Verschwinden der Heimat. Zur Gefühlslage der Nation. Leipzig 2000; Bernhard Schlink: Heimat als Utopie. Frankfurt/Main 2000; Christoph Türcke: Heimat. Eine Rehabilitierung. Springe 2006. Susan Sontag: Where the Stress Falls. London 2003, S. 289. Ullrich Kockel/M#ir8ad Nic Craith/Jonas Frykman: The Frontiers of Europe and European Ethnology. In: dies. (Hrsg.): A Companion to the Anthropology of Europe. Malden/MA 2012, S. 1–10, hier S. 1. Kockel (Anm. 4). Ebd., S. 188. Kockel (Anm. 3), S. 196.

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sehen, überhaupt etwas mit »Europa« zu tun hat?12 Gegen Ende des letzten Jahrhunderts fegten diverse »kulturale Wenden« durch die Sozial- und Geisteswissenschaften, die vor allem darin bestanden, das Eigenschaftswort »kulturell« analytisch als Werkzeug für ein breites Feld wissenschaftlicher Beschäftigung anzuwenden, während das Hauptwort »Kultur« zu einem Sammelbegriff für all das wurde, was sich anders nicht hinreichend erklären ließ. »Hybridität« und »Liminalität«, vormals Phänomene beschreibend, die empirisch zu beobachten waren, wurden nun als essentielle Daseinsformen quasi gefeiert – und das von Kulturanalytikern, die zugleich jeglichem »Essentialismus« abschworen.13 Um die Jahrhundertwende erwachte eine tiefergehende Beschäftigung mit »Kulturen« zu neuem Leben, die aus einer anderen Richtung kam als die problematischen Nationalismen des neunzehnten Jahrhunderts, und die neue Herausforderungen mit sich brachte, vor allem durch die Debatte über Indigenität und Zugehörigkeit, mit der wieder einmal Fragen nach dem menschlichen Verhältnis zu Raum und Ort ins Rampenlicht rückten.14 Nach Jahrzehnten konstruktivistischen und post-konstruktivistischen Theoretisierens scheint es allerdings manchmal, als ob wir nur untersuchen dürften, wie, durch wen und wofür ein bestimmtes Konstrukt konstruiert wurde – alles andere wird gern als »Essentialismus« gebrandmarkt. Die Anthropologin Pnina Werbner erinnert in diesem Zusammenhang daran, dass Essentialieren auch Spaß macht; es ist zwar sehr politisch inkorrekt, dafür aber eine gute Methode, bestimmte Anliegen schärfer zu fokussieren.15 In diesem Geiste untersuche ich im Folgenden dieses »Europa«, verstanden als ein Sammelsurium ethnischer Grenzräume.

2.

Grenzlande

Interkultureller Kontakt kann äußerst stimulierend und bereichernd sein, bekanntlich aber auch zu Konflikten führen. Ausgehend von meinen Forschungen zu Kulturkontakten im Zusammenhang mit Migration, aber auch in umstritte12 Ebd., S. 10. 13 Siehe dazu u. a. Ullrich Kockel: Towards an Ethnology Beyond Self, Other and Third. Toposophical Explorations. In: Tradicija ir dabartis 9 (2014), S. 19–40. 14 Daraus lassen sich Grundzüge einer neuen, radikalen Heimatkunde ableiten. Siehe dazu Ullrich Kockel: Being From and Coming To. Outline of an Ethno-Ecological Framework. In: Lewis Williams/Rose Roberts/Alastair McIntosh (Hrsg.): Radical Human Ecology. Intercultural and Indigenous Approaches. Aldershot 2012, S. 57–71. 15 Zitiert in Peter Wade (Hrsg.): Cultural Studies will be the Death of Anthropology. The eighth annual GDAT debate, held in the University of Manchester on 30th November 1996. Manchester 1997 (Group for Debates in Anthropological Theory, Department of Social Anthropology, University of Manchester), S. 48.

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nen Grenzregionen, schlug ich vor einigen Jahren vor, europäische Identität(en) zu verstehen als von Menschen geschaffen, die in Grenzlanden und -situationen leben.16 Die dem zugrundeliegenden Gedankengänge möchte ich hier weiter ausführen. Zunächst zur Terminologie, bevor kurz ein paar Beispiele aus dem anthropologischen »Feld« skizziert werden, um von dort zu einem vorläufigen, spekulativ-theoretischen Schluss zu kommen. Grundlegend für meine Analyse ist der Kontrast von Territorium und Trajekt. Ersteres bedarf kaum weiterer Erklärung. »Trajekt« hat seinen Ursprung im lateinischen verb traicere, und wird gebraucht, um Übergang, Überschreitung oder das Tragen einer Last über eine Distanz, oft mit Hindernissen verbunden, zu beschreiben. Ich habe den Begriff benutzt, um die Lebenswege zu bezeichnen, die Einzelne und Gruppen mit signifikanten Orten oder Ereignissen verbinden. In Grenzlanden liefern die Trajekte der Handelnden oft die Strukturen, an denen Orientierung möglich ist, wo klare Grenzen fehlen. Sinn-volle Orte werden verbunden durch ein Kontinuum nicht im Raum sondern in der Zeit. Wie Territorien und deren Grenzen den Raum organisieren, so gliedern Trajekte in ihrem Verlauf die Zeit. Hier muss ich etwas zu meinem sprachlichen Grenzgängertum sagen und zu meinem Umgang mit Begriffen zwischen den Sprachen. In der akademischen Literatur wie auch im EU-politischen Diskurs wird »frontier« allgemein als austauschbar mit »boundary« und »border« gebraucht. Etymologisch kann »frontier« mit »in front of« verbunden werden – das, was »vor uns« liegt zwischen dem Subjekt und dessen Horizont. Die »frontier« ist also in Sicht- und – wenigstens zum Teil – Reichweite, aber außerhalb des Betrachters; sie bildet damit ein wesentliches Element der Selbst-Identifikation. Aus dieser Ableitung habe ich den deutschen Begriff »Fremde« als Übersetzung für »frontier« benutzt, um das Verhältnis von Eigenem und Anderem zu analysieren. Der Charakter der »frontier«, ihre Fremdheit, wird bestimmt – im doppelten Wortsinn – innerhalb des Selbst, das als Beobachtendes im Zentrum der vom Horizont definierten Fremde steht; damit gehört Fremdheit zum Eigentlichen und Fremde geht vom Eigenen aus als Ausdruck dieses Eigentlichen. Hier wird jener unübersetzbare, utopische Ort sichtbar, der auf Deutsch »Heimat« genannt wird, als existenzielle Verbindung des Eigenem mit dem Fremdem. Heimat braucht die Fremde, um den Horizont zu füllen, innerhalb dessen sie erfahren werden kann.17 Ohne die Fremde, als zugleich Bezugsrahmen und Kontrapunkt, ergibt die Idee »Heimat« wenig Sinn. 16 Kockel (Anm. 4). 17 Der Begriff des Horizonts wird hier verwendet in Anlehnung an das in der Empirischen Kulturwissenschaft gebräuchliche Konzept kultureller Horizonte (zeitlich, räumlich, sozial). Siehe dazu Hermann Bausinger u. a.: Grundzüge der Volkskunde. Darmstadt 1978 (Grundzüge Bd. 34).

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Jenseits des Horizonts von Heimat und Fremde liegt das Unbekannte – das, was wir »nicht kennen«, wovon wir »nicht(s) wissen«. Vom Horizont geht deshalb eine Bedrohung aus, denn über ihn tritt das Unbekannte ein. Mit dem Fremden, das in der Fremde ist, können wir umgehen (vor allem solange es dort ist); wir können es ein- und zuordnen, etwas damit anfangen – im wortwörtlichen Sinne von »beginnen« – um zu sehen, wohin das führen mag. Gewissermaßen im Vorzimmer des Selbst sich bewegend ist es uns vertraut, für unsere Selbstpositionierung wichtig, gerade auch wenn wir es vom Eigenen fernhalten wollen. Immerhin ist es »unsere« Fremde die da vor uns liegt, und damit zu uns gehörig als ein wichtiges Element der Definition unserer Eigentlichkeit. Ohne Fremde sind wir niemand.18 Der Horizont ist in jede Richtung gleich weit entfernt, nur manchmal ist einem der Blick ein wenig verstellt. Im Zentrum der Fremde steht deshalb logisch zwingend immer das Eigene von dem aus die Fremde sich bis zum Horizont erstreckt, der unser Weltbild umschreibt. Eigenes und Fremdes begeben sich gegenseitig. Die Bewegung des Eigentlichen in der Fremde schafft Lebensläufe, Trajekte, im Wechselspiel mit der Fremdheit. Deshalb bringt Ent-fremdung – die Trennung vom Fremden – immer auch Ent-eignung, den Verlust des Eigenen, – mit sich. Damit geht auch die Grundlage jeglicher Eigentlichkeit verloren. Dazu ein kurzes Beispiel divergierender Geschichte(n) als Herausforderung für die Geschichtsdidaktik.

2.1

Ulster – Norden Irlands – Nordirland19

Der Friedensprozess in Nordirland steht gerade wieder einmal vor dem Zusammenbruch. Ein Kernproblem scheint zu sein, dass die politisch avisierte Hybridität der nordirischen Gesellschaft an zunehmender Ent-fremdung und Ent-eignung scheitert. Außenstehenden mag es seltsam vorkommen, wenn sie hören: »Während der ›Troubles‹ wussten wir wenigstens, wer wir waren – wir und die anderen. Da wussten wir, woran wir sind. Jetzt ist alles durcheinander.«20 Nordirland zeigt den langen Nachhall postkolonialer Konflikte im Kulturkon18 Ausführlicher dazu Kockel (Anm. 13). 19 Von geopolitischen und historischen Konnotationen abgesehen, beschreiben diese oft als synonym behandelten Begriffe unterschiedliche Territorien: »Nordirland« als mittlerweile wieder selbstverwaltete Region meint die sechs viktorianischen Grafschaften der historischen Provinz »Ulster« im Norden Irlands, die 1925 im Vereinigten Königreich verblieben, als die Insel Irland geteilt wurde; der »Norden Irlands« schließt neben den neun Grafschaften Ulsters auch die Grafschaften Leitrim und Sligo, bisweilen auch Louth und Roscommon ein. 20 Die Zeit von 1967 bis 1998, in der Presse als »bürgerkriegsähnliche Unruhen« beschrieben, wird volkstümlich mit dem Euphemismus »Troubles« (=Sorgen) benannt.

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takt. Was von vielen noch heute als Geschichte einer achthundertjährigen Kolonisierung Irlands durch Großbritannien empfunden wird, nahm für Nordirland seinen Anfang eigentlich erst in der frühen Neuzeit, als 1603 das Vereinigte Königreich entstand und »Großbritannien« als politisches Gebilde Gestalt annahm. Durch die strategische Besiedlung des Nordens Irlands wurde dort eine doppelte »frontier« geschaffen, ein Grenzland einander überschneidender Horizonte des Eigenen und des Fremden. Fast vier Jahrhunderte lang waren damit die Grenzziehungen von Eigenem und Fremdem klar, auch wenn die Realitäten mit den Wirklichkeiten oft nicht übereinstimmten. So wurde zum Beispiel die wirkmächtige religionsbezogene Unterscheidung Ende des achtzehnten Jahrhunderts dadurch real unterminiert, dass die Rebellion der United Irishmen, dem als katholisch verstandenen irischen Nationalismus zugeschrieben, viele protestantische Anführer hatte, die zudem von einer französischen Revolutionsarmee unterstützt wurden, welche sich offiziell als säkular verstand. Ein Jahrhundert zuvor hatte ein zwar protestantischer englischer König mit Unterstützung des Papstes und des katholischen französischen Königs seinen gegenreformationskatholischen schottischen Rivalen besiegt, was noch heute alljährlich von nordirischen Protestanten gefeiert wird und zu regelmäßigen Auseinandersetzungen führt. Die Doppelnatur dieser Grenzlandsituation wurde ganz besonders deutlich, als im Vorfeld des Karfreitagsabkommens von 1998, das einen Friedensprozess einleitete, schottische Fahnen als Wandgemälde erschienen mit der Unterschrift: »Scotland and Ulster – United We Stand«.21 Zum Ausdruck kam darin die Selbstzuschreibung der von den frühneuzeitlichen Siedlern abstammenden Bevölkerung als »Ulster-Schotten«, wodurch die Grenzziehung von 1925 als wirkmächtig bestätigt wurde: Nordirland gehört zu Schottland, und damit zum Vereinigten Königreich.22 Nachfahren der sich als »Einheimische« verstehenden Bevölkerung betonen dagegen die »naturgegebene« Grenze der Insellage – der Norden gehört zum Rest der Insel, nicht zu einem anderen Staat. Zur gleichen Zeit fand in Schottland ein Referendum statt, in dem sich eine überwältigende Mehrheit für die Wiedereinsetzung eines schottischen Parlaments und größere Selbständigkeit des Landes aussprach. Dieser Separatismus wurde in Irland von vielen befürwortet, die sich gegen die Teilung der eigenen Insel aussprachen, während die »Ulster-Schotten« lange der Frage auswichen, wo im Falle eines Falles ihre Loyalität liegen würde – mit dem verbleibenden Vereinigten Königreich oder einem unabhängigen Schottland. Als diese Frage 2014 akut wurde, 21 Ullrich Kockel: Braveheart and the Irish Border. In: Malcolm Anderson/Eberhard Bort (Hrsg.): The Irish Border – History, Culture, Politics. Liverpool 1999, S. 159–173. 22 Dabei wird oft auf die das Mittelalter hindurch bestehenden engen Beziehungen zwischen Nordostulster und Westschottland hingewiesen. Siehe u.a.: Ian Adamson: The Identity of Ulster. The Land, the Language and the People. Bangor 1982.

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stellte sich diese Gruppe fast geschlossen hinter die »Better Together«-Kampagne, die Schottland im Vereinigten Königreich sehen wollte.23 Auf Schottland werde ich noch zurückkommen. In Nordirland haben sich die »Ulster-Schotten« seit den 1990er Jahren intensiv darum bemüht, für ihr Kulturerbe, ihre Sprache, Literatur und Musik dieselbe öffentliche Anerkennung zu bekommen, wie sie der gälischen Kultur Irlands zuteilwird. Die »Ulster-Schotten« rückten erstmals mit der Volkszählung von 1991 ins öffentliche Bewusstsein. Zum ersten Mal seit 1911 wurden damals Daten zur irischen Sprache (Gälisch) in Nordirland erhoben. Etwa zehn Prozent der nordirischen Bevölkerung erschien nach diesen Daten als irisch-sprachig. Diese Daten erhielten weitreichende politische Bedeutung, denn sie lieferten die Begründung für Forderungen nach öffentlicher Unterstützung der Sprache und der dazu gehörigen Kultur. Parallel zum wachsenden kulturellen Selbstbewusstsein der »einheimischen« Iren wurde auch das Kulturerbe der »UlsterSchotten« verstärkt betont und im »Karfreitagsabkommen« von 1998 das Prinzip der Gleichschätzung der diversen Kulturen in Nordirland rechtlich verankert.24 Dies ermöglichte aus öffentlichen Mitteln geförderte Vorstellungen des den »Ulster-Schotten« zugesprochenen immateriellen Kulturerbes in einem heftig umstrittenen Ausmaß.25 Den »Ulster-Schotten« wird die Erfindung von Traditionen vorgeworfen. Die Kontroverse um das Kulturerbe der »Ulster-Schotten« beleuchtet einen kritischen Aspekt der Identität. Bei Identität geht es darum, zu bestätigen, wer wir sind und – konsequenterweise – nicht sind. Dies wird oft als ein Schlüsselproblem des Multikulturalismus gesehen. Der Punkt hier ist jedoch der Zweck solcher Differenzierung. In den 1970er Jahren wurde das Recht, anders zu sein, als Teil einer breiteren Emanzipationsbewegung gesehen. Emanzipation bedeutet unter anderem, Heterostereotypen zu Gunsten von Autostereotypen abzulehnen und zugeschriebene Minderwertigkeiten damit zu verneinen, wodurch etablierte Hierarchien aufgebrochen werden. Wo aber Differenzen benutzt werden, um wesenhafte Überlegenheit gegenüber »Anderen« zu behaupten, da wird Vielfalt zu einem politischen und ethischen Problem. Dieses Problem zu vermeiden, stellt eine große Herausforderung dar für Gruppen die sich erfolgreich emanzipiert haben, aber weiterhin auf dem Trajekt ihres Befrei23 Siehe z. B.: NI Orangemen at Scottish referendum ›No‹ Edinburgh rally. In: BBC News vom 13. September 2014 (http://www.bbc.co.uk/news/uk-northern-ireland-29189287, aufgerufen am 29. Januar 2016). 24 Siehe hierzu M#ir8ad Nic Craith: Plural Identities – Singular Narratives. The Case of Northern Ireland. Oxford 2002. 25 Fintan Vallely : Singing the Boundaries. Music and Identity Politics in Northern Ireland. In: Ullrich Kockel/M#ir8ad Nic Craith (Hrsg.): Communicating Cultures. Münster 2004, S. 129–148.

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ungskampfes fortschreiten und sich manchmal schwer tun, ein neues Gleichgewicht zu finden. Das lässt sich in Nordirland an den Interaktionen der verschiedenen Gruppen beobachten, wo die Kulturbewegung der »Ulster-Schotten« von irischen Nationalisten und Republikanern gern als Reaktion auf die Emanzipation ihrer eigenen gälischen Kultur interpretiert wird. Für Anthropologen ergibt sich in derartigen Kontexten behaupteter kultureller Vielfalt – ganz abgesehen von etwa implizierter Überlegenheit dieser oder jener Kultur – die Herausforderung des Übersetzens, des Interpretierens, was eine Gruppe zu sich selbst und zu anderen sagt, und herauszuarbeiten, was das für die weitere Gesellschaft, in der wir leben, bedeuten mag. Was die verschiedenen Ausdrucksformen des Kulturerbes und damit zusammenhängende Diskurse uns über Nordirland als einen Ort sagen, der zugleich geographisch und historisch zwischen den Kulturen liegt, ist eine potentiell einsichtsreiche und viel interessantere Frage als die, ob nun frühere Immigranten, wie die Gälen, echtere Eingeborene sind als spätere Immigranten, wie die »Ulster-Schotten«.

2.2

Vom Eigentlichen an und in der Fremde

Jenseits politischer Bewertungen stellen Siedlungsbewegungen wie die von Großbritannien – vor allem Schottland – nach Ulster Migration dar. Das gilt gleichermaßen für Flucht und Vertreibung.26 Jenseits von Sozialwesen und Arbeitsmarkt, die primäre Aspekte sozialer Beziehungen sind, ist Migrationserfahrung grundlegend eine Sache der Ortsbeziehung, nicht nur im offensichtlichen räumlichen Sinn, dass Grenzen dabei physisch überschritten werden, sondern auch im weniger offensichtlichen Sinn, wie es die bekannte MukachevoAnekdote illustriert: Grenzen bewegen sich über die Bevölkerung hinweg.27 Die Teilung Irlands ist ein Beispiel dafür. Es gibt aber noch einen anderen, weniger beachteten Sinn, in dem Migrationserfahrung und Ortsbeziehung eng zusammen hängen: in der Aushandlung zeitlicher Grenzlinien, der Trajekte. Diese werden im doppelten Wortsinn oft gemeinsam erfahren. In der Literatur ist dies bisher vor allem für in der Diaspora, für »am anderen Ort« Lebende – also Flüchtlinge und Vertriebene im weiteren Sinne – thematisiert worden. Zu anderen Beispielen gehören aber auch das in den 1950er Jahren entstandene 26 Als Beispiel, das Flucht und Vertreibung mit Siedlungspolitik und eigenmotivierter Migration verbindet, können die Pfälzer in Irland gelten. Siehe dazu Ullrich Kockel/M#ir8ad Nic Craith: Hybride Ethnologien des Eigenen, Anderen und Dritten. Toposophische Erkundungen am Beispiel der Pfälzer in Irland. In: Fabian Jacobs/Ines Keller (Hrsg.): Das Reine und das Vermischte – 15 Jahre danach. Münster 2015, S. 73–95. 27 Erzählt u. a. von Ivan Olbracht: The Sorrowful Eyes of Hannah Karajich. London 1999, S. vii; zitiert in Kockel (Anm. 3), S. 14.

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Ullrich Kockel

»globale Baskentum« und die Kulturerbe-Touristen. Für Flüchtlinge und Vertriebene mögen hier die Sudetendeutschen als ein Beispiel stehen. Der Name »Sudetenland« wurde erst im zwanzigsten Jahrhundert geprägt.28 Die Bezeichnung »Sudetendeutsche« entstand als »Bezeichnung einer Volksgruppe und zum Ausdruck ihres gemeinsamen Willens zur Erhaltung ihres Volkstums. Damit ist »Sudetendeutsche« keine Stammesbezeichnung, sondern ein Sammelname für alle Angehörigen der Volksgruppe.«29 Diese Betrachtungsweise trägt der Tatsache Rechnung, dass die als »Sudeten« bezeichneten Landschaften im europäischen Mittelgebirgsraum von diversen deutschen »Volksstämmen« besiedelt waren, die zu verschiedenen Zeiten unterschiedlichen Territorialmächten zugeschrieben worden sind. In diesem Sinne entstand hier ein »Volksgruppenbewußtsein, das Wissen also, über alle stammlichen Eigenheiten hinweg dem Ganzen verpflichtet zu sein.«30 Interessant ist, dass wir es in dieser noch relativ frühen Selbstdarstellung der Sudetendeutschen mit einem Selbstbild zu tun haben, das im heutigen Sprachgebrauch als multiethnisch oder interkulturell bezeichnet werden könnte. Die Betonung ist weder auf Blut noch auf wie auch immer »angestammtem« Boden, wie etwa in Nordirland, und auch nicht auf religiösen oder anderen kulturellen Unterschieden, wie ich sie mit dem Begriff »Seichtessentialismus« charakterisiert habe.31 Hier wird vielmehr eine »Lebensauffassung« beschworen »die aus dem jahrhundertelangen Leben in derselben Staatsgemeinschaft gewachsen war.«32 Auch wenn die Ränder dieser Staatsgemeinschaft nicht so stabil waren, wie es hier klingt, und das Staatswesen sich im Laufe der Jahrhunderte ebenfalls veränderte, bleibt doch anzumerken dass hier Ortsbeziehung anders ausgehandelt wird als in den eher üblichen Identitätsdiskursen mit ihrem seichten Abstammungsessentialismus. Zwei Jahrzehnte später wird von einer »Verzahnung« als »Ineinandergreifen deutscher und tschechischer […] Bewegungen, als Abhängigsein des einen Volkes von der anderen Volksgruppe und umgekehrt« gesprochen,33 wobei es darum geht, »Wege zu einer

28 DJO/SDJ (Hrsg.): Sudetenland. Ostkundliche Studie für Schulen und Jugendgruppen. Red. Rolf Nitsch. München o. J. (Schriftenreihe »Unser Arbeitsbrief« H. 4), S. 3. Aus dem Inhalt lässt sich ableiten, dass dieses Heft in den frühen 1960er Jahren zusammengestellt wurde. 29 Ebd., S. 15. 30 Ebd., S. 19. 31 Ausführlich zu diesem Punkt: Kockel (Anm. 14). 32 DJO/SDJ (Anm. 30), S. 19. 33 Günter Reichert: Historisch-politische Standortbestimmung und Zielprojektion für die sudetendeutsche Volksgruppe. In SDJ/DJO (Hrsg.): Die Sudetendeutschen: Vergangenheit und Gegenwart. Red. Reinhard Schmutzer. München 1985 (Sonderheft 10 von »unser Arbeitsbrief«), S. 94–96, hier S. 95.

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Neugestaltung Europas zu finden, die eine Wiederaufnahme sudetendeutscher Tradition in den sudetendeutschen Gebieten ermöglichen.«34 An den Sudetendeutschen ließe sich nachzeichnen, wie Eigentlichkeit an der Fremde, im Kontakt mit ihr, erst entsteht und letztere deshalb existentiell braucht. Von daher wäre Adolf Metzner zu widersprechen, der konstatierte: »Um Sudetendeutscher zu sein, braucht man keine Tschechen.«35 Es geht aber auch anders, wie sich am Beispiel der Basken zeigen lässt.36 In den 1960er Jahren erlebte baskische Volkskultur eine Renaissance die einher ging mit einem neuen Verständnis des Baskentums. Zwar waren Sprache und andere Kulturmerkmale weiterhin wichtig für das ethnische Selbstverständnis, aber es setzte sich, zunächst vor allem unter radikalen Nationalisten, ein neues Konzept durch: Der Begriff »Pueblo Trabajador Vasco« projizierte ein Volkstumsverständnis das auf gemeinsamen Idealen gründete, zu denen vor allem natürlich das Bekenntnis zum Recht der Basken auf Selbstbestimmung gehört.37 Demnach zählen Nachfahren baskischer Emigranten in Übersee ebenso zum baskischen Volk wie Menschen, die aus anderen Teilen Spaniens ins Baskenland eingewandert sind, oder sogar ausländische Personen unabhängig von deren Wohnsitz – solange sie eben dieses Ideal teilen. Wenngleich die multiplen Grenzen, welche das geographische Baskenland durchziehen, nach wie vor ein wichtiger Stein des nationalistischen Anstoßes sind, wurde mit diesem Konzept deren überkommene Bedeutung transzendiert durch ein globalisiertes Baskentum jenseits der Ortsbindung – was allerdings Grenzen nicht abschafft, sondern sie in den Trajekten einer generalisierten Fremde zunächst rhetorisch aufzulösen sucht. Damit stehen die globalisierten Basken einerseits diametral den Sudetendeutschen gegenüber, andererseits scheinen aber doch beide ins gleiche Horn zu blasen, mit dem eine von Blut und Boden weitgehend losgelöste »Gesinnungsgemeinschaft« als Grundlage der Ortsbeziehung proklamiert wird. Dass dieses Verständnis in beiden Fällen von Menschen entwickelt wurde, die sich jenseits der Grenzen außer Landes fanden, mag jedoch zu denken geben. Auch sie haben ihre Eigentlichkeit in und an der Fremde ihres jeweiligen Hier und Jetzt erst entdeckt und dann entwickelt, bezogen allerdings auf ein Dort und Dann, das sowohl im Raum wie in der Zeit an einem anderen Ort lag.

34 35 36 37

Ebd., S. 96. Zitiert ebd., S. 95. Kockel (Anm. 4), S. 168–194. Ebd., S. 178–181.

272 2.3

Ullrich Kockel

Erinnerungstourismus38

Die Kurische Nehrung hat als historisch nördlichste Teilregion verschiedener deutscher Staatswesen seit dem Mittelalter im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts mehrfache Wechsel der Herrschaft erfahren und ist zur Zeit aufgeteilt zwischen der Republik Litauen und der Kaliningradskaya Oblast, der zur Russischen Föderation gehört. Seit Ende des Kalten Krieges versucht der Oblast den Tourismus anzukurbeln, wobei die einmalige Landschaft der Nehrung als Entwicklungskapital betrachtet wird. Auf der litauischen Seite ist der Tourismus ebenfalls ein wichtiges Element der Entwicklungsstrategie, wobei vor allem die Künstlerkolonie in Nida und der historische Kulturkontakt im deutsch-baltischen ethnischen Grenzland als Kulturerbe-Ressourcen gelten. Als historische Kulturlandschaft, die sich über eine internationale Grenze erstreckt – sie trennt einen EU-Mitgliedsstaat von einem nicht-EU-Mitglied, eine frühere Sowjetrepublik von ihrer vormaligen Supermacht, und die nördliche Spitze vom Rest einer ehemals deutschen Provinz – ist die Nehrung heute multiplen Interessen ausgesetzt, die oft in gegensätzlicher Richtung wirken und zur Entstehung unterschiedlicher Visionen des Kulturerbes sowie dessen Nutzung geführt haben. In beiden Teilen der Nehrung ist die Mehrzahl der Bevölkerung aus anderen Teilen der jeweiligen heutigen bzw. vormaligen Jurisdiktion eingewandert. Diese Bewohner oder ihre Vorfahren sind oft von weit her in ihre neue Heimat gekommen. Deshalb hält sich unter diesen Menschen das Gefühl, am Ort verwurzelt zu sein, in Grenzen und die Aneignung eines Kulturerbes, das von auswärtigen Autoritäten wie der UNESCO oder auch der je eigenen Regierung attestiert wird, ist bisher nur bedingt erfolgt. Im litauischen Teil scheint allerdings ein interessanter Prozess der Verortung im Gange, an dem eine Handvoll ganz verschiedener Gruppen beteiligt sind. Eine dieser Gruppen sind ehemalige Flüchtlinge und Vertriebene, die das Memelland gegen Ende des zweiten Weltkrieges verlassen hatten und die seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion meist als Touristen in ihre frühere Heimat zurückgekehrt sind, vor allem um Anschluss an ihre Erinnerungen und an eine spezifische Vorstellung dessen, was »ihr« Kulturerbe darstellt, zu suchen. Die meisten von ihnen sind ethnisch Deutsche, obwohl es in dieser Gruppe auch einige ethnische Litauer gibt, die während der Nazi- oder Sowjetzeit ins Exil gegangen waren. Eine andere Gruppe sind interne Migranten aus Litauen, die sich nach 1945 auf der Nehrung niedergelassen haben. Viele von diesen zeigen 38 Ausführlicher zum Folgenden: Ullrich Kockel: Borders, European Integration and UNESCO World Heritage. A Case Study of the Curonian Spit. In: Regina Bendix/Aditya Eggert/Arnika Peselmann (Hrsg.): Heritage Regimes and the State. Göttingen 2012, S. 227–246. Göttingen Studies in Cultural Property Bd. 6.

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großes Interesse an einem Kulturerbe, das eigentlich nicht das Ihre war, bevor sie hierherkamen, aber das sie sich nun in respektvoller Weise anzueignen versuchen. Es gibt nur wenige Beispiele solcher Praktiken aus anderen Gegenden. Was hier zu beobachten ist, kann interpretiert werden als Diskurse über kulturelle Eigentumsrechte, die sich auf verschiedene Epochen beziehen und die deshalb relativ friedlich koexistieren können. Im formalrechtlichen Sinn haben lokale und nationale Akteure die Definitionsmacht über den Ort und die Repräsentation jeglichen mit ihm verbundenen Kulturerbes.39 Andererseits stellt vor allem der Kulturerbetourismus eine wichtige Einkommensquelle für die Nehrungsbewohner dar. Deutsche Erinnerungsorte sind vor allem dann akzeptiert, wenn sie Touristen in die Region bringen. Dies bedeutet allerdings, dass dieselben Orte von verschiedenen Gruppen unterschiedlich interpretiert werden und verschiedene Kulturerberepräsentationen nebeneinander existieren können. Es gibt einen gewissen postmodernen Kosmopolitanismus, der in solchem Nebeneinander manchmal höchst gegensätzlicher Ansprüche den Beweis für einen neuen »europäischen« Kulturerbediskurs sieht, der die alten Animositäten der sich den europäischen Raum teilenden Völker transzendiert. Ideale gegenseitiger Toleranz, wie sie der Vision einer »Einheit in Vielfalt« zugrunde liegen, sind in dieser Interpretation offensichtlich. Auf der Kurischen Nehrung wie in anderen Grenzlanden gehören zu örtlichen Interessengruppen oftmals auch solche, die vielleicht historische Wurzeln aber keine gegenwärtige Basis vor Ort haben. Die Herausforderung, daraus einen gemeinsamen europäischen Kulturerbediskurs zu schaffen, wird allzu oft restriktiv im Sinne von Meistererzählungen verstanden. In dem Maße wie Möglichkeiten der interregionalen Vernetzung und des Erfahrungsaustausches zunehmen, werden vielleicht die singulären Interpretationen historischer und ökologischer Umstände durch diverse Gruppen mit der Zeit auf geteilte Erzählungen hin verschoben, aus denen einmal ein gemeinsamer Kulturerbediskurs entstehen mag.

3.

Blick nach vorn

Die kulturelle Durchdringung, die in ethnischen »frontiers« stattfindet, kann als Schlüsselprozess einer fortschreitenden »Europäisierung« gesehen werden, der die ersehnte »Einheit in Vielfalt« schafft. Aber nicht nur unter den neuen Mit39 Anja Peleikis: Recht und die Konstruktion von Kulturerbe. Das Fallbeispiel Kurische Nehrung (Litauen). Forschungsbericht 2007. Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung. (http://www.mpg.de/373422/forschungsSchwerpunkt?c=166422; aufgerufen am 2. Februar 2016).

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Ullrich Kockel

gliedstaaten in Mittel- und Osteuropa besteht heute zunehmend das Gefühl, dass dieses Europa und seine jetzigen und künftigen Europäer im Zuge des Integrationsprozesses verloren gehen – und das nicht erst seit 2015. »Erinnerung« ist längst zu einem Kernthema geworden – in der öffentlichen und politischen Debatte ebenso wie in den Sozial- und Geisteswissenschaften. Erinnerung ist einerseits persönlich und wissenschaftlicher Analyse deshalb nur bedingt zugänglich; zugleich ist sie ein Eckpfeiler von Gemeinschaft (und Gesellschaft). Damit wird das Teilen von Erinnerungen zu einem wichtigen Faktor bei der gemeinsamen Verortung entlang individueller und kommunaler Trajekte. Ob wir nun mit einem Ort durch unseren Ursprung oder durch unseren Lebenslauf in Bezug stehen, es wird normalerweise in Analysen solcher Bezüge angenommen, dass das Verhältnis von der Vergangenheit, unserer Vergangenheit, ausgeht: wo kommen wir her, wo sind wir gewesen? Das ist allerdings nur die eine Seite des Problems. Zugleich geht es dabei darum, wo wir sein möchten. Wenn wir uns in der Diaspora lebend finden, dann sind wir nicht an dem Ort, wo wir (denken oder fühlen, dass wir) sein sollten.40 Europäer sind vielleicht auf diese »vorwärtige Geschichtlichkeit« viel besser eingestimmt, als sie wahrnehmen. Seit den 1950er Jahren ist der Integrationsprozess unter anderem auch ein Projekt, durch die Narration einer gemeinsamen Geschichte »Europäer« zu schaffen. Aber können wir vorwärts erinnern? Ernst Bloch meinte, wir können, jedenfalls im Prinzip, und schrieb im letzten Absatz seines »Prinzip Hoffnung« von einem Ort, der uns allen in die Kindheit scheint und wo noch niemand war.41 Diesen Ort nannte er »Heimat«. Er sprach in diesem Zusammenhang auch von der Überwindung der Entfremdung und Enteignung des arbeitenden Menschen. Vielleicht würde er meine Überlegungen im dialektischen Sinne so verstehen, dass aus Eigenem und Fremdem eben diese Heimat erst entsteht. Dazu abschließend ein kurzes Beispiel: In meiner Wahlheimat Schottland ist seit langem ein Prozess zu beobachten, der sich seit der Wiedereinrichtung eines schottischen Parlaments 1999 und vor allem seit dem ersten Wahlsieg der Schottisch National Party (SNP) 2007 beschleunigt hat. Dem globalen Baskentum nicht unähnlich bildet sich hier eine Art transnationaler Nationalismus heraus, dem zu folge »schottisch-Sein« mehr mit Weltanschauung und sozialkulturellen Werten zu tun hat als mit genetischer Abstammung. Im Vorfeld der Volksabstimmung über die Unabhängigkeit 2014 wurde das bereits deutlich, nicht zuletzt in der aktiven Beteiligung vieler Einwanderer an der Pro-Kampa40 Ullrich Kockel: Toward an Ethnoecology of Place and Displacement. In: Ullrich Kockel/ M#ir8ad Nic Craith/Jonas Frykman (Hrsg.): A Companion to the Anthropology of Europe. Malden/MA 2012, S. 551–571. Siehe auch Kockel (Anm. 14). 41 Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt/M. 1959. Zitiert nach der 5. Aufl. der Taschenbuchausgabe von 1978, S. 1628.

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gne, die zwei Jahre vor dem Plebiszit begann und in deren Verlauf Schottland einen tiefgreifenden Wandel in seiner politischen Kultur erlebte, durch den es sich vom Vereinigten Königreich als Identitätsanker der vergangenen drei Jahrhunderte zunehmend entfernte.42 Zugleich entstanden in kreativer Verbindung von Eigenem und Fremdem neue Zugehörigkeiten und Zusammengehörigkeiten, die zutiefst verortet und ihrer gemeinsamen Utopie eines neuen, besseren Schottland verbunden sind.43 Interessant ist daran für den Anthropologen vor allem, wie diese Verortung nicht nur neue Menschen an alte Orte bindet, wie es die Tradierung von »Heimatliebe« in der Vergangenheit tun sollte, sondern eher aus Eigenem und Fremdem Schottland bewusst als ein Feld neuer Orte neu geschaffen wird, was an die Bloch’sche Idee vom »Umbau der Welt zur Heimat« durch eine »vergesellschaftete Menschheit im Bund mit einer ihr vermittelten Natur« erinnert.44 Und dieser Umbau geht auch nach dem Plebiszit weiter, in dem 45 % mit »Ja« und 55 % mit »Nein« stimmten. Trotz dieses Ergebnisses schien es den meisten Beobachtern, als ob die »Ja«-Seite gesiegt hatte.45 Bereits in der Nacht nach der Abstimmung notierte ich in meinem ethnographischen Notizbuch die Beobachtung, dass die Zahl derer, die wohl diesmal mit »noch nicht« gestimmt hatten, eine bislang zwar unbekannte, aber für die Entwicklungen der nächsten Jahre entscheidende Größe ist.46 Im Nachhall der Abstimmung hat sich die Mitgliederzahl der SNP verfünffacht, und die Partei gewann in der britischen Parlamentswahl vom Mai 2015 fast alle schottischen Unterhaussitze. Momentan steht eine andere Volksabstimmung am Horizont: »Brexit«, der euroskeptische Versuch, das Vereinigte Königreich aus der EU zu lösen. Es wird erwartet, dass Schottland mehrheitlich dagegen stimmen wird. Ob damit schon, wie viele hoffen, das zweite Referendum zur schottischen Unabhängigkeit kommt, bleibt abzuwarten. Dass diese nur eine Frage der Zeit ist, wird allerdings kaum noch bezweifelt.47

42 Iain Macwhirter : Disunited Kingdom. How Westminster Won A Referendum But Lost Scotland. Glasgow 2014. 43 Ablesen lässt sich diese Entwicklung unter anderem an selbstreflexiven Texten, z. B. Snook: Dearest Scotland. Letters written to the future of a nation. Glasgow 2015. Siehe auch Iain Macwhirter : Our Summer of Love. In: Sunday Herald vom 28. 12. 2014, S. 16–18. 44 Bloch (Anm. 43), hier S. 334. 45 Siehe z. B. Macwhirter (Anm. 45). 46 Siehe dazu Ullrich Kockel: Aye’ll Be Back. The Quest for Scotland’s Independence. In: Anthropology Today 31 (2015), H. 1, S. 1f. 47 Der Historiker Tom Devine schrieb bereits wenige Tage nach dem Plebiszit in einem Kurzbeitrag zur London Review of Books, dass die Unabhängigkeit nur noch eine Frage der Zeit sei (http://www.lrb.co.uk/v36/n19/lrb-referendum/after-the-referendum; aufgerufen am 2. Februar 2016).

Daniel Groth

Kolonialismus und Dekolonisation in nationalen Geschichtskulturen und Erinnerungspolitiken in Europa

Postkoloniale Geschichtskulturen und Erinnerungspolitiken in Europa sind vielfältig. Sie umfassen Diskurse um aktuelle Repräsentationen von und Umgangsweisen mit kolonialen Vergangenheiten. Diese sind selten unumstritten und unangefochten. Verschiedene Akteure – Regierungen, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Migrantengruppen, Künstlerinnen und Künstler etc. – bringen unterschiedliche, teils konkurrierende Sichtweisen auf koloniale Vergangenheiten als geschichtskulturelle Objektivationen in die öffentlich ausgetragenen Diskurse ein. Diese werden so zu potenziell konflikthaften Interaktionsräumen, in denen ein Ringen um hegemoniale symbolische Ordnungen stattfindet.1 Konflikthafte Auseinandersetzungen um koloniale Vergangenheiten finden zumeist innerhalb nationaler Grenzen statt. Selten wird Kolonialismus als gemeinsame europäische Erfahrung verstanden, was auch ein Blick auf die Forschung in einzelnen Ländern oder auf ihre Curricula und in ihre Schulbücher zeigt. Dennoch, so die im Folgenden diskutierte These, gibt es sowohl zahlreiche verbindende Elemente als auch breitere Implikationen von »Kolonialismus«, die Europa nicht nur als Akteur und als gemeinsamen Handlungsraum, sondern zugleich auch selbst als Erfahrungsraum kolonialer Politiken stärker in den Blick rücken lassen.2 1 Nach Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, die mit ihrem Werk Hegemonie und radikale Demokratie einen wesentlichen Beitrag zur Weiterentwicklung diskursanalytischer Konzepte geleistet haben, konstituiert sich das Soziale in einer stetigen, vorübergehenden Fixierung von Bedeutungen, wodurch soziale Ordnungen stets instabil und wandelbar sind. Siehe Ernesto Laclau/Chantal Mouffe: Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus. 4., durchgesehene Aufl. Wien 2012. Zur historischen Diskursanalyse Achim Landwehr : Historische Diskursanalyse. 2. Aufl. Frankfurt am Main 2009 (Historische Einführungen, Bd. 4) sowie Philipp Sarasin: Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse. Frankfurt am Main 2003. 2 Die folgenden Überlegungen greifen Ergebnisse des von der EU im Rahmen der Lifelong Learning Programme von 2013 bis 2015 geförderten Projektes »Kolonialismus und Dekolonisation in nationalen Geschichtskulturen und Erinnerungspolitik in europäischer Perspektive« auf, an dem der Autor mitwirkte. In dem Projekt wurden zusammen mit Partnern

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Daniel Groth

Kolonialismus und Dekolonisation stehen somit im Spannungsfeld der Wahrnehmung als gemeinsamer europäischer Vergangenheit und der unterschiedlichen Politiken und Umgangsweisen einzelner europäischer Staaten mit dieser Vergangenheit. Davon ausgehend stellt sich die Frage nach der Verortung von Kolonialismus und Dekolonisation in einem kollektiven europäischen Rahmen. Ist Europa trotz der teils trennenden historischen Entwicklungen und gegenwärtigen Debatten eine Erinnerungsgemeinschaft im Hinblick auf die koloniale Vergangenheit? Der Titel des vorliegenden Beitrags verweist auf drei Aspekte:Mit Grenzen zunächst auf den Umstand, dass es gegenwärtig in Europa höchst unterschiedliche Umgangsweisen mit Kolonialismus und Dekolonisation gibt. Stellen also Grenzen unüberwindliche Hindernisse dar, um diese Phänomene in einem kollektiven europäischen Rahmen zu verorten? Ziel des ersten Teils ist es, exemplarisch verschiedene Lesarten zu beschreiben und zu diskutieren, die Europa als eine äußerst heterogene Erinnerungsgemeinschaft im Hinblick auf Kolonialismus und Dekolonisation erscheinen lassen. Wenn Grenzen derart wirkmächtig sein sollten, wie können dann breitere Implikationen der Kolonialgeschichte in einem kollektiven europäischen Rahmen betrachtet werden, welcher die in einzelnen europäischen Ländern vorherrschenden Lesarten von Kolonialismus und Dekolonisation »entgrenzt«? Schließlich: Welche Rolle kommt Akteuren der Geschichtsvermittlung zu, diese breiteren Implikationen von Kolonialismus und Dekolonisation in einem zeitgemäßen Geschichtsunterricht an den Schulen in Europa zu vermitteln?

1.

Grenzen

Ein Blick auf die Geschichtskulturen und Erinnerungspolitiken im Hinblick auf belastete Vergangenheiten in einzelnen europäischen Ländern zeigt höchst unterschiedliche Umgangsweisen. Dies gilt auch und insbesondere für den Umgang mit Kolonialismus und Dekolonisation, die in aktuellen politischen Debatten immer wieder virulent sind, wie die folgenden Beispiele verdeutlichen. Karel Van Nieuwenhuyse und Idesbald Goddeeris weisen in ihren Überleaus Belgien, Deutschland, Estland, Großbritannien, Österreich, Polen und der Schweiz koloniale Vergangenheiten und Dekolonisierungsprozesse in verschiedenen europäischen Ländern in vergleichender Perspektive untersucht. Das Erkenntnisinteresse richtete sich auf die Frage, wie die Thematik in den beteiligten Ländern im Geschichtsunterricht vermittelt wird und welche Bedeutung die koloniale Vergangenheit für die nationalen Geschichtskulturen und Erinnerungspolitiken gegenwärtig hat, um von dort aus Perspektiven für eine zukünftige Behandlung im Geschichtsunterricht zu entwickeln. Vgl. https://www.uni-siegen. de/codec-eu/projekt.html?lang=de (aufgerufen am 30. 01. 2016).

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gungen zu postkolonialen Erinnerungskulturen in Europa darauf hin, dass Regierungen häufig durch top-down-Prozesse ein kulturelles Gedächtnis konstruieren, welches öffentlich zelebrierte Formen des Umgangs mit kolonialen Vergangenheiten etabliert.3 Als Beispiel führen die Autoren die Debatte um das Gesetz zur Unterstützung der repatriierten Franzosen aus dem Jahr 2005 an, welches auch unter der Bezeichnung »Kolonialismusgesetz« bekannt wurde.4 Dieses Gesetz steht in einer Reihe weiterer Maßnahmen, die der französische Staat ergriff, um eine Neuorientierung der Erinnerung an den Algerienkrieg zu forcieren. Zwar war die Anerkennung des Leids, das die »pieds noirs« im Zuge der Dekolonisierung Algeriens erfuhren, durchaus konsensfähig, doch, so merkt Daniel Mollenhauer an, endete dieser Konsens dort, wo es um die Bewertung ihres Wirkens in Algerien ging.5 In diesem Zusammenhang wurde Artikel 4 des Gesetzes heftig kritisiert: die positiven Aspekte der kolonialen Präsenz Frankreichs in Nordafrika, so heißt es in dem Artikel, sollten im Geschichtsunterricht herausgestellt und deshalb auch in den Curricula für das Fach Geschichte festgeschrieben werden. Dies löste heftige Proteste aus, worauf der Passus, der sich auf den Geschichtsunterricht bezog, letztlich gestrichen wurde. In den Benelux-Staaten, insbesondere in den Niederlanden wird regelmäßig über die Figur des »Zwarte Piet«, den schwarz geschminkten Begleiter des Heiligen Nikolaus diskutiert. Wird von Verteidigerinnen und Verteidigern der Figur angenommen, Piet sei ein weißer Helfer des Nikolaus und lediglich durch den Ruß der Schornsteine schwarz, so interpretieren Kritikerinnen und Kritiker ihn als schwarzen Diener des Heiligen Nikolaus und als Relikt der Sklaverei in der Populärkultur des 21. Jahrhunderts. Ist der »Schwarze Peter« »eine rassistische Interpretation der Geschichte vom Heiligen Nikolaus« fragen Van Nieu-

3 Karel Van Nieuwenhuyse/Idesbald Goddeeris: Postkoloniale Erinnerungskulturen in Europa. Eine fragmentierte, geteilte und national gebundene Erinnerungslandschaft: Zur Einführung. In: Uta Fenske u. a. (Hrsg.): Kolonialismus und Dekolonisation in nationalen Geschichtskulturen und Erinnerungspolitiken in Europa. Module für den Geschichtsunterricht. Frankfurt am Main u. a. 2015, S. 215–217, hier S. 216 4 Vgl. zum »Kolonialismusgesetz« Alice Ebert: Frankreichs Umgang mit belasteter Vergangenheit – Die Debatten und Kontroversen um das »Kolonialismusgesetz« von 2005. In: Dietmar Hüser in Zusammenarbeit mit Christine Göttlicher (Hrsg.): Frankreichs Empire schlägt zurück. Gesellschaftswandel, Kolonialdebatten und Migrationskulturen im frühen 21. Jahrhundert. Kassel 2010, S. 189–216 sowie Marcus Otto: The Challenge of Decolonization, School History Textbooks as Media and Objects of the Postcolonial Politics of Memory in France since the 1960s. In: Postcolonial Memory Politics in Educational Media, Special Issue Journal of Educational Media, Memory, and Society (JEMMS), 5/1 (2013), S. 14–32. 5 Vgl. Daniel Mollenhauer: Erinnerungspolitik in der postkolonialen Republik – Frankreich und das koloniale Erbe. In: Claudia Kraft/Alf Lüdtke/Jürgen Martschukat (Hrsg.): Kolonialgeschichten. Regionale Perspektiven auf ein globales Phänomen. Frankfurt am Main 2010, S. 117–141, hier S. 121.

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wenhuyse und Goddeeris, das hieße, »ist er symbolisch und daher latent unartikuliert rassistisch?«6 Diese Beispiele verweisen auf zwei der oben genannten Merkmale postkolonialer Geschichtskulturen und Erinnerungspolitiken: ihre Konflikthaftigkeit, die sich in unterschiedlichen, konkurrierenden Deutungen manifestiert und in einem Ringen um Hegemonien ihren Ausdruck findet, sowie ihren engen Bezug zu national (oder auch regional) geführten Debatten. Doch nicht nur entlang solcher Kontroversen lässt sich die starke nationale Gebundenheit des Umgangs mit Kolonialismus und Dekolonisation nachzeichnen. Auch die historische Forschung geht in einzelnen Ländern höchst unterschiedliche Wege.7 Dies liegt v. a. daran, dass sie sich auf je als national bedeutsam wahrgenommene Schwerpunkte von Kolonialismus und Dekolonisation konzentriert. So spielen Kolonialismus und Dekolonisation in der britischen Historiographie im Zusammenhang mit der Empire-Forschung eine Rolle, wobei häufig der Prozess der Formierung des britischen Weltreichs im Vordergrund stand. Dennoch werden verstärkt auch neuere Ansätze der Postcolonial Studies wie der New Imperial History aufgegriffen. Diese bestimmen auch in der Geschichtsschreibung in Belgien seit den 2000er Jahren mehr und mehr die Forschungsperspektiven.8 Zeichneten ältere Arbeiten der 1940er und 1950er Jahre noch ein verherrlichendes Bild der Herrschaft Leopolds II., wich diese Interpretation zunehmend kritischeren Auseinandersetzungen, die sich vor allem auf die belgische Kolonialherrschaft im Kongo9 und auf die Kontroversen um die Ermordung Patrice Lumumbas bezogen.10 Entfernt man sich von den »klassischen« Kolonialmächten Großbritannien oder Belgien, lässt sich eine Beschäftigung mit bisher in einer breiteren Fachöffentlichkeit kaum wahrgenommenen Fragen der Forschung feststellen. So werden z. B. in der Schweiz, die nie Kolonien »besaß«, wirtschaftliche Verwicklungen in koloniale Unternehmungen sowie Politiken der Schweizer Ent6 Van Nieuwenhuyse/Goddeeris (Anm. 3), S. 217. 7 Die im Folgenden angerissenen Beispiele basieren auf Erhebungen, die von den Partnern des in Anm. 2 genannten Projekts als Ausgangslage für die Projektarbeit ermittelt wurden. Erhebungen wurden für den Stand der Forschung wie auch für den Unterricht, wie er sich in Lehrplänen und Schulbüchern widerspiegelt, durchgeführt. 8 Für einen Überblick zur Forschung in Belgien vgl. Idesbald Goddeeris/Sindani E. Kiangu: Congomania in Academia. Recent Historical Research on the Belgian Colonial Past. In: BMGN – Low Countries Historical Review 126/4 (2011), S. 45–74, http://www.bmgn-lchr.nl/ articles/abstract/10.18352/bmgn-lchr.7442/ (aufgerufen am 26. 02. 2016). 9 Für eine neuere, kontrovers diskutierte Darstellung vgl. David Van Reybrouck: Congo. The Epic History of a People. London 2014. 10 Vgl. Luc De Vos u. a.: Lumumba: De complotten? De moord. Leuven 2004; dies.: Les secrets de l’affaire Lumumba. Brüssel 2005; für eine geschlechtergeschichtliche Betrachtung Patrice Lumumbas in der Perspektive einer New Imperial History vgl. Karen Brouwer : Gender and Decolonization in the Congo: The Legacy of Patrice Lumumba. New York 2010.

Kolonialismus und Dekolonisation in nationalen Geschichtskulturen

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wicklungshilfe in Ruanda11 in den Blick genommen. In Polen, wo die Kolonialgeschichte insbesondere in den Sozial- sowie in den Literaturwissenschaften reflektiert wird, werden mit Ansätzen der Postcolonial Studies insbesondere die Beziehungen zwischen Polen und den Teilungsmächten für die Zeit zwischen 1795 und 1918 auf asymmetrische Wissen-Macht-Verhältnisse hin untersucht.12 Mit Grundelementen kolonialen Denkens, wie z. B. die Konstruktion von Überlegenheits- und Unterlegenheitsvorstellungen, die kolonialen WissenMacht-Verhältnissen eigen sind, können auch innereuropäische Beziehungen neu gedeutet werden. Eine Geschichte des Kolonialismus im Sinne einer transnationalen Verflechtungsgeschichte, die Kolonialismus und Dekolonisation als gemeinsamen europäischen Erfahrungs- und Erinnerungsraum behandelt, stellt nach wie vor ein Desiderat dar, wenngleich die Forschungen in einigen der hier beispielhaft diskutierten Ländern neuere Perspektiven und Methoden aufnehmen.13 Wie die Analyse von in den untersuchten Ländern eingesetzten Schulbüchern zeigt, werden neuere Ansätze der historischen Forschung kaum oder gar nicht rezipiert. Wird in der historischen Forschung die zentrale Bedeutung der agency der Kolonisierten hervorgehoben und Kolonialismus als wechselseitiger Prozess verstanden, der sowohl die Kolonisierten als auch die Kolonisatoren in ihren Selbst- und Fremdwahrnehmungen beeinflusst, werden die Perspektiven der Kolonisierten in den untersuchten Schulbüchern kaum berücksichtigt. Diese bleiben stumme Gruppen. Sowohl die Einbeziehung der vielfältigen Perspektiven der Kolonisierten als auch Vergleiche der jeweils nationalen Sichtweisen mit weiteren Kolonialismen sollten zum tieferen Verständnis des Phänomens »Kolonialismus« dringend auch im schulischen Geschichtsunterricht erfolgen.

11 Vgl. dazu Lukas Zürcher: Die Schweiz in Ruanda. Mission, Entwicklungshilfe und nationale Selbstbestätigung (1900–1975). Zürich 2014. 12 Zwar hat gerade die Beschäftigung mit der Teilungszeit in der polnischen Forschung zu einer Anwendung postkolonialer Ansätze auf die polnische Geschichte geführt. Die Themen und Fragestellungen weisen aber in sehr unterschiedliche Richtungen. Während einige sich mit der »Russifizierungspolitik« auseinandersetzen, so z. B. Ewa Thompson: Imperial Knowledge. Russian Literature and Colonialism. Westport, Conn./London 2000, beschäftigen sich andere damit, dass auch Polen selbst koloniale Politiken in den östlichen Grenzregionen zur Ukraine, Litauen und Weißrussland ausübte. Neuere sozialwissenschaftliche Forschungen verweisen darauf aufbauend auf die aus Kolonisierungserfahrungen resultierende Hybridität der polnischen Kultur, so z. B. Maria Janion: Polen in Europa. In: Claudia Kraft/Katrin Steffen (Hrsg.): Europas Platz in Polen. Osnabrück 2007, S. 31–66 sowie die periphere Stellung Polens in Europa/der EU, so Tomasz Zarycki: Imitation oder Substanz. Polen in Europa und die Europäisierung Polens. In: Osteuropa 61/5–6 (2011), S. 117–123. 13 Vgl. Uta Fenske/Bärbel P. Kuhn: Einleitung. In: Fenske u. a. (Anm. 3), S. 9–17, hier S. 16f.

282

2.

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Entgrenzungen

Die heterogenen Umgangsweisen mit Kolonialismus und Dekolonisation in nationalen Geschichtskulturen und Erinnerungspolitiken zeigen, dass es nicht das Ziel sein kann, eine harmonisierende, europäische Meistererzählung zu konstruieren, die nationale wie auch regionale Eigenwege und Narrative negiert. Vielmehr wird durch die Einbeziehung anderer Sichtweisen und durch Perspektivwechsel ermöglicht, »Geschichtsbilder auf transnationaler, transterritorialer, transkultureller und transkontinentaler Ebene zu erweitern und zu relativieren. Angenommene Gewissheiten oder Überlegenheits- bzw. Unterlegenheitsvorstellungen können verunsichert und neue Erkenntnisse gewonnen werden.«14 Eine »Entgrenzung« der Umgangsweisen mit Kolonialismus und Dekolonisation durch die Konstruktion einer europäischen Meistererzählung kann und darf daher kein Anliegen sein. Vielmehr geht es um eine Auseinandersetzung mit anderen Perspektiven, eine Relativierung der eigenen Perspektivität sowie die Entwicklung einer Aufmerksamkeit für die Historizität der jeweiligen Geschichtskulturen und Erinnerungspolitiken. In diesem Sinne bieten sich viele Beispiele, die eine Betrachtung des Kolonialismus als gemeinsamer europäischer Erfahrung ermöglichen. So etwa die Erfahrung einer allmählichen Adaption zunächst fremder Konsumgüter bis hin zu ihrer völligen »Eingliederung« in den »europäischen« Lebensstil. Die Beschäftigung mit Kolonialwaren dieser Art wird eine Relativierung einer Wahrnehmung als »typisch europäischer« Waren wie Kartoffeln, Zucker oder Kaffee zur Folge haben.15 Auch die Funktionsweisen der Herrschaftsausübung einzelner europäischer Kolonialmächte, deren Verstrickungen in koloniale Politiken und die jeweiligen Auswirkungen auf die Kolonisierten16 können durch die Herausarbeitung zentraler Merkmale und von Gemeinsamkeiten und Unterschieden der Erfahrungen zu einem erweiterten Blick auf die Phänomene beitragen. Die Präsenz kolonialer Deutungsmuster in aktuellen geschichtskulturellen und -politischen Debatten legt auch eine Einbeziehung der (post-)kolonialen Erinnerungskulturen in verschiedenen Ländern nahe. Ein Vergleich 14 Ebd., S. 12f. 15 Zur Akklimatisation überseeischer Pflanzen vgl. Reinhard Wendt: Vom Kolonialismus zur Globalisierung. Europa und die Welt seit 1500. Paderborn 2007, S. 184–186 und zu den Stadien der Integration der überseeischen Importe in Europa nach Wendt vgl. ebd., S. 186–199. 16 Vgl. z. B. für neuere Forschungen zur Verwicklung Großbritanniens in den transatlantischen Sklavenhandel Hilary McD. Beckles: Britain’s Black Debt. Reparations for Caribbean Slavery and Native Genocide. Jamaica 2013; Sasha Turner : Home-Grown Slaves. Women, Reproduction, and the Abolition of the Slave Trade. Jamaica 1788–1807. In: Journal of Women’s History 23/3 (2011), S. 39–62 oder Hugh Thomas: The Slave Trade: A History of the Atlantic Slave Trade, 1440–1870. London 1997.

Kolonialismus und Dekolonisation in nationalen Geschichtskulturen

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kolonialer Symbole in den einzelnen Ländern und der damit verbundenen Kontroversen, z. B. um den »Zwarte Piet« in den Niederlanden oder die Schweizer Comicfigur »Globi«17, die belehrend durch die Welt zieht und immer weiß, wie sie anderen Völkern »helfen« kann und damit europäische, von ihr als überlegen wahrgenommene Werte vermittelt, lassen interessante Rückschlüsse auf die Existenz von oftmals unhinterfragten kolonialen Semantiken zu. Werden diese unkritisch übernommen oder als rassistisch bewertet und abgelehnt? Welche Gruppen innerhalb einer Gesellschaft vertreten welche Positionen? Wie werden die einzelnen Positionen artikuliert und welche setzen sich innerhalb der hegemonialen Ordnung(en) durch? Solche Fragen zielen auf einen kritischen Umgang mit der Präsenz kolonialer Vergangenheiten in aktuellen Geschichtskulturen und Erinnerungspolitiken in Europa. Eine entscheidende Erweiterung im Hinblick auf Kolonialismus und Dekolonisation als europäischem Erfahrungsraum hat die Hinwendung zu den kolonialen Dimensionen innereuropäischer Hegemonien und Verflechtungen ergeben. Die Perspektiven einer Geschichte des Kolonialismus sind insbesondere für Territorien in Ost- und Ostmittel- sowie Südosteuropa hilfreich, da diese lange Zeit von der Herrschaft großer Kontinentalimperien wie des Habsburgerreiches, des Osmanischen Reiches, des Russischen Reiches und Preußens bzw. später des Deutschen Reiches geprägt waren. Diese Territorien erscheinen als Semiperipherien, als Territorien, welche zwar zum westeuropäischen Zentrum gezählt werden, sich aber dennoch stark in Abhängigkeit zu diesem Zentrum definierten und definieren.18 Die These der Postcolonial Studies, dass Kolonialismus nicht lediglich als Herrschafts- und Ausbeutungsbeziehung zu sehen, sondern auch asymmetri17 Für eine frühe Rassismuskritik der Comics vgl. Regula Renschler : »Neger hat er just erblickt, und die Lage wird verzwickt.« Der krasse Rassismus in den Schweizer Globi-Büchern. In: Dies./Roy Preiswerk (Hrsg.): Das Gift der frühen Jahre. Rassismus in der Jugendliteratur. Basel 1981, S. 213–234; für eine Einordnung der Rassismuskritik Renschlers vgl. Patricia Purtschert: »De Schorsch Gaggo reist uf Afrika«. Postkoloniale Konstellationen und diskursive Verschiebungen in Schweizer Kindergeschichten. In: Dies./Barbara Lüthi/Francesca Falk (Hrsg.): Postkoloniale Schweiz. Formen und Folgen eines Kolonialismus ohne Kolonien. Bielefeld 2012, S. 89–116. 18 Vgl. Hannes Grandits u. a.: Phantomgrenzen im östlichen Europa. Eine wissenschaftliche Positionierung. In: Dies.: Phantomgrenzen. Räume und Akteure in der Zeit neu denken. Göttingen 2015 (Phantomgrenzen im östlichen Europa, Bd. 1), S. 13–56, hier S. 33f. Für dezidiert postkoloniale Ansätze zur Untersuchung innereuropäischer Hegemonial- und Verflechtungsbeziehungen vgl. auch Johannes Feichtinger/Ursula Prutsch/Moritz Cs#ky (Hrsg.): Habsburg Postcolonial. Machtstrukturen und kollektives Gedächtnis. Innsbruck u. a. 2003; Anna Veronika Wendland: Imperiale, koloniale und postkoloniale Blicke auf die Peripherien des Habsburgerreiches. In: Kraft/Lüdtke/Martschukat (Anm. 5), S. 211–235; Mark Bassin: Geographien imperialer Identität: Russland im 18. und 19. Jahrhundert. In: Kraft/Lüdtke/Martschukat (Anm. 5), S. 236–258 oder Violeta Kelertas (Hrsg.): Baltic Postcolonialism. Amsterdam u. a. 2006.

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sche Wissen-Macht-Verhältnisse zu berücksichtigen sind, die die Beziehungen zwischen Metropole und Peripherie(n) gestalteten,19 ist z. B. auch auf Polen anwendbar. Dies manifestiert sich z. B. in stereotypen Polenbildern, die Polen als »unzivilisiert«, »unorganisiert« und »rückständig« kennzeichnen, und nicht zuletzt zur Legitimation der Teilungen des Landes dienten. Polen, so die Argumentation, müsse aus westeuropäischer Sicht »zivilisiert« werden. Diese Zuschreibungen werden im Folgenden anhand eines Briefes von Georg Forster an Friedrich Heinrich Jacobi vom 17. Dezember 1784 sowie einer Passage aus Gustav Freytags Roman »Soll und Haben« diskutiert. Georg Forster (1754–1794), deutscher Naturforscher, Reiseschriftsteller und Ethnologe, nahm 1772–1775 an der zweiten Weltumseglung von James Cook teil und lieferte wichtige Beiträge zur Völkerkunde der Südsee. Forster bereiste später Polen-Litauen im Zusammenhang mit seinem Ruf an die Universität Wilna im Jahr 1784. In dem Brief an Jacobi schrieb Forster : »Hier in Polen geht es mir bis jezt noch recht nach Wunsch; zwar gestehe ich Ihnen, so gefaßt ich auf alles, so vorbereitet ich auf den Abstich war, erschrak ich doch heftig bey meinem Eintritt in dieses Land; es war der Verfall, die Unflätherey im moralischen und physischen Verstande, die Halbwildheit und Halbkultur des Volks, die Ansicht des sandigen mit schwarzen Wäldern überall bedeckten Landes, über alle Vorstellung die ich mir hatte machen können.«20

Forsters Äußerungen spiegeln das Selbstbild eines aufgeklärten Europas wider, indem er Rückständigkeit und Bildungsmangel beklagt. Zugleich scheint ihm das Land aufgrund dieser Rückständigkeit die Möglichkeit zu bieten, die von ihm als gesellschaftlich fortschrittlich wahrgenommenen Konzepte eher verwirklichen zu können als in Deutschland. Jürgen Osterhammel schreibt, die Konstruktion von inferiorer Andersartigkeit, die Annahme, Bewohner von Regionen außerhalb Europas seien anders, geistig und körperlich »minderwertiger beschaffen« als die Europäer, sei eines der Grundelemente kolonialen Denkens.21 Bei einer Betrachtung der oben zitierten Ausführungen Forsters stellt sich die Frage, ob nicht die Überlegungen Osterhammels zur Konstruktion inferiorer Andersartigkeit auch auf die hier beschriebene innereuropäische Konstellation und die Denkweise Forsters übertragbar ist. Forster beschreibt die Verhältnisse in Polen-Litauen mit abwertenden und die dort ansässige Bevölkerung mit kolonialen Begriffen wie »Halbwildheit« und »Halbkultur«. Dies zeigt, wie sehr eine solche Sicht bis weit ins aufgeklärte Bürgertum reichte. Die Präsenz dieser 19 Vgl. Grandits u. a. (Anm. 18), S. 33f. 20 Brief von Georg Forster an Friedrich Heinrich Jacobi vom 17. Dezember 1784. Zitiert nach: Georg Forsters Werke. Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe. Bd. 14. Berlin 1978, S. 248f. 21 Zu den Grundelementen kolonialen Denkens vgl. Jürgen Osterhammel, Kolonialismus. Geschichte, Formen Folgen. 7. Aufl. München 2012, S. 112–116.

Kolonialismus und Dekolonisation in nationalen Geschichtskulturen

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Deutungsmuster gerade auch in Forsters Schilderungen, der bei der Beschreibung der Südseevölker ein hohes Maß an Sensibilität bewies, kann als Indikator für diese tiefe Verwurzelung gesehen werden. Ein weiteres Beispiel: Gustav Freytags (1816–1895) Roman »Soll und Haben« verdeutlicht, dass diese Sichtweise lange weite bürgerliche Kreise ansprach. Der Roman erschien 1855 und gilt als einer der im Deutschland des 19. Jahrhunderts meistgelesenen Romane. In seiner Geschichte eines Kaufmanns entwickelt Freytag eine Typologie des zeitgenössischen Bürgertums. Tugendhaftigkeit, Fleiß, Ordnung, Ehrbarkeit gelten als Grundsätze eines Arbeitsethos und sollten den Stand des Bürgertums kennzeichnen. Hauptfigur ist der Beamtensohn Anton, der nach dem Tod des Vaters eine Kaufmannslehre beginnt. Da er im Sinne der oben skizzierten Tugenden sehr gewissenhaft arbeitet, hat er schnell Erfolg und steigt auf. Fink, ein Vertrauter, führt ihn in die besseren gesellschaftlichen Kreise Breslaus ein. Das entworfene Ideal bürgerlicher Lebensführung wird dem »rückständigen«, adlig-bäuerlichen Polen gegenübergestellt. So lässt Freytag an einer Stelle deutlich werden, es gebe »keine Rasse, welche so wenig das Zeug hat, vorwärts zu kommen und sich durch ihre Kapitalien Menschlichkeit und Bildung zu erwerben, als die slawische.«22 Wie hartnäckig solche asymmetrischen Wissen-Macht-Verhältnisse fortbestehen und auch noch in aktuelle politische und gesellschaftliche Debatten hineinwirken, zeigt ein Beispiel aus jüngerer Zeit: Aufgrund der Teilnahme Polens am Irakkrieg 2003 kam durch eine Gruppe um Jürgen Habermas und Adolf Muschg die Vorstellung einer friedensbewegten Avantgarde auf, die sich in einem sogenannten »alten« »Kerneuropa« seit der Aufklärung verorten lasse. Als Reaktion darauf veröffentlichte der polnische Journalist und Publizist Adam Krzemin´ski am 11. Juli 2003 in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) einen Artikel mit dem Titel »Wie einst Kant, so heute Habermas. Die ›Kerneuropa‹-Initiative, von Polen aus betrachtet«.23 Krzemin´skis Artikel, der die Initiative um Habermas und Muschg in einer historischen Kontinuität mit den Teilungen Polens sah und kritisierte, dass Polen noch immer von einer auf Überlegenheitsempfin22 Gustav Freytag: Soll und Haben. Roman in sechs Büchern [1855]. In: Ders.: Gesammelte Werke. Neue wohlfeile Ausgabe. Zweite Serie, Band 1. Leipzig o. J. [1920], S. 394. Zu neueren Forschungen zu »Soll und Haben« in postkolonialer Perspektive vgl. Kristin Kopp: »Ich stehe jetzt hier als einer von den Eroberern«: Soll und Haben als Kolonialroman. In: Florian Krobb (Hrsg.): 150 Jahre Soll und Haben. Studien zu Gustav Freytags kontroversem Roman. Würzburg 2005, S. 225–237; dies.: Reinventing Poland as German Colonial Territory in the Nineteenth Century : Gustav Freytag’s Soll und Haben as Colonial Novel. In: Robert L. Nelson (Hrsg.): Germans, Poland, and Colonial Expansion to the East. 1850 through the Present. New York 2009 (Studies in European Culture and History), S. 11–37. 23 Adam Krzemin´ski: Wie einst Kant, so heute Habermas. In: Neue Zürcher Zeitung vom 11. 07. 2003, abrufbar in: NZZ online vom 11. 07. 2003 unter http://www.nzz.ch/aktuell/startseite/ article8YGO4-1.276061 (aufgerufen am 30. 01. 2016).

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dungen des Westens beruhenden Position aus wahrgenommen werde, ist als Versuch zu lesen, Polen eine eigene Stimme zu geben und seine politischen Entscheidungen sowie sein kulturelles Erbe aus der eigenen Perspektive heraus, eben »von Polen aus betrachtet« zu deuten. Die Anwendung der Perspektiven der Postcolonial Studies auf Beispiele wie die hier diskutierten kann demnach zu einer historisch reflektierten Einordnung aktueller geschichtskultureller Debatten und zum Verständnis innereuropäischer Dimensionen kolonialer Wahrnehmungs- und Deutungsmuster beitragen.

3.

Grenzgänger

Die vorangegangenen Ausführungen haben deutlich gezeigt, dass eine europäische Meistererzählung der kolonialen Vergangenheit nicht möglich ist und nicht gewollt sein kann. Eine »Europäisierung« der kolonialen Vergangenheit könnte vielmehr bedeuten, durch Berücksichtigung anderer Perspektiven zu einer Relativierung der eigenen Sichtweisen, angenommenen Gewissheiten und tradierten Vorstellungen zu gelangen, die die Wahrnehmungen und Umgangsweisen der »Anderen« berücksichtigt und explizit zum Unterrichtsgegenstand macht. Die Erweiterung des Blicks auch auf innereuropäische Hegemonien und Verflechtungen leistet dabei einen entscheidenden Beitrag zum tieferen Verständnis von Grundelementen kolonialen Denkens. Die Heterogenität der Erinnerungskulturen im Hinblick auf Kolonialismus und Dekolonisation in Europa ist eine Herausforderung, die zum permanenten Dialog auffordert. Akteure der Geschichtsvermittlung können als Grenzgänger diesen Dialog auf Basis konkreter Themen und multiperspektivischer Herangehensweisen unterstützen und aktiv gestalten. Hierin liegt die Herausforderung einer »Europäisierung« der kolonialen Vergangenheiten in Europa.

Sektion 4: Grenzverschiebungen und Raumbezüge historischer Bildung. Einführung

Anke John

Grenzverschiebungen und Raumbezüge historischer Bildung. Einführung

Historisches Lernen wird in mehrfacher Hinsicht durch Orts-und Raumbezüge situiert. Es ist durch die von den Lehrplänen als relevant erachteten und in Schulgeschichtsbüchern eingeschriebenen Geschichtsräume geprägt sowie durch den Unterrichtsort und die mit ihm verbundenen Lerngelegenheiten. Einen weiteren Einflussfaktor stellen die veränderlichen Handlungs- und Erfahrungsräume der Lernenden selbst dar.1 Dazu zählen heute ein hohes Maß an Mobilität als gesellschaftliches Leitbild, die relative Ortsgebundenheit von Biographien und Auslandserfahrungen Heranwachsender, die durch grenzüberschreitende Schulpartnerschaften sowie durch Austauschprogramme gefördert werden. Nicht zu vergessen sind die digitalen Medien, die noch ungewohnte Herausforderungen für die Repräsentation von realen und symbolischen Räumen und Grenzen mit sich bringen. Bereits bevor sich die Aufmerksamkeit auf diese räumliche Rahmung historischer Vermittlungsprozesse richtete, die eng mit dem »spatial turn« verbunden wird,2 ist die Kategorie Raum im Geschichtsunterricht immer präsent gewesen. Ein früher Indikator ist das Fach Heimatkunde, mit dem historisches Lernen in die pädagogische Vorstellung eingebettet wurde, dass der Nahraum ein optimaler Ausgangpunkt von Lernsituationen sei. Mit seiner Elementarlehre hatte Johann Heinrich Pestalozzi einen Unterricht gefordert, der sich von der Schulund Wohnstube aus in Feld und Flur, in Dorf und Land orientieren sollte. Auch die daran anschließenden didaktisch-methodischen Vorgaben Johann Friedrich Herbarts, der »Unterricht müsse vom Bekanntern zum Unbekanntern, vom Einfachern zum Zusammengesetztern und Verwickeltern, vom Leichtern zum

1 Eine Systematisierung der Raumbezüge historischen Lernens unternimmt Vadim Oswalt: Das Wo zum Was und Wann. Der »Spatial turn« und seine Bedeutung für die Geschichtsdidaktik. In: GWU 61 (2010), H. 4, S. 220–233. 2 So der Themenschwerpunkt »Geschichtsdidaktik und Raumkonzeptionen« der ZfGD 10 (2011).

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Schwerern übergehen«3, implizierten für den Geschichtsunterricht, das Vergangene aufs engste mit den Erfahrungen und Anschauungen der Schülerinnen und Schüler zu verknüpfen. Generationen von Volksschullehrern wurde so im 19. Jahrhundert durch die Allgemeine Pädagogik nahegelegt, von den Überresten der Vergangenheit im nahen Umfeld auszugehen und von dort in erweiterten Räumen die Geschichte des Kreises, der Provinz und des Gesamtstaates zu behandeln. In der Geschichte des Faches hat es seitdem kräftige Schübe für nationalgeschichtliches, regionalgeschichtliches oder globalgeschichtliches Lernen gegeben, wobei nur selten die räumlichen Kriterien der unterrichtlichen Themenwahl hinreichend reflektiert worden sind.4 Als besonders effektive Methode für die Vermittlung räumlicher Bezüge vergangener Ereignisse, Strukturen und Biographien gilt nach wie vor der Besuch außerschulischer Lernorte. Die zunächst sehr disparaten Vorstellungen vom Lernen außerhalb der Schule sind hier durch die Geschichtsdidaktik fachlich präzisiert worden. Wenn von historischen Orten die Rede ist, geht es in der Regel um geschichtskonkrete Orte mit einer entsprechenden Quellenüberlieferung. Sie werden abgegrenzt von Museen und Archiven, die Quellen sammeln und ausstellen und diese deshalb in der Regel aus ihrem ursprünglichen Entstehungskontext reißen. Das bisherige Spezifikum, dass der historische Ort selbst zum Museum wird, scheint mit dem Durchbruch virtueller Angebote, die einen lokalisierten Zugang zu weiteren Informationen und dreidimensional dargestellten Objekten anbieten, indessen bereits auf dem Weg zum Normalfall zu sein.5

3 Diesen folgend z. B. Karl Biedermann: Der Geschichtsunterricht in der Schule, seine Mängel und ein Vorschlag zu seiner Reform. Braunschweig 1860, S. 3. 4 Für die Zeit seit 1989 bspw. Christoph Kleßmann/Peter Lautzas (Hrsg.): Teilung und Integration. Die doppelte deutsche Nachkriegsgeschichte. Bonn 2005 (Schriftenreihe der BpB, 482) und Susanne Popp zus. m. Elisabeth Erdmann, Bärbel Kuhn, Regina Ultze: (Umsetzung in den Fächern) Geschichte. In: KMK/BMZ (Hrsg.): Orientierungsrahmen für den Lernbereich Globale Entwicklung im Rahmen einer Bildung für nachhaltige Entwicklung. Zsgst. u. bearb. v. Hannes Siege/Jörg Robert Schreiber. 2. Aufl. Bonn 2015, S. 254–284. Dagegen für die Regionalgeschichte aus einer eher defensiven Position Dietmar Schiersner : Alter Zopf oder neue Chance? Regionalgeschichte in Historiographie und Geschichtsunterricht. In: GWU 62 (2011), H. 1/2, S. 50–60. 5 Zu Begriff und Funktion von real-lokalen Orten, an denen historisch gelernt wird, vgl. Waltraud Schreiber : Geschichte vor Ort. Versuch einer Typologisierung für historische Exkursionen. In: Bernd Schönemann/Uwe Uffelmann/Hartmut Voit (Hrsg.): Geschichtsbewusstsein und Methoden historischen Lernens. Weinheim 1998 (Schriften zur Geschichtsdidaktik, Bd. 8), S. 213–225 und den Basisartikel von Ulrich Baumgärtner zum Themenheft »Historische Orte« der Zeitschrift Geschichte lernen 19 (2005), Heft 106, S. 12–18 sowie zuletzt Christian Kuchler : Historische Orte im Geschichtsunterricht. Schwalbach/Ts. 2012 (Methoden historischen Lernens). Die Erweiterung um ein metaphorisches Verständnis findet sich bei Saskia Handro/Bernd Schönemann (Hrsg.): Orte historischen Lernens. Berlin 2008.

Grenzverschiebungen und Raumbezüge historischer Bildung

1.

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Befunde über Raumrepräsentationen in Geschichtskarten und Lehrbüchern

Wann und wie die Kategorie Raum in der historischen Lehr- und Lernpraxis überhaupt eine Rolle spielt, wurde erst in Teilbereichen untersucht. Es liegen einige Arbeiten vor, in denen beschrieben wird, wie historische Räume und Grenzen in Schulbüchern und in historischen Karten verschiedener Länder und Epochen reflektiert, konstituiert und gedeutet werden. Das Schulbuch als frühes Massenmedium hatte insbesondere für das Fach Geschichte einen erheblichen Anteil an der Konstruktion, Popularisierung und kulturellen Vermittlung historischer Narrative, die die eigene Nation legitimieren und gegen »Andere« abgrenzen sollten. Nach wie vor ist es eine wichtige und zugleich ambivalente Ressource für die Formung kollektiver Zugehörigkeiten. Schulbücher tradieren kulturelle Grenzen von Gemeinschaften, vermögen in ihrer besonderen Eingängigkeit aber auch alternative Verständigungsräume zu schaffen und Grenzen durchlässig zu machen.6 Im Vergleich mit den Visionen für das Internet ist das Schulbuch ein vergleichsweise träges und in seiner Funktion begrenztes Medium, für dessen Zukunft trotz der Entwicklung digitaler Schulbücher keine verlässlichen Prognosen getroffen werden können. Die Analyse von Raumpräsentationen in Medien historischen Lernens lässt zudem keine direkten Rückschlüsse auf raumbezogene Vermittlungs- und Aneignungsprozesse zu, also auf das, was Lehrkräfte im Unterricht vermitteln und was Schülerinnen und Schüler sich tatsächlich aneignen. Zu den Unbekannten in den geschichtsdidaktischen Debatten gehört das historische Interesse Heranwachsender an lokaler, regionaler, nationaler, europäischer und globaler Geschichte. Die letzten empirischen Befunde dazu stammen aus den 1990er Jahren, wobei die internationale Studie »Youth and History«, die 1997 veröffentlicht wurde, ein eher durchschnittliches historisches Interesse an den verschiedenen Geschichtsräumen festgestellt hat, mit einem leichten Vorsprung für die Nationalgeschichte.7 Bei den Lehrkräften überwiegt ein eher selbstverständliches Einvernehmen darüber, dass Lernende spezifische Kenntnisse über Orte und Räume in der Geschichte erwerben und von der Ausdehnung des Römischen Reiches bis zur wechselnden territorial-staatlichen Gestalt Deutschlands über gesichert gespeicherte mental maps verfügen sollten. Die historische Kartenarbeit findet 6 Simone Lässig: Räume und Grenzen. Außenperspektiven und Innenansichten durch die Linse des Schulbuchs. In: GWU 64 (2011), H. 1/2, S. 6f. 7 Table B 96 Item-Table of the Question about the Interest in Areas of History (AREA). In: Magne Angvik/Bodo von Borries (Hrsg.): Youth and History. A Comparative European Survey on Historical Consciousness and Political Attitudes among Adolescents. Vol. B: Documentation. Hamburg 1997, B 143.

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sich in fast allen Richtlinien zum Geschichtsunterricht als methodisch auszubildende Fähigkeit. Sie ist dort jedoch sehr allgemein gehalten und wird in den notwendigen Analyseschritten nicht so konkretisiert, dass die didaktischen Beschreibungen für Lehrkräfte und Fachkonferenzen wirklich orientierend und handlungsleitend sein könnten.8 Zudem erscheint in vielen Curricula die Kategorie Raum als ein nicht reflektiertes Ordnungsprinzip.9

2.

Raumzeitliche Aneignungs- und Vermittlungsprozesse als Forschungsdesiderat

Während auf der theoretischen und normativen Ebene von Geschichtswissenschaft und Geschichtsdidaktik weithin akzeptiert ist, dass Grenzen und Räume vom Menschen gemacht sind, dass sie fluid, prekär und historisch wandelbar sind, scheinen doch Zweifel angebracht zu sein, wie eindeutig dieser Befund in der Unterrichtspraxis ausfallen würde. Wie werden historische Räume und Grenzen dort überhaupt begriffen – als natürliche Gegebenheit, als Kultur oder als sozialgeschichtliche Realität? Werden sie rational strukturiert oder sind sie – über Metaphern wie Heimat oder Landschaft – eher emotional gefärbt und affiziert? Insgesamt sollte daher dem historischen Raumbewusstsein10 und der notwendigen Übersetzung von Raumkonzepten in der Vermittlungspraxis eine größere Aufmerksamkeit als bisher zu Teil werden. Um zu wissen, wie Kinder, Jugendliche und Erwachsene im Raum die Zeit lesen11, benötigen wir Untersuchungen, die über die Analyse von Curricula und Schulbüchern hinausgehen, und die an den historischen Vermittlungsprozessen Beteiligten selbst in den Blick nehmen. Weiter zu bearbeiten sind die beobachtbaren Widersprüche eines raumbewussten Umgangs mit historischem Lernen. So hat zwar die späte Anerkennung persönlich gelebter Geographien und migrantischer Erfahrungen die langjährige und ungebrochene Dominanz nationalstaatlicher Betrachtungsweisen und 8 Michael Sauer : Zur »Kartenkompetenz« von Schülern. Ergebnisse einer empirischen Untersuchung. In: GWU 61 (2010), H. 4, S. 234–244, hier S. 234f. 9 Vadim Oswalt: Raum und historisches Lernen. In: Eugen Kotte (Hrsg.): Kulturwissenschaften und Geschichtsdidaktik. München 2011, S. 199–218. 10 Diese Dimension des Geschichtsbewusstseins ist eine Ergänzung des Ende der 1980er Jahre durch Hans-Jürgen Pandel definierten Analysemodells des Geschichtsbewusstseins durch Peter Gautschi: Lernumgebungen zur Ausdifferenzierung des Geschichtsbewusstseins. In: Bernd Schönemann/Hartmut Voit (Hrsg.): Von der Einschulung bis zum Abitur. Prinzipien und Praxis des historischen Lernens in den Schulstufen. Idstein 2002 (Schriften zur Geschichtsdidaktik, Bd. 14), S. 66–83, hier S. 77. 11 Mit Bezug auf Karl Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik. München 2003.

Grenzverschiebungen und Raumbezüge historischer Bildung

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Deutungsmuster in Frage gestellt, aber doch wieder in paradoxe Konstellationen machtvoller Wir-Sie-Unterscheidungen geführt, die sich aus den charakteristischen Problemen von gemeinsamen Erfahrungen, nivellierenden Herkunftsgeschichten und den Abgrenzungs- und Schließungstendenzen von Identitätskonzepten ergeben.12 Für viele Menschen haben national-territoriale Bezüge nach wie vor eine hohe Bedeutung. Die Ideen von Heimat sowie Vorstellungen von Gemeinschaft, die tatsächliche soziale, politische und wirtschaftliche Differenzen der gesellschaftlichen Realität verschleiern und Unterscheidungen von Berechtigten und Minderberechtigten, Fremden und Anderen nach sich ziehen, stammen zwar aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert, entfalten aber immer noch eine wirksame Mobilisierungs- und Integrationskraft. Im Rückzug auf die »natürliche nationale Einheit« erscheint der konkrete Nationalstaat dabei oft als etwas Einheitliches und Zeitloses und als ein vermeintlich einfaches, für jedermann verständliches Ordnungsprinzip, das keiner besonderen Legitimation bedarf und das so die Lösung aller Probleme selbst in der komplexen Realität des 21. Jahrhunderts verspricht.13 Ein geschichtsdidaktisches Anliegen ist es daher, den evidenten Gegenwarts- und Lebensweltbezug des Themas Nation und Nationalismus auf einen reflexiven Umgang mit seinen identifikatorischen Angeboten zu führen. Dazu kann die Beschäftigung mit prekären Räumen und Raumverlusterfahrungen der Vergangenheit – etwa in Folge von Mobilität, Migration und aufgrund sozialer Veränderungen – ebenso beitragen wie die Thematisierung von Grenzräumen, multiethnischen bzw. multikulturellen Räumen, von Flucht und Vertreibung und von »Heimat«, die schon lange nicht mehr allein der Ort der Geburt ist, sondern auch eine Wahlheimat sein kann.14 Allerdings steht einem solchen erweiterten räumlichen Zuschnitt und der bewussten Klärung von Raumkonzepten eine thematisch oft konventionelle bzw. rekonventionalisierte Unterrichtspraxis gegenüber.15 Als symptomatisch soll hier nur auf das Zentralabitur verwiesen werden, das in dimensionaler, epochaler und räumlicher Hinsicht einschränkend wirkt. Privilegiert werden der 12 Unter anderen Viola B. Georgi: Entliehene Erinnerung. Geschichtsbilder junger Migranten in Deutschland. Hamburg 2003 und Marion Klein: Schülerinnen und Schüler am Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Eine empirisch-rekonstruktive Studie. Wiesbaden 2012. Eine Zusammenfassung der Befunde findet sich auf der Homepage der Bundeszentrale für Politische Bildung (http://www.bpb.de/apuz/170170/trauerimperativ-jugendliche-und-ihrumgang-mit-dem-holocaust-denkmal?p=all#footnode24-24, abgerufen am 01. 02. 2016). 13 Markus Bernhardt: Nation und Nationalismus. In: Geschichte lernen 169 (2016), S. 2–8. 14 Dietmar Schiersner : Einführung in den Themenschwerpunkt »Geschichtsdidaktik und Raumkonzeptionen«. In: ZfGD 10 (2011), S. 5–9, hier S. 6. 15 Bärbel Völkel: Von ungewollten Nebenwirkungen eines traditionellen chronologischen Geschichtsunterrichts. Nationalismus als historische Sinnbildung? In: Historische Mitteilungen der Ranke-Gesellschaft 26 (2013/14), S. 401–412.

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Bereich der Politikgeschichte und die Zeit des 19. und 20. Jahrhunderts. Die Orts- und Regionalgeschichte bleibt dagegen ebenso unberücksichtigt wie die Geschichte außereuropäischer Kulturen. Zieht man einen Vergleich zwischen den Bundesländern, wird zwar deutlich, dass Inhaltszentrierung und eine Nichtberücksichtigung der Mikro- und Makrogeschichte keine notwendigen Konsequenzen des Zentralabiturs sind. Aber auch die Öffnung der Themen in anderen Lehrplänen und Prüfungsaufgaben steht in der Kritik, weil die notwendige Einarbeitung in neue Unterrichtsthemen nicht von allen Lehrkräften mitgetragen wird.16

3.

Zu den Beiträgen

Bernd-Stefan Grewe fragt daher zunächst, wie sich die viel geäußerte Forderung nach einer globalhistorischen Orientierung der Lernenden in der universitären und schulischen Praxis umsetzen lässt. In seinem Beitrag »Entgrenzte Räume und die Verortung des Globalen – Probleme und Potentiale für das historische Lernen« erläutert er die fachlichen Herausforderungen, denen sich Lehrkräfte gegenübersehen, wenn sie sich nicht mehr allein in nationalhistorischen und in westeuropäisch-atlantischen Themenbereichen bewegen. Es werden Merkmale von Globalgeschichte herausgestellt und die Erkenntnisprobleme, an denen sich die Fachwissenschaft immer noch abarbeitet. Zu den Herausforderungen, die bei der Vermittlung zu berücksichtigen sind, gehören die notwendige Eingrenzung des Gegenstandsbereiches und die Überwindung eurozentristischer Denkfiguren, die die Brauchbarkeit unserer traditionellen historischen Begriffe und Kategorien in Frage stellt und deshalb nicht ohne neue »Denkzeuge« (Hilke Günther-Arndt) zu haben sei. Vieles daraus spricht für ein an konkreten Orten ansetzendes, schülerorientiertes und quellenbasiertes Lehrmodell. Am Beispiel einer Kakaokanne aus Aachen wird demonstriert, wie sich aus früheren Alltagsgegenständen globalgeschichtliche Fragestellungen ableiten lassen und wie sich grenzüberschreitende Verbindungen und Verflechtungen der Geschichte identifizierbarer Dinge und Personen rekonstruieren lassen. Die Art der Globalgeschichte, die so zu gewinnen ist, hat einen festen Sitz im Lokalen und in der Lebenswelt der Lernenden und ist daher nicht als Maßstabsvergrößerung oder als umfassende Weltgeschichte zu denken. Der Beitrag von Anja Neubert »Von Grenzgängern und Zeitreisen« befasst sich mit der Lokalisierung historischen Wissens durch Historische Apps bzw. 16 Bernd Schönemann/Holger Thünemann/Meik Zülsdorf-Kersting (Hrsg.): Was können Abiturienten? Zugleich ein Beitrag zur Debatte über Kompetenzen und Standards im Fach Geschichte. Berlin 2010 (Geschichtskultur und historisches Lernen, 4), S. 20f.

Grenzverschiebungen und Raumbezüge historischer Bildung

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virtuelle Stadtrundränge, die exemplarisch sind für das Tempo der Veränderungen geschichtskultureller Praktiken. Hier geht es um eine erste Annäherung an die digitale Augmented-Reality-Technik, mit deren Hilfe nicht mehr sichtbare Räume so rekonstruiert werden, dass sie Anlässe und Gegenstände historischen Lernens sein können. Als Fallbeispiel dient die preisgekrönte und von der Verfasserin konzipierte App »ZEITFENSTER. Friedliche Revolution Leipzig«. Wer sie lädt, kann an 25 Orten der Leipziger Innenstadt historische Fotografien des Jahres 1989 mit der aktuellen Kamerasicht seines Tablets oder Smartphones überblenden. Im Anschluss an das Konzept des HisTourismus (Bernd Mütter) und anhand eigener Erfahrungen mit der Entwicklung dieser App skizziert die Autorin geschichtsdidaktische Kriterien für virtuelle Stadtrundgänge und Beschreibungsversuche der damit einhergehenden historischen Lernprozesse. Wird die Wahrnehmung der Verzeitlichung des Raumes bzw. der Verräumlichung der Zeit durch das Auf- und Abtragen historischer Zeitschichten mit dem Finger auf dem Tablet unterstützt? Verschieben die historischen Informationen und räumlichen Szenen, die die Bildschirme direkt vor unseren Augen erzeugen, die historischen Wahrnehmungsgrenzen? Diese und andere Fragen verweisen bereits auf eine empirische Rezeptionsanalyse als nächsten Projektschritt. Die zu erwartenden Befunde über die Nutzer, ihr Verhalten und ihre Erfahrungen könnten Aufschluss darüber geben, was die Verschränkung digitaler historischer Inhalte mit der dinglichen Umwelt für historisches Denken bedeutet. Die historische Wahrnehmung einer bekannten Umgebung durch zwölfjährige Kinder steht im Mittelpunkt des empirisch angelegten Beitrags »Alltägliches sehen lernen« von Ivonne Driesner. Neben Schülerinnen und Schüler, die ihren Wohn- und Schulort in der Stadt Greifswald im nordöstlichen MecklenburgVorpommern haben, hat die Autorin auch junge Probanden befragt, deren Leben durch das Pendeln bestimmt ist, weil sie beispielsweise auf dem Land wohnen und in der Stadt zur Schule gehen, was aufgrund der anhaltenden Entwicklung zu städtischen Schulzentren in diesem Bundesland häufig der Fall ist. Die Autorin zeichnet in ihrer Studie nach, wie die Wahrnehmung von Spuren der Vergangenheit durch soziale Rahmungen (Familie, Freizeit, Geschichtsunterricht) und durch geschichtskulturelle Angebote des Stadtmarketings und des Tourismus beeinflusst wird. Des Weiteren identifiziert sie Merkmale, von denen Kinder in Greifswald ausgehen, wenn sie Objekte ihres engeren Schul- bzw. Wohnbereichs als historisch wahrnehmen. Ein typischer Anhaltspunkt für die Wahrnehmung von Historizität ist demnach die optische Außenwirkung. Mit der überragenden Größe eines Objektes im Vergleich zur Umgebung (Kirchen), der Wahrnehmung von Zerfall in einer intakten Umgebung (Klosterruine) oder mit regional spezifischen Wahrnehmungsmustern (norddeutsche Backsteinarchitektur) werden dabei Kriterien angeführt, die nicht ohne Weiteres auf andere

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Anke John

Städte und Regionen übertragbar sind. Die Schlussfolgerungen, die aus diesen Befunden für den Anfangsunterricht gezogen werden, führen schon deshalb nicht zurück in eine von Pestalozzi beeinflusste Vorstellung der konzentrischen Entwicklung vom Nahen zum Fernen. Wie in den anderen beiden Beiträgen auch geht es um die Fundierung einer raumbewussten Geschichtsvermittlung, die ihren Anfang im Lokalen nehmen kann und die den Lernenden eine reflexive und reflektierte Auseinandersetzung mit vorhandenen Raumkonzepten ermöglicht.

Bernd-Stefan Grewe

Entgrenzte Räume und die Verortung des Globalen. Probleme und Potentiale für das historische Lernen

1.

Geschichtsbilder und ihr räumlicher Bezugsrahmen

Es geschah völlig unerwartet im 15. Jahrhundert. An diesem Tag entdeckten Einheimische die ersten Fremden, die von Osten her über das Meer gekommen waren. Sie hatten merkwürdige Boote mit mehreren Masten und vielen Segeln; an der Außenseite waren auch keine Paddel oder Ruder zu entdecken. Schiffe dieser Größe und Bauart hatte man an dieser Küste noch nie zu Gesicht bekommen. Noch merkwürdiger erschienen die Männer, die nun in kleinere Boote stiegen und an den Strand ruderten. Sie hatten eine hellere Hautfarbe und trugen äußerst merkwürdige Kleidung, auch ihre Sprache war spontan nicht zu verstehen. Woher mochten sie kommen und was wollten sie hier? Für beide Seiten, die Einheimischen und die Neuankömmlinge, war dies eine ungeheuer spannende, von Furcht erfüllte und vom Ausgang her völlig offene Begegnung. Mehrere Jahrhunderte später kam es auf einem anderen Kontinent zu einer Folge revolutionärer Ereignisse, in deren Verlauf etwas kaum Denkbares geschah: Die seit Jahrhunderten bestehende Monarchie wurde abgeschafft! Bereits im Frühjahr waren die gewählten Abgeordneten zusammengetreten und hatten sich zur Nationalversammlung erklärt. Gegen die Engländer und ihre Verbündeten hatte man im Krieg mehrere empfindliche Niederlagen einstecken müssen. Noch behaupteten sich die revolutionären Armeen. Einige Teile des Reiches waren bereits von den Armeen der Alliierten besetzt, die Herrschaft befand sich in einer entscheidenden Krise und die Autorität des Monarchen wurde kaum respektiert. Mehrere durch ihn eingesetzte Regierungen hatten diese Krise nicht lösen können, sodass die bisherige Regierung keinerlei Rückhalt in der Bevölkerung mehr besaß und Neuwahlen stattfinden mussten. Schließlich drohte sogar die Besetzung der Hauptstadt durch ausländische Truppen. Unter diesem äußeren Druck tagte die verfassungsgebende Nationalversammlung. Verhandlungen mit den Gegnern standen an und gleichzeitig diskutierte man hitzig über die neue Verfassung, die im Folgejahr in Kraft trat. Zunächst war man bereit, den Monarchen noch einige Zeit als eine Art »deko-

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Bernd-Stefan Grewe

ratives Staatsoberhaupt« zu dulden, de facto war jedoch die Macht längst in den Händen der Nationalversammlung und der von ihr legitimierten Regierung. Zwei Jahre später wurde dann endgültig die Republik ausgerufen. Damit ging nach 622 Jahren ununterbrochener Herrschaft eine Dynastie zu Ende. Handelte es sich bei diesen beiden Ereignissen um historische Zäsuren, mit denen sich Beginn und Ende der Epoche Frühe Neuzeit bestimmen lassen? Diese Frage lässt sich für das erste Ereignis sicherlich mit einem eindeutigen »Nein« beantworten, im zweiten Fall lässt sich darüber streiten, inwiefern das Ende dieser Monarchie als epochale Zäsur zu bewerten ist. Die Antwort mag erstaunen. Das liegt vor allem daran, dass wir bei diesem Ereignis fast automatisch an Kolumbus’ Entdeckung Amerikas 1492 und zweitens an die Französische Revolution denken. Tatsächlich habe ich hier jedoch zwei Ereignisse geschildert, die in der Regel außerhalb unserer Geschichtswahrnehmung liegen: Im ersten Fall ging es nicht um die Ankunft der Spanier in Amerika, sondern um ein Ereignis, das sich so oder so ähnlich mehr als sieben Jahrzehnte früher zugetragen hatte, aber an einem anderen Ort und mit anderen Beteiligten: Mehrfach ab 1414 erreichten Schiffe der großen chinesischen Erkundungsflotte unter Admiral Zheng He (1371–1433/35) die afrikanische Ostküste. Sie landeten im heutigen Somalia und gelangten bis Malindi (Kenia). Der chinesische Kaiser hatte eine gewaltige Flotte von 70 Schiffen mit mehr als 27.000 Mann Besatzung auf Erkundungsreise geschickt; viel mehr als jene paar Dutzend Männer, die die spanischen und portugiesischen Entdecker befehligten.1 Die größten Schiffe dieser Flotte sollen nach zeitgenössischen Angaben mehr als 90 Meter lang gewesen sein und hätten damit auch die 23 Meter Länge von Kolumbus’ Santa Maria deutlich überragt.2 Anders als die Spanier begannen die Chinesen nach der Entdeckung jedoch keine Politik der Eroberung und etablierten auch keine koloniale Herrschaft, wozu sie militärisch zweifellos in der Lage gewesen wären. Hingegen stellte China wenige Zeit später die Flottenrüstung und sogar den Seefernhandel fast ganz ein und konzentrierte sich auf die kontinentale Politik und den innerasiatischen Handel.3 1 Edward L. Dreyer : Zheng He and the Oceans in the Early Ming Dynasty 1405–1433. New York 2007; Kent Deng: An Evaluation of the Role of Admiral Zheng He’s Voyages in Chinese Maritime History. In: International Journal of Maritime History 7 (1995), S. 1–19. Problematisch bei der Datierung ist die systematische Zerstörung der Berichte von Zheng He durch konservative Beamte kurz nach seinem Tod. 2 Diese zeitgenössischen Größenangaben gelten als übertrieben, als realistisch wird eine Größe von ca. 60 Metern angenommen. 3 Hok-Iam Chan: The Chien-wen, Yung-lo, Hung-hsi, and Hsüan-te Reigns 1399–1435. In: Frederick W. Mote/Denis Twitchett (Hrsg.): The Cambridge History of China. Bd. 7: The Ming Dynasty 1368–1644. Cambridge 1988, S. 182–304, hier S. 232–236, 302f.

Entgrenzte Räume und die Verortung des Globalen

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Dieses erste Beispiel wurde wegen seiner offensichtlichen Parallelen zur spanischen Landung in Amerika gewählt. Daran kann man zum einen zeigen, dass sich die Bewertung eines Ereignisses als eine historische Zäsur generell erst aus seinen Folgen und seiner späteren Bewertung durch die Historiker ergibt, und nicht aus dem Ereignis selbst. Zum anderen soll es darauf aufmerksam machen, dass wir bei unserer Bestimmung dessen, was eine bestimmte Epoche – hier die »Frühe Neuzeit« – ausmacht, zumeist eine sehr eurozentrische Perspektive einnehmen und unsere Wahrnehmung von globaler Geschichte sich oft nur auf den atlantischen Raum beschränkt.4 Auch das zweite einleitend beschriebene Ereignis der Abschaffung der Monarchie und der Ausrufung einer Republik bezieht sich trotz mancher Ähnlichkeiten nicht etwa auf die Französische Revolution, sondern auf die rund 130 Jahre später erfolgte Ausrufung der türkischen Republik unter Mustaf. Kem.l (Atatürk), mit der das Osmanische Reich und die Dynastie der Osmanen zu Ende gingen.5 Auch dieses Beispiel verweist auf eine Verengung unserer Perspektive auf die europäische Geschichte, die nicht nur die »Frühe Neuzeit«, sondern genauso auch die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts betrifft. Wenn in Überblickswerken, Einführungen und Schulbüchern vom frühneuzeitlichen Europa geschrieben wird, dominiert eine west- und mitteleuropäische Sichtweise, welche die Entwicklungen großer Teile des südlichen, nördlichen und östlichen Europas für weniger wichtig erachtet als die in Frankreich oder Großbritannien. Gerade das Osmanische Reich und die spätere Türkei werden oft entweder gar nicht berücksichtigt oder nur ganz am Rande erwähnt. Wissenschaftlich gerechtfertigt ist eine solche Marginalisierung hingegen nicht. Sie ist schon deshalb nicht haltbar, weil das Osmanische Reich in der europäischen Machtpolitik und im Konzert der Großmächte dauerhaft eine sehr wichtige Rolle spielte, nicht nur rund um das Mittelmeer, sondern bis nach Wien und Mitteleuropa hinein. Auch vor dem Hintergrund der anhaltenden politischen Debatten um die Türkeipolitik der EU sollte man über die Bedeutung der osmanischtürkischen Geschichte für die europäische Entwicklung zumindest einmal explizit nachdenken, statt sie unhinterfragt wegzulassen.6 4 Dass sich eine vergleichbare Periodisierung der Frühen Neuzeit auch globalhistorisch begründen ließe, zeigt die Diskussion entsprechender Entwürfe von Jürgen Osterhammel (Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München 2009, S. 99–102) und Christopher Bayly (Die Geburt der modernen Welt. Eine Globalgeschichte. Frankfurt a.M. 2006, S. 110–152). 5 Zum Ende des Osmanischen Reiches und zur Entstehung der Republik Türkei: Suraiya Faroqhi: Geschichte des Osmanischen Reichses. 6. Aufl. München 2014; Klaus Kreiser : Der Osmanische Staat 1300–1922. München 2008; Klaus Kreiser/Christoph K. Neumann: Kleine Geschichte der Türkei. Stuttgart 2003; Udo Steinbach: Geschichte der Türkei. 4. durchgesehene u. akt. Aufl. München 2007. 6 In älteren Schulbüchern findet sich noch der Hinweis auf die »Türkische Belagerung Wiens«,

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Im Grunde sind diese Beispiele mit den meisten Lehrplänen kompatibel und somit bestehen keine formalen Hindernisse, sie auch im Unterricht zu studieren. Sie machen indessen grundlegende Probleme sichtbar. Im Raum steht insbesondere die Frage danach, welche Art globaler Geschichte sich in der universitären und schulischen Lehre vermitteln lässt. Noch grundsätzlicher kann man danach fragen, inwiefern die inhaltlichen, räumlichen und kategorialen Entscheidungen der in der Geschichtsvermittlung gängigen Narrative überhaupt zu rechtfertigen sind: Was bedeutet es, wenn die räumlichen Bezugsrahmen nicht länger lokal, regional, national oder westeuropäisch-nordatlantisch definiert werden? Welche Erkenntnismöglichkeiten und Lernpotentiale ergeben sich, wenn nicht länger der »nationalhistorische Tunnelblick« (Brunnert/Gottschau) den Geschichtsunterricht orientiert oder ein westeuropäisch-nordatlantischer?7 Wenn hier im Titel von »entgrenzten Räumen« die Rede ist, dann geht es um die Problematik, die aus diesem stark erweiterten Zuschnitt erwächst, sobald wir die viel geäußerte Forderung nach einer globalhistorischen Orientierung der Lernenden in die Praxis umsetzen wollen. Um die damit verbundenen Probleme soll es in diesem Beitrag vor allem gehen. Dabei will ich aber auch auf die damit verbundenen Potentiale verweisen, auf eine mögliche »Verortung des Globalen«. Zunächst werde ich das Verständnis und wesentliche Charakteristika der Globalgeschichte skizzieren, um dann in einem zweiten Abschnitt die daraus sich für Forschung und Lehre ergebende Problemkreise zu umreißen. Abschließend soll ein unvorgreiflicher Ansatz zur Diskussion gestellt werden, wie sich Globalgeschichte und forschend-entdeckendes Lernen möglicherweise kombinieren ließen.

2.

Merkmale der Globalgeschichte

Will man bestimmen, was unter globaler Geschichte oder Globalgeschichte zu verstehen ist, so lassen sich sechs Merkmale oder Charakteristika benennen.8 in der das Osmanische Reich (die Türkei) als kriegerischer Aggressor auftritt. Kulturelle Leistungen oder sozialgeschichtliche Darstellungen fehlen ebenso wie die restriktive Türkeipolitik der europäischen Großmächte im 19. Jahrhundert ganz. Eine positive Ausnahme bilden hingegen das inzwischen vergriffene Heft »Islamische Welt«, Praxis Geschichte Heft 4/ 2006 sowie das Themenheft »Türkei«, Geschichte lernen 98 (2004). 7 Michael Brunnert/Juri Gottschau: Kompetent den nationalhistorischen Tunnelblick überwinden. Gezielte Förderung von Kompetenzen historischen Lernens durch Globalgeschichte. Berlin 2013. 8 Wesentliche Anregungen für diese Merkmale finden sich in: Sebastian Conrad/Andreas Eckert: Globalgeschichte, Globalisierung, multiple Modernen. Zur Geschichtsschreibung der modernen Welt. In: dies. (Hrsg.): Globalgeschichte. Theorien, Ansätze, Themen. Frankfurt a.M. 2007, S. 7–49; Sebastian Conrad: Globalgeschichte. Eine Einführung. München 2013. – Neuester Literaturüberblick zum Forschungsstand: Angelika Epple: Die Größe zählt! Aber

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1) Globale Geschichte überwindet die nationalhistorischen Perspektive oder das nationalhistorische Basisnarrativ, wie Bärbel Völkel es nennt.9 In vielen Ländern – und Deutschland bildet hier keine Ausnahme – wird unter Geschichte die Geschichte der eigenen Nation oder des eigenen Nationalstaats verstanden. Das hat oft mit der Entstehungszeit des Faches zu tun, das oft die Existenz eines eigenen Nationalstaates und seines politischen Systems legitimieren sollte und das aus diesem Grund auch staatliche Förderung genoss. Geschichte als Wissenschaft und Geschichte als Schulfach waren seit dem 19. Jahrhundert beide von diesem nationalen Paradigma geprägt. Inhalte und als legitim anerkannte Forschungsfragen wurden bis zum Ende des 20. Jahrhundert noch immer aus einem nationalen Narrativ gewonnen; viele HistorikerInnen und Geschichtslehrende sind ihm sogar bis in die Gegenwart verfallen. Welche Fragen und Gegenstände als legitim und wichtig gelten, wird in Lehr- und Bildungsplänen noch immer aus der Nationalgeschichte abgeleitet, wenn auch für das späte 20. Jahrhundert in einer (west-) europäischen Erweiterung. Globalgeschichte hat hingegen einen völlig anderen räumlichen Zuschnitt. Nicht die Grenzen des Nationalstaates bestimmen implizit den Lehrplan oder das Forschungsprogramm, sondern systematisch überschreitet Globalgeschichte die nationalen Grenzen auch hinsichtlich der Gegenstandsbereiche und Fragestellungen. Sie ist deshalb oft transnational, transkontinental und transkulturell ausgerichtet. Jürgen Osterhammel hat als ihren Gegenstandsbereich einmal »Interaktionen in einem weltumspannenden System« definiert.10 2) Globalgeschichte unterscheidet sich von anderen Zweigen der Geschichtswissenschaft durch einen besonderen und anderen räumlichen Zugriff. Oft ist zu vernehmen, man habe schon immer globale Geschichte untersucht oder unterrichtet, man verweist auf traditionelle Gegenstände wie die Geschichte der europäischen Kolonien und den Imperialismus, die altamerikanischen, südasiatischen oder chinesischen »Hochkulturen«. Solche Themen haben tatsächlich große Relevanz für eine globale Geschichte. Allerdings werden die außereuropäischen Kulturen und Gesellschaften meist anders gerahmt und dann akzentuiert man beim Vergleich eher die Differenz zur europäischen Entwicklung, in geringerem Maße aber Verbindungslinien oder wechselseitige Beeinflussungen. wie? Globalgeschichte zwischen großen Synthesen, Skeptizismus und neuem Empirismus. In: neue politische literatur 59 (2014), S. 409–435. 9 Bärbel Völkel: Von ungewollten Nebenwirkungen eines traditionellen chronologischen Geschichtsunterrichts – Nationalismus als historische Sinnbildung? In: Historische Mitteilungen der Ranke Gesellschaft 26 (2013/14), S. 401–412. 10 Jürgen Osterhammel: »Weltgeschichte«. Ein Propädeutikum. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 56 (2005), S. 452–479.

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Es ist deshalb notwendig, hier noch einmal die leicht zu übersehenden, aber grundlegenden Unterschiede zwischen Globalgeschichte und Außereuropäischer Geschichte, Weltgeschichte und Universalgeschichte zu akzentuieren. Denn nur so wird deutlich, wodurch sich der globalhistorische von den anderen Zugängen unterscheidet. Schnell wird die Globalgeschichte beispielsweise mit den Teildisziplinen gleichgesetzt, die unter der Bezeichnung der Außereuropäischen Geschichte etwa die Geschichte Lateinamerikas, Afrikas oder Asiens umfasst. Außereuropäische Geschichte dient oft als Sammelbegriff für die verschiedenen, oft hoch spezialisierten Geschichten verschiedener Weltregionen (Area Studies), deren gemeinsames Merkmal es ist, dass sie sich eben nicht mit Europa befassen. Entscheidendes Abgrenzungsmerkmal ist hier, dass die Globalgeschichte Europa als Weltregion dezidiert mit in die Untersuchungen und die Fragestellung einbezieht, allerdings ohne Europa ins Zentrum zu stellen. Und während Welt- oder Universalgeschichte meist eine den ganzen Globus flächendeckend umfassende Perspektive einnimmt, geht es bei einer globalhistorischen Studie nicht notwendigerweise um die ganze Welt in vergleichender oder synthetisierender Absicht. Weltgeschichte älteren Typs bedeutete oft nur die enzyklopädische Addition der verschiedenen Nationalgeschichten, aber keinen Wandel in der Frageperspektive.11 Die Universalgeschichte im Sinne Karl Lamprechts suchte hingegen nach den grundlegenden Prinzipien und Gesetzmäßigkeiten der Geschichte.12 Im Unterschied zu späteren Historikern befasste er sich allerdings dezidiert mit den verschiedenen Formen von Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Kulturen und versuchte dieses Problem zu systematisieren.13 Globalgeschichte muss also weder den ganzen Erdball erfassen noch historische Gesetzmäßigkeiten ermitteln. Vielmehr kann sie auch vor Ort ansetzen oder einzelne Verbindungen untersuchen. 3) Wenn die europäische Geschichte nun ein Teil der Globalgeschichte ist, so geschieht dies nicht voraussetzungslos, sondern unter einer grundlegenden 11 Die fehlende Bestimmung dessen, was Globalgeschichte und Weltgeschichte ausmacht, führte zu zahlreichen, darunter auch anregenden Missverständnissen, beispielsweise im von Immanuel Geiss und Hans Heinrich Nolte angeregten Themenheft »Probleme der Weltgeschichte«, Erwägen Wissen Ethik 22 (2011). 12 Karl Lamprecht: Universalgeschichtliche Probleme vom sozialpsychologischen Standpunkte. In: ders.: Moderne Geschichtswissenschaft. Fünf Vorträge. Freiburg 1905, S. 103–130. 13 Darauf verweist: Roger Chickering: Karl Lamprechts Konzeption einer Weltgeschichte. In: Archiv für Kulturgeschichte 73 (1991), S. 437–452, hier S. 445. – Man muss Lamprechts positivistisches Geschichtsverständnis nicht vollends teilen, um zu erkennen, dass er hier im Grunde avant la lettre »globalhistorische« Typologien für die wechselseitigen Wirkungen verschiedener Kulturen entwirft.

Entgrenzte Räume und die Verortung des Globalen

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Prämisse: Die historischen Prozesse und die Akteure in den verschiedenen Weltregionen werden grundsätzlich zunächst einmal als gleich wichtig betrachtet. Eurozentrismus als Relevanzkriterium oder Europa als expliziten oder impliziten Maßstab für die Entwicklungen in anderen Regionen, Gesellschaften und Kulturen gilt es zu überwinden.14 Die Ablehnung einer eurozentrischen Sichtweise bedeutet auch nicht, dass die von Europäern ausgeübte Macht und die europäischen Einflüsse auf andere Gesellschaften geleugnet werden. Vielmehr geht es darum, den Akteuren in anderen soziokulturellen Kontexten eine Eigenständigkeit des Denkens und Handelns zuzuerkennen, ohne die kolonialen oder ökonomischen Machtasymmetrien außer Acht zu lassen. Das verbreitete eurozentrische Denken reicht aber noch weiter und betrifft in hohem Maße auch die Sprache und die Epistemologie unseres Faches. Solange nämlich die wissenschaftlichen Kategorien, mit denen Geschichte gedacht und geschrieben wird, an europäischen Phänomenen gebildet und als universell gültig betrachtet werden, und solange der internationale wissenschaftliche Diskurs dominant in den Sprachen der einstigen europäischen Kolonialmächte geführt wird, riskiert es die historische Wissenschaft, die Phänomene anderer Kulturen und Gesellschaften in eurozentrische Schablonen zu pressen. Für eine Globalgeschichte, die sich als nicht-eurozentrisch definiert, ist hier große Vorsicht geboten. 4) Gelegentlich wird globale Geschichte als Geschichte der Globalisierung bestimmt, die als eine Verdichtung von politischen, ökonomischen, ökologischen und soziokulturellen Verflechtungen begriffen wird.15 Globalgeschichte lässt sich allerdings weder chronologisch auf diesen Prozess, dessen Beginn oft erst in den 1970er Jahren datiert wird,16 noch in ihrem Erkennt14 In diesem Sinne wird Europa als eine Weltregion von mehreren behandelt. Vgl. Dipesh Chakrabarty : Europa provinzialisieren. In: Sebastian Conrad/Shalini Randeria (Hrsg.): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. Frankfurt a.M./New York 2002, S.283–312; ders.: Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference. Princeton 2007. 15 z. B. Bruce Mazlish/Ralph Buutljens: Conceptualizing Global History. Boulder 1993; Bruce Mazlish: Comparing Global History to World History. In: Journal of Interdisciplinary History 28 (1998), S. 385–395; Mark Juergensmeyer (Hrsg.): Thinking Globally. A Global Studies Reader. Oxford 2014. – Eine ausführlichere Diskussion des Zusammenhangs und der Unterschiede von Globalisierung und Globalgeschichte liefern: Barry K. Gills/William R. Thompson (Hrsg.): Globalization and Global History. London/New York 2006. – Zur historischen Semantik des Globalisierungsdiskurses: Olaf Bach: Die Erfindung der Globalisierung. Entstehung und Wandel eines zeitgeschichtlichen Grundbegriffs. Frankfurt a.M. 2013. 16 Andere Periodisierungsvorschläge für die Geschichte der Globalisierung bei: Peter Fäßler : Globalisierung. Ein historisches Kompendium. Köln u. a. 2007; Jürgen Osterhammel/Niels P. Petersson: Geschichte der Globalisierung. 4. Aufl. München 2007.

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nisinteresse darauf reduzieren: Zwar bleiben Globalisierungsprozesse ein wichtiges Thema, doch Globalgeschichte ist mehr, nämlich eine Veränderung der Perspektive. Sie ordnet Phänomene, Prozesse oder Ereignisse in globale Kontexte ein und versteht sich als eine Geschichte globaler Verflechtungen.17 Globalgeschichte interessiert sich für die relationalen Aspekte, also für die grenzüberschreitenden Verbindungen und Verflechtungen. Diese Relationen können sowohl ein Interaktionssystem bilden als auch exzeptionell existieren. Doch es ist in jedem Fall wichtig, die spezifischen Qualitäten dieser Verbindungen zu beschreiben, sie zu erklären und zu verstehen. 5) Globalgeschichte wird meist als Verflechtungsgeschichte konzipiert, auch als eine shared history oder entangled history.18 Diese von der postkolonialen Theorie inspirierten Konzepte aus der Imperienforschung zielen darauf ab, die räumlich auseinanderliegenden Metropolen und Peripherien nicht länger als getrennte Untersuchungsgegenstände, sondern als ein einziges analytisches Feld zu denken. Das verändert beispielsweise den Blick auf die Nationalgeschichten der europäischen Kolonialmächte ebenso wie jenen auf die von ihnen beherrschten Kolonien. Insofern lässt sich Globalgeschichte auch nicht einfach auf eine simple Erweiterung des räumlichen Bezugsrahmens reduzieren. Disziplinär lässt sie sich eben nicht neben die Wirtschafts- oder die Sozialgeschichte oder als Maßstabserweiterung neben die Nationalgeschichte und die europäische Geschichte stellen. Das zunehmende Interesse an den Verflechtungsprozessen lässt auch manchen scheinbar autonomen, nationalen oder lokalen Prozess in einem neuen Licht erscheinen, sodass sichtbar wird, dass er möglicherweise das Produkt einer Verflechtungsgeschichte ist. Am Beispiel der Baumwolle lässt sich zeigen, wie die europäische Nachfrage nach den angenehm zu tragenden Textilien nicht nur das Leben in den Sklavenplantagen der amerikanischen 17 Conrad (Anm. 8), S. 9 u. 11. 18 Ann Laura Stoler/Frederick Cooper: Between Metropole and Colony. Rethinking a Research Agenda. In: dies. (Hrsg.): Tensions of Empire. Colonial Cultures in a Bourgeois World. Berkeley 1997, S. 1–58; Shalini Randeria/Sebastian Conrad: Geteilte Geschichten – Europa in einer postkolonialen Welt. In: dies. (Hrsg.): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. Frankfurt a. M. 2002, S. 9–49. – Um eine ähnliche Neuorientierung bemüht sich auch das Konzept der histoire crois8e, das zunächst aus der Betrachtung deutsch-französischer Beziehungen entwickelt wird: Michael Werner/B8n8dicte Zimmermann: Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der Histoire crois8e und die Herausforderung des Transnationalen. In: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 607–636. In der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft kursierte in den 2000er Jahren stärker der Begriff der »transnationalen Geschichte«. Ausgezeichnete Überblicke dazu: Kiran Klaus Patel: Transnationale Geschichte. In: Europäische Geschichte Online (EGO), hrsg. vom Insitut für Europäische Geschichte Mainz 2010 [URL: http://www. ieg-ego.eu/patelk-2010-de (27. 01. 2016)]; Margit Pernau: Transnationale Geschichte. Göttingen 2012.

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Südstaaten beeinflusste, sondern auch technische Innovationen, neue Arbeitsprozesse und -organisation in Manchester hervorbrachte.19 Und auf das Beispiel der Kolonialgeschichte zurückkommend, lässt sich zeigen, dass sich der Kolonialismus nicht nur auf die Kolonialgebiete, sondern auch auf die Gesellschaften in den Metropolen stark verändernd auswirkte. Hier trug das koloniale Gedankengut wesentlich zu einer tieferen Verwurzelung des Rassismus und des zivilisatorischen Überlegenheitsdünkels der Europäer bei. Trotz altruistischer Motive hatte hieran auch die Missionsbewegung einen wichtigen Anteil. 6) Die Vervielfältigung der globalen Verflechtungen und ihre Überlagerungen sowie die von geographisch und kulturell sehr verschiedenen Standpunkten konstruierten Geschichten machen es nahezu unmöglich eine synthetisierende, kohärente globale Geschichte zu erzählen, die dieser Vielfalt auf überschaubarem Raum gerecht werden kann. Aus den vorangegangenen Überlegungen geht aber auch hervor, dass grundsätzlich kein epistemisches System globale, oder besser : universale Gültigkeit, beanspruchen kann. Es gibt weder ein master narrative noch eine unbestrittene Sprecherposition, meist sind es viele Geschichten. Insofern ist Globalgeschichte per se multizentrisch gedachte und multiperspektivisch erzählte Geschichte.

3.

Problemkreise einer globalhistorischen Ausrichtung

Diese sechs Charakteristika der Globalgeschichte sind zugleich Qualitätsmerkmale dieser Forschungsrichtung. Globalhistorisch etikettierte Untersuchungen oder Lehrbücher, welche diese Merkmale nicht berücksichtigen, müssen mit harschen Rezensionen durch die Fachöffentlichkeit rechnen, wenn sie dieses basale Reflektionsniveau und die damit verbundenen konzeptionellen Einsichten vernachlässigen. Für eine Konzeptionierung globalhistorischen Lernens ist es jedoch wichtig zu erkennen, dass mit diesen Merkmalen auch einige charakteristische Probleme verbunden sind, an denen sich teilweise auch die Fachwissenschaft noch immer abarbeitet. Nachfolgend werden entsprechend den sechs Merkmalen nun sechs Problemkreise der Globalgeschichte umrissen, mit denen sich die Fachwissenschaft herumzuschlagen hat(te), die aber auch Entscheidungen für oder gegen bestimmte Themen und Fragestellungen im Geschichtsunterricht nach sich ziehen können. Sie sind bei einer globalhistorischen Neuorientierung oder Erweiterung des Geschichtsunterrichts mitzudenken und konzeptionell zu berücksichtigen.

19 Sven Beckert: King Cotton. Eine Globalgeschichte des Kapitalismus. München 2014.

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Für die folgenden Problemkreise sind bislang in Bezug auf das historische Lernen noch keine adäquaten Lösungen gefunden worden: 1) Sehr oft werden lokal – global bzw. national – global als Gegensatzpaare begriffen. Insofern stellt sich in Bezug auf die Forschungsergebnisse und Unterrichtskonzepte aus der National- und Landesgeschichte, aber auch der Stadtgeschichte die Frage nach der Bedeutung des Lokalen (und des Nationalen). Löst der globale Ansatz diese Betrachtungsweisen ab? Oder reduziert sich das Problem nur auf eine Frage der Skala, ob also nur die Ebenen lokal – regional – national – global zu unterscheiden sind? Aber wie ist denn nun der Stellenwert des Nationalen respektive des Lokalen? Viele als globalhistorisch etikettierte Forschungen umgehen das Problem, indem sie etwa globale Diskurse oder global tätige Institutionen wie den Völkerbund oder die UNO untersuchen. In diesen Fällen handelt es sich eher um internationale Geschichte.20 Nun lässt sich die Frage nicht vermeiden, wie man den Untersuchungsgegenstand räumlich auf eine begründete Weise eingrenzen kann. Dass es dabei auf die jeweils verfolgte Fragestellung ankommt, ist eine Binsenweisheit, die hier aber nur begrenzt weiterhilft. In jedem Falle wird man eine explizite Begründung benötigen, wenn man sich nicht von breit ausgetretenen historiographischen Pfaden leiten lassen möchte oder sich von der jeweiligen Dichte der metropolitanen Quellenüberlieferung abhängig macht. 2) Die ältere Weltgeschichtsschreibung ist oft additiv verfahren und hat dabei die nationalhistorischen Narrative oft nur aneinandergereiht und kombiniert, oft aber auch Kulturen essentialisiert und Differenzen markiert. Eine summarische Weltgeschichte lässt sich im Geschichtsunterricht kaum realisieren und wird im deutschen Sprachraum m.W. auch nirgends versucht. Hingegen können die Essentialisierungen außereuropäischer Kulturen und die Akzentuierung von Differenz zu einem Problem schulischer Curricula werden. Das lässt sich beispielsweise am neuen baden-württembergischen

20 Die Relevanz und die hohe Qualität dieser grundlegenden, oft diplomatiegeschichtlich angelegten Forschungen soll damit in keiner Weise bezweifelt werden. Empfehlenswerte Studien sind z. B.: Akira Iriye: Global Community. The Role of International Organizations in the Making of the Contemporary World. Berkeley 2002; Madeleine Herren: Internationale Organisationen seit 1865. Eine Globalgeschichte der internationalen Ordnung. Darmstadt 2009; Isabella Löhr : Die Globalisierung geistiger Eigentumsrechte. Neue Strukturen internationaler Zusammenarbeit 1886–1952. Göttingen 2010; Daniel Speich Ciss8: Die Erfindung des Bruttosozialprodukts. Globale Ungleichheit in der Wissensgeschichte der Ökonomie. Göttingen 2013; Marc Frey/Sönke Kunkel/Corinna R. Unger (Hrsg.): International Organizations and Development. 1945–1990. Basingstoke 2014; Alan McPherson/Yannick Werhli (Hrsg.): Beyong Geopolitics. New Histories of Latin America at the League of Nations. Albuquerque 2015.

Entgrenzte Räume und die Verortung des Globalen

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Bildungsplan zeigen, der 2016 in Kraft treten soll.21 In seiner global erweiterten Perspektive unterscheidet er sich deutlich gegenüber dem Lehrplan des süddeutschen Nachbarlandes Bayern, in dem Entscheider in der Kultusbürokratie die »landesgeschichtliche Identitätsbildung immer noch für wichtiger halten als die Orientierungsfunktion einer globalgeschichtlichen Betrachtung«.22 Im baden-württembergischen Bildungsplan bemüht man sich hingegen durch das Einfügen von Unterrichtseinheiten mit dem Titel »Fenster zur Welt« um eine globalhistorische Erweiterung mit doppelter Zielsetzung: zum einen soll ein »vergleichender Blick auf außereuropäische Zivilisationen und Kulturen« geworfen werden; zum anderen will man »in beziehungsgeschichtlicher Perspektive Vorformen globaler Vernetzungen in der Geschichte verfolgen«. Begründet wird dieses Interesse an globalen Verflechtungen mit dem Globalisierungsnarrativ, da es explizit um deren Vorgeschichte geht.23 Gegen einzelne Strukturvergleiche ist grundsätzlich nichts einzuwenden, doch sollte man sich gewisser Nebenwirkungen bewusst sein. Betrachtet man den Bildungsplan nämlich über die gesamte Sekundarstufe I hinweg, so kann man fragen, ob der sich daran ausrichtende Geschichtsunterricht nicht genau das Gegenteil einer diesen Namen verdienenden globalhistorischen Orientierung vermittelt. Mitunter fördern gerade die »Fenster zur Welt« ein diesem Ansatz diametral entgegenlaufendes, nach wie vor eurozentrisches

21 Die Anhörungsfassung ist auf der Webseite des Kultusministeriums einzusehen, hier beziehe ich mich auf die Sekundarstufe I. (URL: http://www.bildungsplaene-bw.de/,Lde/Startseite/ de_a/a_sek1_G, aufgerufen am 28. 01. 2016) – Dass die Verantwortlichen für diesen Bildungsplan die geschichtsdidaktische Bestimmung historischer Kompetenzen (und die Bedeutung von Kompetenz als Problemlösungsfähigkeit) überhaupt nicht verstanden haben, zeigt sich darüber hinaus bereits in der Bestimmung so genannter »inhaltsbezogener Kompetenzen«, gemeint sind historische Inhalte im Sinne eines content learning. 22 Gabrielle Lingelbach: Plädoyer für ein Mehr an intellektueller und ein Weniger an institutionelle Bescheidenheit aus globalgeschichtlicher Perspektive. In: Erwägen Wissen Ethik 22 (2011), S. 396–398, 398. – Die Themen im Fach Geschichte (2011–2015) des bayerischen Zentralabiturs belegen die These Lingelbachs der ministeriellen Widerstände. Mit Ausnahme des Palästinakonflikts finden sich keinerlei auch nur ansatzweise außereuropäische oder globalhistorische Themen. (URL: https://www.isb.bayern.de/download/16844/kombi_ geschichte_sozialkunde___themen_in_abiturpruefungen_2011___2015_2.pdf, aufgerufen am 02. 02. 2016)). 23 Bildungsplan 2016 (Anm. 21). »Sie [›Fenster zur Welt‹] eröffnen einen Blick auf Formen großräumiger Integration, die bereits vor dem Beginn der eigentlichen Globalisierung im engeren Sinne bestanden haben. Das können zum Beispiel Imperien (Rom oder China), Religionen (Das Christentum oder der Islam) oder Fernhandelsbeziehungen (zum Beispiel die Seidenstraße) sein. Die wachsende globale Vernetzung wird in wichtigen Stationen verfolgt, etwa am Beispiel der mittelalterlichen Handelsbeziehungen zwischen Europa und Asien oder der wirtschaftlich-kommunikativen Netzwerkbildung um 1900.« Ansätze einer ideologiekritischen Betrachtung dieses Narrativ finden sich hingegen an keiner Stelle.

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Geschichtsbild.24 Von der Globalgeschichte verworfene Essentialisierungen außereuropäischer Kulturen oder Gesellschaften finden sich insbesondere bei Strukturvergleichen. Einer globalhistorischen Untersuchung kann man wenig Schlimmeres vorwerfen, als fremde Akteure zu essentialisieren und sie als unveränderlich und ahistorisch, im Vergleich zu Europäer*innen als weniger aktiv und dynamisch zu behandeln. Für eines dieser »Fenster zur Welt« wird etwa vorgeschlagen, die Lernenden sollen »China als Großreich charakterisieren und in Grundzügen mit dem Imperium Romanum vergleichen«.25 Dieser kontrastierende Vergleich kann durchaus zur Begriffsbildung beitragen, doch verstärkt er auch die Wahrnehmung europäischer Entwicklungen als dynamisch und veränderbar, während andere Kulturen – ob asiatische, altamerikanische oder asiatische – und ihre politisch-sozialen Formationen als statisch und geradezu unhistorisch erscheinen. Der bereits vermittelten Dynamik des Römischen Reiches wird ein statisches China gegenübergestellt. Potentiell feiert hier der Orientalismus eine fröhliche Wiederauferstehung.26 Beim Entwurf des Bildungsplans war dies so sicher24 Eine ähnliche Kritik am Berliner Rahmenlehrplan für die Sekundarstufe I bei Brunnert/ Gottschau (Anm. 7), S. 66f. 25 Bildungsplan 2016 (Anm. 21). ( Klasse 5/6: »3.1.3 Griechisch-römische Antike – Zusammenleben in der Polis und im Imperium«) – Auch das Thema der Beziehungen zwischen der »abendländischen und morgenländischen Kultur« kann leicht zu gefährlichen, antagonistischen Vorstellungen führen, die die Relationen zwischen den beiden Weltreligionen als eine antagonistische, primär durch Krieg und Konflikt geprägte Beziehung wahrnehmen lassen können. Immerhin werden hier als Wissensziel auch die »Einflüsse der islamischen Kultur in Europa« sogar explizit genannt. Hier kommt es letztlich also auf das entsprechende Problembewusstsein der Geschichtslehrenden an. 26 Die klassische Referenz hierzu: Edward Said: Orientalismus. Aus dem Engl. von Hans Günther Holl. Frankfurt a.M. 2009 (amerik. 1978). – Dass diese Anlage tatsächlich auf ein eher statisches Chinabild hinaus läuft, zeigt das auf dem Landesbildungsserver bereitgestellte Unterrichtsmaterial. (URL: http://www.schule-bw.de/unterricht/faecher/geschichte/ unterricht/global/kaiser/, aufgerufen am 29. 01. 2016). – Noch weitaus problematischer ist der schon schlecht benannte Unterrichtsvorschlag »Die Mongolen kommen!« (URL: http:// www.schule-bw.de/unterricht/faecher/geschichte/unterricht/unterrichtsekI/mittelalter/ mongolen/ , aufgerufen am 29. 01. 2016). Dieser Vorschlag berücksichtigt zwar immerhin das Innenleben des mongolischen Reiches, allerdings geschieht dies (1.) nur aus der Perspektive von außerasiatischen Reisenden. Problematisch ist (2.) die unzureichend kontextualisierte Bildauswahl (Legende: »Die Mongolen präsentieren … den abgeschlagenen Kopf Heinrichs II., auf gespießt auf einer Lanze« – unklar bleibt, dass es sich um den Herzog von Schlesien handelt), und (3.) dass die totale Zerstörung und Plünderung Bagdads 1258 ignoriert wird. Diese beendete das »goldene Zeitalter des mittelalterlichen Islam« und das Kalifat von Bagdad, vernichtet wurde auch die größte und wertvollste islamische Bibliothek. Das Ereignis wurde im gesamten Kulturraum als schockierendes Ereignis wahrgenommen. Obwohl es viel brutaler und in seinen Auswirkungen weitaus gravierender auf die muslimische Zivilisation wirkte als die Kreuzzüge, wird es heute etwa in ägyptischen Schulbüchern zwar erwähnt, aber nur noch am Rande behandelt, was auf das geringe politische Gewicht der Mongolen heute zurückgeführt wird (Hamed Abdel-Samad: Wie sich die islamische Welt

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lich nicht beabsichtigt. Es zeigt aber, dass das globalhistorische Reflexionsvermögen hierbei nur sehr bedingt ausgeprägt war. Als ein grundsätzlich neues und in den älteren Lehrplänen nur wenig berücksichtigtes Thema wird im Bildungsplan die »Dekolonisierung nach 1945 – aktuelle Problemfelder in historischer Perspektive« für die 10. Klasse vorgesehen. Eigentlich ist auch das zu begrüßen. Allerdings stützt man sich etwa in Bezug auf die afrikanische Entwicklung auf problematische Denkfiguren wie das »Selbstbestimmungsrecht der Völker«. Damit bezieht sich der Bildungsplan wiederum auf die traditionellen Leitkategorien des Geschichtsunterrichts der »Nation« und des »Nationalstaats«, statt diese in kritischer Weise zu hinterfragen. Denn angesichts der multikulturellen Strukturen bzw. der Vielvölkerstaaten Afrikas sind dies äußerst problematische Kategorien mit noch immer großer politischer Sprengkraft. Das »Selbstbestimmungsrecht der Völker« (Wilson) setzte die Existenz einer von allen getragenen Nation bereits voraus, musste aber angesichts der ethnischen, kulturellen und politischen Vielfalt in den ehemaligen Kolonien Afrikas auf enorme Schwierigkeiten stoßen. Dass aber genau die zeitgenössische Übertragung der europäischen Konzepte der »Nation« und des »Nationalstaats« zentrale Grundprobleme afrikanischer Staatlichkeit in der Gegenwart mit hervorgebracht haben, lässt sich aus einer solchen Akzentsetzung nicht erkennen.27 3) Globalgeschichte positioniert sich hingegen eindeutig gegen eine eurozentrische Sichtweise, welche die Relevanz von Fragen und Problemstellungen immer nur an ihrer Bedeutung für Europa oder am Maßstab West-Europas misst. Im Geschichtsunterricht manifestiert sich noch immer ein starker Eurozentrismus bei der Bestimmung von Inhalten, ebenso wie in terminologischer Hinsicht. Diese Forderung nach dem Überwinden eurozentrischen Denkens klingt deutlich einfacher, als ihre Realisierung in der Praxis ist. Bereits unsere Wissenschaftssprache und die Kategorien, in denen wir Geselbst zur Opferhaltung erzieht. Untersuchung zum Umgang mit der eigenen Geschichte am Beispiel eines ägyptischen Schulbuchs für die Oberstufe. In: Thorsten Gerald Schneiders (Hrsg.): Verhärtete Fronten. Der schwere Weg zu einer vernünftigen Islamkritik. Wiesbaden 2012, S. 127–136, hier S. 131). Noch fragwürdiger ist aber (4.) der Abschluss der Einheit mit dem Titel »Die Pest: Schattenseite der ersten Globalisierung«. Leitperspektive ist also wieder einmal die Globalisierung, als Themenauftakt und -abschluss verstärkt die Einheit darüber hinaus das Bild der Mongolen als Bedrohung für Europa. 27 Als Einführung und erste Orientierung zu diesem Komplex: Leonhard Harding: Geschichte Afrikas im 19. und 20. Jahrhundert. 3. Aufl. München 2013 (Grundprobleme der Forschung: »Die Vielfalt der Völker und die Identität« sowie »Staat und Nationalstaat«), S. 160–175; Winfried Speitkamp: Kleine Geschichte Afrikas. 2. Aufl. Stuttgart 2009, S. 390–414; Christoph Marx: Geschichte Afrikas. Von 1800 bis zur Gegenwart. Paderborn u. a. 2004, S. 224–235. Herausragend und für dieses Thema noch immer unübertroffen: Frederick Cooper : Africa since 1940. The Past of the Present. Cambridge 2002.

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schichte denken, haben eine Vorgeschichte und sind anhand europäischer oder nationaler Phänomene geprägt worden. Nicht immer sind wir uns der europäischen Prägung so zentraler und verbreiteter Kategorien wie »Staat« und »Herrschaft«, »Volk« und »Klasse«, »Bürgertum« und »Adel«, »Arbeit« und »Markt« bewusst.28 Schon wenn wir vorkoloniale afrikanische Herrschaftsgebilde betrachten, ist fraglich, ob die Kategorie »Staat« diesen überhaupt gerecht werden kann oder ob sie nicht eher falsche Vorstellungen evoziert. Das gilt erst recht für Makroprozessbegriffe wie »Modernisierung«, »Demokratisierung«, »Säkularisierung«, »Bürokratisierung« oder »Rationalisierung«, die für die westeuropäische Geschichte entwickelt wurden.29 Wir müssen ganz grundlegend darüber nachdenken, ob eine in und für Europa geprägte Begrifflichkeit implizit normative Vorstellungen enthält und sich überhaupt universell, also auch auf außereuropäische Kontexte anwenden lässt. Die Brauchbarkeit der Terminologie ganzer Teildisziplinen steht damit auf dem Prüfstand. Das kann sogar Rückwirkungen auf etablierte Narrative wie etwa jenes der »Industrialisierung« haben. In vielen Bildungsplänen und Geschichtslehrwerken werden noch immer auf Schrift beruhende Kulturen als »Hochkulturen« mit vor- oder nichtschriftlichen Kulturen (i. d. R. der Jungsteinzeit) kontrastiert. Damit stellt man sich aber, ohne sich dessen bewusst zu sein und meist ohne dies später zu problematisieren, in eine den Kolonialismus legitimierende Tradition. Dabei werden diese »primitiven Kulturen« (die nicht explizit so genannt werden, aber den einzigen logischen Gegenbegriff bilden) von »höher entwickelten« Zivilisationen mit Schriftkultur, Ackerbau und Sesshaftigkeit als »Hochkulturen« unterschieden. Aus dieser Unterscheidung in »hochentwickelte« und »primitive« Kulturen leiteten die Europäer und neo-europäischen Siedlergemeinschaften Amerikas, Afrikas oder Australiens den eigenen Anspruch auf »Zivilisierung« und »Missionierung« dieser »Wilden« ab. Ein sprachliches Problembewusstsein für negative und subtil die Kolonisierten abwertende Sprache ist bei deutschen Geschichtslehrer*innen noch wenig ausgeprägt. Wer denkt daran, dass etwa das Reden von »Stämmen« die damit bezeichneten afrikanischen Gesellschaften auf eine Stufe mit spätantiken Germanen oder Kelten stellt und diese damit in einen Gegensatz zu einer »höher entwickelten« politischen Ordnung namens »Staat« rückt? 28 Eine sehr wichtige Studie zur terminologischen und kategorialen Problematik: Margit Pernau: Bürger mit Turban. Muslime in Delhi im 19. Jahrhundert. Göttingen 2008. – Zur Problematik der Begrifflichkeit auch: Urte Kocka: Weltgeschichte in der Diskussion. In: Erwägen Wissen Ethik 22 (2011), S. 383–386. 29 Vgl. Boris Barth/Stefanie Gänger/Niels P. Petersson: Einleitung. Globalisierung und Globalgeschichte. In: dies. (Hrsg.): Globalgeschichten. Bestandsaufnahmen und Perspektiven. Frankfurt a.M. 2014, S. 7–18, hier S. 11f.

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Oder dass das Suffix »–ling« bei der Bezeichnung eines politischen Führers als »Häuptling« eine verkleinernde (»-ling«), meist abwertende Konnotation hat (ähnlich Feigling, Schwächling, Wüstling)? Ähnlich werden die kolonisierten und vorkolonialen Gesellschaften auch gerne in einer Terminologie beschrieben, die auf einem Gegensatz von »Natur« und »Kultur« aufbaut, wobei den Europäern immer die Kultur zugewiesen wird. Dagegen wird den Afrikanern das semantische Feld der Wildnis zugeordnet – auch in allen Redeweisen und Komposita, die sich auf »Dschungel« oder »den Busch« beziehen. Wie virulent diese aus dem kolonialen Denken stammende Dichotomie in unserer Alltagssprache noch nachwirkt, zeigen kategoriale Unterscheidungen zwischen »Naturvölkern« und »Völkern« oder »Naturreligionen« und »Religionen«, aber auch das Reden von einer »Bananenrepublik«.30 Nicht nur hinsichtlich der Kategorien und der Sprache lässt sich das Fortschreiben eurozentrischer Betrachtungsweisen illustrieren, sondern auch bei der Auswahl und dem thematischen Zuschnitt von Lerneinheiten. Das lässt sich an vielen Beispielen zeigen, geradezu paradigmatisch wiederum am sich zum globalhistorischen Lernen explizit bekennenden baden-württembergischen Bildungsplan 2016: Wenn das Thema »Dekolonisierung« hier mit den Kernbegriffen von »Unabhängigkeitsbewegung« und »Enteuropäisierung« (!) verbunden wird, dann bezieht man diesen Prozess wieder nur auf die Beziehung zu den Europäern. Ein solches nur auf die europäische Kolonialherrschaft und ihr Ende fokussiertes historisches Denken nimmt nicht wahr, dass die Gesellschaften in den Kolonien auch eine eigene Dynamik besaßen und es sich hierbei nicht nur um Unabhängigkeits-, sondern gleichermaßen auch um Staatenbildungsprozesse handelte, in denen eine heterogene Bevölkerung nicht immer erfolgreich nach neuen kollektiven Identitäten und neuen Formen politischer Ordnung – auch in einer oft verklärten vorkolonialen Vergangenheit – suchte. Die Kontinuität und koloniale Nutzbarmachung älterer, teilautonomer politisch-sozialer Herrschafts30 Eine knappe und sehr gute Einführung in die Problematik bei: Susan Arndt: Kolonialismus, Rassismus und Sprache. Kritische Betrachtungen der deutschen Afrikaterminologie. In: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Dossier Afrikanische Diaspora in Deutschland (2004), (URL: http://www.bpb.de/gesellschaft/migration/afrikanische-diaspora/59407/ afrikaterminologie?p=all, aufgerufen am 29. 01. 2016); dies./Antje Hornscheidt (Hrsg): Afrika und die deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk. 2. Aufl. Münster 2009. – Die Bezeichnung »Bananenrepublik«, die korrupt und willkürlich regierte Staaten bezeichnet, ist hingegen ein Lehnwort aus dem Amerikanischen. Als »Banana Republic« wurden mittelamerikanische Staaten im frühen 20. Jahrhundert verächtlich bezeichnet, die vom Export der Südfrüchte abhängig waren. Die Wirtschaftsinteressen der großen USImportfirmen (United Fruits, Chiquita) waren so stark, dass sie sogar Staatsstreiche initiierten, wie z. B. 1907 in Honduras oder 1930 in der Dominikanischen Republik.

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strukturen in Afrika, Asien oder Ozeanien durch die Kolonialherren wird für die Kolonialzeit ohnehin fast nie vermittelt, sodass man später hieran nicht anknüpfen kann. In europäischen Geschichtsbüchern existiert eine Geschichte Afrikas vor der Kolonisierung überhaupt nicht, die Afrikaner*innen scheinen keine Vorgeschichte zu haben. Auch der Imperialismus im ausgehenden 19. Jahrhundert wird meist stark auf den Ersten Weltkrieg hin perspektiviert, der diesen Namen kaum verdient, wenn er dann wiederum fast nur als ein großer europäischer Krieg behandelt wird (Lernbegriffe »Stellungskrieg« und »Heimatfront«). Und auch die Weltwirtschaftskrise und die Weltkriege werden meist nur in ihren Auswirkungen auf die Europäer und Nordamerikaner betrachtet – wo ist hier die globalhistorische Dimension?31 Viele weitere Beispiele lassen sich ausführen, man denke nur an die weit verbreitete Datierung des Zweiten Weltkriegs vom 1. September 1939 bis 8. Mai 1945, der die japanische Invasion in China 1937 und das Ende des Krieges im Pazifikraum im September 1945 völlig ignoriert. Besonders problematisch ist aber, dass eine am Beispiel (West-) Europas entwickelte historiographische Terminologie und deren Narrationen umstandslos auf andere Kontexte übertragen werden, sodass diese im Vergleich stets defizitär und unterentwickelt erscheinen. Die eurozentrischen Makroprozessbegriffe sind oben bereits problematisiert worden. Einer dieser Begriffe hatte besonders weitreichende Folgen, wird aber als Leitkategorie bei Gesellschafts- oder Kulturvergleichen noch sehr gerne als Maßstab verwendet und damit legitimiert: der Prozessbegriff »Modernisierung«. Wie kein zweiter Begriff legitimierte er im Kalten Krieg westliche und sozialistische Überlegenheitsvorstellungen gegenüber den Ländern des globalen Südens und zog eine entsprechende Politik nach sich. Typisch dafür war die so genannte »Entwicklungspolitik«, die den ehemaligen Kolonien dabei helfen sollte, die entsprechenden Modernisierungsprozesse einzuleiten, um »Entwicklungsunterschiede« zum »Westen« oder zu den »real existierenden sozialistischen« Gesellschaften aufzuholen.32 Viele gut gemeinte, globalhis31 Ein globalhistorischer Versuch: Bernd-Stefan Grewe: »Die große Depression« der 1930er Jahre. Weltwirtschaftskrise ohne Weltwirtschaftspolitik. In: Werner Abelein u. a.: Globale Perspektiven im Geschichtsunterricht. Leipzig 2010, S. 81–91. – In der Wirtschaftsgeschichte setzt sich die globalhistorische Perspektive auf die Weltwirtschaftskrise ebenfalls zunehmend durch: Jan-Otmar Hesse/Roman Köster/Werner Pumpe: Die Große Depression. Die Weltwirtschaftskrise 1929–1939. Frankfurt a.M. 2014. 32 Vgl. Hubertus Büschel: Hilfe zur Selbsthilfe. Deutsche Entwicklungsarbeit in Afrika 1960–1975. Frankfurt a.M. 2014; ders./Daniel Speich Ciss8 (Hrsg.): Entwicklungswelten. Globalgeschichte der Entwicklungszusammenarbeit. Frankfurt a.M. 2009; Themenheft »Entwicklungsarbeit und globale Modernisierungsexpertise«, hrsg. von Hubertus Büschel/ Daniel Speich Ciss8, Geschichte und Gesellschaft 31 (2015). – Empfehlenswert zur Debatte

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torisch ausgelegte Publikationen und Unterrichtskonzepte berücksichtigen nicht, wie stark selbst wissenschaftliche Terminologien von einem euroamerikanischen Überlegenheitsdünkel geprägt sind. Ein echtes globalhistorisches Lernen sollte die Schüler*innen oder die Studierenden aber gerade von solchen Denkmustern emanzipieren und die Problematik der oft verwendeten Kategorien und Narrative für eine kritische historische Reflexion offen legen. Hier ist noch sehr viel zu tun. 4) Der Diskurs der »Globalisierung« dient immer wieder der Legitimation eines globalen Lernens, nicht nur in unserem Fach. Wie oben erwähnt, wird mit diesem Begriff zusammenfassend eine Verdichtung globaler Verflechtungen politischer, wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Beziehungen bezeichnet. Im Grunde handelt es sich um ein Meta-Narrativ, das ähnlich wie der Diskurs der »Modernisierung« in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Ideenwelt und Publikationen prägt, insgesamt aber als scheinbare Erklärung für alle möglichen Phänomene herangezogen wird, ohne diese näher zu analysieren. Ebenso, wie das Reden von »Globalisierung« von neoliberalen Wirtschaftspolitikern als Argument für eine Deregulierung der europäischen Finanzmärkte oder für den Abbau von Arbeitnehmerrechten benutzt werden konnte, konnten es deren Gegner dämonisieren. Eine Orientierung an diesem Meta-Narrativ erklärt nichts und verschleiert ideologische Prägungen, existierende Machtbeziehungen und ihre Wirkungen eher, als sie sichtbar zu machen. Brauchbare historische Unterrichtskonzepte zu seiner Dekonstruktion sind meines Wissens nicht auf dem Markt. In der öffentlichen Wahrnehmung ist es zuletzt etwas in den Hintergrund getreten. Als Dispositiv bleibt die »Globalisierung« aber weiter argumentativ verfügbar. »Globalisierung« wird bei der Konzeption globalhistorischen Lernens immer wieder relativ unreflektiert für die Auswahl von Lehrzielen und Inhalten als leitendes Narrativ herangezogen, zuletzt in der aktualisierten Fassung des KMK »Orientierungsrahmen für den Lernbereich Globale Entwicklung« (2015). Hier werden das Phänomen des Kolonialismus in das Globalisierungs-Narrativ integriert und dabei drei Phasen der Globalisierung unterschieden: eine vorkoloniale, eine koloniale und eine aktuelle. Der konkrete und exemplarisch gemeinte Unterrichtsvorschlag »Europäische Kolonialpolitik in Afrika im 19. Jahrhundert« enthält bezeichnenderweise überhaupt keine zeitgenössischen Quellen aus afrikanischer Perspektive, sondern nur die Stimmen von Spätergeborenen, die rückwirkend und im Sinne eines globalisierungshistorischen Narrativs bewertet werden.33 um die »multiple modernities«: Wolfgang Knöbl: Die Kontingenz der Moderne. Wege in Europa, Asien und Amerika. Frankfurt a.M./New York 2007. 33 KMK/BMZ (Hrsg.): Orientierungsrahmen für den Lernbereich Globale Entwicklung im

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5) Das Denken historischen Wandels als ein Resultat von Verflechtungen wird von Globalhistoriker*innen gelegentlich überstrapaziert. Kurz erläutert: Viele historische Teildisziplinen räumen a priori bestimmten, traditionell definierten Untersuchungsräumen die Priorität ein und erforschen den ausgewählten Raum sehr intensiv. Nationalgeschichte, Landesgeschichte oder Stadtgeschichte tendieren gelegentlich dazu, eher endogene, also im untersuchten Raum selbst auffindbare Faktoren als entscheidend gegenüber externen Einflüssen anzusehen. Demgegenüber hat manche Globalgeschichte die umgekehrte Tendenz, Veränderungen vor allem als von außen angestoßen zu betrachten, also exogene Kausalfaktoren zu identifizieren. Allein das Feststellen einer über die Grenzen oder die Gestade eines Kontinents hinausreichenden Verflechtung kann jedoch eine solche Kausalität noch keineswegs belegen. Es kommt eben stark darauf an, in welcher Hinsicht und wie stark sich eine Verflechtung auswirkte, aber auch auf welche Gruppen.34 In einer scharfen Kritik gegen eine zu starke Ausrichtung der globalen Geschichte am Prozess der Globalisierung hat der Afrikahistoriker Frederick Cooper zu Recht davor gewarnt, die Besonderheiten und Eigendynamiken der lokalen Gesellschaften und Kulturen zu übersehen und damit nur eine neue Meistererzählung an die Stelle des viel kritisierten Modernisierungsparadigmas zu setzen.35 Die lokale Dynamik sollte gegenüber den exogenen Impulsen nicht unterschätzt werden. Allein aus erkenntnistheoretischen Gründen können wir auf die lokale Ebene in der Globalgeschichte nicht verzichten, sie kann also nicht einfach eine Maßstabvergrößerung sein. Erst seit kurzem befasst sich globalhistorische Forschung dezidiert auch mit gegenläufigen Prozessen, die als »Entflechtung«, »Fragmentierung« oder »Entmischung« gekennzeichnet werden.36 Einen weiteren blinden Fleck der Globalgeschichte bildeten lange auch Verflechtungen zwischen Räumen, an deren Knüpfung Europäer nicht beteiligt waren, beispielsweise die so ge-

Rahmen einer Bildung für nachhaltige Entwicklung. Zusammengestellt u. bearb. v. Hannes Siege/Jörg-Robert Schreiber. 2. akt. u. erw. Aufl. Bonn 2015, S. 254–284, hier S. 264–281. – Andere Periodisierungen liefert die geschichtswissenschaftliche Literatur zur Geschichte der Globalisierung: Fäßler (Anm. 16) und Osterhammel/Petersson (Anm. 16). 34 Vgl. Conrad (Anm. 8), S. 100. 35 Frederick Cooper : Kolonialismus denken. Konzepte und Theorien in kritischer Perspektive. Frankfurt a.M./New York 2012, S. 160–193 (Kapitel: Was nützt der Begriff der Globalisierung? Aus der Perspektive eines Afrika-Historikers). 36 Z. B. Jan C. Jansen: Unmixing the Mediterranean? Migration, demografische »Entmischung« und Globalgeschichte. In: Barth/Gänger/Petersson (Anm. 29), S. 289–313. Vgl. Workshop »Fragility and Disconnections of Global Commodity Chains«, Netzwerk »History of Global Commodities« Konstanz, 15.–17. Sept. 2011.

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nannten »South-to-South«- Beziehungen über den Südatlantik, den Indischen Ozean oder den Pazifik hinweg. 6) Statt einer neuen Meistererzählung mit globalem Zuschnitt entstehen nun in der Forschung vielfältige Verflechtungsgeschichten. Mit der Ablehnung des Eurozentrismus hat sich die Globalgeschichte eines möglichen, normativen Standpunkts und vorgegebenen Maßstabs für Entwicklungen beraubt. »Noch ist das grand design der Weltgeschichte ein soziales Niemandsland«37 (Herren). Dies erfordert eine neue Betrachtung vorliegender Narrative im Hinblick auf den jeweiligen Sehepunkt (Chladenius). In diesem Sinne sind Historiographiegeschichte im Falle der Geschichtswissenschaft und für die didaktische Forschung die Auseinandersetzung mit dezidiert nicht eurozentrischen Geschichtskulturen dringende Aufgaben.38

4.

Forschend-entdeckendes Lernen und globalhistorische Orientierung

Mit der globalhistorischen Erweiterung oder Neuausrichtung der Geschichte ist eine erhebliche terminologische und kategoriale Verunsicherung verbunden. Diese lässt sich jedoch auch als eine stimulierende Chance für ein neues Durchdenken historischer Phänomene begreifen. Ein fertiges globalhistorisches Curriculum, das diesen Namen verdient, existiert bislang nicht in deutscher Sprache. Auch die meisten angelsächsischen World Civilizations Textbooks sind eher welt- als globalgeschichtlich ausgerichtet und problematisieren fast nie die übliche, euro- oder amerikazentrische Terminologie, unabhängig davon ob sie sich an Schüler*innen oder Studierende richten. Ist also ein globalhistorisches Lernen überhaupt möglich, das den sechs Qualitätsmerkmalen genügt und die entsprechenden Problemkreise angemessen bedenken kann? Zu hoch sollte hier die Erwartungshaltung nicht geschraubt werden. Wie gesehen, gibt es kein allgemein gültiges oder weithin akzeptiertes globalhistorisches Narrativ, an dem wir uns weiter ausrichten könnten – vermutlich kann es ein solches so schnell auch nicht geben. Auch verfügen wir noch nicht über eine klare terminologische Ordnung und über eine Antwort auf die Frage, welche 37 Madeleine Herren: Aufbruch zur globalen Historiographie. In: Erwägen Wissen Ethik 22 (2011), S. 375–377, hier S. 375. Das Bonmot stammt aus einem Argumentationskontext, in dem Herren »Globalgeschichte als Gesellschaftsgeschichte« fordert. Das Interesse gelte der Frage, »wie Gesellschaften auf die Existenz einer jeweils bekannten Außenwelt reagieren, wie Grenzgebiete definiert werden…«. 38 Ansatzpunkte dafür bieten die Beiträge in: Susanne Popp/Johanna Förster (Hrsg.): Curriculum Weltgeschichte. Globale Zugänge für den Geschichtsunterricht. 2. Aufl. Schwalbach/ Ts. 2008.

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Begriffe und Kategorien, die wir in unserer eurozentrischen, wissenschaftlichen Sozialisation mühsam erworben haben, nun überhaupt noch brauchbar für eine analytische Betrachtung globalhistorischer Fragestellungen sind. Das könnte neuen Aspekten gegenüber offene Lehrende gewiss verunsichern. Man kann aber auch darauf hinweisen, dass die Geschichtsdidaktik auch für gängige Gegenstandsbereiche und Fragestellungen die dabei angelegten Kategoriensysteme und die historische Terminologie – nach Hilke Günther-Arndt die »Denkzeuge« – kaum bearbeitet hat. Vielmehr beruhen diese – ob für wirtschafts-, sozial- oder politikgeschichtliche Themen – sehr oft nur auf Konventionen, die kaum hinreichend begründet oder reflektiert sind.39 Insofern ist man für eine Behandlung globalhistorischer Themen und Problemstellungen nun bereits besser aufgestellt als für die meisten wirtschaftshistorischen Themen. Für den globalhistorischen Unterricht besteht noch leichter als für andere Zugänge eine Schwierigkeit, dass er für Lernende keinen »Sitz im Leben« hat und dass die formulierten Qualitätsmerkmale zu abstrakt gefasst sind, um hieraus unmittelbar Themen gewinnen zu können. Aus diesem Grund und auch aus Mangel an gut reflektierten Alternativen wird hier der Ansatz des forschendentdeckenden Lernens vorgeschlagen.40 Das ist nur ein scheinbarer Widerspruch zum globalen Lernen, denn sobald der Unterschied zur Weltgeschichte im obigen Sinne verstanden ist, wird klar, dass damit nicht automatisch eine weltumfassende Synthese oder Perspektive angestrebt wird, sondern die Suche, Analyse und Einordnung transnationaler und transkultureller Beziehungen. Diese Beziehungen und Verflechtungen können aber konkret verortet werden, »global history also has to be told as local history« (Natalie Zemon Davies).41 Die 39 Dass Sprache, Sprachhandeln und fachliches Denken eng zusammengehören und damit ein wichtiges Problem der geschichtsdidaktischen Reflexion sind, verdeutlichen die Beiträge in: Sprache und historisches Lernen, hrsg. von Saskia Handro, Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 14 (2015). – Die Geschichtsdidaktik der 1970er/1980er Jahre hatte in Bezug auf die Bedeutung der Sprache für den Geschichtsunterricht demgegenüber noch stärker die Ideologiekritik akzentuiert. Diese ist in den jüngeren konstruktivistisch auf Sprachhandeln der Lernenden und narrative Kompetenz fokussierenden Veröffentlichungen eher in den Hintergrund getreten. Ohne die große Bedeutung der im Jahresband verfolgten Fragestellungen in Abrede zu stellen, kann man das bedauern. Denn welche Disziplin, wenn nicht die Geschichtsdidaktik, könnte eine entsprechende Prägung von Denkmustern und ihre Verbreitung im Geschichtsunterricht kritisch reflektieren und über Alternativen nachdenken? Historische Kompetenzen, die diese Bezeichnung verdienen, lassen sich ohne eine reflektierte Kategorienbildung kaum vermitteln. Auch die Problematisierung der historischen Fachsprache gehört zu einem reflektierten Geschichtsbewusstsein. 40 Sehr brauchbare globalhistorische Unterrichtsvorschläge von Friedrich Huneke, Kirsten Rüther oder Christian Mathis in: Georg Wagner-Kyora/Jens Wilczek/Friedrich Huneke (Hrsg.): Transkulturelle Geschichtsdidaktik. Kompetenzen und Unterrichtskonzepte. Schwalbach/Ts. 2008. 41 Natalie Zemon Davies: Global History, Many Stories. In: Jürgen Osterhammel (Hrsg.): Weltgeschichte. Stuttgart 2008, S. 91–100, hier S. 96. Vgl. Ulrike Freitag: Translokalität als

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These lautet, dass eine solche Verortung globaler Beziehungen ab dem 19. Jahrhundert selbst für das abgelegenste Dorf in den tiefsten Tälern eines deutschen Mittelgebirges gelingen kann und es somit einen potentiellen lokalen Ausgangspunkt für globalhistorisches Lernen darstellt. Tatsächlich? Wie soll das gehen? Eine globalhistorische Fragestellung kann vor Ort entwickelt werden und den im wörtlichen Sinne eigenen Standort einbeziehen. Das ist sogar für Ortsfremde mit einer kleinen Vorrecherche möglich und deshalb habe ich hier ein Aachener Beispiel gewählt, einen Gegenstand aus dem lokalen Couven Museum. Es handelt sich um eine Kakaokanne.42 Diese Kakaokanne bietet zahlreiche Möglichkeiten, eine globalhistorische Fragestellung zu erarbeiten. Das ist nicht unbedingt ein neuer oder sonderlich origineller Vorschlag, denn Ähnliches wurde schon vielfach als Unterrichtsgegenstand ausgearbeitet. Die hierin verbundenen Stoffgeschichten von Kakao und Zucker bieten Gelegenheit, um die Verflechtung der lokalen Aachener Bevölkerung mit globalen Prozessen zu illustrieren. Das Beispiel zeigt auch, warum Globalgeschichte nicht erst mit der großen Globalisierungswelle der 1880er Jahre beginnen sollte, sondern früher ansetzen kann. Die Geschichte einstiger Luxusgüter, die für uns längst zu Alltagswaren geworden sind, wie Kakao und Zucker (Schokolade), Kaffee oder Tee, aber auch Tabak oder Rum, Gewürznelken oder Pfeffer, führt allen Lernenden nach kurzer Recherche schnell vor Augen, wie eng die europäische Konsumgeschichte etwa mit Kolonialismus und seiner Plantagenwirtschaft, aber auch mit Sklavenfang und Sklavenhandel verbunden war. Was sich am Beispiel dieser Aachener Kakaokanne aber demonstrieren lässt, ist, wie einfach sich aus früheren Alltagsgegenständen, die sich auf Speichern oder im Keller von Großeltern, spätestens aber beim nächsten Flohmarkt sicherlich noch aufstöbern lassen, eine globalhistorische Fragestellung entwickeln lässt. Diese muss nicht in die Fallen der sechs dargestellten Problemkreise hineinlaufen, sondern sollte diese nach Möglichkeit entschärfen. Am Beispiel dieser silbernen Kakao-, Tee- oder Kaffeekanne lässt sich nun danach fragen, weshalb etwas für uns so Profanes am Ausgang des 18. Jahrhunderts so aufwändig inszeniert wurde. Weshalb präsentierte man Zucker, Pfeffer oder diese Genusswaren so zentral in kostbarsten Gefäßen? Der unmittelbare Kontrast mit einer Kakaodose aus dem Supermarkt mag Lernenden bei Zugang zur Geschichte globaler Verflechtungen. In: H-Soz-Kult, 10. 6. 2005, (URL: http:// www.hsozkult.de/article/id/artikel-632, aufgerufen am 31. 1. 2016), Angelika Epple: Lokalität und die Dimensionen des Globalen. Eine Frage der Relationen. In: Historische Anthropologie 21/1 (2013), S. 4–25. 42 »Süße Versuchung. Vom Kakao zur Schokolade«, Ausstellung des Couven Museums Aachen von 2009 (URL: http://couven-museum.de/event/suse-versuchung-vom-kakao-zur-schoko lade, aufgerufen am 02. 02. 2016).

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Bernd-Stefan Grewe

der Formulierung einer solchen oder ähnlichen Frage helfen. Wenn diese repräsentative Funktion nicht sofort erkannt wird, so kann man etwa auch über den möglichen Inhalt einer Silber- oder feinen Porzellandose spekulieren. Von hier aus können Lernende schnell geographisch weit ausgreifende Fragestellungen entwickeln, die sich mit einfacher Internet- oder Bibliotheksrecherche beantworten lassen. Gerade die Geschichte der einstigen Kolonialwaren ist besonders gut erforscht und bietet sich paradigmatisch für ein forschend-entdeckendes Vorgehen an.43 Globalgeschichte, die vor Ort ansetzt, muss aber nicht über die materielle Geschichte von Dingen, Waren oder Stoffen erfolgen, genauso kann man Biographien von Migrant*innen und Missionaren, von Missionsschwestern und Kolonialbeamten oder Soldaten, von Mitgliedern afrikanischer Völkerschauen o. ä. nachvollziehen. Wichtig ist hieran vor allem, dass ein Bezug zur Lebenswelt der Lernenden hergestellt und dieser zum Ausgangspunkt für die Entwicklung globalhistorischer Perspektiven genommen wird. Auf Grund ihrer großen Anschaulichkeit lassen sich solche biographischen, objekt- oder stoffbiographischen Themen als induktive Zugänge leichter vermitteln als abstrakte Strukturbegriffe. Dass dann aber auch entsprechende Problematisierungen und globalhistorische Kategorien vermittelt werden, dafür ist eine globalhistorisch aufgeklärte Lehrkraft von Nöten.44 Der forschend-entdeckende Ansatz, wie er hier nur sehr holzschnittartig am Beispiel der Kakaokanne skizziert wurde, erfüllt die sechs oben diskutierten globalhistorischen Qualitätsmerkmale: 1) Die Geschichte einer Kakaokanne nimmt zwar ihren Ausgangspunkt von Europa, ist deshalb aber nicht notwendigerweise eurozentrisch, sondern folgt – durchaus ergebnisoffen – transnationalen Flüssen von Materie, Kapital, Ideen oder Menschen, ohne Vorannahmen über die Relevanz der einzelnen Bindeglieder zu präfigurieren.

43 Parallel und unabhängig zu diesem Vortrag entwickelten Susanne Popp und Miriam Hannig ähnliche Vorschläge zur globalen Geschichte von Kartoffel, Kaffee und Zucker in: Uta Fenske u. a. (Hrsg.): Kolonialismus und Dekolonisation in nationalen Geschichtskulturen und Erinnerungspolitiken in Europa. Module für den Geschichtsunterricht. Frankfurt a.M. u. a. 2015, S. 31–52. Vgl. außerdem Susanne Popp/Jutta Schumann: Change of Perspective. A Local Museum in Trans-regional and Cross-cultural Perspectives. In: Emma Nardi/Cinzia Angelini/St8phanie Wintzerith (Hrsg.): Change of Perspective. (New) Ideas for Presenting Museum Objects. Rom 2014, S. 33–46. 44 Einen Vorschlag, wie sich die Beziehungen zwischen den europäischen Metropolen und den Peripherien typologisch fassen lassen, bei: Osterhammel (Anm. 41), S. 473; als Katalog reproduziert, aber nicht weiterentwickelt bei: Christoph Kühberger : Globalgeschichte als Vernetzungsgeschichte. Geschichtsunterricht im Mehr-Ebenen-System. Hildesheim 2012, S. 176.

Entgrenzte Räume und die Verortung des Globalen

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2) Hierbei können die Lernenden transnationale, transkulturelle und transkontinentale Verbindungen erkennen. Diese werden zunächst nur konstatiert, rücken dabei aber einerseits die lokalen Verhältnisse in einen globalen Horizont und platzieren andererseits den Ort des Lokalen in globaleVerflechtungsprozesse. Das Lokale erhält seinen Platz im Globalen. 3) Es sind konkrete Geschichten von identifizierbaren Dingen oder Personen, die globale Bezüge anschaulich und greifbar machen, sodass die lokalen Akteure in Aachen, aber auch jene auf einer karibischen Zuckerplantage in ihren jeweiligen Handlungsspielräumen und sozialen Kontexten sichtbar werden. 4) Die Forschend-Entdeckenden können so eigene Narrative über globale Verflechtungen entwerfen, die wegen ihrer konkreten Bezüge gut nachzuvollziehen und triftig sind. Im Lernprozess kommt es für die Lernbegleiter nun darauf an, sie zu einer Qualifizierung der jeweiligen Verflechtungen herauszufordern – zu einem historischen Sachurteil. 5) Diese Herangehensweise erlaubt auch den Blick auf die Vielfalt von Machtstrukturen in den verschiedenen lokalen Kontexten, die von einer solchen Verflechtungsgeschichte betroffen sind. Hier gibt es viele Möglichkeiten, um Interessantes und Relevantes zu entdecken: Das betrifft in unserem Beispiel etwa die Distinktionspraktiken des Aachener Bürgertums, die Verteilung der Marktmacht bei Kakao und Zucker, die Transportbedingungen (Schifffahrt) und Warenmonopole, die Hierarchisierungen der verschiedenen Formen freier und unfreier Arbeit auf Schiffen und Plantagen, aber auch die Praktiken der Sklavenjagd und die unterschiedliche Behandlung von Genderfragen in Afrika, der Karibik, auf See oder in Aachen. Das Entdecken und Erforschen dieser Unterschiede fordern zum Vergleich heraus und eignen sich damit ideal zur Vermittlung historischer Kategorien, die nun von den Lernenden gesucht werden müssen. Solche Recherchen sind für Studierende, aber auch für Schüler*innen ab dem Ende der Sekundarstufe I durchaus zu leisten. 6) Es gibt fast überall noch viel zu entdecken und die Startpunkte liegen oft so nahe, befinden sich aber trotzdem im Schatten unseres oft auf partikulare Entwicklungen verengten Sichtfelds: In Aachen und andernorts gibt es Museen, Archive, Bibliotheken und Institutionen mit entsprechendem Zuschnitt, über die wir als historische Lernorte viel zu selten nachdenken: zoologische und botanische Gärten, Handelsgesellschaften und Industriebetriebe, Banken und Versicherungen, Universitäten und Missionsgesellschaften, Kirchen und Vereine. Kaum denkbar, dass es im deutschen Sprachraum einen Ort gegeben haben könnte, der von diesen globalen Verflechtungen unberührt geblieben wäre. Auch wenn nicht jeder Ort seine eigenen Entdecker und Erforscher unbekannter Weltgegenden Afrikas auf-

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weisen konnte, wie Aachen mit dem Geographen Heinrich Schiffers (1901–1982), so gibt es doch überall historische Spuren aus vorindustrieller Zeit von Kaffee, Tee, Kakao oder Zucker. So viel Globales gibt es noch im Lokalen zu entdecken, wenn man sich nur traut, den nationalhistorischen Tunnelblick zu verlassen und den Horizont zu erweitern. Wer sagt denn, dass Geschichtsunterricht unbedingt provinziell sein muss, wenn er sich lokaler Geschichte widmet?

Anja Neubert

Von Grenzgängern und Zeitreisen. Historische Apps und Augmented Reality im Fokus historischen Lernens vor Ort

1.

Projektvorstellung

Im Oktober 2015 veröffentlichte die Professur für Geschichtsdidaktik der Universität Leipzig die App ZEITFENSTER. Friedliche Revolution Leipzig.1 Nach einem Jahr intensiver Archivrecherche sowie komplexen konzeptionellen und technischen Überlegungen wurde damit das erste Teilziel eines umfangreicheren Projektes realisiert und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Fortan ist es an 25 Standorten, sogenannten ZEITFENSTERN, im Leipziger Innenstadtbereich möglich, historische Fotografien interaktiv mit der aktuellen Kamerasicht eines Tablets oder Smartphones zu überblenden. So können Nutzer Aufnahmen der Demonstrationen vom Sommer 1989 auf den Hof der Nikolaikirche ins Jetzt projizieren, Einsatzkräfte der Volkspolizei zum 40. Jahrestag der DDR am Augustusplatz des Jahres 2015 aufmarschieren sehen oder kontrafaktisch-virtuell einen Gestaltungsvorschlag zum nicht realisierten Freiheits- und Einheitsdenkmal auf die Brache am Wilhelm-Leuschner-Platz einpassen. Daneben enthält die App zusätzlich rund 300 abrufbare Artefakte. Diese Stasi-Akten, Flugblätter der Bürgerbewegung, zeitgenössischen Videoaufnahmen und O-Töne sowie historische Fotos laden zur vertieften quellenbasierten Auseinandersetzung ein. Mit zusätzlich integrierten Audioguides sowie einer Navigationsfunktion können sich interessierte Leipziger aber auch Touristen kostenfrei und zweisprachig in Deutsch und Englisch zur Geschichte der Friedlichen Revolution informieren. Das Projekt ZEITFENSTER sowie der vorliegende Beitrag verstehen sich als Fallstudie und erste Annäherung an eine geschichtsdidaktische Auseinandersetzung mit derartigen Anwendungen. Demnach steht zunächst die allgemeinreflektierende Beschreibung historischer Apps als neues Format der Geschichtskultur im Fokus. Am Beispiel der App ZEITFENSTER soll hier exemplarisch die Relevanz dieser Medienangebote für Raumbezüge in historischen 1 Weitere Informationen unter www.zeitfenster.uni-leipzig.de (aufgerufen am 17. 02. 2016).

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Anja Neubert

Abb. 1: Die App ZEITFENSTER. Friedliche Revolution Leipzig ist für Tablets und Smartphones kostenfrei für iOS und Android auf Deutsch und Englisch verfügbar.

Vermittlungsprozessen verdeutlicht werden. Im Mittelpunkt stehen anschließend erste Anhaltspunkte einer Pragmatik medialer Darstellung historischer Räume in derartigen Apps. Die Erfahrungen im Zusammenhang mit Konzeption und Umsetzung des Projektes ZEITFENSTER werden hier in Form geschichtsdidaktischer Zielstellungen, konzeptioneller Schwerpunktsetzungen und technischer Entscheidungen transparent gemacht und können somit als Orientierung für ähnliche Vorhaben, aber auch der perspektivischen Entwicklung von Bewertungskriterien für derartige Formate dienen. Abschließend zeigt der Beitrag Ansätze einer geplanten Rezeptionsstudie auf, die im Anschluss an die Veröffentlichung der App das zweite Teilvorhaben des Projektes ZEITFENSTER markiert. Dabei werden Fragestellungen und Methoden einer empirischen Untersuchung von Nutzung und Nutzerverhalten skizziert.

2.

Apps machen Geschichte – Perspektiven auf ein neues Format der Geschichtskultur

Dass die gesellschaftliche Vermittlung von Geschichte unter dem Begriff der Geschichtskultur zur genuinen Aufgabe der Geschichtsdidaktik gehört, stellt im Jahr 2015 einen Gemeinplatz dar. Interessant ist dennoch der Verweis auf aktuelle geschichtsdidaktische Forderungen: »Die Geschichtsdidaktik als akademische Disziplin steht […] in der Verantwortung, die Dynamik gesellschaftlicher Wirklichkeit immer aufs Neue zu reflektieren.«2 Der entscheidende Aspekt 2 Marko Demantowsky/Christoph Pallaske: Geschichte lernen im digitalen Wandel. Einleitung. In: Dies. (Hrsg.): Geschichte lernen im digitalen Wandel. München 2015, S. VII–XVI, hier S. XIV.

Historische Apps und Augmented Reality im Fokus historischen Lernens

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dieser Aufgabenformulierung liegt hier auf dem Begriff der Dynamik. Nichts Neues, mag man meinen – zweifellos sind geschichtskulturelle Entwicklungen bzw. deren Medien stets und von jeher im Wandel begriffen. Nahmen sich Vertreter unserer Disziplin im Jahr 1977 auf der Tagung der Konferenz für Geschichtsdidaktik in einer Sektion der »Geschichte in Film, Funk und Fernsehen« an, konnten sich die Anwesenden sicher kaum oder nur in Ansätzen vorstellen, was sich gut 50 Jahre später unter dem Sektionstitel »Zeitgeschichte im Internet« auf der KGD-Tagung in Bonn vorzustellen sei.3 Die Weiterentwicklung geschichtskultureller Medienformate hat demnach Geschichte und unterliegt selbst permanenten Grenzverschiebungen. Indes, und das kennzeichnet das eigentlich Neue, hat sie in den letzten 10 Jahren zweifellos an Dynamik gewonnen. Sicher hätten wiederum nur einige wenige Konferenzteilnehmer des Jahres 2009 eine klare Vorstellung von dem gehabt, was Christoph Pallaske nur vier Jahre später, auf der Tagung »Geschichte lernen digital« mit dem Verweis auf Augmented Reality und Mobile Learning als neues Beschäftigungsfeld insbesondere der Lokal- und Regionalgeschichte beschrieb.4 Der viel beschworene digitale Wandel bringt in kaum zu fassendem Tempo immer neue Praktiken öffentlicher Geschichtskultur hervor. Eine klare Eingrenzung des medialen Gegenstandsbereiches wird zunehmend schwerer, das Feld geschichtsdidaktischer Analyse, Pragmatik und Empirie immer vielfältiger. In jedem Falle folgt einer verstärkten Dynamik medialer Geschichtsvermittlung der Anspruch einer dynamischen Disziplin, die technische Entwicklungen überblickt und Bedingungen geschichtsbezogenen Denkens im digitalen Wandel reflektiert.5

2.1

Historische Apps – Eine Bestandsaufnahme

Auch die App ZEITFENSTER steht im Kontext der skizzierten Dynamik. Es ist eine Konjunktur historischer Stadtrundgänge zu beobachten, die zunehmend auf mobilen Endgeräten wie Smartphones und Tablets verfügbar sind und die 3 Vgl. hierzu die beiden Tagungsbände: Wilhelm von Kampen/Hans Georg Kirchhoff (Hrsg.): Geschichte in der Öffentlichkeit. Tagung der Konferenz für Geschichtsdidaktik vom 5.– 8. Oktober 1977 in Osnabrück. Stuttgart 1979. Sowie: Susanne Popp u. a. (Hrsg.): Zeitgeschichte – Medien – Historische Bildung. Göttingen 2010 (Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik Bd. 2). 4 Vgl. Christoph Pallaske: Die Vermessung der (digitalen) Welt. In: Marko Demantowsky/ Christoph Pallaske (Hrsg.): Geschichte lernen im digitalen Wandel. München 2015, S. 136–147, hier S. 145. 5 Vgl. hierzu die Ziele des 2013 gegründeten Arbeitskreises »Digitaler Wandel und Geschichtsdidaktik« der Konferenz für Geschichtsdidaktik (https://dwgd.hypotheses.org/ziele, aufgerufen am 17. 02. 2016).

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Anja Neubert

vorwiegend dem Bereich des Geschichtsmarketings von Städten und Regionen zugeschrieben werden können.6 Diese wiederum sind im größeren Zusammenhang eines allgemeingesellschaftlichen Bedeutungszuwachses von sogenannten Apps einzuordnen.7 Im Mai 2015 waren über die gängigen App-Stores weltweit ca. 3,7 Mio. derartige Anwendungen für mobile Endgeräte verfügbar.8 Während im Jahr 2009 im Google Play Store ca. 16.000 Apps angeboten wurden, stieg die Zahl rasant auf 1,4 Mio. Apps im Februar 2015.9 In den als Vertriebskanäle der großen Player Google und Apple fungierenden Stores findet sich auch eine Vielzahl von Anwendungen mit historischem Inhalt. Eine seriöse quantifizierende Auskunft zum Umfang der im Folgenden als historische Apps klassifizierten Angebote dürfte schwer fallen. Zwar existieren Suchfilter zur nutzerseitigen Recherche, allerdings findet sich in den angebotenen Kategorien kein expliziter Eintrag für historische Angebote, etwa in Form einer Kategorie Geschichte. Immerhin lässt sich feststellen, dass historische Apps in der Regel unter den Kategorien Bildung, Reisen und Spiele zu finden sind. Im App-Store bilden diese drei Rubriken insgesamt ca. 33 % der verfügbaren Apps.10 ZEITFENSTER beispielsweise ist der Kategorie Reisen und Lokales zugeordnet. Erste Recherchen ergeben eine mögliche inhaltliche Klassifizierung relevanter Angebote. Diese unterscheidet im Wesentlichen drei Arten historischer Apps: Zunächst sind historische Spiele zu verzeichnen, die vielfach in Form von reinen Quizangeboten teils überraschend hohe Benutzerzahlen aufweisen. So erreichen beispielsweise die beiden Apps Historyquiz und Politik und Geschichte Quiz Installationszahlen zwischen 10.000 bis 50.000.11 Ebenso zählen in diese Subkategorie App-Versionen von Videospielen wie Valiant Hearts – The Great 6 Allein in Leipzig existieren neben ZEITFENSTER mit dem Angebot des Museums in der »Runden Ecke« sowie einer Anwendung »Zeitreise« des mdr gleich drei Apps, die sich auf die Geschichte der DDR bzw. »Friedlichen Revolution« beziehen. 7 Als Apps werden grundsätzlich Applikationen für mobile Endgeräte wie Smartphone und Tablet bezeichnet. Diese werden in den Stores beispielsweise von Google oder iOS veröffentlicht und können dort von Nutzern auf das Endgerät geladen werden. 8 Vgl. Statista – Das Statistik-Portal unter : http://de.statista.com/statistik/daten/studie/ 208599/umfrage/anzahl-der-apps-in-den-top-app-stores/ (aufgerufen am 17. 02. 2016). 9 Vgl. Statista – Das Statistik-Portal unter : http://de.statista.com/statistik/daten/studie/743 68/umfrage/anzahl-der-verfuegbaren-apps-im-Google-play-store/ (aufgerufen am 17. 02. 2016). 10 Vgl. Statista – Das Statistik-Portal unter : http://de.statista.com/statistik/daten/studie/ 166976/umfrage/beliebteste-kategorien-im-app-store/ (aufgerufen am 17. 02. 2016). 11 Vgl. https://play.oogle.com/store/apps/details?id=com.apprope.historyquiz (aufgerufen am 17. 02. 2016) sowie https://play.google.com/store/apps/details?id=de.fry.politikgeschi chte (aufgerufen am 17. 02. 2016). Die Installationszahlen in den Stores geben immer lediglich Orientierungswerte an. Im Fall des Historyquiz wird eine Zahl zwischen 10.000 bis 50.000 veröffentlicht.

Historische Apps und Augmented Reality im Fokus historischen Lernens

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Abb. 2: Die App ZEITFENSTER. Friedliche Revolution Leipzig im Google Play Store (Screenshot).

War.12 Unterschieden werden kann hier vor allem mit Blick auf die Produzenten der Angebote. Während die oft sehr simplen Quizformate häufig in privater Initiative erstellt werden, verfolgen kommerzielle Anbieter von Videospielen mit einem crossmedialen Angebot ökonomische Interessen. Eine zweite Gruppe historischer Apps stellen Angebote der Kategorie historische Information dar. Auch hier findet man professionelle Anbieter wie den SPIEGEL-Verlag, der sein Printangebot SPIEGEL GESCHICHTE als App bereitstellt.13 Auch Softwarefirmen ohne erkennbaren geschichtlichen Bezug finden sich unter den Entwicklern dieser Sparte. Einer genaueren Betrachtung bedürfen dabei Angebote, die wie am Fließband thematisch wahllos Apps publizieren. Ein Beispiel hierfür ist der Entwickler HistoryIsFun, der allein im Google Play Store 50 Angebote platziert.14 Nicht allein, dass dessen Herkunft und Identität für den Nutzer kaum auszumachen sind, auch die Themen und inhaltlichen Aufbereitungen sind fragwürdig: Die Geschichte des Holocaust, eine Biographie Hitlers oder Nelson Mandelas reihen sich hier scheinbar unreflektiert aneinander – die kritische Analyse dieser Angebote scheint mit Blick auf ebenfalls hohe Installationszahlen dringend geboten. Das Beispiel ZEITFENSTER ist schließlich der dritten Kategorie historische Orte zuzuordnen. Hier können Angebote von Gedenkstätten sowie Apps für 12 Vgl. https://play.google.com/store/apps/details?id=com.ubisoft.adventure.valiant_hearts_ trial (aufgerufen am 17. 02. 2016). 13 Vgl. https://play.google.com/store/apps/details?id=de.spiegelgeschichte.ereader (aufgerufen am 17. 02. 2016). 14 Vgl. https://play.google.com/store/apps/details?id=com.historyisfun.nazi (aufgerufen am 17. 02. 2016).

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Städte und Regionen unterschieden werden. Apps für Gedenkstätten stellen, wie beispielsweise die App der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, vielfach eine pädagogische Ergänzung am bereits didaktisierten und institutionalisierten Lernort dar.15 App-basierte historische Stadtrundgänge beruhen hingegen häufig auf kommunalen oder regionalen Marketinginitiativen und dienen überwiegend touristischen Zielen. Vereinzelt stammen diese Angebote auch von Akteuren historisch-politischer Bildung, wie etwa im Fall der Mauer-App der Bundeszentrale für Politische Bildung, die 2012 zu einer der ersten Apps in diesem Bereich gehörte.16 Gemeinsam ist allen Angeboten der Kategorie historische Orte eine GPS- und kartenbasierte Anreicherung des historischen Ortes mit auf dem mobilen Endgerät zusätzlich abrufbaren Informationen beispielsweise zu nicht mehr sichtbaren Gebäuden oder zu historischen Ereignissen. Der unternommene kursorische Überblick zu Angeboten historischer Apps zeigt trotz eines ersten Klassifikationsversuches die schwer fassbare Heterogenität dieses Formates. Als geschichtsdidaktisches Handlungsfeld bietet sich neben der durchaus schwierigen Quantifizierung der Angebote insbesondere eine genauere inhaltliche Betrachtung einzelner Kategorien sowie die Ebene der Produzenten an: Wer gestaltet und veröffentlicht mit welchem geschichtlichen Hintergrundwissen und mit welchen Motiven derartige Angebote? Auch die geschichtsdidaktische Reflexion über in Apps vermittelte historische Narrative sowie über die Qualität einzelner Apps im Sinne der Initiierung historischer Lernprozesse kann ein Gegenstand der Auseinandersetzung sein, die anschließend eine Erarbeitung normativer Kriterien für die geschichtsdidaktische Bewertung derartiger Formate ermöglicht. Auch scheint ein Blick auf die Konsumenten lohnenswert. Viele von ihnen geben über Nutzerkommentare öffentlich Einblick in die persönliche Bewertung der Angebote und somit auch in ihr Geschichtsbewusstsein. Nicht zuletzt ist darüber nachzudenken, ob und wie bestehende Konzepte zur Beschreibung und Klassifikation populärkultureller Geschichtsrepräsentationen um das Format historischer Apps erweitert werden können.17

15 Vgl. https://play.google.com/store/apps/details?id=de.docsommer.smappkit.neuengamme (aufgerufen am 17. 02. 2016). 16 Vgl. https://play.Google.com/store/apps/details?id=com.exozet.app.theberlinwall (aufgerufen am 17. 02. 2016). 17 Vgl. Barbara Korte/Sylvia Paletschek (Hrsg.): History Goes Pop. Zur Repräsentation von Geschichte in populären Medien und Genre. Bielefeld 2009.

Historische Apps und Augmented Reality im Fokus historischen Lernens

2.2

327

Augmented Reality – neue Raumbezüge historischer Bildung

Die App ZEITFENSTER referiert in zwei Richtungen auf die Thematik »Grenzverschiebungen und Raumbezüge historischer Bildung«: Zunächst bedeutet die verwendete Technik der Augmented Reality durch das Aufeinandertreffen und Überblenden von Vergangenheit (in Form historischer Fotos) und Gegenwart (aktuelle Kamerasicht) ein Verschieben bzw. Überschreiten von realen Wahrnehmungsgrenzen. Zweitens verändert bzw. erweitert Augmented Reality die Möglichkeiten von Raumbezügen historischer Bildung. Steht bei vielen Anwendungen sogenannter Neuer Medien oftmals die virtuelle Auseinandersetzung am heimischen oder schulischen Computer dem konkreten Erleben am historischen Ort gegenüber, kann diese Unterscheidung mit Augmented Reality aufgehoben werden. Das gegenwärtige Erfahren oder besser Erlaufen historischer Orte wird durch eine Erweiterung der Realität um virtuell präsentierte historische Informationen ergänzt. Die Stadt Leipzig wird durch die GPS-gestützte Anwendung zum virtuellen Museum an der Schnittstelle von Vergangenheit und Gegenwart, an der sich Realität und Virtualität verbinden, statt sich als Erfahrungsräume historischen Lernens diametral gegenüberzustehen. Die mit dem spatial turn einhergehende Konjunktur der Verhältnisbestimmung von Zeit und Raum beschäftigt seit Längerem auch die Geschichtsdidaktik.18 Durch neue technische Möglichkeiten erfährt diese nun ebenso neue Denkrichtungen. Moderne Kommunikationstechnologien haben zunächst zu einer »Verkleinerung des Raumes« geführt, in der räumliche Unüberschaubarkeit und Fremdheit gänzlich verloren scheinen.19 Wiederum innovative Technologien sind es nun, die zudem auch die Ebene der Zeit bzw. deren Wahrnehmung tangieren. Die Potentiale von Augmented Reality entsprechen dabei einer neuen Qualität »raum-zeitlicher Überschaubarkeit«, die am historischen Ort durch das Aufeinandertreffen verschiedener Zeitschichten möglich wird. Für die nähere Betrachtung der App ZEITFENSTER bietet sich das Konzept des HisTourismus an, da auch hier von einer systematischen Orientierung der Kategorie Zeit auf die Kategorie Raum in geschichtsdidaktischer Absicht als konzeptionelle Achse ausgegangen wird.20 Die Notwendigkeit, dem Reisenden

18 Vgl. Dietmar Schiersner (Hrsg.): Geschichtsdidaktik und Raumkonzeptionen. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 10 (2011). 19 Vgl. Martin Sabrow: Der Raum der Erinnerung. In: Janina Fuge/Rainer Hering/ Harald Schmid (Hrsg.): Gedächtnisräume. Geschichtsbilder und Erinnerungskulturen in Norddeutschland. Göttingen 2014, S. 17–32, hier S. 24. 20 Vgl. Bernd Mütter : HisTourismus als pragmatische Raumkonzipierung, Kategorien und Ziele historischen Lernens auf Reisen. In : Dietmar Schiersner (Hrsg.): Geschichts-

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Abb. 3: »Raum-zeitliche Überschaubarkeit«: Paulinerkirche vor der Sprengung 1968, der »UniRiese« aus dem Jahr 1972 und das neu errichtete Augusteum in der Kameraperspektive 2015 (Screenshot ZEITFENSTER).

die Verzeitlichung des Raumes sowie die Verräumlichung der Zeit erst einmal bewusst zu machen, wird mit Hilfe von Augmented Reality unterstützt. Da einzelne Zeitschichten historischer Orte mit dem Auge des Besuchers kaum wahrnehmbar oder schlicht nicht mehr vorhanden sind, unterliegen historische Orte aus geschichtsdidaktischer Sicht einem Visualisierungszwang.21 Diesem kann mit dem Ein- und Überblenden historischer Fotografien auf dem Bildschirm des Nutzers methodisch neuartig begegnet werden. Mit dem Finger auf dem Tablet werden Zeitschichten auf- und abgetragen – wird Historizität sprichwörtlich greifbar.

2.3

ZEITFENSTER und historisches Lernen vor Ort

Die entwickelte ZEITFENSTER App gehört methodisch zu den Konzepten außerschulischen Lernens, des erkundenden Geschichtsunterrichts sowie zur Exkursion bzw. Lokalerkundung. Somit reiht sie sich in das Portfolio regionalbzw. lokalgeschichtlicher Zugänge historischen Lernens ein.22 Das Potential historischer Orte als Lernorte ist mit Begriffen wie Realerfahrung, Lernen mit allen Sinnen, Originalität, Anschaulichkeit, Imagination, historische Authentididaktik und Raumkonzeptionen. Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 10 (2011), S. 10–21, hier S. 11. 21 Vgl. Ebd., S. 15. 22 Vgl. Hilke Günther-Arndt: Erkundender Geschichtsunterricht. In: Dies. (Hrsg.): GeschichtsMethodik. Handbuch für die Sekundarstufe I und II. Berlin 2011, S. 119–147.

Historische Apps und Augmented Reality im Fokus historischen Lernens

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zität, Gegenwartsorientierung und Historizität zu beschreiben.23 Im Zusammenhang mit Entwicklungen des Geschichtslernens im digitalen Wandel wurde zuletzt jedoch auf neue Möglichkeiten des Mobile Learnings für Unterrichtsgänge bzw. die Begegnung am historischen Ort hingewiesen.24 Neben Geocaching und anderen Formen GPS-basierter Erkundung, beispielsweise durch sogenannte Actionbounds, lohnt sich ein genauerer Blick auf die mit der App ZEITFENSTER verbundenen Potenziale digital unterstützter und mobiler Szenarien außerschulischen Geschichtslernens. Argumentationen für Lernen am historischen Ort sind mit Blick auf gesellschaftliche Wirklichkeit nicht tragfähig, wenn sie davon ausgehen, den Anforderungen einer zunehmend medial vermittelten »Welt der bits und bytes« nur möglichst reale Anschauung und authentische historische Erfahrung gegenüberstellen zu müssen. »Nikolaikirche statt Facebook« funktioniert nicht. Die besondere Lernchance des Mobile Learnings besteht in einem Aufheben dieser Dichotomie von Realerfahrung und virtuellem Lernen. Augmented Reality und Smartphone können vielmehr zu Werkzeugen der Förderung von Historizitätsbewusstsein werden, welche mit einem »Wisch« behilflich sind, die »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« zu erfassen. Lernende werden hier im besten Sinne konstruktivistisch zu Akteuren, die den historischen sowie eigenen Erfahrungsraum in der Auseinandersetzung mit realen Objekten und historischen Fotografien konstruieren. Dass eine perspektivisch genaue Überlagerung von historischem Bild und realem Überrest ein vorheriges Suchen und Abgleichen im Raum erfordert, kann dabei sowohl Eigenaktivität als auch die »Wahrnehmungskompetenz für Veränderungen in der Zeit«25 fördern. Ein Vergleich beispielsweise des heutigen Augustusplatz mit dem Gebäudeensemble des Karl-Marx-Platzes 1968 noch vor Sprengung der Kirche verdeutlicht überdies den Konstruktcharakter von Geschichte. Augmented Reality und Mobile Learning werden zur zeitgemäßen Aufforderung einer »Sinnbildung über Zeiterfahrung«26. Während geführte Touren aufgrund vorgegebener Routenführungen, monologischer Ausführungen von Experten und der nur aufwändig zu realisierenden Ergänzung mit Quellenmaterial oftmals den Charakter eines »an außerschulische Orte verlegten Frontalunterrichts«27 tragen, ermöglicht Mobile 23 Vgl. Ulrich Mayer: Historische Orte als Lernorte. In: Ulrich Mayer/Hans-Jürgen Pandel/ Gerhard Schneider (Hrsg.): Handbuch Methoden des Geschichtsunterricht. Schwalbach 2004, S. 389–407, hier S. 392ff. 24 Vgl. Pallaske (Anm. 4). 25 Peter Gautschi: Guter Geschichtsunterricht. Grundlagen, Erkenntnisse, Hinweise. Schwalbach 2009, S. 50. 26 Jörn Rüsen: Historisches Lernen. Grundlagen und Paradigmen. Schwalbach 2008, S. 62. 27 Christian Kuchler : Historische Orte im Geschichtsunterricht. Schwalbach 2012, S. 43.

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Learning einen verstärkt lernerorientierten Ansatz. Integrierte Kartenfunktionen bieten eine Orientierung im Raum und somit größere Chancen für ein selbstgesteuertes und individuelles Entdecken des Lernortes. Auch können mit Augmented Reality historische Akteure oder Handlungen in den Blick geraten. Methodische Möglichkeiten wie Reenactments am historischen Ort verweisen auf das Prinzip der Handlungsorientierung, welches mit Hilfe von mobilen Geräten zwar technisch unterstützt werden kann, bei aller Lebensweltorientierung jedoch selbstverständlich didaktischer Reflexion bedarf.

Abb. 4: Eine Schülerin im Jahr 2015 stellt handlungsorientiert mit Augmented Reality die Demonstration vom 4. September 1989 vor der Nikolaikirche nach. (Screenshot ZEITFENSTER).

Trotz der angedeuteten Potenziale einer »Mobilisierung von Geschichtsbewusstsein«28, bietet auch Augmented Reality zunächst immer nur eine punktuelle Repräsentation von Geschichte am historischen Ort. Einzelne ZEITFENSTER bleiben stets lediglich Schnittpunkte von Vergangenheit und Gegenwart und können geschichtliche Zusammenhänge nur ausschnitthaft repräsentieren. Der Gefahr »konkretistischer Illusion«29 ist hier durch Kontextualisierung in Form von Hintergrundnarrativen und Quellen zu begegnen. Ein alleiniges »Spielen« und »Wischen« auf dem Smartphone läuft Gefahr in einer subjektiven Gegenwartserfahrung der Lernenden zu verhaften. Unbedingt erforderlich sind Angebote der Alteritätserfahrung bzw. die Möglichkeit einer quellenbasierten Vergangenheitsdeutung, die anschließend einer reflexiven Orientierung in Ge28 Mütter (Anm. 20), S. 20. 29 Ebd., S. 17.

Historische Apps und Augmented Reality im Fokus historischen Lernens

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genwart und Zukunft dienen können. Zudem enthält auf Bildquellen basierende Augmented Reality das Risiko der Vermittlung »ästhetischen Scheins« oder der »Idyllisierung und Verklärung« einer oft machtgeprägten und gewaltdurchdrungenen historischen Wirklichkeit.30 Mit Blick auf historisches Lernen bleibt festzuhalten, dass Augmented Reality und Mobile Learning nicht der Vorzüge bekannter (analoger) Stadtrundgänge entbehren, sondern diese im besten Fall und bei didaktisch reflektierter Umsetzung fruchtbringend ergänzen können.

3.

ZEITFENSTER als Versuch einer Pragmatik der Raumdarstellung in historischen Apps

Sowohl die Konzeption als auch die inhaltliche und technische Umsetzung der App evozierten die Herausforderung, vielfältige Zielstellungen mit teils divergierenden konzeptionellen Konsequenzen zu realisieren. Im Folgenden wird ein kurzer Einblick in diese Ziel- und Umsetzungsebenen skizziert, werden Entscheidungssituationen transparent gemacht, die folglich als orientierende Erfahrungswerte für ähnliche Vorhaben dienen können. Die geschichtsdidaktischen Schwerpunktsetzungen sowie deren technische Umsetzung veranschaulichen einerseits die Funktionsweise der App ZEITFENSTER und bemühen sich gleichsam um eine Weitergabe pragmatischer Expertise einer methodisch kontrollierten Umsetzung intermedialer Repräsentation historischer Raumbezüge.31

3.1

Zielstellungen des Projektes ZEITFENSTER

Ausgangspunkt des Projektes ZEITFENSTER bildeten im Wesentlichen Zielstellungen auf zwei Ebenen. Zum einen wurde eine Erweiterung des Portfolios geschichtskultureller Aktivitäten in Leipzig zum Thema »Friedliche Revolution« in Form eines bis dato am Standort noch nicht existierenden medialen Konzeptes avisiert. Im Rahmen der Aktivitäten rund um das 25-jährige Jubiläum im Jahr 2014 sollte ein zeitgemäßes Angebot für eine möglichst breite Zielgruppe von Leipzigern und Touristen platziert werden. Mit dem Anspruch einer sowohl didaktisch reflektierten Aufbereitung als auch zeitgemäßen technischen Um30 Ebd., S. 18. 31 Vgl. Vadim Oswalt: Das Wo zum Was und Wann. Der »spatial turn« und seine Bedeutung für die Geschichtsdidaktik. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 61 (2011), S. 220–233, hier S. 221.

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setzung folgte die Projektgruppe HISTOdigitaLE an der Professur für Geschichtsdidaktik dem Selbstverständnis einer »Handlungswissenschaft«32, die sich produktiv in gesamtgesellschaftliche Vermittlungsprozesse einmischt und aktiv zur Ausbildung von Geschichtsbewusstsein beiträgt.33 Ausdrückliches Ziel war die offensive Auseinandersetzung mit populären Medien, das Entwickeln eigener guter Beispiele, ein Einmischen und Mitdenken.34 Das Fehlen geschichtsdidaktischer empirischer Forschung im Bereich des Mobile Learnings bildete den zweiten Zielhorizont des Projektes ZEITFENSTER. Avisiert wurde daher von Beginn an die empirische Auswertung des Nutzungs- und Nutzerverhaltens im Anschluss an die Veröffentlichung der App.

3.2

Geschichtsdidaktische Konzeption der App ZEITFENSTER

Mit Blick auf die dargestellten Potentiale von Augmented Reality für historisches Lernen und besonders für die Förderung von Historizitätsbewusstsein stellt diese Anwendung das Kernelement der App dar. An gezielt ausgewählten Standorten sollten am sogenannten ZEITFENSTER historische Fotografien mit Geokoordinaten lokalisiert werden. Wesentliche Schwerpunkte pragmatischer Überlegungen bildeten hierbei insbesondere die Auswahl, Reduktion und Festlegung möglicher Standorte. Im Austausch mit anderen Akteuren der Erinnerungskultur in Leipzig wurden mögliche Themen diskutiert. Der Mikroraum Leipzig sollte gleichzeitig zentrale Dimensionen von Gesellschaftlichkeit wie Politik, Kultur, Religion, Kunst, Umwelt Geschlecht etc. abbilden und so einen breiten Horizont für historisches Denken spannen.35 Dem Austausch über mögliche Standorte und Themen folgte die gezielte Recherche nach thematisch repräsentativen historischen Fotografien. Die finale Festlegung von 25 Standorten wurde dabei erstens durch die Nutzbarkeit der Bildquellen für Augmented Reality geleitet – Bilder aus der Vogelperspektive bzw. ohne Anhaltspunkte für eine Lokalisierung im heutigen Stadtbild sind beispielsweise hierfür nicht geeignet. Zweitens markierte die Verortung innerhalb des Leipziger Innenstadtringes mit Blick auf die fußläufige Erreichbarkeit aller Standorte ein Auswahlkriterium. Zudem wurde eine Motivvielfalt inten32 Bernd Schönemann: Geschichtsdidaktik, Geschichtskultur, Geschichtswissenschaft. In: Hilke Günther-Arndt (Hrsg.): Geschichts-Didaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II. Berlin 2003, S. 11–22, hier S. 14. 33 Weitere Informationen zu HISTOdigitaLE unter : www.histodigitale.uni-leipzig.de (aufgerufen am 17. 02. 2016). 34 Vgl. Waldemar Grosch: Das Internet als Raum historischen Lernens. In: Astrid Schabe/Uwe Danker (Hrsg.) Historisches Lernen im Internet. Schwalbach 2008, S. 13–35, hier S. 35. 35 Vgl. Oswalt (Anm. 31), S. 227.

Historische Apps und Augmented Reality im Fokus historischen Lernens

333

diert, die sowohl historische Orte als auch handelnde Akteure abbildet sowie dem Prinzip der Multiperspektivität folgend gleichsam historische Orte der Staatsgewalt als auch Orte der Bürgerbewegung präsentiert. Die Kooperation mit der Außenstelle der BStU sowie mit dem Archiv Bürgerbewegung Leipzig e.V. erwies sich für die multiperspektivische Umsetzung der App als besonders fruchtbringend. Insbesondere deshalb, weil das Prinzip der Quellenorientierung einen weiteren Schwerpunkt der geschichtsdidaktisch reflektierten Projektkonzeption bildete. In Zusammenarbeit mit beiden Kooperationspartnern konnten an jedem ZEITFENSTER kontextualisierende und zur historischen Auseinandersetzung auffordernde Quellen in Form von Unterlagen der Staatssicherheit sowie Dokumenten der Bürgerbewegung wie Flugblätter und Schriften des Samisdat integriert werden. Bei der Auswahl der Quellen war zudem das Kriterium der Multimedialität leitend. So finden sich hier neben Schriftquellen und weiteren Bildquellen auch historische Film- und Audiodokumente. Parallel zur intendierten inhaltlichen Abwechslung stand die Berücksichtigung differierender Lernangebote im Fokus. Je nach Lerntyp sollten verschiedene Lernkanäle angesprochen werden. Insgesamt zielte die Integration des Quellenmaterials auf eine vertiefende Auseinandersetzung als Ergänzung zur handlungsorientierten Funktionalität der Augmented Reality. Gleichzeitig bildete ein angemessener Umfang des Materials ein Auswahlkriterium – sind Tablets und Smartphones bei aller geschichtsdidaktischen Ambition doch »Geräte to go« und die App grundsätzlich auf eine breite Nutzergruppe ausgerichtet. Eine möglichst individualisierte Nutzung der App je nach Zeit und Interesse wurde zudem mit der Gruppierung der 25 ZEITFENSTER um insgesamt 4 Themengebiete intendiert. Je nach inhaltlichem Interesse kann die Beschäftigung so nutzerseitig anhand der Themen »Vorgeschichte(n)«, »Zwischen Propaganda und Protest«, »Friedliche Revolution« und »Zwischen den Zeiten« gewählt werden. Als Hintergrundnarration stehen im Sinne einer mittleren Vermittlungsebene zwischen spielerischer Augmented Reality und vertiefter Auseinandersetzung zusätzlich an jedem ZEITFENSTER kurze Autorentexte zur Thematik des Standortes als Text und Audioguide zu Verfügung. Die geschichtswissenschaftlich und geschichtsdidaktisch reflektierte Aufbereitung erfolgte an der Professur für Geschichtsdidaktik und soll einer möglichst kurzen, informierenden und verständlichen Einführung dienen. Zur Förderung historischer Urteilsbildung fiel die Entscheidung auf inhaltlicher Ebene zu Gunsten der ausschließlichen Verwendung von originärem Quellenmaterial. Auf die Integration von Zeitzeugeninterviews wurde daher bewusst verzichtet. Der Nutzer bleibt ohne das Angebot vorgefasster Narrative aufgefordert, Geschichte selbst zu konstruieren und sich ein historisches Urteil zu bilden. Von der Grundentscheidung einer ausschließlichen Quellenorientierung ist, abgesehen von den einführenden Autorentexten, einzig an einem Standort

334

Anja Neubert

Abb. 5: Vermittlungsebenen und konzeptionelle Schwerpunkte der App ZEITFENSTER. Friedliche Revolution Leipzig.

abgewichen worden. Unter dem Titel »Wie erinnern?« wurde ein ZEITFENSTER integriert, welches in der Chronologie der Standorte explizit zukunftsgerichtet ist. Am Wilhelm-Leuschner-Platz stehen, dem Prinzip der Kontroversität entsprechend, verschiedene Deutungsangebote zum erinnerungskulturellen Umgang mit der Geschichte der »Friedlichen Revolution« zur Verfügung. Mit einem Entwurf für das geplante Einheits- und Freiheitsdenkmal, Bildern zum Leipziger Lichtfest, einem kritischen Zeitungscover des Stadtmagazins kreuzer sowie einer Umfrage zur Umbenennung von Straßen und Plätzen aus dem Jahr 1990 wird ein kontroverser Deutungshorizont eröffnet und zum Werturteil aufgefordert.

3.3

Aushandlungsprozesse im Spannungsfeld von Geschichtsdidaktik, Nutzer und Technik

Insgesamt standen die Entwickler der App ZEITFENSTER vor der anspruchsvollen wie herausfordernden Aufgabe gleichsam geschichtsdidaktische An-

Historische Apps und Augmented Reality im Fokus historischen Lernens

335

sprüche, Nutzerinteressen sowie technische Realisierbarkeit in Einklang zu bringen. Demnach waren sämtliche konzeptionelle Überlegungen vor einer Umsetzung auf ihre technische Realisierbarkeit zu prüfen. Startpunkt dieses Aushandlungsprozesses bildete die Entscheidung für die Umsetzung einer sogenannten nativen App. Dieser Typ wird separat für einzelne Betriebssysteme mobiler Endgeräte programmiert und jeweils dort installiert. Die Alternative einer sogenannten mobile App ist hingegen unabhängig von Betriebssystemen und auch entsprechenden Updates nutzbar, was den Programmierungsaufwand erheblich verringert. Da mobile Apps allerdings über den Internetbrowser arbeiten, erfordert deren Nutzung eine Verbindung zum Internet, was bei einer mobilen Anwendung wie die historischer Stadtrundgänge für Schüler (oftmals ohne komfortablen Mobilfunkvertrag) und Touristen (erhöhte Kosten im Ausland) einschränkend sein kann. Auch weil Augmented Reality auf die Kamera des Endgerätes zugreifen muss, wurde ZEITFENSTER als native App für die beiden gängigsten Betriebssysteme iOS und Android programmiert. Ein weiterer Aushandlungsprozess betraf die Integration von Quellenmaterial und den damit verbundenen Umfang der App. Das Einbinden von Inhalten wie Videos oder Bilder ist durch Vorgaben von Apple und Google auf maximal 100 MB limitiert. Die finale Version von ZEITFENSTER beträgt ca. 80 MB, zusätzliche Videos können bei bestehender Internetverbindung als Medienpacket vom Server der Universität Leipzig geladen werden. Somit ist die gesamte App auch offline nutzbar – der Stadtrundgang flexibel möglich. Dass die Lösung eines nachträglichen Ladens zusätzlicher Inhalte seitens der Nutzer nicht als hemmend empfunden wird, zeigt ein Vergleich der Downloads der App aus den Stores mit den Zahlen vom Serverzugriff der Universität Leipzig: Drei Monate nach Veröffentlichung der App hatten insgesamt 612 Nutzer die App installiert und 604 davon auch den zusätzlichen Download des Videopaketes vorgenommen. Mit Blick auf die Nutzerinteressen hat sich diese Variante daher als vorteilhaft erwiesen. Herausfordernd zeigte sich zudem die Gestaltung der Benutzeroberfläche der App. Hier mussten jeweils spezifische Darstellungen auf verschieden großen Endgeräten (Smartphones und Tablets mit je unterschiedlicher Bildschirmgröße) und auch teils divergierenden Oberflächen für iOS bzw. Android berücksichtigt werden. Mit Blick auf ein ansprechendes und komfortables Nutzungserlebnis waren limitierte Zeichenvorgaben für Überschriften und Texte ebenso zu bedenken wie ein möglichst intuitives Bedienen der App durch die reduzierte Verwendung von Buttons sowie eine möglichst wenig verzweigte Hierarchie der Inhalte. Auch aufgrund der Zielstellung einer späteren Rezeptionsanalyse fand überdies eine Sharing-Funktion Eingang in die App. Diese ermöglicht Nutzern das Teilen durch Dienste wie Twitter oder Facebook.

336

Anja Neubert

Zu den Erfahrungen aus pragmatischer Perspektive gehörte, dass oftmals geschichtsdidaktisch sinnvoll erscheinende Funktionen, wie beispielsweise ein automatisiertes Signal als Hinweis auf in der Nähe liegende ZEITFENSTER, ein zusätzliches Glossar, eine komfortablere Routenfunktion oder verstärkt interaktive Elemente dem Abgleich mit finanziellen Rahmenbedingungen, technischer Realisierbarkeit oder Überlegungen zum Nutzungskomfort standhalten und gegebenenfalls verworfen werden mussten. Eine Zahl von 700 Downloads in den ersten vier Monaten nach Veröffentlichung der App sowie die Auszeichnung mit dem d-elina Award des IT-Branchenverbandes bitkom im Januar 2016 zeigen, dass das Ausloten des Spannungsverhältnisses zwischen Geschichtsdidaktik, Nutzer und Technik im Projekt ZEITFENSTER eine an aktuellen Standards gemessen ansprechende Umsetzung erfahren hat.36

4.

Ansätze einer Rezeptionsstudie zu ZEITFENSTER

Das Projekt ZEITFENSTER avisierte von Beginn an die Nutzbarmachung der App für eine anschließende Rezeptionsanalyse. Gerade im Kontext des digitalen Wandels gilt: »Eigene empirische Studien sind eine entscheidende Voraussetzung die grundlegend veränderten Bedingungen geschichtsbezogenen Lernens geschichtsdidaktisch adäquat zu reflektieren und auf sie unterrichtspragmatisch angemessen zu reagieren.«37 Der Fragehorizont der geplanten empirischen Untersuchung mit dem Charakter einer Fallstudie zur App ZEITFENSTER fokussiert im Wesentlichen Fragestellungen bezüglich der Nutzer sowie zur Gestaltung historischer Lernprozesse. Nach Klärung insbesondere datenschutzrechtlicher Aspekte ist darauf hinzuweisen, dass ein allgemeines Nutzertracking aufgrund der dabei stattfindenden Generierung personenbezogener Daten nicht möglich ist. Das Erfassen einzelner Nutzer mit anschließender Auswertung im Sinne beispielsweise einer Beschreibung verschiedener Nutzungstypen bzw. das Nachvollziehen individueller Lernwege ist nicht durchführbar. Anders gestalten sich demgegenüber die Chancen empirischer Beobachtung und Auswertung, die auf bereitgestellte und somit personalisierbare Endgeräte inklusive deren Nutzeraccount zurückgreift. Aus diesem Grund wird die geplante Rezeptionsstudie auf zwei Untersuchungsebenen stattfinden. Zum einen 36 Vgl. Die Pressemitteilung zur Preisverleihung unter : https://www.bitkom.org/Themen/ Standort-Deutschland/Bildung-Arbeit/Preistraeger-und-Nominierte-2016.html (aufgerufen am 17. 02. 2016). 37 Demantowsky/Pallaske (Anm. 2), S. XIV.

Historische Apps und Augmented Reality im Fokus historischen Lernens

337

gerät eine allgemein-öffentliche Nutzung der App ZEITFENSTER in den Blick. Eine zweite Untersuchung fokussiert die Nutzung durch Schüler*innen, die die App im Rahmen außerschulischen Geschichtsunterrichts nutzen. Für beide Schwerpunkte lassen sich jeweils eigene Fragestellungen und entsprechende Methoden der Beobachtung unterscheiden.

4.1

Allgemein-öffentlichen Nutzung der App ZEITFENSTER

Vielfältige nicht personalisierte Einblicke in allgemeine Informationen zu Nutzern sowie dem Nutzungsverhalten bieten die beiden Entwickleraccounts von Apple bzw. Google, auf die seitens der Projektgruppe HISTOdigitaLE zugegriffen werden kann. In quantifizierenden Statistiken finden sich hier beispielsweise Aussagen zum Herkunftsland der Nutzer, verwendeten Sprachvarianten, tagesaktuelle Informationen zu Installationen sowie zu genutzten Endgeräten. Auch ist die Nutzung vor Ort oder außerhalb Leipzigs einsehbar. Neben diesen allgemeinen Erkenntnissen bietet der Entwicklerzugriff auch Informationen über das Nutzungsverhalten. So kann beispielsweise die Gesamtzahl der Aufrufe einzelner Standorte ebenso erfasst werden wie die Frage nach der Nutzung spezifischer Inhalte. Eine vergleichende Betrachtung beispielsweise zur Nutzung der Quellen in Relation zur Häufigkeit des Aufrufs von Augmented Reality scheint aus geschichtsdidaktischer Perspektive lohnenswert. Insgesamt können so Aussagen über thematische Interessen der Nutzer aber auch über den Grad der Beschäftigung mit einzelnen Inhalten der App getroffen werden. Als zweite Methode wurde eine kurze Umfrage in die App integriert. Hier sind Nutzer aufgefordert, Aussagen beispielsweise zum Nutzungsmotiv, favorisierten Inhalten und Medien sowie zur eigenen Organisation der Routenplanung zu treffen. Mittels der integrierten Sharing-Funktion können Nutzer ihre Erlebnisse, Eindrücke und Meinungen zum Besuch einzelner ZEITFENSTER, aber auch zu Erfahrungen am historischen Ort in sozialen Netzwerken teilen. Geplant ist, diese beispielsweise über Twitter oder Facebook veröffentlichten Narrative zu erfassen und auszuwerten. Eine vierte Analyseebene stellen die zur App abgegebenen Nutzerkommentare bzw. Bewertungen in den App Stores dar. Interessant wäre hier eine Betrachtung des Verhältnisses gezielt technischer Rückmeldungen zum Nutzungserlebnis der App im Vergleich zu dezidiert inhaltlichen Hinweisen im Sinne öffentlich platzierter Kommentare, die einen Einblick in das Geschichtsbewusstsein einzelner Nutzer geben. Schließlich bieten sich gerade am Standort Leipzig vergleichende Untersuchungen an. Derzeit existieren zwei weitere App-basierte historische Stadt-

338

Anja Neubert

rundgänge zum Thema »1989«38 bzw. »DDR«39. Man kann daher durchaus von einer Konkurrenz bzw. auf die Stadt Leipzig bezogen vom »Raum als Ringen« sprechen.40 Eine analytisch-vergleichende Betrachtung der Angebote auf inhaltlicher und technischer Ebenes ist hier ebenso denkbar wie der Vergleich öffentlich abgegebener Nutzerkommentare zu den jeweiligen Apps in den Stores.

4.2

ZEITFENSTER für außerschulisches Geschichtslernen

Ein pädagogisches Begleitangebot zur App ZEITFENSTER richtet sich an Schulklassen, die sich mit bereitgestellten Tablets auf zeitgemäße Weise zur Geschichte der »Friedlichen Revolution« in Leipzig informieren können. Somit geraten formelle historische Lernprozesse am außerschulischen Lernort in den Blick: Im Rahmen einer qualitativen empirischen Studie werden ab Herbst 2016 Schüler*innen der Klassenstufen 9 und 10 von Leipziger Gymnasien, Oberschulen und Hauptschulen die App im Rahmen außerschulischen Geschichtslernens nutzen. Erste Überlegungen eines möglichen Untersuchungsdesigns seien an dieser Stelle skizziert. Unmittelbar vor dem Stadtrundgang soll ein strukturierter Fragebogen motivationale Faktoren sowie Vorerfahrungen im Umgang mit Apps im Allgemeinen sowie historischen Apps erfassen. Der 3-stündige Stadtrundgang, bei dem selbstverständlich nicht alle Standorte besucht werden können, wird dabei mit Hilfe eines Screencast-Programms auf den Endgeräten der Schüler*innen mitgeschnitten. Hieraus lassen sich akteursbezogene Erkenntnisse sowohl zur Bedienung der App durch die Lernenden als auch zu deren inhaltlicher Auseinandersetzung ableiten. Parallel erfasst ein GPS-Trackingprogramm die gewählten Standorte einzelner Schüler*innen bzw. deren Gesamtroute im Zuge des Stadtrundgangs. Hiermit können Aussagen zu Interessenschwerpunkten getroffen werden. Andererseits werden so Routenverläufe im Sinne von App-basierten Erschließungswegen des historischen Ortes rekonstruierbar. Im Anschluss an den Stadtrundgang sind die Schüler*innen dazu aufgefordert, aus dem Angebot der 25 ZEITFENSTER einzelne Orte auszuwählen und mit 38 https://play.Google.com/store/apps/details ?id=com.zweinullmarketing.bk89de& hl=de (aufgerufen am 17. 02. 2016). 39 https://play.Google.com/store/apps/details?id=de.mdr.smartphone.android.mdrzeitreise & hl=de (aufgerufen am 17. 02. 2016). 40 Meik Zülsdorf-Kersting: Geschichte auf dem »Logenplatz«. Versuche kollektiver Identitätsstiftung in Berlin. In: Saskia Handro/Bernd Schönemann (Hrsg.): Orte historischen Lernens. Berlin 2008 (Zeitgeschichte-Zeitverständnis, Bd. 18), S. 133–148, hier S. 133.

Historische Apps und Augmented Reality im Fokus historischen Lernens

339

entsprechenden Informationen einen Stadtrundgang zum Thema »Friedliche Revolution« aufzubereiten. Die Auswahl der Standorte als »Orientierungspunkte im Geschichtsbewusstsein ihrer Besucher«41 kann dabei Auskunft über den historischen Lernprozess mit der App geben. Die Aufforderung, diese zusätzlich durch eine eigene Erzählung zu verbinden, bietet Einblick in das ebenso relevante Verhältnis von Raum und historischer Narration.42 Gleichsam zielt die Analyse der durch die Schüler*innen erstellten Erzählungen auf Aussagen zur Förderung von Narrationskompetenz und letztlich Geschichtsbewusstsein durch App-basierte historische Stadtrundgänge.

Abb. 6: Schüler*innen im Jahr 2015 auf den Spuren der Jugendkultur in der DDR (Screenshot ZEITFENSTER).

5.

Fazit und Ausblick

Historische Apps stellen ein neues Format der Geschichtskultur dar, welches geschichtsdidaktische Handlungsfelder im Bereich der Analyse bestehender Angebote, einer Pragmatik der Darstellung historischer Räume im App-Format sowie empirischer Studien zum Geschichtslernen im Bereich des Mobile Learnings eröffnet. Am Beispiel des Projektes ZEITFENSTER wurden exemplarisch erste Ansatzpunkte für die beschriebenen Handlungsfelder Analyse, Pragmatik und Empirie skizziert. Gleichzeitig konnten Potenziale von Augmented Reality für 41 Rolf Schörken: Geschichte in der Alltagswelt. Wie uns Geschichte begegnet und was wir mit ihr machen. Stuttgart 1981, S. 22. 42 Vgl. Oswalt (Anm. 31), S. 224.

340

Anja Neubert

Geschichtslernen am historischen Ort aufgezeigt werden. Diese gilt es im weiteren Projektverlauf bzw. der avisierten Rezeptionsstudie zu konkretisieren und mit empirischen Befunden abzugleichen. Mit der App ZEITFENSTER wurde zudem ein geschichtsdidaktisch reflektiertes Format realisiert, welches ein konkretes Vermittlungsangebot für außerschulischen Geschichtsunterricht zum Thema »Friedliche Revolution« in Leipzig darstellt. Darüber hinaus versteht sich die App als Angebot fachdidaktischer Normsetzung im Bereich App-basierter historischer Stadtrundgänge.

Ivonne Driesner

Alltägliches sehen lernen? Die Wahrnehmung und Verarbeitung der historischen Umgebung – eine empirische Studie

1.

Wahrnehmung als Element historischen (Raum)Denkens

Die intensive Rezeption des Spatial turns in der Geschichtswissenschaft sowie die derzeitige Diskussion von Raumkonstruktionen vor dem Hintergrund globaler Konflikte und Migrationsprozesse erfordern dringend Konzepte der Geschichtsvermittlung, die Schüler1 für politische und kulturelle Raumpraktiken sensibilisieren. Wie Vadim Oswalt in seinem 2010 erschienenen Aufsatz »Das Wo zum Was und Wann« deutlich machte, werden raumbezogene Vermittlungsprozesse dadurch beeinflusst, dass zum einen curriculare Richtlinien Raumbezüge vorgeben, zum anderen die am Unterricht beteiligten Personen über eigene Raumkonzepte verfügen, die das (historische) Denken determinieren, und letztlich der Unterricht selbst in einem historischen und kulturellen Raum stattfindet, der Einfluss auf das Lernen ausübe.2 Während Oswalt Bildungsstandards und Curricula auf Raumbezüge untersuchte und zu der ernüchternden Feststellung gelangte, dass in diesen mit der Kategorie »Raum« wenig reflektierend operiert wird,3 ist bisher nur unzureichend geklärt, wie Schüler ihnen bekannte und fremde Räume konzeptualisieren und inwieweit die Geschichtskultur ihrer Umgebung das historische Raumbewusstsein leitet. Dies ist jedoch Voraussetzung dafür, um mit den Lernenden eigene und fremde Raumperspektiven und auch -identitäten zu reflektieren und Raumbezüge gewinnbringend einsetzen zu können. Überblickt man sozialwissenschaftliche Raumtheorien, so stellen die Wahr1 Zum Zweck der besseren Lesbarkeit wird hier das generische Maskulinum verwendet. Alle Personenbezeichnungen in diesem Beitrag gelten selbstverständlich für beide Geschlechter gleichermaßen. 2 Vadim Oswalt: Das WO zum WAS und WANN. Der »Spatial turn« und seine Bedeutung für die Geschichtsdidaktik. In: GWU 61 (2010), S. 220–233, hier S. 225f. 3 Vgl. dazu Vadim Oswalt: Raum und historisches Lernen – elaborierte Konzepte zu einer basalen Dimension geschichtlichen Denkens? In: Eugen Kotte (Hrsg.): Kulturwissenschaften und Geschichtsdidaktik. München 2011, S. 199–218.

342

Ivonne Driesner

nehmung und die Verarbeitung einzelner Elemente des Raumes bedeutsame Prozesse in der individuellen Konstruktion und Deutung desselben dar.4 In Bezug auf die Entwicklung eines raumbezogenen Geschichtsbewusstseins ist es daher von Interesse, wie Schüler historische Phänomene in ihrer Umgebung wahrnehmen und bewerten. Durch psychologische Studien wissen wir, dass es sich bei der Wahrnehmung um eine aktive und hochgradig komplexe Interpretationsleistung handelt.5 Bereits die bloße Perzeption von Objekten findet in einer aus vielfältigen Reizen bestehenden Umwelt statt und bedarf aus Gründen der Kapazität einer Selektion von Informationen aus diesem Überangebot.6 Diese Auswahl erfolgt durch die Aufmerksamkeit des Individuums, die sich in der Regel darauf richtet, was den eigenen Interessen oder den Erfordernissen entspricht, um sich in der Lebenswelt zurechtzufinden.7 Je komplexer die Umweltreize sind, desto stärker rekurriert das Gehirn zur Interpretation auf kulturelle Prägungen, Vorwissen und Erwartungen, sodass konstatiert werden kann, dass im Gedächtnis abgespeicherte Erfahrungen die Wahrnehmung leiten.8 Dass die Wahrnehmung von historischen Phänomenen eine besondere Rolle im Prozess des historischen Denkens spielt, ist mittlerweile unbestritten. Im Jahr 2000 hielt der Neurophysiologe Wolf Singer den Eröffnungsvortrag auf dem Historikertag in Aachen zum Thema »Wahrnehmen, Erinnern, Vergessen: Über Nutzen und Vorteil der Hirnforschung für die Geschichtswissenschaft« und machte darin deutlich, wie wesentlich diese drei Komponenten für die Be4 Henri Lefebvre, dessen Schriften maßgeblich Edward Soja beeinflussten, unterschied in der in den siebziger Jahren entstandenen Schrift »La production de l’espace« drei Dimensionen der Raumkonstruktion: den wahrgenommenen Raum, den konzipierten Raum und den gelebten Raum. Vgl. Henri Lefebvre: Die Produktion des Raumes. In: Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hrsg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. 7. Aufl. Frankfurt a.M. 2012, S. 330–342. Auch Dieter Läpple beschreibt die Aneignung von gesellschaftlichen und physischen Strukturen, die mit der Wahrnehmung beginnt, als wesentlich für die Raumkonstruktion. Vgl. Dieter Läpple: Essay über den Raum. In: Hartmut Häußermann u. a. (Hrsg.): Stadt und Raum. Soziologische Analysen. Pfaffenweiler 1991, S. 157–207, hier S. 196f. An dieser Stelle sei auch auf die wohl derzeit bekannteste Raumtheorie von Martina Löw verwiesen, der zufolge die Wahrnehmung, Vorstellungsbildung und Erinnerung als die grundlegenden Vorgänge in der Raumkonstitution gelten. Martina Löw unterscheidet das Spacing – das Platzieren von sozialen Gütern und Menschen – sowie die Synthese, das Wahrnehmen, Vorstellen und Erinnern – als Grundprozesse der Raumkonstitution. Vgl. Martina Löw: Raumsoziologie. 8. Aufl. Frankfurt a.M. 2015, S. 158f. 5 Wolf Singer : Wahrnehmen, Erinnern, Vergessen. Vom Nutzen und Nachteil der Hirnforschung für die Geschichtswissenschaft. In: ders. (Hrsg.): Der Beobachter im Gehirn. Essays zur Hirnforschung. Frankfurt a.M. 2002, S. 77–86, hier S. 80f. 6 Dazu u. a. Günther Kebeck: Wahrnehmung. Theorien, Methoden und Forschungsergebnisse der Wahrnehmungspsychologie. Weinheim/München 1994, S. 157. 7 Vgl. Ebd. 8 Darauf verweisen u. a. Singer (Anm. 5), S. 80f.; Kebeck (Anm. 6), S. 168–174.

Die Wahrnehmung und Verarbeitung der historischen Umgebung

343

trachtung von Geschichtskonstruktionen sind.9 Auch in der Geschichtsdidaktik wird die Bedeutung der Wahrnehmung als ein basaler Prozess des historischen Lernens betont. Jörn Rüsen beschreibt in seiner Theorie des historischen Lernens die Wahrnehmung bzw. Erfahrung als ein Erkennen von Zeitdifferenzen im Alltag.10 Dies verdeutlicht er mit dem Beispiel der Wahrnehmung des Nebeneinanders einer alten Kirche und eines modernen Bankgebäudes in der menschlichen Lebenswelt. Derartige Irritationen des Alltags können seiner Ansicht nach die Individuen zu einer Auseinandersetzung mit dieser Differenz bewegen und somit historische Denkleistungen motivieren.11 Auch Peter Gautschi schreibt in seinem Kompetenzmodell der »Wahrnehmung von Veränderungen der Zeit, zur Begegnung mit Zeugnissen in der Vergangenheit und Präsentationen der Geschichtskultur« eine Initialfunktion zu und formuliert diese Fähigkeit als »Wahrnehmungskompetenz für Veränderungen in der Zeit«.12 Als wesentliche Indikatoren für das Beherrschen des Kompetenzbereichs gelten in den Ausführungen von Gautschi unter anderem das Erkennen von auf die Vergangenheit bezogenen Phänomenen, Sachverhalten und Spuren in der eigenen Gegenwart und Umgebung sowie das Formulieren von Vermutungen und Fragen an die wahrgenommenen Phänomene.13 Markus Bernhardt führte diese Überlegungen im Rahmen seiner empirischen Studien zur Arbeit mit historischen Bildern weiter und entwickelte Niveaustufen der Wahrnehmungskompetenz, die für ihn dann als elaboriert gilt, wenn die Relevanz des Wahrgenommenen für die Gegenwart erkannt wird.14 Zudem machte er darauf aufmerksam, dass der historische Charakter von Bildern von Schülern nur bedingt erkannt wird und eine elaborierte Wahrnehmungskompetenz für das Historische bei Kindern unter 15 Jahren kaum ausgeprägt sei.15 Seine Ausführungen und die weiterführende Betrachtung durch Kristina Lange konnten deutlich machen, dass es zur Förderung der Wahrnehmung der his-

9 Vgl. Singer (Anm. 5), S. 77–86. 10 Vgl. Jörn Rüsen: Historisches Lernen. Grundlagen und Paradigmen. Schwalbach/Ts. 2008, S. 65. 11 Vgl. Ebd., S. 65f. 12 Vgl. Peter Gautschi: Guter Geschichtsunterricht. Grundlagen, Erkenntnisse, Hinweise. Schwalbach/Ts. 2009, S. 50. 13 Vgl. Ebd., S. 64. 14 Vgl. Markus Bernhardt: Die visuelle Wahrnehmung des Historischen. Zur theoretischen und empirischen Begründung einer Wahrnehmungskompetenz. In: Michele Barricelli/Axel Becker/Christian Heuer (Hrsg.): Jede Gegenwart hat ihre Gründe. Historische Lebenswelt und Zukunftserwartung im frühen 21. Jahrhundert. Schwalbach/Ts. 2014, S. 153–163, hier S. 157f. 15 Vgl. Bernhardt (Anm. 14), S. 153–163; Ders.: Wahrnehmungskompetenz im außerschulischen Umgang mit Geschichte. In: Schulpädagogik heute 6 (2015), H. 11, S. 1–11 (http:// www.schulpaedagogik-heute.de/SHHeft11/03_Praxisbeitraege/03_01.pdf).

344

Ivonne Driesner

torischen Dimension von Bildern einer geänderten Unterrichtspraxis bedarf, die diese Kompetenz gezielt fördert.16 So überzeugend die Bedeutsamkeit dieser Kompetenz aus Sicht der Geschichtsdidaktiker ist, so wenig konnte bisher durch empirische Forschungen geklärt werden, wie Schüler historische Phänomene in ihrer Umgebung wahrnehmen und wodurch dieser Prozess maßgeblich beeinflusst wird. Rekurrierend auf Studien der unterschiedlichsten Disziplinen beschreibt Vadim Oswalt die Wahrnehmung aus theoretischer Perspektive als wesentlich für die Ausbildung eines Raumbewusstseins und führt aus, dass diese gemäß subjektiver und kollektiver Erinnerungen und Erfahrungen im Bewusstsein abgespeichert und verfügbar gehalten sowie mit Sinneseindrücken und Emotionen verbunden wird und identitätsstiftend wirkt.17 Die Verknüpfung von Wahrnehmungen mit Sinnzusammenhängen und Bedeutungszuweisungen ermöglicht zudem die Anreicherung mit Erinnerung.18 Entsprechende empirische Fundierungen des raumbezogenen historischen Lernens stellen in der Geschichtsdidaktik jedoch ein Desiderat dar.19

2.

Vorstellung der Studie

Den Ausgangspunkt für die hier auszugsweise vorgestellte Studie bildeten eigene Lehrerfahrungen, die darauf beruhen, dass Schüler über sehr heterogene sowie teilweise diffuse Vorstellungen bezüglich ihres historischen Nahraums verfügen und historische Phänomene des sie umgebenden Raumes sehr unterschiedlich wahrnehmen und verarbeiten. Daraus resultierte die Fragestellung, inwieweit historische Raumwahrnehmungen und -konzepte von Lernenden tatsächlich empirisch belegbar sind. In Anlehnung an die Raumtheorie von Martina Löw werden diese Prozesse als individuelle Konstitution des Raumes verstanden und sind mit der Verarbeitung einzelner (historischer) Phänomene innerhalb desselben verbunden.20 Daher ist ein Forschungsinteresse dieser Studie, wie Schüler historische Phänomene in ihrer Umgebung wahrnehmen, wodurch dieser

16 Kristina Lange: Historisches Bildverstehen oder Wie lernen Schüler mit Bildquellen. Ein Beitrag zur geschichtsdidaktischen Lehr-Lern-Forschung. Münster 2011 (Geschichtskultur und Historisches Lernen, Bd. 7). 17 Vgl. Oswalt (Anm. 2), S. 223f. 18 Ebd., S. 224. 19 Stellvertretend für viele weitere Bekundungen des Desiderats sei hier verwiesen auf: Dietmar Schiersner : Einführung in den Themenschwerpunkt »Geschichtsdidaktik und Raumkonzeptionen«. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 9 (2011), S. 5–9. 20 Vgl. Löw (Anm. 4).

Die Wahrnehmung und Verarbeitung der historischen Umgebung

345

Prozess beeinflusst wird und inwieweit dadurch historisches Lernen initiiert wird. Die Fokussierung auf individuelle Bedeutungszuweisungen in Bezug auf historische Phänomene des Raumes erfordert eine Arbeitsweise, die eine Untersuchung subjektiver Konzepte und Repräsentationen ermöglicht sowie die ganze Komplexität des Handelns und Denkens von Menschen in den Blick nimmt, sodass in der vorliegenden Studie vornehmlich Methoden der qualitativen Sozialforschung genutzt werden.21 Die qualitative Forschung weist ein breites methodisches Spektrum auf, um soziales Verhalten zu untersuchen, und zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass der Forscher nah am Subjekt arbeitet und durch offene Erhebungsinstrumente in der Lage ist, explorativ vorzugehen.22 Uwe Flick macht in seiner Charakterisierung der qualitativen Sozialforschung zudem darauf aufmerksam, dass Zusammenhänge nur im konkreten Kontext des Falles beschrieben und aus diesem heraus erklärt werden können.23 Aus geschichtsdidaktischer Perspektive und gemäß dem Interesse der vorliegenden Studie muss daher der historische Raum als Kontext betrachtet werden, denn allein durch eine solche mehrperspektivische Betrachtung können Umgangsweisen konstruiert werden, die als typisch gelten können. Die vorliegende Studie wurde in der Stadt Greifswald und ihrer Umgebung im nordöstlichen Mecklenburg-Vorpommern durchgeführt. Ausgehend von dieser Lokalisation wurde in den Interviews der Raum in den Blick genommen, der für die Schüler die bekannte und vertraute Umgebung darstellt. Bereits in den Pretests wurde deutlich, dass die Region in unterschiedlichster Weise davon abgegrenzt wurde, sodass die bekannte Umgebung in der Regel nur den Wohnund Schulort bzw. einen kleineren Radius darum umfasst.24 Greifswald umfasst heute etwas über 50.000 Einwohner und entstand aus einem Marktflecken, dessen Einrichtung dem naheliegenden Kloster in Eldena 1241 durch den Pommerschen Herzog und den Fürsten von Rügen gestattet wurde.25 Die Titulatur »Universitäts- und Hansestadt«, die sich jedem Besucher 21 Zum Paradigma der qualitativen Sozialforschung siehe u. a. Siegfried Lamnek: Qualitative Sozialforschung. 5. Aufl. Weinheim/Basel 2010; Uwe Flick/Ernst v. Kardorff/Ines Steinke: Was ist qualitative Forschung? In: dies. (Hrsg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch. 4. Aufl. Reinbek 2005, S. 13–29, hier S. 14–24; Cornelia Helfferich: Die Qualität qualitativer Daten. Manual für die Durchführung qualitativer Interviews. 3. Aufl. Wiesbaden 2009, S. 30–32. 22 Vgl. Ebd. 23 Uwe Flick: Qualitative Sozialforschung. Eine Einführung. 3. Aufl. Reinbek 2010, S. 28f. 24 In der Studie wurde auch die hier nicht vorgestellte Konzeptualisierung der Region untersucht. 25 Vgl. Günter Mangelsdorf: Zur Ur- und Frühgeschichte des Greifswalder Gebietes. Zu den Anfängen des Klosters Eldena und der Stadt Greifswald im 12. Jahrhundert. In: Horst Wernicke (Hrsg): Greifswald. Geschichte der Stadt. Schwerin 2000, S. 15–121, hier S. 26.

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auf den Ortsschildern der Stadt präsentiert, weist bereits auf zwei wesentliche Aspekte der Geschichte und Kultur hin. Zum einen ist die 1456 gegründete Universität eine der ältesten Einrichtungen der Stadt und zugleich ein wichtiger Arbeit- und Impulsgeber in der Region. Zum anderen bildet die Hanse eine bedeutende historische Identifikationsgröße, obwohl diese Tradition im täglichen Stadtleben weit weniger präsent ist. Die Anbindung an die Hanse war aufgrund der geschützten Lage an der Fernhandelsstraße von Lübeck nach Livland möglich und bescherte den städtischen Kaufleuten Gewinne mit dem Zwischenhandel von Waren sowie dem Umland gesicherten Absatz der eigenen Produkte.26 Die enge Verbindung zur Region und die herausgehobene Stellung der Stadt sind bis heute spürbar und zeigen sich in der Geschichtskultur unter anderem in der Situierung des Pommerschen Landesmuseums in Greifswald, das neben der Gemäldegalerie auch eine landesgeschichtliche Dauerausstellung beherbergt. Obwohl wechselnde Herrschaftsverhältnisse und zwei Diktaturen darüber hinaus zahlreiche Spuren in der Stadt hinterlassen haben und dem Gedenken daran auch institutionalisierte Erinnerungsstätten gewidmet sind, nehmen diese historischen Phänomene jedoch nur geringe Bedeutung im öffentlichen und kollektiven Geschichtsbewusstsein ein. Stattdessen hebt Greifswald seit einigen Jahrzehnten vor allem den bekanntesten Sohn der Stadt – Caspar David Friedrich – als Alleinstellungsmerkmal hervor, sodass dem Künstler der Romantik und seinem Schaffen nicht nur zahlreiche geschichtskulturelle Darstellungen gewidmet sind, sondern dieses Andenken auch touristisch als Event vermarktet wird. Der Rahmenlehrplan des Landes Mecklenburg-Vorpommern für das Fach Geschichte in der Sekundarstufe I weist die regionale Identifizierung als ein zentrales Anliegen des Unterrichts aus und zeigt dementsprechend lokal-, regional- und landesgeschichtliche Themen auf, die Anlass geben sollen, sich mit Identifikationsangeboten kritisch auseinanderzusetzen.27 Folglich ist es von Interesse, vorher ausgeprägte Orientierungen in Bezug auf die historische Umgebung zu untersuchen, sodass dem Erhebungsdesign eine Fallauswahl zugrunde liegt, die sich auf Lernende im Alter von ungefähr zwölf Jahren fokussiert. Im Rahmen dieser Altersgruppe erfolgte das Sampling in Bezug auf die Unterscheidung des Geschlechts, den Bildungshintergrund und die Wohnumgebung.28 Neben Schülern, die ihren Wohn- und Schulort in der Stadt haben,

26 Vgl. Detlef Kattinger: Die Stadtentwicklung vom Ende des 13. Jahrhunderts bis 1500. In: Horst Wernicke (Hrsg): Greifswald. Geschichte der Stadt. Schwerin 2000, S. 33–59, hier S. 35. 27 Vgl. Ministerium für Wissenschaft, Bildung und Kultur Mecklenburg-Vorpommern (Hrsg.): Rahmenplan für das Fach Geschichte in den Klassen 7–10 im Gymnasium und in der Integrierten Gesamtschule. Rostock 2002. 28 Zur Auswahl von Befragten vgl. u. a. Lamnek (Anm. 21), S. 350–353 sowie Hans Merkens:

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wurden auch solche befragt, deren Leben durch das Pendeln bestimmt ist, weil sie beispielsweise auf dem Land wohnen und in der Stadt zur Schule gehen, was aufgrund der anhaltenden Entwicklung zu städtischen Schulzentren in Mecklenburg-Vorpommern häufig der Fall ist. Als Erhebungsinstrument diente ein leitfadengestütztes Interview,29 denn in den Pretests zeigte sich sehr schnell, dass einige Schüler durch eine stärkere Betonung des narrativen Charakters des Interviews überfordert waren. Es bestätigte sich damit der in der erziehungswissenschaftlichen Kindheitsforschung formulierte Vorbehalt, dass Kinder bis zum 14. Lebensjahr über sehr heterogene narrative Kompetenzen verfügen und es ihnen dementsprechend Schwierigkeiten bereitet, sich erzählend zu Gesprächsthemen zu äußern, die nicht Gegenstand eigener Reflexionen sind.30 Daher wurde ein Leitfaden entwickelt, der zwar erzählgenerierende Elemente beinhaltete, jedoch sicherstellte, dass die Schüler aufgrund ihrer noch eingeschränkten Fähigkeiten zur Narration keiner Überforderung ausgesetzt wurden und die wesentlichen Elemente der Raumwahrnehmung und -konstruktion erfragt werden konnten. Die Interviews mit den betreffenden Schülern fanden in Einzelsitzungen von etwa sechzig Minuten statt, um ausschließlich individuelle Wahrnehmungen und Bedeutungszuweisungen zu erheben. Darüber hinaus fanden die Gespräche überwiegend in den Schulen der Befragten statt, um eine gewohnte Umgebung und damit eine entspannte Atmosphäre für das Interview sicherzustellen.31 Insgesamt wurden mehr als zwanzig Interviews geführt. Der Erhebungsmethode entsprechend kamen in der Auswertung des Datenmaterials verschiedene Verfahren der qualitativen Inhaltsanalyse zur Anwendung.32

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32

Auswahlverfahren, Sampling, Fallrekonstruktion. In: Uwe Flick/Ernst v. Kardorff/Ines Steinke (Hrsg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch. 4. Aufl. Reinbek 2005, S. 286–299. Interviewformen kann man nach verschiedenen Kriterien unterscheiden. In Bezug auf die Offenheit einer Interviewform ist hier von einem leitfragengestützten oder auch teilstandardisierten Interview zu sprechen, weil sich an einem Leitfaden orientiert wurde, der jedoch Flexibilität in der Nachfragestrategie, der Formulierung oder der Reihenfolge der Fragen gewährleistet, um sich auf jeden Fall individuell einstellen zu können. Siehe dazu Christel Hopf: Qualitative Interviews – ein Überblick. In: Uwe Flick/Ernst v. Kardorff/Ines Steinke (Hrsg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch. 4. Aufl. Reinbek 2005, S. 349–360, hier S. 351. Vgl. dazu Friederike Heinzle: Qualitative Interviews mit Kindern. In: Barbara Friebertshäuser/Annedore Pringel (Hrsg.): Handbuch Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft. Weinheim/München 1997, S. 396–413, hier 401–404. Nur in wenigen Fällen wurde wegen organisatorischer Probleme auf andere Orte ausgewichen. Diese wurden dann jedoch in Absprache mit den Eltern durch die Kinder bestimmt, um zu gewährleisten, dass das Interview in vertrauter Umgebung stattfinden kann. Vgl. dazu Heinzle (Anm. 30), S. 404f. Heinzle trägt darin die Vor- und Nachteile der Schule als Befragungsort für Kinder zusammen, macht aber letztlich deutlich, dass es sich in jedem Fall um einen vertrauten Ort handeln sollte. Die qualitative Inhaltsanalyse umfasst eine Reihe qualitativer Auswertungsmethoden, die

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3.

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Ergebnisse

Um zu erheben, welche historischen Phänomene des Nahraums in besonderer Weise wahrgenommen werden, wurden die Schüler innerhalb des Interviews durch verschiedene Fragen aufgefordert, von Dingen zu erzählen, die in ihrer Umgebung aus der Vergangenheit stammen oder mit dieser zu tun haben. Die unterschiedlichen Aussagen wurden mithilfe der zusammenfassenden Inhaltsanalyse nach Mayring induktiv reduziert sowie mit Blick auf die Geschichtskultur des Befragungsraumes bewertet. Dabei konnte festgestellt werden, dass die Schüler, die in der Stadt wohnen und die Schule besuchen, auffallend häufig historische Phänomene benannten, die eine hohe Bedeutung und eine starke Präsenz im aktiven Leben des Ortes aufweisen. Dies betraf insbesondere diejenigen Plätze, die auch als zentrale Veranstaltungsorte dienen und bei Einwohnern und Touristen als kulturell und historisch bedeutsam gelten sowie auf Postkarten zu finden sind. Dazu gehörten unter anderem das Kloster in Eldena sowie der Marktplatz oder die drei Kirchen, die bereits aus der Ferne die typische Stadtsilhouette erkennen lassen. Zudem erzählten viele der befragten Kinder ebenso häufig von Caspar David Friedrich und dieser Person gewidmeten geschichtskulturellen Repräsentationen. Kinder, die in ihrem Alltag zur Schule in die Stadt pendeln und damit zwei unterschiedliche Räume erleben, konnten in der Regel historische Phänomene sowohl in ihrem Wohn- als auch im Schulort benennen. In beiden Fällen betraf dies ebenfalls vorwiegend zentrale Orte, die gesellschaftliche Treffpunkte sind oder die eine hohe historische Bedeutung für den Ort aufweisen. Dazu gehörten u. a. Kirchen, historische Gebäude oder zentrale Denkmäler, aber auch solche Dinge, deren soziale und kulturelle Funktion den historischen Charakter deutlich überlagerte, wie z. B. Feuerwehren oder Dorffeste. Das bestätigt u. a. die theoretischen Darlegungen von Detlev Ispsen, der im Zusammenhang der sozialen Raumkonstruktion von der Betonung besonderer Orte spricht, die als herausgehoben und historisch empfunden werden sowie Identifikationsangebote darstellen.33 sich dadurch auszeichnen, dass ausgewählte Testbedeutungen regelgeleitet beschrieben und einem Kategoriensystem zugeschrieben werden. Vgl. Margrit Schreier : Varianten qualitativer Inhaltsanalyse: Ein Wegweiser im Dickicht der Begrifflichkeiten. In: Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research 15,1 (2014). Im Rahmen der ausgewählten Fragestellungen kamen Methoden nach Philipp Mayring zur Anwendung. Vgl. Philipp Mayring: Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken. 11. Aufl. Weinheim/Basel 2010. 33 Vgl. Detlev Ipsen: Regionale Identität. Überlegungen zum politischen Charakter einer psychosozialen Raumkategorie. In: Rolf Lindner (Hrsg.): Die Wiederkehr des Regionalen. Über neue Formen kultureller Identität. Frankfurt a. M./New York 1994, S. 232–254, hier S. 240.

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Aufgrund dieser Befunde kann man schlussfolgern, dass kollektive Bedeutungszuweisungen die individuelle Wahrnehmung historischer Phänomene zu leiten scheinen. Objekte, die im Bewusstsein der Menschen eine Besonderheit des Raumes darstellen, werden als solche tradiert, in der Geschichtskultur manifestiert und durch die Gesellschaft abgesichert. Häufig geschieht diese Absicherung in Form einer besonderen Hervorhebung im Raum und der Gestaltung des Umfeldes des historischen Objekts, sodass die befragten Schüler wiederholt darauf hinwiesen, dass vornehmlich freizeitliche Aktivitäten die Wahrnehmung und Aneignung bestimmten. Der Schüler Jannis34 berichtete von den historischen Überresten des Klosters: »Ich find, ähm, klingt jetzt komisch, aber ich find, das strahlt so eine, ähm, befriedende Aura aus, wo man halt keine Probleme hat; manchmal gehe ich da mit meinem Vater hin, dann spiele ich Frisbee und dann bin ich einfach glücklich.«, und machte damit deutlich, dass der historische Charakter des Ortes zwar erkennbar ist, jedoch in den Hintergrund rückt, weil die Gestaltung eine freizeitliche Nutzung ermöglicht und eine beruhigende Wirkung entfaltet. Demensprechend seltener waren es in der Geschichtskultur weniger präsente Dinge, die von Schülern in ihrer Umgebung wahrgenommen wurden. Fanden sich derartige historische Phänomene, wie beispielsweise in einem Fall die Nennung eines nachgebildeten Hünengrabes, dann war die Wahrnehmung häufig mit sehr persönlichen Interessen und Erfahrungen verbunden. So gab der Schüler Bernhard an: »Mhm, weil ich Hünengräber schon immer ganz toll fand und da hab’ ich immer drauf geachtet. Und da war ich dann auch manchmal mit meiner Mama […].« Die aus den Befunden extrahierte Feststellung, dass Wahrnehmung durch soziale Rahmungen und kulturelle Prägungen beeinflusst wird, verweist zugleich auf die identitätsstiftende Wirkung der Wahrnehmung des Nahraums. Wenngleich die meisten Schüler als das Besondere an ihrer Umgebung häufig nicht die historische Dimension betonten, sondern vielmehr den freizeitlichen und touristischen Wert des Raumes hervorhoben, wurde doch von einigen Schülern der historische Charakter ihrer Umgebung dadurch unterstrichen, dass sie angaben, die ihnen bekannte Städte, wie beispielsweise Berlin, besäßen im Gegensatz zur Heimatstadt kaum oder gar keine historischen Orte oder Plätze. Dies bestätigt die Bedeutung derartiger Abgrenzungen für die Identitätsbildung mithilfe räumlicher Besonderheiten und unterstreicht die Notwendigkeit der Thematisierung im Unterricht.35 An den bisher eingebrachten Interviewpassagen wird ebenfalls ersichtlich, dass der außerunterrichtlichen Begegnung eine wesentliche Rolle bei der Wahrnehmung von historischen Phänomenen in der Vergangenheit zukommt. 34 Alle Namen, die hier genannt werden, sind geändert. 35 Darauf verweist im Besonderen Oswalt (Anm. 2), S. 224.

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Insbesondere Eltern und deren Umgang mit Geschichte und historischen Objekten beeinflussen die Wahrnehmungskompetenz für Geschichte in der eigenen Umgebung. Weniger häufig wurden Großeltern oder Peers von den Kindern benannt. Daneben ist jedoch auch die Schule eine Institution, die Wahrnehmung fördert. Diese scheint von wachsender Relevanz, je weiter die Schüler vom Schulort entfernt wohnen, also je weniger sie sich in ihrer Freizeit in diesem Raum bewegen können. Allerdings fanden sich im Material vornehmlich Hinweise auf Projekttage, Exkursionen und Vorträge, die zur bewussten Wahrnehmung und Verarbeitung von historischen Phänomenen beitrugen, was darauf hinzudeuten scheint, dass vor allem diejenigen Unterrichtsformen, die eine eigenständige Auseinandersetzung mit historischen Phänomenen motivieren, die nachhaltige Verarbeitung historischer Objekte in der Umgebung fördern. Dies stützt die seit Jahrzehnten starke Betonung von projektförmigen und schülerorientierten Unterrichtsmethoden im Bereich der Erschließung historischer Nahräume.36 Alltägliche Wahrnehmungen, die, so wie Jörn Rüsen es darstellt, davon geprägt sind, dass ein historisches Objekt aufgrund erkennbarer Unterschiede zum räumlichen Kontext die Aufmerksamkeit auf sich zieht, scheinen maßgeblich davon abzuhängen, wie ausgeprägt diese Divergenzen sind. Dementsprechend beschrieben Schüler tatsächlich wiederholt alte Kirchen als historische Orte und gaben als Grund dieser Annahme die optische Außenwirkung oder die Größe im Vergleich zur Umgebung an. Zudem löste auch die Wahrnehmung von Versehrtheit bei einigen Befragten die Vermutung aus, es handle sich beim entsprechenden Objekt um ein geschichtliches Phänomen. So beschreibt beispielsweise der Schüler Daniel: »Okay, Klosterruine was steht davon noch? Ist halt auch sehr ärgerlich, dass sie sowas, dass es, da sag ich denn manchmal noch, okay was wäre, wenn der Weltkrieg nicht gewesen wär, wie das denn noch ausgesehen hätte. Weil das wurde ja auch ein bisschen zerbombt.« Damit ist der Zerfall inmitten einer intakten Umgebung ein entscheidendes Indiz für Historizität und entsprechend der Transferabilität dieses Merkmals haben viele Schüler diese offensichtlichen Spuren der Zeit als Identifikationsquelle der historischen Dimension von Objekten benannt. Andererseits ist jedoch auch von Bedeutung, welche Wahrnehmungsmuster für Merkmale von Historizität ausgeprägt wurden, was daran deutlich wurde, dass viele Schüler auch auf die für den norddeutschen Raum typische Backsteinarchitektur in der Identifikation von historischen Phänomenen rekurrier36 Stellvertretend für weitere: Wolfgang Emer/Uwe Horst: Zukunftsweisende Perspektiven regionaler Projektarbeit für einen demokratischen Geschichtsunterricht. Ein dialogischer Vortrag. In: Karl Heinrich Pohl (Hrsg.): Regionalgeschichte heute. Das Flüchtlingsproblem in Schleswig–Holstein nach 1945. Bielefeld 1997, S. 47–59.

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ten. So gab die Schülerin Pauline in Bezug auf ein Haus, dessen historischen Charakter sie nur vermuten konnte, an: »Na das ist noch ziegel- äh- förmig gebaut und so richtig Ziegel auf Ziegel und nicht so wie jetzt die Häuser, die einfach hochgemauert werden […].« Dies entspricht den Befunden der Wahrnehmungspsychologie, denen zufolge die Reizverarbeitung ein konzeptgesteuerter Prozess ist, bei dem neue Informationen gezielt mit erfahrungsbasierten Inhalten im Gedächtnis abgeglichen werden.37 In Bezug auf historische Phänomene lässt sich dementsprechend festhalten, dass wahrgenommen wird, was bereits als typisch historisch bekannt ist.38 Letztlich gilt es die Frage zu beantworten, wie Schüler des untersuchten Alters die historischen Phänomene des sie umgebenden Raumes verarbeiten und inwieweit dies tatsächlich mit historischem Denken einhergeht. Dazu wurden die Schüler im Interview verschiedentlich aufgefordert, davon zu erzählen, was ihnen die benannten Phänomene über Geschichte verraten oder welche Bedeutung diese haben. Das daraus gewonnene Datenmaterial wurde deduktiv bearbeitet.39 Die Aussagen wurden dazu den verschiedenen Dimensionen des historischen Lernens nach Rüsen zugeordnet und bewertet, sodass unterschiedliche Ausprägungen bzw. Stufen des Wahrnehmens und Verarbeitens historischer Phänomene untersucht werden konnten. Ausgehend von den durchgeführten Interviews kann erwartungsgemäß konstatiert werden, dass das Erkennen von Phänomenen, die mit der Vergangenheit in Beziehung stehen, nicht zwangsläufig dazu führt, dass auch eine historische Dimension erschlossen wird. So gaben einige Kinder an, dass ihnen die benannten Objekte nichts verraten würden, sie daraus nichts über die Geschichte schlussfolgern oder die Bedeutung erklären könnten. Dies könnte man als die basale Form der Wahrnehmung bezeichnen, die jedoch noch nicht mit historischer Sinnbildung verbunden wird. In einer höheren Stufe konnten einige Schüler nicht nur historische Phänomene in ihrer Umgebung erkennen, sondern diese auch dazu nutzen, um Deutungen über die Vergangenheit des Raumes anzustellen. Der Schüler Ludwig 37 Vgl. Michael Kimmel: Kultur, Körper, Sinne. In: Wolfram Aichinger/Franz X. Eder/Claudia Leitner (Hrsg.): Sinne und Erfahrung in der Geschichte. Wien/Innsbruck 2003, S. 53–74, hier S. 154. 38 Aus wahrnehmungspsychologischer Perspektive siehe dazu Kebeck (Anm. 6), S. 174; Kimmel (Anm. 37), S. 154. 39 Dieses Vorgehen wird bei Philipp Mayring als skalierende Strukturierung bezeichnet. Diese dient dazu, das Material oder Teile davon mithilfe einer Skala einzuschätzen. Vgl. Mayring (Anm. 32), S. 101–104. Bei Udo Kuckartz wird dieses Vorgehen evaluative Inhaltsanalyse genannt. Die Anwendung der evaluativen Inhaltsanalyse nach Kuckartz ermöglicht die Formulierung von Ausprägungen, sodass hier darauf zurückgegriffen wurde. Vgl. Udo Kuckartz: Qualitative Inhaltsanalyse. Methoden, Praxis, Computerunterstützung. 2. Aufl. Weinheim 2014, S. 98–115.

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schlussfolgerte aus der Präsenz von Überresten und geschichtskulturellen Repräsentationen, »dass Caspar David Friedrich hier gelebt haben muss und dass Mönche hier gelebt haben müssen, wegen der Klosterruine […] und dass sie [die Stadt] halt ein bisschen älter ist und, denke ich mal, im Mittelalter entstanden ist.«, während Schüler Kenny wie viele andere auch angab: »Na wie es früher ausgesehen hat ungefähr« und damit erklärte, dass die historischen Überreste ihm vor allem eine Vorstellung davon vermitteln könnten, wie es in der Vergangenheit hätte gewesen sein können. Hier werden die historischen Phänomene zwar herangezogen, um sich Vergangenes zu erklären, aber es erfolgt keine Sinnbildung, die Zeit und Raum entlang der Zeitachse miteinander verknüpft und Orientierung für die eigene Gegenwart schafft. Eine solche Verknüpfung ließ sich jedoch auf einer höheren, dritten Stufe bei einigen Schülern beobachten. Hier einzuordnen ist die Äußerung der Schülerin Anna in Bezug auf die von ihr benannten Überreste: »einmal dass Greifswald schon halt schon sehr früh eine Stadt geworden ist, das sieht man an ganz vielen Gebäuden oder halt an den Kirchen auch, […] durch die Schutzmaßnahmen erfährt man halt auch, dass es wahrscheinlich nicht gerade ein bequemer Spaziergang wie heutzutage ist, sondern dass da öfters doch mal Angriffe kamen […] und durch die Stadtmauer und den Wall erfährt man auch, dass Greifswald nicht sehr groß war zu Anfang, sondern wirklich nur viele wichtige Gebäude und der Markt.« Sie deutet mithilfe der historischen Orte nicht nur die Vergangenheit, sondern bringt diese Deutung auch in Verbindung mit der eigenen Gegenwart, indem sie in Bezug auf den Stadtwall, den sie, wie sie im Interview zuvor sagte, bereits seit ihrer Geburt von Spaziergängen kennt und immer noch gern nutzt, vergangene und derzeitige Lebensverhältnisse im städtischen Raum in Relation zueinander setzt sowie mit ihrer ganz persönlichen und der allgemeinen Praxis des Umgangs zusammenführt. Auf diesem Niveau waren daneben noch weitere Ausprägungen des historischen Denkens im Zusammenhang mit geschichtlichen Phänomenen erkennbar. So konnten einige wenige Schüler mithilfe des wahrgenommenen Objekts nicht nur die Vergangenheit deuten, sondern auch den Konstruktionscharakter historischen Wissens erkennen. Der Schüler Bernhard gab beispielsweise an: »[…] die Kirche wird ja immer noch genutzt, da finden ja noch Gottesdienste statt, heute wie damals, und die Bedeutung ist auch, dass eben viele Leute das erforschen können, und daraus Schlüsse ziehen können, wie es damals, das Leben war.« Das macht deutlich, dass der Schüler die Bedeutung des Phänomens für die – wenn auch fremde – historische Auseinandersetzung beschreiben kann. Zum anderen erkannten einige wenige Schüler auch den geschichtskulturellen Umgang mit historischen Objekten sowie die diesem Sinnbildungsprozess zugrunde liegende Intention. So sprach Daniel an: »Na, dass das damals ein sehr bekannter Maler bzw. Künstler war. Dass er halt, hier für was, dadurch hat man ja

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auch so’n bisschen die Stadt bekannter gemacht, durch okay Caspar-DavidFriedrich, da sagen mehr Touristen ›oh, da müssen wir hin, das ist ein Besonderer‹. Wenn man sagt ›Kommt mal nach Greifswald‹ und die sagen ›Was sollen wir da?‹, wenn man dann sagt, ›Caspar David Friedrich ist da‹, ja das interessiert dann schon mehr […].« Insbesondere durch das Pronomen »man« macht der Schüler deutlich, dass es sich hier um einen kollektiven Umgang mit der historischen Persönlichkeit handelt. Diese Sinngebung betont die Einzigartigkeit der damit verbundenen historischen Phänomene im Sinne der Konstruktion eines Alleinstellungsmerkmals als geschichtlicher Event. Dies zeigt, dass Schüler in diesem Alter durchaus in der Lage sind, geschichtskulturelle Sinnbildungsmuster zu erkennen, wenngleich weder ein kritisches Hinterfragen noch eine Reflexion des Einflusses auf die eigene Identität festgestellt werden konnte. Wesentlich ist jedoch, dass historisches Denken durchaus bereits in dieser Altersstufe durch Phänomene im umgebenden Raum ausgelöst werden kann.

4.

Rückschlüsse für den Unterricht

Diese ersten Befunde verdeutlichen zum einen, dass Schüler historische Phänomene in der eigenen Umgebung wahrnehmen, sie also aktiv – wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung – an der Geschichtskultur Anteil nehmen. Insbesondere betrifft dies Zeugnisse der Vergangenheit, die für die historische Identität des Raumes wesentlich sind, sodass auch eine identitätsstiftende Wirkung für die Befragten nachgewiesen werden konnte. Dementsprechend kann Vadim Oswalt, der theoretisch angenommen hat, dass die Schüler mit einer durch ihre räumliche Umgebung geprägten Perspektive und Identität den Geschichtsunterricht besuchen, empirisch zugestimmt werden. Zudem konnte belegt werden, dass der schulische Unterricht die Wahrnehmung und Verarbeitung des Alltäglichen fördern kann, wenn die Möglichkeit geschaffen wird, dass die Kinder sich die Dinge eigenständig und aktiv aneignen können. Bringt man diese einzelnen Befunde zusammen, so leitet sich daraus die Verantwortung für den Geschichtsunterricht ab, die stetig stattfindende Wahrnehmung von historischen Phänomenen in der Umgebung aufzugreifen und zu erweitern sowie die Geschichtskultur der Umgebung und die eigene Haltung dazu zu analysieren und kritisch zu hinterfragen. Dies führt nicht zurück in eine von Pestalozzi beeinflusste Vorstellung der konzentrischen Entwicklung vom Nahen zum Fernen, sondern kann zu einer Reflexion eigener Wahrnehmungsmuster und des Umgangs mit Vertrautem und Fremdem führen. Zum anderen ist damit auch die Chance verbunden, die Kinder in ihrer zeitlichen, aber auch räumlichen Gegenwart abzuholen und aus dieser Perspektive heraus Geschichte zu erschließen. Insbesondere in Bezug auf den Anfangsunterricht verweist die

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Fachliteratur immer wieder auf Konzepte, die die Lebenswelt der Schüler zum Ausgangspunkt des historischen Lernens machen.40 Häufig wurde auch in den Interviews offenkundig, dass darin ein vielfach ungenutztes Potenzial liegt. So berichtete die Schülerin Otilie von einer zurückliegenden Geschichtsstunde: »Also wir haben angefangen mit der frühen Hochkultur ähm, nein also, wir haben angefangen, da sollten wir was äh, mhm, von früher, was wir wissen, erzählen. Und dann sollten wir ein paar alte Gegenstände mitbringen, und ’ne Freundin und ich, wir hatten ganz, ganz viele Sachen mit, weil meine Mutter und mein Vater sind ja in der DDR aufgewachsen, und denn hat ich ganz viel mit und wir mussten dazu auch was erzählen und dafür haben wir auch ’ne Note gekriegt. Und dann haben wir mit der früheren Hochkultur angefangen und dann Griechenland und jetzt Italien und ja. […] Also der Rest war etwas uninteressant. Ähm, aber ich hatte da also eine alte Gabel, die war irgendwie aus, die war richtig leicht, ich weiß nicht mehr, woraus die war, mitgebracht, weil wenn ich das jetzt vergleiche mit unserem Besteck von heute und mit dem, also mit der Gabel, dann merk ich, dass die Gabel leichter ist als die andere.« In Anbetracht dessen, dass Unterricht im Allgemeinen selten eine solch nachhaltige Wirkung auf Schüler hat, sollte dies Anlass bieten, verstärkt darüber nachzudenken, ob die Förderung der bewussten Wahrnehmung von historischen Phänomenen aus dem Alltag und dem Nachgehen solcher Wahrnehmungen nicht eine Möglichkeit bietet, Schüler zu befähigen, aufmerksam für Verweise auf die Vergangenheit in der eigenen Gegenwart zu werden sowie die Intentionen dieser Überlieferungen und Erinnerungen zu überprüfen. Dies erfordert jedoch alternative Konzepte der historischen Vermittlung und führt weg von einem Geschichtsunterricht im chronologischen Durchgang.

40 Zu einer subjektorientierten Geschichtsdidaktik im Anfangsunterricht siehe stellvertretend Klaus Bergmann/Susanne Thurn: Beginn des Geschichtsunterrichts. In: Geschichte lernen 62 (1998), S. 18–25.

Sektion 5: Quo vadis, Geschichtsdidaktik? Didaktik der Geschichte, ihre Bezugsdisziplinen und Bezugsfelder

Christian Kuchler

Quo vadis, Geschichtsdidaktik? Didaktik der Geschichte, ihre Bezugsdisziplinen und Bezugsfelder. Einführung

Jede akademische Disziplin steht vor der Herausforderung, ihre eigene Rolle innerhalb des Wissenschaftssystems stets aufs Neue zu verorten. Dies gilt ganz besonders für ein solch relativ junges Fach wie die Didaktik der Geschichte, die erst seit wenigen Jahrzehnten in der deutschen Hochschullandschaft etabliert ist. Zuletzt haben vor allem zwei personelle und institutionelle Entwicklungen der Frage nach der disziplinären Eigendefinition weitere Aktualität verliehen: Erstens hat sich in den zurückliegenden Jahren ein tiefgreifender personeller Umbruch innerhalb der Geschichtsdidaktik an den bundesdeutschen Universitäten vollzogen. Zahlreiche profilierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der »ersten Generation« der Geschichtsdidaktik schieden aus dem aktiven Dienst aus. Mit ihnen verlor das Fach nicht nur einige seiner exponiertesten Gesichter, sondern auch umfangreiches biographisches Wissen um die eigene Disziplingeschichte. Diese Lücke mindert inzwischen vorliegende Forschungsliteratur zur Konstituierungsphase der akademischen Geschichtsdidaktik,1 doch vermag auch sie die entstandene Kluft nicht vollständig zu schließen. Auf die Lehrstühle der Ausgeschiedenen rückten inzwischen jüngere Geschichtsdidaktikerinnen und Geschichtsdidaktiker nach, die sicherlich an die Traditionslinien ihrer Vorgänger anknüpfen wollen. Vor allem aber werden sie sich bemühen, das Fach weiter zu profilieren, aktuelle Entwicklungen aufzunehmen und eigene Schwerpunkte zu setzen. Der personelle Umbruch bedingt mithin auch den Umbruch in Fragen der Forschungsschwerpunkte und der Untersuchungsmethoden. Wie sich das Fach Didaktik der Geschichte nach dieser grundlegenden Veränderung positioniert, steht also fast zwangsläufig auf der Agenda unserer Disziplin. Ergänzt wird der Generationswechsel von einer zweiten Entwicklung, die, anders als die anstehende Pensionierungswelle, in ihrer Dimension wohl nicht abzusehen war. Die institutionelle Verankerung der Geschichtsdidaktik in 1 Thomas Sandkühler : Historisches Lernen denken. Gespräche mit Geschichtsdidaktikern der Jahrgänge 1928–1947. Göttingen 2014.

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Deutschland wurde in den letzten Jahren deutlich gestärkt. Im Nachklang der erhöhten Aufmerksamkeit für Fragen von Bildung und Schule, die sich seit dem »PISA-Schock« der Jahrhundertwende einstellte, rückte nicht zuletzt auch die universitäre Lehrerbildung stärker in den Blick einer breiteren Öffentlichkeit. Deutlich wird dies beispielsweise an zusätzlichen Forschungsmitteln, besonders die »Qualitätsoffensive Lehrerbildung« ist hier zu nennen.2 Vor diesem wissenschaftspolitischen Hintergrund haben zahlreiche Universitäten ihre Defizite im Bereich der Fachdidaktiken (widerwillig) erkannt. Viele bauten inzwischen eigenständige Lehr- und Forschungsgebiete auf, an zahlreichen Standorten der Lehrerbildung wurden in diesem Prozess erstmals Stellen für eine forschungsgestützte Didaktik der Geschichte ausgeschrieben und besetzt. Vor allem in Nordrhein-Westfalen lässt sich dies beobachten. Etliche Universitäten beugten sich dem politischen Druck sowie den Auflagen der Akkreditierungskommissionen und ergänzten ihre Historischen Institute um genuin geschichtsdidaktische Lehr- und Forschungsbereiche. Der Gastgeber der hier dokumentierten Zweijahrestagung der Konferenz für Geschichtsdidaktik, die RWTH Aachen, ist hierfür – wenngleich an der Technischen Hochschule eine Professur für die Didaktik der Geschichte und der Politik zusammengefasst wurde – ein beredtes Beispiel. Im Jahr 2012 entstand hier erstmals ein forschungsgestütztes Didaktikangebot für unsere Disziplin.3 Das Ausscheiden einer Forschergeneration fordert gemeinsam mit der Erhöhung der Zahl der geschichtsdidaktischen Universitätsstandorte das Fach heraus, sich einer Neujustierung zu stellen. Im Rahmen der Plenumsdiskussionen der XX. Zweijahrestagung der Konferenz für Geschichtsdidaktik im September 2013 an der Universität Göttingen artikulierte sich dieses Bedürfnis besonders deutlich. Debattiert wurde vor allem, an welchen Disziplinen sich das Fach künftig orientieren solle, welches die Bezugsdisziplin(en), aber auch die inhaltlichen Bezugsfelder einer künftigen Geschichtsdidaktik sein sollen. Dabei steht zunächst das traditionell enge Verhältnis zur Geschichtswissenschaft zur Diskussion. Zwar versteht sich die Geschichtsdidaktik als eine von drei Säulen der Geschichtswissenschaft,4 doch wird dieses Modell, wie Bettina Alavi zu Recht in ihrem Beitrag formuliert, nicht von allen Vertretern der historischen Epochen- und Regionaldisziplinen immer in einem ausreichenden Maß wahrgenommen. Zu fragen ist also, wie sich das Verhältnis zwischen Geschichts2 https://www.qualitaetsoffensive-lehrerbildung.de/ (aufgerufen am 28. 05. 2016). 3 Christian Kuchler : Didaktik der Gesellschaftswissenschaften in Forschung und Lehre: das Aachener Modell. In: Zeitschrift für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften 5 (2014), S. 159–163. 4 Besonders exponiert nochmals dargestellt zuletzt bei: Bernd Schönemann: Geschichtsdidaktik, Geschichtskultur, Geschichtswissenschaft. In: Hilke Günther-Arndt (Hrsg.): Geschichtsdidaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II. Berlin 2003, S. 11–22, S. 22.

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wissenschaft und Geschichtsdidaktik aktuell gestaltet und welche Impulse von den Epochen- und Regionaldisziplinen zuletzt ausgingen bzw. welche weiteren Entwicklungen künftig zu erwarten stehen. Daneben muss sich die Geschichtsdidaktik aber auch ihrer interdisziplinären Ausrichtung über die traditionelle Bezugsdisziplin hinaus versichern. Primär betrifft dies derzeit wohl die Empirische Bildungsforschung, steht sie doch seit der »Empirischen Wende« in den Didaktiken besonders im Fokus des Interesses. Vor allem die zahlreich entstehenden Qualifikationsarbeiten mit umfangreichen empirischen Anteilen bestätigen dies. Ob aber neben der Geschichtswissenschaft und der Empirischen Bildungsforschung auch andere Fächergrenzen ausgelotet werden sollten, ob also von anderen Disziplinen befruchtende und anregende Impulse für eine geschichtsdidaktische Standortbestimmung ausgehen können, ist Gegenstand der nachfolgend dokumentierten Diskussion. Sie basiert auf der Grundsatzentscheidung der KGD-Vorstandschaft, aus der Geschichtsdidaktik heraus eigene Perspektiven auf die wesentlichen Bezugsdisziplinen und Bezugsfelder des Faches zu formulieren. Daher legen nachfolgend vier prominente Vertreter des Faches ihre Einschätzungen zu den Potentialen, die sich für die Geschichtsdidaktik ergeben, wenn sie sich über Fächergrenzen hinweg auf die Kooperation mit anderen Disziplinen einlässt, vor. Notwendigerweise musste dabei eine Auswahl getroffen werden. Zahlreiche Fächer, die anregend für die Geschichtsdidaktik wirken könnten, mussten ausgeklammert bleiben. Dies gilt zunächst für die gesamten Philologien. Gerade sie prägen die schulische Unterrichtswirklichkeit, da sehr viele Lehrkräfte des Faches Geschichte als Zweitfach eine Sprach- und Literaturwissenschaft studiert haben. Umso bedauerlicher ist es, dass nachfolgend weder der Ertrag der Germanistik noch jener der Anglistik oder der Romanistik für die Geschichtsdidaktik diskutiert wird. Daneben bleibt die Position der politischen Bildung unbesetzt. Dies mag überraschen, da gerade in der öffentlichen Diskussion fast selbstredend oft von »historisch-politischer« Bildung gesprochen wird und damit eine scheinbar unausweichliche Kooperation beider Fächer vorausgesetzt wird. Jedoch legt der Umstand, dass auf den »Call for Papers« im Vorfeld der Aachener Zweijahrestagung keine Vorschläge eingereicht wurden, die die Politikwissenschaft als Bezugsdisziplin auszuleuchten suchten, nahe, dass die Grenzen hier weniger umstritten sind. Trotz mahnender Stimmen, die weiterhin vor einer Übernahme der Geschichtsdidaktik durch die Politikdidaktik warnen,5 scheint dies keine konsensfähige Befürchtung innerhalb der Disziplin zu sein. Zudem bleiben die Wirtschaftswissenschaften und die MINT-Fächer in den nachfolgenden Überlegungen ausgespart, obwohl auch sie für ein Fach, das sich 5 Stellvertretend: Hans Jürgen Pandel: Geschichtsdidaktik. Eine Theorie für die Praxis. Schwalbach 2013, S. 33f.

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dem Historischen Lernen verschrieben hat, eine wesentliche Funktion einnehmen könnten. Allerdings fanden sich für diese Felder im Vorfeld ebenfalls keine Fachvertreter, die die Potentiale dieser Domänen hätten ausloten wollen. So rücken nachfolgend vier Themenfelder in den Blick, deren grundsätzliche Bedeutung für die Geschichtsdidaktik wenig umstritten sein dürfte. Neben der Geschichtswissenschaft wird die Empirische Bildungsforschung und die Pädagogik thematisiert. Ergänzt wird diese Erörterung der Felder, die mit ihren Forschungsmethoden und Untersuchungsthemen die geschichtsdidaktische Forschung und Lehre anregen können, um die Historische Religionsforschung. Freilich ist diese keine eigenständige Bezugsdisziplin, sondern eher ein inhaltliches Bezugsfeld für unser Fach. Vertreten werden die vier Bereiche von einer renommierten Geschichtsdidaktikerin und drei renommierten Geschichtsdidaktikern. Sie sollen nachfolgend die Potentiale »ihrer« jeweiligen Bereiche für die Didaktik der Geschichte ausloten. Um nicht schon mit der Reihung der verschiedenen Bezugsdisziplinen und Bezugsfächer eine Bedeutungszumessung anzudeuten, werden die vier Texte nachfolgend in alphabetischer Reihenfolge der Verfasser abgedruckt. Am Beginn steht demnach Bettina Alavi (Heidelberg), die sich mit der Bedeutung der Pädagogik für die Geschichtsdidaktik auseinandersetzt. Dabei stützt die Autorin sich bei ihren Ausführungen auf ihre persönlichen Erfahrungen aus der langjährigen Tätigkeit an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Als zweites Arbeitsfeld rückt dann die Empirische Bildungsforschung in den Blick. Nachdem sie in den letzten Jahren besonders expandierte und zudem von einem eigenen Arbeitskreis innerhalb der KGD vertreten wird, überraschte es, dass es im Vorfeld schwierig war, einen Beiträger zu finden. Als mehrere ausgewiesene, aktuell tätige Kollegen diesen Part aus unterschiedlichen Gründen hatten ablehnen müssen, sagte dankenswerterweise der inzwischen emeritierte, langjährige Protagonist der Empirie im Bereich der geschichtsdidaktischen Forschung, Bodo von Borries (Hamburg), seine Mitwirkung zu. Sein Beitrag stützt sich auf biographische Erfahrungen und umfangreiche Forschungstätigkeit im Bereich der empirischen Bildungsforschung. Daran schließt sich der Beitrag von Frank-Michael Kuhlemann (Dresden) an, dessen Anliegen es ist, die besondere Relevanz von Religion für das historische Lernen zu unterstreichen. Den Reigen der Seitenblicke schließt dann Thomas Sandkühler (Berlin) ab, indem er die klassische Bezugsdisziplin unseres Faches, die Geschichtswissenschaft, in den Fokus nimmt. Mit besonderem Schwerpunkt auf der Zeitgeschichte will er das Potential der historischen Forschung für das historische Lernen untermauern. Gemeinsam ist allen Beitragenden, dass sie die von ihnen vorgetragenen Nachbar- und Bezugsdisziplinen nicht an die Stelle der primären Bezugsdisziplin Geschichtswissenschaft stellen würden, dennoch aber überzeugend nach-

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weisen, dass eine Engführung der Didaktik der Geschichte auf ihr »Mutterfach« entschieden zu kurz greifen und ein erhebliches Entwicklungspotential vernachlässigen würde. Vor dem Hintergrund der eingangs skizzierten Entwicklungen wird es interessant sein, zu verfolgen, in welche Richtung sich unser Fach entwickeln wird: Quo vadis, Geschichtsdidaktik?

Bettina Alavi

Pädagogik als Bezugsdisziplin der Geschichtsdidaktik

In diesem Beitrag sollen zunächst die Entwicklung der Wissenschaftsverortung der Geschichtsdidaktik und die damit verbundenen Konsequenzen für das Verhältnis zur Bezugsdisziplin Pädagogik dargelegt werden, um dann einen kurzen Blick auf die gegenwärtige Verfasstheit der Pädagogik zu werfen. Im abschließenden Teil werden anhand einer Typenbildung Möglichkeiten und Grenzen der Kooperation zwischen Geschichtsdidaktik und Pädagogik ausgelotet. Dabei konzentriert sich der Beitrag auf die Lehrerbildung und die Schule, was das größte gemeinsame Bezugsfeld zwischen Geschichtsdidaktik und Pädagogik darstellt. »Aber es muss immer wieder und mit Nachdruck daran erinnert werden, dass gerade eine in die Geschichtswissenschaft integrierte Geschichtsdidaktik nicht davon ablassen darf, die Verbindung zu ihren Bezugswissenschaften aufrechtzuerhalten. Ohne die Erkenntnisse der Pädagogik, der Psychologie und der systematischen Sozialwissenschaften, um nur die wichtigsten zu nennen, wäre sie außerstande, historische Lernprozesse alters- und adressatengerecht zu organisieren und die politisch-sozialen Rahmenbedingungen zu begreifen, unter denen sie arbeitet und in die sie hineinwirkt.«1

In diesem Zitat von Bernd Schönemann aus einem verbreiteten Handbuch der Geschichtsdidaktik sind Positionen zur Verortung der Disziplin Geschichtsdidaktik im System der Wissenschaften enthalten, die seit der Jahrtausendwende die Mehrheitsmeinung in der Geschichtsdidaktik repräsentieren, sich aber historisch in durchaus kontroverser Auseinandersetzung innerhalb der Disziplin und in Auseinandersetzung mit der Pädagogik entwickelt haben. Seit dem Mannheimer Historikertag 1976 entwickelte und stabilisierte sich in der Geschichtsdidaktik die Position, dass die historische Forschung, die Theorie der Geschichte und die Didaktik der Geschichte zusammen die Geschichtswissen1 Bernd Schönemann: Geschichtsdidaktik, Geschichtskultur, Geschichtswissenschaft. In: Hilke Günther-Arndt/Meik Zülsdorf-Kersting (Hrsg.): Geschichts-Didaktik. 6. überarb. Aufl. Berlin 2014, S. 23.

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schaft ausmachen, wobei jedem der drei Teilbereiche eine spezifische Funktion zukommt: die historische Forschung erarbeitet methodenbewusst empirisches Wissen über die Vergangenheit, die Theorie der Geschichte klärt die Besonderheit historischen Denkens und die theoretischen Voraussetzungen der Geschichtswissenschaft, während die Geschichtsdidaktik die aktuellen gesellschaftlichen und kulturellen Bedürfnisse nach historischem Wissen erhebt und die Lern- und Vermittlungsprozesse organisiert, die historisches Denken ermöglichen sollen.2 Parallel zu dieser Position konkurrierten lange einerseits die Positionen von der Geschichtsdidaktik als Teil der Pädagogik und andererseits die Position der Geschichtsdidaktik als »Brückendisziplin« zwischen Geschichtswissenschaft und Pädagogik.3 Die Pädagogik scheint neben der Geschichtswissenschaft die wichtigste Variable für die Diskussion um die Wissenschaftsverortung der Geschichtsdidaktik gewesen zu sein. Das ist insofern erstaunlich, da Bernd Schönemann die Pädagogik als Bezugsdisziplin gleichwertig neben den anderen »wichtigsten« Disziplinen nennt, was die Frage evoziert, ob es unter den Bezugsdisziplinen eigentlich eine Hierarchie gibt. Die Pädagogik nimmt unter diesen Bezugsdisziplinen sicherlich eine herausragende Stellung ein, wenn man die Geschichte der Lehrerbildung und das Entstehen der Fachdidaktiken betrachtet. Zu Zeiten der Volksschullehrerausbildung, also bis in die 1970er Jahre hinein, mussten die Lehrer/innen alle Fächer unterrichten. Der für sie relevante Bereich der Pädagogik war die Schulpädagogik, die in ihrem Selbstverständnis einen systematischen Zusammenhang zwischen Didaktik, Curriculumtheorie und Schultheorie bietet. Die Allgemeine Didaktik lieferte den Volksschullehrer/innen einen allgemeinen Rahmen zum Unterrichten, der an einigen Stellen auf das jeweilige Schulfach bezogen werden konnte. Aus diesem Anspruch heraus verstanden die Allgemeindidaktiker die Fachdidaktiken als Spezialfall der Allgemeindidaktik.4 Die Geschichtsdidaktik, die sich erst weit nach 1945 an den Pädagogischen Hochschulen und Universitäten als akademische Disziplin etablieren konnte, litt zwar unter dem hohen Abstraktionsgrad der Ausführungen der Allgemeindidaktiker, die diese für alle Fächer formulierten, die Aufgabe der Vermittlung von Geschichte in der Schule auch unter Zuhilfenahme allgemeinpädagogischer Erkenntnisse war aber eine wich2 Hans Jürgen Pandel: Geschichtsdidaktik. Eine Theorie für die Praxis. Schwalbach/Ts. 2013, S. 20–21. Zum durchaus nicht konfliktfreien Verhältnis der Geschichtsdidaktik zur Geschichtswissenschaft siehe den Beitrag von Thomas Sandkühler in diesem Band. Die Vertreter der historischen Forschung sehen die Geschichtsdidaktik nicht immer als Teil der Geschichtswissenschaft. 3 Schönemann: Geschichtsdidaktik (Anm. 1), S. 20–23. 4 Mit der Allgemeindidaktik sind Namen wie Herwig Blankertz, Wolfgang Klafki und Hilbert Meyer verbunden. Vgl. dazu auch Bernd Mütter : Geschichtsdidaktik und Allgemeindidaktik. In: GWU 48 (1997), H. 10, S. 599–610.

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tige Quelle der Selbstbestätigung der Disziplin. Die Zuordnung zur Pädagogik zeigt auch die Vergabe des Dr. paed. bei Promotionen mit geschichtsdidaktischer Ausrichtung.5 Diese Position wurde inhaltlich von Allgemeindidaktikern selbst entkräftet, die aus fachunspezifischen Zielen (z. B. Mündigkeit) auf dem Wege von Ableitungsverfahren fächerübergreifende Gesamtlehrpläne konstruieren wollten, was aber nicht gelang.6 Die Position der Geschichtsdidaktik als »Brückendisziplin« zwischen Geschichtswissenschaft und Pädagogik war eine innerhalb der Disziplin diskutierte. Sie kann im Nachhinein als eine Übergangsphase gewichtet werden, in der sich seit Mitte der 1970er Jahre die Eigenständigkeit der Disziplin über die Kategorie »Geschichtsbewusstsein« formierte und den Anspruch der Disziplin forcierte, Teil der Geschichtswissenschaft zu sein. Joachim Rohlfes formulierte die damaligen Befürchtungen, nämlich dass durch das Heraustreten aus der Enge der Schulbezogenheit über die Kategorie Geschichtsbewusstsein in der Gesellschaft zum einen die Schulfachdidaktik vernachlässigt und sich zum anderen die zu beklagende Entfremdung zwischen Fachdidaktikern und Praktikern in den Schulen verstärken und beschleunigen werde.7 Für Rohlfes blieb das Schulfach Geschichte weiterhin das Herzstück der Disziplin, was er über die enge Brücke zur Pädagogik gewährleistet sah. Diese hatte gerade auch in den 1960er Jahren, als im Zusammenhang mit der Akademisierung der Volksschullehrerausbildung fachdidaktische Studiengänge auf- und ausgebaut wurden, starke Impulse in die Fachdidaktiken gegeben, beispielsweise über die Allgemeine Didaktik mit dem »Berliner Modell« von Paul Heimann, Gunter Otto und Wolfgang Schulz.8 Auch das 1977 erschienene »Handbuch Geschichtsunterricht in der Praxis der Sekundarstufe I« von Wolfgang Hug unterstrich diese Position, den Unterrichtspraktikern mit den Ausführungen der Geschichtsdidaktik eine konkrete Hilfestellung zu sein. Sehr unterrichtspraktisch und mit vielen pädagogischen Bezügen entfaltete Hug ohne lange theoretische Einleitung das Kerngeschäft der Unterrichtsplanung mit den Inhalten und Zielen des Ge5 Diese Vergabepraxis besteht teilweise bis heute, u. a. auch als Wahlmöglichkeit in den Fachdidaktiken je nach Themenausrichtung zwischen Dr. paed. und Dr. phil. an den badenwürttembergischen Pädagogischen Hochschulen. 6 Schönemann: Geschichtsdidaktik (Anm. 1), S. 21. 7 Joachim Rohlfes: Die zwei Standbeine der Geschichtsdidaktik. In: Geschichte lernen 18 (1990), S. 4, 5. Vgl. auch Joachim Rohlfes: Wege und Irrwege einer neuen Geschichtsdidaktik. In: Wolfgang Hasberg/Manfred Seidenfuß (Hrsg.): Reform, Erfahrung, Innovation. Biografische Erfahrungen in der Region. Berlin 2015, S. 171–190. 8 Paul Heimann/Gunter Otto/Wolfgang Schulz: Unterricht. Analyse und Planung. Hannover 1965. Vgl. auch Horst Gies: Geschichte, Geschichtslehrer, Geschichtsunterricht. Studien zum historischen Lehren und Lernen in der Schule. Weinheim 1998, hier besonders Kapitel VI »Fachdidaktik in der Lehrerausbildung«, S. 129–148 sowie zur Verwissenschaftlichung der Volksschullehrerbildung aus pädagogischer Sicht Wilfried Plöger: Allgemeine Didaktik und Fachdidaktik. München 1999, besonders S. 13–17.

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schichtsunterrichts in der Sekundartstufe I. Sein Buch wurde lange Zeit von Praxisvertreter/innen als praktikabel geschätzt, auch weil er die neuesten pädagogischen Strömungen aufgriff und verarbeitete.9 In der Pädagogik wurde insbesondere durch Vertreter der Allgemeinen Didaktik hervorgehoben, dass in den 1990er-Jahren das Gespräch zwischen Vertretern der Allgemeinen Didaktik und der Fachdidaktik abgerissen war. Als Gründe wurden von dieser Seite neben der Verwissenschaftlichung der Lehrerbildung mit einer starken Orientierung an den Fachwissenschaften auch die unkritische Rezeption allgemeindidaktischer Theorien durch die Fachdidaktiker gesehen, die nicht darauf eingingen, dass allgemeindidaktische Modelle nur bestimmte Dimensionen des Unterrichts benennen können.10 Im obigen Eingangszitat mahnt Schönemann an, die Verbindung zu den Bezugsdisziplinen nicht abreißen zu lassen. Als Hintergrund seiner Mahnung kann eine gefährliche Orientierung an der historischen Forschung vermutet werden, die die Subjekte des Lernens, nämlich häufig Schülerinnen und Schüler, außer Acht lässt und alters- und adressatengerechte Lernprozesse als zweitrangig ansieht.11 Diese Mahnung mag dem Tatbestand entspringen, dass der Bezug zur Pädagogik bei den gegenwärtigen Geschichtsdidaktiker/innen unterschiedlich ausgeprägt ist, je nachdem, welche Qualifikationen erworben wurden und welche Rolle die Pädagogik am jeweiligen Hochschultyp spielt. Geschichtsdidaktische Promotionen und Habilitationen sind bei Disziplinver9 Wolfgang Hug: Handbuch Geschichtsunterricht in der Praxis der Sekundarstufe I. Frankfurt/M. 1977. Dort findet sich neben einem Literaturverzeichnis mit geschichtsdidaktischer und geschichtstheoretischer Literatur auch ein separates Literaturverzeichnis mit erziehungswissenschaftlicher Literatur und Titeln wie »Theorien und Modelle der Didaktik« (H. Blankertz, 8. Aufl. München 1974), »Sprache und Erziehung« (O. F. Bollnow, Stuttgart 1966), »Pädagogische Psychologie« (F. Weinert (Hrsg.), Köln 1967), »Der heimliche Lehrplan« (J. Zinnecker (Hrsg.), Weinheim 1975) oder »Das Kinderspiel« (A. Flitner (Hrsg.), München 1973). Diese Titel weisen auf die Nutzung von Teilbereichen der Erziehungswissenschaft hin, nämlich auf die Allgemeine Didaktik, die Schulpädagogik und die pädagogische Psychologie. In Kapiteln wie beispielsweise »Soziale Erfahrung und Identität«, »Motivation und Interesse« oder »Team Teaching« ist das erziehungswissenschaftliche Wissen der Zeit eingegangen. Die Geschichtswissenschaft hat er keinesfalls vernachlässigt. So finden sich im geschichtstheoretischen Literaturverzeichnis Titel wie das achtbändige Handbuch von Otto Brunner/ Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. 8 Bände in 9. Stuttgart 1972–1997; Jörn Rüsen (Hrsg.): Historische Objektivität. Aufsätze zur Geschichtstheorie. Göttingen 1975 (Kleine Vandenhoeck-Reihe, Bd. 1416) oder Hans-Ulrich Wehler : Geschichte als Historische Sozialwissenschaft. Frankfurt/M. 1973. 10 Vgl. Plöger: Allgemeine Didaktik (Anm. 8), S. 18, 19. 11 Die Geschichtsdidaktikerin Hilke Günther-Arndt weist in ihrer Einführung in das Studium der Geschichte ausdrücklich auf diese Aufgabe hin: »Geschichtslehrer unterrichten nämlich nicht die Geschichte, sondern Schüler!«; Hilke Günther-Arndt: Geschichte als Beruf. In: Dies./Gunilla Budde/Dagmar Feist (Hrsg.): Geschichte. Studium, Wissenschaft, Beruf. Berlin 2008, S. 32–50, hier S. 41.

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tretern auch heute noch keine Selbstverständlichkeit. Gleichzeitig hat sich die Geschichtsdidaktik durch ihren eigenen Weltzugriff über die Kategorie Geschichtsbewusstsein in der Gesellschaft und die Entwicklung weiterer eigener Kategorien (z. B. Historische Identität, Multiperspektivität) ein neues unabhängiges Selbstbewusstsein geschaffen, was sie aus dem Korsett einer reinen Schulfachdidaktik löst und gleichzeitig eine eigene Wissenschaftsverortung schafft. Dieses neue Selbstbewusstsein beeinflusst die Perspektive vieler Geschichtsdidaktiker/innen auf die Pädagogik, insbesondere auf deren Teildisziplinen Allgemeine Didaktik und Schulpädagogik. Bisher sind geschichtsdidaktische Publikationen, die das Verhältnis zwischen der eigenen Disziplin und der Pädagogik ausloten, meist noch in der Phase der konkurrierenden Positionen der Verortung der Geschichtsdidaktik verfasst worden. In den 1990er Jahren finden sich auch mehrere Veröffentlichungen aus dem pädagogischen Bereich zu ähnlichen Anliegen.12 In den Jahren seit der Jahrtausendwende finden sich meist nur dezidierte Aussagen von Geschichtsdidaktiker/innen. Hans-Jürgen Pandel schreibt in der Einleitung seiner »Geschichtsdidaktik« pointiert: »Sie ist als Fachdidaktik gegenüber der Allgemeinen Didaktik skeptischer geworden […]. Unterricht gibt es nicht, sondern nur Fachunterricht. […] Für Unterricht sind nunmehr die Fachdidaktiken zuständig. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass die Allgemeine Didaktik bzw. Schulpädagogik doch wieder Inhalte für sich reklamiert, die sie dann wie Kuckuckseier im Fachunterricht unterzubringen sucht: Medienpädagogik, Nachhaltigkeit, interkulturelle Erziehung – um nur einige zu nennen.«13

Pandel beschränkt sich in seiner Aussage auf die Allgemeine Didaktik/Schulpädagogik, der er »Kuckuckseier« unterstellt, denn die o.g. neuen Pädagogikfelder sind zunächst nicht genuin geschichtsdidaktisch, haben aber geschichtsdidaktische Komponenten, wenn man die Feststellung ernst nimmt, dass Unterricht in den Fächern stattfindet.14 Gleichwohl fehlen insgesamt abwägende, die neuesten Entwicklungen der Pädagogik mit einbeziehende Ausführungen. Diese Lücke versucht dieser Beitrag zu füllen, indem er von der Verortung der Geschichtsdidaktik als Teildisziplin der Geschichtswissenschaft ausgeht und versucht, die Veränderungen der Disziplin Pädagogik mit einzubeziehen. Dann sollen vier Typen von Bezügen erläutert und zwei von ihnen exemplarisch vertieft werden, um deren Möglichkeiten und Grenzen auszuloten. Das gibt auch Antworten darauf, wozu die 12 Einen guten Überblick über die Veröffentlichungen aus dem pädagogischen Bereich geben Gies: Geschichte (Anm. 8) und Mütter : Geschichtsdidaktik (Anm. 4). 13 Hans-Jürgen Pandel: Geschichtsdidaktik. Schwalbach/Ts. 2013, S. 5. 14 Pandel nimmt die anderen Teildisziplinen der Pädagogik ausdrücklich von seinem Vorwurf aus.

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Geschichtsdidaktik heute die Pädagogik braucht und welche Bedeutung die Bezugsdisziplin Pädagogik in der Zukunft haben könnte.

Bezugsdisziplin Pädagogik – was macht sie heute aus? Der Titel des Beiheftes der Zeitschrift für Pädagogik 2014, nämlich »Das Selbstverständnis der Erziehungswissenschaft: Geschichte und Gegenwart«, weist darauf hin, dass dieses in der Disziplin Pädagogik unlängst diskutiert und neu ausgelotet wurde.15 Gründe dafür nennen die Herausgeber Reinhard Fatke und Jürgen Oelkers in ihrer Einleitung: »[I]m Vergleich mit anderen geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen fällt auf, dass sich das Selbstverständnis der Erziehungswissenschaft häufiger und grundlegender verändert hat und dabei stärkeren Einflüssen anderer Wissenschaftsbereiche ausgesetzt ist als etwa die Geschichtswissenschaft oder die Philosophie. Diese Lage stellt die disziplinäre Identität der Erziehungswissenschaft auf die Probe, verunsichert sie oder gefährdet sie sogar. Die Identität ist weder durch die Methode noch durch die eigene Geschichte gesichert, wie dies in anderen Disziplinen selbstverständlich ist.«16

Heinz-Elmar Tenorth ergänzt in seinem Artikel »Struktur der Erziehungswissenschaft« im »Handwörterbuch Erziehungswissenschaft«, dass die Erziehungswissenschaft kein theoretisch oder methodisch stringent zur Einheit geformtes Feld oder eine fest gefügte Disziplin sei. Vielmehr handle es sich um ein locker gefügtes, über Themen und Interessen, Kommunikationen und Institutionen stark national und kulturell geprägtes Feld.17 Die Erziehungswissenschaft erscheint in diesen Aussagen führender Erziehungswissenschaftler disparat und ohne einheitliches Disziplinbewusstsein, sich ständig grundlegend verändernd. Das wird als Folge schneller Theoriekonjunkturen und umso schnelleren Theorieverschleißes, durch den raschen Aufbau und das schnelle Ende von grundlegenden Überzeugungen, gewertet. Ein weiterer Grund wird darin gesehen, dass sich die Erziehungswissenschaft sehr stark bei ihren Bezugsdisziplinen Soziologie, Psychologie, Philosophie, Geschichtswissenschaft, Theologie und Neurowissenschaften bediente und neben deren Themen auch in Ermangelung einer genuin eigenen Methode deren Methoden aufnahm, was das Profil der Erziehungswissenschaft weiter verwässerte.18 Lange Zeit war auch gerade die 15 Reinhard Fatke/Jürgen Oelkers (Hrsg.): Das Selbstverständnis der Erziehungswissenschaft: Geschichte und Gegenwart. Weinheim/Basel 2014 (Zeitschrift für Pädagogik, 60. Beiheft). 16 Reinhard Fatke/Jürgen Oelkers: Einleitung. In: Dies. (Anm. 15), S. 7–13, hier S. 7. 17 Heinz-Elmar Tenorth: Die Struktur der Erziehungswissenschaft. In: Sabine Andresen u. a. (Hrsg.): Handwörterbuch Erziehungswissenschaft. Weinheim/Basel 2009, S. 850–865. 18 Auch die Geschichtsdidaktik hat keine eigene spezifische Methode. Sie bedient sich u. a. bei den empirischen Sozialwissenschaften, bei Methoden, die in anderen Fachdidaktiken ent-

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deutsche Erziehungswissenschaft kulturell sehr in sich geschlossen, im letzten Jahrzehnt zeigt sich aber eine größere Öffnung und internationale Ausrichtung der Erziehungswissenschaft. Seit PISA bestimmen die großen Surveys der empirischen Bildungsforschung die öffentliche Wahrnehmung, wobei sich die empirische Bildungsforschung aber nicht als Teildisziplin der Erziehungswissenschaft versteht, sondern als interdisziplinärer Forschungsbereich, in den auch die Fachdidaktiken inkludiert sind.19 Diese grundlegenden ständigen Veränderungen geschahen bis hinein in die Begrifflichkeit der Disziplinbezeichnung, denn bis in die 1960er Jahren nannte sich die Bezugsdisziplin »Pädagogik«; sie hatte ein geisteswissenschaftlichhermeneutisches Selbstverständnis, das stark von der Philosophie geprägt war. Nach der »realistischen Wende«, die mit den Namen Heinrich Roth und seinem Schüler Hartmut von Hentig verbunden ist, zeigt die Disziplin ein empirischsozialwissenschaftliches Selbstverständnis. In dieser Zeit setzt auch die Binnendifferenzierung der Disziplin ein, die bis heute anhält.20 Wolfgang Brezinka schlug 1971 vor, die Disziplin in »Erziehungswissenschaft« umzubenennen, um die zunehmende Verwissenschaftlichung zu markieren. Gleichwohl zeigen sich diese unterschiedlichen Selbstverständnisse empirisch versus philosophisch auch heute noch in der Erziehungswissenschaft, bei einem eindeutigen Aufmerksamkeitsvorsprung der Empiriker.21 Seither ist die Disziplinbezeichnung schwankend, der begriffliche Unterschied zwischen Pädagogik (geisteswissenschaftlich-hermeneutisches Selbstverständnis) und Erziehungswissenschaft (sozialwissenschaftlich-empirisches Selbstverständnis) verschwimmt im Begriffsgebrauch völlig, aber auch außerhalb der Pädagogik ist er kaum mehr bekannt, was auf die mangelnde Vermittlung des Disziplinverständnisses verweist. Derzeit werden Pädagogik und Erziehungswissenschaft meist synonym verwendet.22

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wickelt wurden, wie die Didaktische Rekonstruktion, oder bei Methoden, die interdisziplinär gebraucht werden, wie die Schulbuchforschung. Olaf Köller : Entwicklung und Erträge der jüngeren empirischen Bildungsforschung. In: Reinhard Fatke/Jürgen Oelkers (Anm. 15), S. 102–122. Z. B. Allgemeine Didaktik, Schulpädagogik, pädagogische Psychologie, interkulturelle Pädagogik, inklusive Pädagogik, Sonderpädagogik, aber auch kritische Erziehungswissenschaft, historische und vergleichende Erziehungswissenschaft, Erziehungsphilosophie usw. Klaus-Peter Horn: Pädagogik/Erziehungswissenschaft der Gegenwart. Zur Entwicklung der deutschen Erziehungswissenschaft im Spiegel ihrer disziplinären Selbstreflexion. In: Reinhard Fatke/Jürgen Oelkers (Anm. 15), S. 14–32, hier besonders S. 21. Vgl. für die realistische Wende auch Fatke/Oelkers: Einleitung (Anm. 16), S. 8–10. Mütter : Geschichtsdidaktik (Anm. 4), S. 599, schreibt von einer Dreifrontenauseinandersetzung der Geschichtsdidaktik mit Geschichtswissenschaft, Pädagogik/Allgemeindidaktik und Unterrichtspraxis. Pädagogik ist bei ihm im Wesentlichen auf die Allgemeine Didaktik konzentriert und reduziert. Bernd Mütter verwendet in seinem Aufsatz deshalb die Bezeichnung Erziehungswissenschaft/Pädagogik, um auf die Allgemeine Didaktik zu fokus-

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Zu der Disparatheit der Pädagogik hat auch deren starke Ausdifferenzierung beigetragen, die sich immer noch fortsetzt, indem neue Herausforderungen, beispielsweise die Inklusion oder die Diversität der Gesellschaft oder aber die Digitalisierung, sich in neuen Zweigen der Pädagogik niederschlagen. Der Geschichtsdidaktiker Bernd Mütter, der intensiv zur geisteswissenschaftlich-hermeneutischen Pädagogik, insbesondere zu Erich Weniger, geforscht hat, verweist darauf, dass die Geschichtsdidaktiker/innen die Pädagogik/Erziehungswissenschaft oft nur holzschnittartig als Ganzes wahrnehmen, was aufgrund der starken Ausdifferenzierung auch nicht verwundert.23 Gleichzeitig haben die neuen Zweige der Pädagogik, beispielsweise die Diversitätspädagogik, die Tendenz, sich unter Bezug auf ausgewählte, häufig nicht pädagogische Theorien über einen spezifischen »Sprech« mit starken Begrifflichkeiten (z. B. Heteronormativität, Differenzreflexivität) und Schreibweisen (Lehrer*innen, Lehrer_innen) zu konturieren und Wissenschaftler/innen über die Beherrschung und Verwendung dieser Sprache zu inkludieren oder zu exkludieren. Das hält an der Sache interessierte Fachdidaktiker/innen häufig eher ab, als dass es Zusammenarbeit fördert. Durch die sozialwissenschaftliche Ausrichtung der Erziehungswissenschaft hat sich deren Interesse an einer historischen Betrachtung der eigenen Disziplingeschichte vermindert. So stellt der Erziehungswissenschaftler Konrad Fees als Desiderat die Geschichte der pädagogischen Institutionen als Rückgrat der pädagogischen Realgeschichte fest und sieht als Grund für das Desiderat, dass sich die jüngere Erziehungswissenschaft »immer mehr zu einer rein gegenwartsbezogenen sozialwissenschaftlichen Disziplin entwickelt, welche entsprechend ihres methodischen Selbstverständnisses historische Zusammenhänge gar nicht erfassen kann.«24 Fees beklagt hier die Enthistorisierung seiner Disziplin, durch die auch die gemeinsame Basis hin zur Disziplingeschichte der Geschichtsdidaktik in Gefahr ist. Im Gegensatz zur Pädagogik hat sich die Geschichtsdidaktik in den letzten Jahren intensiv der Disziplingeschichte gewidmet, entweder im epochalen oder im biografischen Zugriff.25 sieren. Dies hat sich aber nicht etabliert. Etwa seit dem Jahr 2000 hat sich die Bezeichnung Bildungswissenschaften für die nichtfachlichen Teile der Lehrerbildung herausgebildet. Sie umfassen neben der Pädagogik auch die Soziologie, die empirischen Sozialwissenschaften und die Psychologie. Im Bildungsteil der Frankfurter Allgemeinen Zeitung werden Erziehungswissenschaftler 2015 häufig als Bildungswissenschaftler bezeichnet, was auf eine sich gesellschaftlich durchsetzende Verwendung des Begriffs verweist. 23 Vgl. zuletzt auch Bernd Mütter : Die Entstehung der Geschichtsdidaktik als Wissenschaftsdisziplin in der Epoche der Weltkriege. Ein Beitrag zur »Kultur der Niederlage« in Deutschland. Oldenburg 2013, URL: http://oops.uni-oldenburg.de/id/eprint/1503 (Zugriff am 17. 09. 2015), S. 600. 24 Konrad Fees: Geschichte der Pädagogik. Ein Kompaktkurs. Stuttgart 2015, S. 10. 25 Manfred Seidenfuß/Wolfgang Hasberg (Hrsg.): Geschichtsdidaktik(er) im Griff des Nationalsozialismus. Münster 2005 (Geschichtsdidaktik in Vergangenheit und Gegenwart, Bd. 2);

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Doch was ist der Kern der Pädagogik, den sie als Bezugsdisziplin in die Geschichtsdidaktik einbringt? Da ist zum einen der Subjektbezug zu nennen, d. h. der Blick auf die Schüler/innen mit ihren sich verändernden Sozialisationsbedingungen und als pädagogische Psychologie auf die individuelle Entwicklung.26 Dieser Blick ermöglicht die Modellierung alters- und adressatengerechter Lernarrangements für das historische Lernen. Dann die Entwicklung von Unterrichtsmodellen für alle Schulfächer, die von der Allgemeinen Didaktik angeboten werden, wie die »Schlüsselprobleme« von Wolfgang Klafki oder das schon erwähnte Berliner Modell. Heute handelt es sich eher um allgemeine Kriterien für Unterricht, beispielsweise dazu, was guten inklusiven Unterricht ausmacht.27 Diese Kriterien haben nicht mehr den Anspruch ein Modell zu liefern, sondern geben Hinweise, die dann noch für das jeweilige Schulfach auszudeklinieren sind. Die Reichweite des Anspruchs ist bei diesen Kriterien also wesentlich begrenzter als bei den Unterrichtsmodellen der Allgemeinen Didaktik. Des Weiteren ist der systemische Blick auf das Erziehungssystem, speziell auf das Schulsystem zu nennen. Ein Beispiel dafür ist die Publikation von Ingrid Gogolin »Der monolinguale Habitus der multilingualen Schule« von 2008, in der sie migrationsgesellschaftliche Veränderungen analysiert und feststellt, dass die Schule durch ihre Schülerschaft multilingual geworden ist, gleichzeitig aber noch das im 19. Jahrhundert herausgebildete monolinguale nationalstaatliche Selbstverständnis vertritt, dass sich Bildung am besten in einer Sprache vollzieht.28 Diese Feststellung hat Auswirkungen auch in die Schulfächer hinein und sollte von den Fachdidaktiken berücksichtigt werden.

Thomas Sandkühler (Hrsg.): Historisches Lernen denken. Gespräche mit Geschichtsdidaktikern der Jahrgänge 1928–1947. Mit einer Dokumentation zum Historikertag 1976. Göttingen 2014; Wolfgang Hasberg/Manfred Seidenfuß (Hrsg.): Reform, Erfahrung, Innovation. Biographische Erfahrungen in der Region. Ein Kapitel aus der Geschichte der Geschichtsdidaktik. Berlin 2015. 26 Vgl. bspw. Rolf Göppel: Aufwachsen heute. Veränderungen der Kindheit – Probleme des Jugendalters. Stuttgart 2007. 27 Vgl. bspw. Klaus Klemm/Ulf Preuss-Lausitz: Was ist guter inklusiver Unterricht? In: Klaus Metzger/Erich Weigl (Hrsg.): Inklusion – praxisorientiert. Lehrerbücherei Grundschule kompakt. Berlin 2012, S. 19–32. 28 Ingrid Gogolin: Der monolinguale Habitus der multilingualen Schule. Münster 2008.

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Verhältnis Geschichtsdidaktik-Pädagogik heute Der von Bernd Mütter gezeigte starke Bezug, ja die Abhängigkeit der Fachdidaktik Geschichte von der Allgemeinen Didaktik existiert nicht mehr.29 Die Gründe dafür sind auf mehreren Ebenen angesiedelt: Auf der bildungspolitischen Ebene, auf der die Lehrerbildung und dabei die Bildungswissenschaften als nichtfachliche Teile der Lehrerbildung einerseits und die Fachdidaktiken als Teil der fachlichen Lehrerbildung andererseits gestärkt und ausgebaut wurden. Auf der disziplinären Ebene ist die Kompetenzorientierung zu nennen, die eigene Kriterien für die Bestimmung von historischen Lernprozessen hervorbrachte, wobei die Kriterienentwicklung schon davor einsetzte, wahrscheinlich aufgrund des gestiegenen Selbstbewusstseins der Geschichtsdidaktik.30 Ein Hinweis auf Letzteres sind die schon 2006 erschienenen fachdidaktischen Kriterien zur Beobachtung und Analyse von Geschichtsunterricht durch Michele Barricelli und Michael Sauer, die noch ohne Kompetenzen auskommen.31 Sie hatten explizit das Ziel, die zuvor allgemeindidaktischen Kriterien zur Unterrichtsbeobachtung für das Fachpraktikum Geschichte durch spezifisch fachdidaktische zu ersetzen und dadurch die Unterrichtsbeobachtung zur Beobachtung des Geschichtsunterrichts werden zu lassen. Gleichwohl gibt es auch heute Bezüge zur Pädagogik, die folgend aus der Sicht der Geschichtsdidaktik formuliert werden sollen. Es handelt sich hier nicht um empirische Ergebnisse, sondern um Erfahrungen aus der Beobachtung des geschichtsdidaktischen Publikationsfeldes. Aus der Sicht der Pädagogik steht eine solche Einschätzung der Fachdidaktiken noch aus. Die folgenden Typen der Zusammenarbeit sind bewusst zugespitzt formuliert, um die Diskussion darüber anzuregen – auch über die Typenerweiterung. In den geschichtsdidaktischen Publikationen lassen sich vier Typen von Bezügen zur Pädagogik erkennen:

Typ 1: »Fachdidaktisch gewendet« Hier handelt es sich zum einen um Teilbereiche der Pädagogik, die sich neu ausdifferenziert haben, und wo nun gefragt wird, wie dieser neue Bereich (z. B. 29 Mütter (Anm. 4). 30 Michele Barricelli/Peter Gautschi/Andreas Körber : Historische Kompetenzen und Kompetenzmodelle. In: Michele Barricelli/Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts. Bd.1. Schwalbach/Ts. 2012, S. 207–235. 31 Michele Barricelli/Michael Sauer : Was ist guter Geschichtsunterricht? Fachdidaktische Kategorien zur Beobachtung und Analyse von Geschichtsunterricht. In: GWU 57 (2006), S. 4–26.

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interkulturelle Pädagogik), diese neuen Anforderungen (z. B. Inklusion) oder neue theoretische Zugriffe (z. B. konstruktivistischer Lernbegriff) in der Geschichtsdidaktik für das historische Lernen ausdekliniert werden können. So wurde gefragt, wie interkultureller Geschichtsunterricht aussehen kann oder was Inklusion in historischen Lernsettings bedeutet. Diese »fachdidaktische Wendung« gilt auch für spezifische Fragen des Unterrichtens wie Diagnostizieren und Leistungsbewertung, Handlungsorientierung oder Aufgabenkultur.32 Sie basiert in erster Linie auf der Rezeption bereits in der Pädagogik erschienener Literatur, so dass eine gewisse »Nachzeitigkeit« feststellbar ist. Auch wenn keine empirischen Untersuchungen vorliegen, scheint dieser Typ doch der häufigste und kontinuierlichste Bezug der Geschichtsdidaktik zur Pädagogik zu sein. Deshalb soll dieser anhand des Themas Inklusion vertieft werden, um die Möglichkeiten und Grenzen eines solchen Bezugs exemplarisch auszuloten. Inklusion ist eine bildungspolitische Norm, die – verkürzt gesprochen – nach der Ratifizierung der Behindertenrechtskonvention durch die Bundesrepublik im Jahre 2009 allen Menschen einen (einklagbaren) Zugang zu einem hochwertigen, kostenlosen und lebenslangen inklusiven Bildungswesen ermöglichen soll. Inklusion bezeichnet also einen Perspektivenwechsel vom behinderten, sozial benachteiligten oder zugewanderten Menschen als Defizitwesen hin zur defizitären Bildungslandschaft, die Inklusion nicht ermöglicht. Inklusion zielt auf die Umgestaltung der Schul- und Bildungslandschaft, will Heterogenitäten (also auch ethnische und soziale) als pädagogische Herausforderungen positiv gestalten, um allen Schüler/innen einen Weg zur gesellschaftlichen Teilhabe zu weisen. Inklusion ist damit einerseits eine systemische Herausforderung an das Bildungswesen, zum anderen aber eine pädagogische und fachdidaktische Herausforderung des gemeinsamen und zieldifferenten Unterrichtens von Schüler/innen.33 Während bis zum Jahr 2000 Inklusion in erster Linie ein Thema der Soziologie war und insbesondere mit dem Namen Niklas Luhmann verbunden ist, finden 32 Peter Adamski: Historisches Lernen diagnostizieren. Lernvoraussetzungen, Lernprozesse, Lernleistungen. Schwalbach/Ts. 2014 (Methoden historischen Lernens); Bärbel Völkel: Handlungsorientierung im Geschichtsunterricht. Schwalbach/Ts. 2005; Christoph Kühberger : Aufgabenarchitektur für den kompetenzorientierten Geschichtsunterricht. Geschichtsdidaktische Verortungen von Prüfungsaufgaben vor dem Hintergrund der österreichischen Maturareform. In: Historische Sozialkunde 1 (2011), S. 3–13; Holger Thünemann: Historische Lernaufgaben. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 12 (2013), S. 141–155. 33 Inklusion ist auch eine Anforderung an außerschulische Lernorte wie Museen, die unter dem Stichwort »Barrierefreiheit« ihre Ausstellungen zunehmend auch für Geh- oder Sehbehinderte zugänglich gestalten und museumspädagogische Angebote für Blinde oder aber für Menschen mit kognitiven Einschränkungen anbieten. Da hier die Konzentration auf der Lehrerbildung und dem Geschichtsunterricht liegt, wird dieser Bereich nicht weiter verfolgt.

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sich nach der Jahrtausendwende die ersten pädagogischen Veröffentlichungen, erst ab ca. 2010 die ersten fachdidaktischen, was wiederum auf die »Nachzeitigkeit« der Fachdidaktiken verweist.34 Das kann an der geringeren Personalausstattung der Fachdidaktiken liegen, aber auch daran, dass der Blick der Erziehungswissenschaftler näher an den Problemen der Zeit ist und sie schneller Theoriegebäude (Stichwort: Diversity-Konzept) und empirische Untersuchungen, beispielsweise zum Erfolg von Gemeinsamem Unterricht, produzieren, die sie dann auch zum bildungspolitischen Vorantreiben ihrer angemahnten systemischen Veränderungen nutzen können. Für den Bereich Inklusion bedeutet dies etwa die Einrichtung von Gemeinschaftsschulen, das Zurückfahren der Sonderschulen sowie das Implementieren einer inklusiven Schulkultur.35 Beim Thema Inklusion sind neben den allgemeinen Erziehungswissenschaftler/innen aber auch die Sonderpädagog/innen beteiligt, die sich in Deutschland in unterschiedliche Spezialgebiete, etwa Geistig- und Schwermehrfachbehinderte, Lernbehinderte, Sehbehinderte, Hörbehinderte ausdifferenziert. Diese Sonderpädagogen können die Spezifik der speziellen Schülergruppe und Auswirkungen dieser Spezifik auf intentionale Lernprozesse formulieren, zum Teil auch mit Hinweisen zum historischen Lernen. Der Sammelband »Inklusiv-Exklusiv. Historisches Lernen für alle« ist dafür ein gutes Beispiel.36 Wird eine inklusive »historische« Lernumgebung gemeinsam von Sonderpädagog/innen und Geschichtsdidaktiker/innen geplant, ergeben sich wichtige Synergieeffekte: Sonderpädagog/innen kennen die Spezifika von Schüler/innen mit unterschiedlichen Förderschwerpunkten und können ihre Theorien einbringen, etwa zu Aneignungsweisen, die eine Alternative zur begrifflichkognitiven Aneignungsweise darstellen37 oder aber Theorien zur Elementarisierung, die das Lernen am gemeinsamen Gegenstand ermöglichen.38 Die ge34 Niklas Luhmann: Inklusion und Exklusion. In: Helmut Berding (Hrsg.): Nationales Bewusstsein und Identität. Frankfurt/M. 1994, S. 15–46. Er hat in der Soziologie die Kategorien entwickelt, auf die sich später Pädagogik und Sonderpädagogik bezogen und noch beziehen. 35 2015/16 hält die Flut erziehungswissenschaftlicher Publikationen an. Beispielhaft sei hier genannt Ingeborg Hedderich u. a. (Hrsg.): Handbuch Inklusion und Sonderpädagogik. Bad Heilbrunn 2016; Annette Textor : Einführung in die Inklusionspädagogik. Bad Heilbrunn 2015; Corinna Schmude/Hartmut Wedekind (Hrsg.): Lernwerkstätten an Hochschulen. Orte einer inklusiven Pädagogik. Bad Heilbrunn 2016; Irmtraud Schnell (Hrsg.): Herausforderung Inklusion. Theoriebildung und Praxis. Bad Heilbrunn 2015. 36 Sebastian Barsch/Wolfgang Hasberg (Hrsg.): Inklusiv – Exklusiv. Historisches Lernen für alle. Schwalbach 2014. 37 Vgl. zu diesen Aneignungsweisen (basal-perzeptiv, konkret-gegenständlich und anschaulich) Bettina Alavi/Karin Terfloth: Historisches Lernen im inklusiven Unterricht. In: Theo Klauß/Karin Terfloth (Hrsg.): Besser gemeinsam lernen! Inklusive Schulentwicklung. Heidelberg 2013, S. 185–208, besonders S. 196, 197. 38 Vgl. Norbert Heinen: Elementarisierung als Forderung an die Religionsdidaktik mit geistig-

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schichtsdidaktische Aufgabe besteht darin, eigene fachdidaktische Unterrichtskonzepte, wie die Narration oder Prinzipien wie Multiperspektivität oder die Quellenarbeit, auch für inklusive Lernumgebungen zu gestalten.39 Dafür müssen die Kategorien teilweise neu ausdifferenziert und ergänzt werden. In der Auseinandersetzung mit den genannten sonderpädagogischen Zugängen können neue inklusive Lernumgebungen für das historische Lernen entstehen; wobei sich zwei Spezialist/innen begegnen, die auf Augenhöhe und gemeinsam die Aufgabe eines inklusiven Fachunterrichts theoretisch und praktisch weiterentwickeln. Diese Möglichkeit einer sinnvollen Zusammenarbeit ist aber nicht Konsens in der Geschichtsdidaktik, so dass Chancen von sachlich sinnvollen Bezügen mit der Pädagogik manchmal auch ungenutzt bleiben.40

Typ 2: Parallele Konkurrenz Dabei handelt es sich um Themen oder Problembereiche, die sowohl in der Geschichtsdidaktik als auch in der Erziehungswissenschaft behandelt werden, aber dem geschichtsdidaktischen Verständnis nach eigentlich »historische« Themen sind. In der Bundesrepublik ist hier insbesondere das Thema Nationalsozialismus zu nennen, das sich im nationalen Geschichtsnarrativ identitätsbildend gestaltet. Sowohl die Geschichtsdidaktik als auch die Pädagogik sehen sich hier als zuständig, haben aber eine unterschiedliche Herangehensweise. Die Geschichtsdidaktik versucht quellenbasiert und unter Berücksichtigung geschichtsdidaktischer Prinzipien zu erreichen, dass die Lernenden verstehen, wie es im historischen Kontext zu Auschwitz kam, um den Lernenden damit die Möglichkeit zu geben, sich eine eigene kritische Position zum Nationalsozialismus zu erarbeiten. Die Geschichtsdidaktik will gleichzeitig zeigen, behinderten Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Aachen 1989. Vgl. zum Lernen am gemeinsamen Gegenstand Georg Feuser : Allgemeine integrative Pädagogik und entwicklungslogische Didaktik. In: Behindertenpädagogik 28 (1989) 1, S. 4–48. 39 Bettina Alavi: Narrative Kompetenz im inklusiven Geschichtsunterricht?! Ein Unterrichtsversuch. In: Bettina Alavi/Martin Lücke (Hrsg.): Geschichtsunterricht ohne Verlierer?! Schwalbach/Ts. 2016 (im Druck). 40 Peter Geiss beklagte in einem Zeitungsartikel »Lehrerbildung ›all inclusive‹«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28. 1. 2016, S. 6, dass die Verpflichtung auf inklusionsorientierte Fragestellungen in fachdidaktischen Seminaren zu einer »pseudosonderpädagogischen Entfachlichung« führe. Er sieht es – zu Recht – nicht als seine Aufgabe an, über Autismus und den damit verbundenen Förderbedarf zu dozieren, denkt aber gleichzeitig keine sachbezogene Zusammenarbeit mit den Sonderpädagog/innen an, um historische Lernumgebungen zu konstruieren. Er sieht in der Schulung im kritischen Umgang mit Quellen einen dezidiert historischen Beitrag zur Entwicklung von Mediennutzungskompetenz, Überlegungen zur »barrierefreie[n] Quelle« (z. B. in Leichter Sprache oder visualisiert) als geschichtsdidaktischem Beitrag zur Inklusion sind aber nicht in seinem Blick.

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wie die heutige Gesellschaft mit dem Nationalsozialismus umgeht, um den Lernenden die Partizipation an der Geschichtskultur zu ermöglichen.41 Hinzu kommen seit neuestem empirische Untersuchungen wie die von Meik ZülsdorfKersting, der untersucht hat, wie Schüler/innen 60 Jahre danach mit dem Holocaust umgehen.42 Doch auch die Pädagogik setzt sich mit dem Umgang mit dem NS und dem Holocaust in pädagogischen Situationen auseinander. Sehr häufig ist dabei Ausgangspunkt und Bezug Adornos »Erziehung nach Auschwitz« mit der zentralen Aussage »Dass Auschwitz nie wieder sei«.43 Es soll also darauf hin erzogen werden, dass sich Auschwitz nicht mehr wiederholt. Damit steht das gesellschaftlich erwünschte Lernziel im Mittelpunkt und nicht das historische Verstehen mittels der historischen Methode.44 Erziehungswissenschaftler/innen haben in empirischen Studien teilweise vor der Geschichtsdidaktik spezifische Probleme, wie die Umgangsweisen zugewanderter Jugendlicher mit dem Nationalsozialismus, aufgegriffen oder aber die Kommunikation im (Geschichts-)Unterricht über den NS untersucht.45 Bodo von Borries hat im Nachfolgeband der letztgenannten empirischen Studie 2002 dem Pädagogen Meseth widersprochen, indem er darauf verwies, dass die »Fixierung auf den ›Nationalsozialismus‹ mit Vernichtungskrieg und Völkermord« »für das Geschichtslernen in Deutschland möglicherweise verheerende Konsequenzen« habe, denn wesentliche Kompetenzen wie etwa der »multiperspektivische und prüfende Zugriff auf die Quellen« ließen sich am (angeblich) »übereindeutigen Nationalsozialismus« nicht lernen.46 In dieser zugespitzten Aussage wird der Unterschied zwischen der Perspektive der Geschichtsdidaktik (historisches Lernen) und der Pädagogik (Erziehung zu einem gesellschaftlich erwünschten Ziel: »Nie wieder«) deutlich. Diese streitbare Auseinandersetzung gibt es selten, obwohl es 41 Im von Hanns Fred Rathenow/Birgit Wenzel herausgegebenen Handbuch Nationalsozialismus und Holocaust. Schwalbach/Ts. 2013 erschienen dementsprechend Beiträge zum Lernen über und zum Umgang mit Nationalsozialismus und Holocaust bei einer heterogenen Schülerschaft, mittels Digital Storytelling oder projektorientiert, im Geschichtsstudium aller Lehrämter oder in Gedenkstätten. 42 Meik Zülsdorf Kersting: Sechzig Jahre danach – Jugendliche und Holocaust. Berlin 2007 (Geschichtskultur und historisches Lernen, Bd. 2). 43 Theodor W. Adorno: Erziehung nach Auschwitz. In: Ders.: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959–1969. Frankfurt/M. 1971, S. 88–104. 44 Etwa in Hochschulseminaren mit dem Titel »Lernen von Zivilcourage« der widerständigen Personen während des Nationalsozialismus. 45 Viola Georgi: Geliehene Erinnerung. Geschichtsbilder junger Migranten in Deutschland. Hamburg 2003; Oliver Hollstein u. a. (Hrsg.): Nationalsozialismus im Geschichtsunterricht. Beobachtungen unterrichtlicher Kommunikation. Bericht zu einer Pilotstudie. Frankfurt/M. 2002. 46 Wolfgang Meseth/Matthias Proske/Frank-Olaf Radtke (Hrsg.): Schule und Nationalsozialismus. Anspruch und Grenzen des Geschichtsunterrichts. Frankfurt/M. 2004, S. 294f.

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durchaus auch streitbare Pädagogen gibt; es würde den Bezug zwischen Geschichtsdidaktik und Pädagogik bereichern und der Unsichtbarkeit der Geschichtsdidaktik bei kontroversen Diskussionen entgegenwirken.47 Gleichzeitig scheint die Zusammenarbeit zwischen Pädagogik und Geschichtsdidaktik bei der empirischen Forschung über den Umgang mit dem Nationalsozialismus fortgeschritten zu sein, worauf eine Studie verweist, die den pädagogischen Umgang mit dem Nationalsozialismus in nationalen und transnationalen Erinnerungsdiskursen untersucht, also die Bedeutung öffentlicher Erziehung in Geschichts-und Vergangenheitspolitiken in den Blick rückt.48 Hier ist auch der Geschichtsdidaktiker Oliver Plessow beteiligt; das Projekt wurde auf der jährlich stattfindenden Tagung »Geschichtsdidaktik empirisch« in Basel vorgestellt, d. h. es wird auch in der Fachdidaktik entsprechend rezipiert. Im Bereich der empirischen Studien scheint sowieso die Zusammenarbeit geläufiger zu sein, wohl auch aufgrund des interdisziplinären Selbstverständnisses der empirisch arbeitenden Wissenschaftler/innen.

Typ 3 »Stricken mit Wolle«49 Hierunter sind gemeinsame Projekte von Pädagog/innen und Fachdidaktiker/ innen zu verstehen, bei denen die Pädagog/innen häufig den theoretischen Background und/oder empirische methodische Kenntnisse liefern und die Fachdidaktiker/innen den Anwendungsbereich und die Kenntnis von dessen Spezifik. Ein Beispiel hierfür ist das Projekt »Adaptive Lernaufgaben in Geschichte (ALGe)« an der Universität Passau über die Relevanz von Aufgabenformulierungen beim historischen Lernen, das von einer Erziehungswissenschaftlerin und einem Geschichtsdidaktiker gemeinsam durchgeführt wird.50 47 Astrid Messerschmidt: Bildungsarbeit in den Nachwirkungen von Auschwitz. Workshopbeitrag auf der Konferenz »Der Holocaust als Erfahrungsgeschichte 1945–1949«. Berlin 2015, URL: http://www.bpb.de/veranstaltungen/dokumentation/konferenz-holocaustforschung/ 199579/3-tag-workshops (Zugriff am 10. 9. 2015). Vorwurf des Pädagogen Wolfgang Meseth an die Geschichtsdidaktik. 48 Wolfgang Meseth/Matthias Proske: Der pädagogische Umgang mit dem Nationalsozialismus zwischen nationalen und transnationalen Erinnerungsdiskursen. Eine Einführung in den Themenschwerpunkt. In: Tertium Comparationis. Journal für International und Interkulturell Vergleichende Erziehungswissenschaft19(2013) H. 1, S. 1–13, URL: http://www.wax mann.com/index.php?id=zeitschriftendetails& no_cache=1& eID=download& id_artikel =ART101312& uid=frei (Zugriff am 18. 09. 2015). 49 Die beiden folgenden Typen sind nur skizzenhaft ausgearbeitet, was dem hier vorgegebenen Raum geschuldet ist. Ich denke, dass sie trotzdem gut verständlich sind. 50 Jutta Mägdefrau/Andreas Michler: Individualisierende Lernaufgaben im Geschichtsunterricht – Eine empirische Untersuchung zur Rolle von Schulbuchaufgaben und Eigenkonstruktionen der Lehrkräfte. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 11 (2012), S. 209–233. Aus

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Solche Projekte, die auf Augenhöhe durchgeführt werden, lassen durch die eingebrachten unterschiedlichen Kompetenzen eine gegenseitige Bereicherung und durch die Kommunikation einen erheblichen Erkenntniszuwachs erwarten.

Typ 4: »Räubern in mehreren Disziplinen« Die digitalen Medien wandeln unsere Welt grundlegend. Sie entwickeln sich immer schneller weiter, schaffen neue kommunikative Möglichkeiten, bergen aber auch individuelle wie gesellschaftliche Gefahren durch unkontrollierte Mediennutzung bis hin zur Sucht oder durch die Datensammlung. Durch Politiker und gesellschaftliche Gruppen wie Unternehmer/innen wird eine Berücksichtigung der durch die Neuen Medien geschaffenen Möglichkeiten und das Erlernen eines kritischen Umgangs mit Neuen Medien in der Schule gefordert.51 Hinzu kommt, dass sich der Umgang mit Geschichte in und durch die Neuen Medien ändert, beispielsweise durch frei verfügbare Quelleneditionen oder die Kommunikation über Geschichte in den sozialen Netzwerken wie Twitter oder Facebook. In geschichtsdidaktischen Publikationen zum historischen Lernen im digitalen Wandel nehmen die Geschichtsdidaktiker/innen Bezug auf mehrere Wissenschaftsdisziplinen, die sich mit den Veränderungen durch die Digitalität beschäftigen:52 auf Schulpädagog/innen, Fachdidaktiker/ innen anderer Schulfächer, Geschichtswissenschaftler/innen, Neurowissenschaftler/innen, Medienwissenschaftler/innen und Medienpädagog/innen. Hier ist die Pädagogik nur Bezugswissenschaft unter mehreren, nimmt nicht unbedingt die dominante Rolle ein, ist aber durch ihren Spezialbereich Medienpädagogik durchaus präsent. Komplexe gesellschaftliche Problemstellungen scheinen nicht in der Zusammenarbeit mit oder in Bezug auf eine Disziplin bearbeitbar, sondern erfordern einen breiteren Blick auf die Herangehensweisen, Methoden und Ergebnisse sehr unterschiedlicher Disziplinen. Auch wenn die gezeigten vier Typen nicht ganz trennscharf sind, zeigen sie diesem ist das Projekt ALGe (Adaptive Lernaufgaben in Geschichte) hervorgegangen, das ein Kooperationsprojekt der Fachdidaktik Geschichte und der empirisch-pädagogischen LehrLernforschung darstellt, »in dem geklärt werden soll, in welcher Weise sich im aufgabengesteuerten Geschichtsunterricht Prozesse historischen Lernens durch Lernaufgaben unterstützen lassen«, URL: http://www.phil.uni-passau.de/die-fakultaet/lehrstuehle-professu ren/paedagogik/erziehungswissenschaft/forschung/adaptive-lernaufgaben-in-geschichtealge.html (Zugriff am 20. 03. 2016). 51 Vgl. bspw. den Artikel »Digital macht schlau!«, URL: http://www.geo.de/GEO/heftreihen/ geo_magazin/lernen-mit-neuen-medien-digital-macht-schlau-79266.html (Zugriff am 20. 03. 2016). 52 Marko Demantowsky/Christoph Pallaske (Hrsg.): Geschichte lernen im digitalen Wandel. Oldenbourg/München 2015.

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doch deutlich, dass es mehrere Bezüge zur Pädagogik gibt, die sich unterschiedlich gestalten: Nachzeitig oder auf Augenhöhe, gemeinsam mit unterschiedlichen Zugangsweisen, sich bei der Lösung einer Aufgabe oder Problemstellung ergänzend. Deutlich wurde auch, dass die Ausbildung eines starken Disziplinverständnisses der Geschichtsdidaktik zu einer größeren Unabhängigkeit von der Pädagogik geführt hat, besonders was die Allgemeine Didaktik und Schulpädagogik angeht, es andererseits immer noch eine sinnvolle Arbeitsteilung gibt. Die Bezüge aber sind aus der Sicht der Geschichtsdidaktik gestaltbarer geworden.

Bodo von Borries

»Empirische Bildungsforschung« – die hauptsächliche (?) Bezugsdisziplin (?) der Geschichtsdidaktik?

Bei der Frage, ob die empirische Bildungsforschung die grundlegende Bezugsdisziplin der Geschichtsdidaktik sein kann, muss der Ausgangspunkt in einer »Begriffsklärung« liegen, die nur konsensorientiert verhandelt (nicht autoritativ verordnet) werden kann, von persönlichen Erfahrungen abhängt1 und nicht ohne Normentscheidungen zu bewerkstelligen ist. Das bedeutet also: – Was ist »Empirie«, genauer »Empirische Bildungsforschung«, insbesondere im Feld der Geschichtsdidaktik? – Was kennzeichnet eine »Wissenschaftsdisziplin« und was heißt – positiv wie negativ – »Bezug«/»Beziehung« zwischen Disziplinen? – Was soll und kann »Geschichtsdidaktik« erforschen, lehren, implementieren, leisten – und welche Bedingungen begünstigen oder behindern sie dabei?

1.

»Empirische Bildungsforschung« (auch »Lern- und Lehrforschung«)2

Empirie – im weitesten Sinne – kann man alles nennen, was den Begriff Wissenschaft verdient. Alle Forschung soll/sollte sich – jedenfalls seit August 1 Nebenbei eine Bemerkung zur eigenen Person und Expertise: Jahrzehntelang habe ich eine Professur für »Erziehungswissenschaft (unter besonderer Berücksichtigung der Didaktik der Geschichte)« innegehabt. Diese beiden Disziplinen habe ich nie studiert; was ich dagegen einmal im Studium bis zur Promotion gelernt habe (Geschichtswissenschaft neben Germanistik), das habe ich nie als Hochschullehrer gelehrt und geprüft, sondern nur zuvor als »Mittelbauer« (Akademischer Oberrat). Eine Disziplin »Empirische Sozialforschung« oder »Empirische Bildungsforschung« habe ich nie vertreten, weder programmatisch noch professionell-biografisch. 2 An den nüchternen Begriff »Lehr- und Lernforschung« konnte man sich schön gewöhnen, vor allem wenn man ihn aus strategischen Gründen (»switch from teaching to learning«) zu »Lern- und Lehrforschung« umdrehte. Da inzwischen ausgerechnet in Psychologie und Psychometrie meist der ehrwürdige, aber belastete Terminus »Bildungsforschung« gewählt wird, kann man auch darauf eingehen.

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Comtes (1798–1857) »Positivismus« – auf die tatsächliche Wirklichkeit, nicht mehr auf »Magie«, »Theologie« oder »Philosophie« richten.3 Auch wenn man selbst kein Positivist ist (und obwohl Comte nicht zufällig in eine Art Mystik seiner früh verstorbenen Geliebten Clotilde de Vaux als neuer Göttin der Vernunft verfiel), bleibt daran überzeugend, dass man sich stets um etwas Richtiges, Belegbares und Belastbares, d. h. methodisch Absicherbares (»Wahres«), bemühen sollte, wenn man Wissenschaftler sein will. Die Art des Wirklichkeitszugangs und Wirklichkeitsverständnisses kann allerdings sehr verschieden sein: »Wie wirklich ist die Wirklichkeit?«4 Dass es neben äußeren dinglichen »Wirklichkeiten« auch innere mentale gibt und dass »Wirklichkeit« für uns mehr durch »soziale Konstruktion« als durch »materielle Faktizität« entsteht, wird vorausgesetzt und verkompliziert die Aufgabe. Einen Verzicht auf »Empirizität« bedeutet es jedoch keinesfalls. Natürlich gehört neben »Befragung«, »Beobachtung« und »Experiment« (also einer Erzeugung eigener Daten im Wissenschaftsprozess) auch »Inhaltsanalyse« schon vorliegender Bestände an Texten, Bildern oder Zuständen (also eine Umnutzung gegenüber deren früheren Funktionen mit viel geringerem Risiko von verfälschenden »Methodeneffekten«) zu den empirischen Methoden der »Sozialforschung« wie der »Bildungs- und Lernforschung«.5 Wer etwa Autobiografien auf Beispiele »historischer Sozialisation« oder Strafen in der ElternKind-Beziehung auswertet, statt biografisch-narrative Interviews zu führen, kommt nicht nur zeitlich weiter zurück und braucht nicht zu transkribieren, sondern kann den Schreibenden auch nachträglich nichts mehr »suggerieren« (Methodeneffekt), sie allenfalls »missinterpretieren«.6 3 Vgl. August Comte: Plan der wissenschaftlichen Arbeiten, die für eine Reform der Gesellschaft notwendig sind. München 1973; August Comte: Positive Philosophie im Auszug. 2. Aufl. Stuttgart 1974. 4 Paul Watzlawick: Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Wahn, Täuschung, Verstehen. München 1976. 5 Im Folgenden werden vor allem – vielleicht unangemessen zahlreiche – eigene EmpirieVersuche genannt, die oft gemeinsam mit Kolleg(inn)en und Mitarbeiter(inne)n erstellt wurden. Meine Gründe dafür sind – hoffentlich – nicht Eitelkeit oder Selbstüberschätzung. Ich möchte einfach auf Beispiele zurückgreifen, die ich genau kenne, und mich auf Forschungsgebiete beziehen, von denen ich wenigstens ein bisschen verstehe. 6 Vgl. z. B. Bodo von Borries: Geschichtslernen und Persönlichkeitsentwicklung. Aufgewiesen an autobiographischen Zeugnissen über die Zeit um den Ersten Weltkrieg. In: Geschichtsdidaktik 12 (1987), S. 1–14; Bodo von Borries: Geschichtslernen und Geschichtsbewußtsein. Empirische Erkundungen zu Erwerb und Gebrauch von Historie. Stuttgart 1988, S. 59–94; Bodo von Borries: Geschichtsbewußtsein als Identitätsgewinn? Fachdidaktische Programmatik und Tatsachenforschung. Hagen 1990 (Beiträge zur Geschichtskultur, Bd. 3), S. 111–130; Bodo von Borries: Imaginierte Geschichte. Die biografische Bedeutung historischer Fiktionen und Phantasien. Köln 1996 (Beiträge zur Geschichtskultur, Bd. 11), S. 10–16, 17–37, 79–103, 164–174; Bodo von Borries: Nicht-nur-kognitive Motive des Geschichtsumgangs als Chancen des Literaturunterrichts?. In: Der Deutschunterricht 55 (2003), H. 6,

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Ähnliches gilt für die Analyse von geschriebenen Klassenarbeiten im Vergleich zu eigenen, zusätzlichen Testerhebungen oder für die Auswertung gedruckter und ungedruckter (»grauer«) Stundenprotokolle statt weiterer (und nur selten angemessen publizierter oder genutzter) Videografien.7 Freilich ist es schwieriger, aber wohl auch wichtiger, Texte und Bilder von der »Rezeptionsseite« der Geschichtskultur, also der Konsum- und Wirkungsweise, zu finden und zu verarbeiten (so in den drei genannten Beispielen) als solche von der »Produktions- und Präsentationsseite« (so beispielsweise Analysen von Schulbüchern, Romanen, Spielfilmen, TV-Dokumentationen oder Parlamentsreden). Denn letztere gehen rasch in die Falle des Normativen und Programmatischen; sie erfassen Geschichtspolitik, nicht Historische Identität und Geschichtskompetenz oder Geschichtslernen in der Gesellschaft und ihren Subgruppen. Das anfallende oder gefundene Material hat zudem, was vielfach übersehen wird, immer eine qualitative und eine quantitative Seite (wenn auch in oft krass abweichender Verteilung des Schwergewichts). Denn man muss stets hermeneutisch semantische Grundlagen, z. B. die Terminologie (Basisbegriffe), klären und sichern, und man kann stets etwas Relevantes (nicht nur »Fliegenbeine«) zählen, seien es Sprachanteile und Schülerfragen oder Störungen und Gegenwartsbezüge in beobachtetem Unterricht, Themenumfänge, Fremdworte, Frauenerwähnungen, Arbeitsaufträge (auch deren Verteilung auf Anforderungsbereiche) in analysierten Schulbüchern, seien es (vergleichend) historisch angelegte und historisch gewordene Spielfilme im Fernsehprogramm oder

S. 12–22; vgl. Bodo von Borries: Vom »Gewaltexzeß« zum »Gewissensbiß«? Autobiografische Zeugnisse zu Formen und Wandlungen elterlicher Strafpraxis im 18. Jahrhundert. Tübingen 1996 (Forum Psychohistorie, Bd. 5). 7 Bernd Schönemann/Holger Thünemann/Meik Zülsdorf-Kersting (Hrsg.): Was können Abiturienten? Zugleich ein Beitrag zur Debatte über Kompetenzen und Standards im Fach Geschichte. Berlin 2010; vgl. u. a. Bodo von Borries: Geschlechtsrollen und Frauengeschichte in der Unterrichtspraxis. Über Chancen und Grenzen kompensatorischen Lernens. In: Geschichtsdidaktik 3 (1978), S. 340–360; Bodo von Borries: Zur Praxis »gelungenen« historischpolitischen Unterrichts. Ein quasi-empirischer Ansatz für Analyse und Beurteilung von Schulstunden. In: Geschichtsdidaktik 9 (1984), S. 317–335; Bodo von Borries: Zur Mikroanalyse historischer Lernprozesse in und neben der Schule. Beobachtungen an exemplarischen Fällen. In: Geschichtsdidaktik 10 (1985), S. 301–313; Von Borries: Geschichtslernen und Geschichtsbewußtsein (Anm. 7), S. 206–212; Von Borries: Geschichtsbewußtsein als Identitätsgewinn? (Anm. 6), S. 3–8; Bodo von Borries (mit Beiträgen von Johannes MeyerHamme) (Hrsg.): Zwischen »Genuss« und »Ekel« – Ästhetik und Emotionalität als konstitutive Momente historischen Lernens. Schwalbach/Ts. 2014 (Geschichtsunterricht erforschen, Bd. 3), S. 128–149, 196–207, 346–368, 466–478; Bodo von Borries: Three Generations of History Lessons – Qualitative-Empirical Research on Learning and Teaching on the Basis of Lesson Protocols. In: Manuel Köster/Holger Thünemann/Meik Zülsdorf-Kersting (Hrsg.): Researching History Education. International Perspectives and Disciplinary Traditions. Schwalbach/Ts. 2014, S. 263–300 (Geschichtsunterricht erforschen, Bd. 4).

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(summierend) historische Anspielungen, Warnungen und Mahnungen in einzelnen Bundestagsreden. Die Autoren bei Kosthorst haben die »Geschichtsforschung« als eine der drei Säulen der Geschichtswissenschaft neben »Didaktik« und »Historik« bezeichnet, wobei sie »Empirische Geschichtsforschung« gemeint haben müssen.8 Nur »Geschichtsforschung« ohne »empirisch« hätten sie/haben sie legitimerweise nicht sagen dürfen, weil auch die Geschichtswissenschaftszweige »Historik« und »Didaktik« forschen, woran im allgemeinen Jubel damals offenbar niemand gedacht hat. Jedenfalls war das nicht besonders glücklich ausgedrückt; »Forschung als Quellendurcharbeitung und Darstellungsproduktion« – noch besser »Geschichtsschreibung aufgrund von Forschung« – wäre terminologisch glücklicher gewesen.9 Die Abgrenzung solcher »empirischer Geschichtsforschung« zur »Historik« (Geschichtstheorie) ist übrigens – angesichts der um 1968 nun wirklich unhintergehbar erkannten (wenn auch nicht alltäglich eingelösten) Theoriebedürftigkeit aller Historiografie – keineswegs einfach. Und alle Geschichtsschreibung hat, weil sie nicht absichtsfrei sein kann, eine »didaktische« Dimension. Wenn – völlig zu recht – auch der empirische Charakter von historischer Forschung festgehalten wird, und das z. B. zu mentalitätshistorischen Themen wie Geschichte des Geschichtsunterrichts (Schulbücher, Richtlinien, Alltagspraxis nach Autobiografien) oder Geschichte der (außerschulischen und außeruniversitären) Geschichtskultur (Museen, Denkmäler, Feiern, Zeitungen und Zeitschriften), dann werden alle Katzen grau, der Empiriebegriff in der Geschichtsdidaktik läuft leer, weil er nichts mehr ausschließen kann. Bei der hier gestellten Frage ist aber »Empirie« enger verstanden und (wenig glücklich) zunächst als »Empirische Sozialforschung« definiert worden. Das hilft jedoch kaum weiter, wenn man denn Historie insgesamt, wie seit 1968 üblich, als »historische Sozialwissenschaft« in emanzipatorischer Absicht bestimmt.10 Dann ist nämlich alle Geschichtsschreibung »empirische Sozialwissenschaft«. Und auch »Bildungs- und Lernforschung« macht es nicht viel besser ; denn das umfasst ebenfalls alles in der Geschichtsdidaktik überhaupt Mögliche, weil »Geschichtsbewusstsein« stets ein sinnbildender Akt kumulativer mentaler

8 Erich Kosthorst (Hrsg.): Geschichtswissenschaft. Didaktik – Forschung – Theorie. Mit Beiträgen von Karl- Ernst Jeismann, Jörn Rüsen, Rudolf Vierhaus. Göttingen 1977. 9 Dass auch die Geschichtsdidaktik »empirisch« arbeitet, ja arbeiten muss, kommt hinzu und vermehrt die Verwirrung. Der berühmte Neuansatz von 1976/77 bleibt historisch wichtig, terminologisch grenzt er an eine Missgeburt. 10 Vgl. z. B. Hans Ulrich Wehler : Geschichte als Historische Sozialwissenschaft. Frankfurt/M. 1973; Dieter Groh: Kritische Geschichtswissenschaft in emanzipatorischer Absicht. Überlegungen zur Geschichtswissenschaft als Sozialwissenschaft. Stuttgart 1973.

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Verarbeitung ist, den man »Lernen« nennen muss und unter Umständen auch als »Fehllernen«, »Verlernen« und »parasitäres Lernen« zu kennzeichnen hat. Um 1968 – in einer Krisensituation von Schule und Historie – gab es eine Literaturgattung, die inzwischen praktisch ausgestorben ist. Das waren die »Lehrerpraxisberichte« (auch »Lehrertagebücher«), die man als damals methodisch mögliche und sinnvolle Form von empirischer Unterrichts- und Lernforschung ansehen muss (wenn sie auch sehr persönlich und subjektiv gefasst waren, dafür aber auch höchst erfahrungs- und anwendungsnah). Dass heutige Empirie wirklich Anfänger(inne)n mehr hilft als damals Bücher wie die von Rumpf, Wünsche, Mann, Ermer, Jegge, Gürge u. a., Kagerer, Dix, Löw oder Fedrowitz, möchte ich entschieden bezweifeln.11 Warum ist diese nützliche Literaturgattung eigentlich inzwischen weithin ausgestorben? Ist die mentale Belastung im Lehrerberuf noch einmal drastisch gewachsen? Hat ein Trend (»Wahn?«) zur Verwissenschaftlichung zugeschlagen? Hat ausgerechnet der bequeme Computer die Lust am »freien Schreiben« behindert?12 Hier und heute ist offenbar »pädagogische Tatsachenforschung«, »empirische Unterrichtsforschung«, »Bildungsforschung«, »Bildungsgangforschung«, »Lehr- und Lernforschung«, »Lernpsychologie« oder »Psychometrie« gemeint. Dabei wird eine Konzentration, Zuspitzung, Spezialisierung auf bestimmte Problembereiche gefordert, was eine Verengung auf Zählbares unter vorheriger oder nachträglicher Weglassung alles »schwer Messbaren« – die Psychologen bzw. Psychometriker sprechen bei Bereichen wie der Historie von »schlecht strukturierten Domänen« oder freundlicher von »weichen Domänen« – zu bedeuten droht.13 Aber die Resignation »Wie kann man einen Pudding an die Wand 11 Horst Rumpf: 40 Schultage. Tagebuch eines Studienrats. Braunschweig 1966; Konrad Wünsche: Die Wirklichkeit des Hauptschülers. Berichte von Kindern der schweigenden Mehrheit. Köln 1972; Iris Mann: Interesse, Handeln, Erkennen in der Schule. Lollar 1973; Iris Mann: Die Kraft geht von den Kindern aus. Die stufenweise Befreiung aus der Lehrerrolle. Lollar 1978; Rudolf Georg Ermer : Hauptschultagebuch oder : Der Versuch in der Schule zu leben. Weinheim/Basel 1975; Jürg Jegge: Dummheit ist lernbar. Erfahrungen mit Schulversagern. Bern 1976; Jürg Jegge: Angst macht krumm. Erziehen oder Zahnrädchenschleifen. Bern 1979; Fritz Gürge/Peter Held/Marietta Wollny (Hrsg.): Lehrertagebücher. Möglichkeiten und Grenzen der Arbeit mit Hauptschülern. Bensheim 1978; Hildburg Kagerer : In der Schule tobt das Leben. Eine 10. Hauptschulklasse und ihre Lehrerin machen sich selbst zum Thema. Berlin 1978; Ulrich Dix: Schulalltag. Als Lehrer die Praxis überleben. Bensheim 1979; Michael Löw: Was den Menschen zum Lehrer macht. Aufzeichnungen des Stud. Ref. Leo Nips. Heidelberg 1979; Michael Löw: Was den Lehrer zum Pauker macht. Aufzeichnungen des Studienrats Leo Nips. Heidelberg 1982; Anke Fedrowitz: Deine Türken werden ganz schön frech … Tagebuchaufzeichnungen einer Lehrerin. Düsseldorf 1985. 12 Etwa seit Frauke Stübig: Schulalltag und Lehrerinnenbewußtsein. Das Tagebuch einer Lehrerin und seine Reflexion im Gespräch mit Birke Mersmann. Weinheim 1995. 13 Andreas Körber : Sind Kompetenzen historischen Denkens messbar? In: Volker Frederking (Hrsg.): Schwer messbare Kompetenzen. Herausforderungen für die empirische Fachdidaktik. Baltmannsweiler 2008, S. 65–84.

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nageln?« ist nicht zwingend; ebenso ist auch ein Sich-Einlassen auf hochkomplexe Einzelfälle möglich, nämlich z. B. eine explorative Rekonstruktion einer einzelnen Unterrichtsstunde in 15 kategorial geklärten Hinsichten oder Schwerpunkten.14 Große quantitative Untersuchungen sind nicht vornehmer als kleine oder als qualitative Studien aller Art.15 Sie können ganz verschieden angelegt sein, als Interventionen (so Jeismann u. a. 1987, Bertram 2015), als Befragungskampagnen (so »Das Geschichtsbewusstsein Jugendlicher« 1992), als Interkulturelle Vergleiche (z. B. »Youth and History« 1995) oder als Large-Scale-Tests (etwa HiTCH 2012/15).16 Jedenfalls braucht man bei ihnen gründliche fachmännische/

14 Johannes Meyer-Hamme/Holger Thünemann/Meik Zülsdorf-Kersting (Hrsg.): Was heißt guter Geschichtsunterricht? Perspektiven im Vergleich. Schwalbach/Ts. 2012. 15 Dabei müssen qualitative Untersuchungen keineswegs »klein« sein. Man denke nur an lange Beobachtungs- und Aufzeichnungsreihen (»Unterricht in Dokumenten« [Beihefte zu Filmen FWU 1975–1978]. Stuttgart und Grünwald 1975–1978; Oliver Hollstein u. a. (Hrsg.): Nationalsozialismus im Geschichtsunterricht. Beobachtungen unterrichtlicher Kommunikation. Bericht zu einer Pilotstudie. Frankfurt/M. 2002 (Frankfurter Beiträge zur Erziehungswissenschaft, Bd. 3); Peter Gautschi u. a. (Hrsg.): Geschichtsunterricht heute. Eine empirische Analyse ausgewählter Aspekte. Bern 2007; Peter Gautschi: Guter Geschichtsunterricht. Grundlagen, Erkenntnisse, Hinweise. Schwalbach/Ts. 2009; auch FUER (vgl. z. B. Bodo von Borries: Zwischen »Genuss« und »Ekel« – Ästhetik und Emotionalität als konstitutive Momente historischen Lernens (Anm. 7), S. 202–205, 347–360, 470–478; Bodo von Borries: Geschichte von Geschichtslernen und Geschichtsunterricht (1949–2014). Eine qualitativempirische Studie. In: Martin Buchsteiner/Martin Nitsche (Hrsg.): Historisches Lernen und Erzählen. Wiesbaden 2016, S. 9–42) und an intensive Interviewstudien (z. B. Bodo von Borries: Alltägliches Geschichtsbewußtsein. Erkundung durch Intensivinterviews und Versuch von Fallinterpretationen. In: Geschichtsdidaktik 5 (1980), S. 243–262; Bodo von Borries: Zum Geschichtsbewußtsein von Normalbürgern. Hinweise aus offenen Interviews. In: Klaus Bergmann/Rolf Schörken (Hrsg.): Geschichte im Alltag – Alltag in der Geschichte. Düsseldorf 1982, S. 182–209; Bodo von Borries: Geschichtslernen und Geschichtsbewusstsein (Anm. 7), S. 17–22, 99–134, 136–172; Bodo von Borries u. a. (Hrsg.): Schulbuchverständnis, Richtlinienbenutzung und Reflexionsprozesse im Geschichtsunterricht. Eine qualitativ-quantitative Schüler- und Lehrerbefragung im Deutschsprachigen Bildungswesen 2002. Neuried 2005 (Bayerische Studien zur Geschichtsdidaktik, Bd. 9), S. 181–232. 16 Vgl. Karl-Ernst Jeismann u. a.: Die Teilung Deutschlands als Problem des Geschichtsbewußtseins. Eine empirische Untersuchung über Wirkungen von Geschichtsunterricht auf historische Vorstellungen und politische Urteile. Paderborn 1987; Christiane Bertram: Chancen und Risiken von Zeitzeugenbefragungen. Eine randomisierte Interventionsstudie im Geschichtsunterricht. Dissertation (publikationsorientiert). Universität Tübingen 2015; Bodo von Borries (unter Mitarbeit von Sigrid Weidemann, Oliver Baeck, Sylwia Grzes´kowiak und Andreas Körber): Das Geschichtsbewußtsein Jugendlicher. Erste repräsentative Untersuchung über Vergangenheitsdeutungen, Gegenwartswahrnehmungen und Zukunftserwartungen in Ost- und Westdeutschland. Weinheim/München 1995 (Jugendforschung); Magne Angvik/Bodo von Borries (Hrsg.): YOUTH and HISTORY. A Comparative European Survey on Historical Consciousness and Political Attitudes among Adolescents. Volume A: Description, Volume B: Documentation (containing the Database on CD-ROM). Hamburg 1997; Ulrich Trautwein u. a. (Hrsg.): Kompetenzen historischen Denkens erfassen: Opera-

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fachfrauliche Beratung und Unterstützung (besonders, aber nicht nur bei der rechnerischen Auswertung). Manches ist überhaupt nur an entsprechenden Großinstituten durchführbar – und man benötigt eine längere Einarbeitungszeit. Qualitative Forschungen mit nur einer Klasse sind nicht unterlegen, auch hoch anspruchsvoll, aber für eine(n) Einzelne(n) – mit viel Betreuung und Interpretationshilfe – gerade noch zu stemmen.17 Große Dokumentationsprojekte dagegen (wie »Unterricht in Dokumenten« [FWU 1975–1978] und »Geschichte und Politik im Unterricht« der Schweiz) sind schon wieder nur als Verbünde von verschiedenen Fachleuten an verschiedenen Orten denkbar (und sollten möglichst – wie in der Schweiz realisiert – Triangulation vorsehen und einen quantifizierenden Teil haben).18 Nicht zu verachten sind übrigens auch »Sekundäranalysen«, d. h. vergleichende Überblicke anderswo entstandener – u. U. teils ungedruckter – Studien, die mit qualitativen (hermeneutischen) wie quantitativen (statistischen, komparativ-rechnenden) Methoden betrieben werden können. Sie scheinen – außer in Dissertationskapiteln zum »Forschungsstand« – in der deutschsprachigen Geschichtsdidaktik allerdings ganz zu fehlen oder sehr selten zu sein. Nur deswegen seien uralte eigene Versuche erwähnt, die bescheidenen Ansätze zur Empirie hinsichtlich des schulischen Lernens, z. B. über »Frauengeschichte« und »Nationalsozialismus«, kritisch zusammenzufassen.19 Zugleich möchte ich an den Vorschlag erinnern, z. B. Transkripte von aufgezeichneten Geschichtsstunden und Datensätze von empirischen Studien auszutauschen und allgemein verfügbar zu machen, z. B. für die universitäre Lehre und Forschung (besonders zwecks Sekundäranalysen).20 Wenn jedoch ein Lehrer oder eine Lehrerin in einer siebten Hauptschulklasse

17

18

19

20

tionalisierung und erste Befunde des Projekts »Historical Thinking – Competencies in History« (HiTCH). Stuttgart 2016 (i. Vorb.). Vgl. Meik Zülsdorf-Kersting: Sechzig Jahre danach: Jugendliche und der Holocaust. Eine Studie zur geschichtskulturellen Sozialisation. Berlin 2007; Johannes Meyer-Hamme: Historische Identitäten und Geschichtsunterricht. Fallstudien zum Verhältnis von kultureller Zugehörigkeit, schulischen Anforderungen und individueller Verarbeitung. Idstein 2009. Peter Gautschi (Anm. 15). Für die technische Entwicklung ist bezeichnend, dass das ältere (deutsche) Vorhaben noch mit ausleihbaren Schmalfilmen zugänglich gemacht wurde, während 30 Jahre später das jüngere (Schweizer) Projekt schlicht per Download aus dem Internet verfügbar ist. Vgl. Von Borries: Geschlechtsrollen und Frauengeschichte in der Unterrichtspraxis (Anm. 7), S. 340–360; Bodo von Borries: Mädchensozialisation und Frauengeschichte. Beobachtungen zum pädagogisch-psychologischen und fachdidaktischen Schrifttum. In: Geschichtsdidaktik 4 (1979), S. 15–35; Bodo von Borries: Unkenntnis des Nationalsozialismus – Versagen des Geschichtsunterrichts? Bemerkungen zu alten und neuen empirischen Studien. In: Geschichtsdidaktik 5 (1980), S. 109–126; von Borries: Geschichtslernen und Geschichtsbewußtsein (Anm. 7), S. 176–197. Vgl. Bodo von Borries: Three Generations of History Lessons (Anm. 7).

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(wo es die noch gibt) eine Stunde über die Französische Revolution arrangieren und abhalten, organisieren auch sie Empirie und treiben Empirie. Sie vergrößern ihre Alltagserfahrung über »Tatsächliches«. Der Unterschied zur »Forschung«, z. B. an einem Großinstitut, kann nicht im Gegenstand liegen, sondern nur in der Methode der Untersuchung, der Isolation und Fixierung einer bestimmten Fragestellung, der Dokumentation des Verlaufes, der Klärung der Voraussetzungen (z. B. ceteris paribus) und eines expliziten, nachvollziehbaren Auswertungs- und Interpretationsverfahrens einschließlich des Generalisierungsversuches wie der Begrenzung der Reichweite von Aussagen. Methodische Sicherheit und Reflexion – nicht mehr und nicht weniger – unterscheiden (empirische Sozial- und Bildungs-)Forschung von qualifizierter Alltagspraxis in auf wissenschaftlicher Vorbildung beruhender Berufstätigkeit. Und auch innerhalb der Forschung gibt es ein massives Spannungsfeld: Da darf man nicht nur einen Extrempol betonen und gegenseitigen Ausschluss unterstellen: »Winzig-enge bis triviale Fragebereiche repräsentativ und perfekt quantitativ messen« oder »globale Problemfelder an Einzelfällen tiefschürfend qualitativ erkunden«? Man muss pragmatische Lösungen, intelligente Kombinationen und kompromisshafte Mischungen finden.

2.

»Wissenschafts-Disziplin« und »Bezüge/Beziehungen zwischen Wissenschaften«

So gesehen liegt es nicht nahe, »Empirische Bildungsforschung« als eine eigene Wissenschaftsdisziplin – neben anderen, z. B. der Geschichtsdidaktik – zu bezeichnen. Denn dann wären alle anderen Wissenschaftsdisziplinen ohne Empirie (dieser Art), was wohl niemand wollen kann. Vielmehr ist Empirie – genauer sind alle Arten von Empirie – als Arsenal domänenspezifisch geeigneter »methodischer Zugriffe« im Rahmen von Wissenschaftsdisziplinen anzusehen. In diesem Sinne habe ich schon vor Jahrzehnten vier Säulen benannt, über denen der »Kuppelbau der Geschichtsdidaktik« zu errichten sei:21 – Theorie – und Praxis(hilfe), – Norm(reflexion) – und Empirie. Die Metapher vom Kuppelbau betont einerseits die Interdependenz der vier »Methodenzugriffe«: Empirie ohne jede Theorie ist eine blanke Illusion – und sei

21 Bodo von Borries: Geschichtsbewußtsein als Identitätsgewinn? (Anm. 6), S. 10f.

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es nur der verwendeten Begriffe und Kategorien wegen, die zugleich einigermaßen elegant, fruchtbar und widerspruchsfrei entfaltet und erklärt werden müssen. Praxis ohne Normsetzungen, z. B. Unterricht ohne Lern- und Erziehungsziele, ist logisch unmöglich – schlimm nur, wenn diese Tatsache unentdeckt bleibt oder absichtlich vernebelt wird. Elaborierte Theorie ohne jede Empirie-Rückbindung wird leicht weltfremd, überfordernd und verblasen (geht als »Glasperlenspiel« an Bedingungen des Alltags vorbei), usw. Das Kuppelbild beruht andererseits auf der Sorge, dass bei sehr ungleicher Verteilung der Fundierung, Stabilität und Gewichtsbelastung der vier Hauptpfeiler ein technisch tragfähiger und ästhetisch befriedigender Bau nicht zustande kommen könnte. Vor 1968 überwog die (pragmatische) Praxishilfe, eine Art »Methodik des Geschichtsunterrichts«, nach 1968 die (zunehmend konstruktivistische und narrativistische) Theoriebildung. Auch die Normsetzung kam – sei es in allen Formen und Neuauflagen der »(Reform-)Pädagogischen Bewegung«, sei es im Rahmen des »Kalten Krieges« und der »Studenten-Revolte 1968« – nicht zu kurz, wenn sie auch nicht immer von »Theorie« abgegrenzt wurde, sondern als solche mit dem Anspruch auf »Alleingültigkeit« auftrat und deshalb nicht selten zur »Ideologie« verkam. Nur die »Empirie« (»Pädagogische Tatsachenforschung«) blieb vor wie nach 1968 – wie auch schon vor wie nach 1914, 1933 und 1949 – ein Stiefkind, ein Rinnsal oder, um zum Bild der Kuppel zurückzukehren, ein windiges Bau-Gerüst aus ein paar schlecht verkeilten Brettern. »Empirie« soll also als vielfältiger Methodenset (qualitativ, explorativ, rekonstruktiv und hypothesengenerierend sowie quantitativ, konfirmatorisch, hypothesenprüfend und kausalanalytisch), nicht als Wissenschaftsdisziplin verstanden werden. Aber was ist dann überhaupt eine Disziplin? Es liegt nahe, sie als die Erforschung eines Ausschnittes der erkennbaren Umgebung, also einer Art Tortenstückes aus der »Welt der Erscheinungen« zu betrachten. Aber das ist entschieden zu oberflächlich. Verschiedene Wissenschaften beschäftigen sich unter abweichenden Fragestellungen mit identischen Phänomenen; für »Krieg«, »Wald« oder »Familie« ist keineswegs nur ein Fach zuständig. Die Erscheinungen der Welt sind ja selbst vielfältig und vieldimensional vernetzt. Und ertragreiche Methoden- bzw. Apparatzugriffe können durchaus zu Wissenschaften auflaufen, ausgeprägt werden, z. B. Mikroskopie, C14-Datierung, Dendro-Chronologie, Röntgenologie, Luftbildarchäologie, um von Numismatik, Sphragistik und Heraldik zu schweigen. Oder sind das bloße hilfreiche Beobachtungs-, Rechen- und Analyseknechte für echte Wissenschaften? Vermutlich ist es besser, Disziplinen als relativ willkürliche Konstrukte, als bloße Organisationsentscheidungen unter bestimmten überholbaren historischen Voraussetzungen, anzusehen (die Termini »Grenzüberschreitungen«/ »Grenzverschiebungen« im Titel der KGD-Tagung Aachen 2015 gehen glückli-

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cherweise in diese Richtung).22 Physik und Chemie hängen so eng ineinander, dass man sie heute eigentlich kaum noch trennen kann. Historie und Geografie wurden bei Herodot vor fast 2500 Jahren einmal als Einheit erfunden (die übrigens auch noch Ethnologie/Kulturanthropologie und Archäologie umfasste). Ihre Trennung wird sich oft nicht wirklich bewähren, wenn denn Historie zu raumlos und Geografie zu zeitlos werden. »Historische Geografie« und »Umweltgeschichte« überschneiden sich so stark, dass sie in weiten Teilen identisch sind. Wissenschaftsorganisation ist mehr eine pragmatische (allenfalls ideologische) Frage denn eine logische. Dem historischen Zufall und der einmal eingeführten, aber sinnlos gewordenen und trotzdem weitergeführten Tradition (»versteinerte Formen und erstarrte Privilegien« wie bei der – außerhalb Europas gänzlich unbrauchbaren – Einteilung in Altertums-, Mittelalter- und Neuzeit-Historie) sind Tür und Tor geöffnet. Insofern gibt es durchaus praktische Konsequenzen willkürlich erfolgter oder schädlich gewordener »DisziplinAbgrenzungen«, beispielsweise bei der Ausschreibung/Besetzung von Stellen, bei der Drittmittel-Finanzierung und bei der Förderung oder Verhinderung von Zusammenarbeit. Der gemeinte Bezug von Disziplinen kann sehr verschieden sein. In der klassischen Jeismann/Rüsen-Theorie (seit Kosthorst 1977) ist Geschichtsdidaktik eine der drei Formen von Geschichtswissenschaft, und zwar die Erforschung von »Geschichtsbewusstsein in der Gesellschaft«, ihren Formen und Funktionen, ihrer Genese und Beeinflussung.23 Insoweit gibt es keinen Bezug zu einem Anderen, Äußeren, sondern nur eine Identifikation und Subsumption, also eine konstitutive Stellung innerhalb der Historie; die wurde gewiss auch gewählt, um die Gleichrangigkeit der Geschichtsdidaktik als rein historischer Wissenschaft zu betonen und bei den Fachwissenschaftler(inne)n durchzusetzen. Das war ein untauglicher, von mir stets abgelehnter Versuch, der sozialpsychologisch zweifellos gescheitert ist.24 Zusätzliche Bezüge zu anderen Disziplinen (früher sagte man »Hilfswissenschaften«) sind im Jeismann/Rüsen/Vierhaus-Schema (1976/77) natürlich beliebig möglich und nützlich, aber sie stellen eben »Außenbeziehungen« dar.25 Zu 22 Man kann auch versuchen, sie als »Weltzugriffe« oder »Domänen der Welterschließung« zu fassen. Aber gibt es davon wirklich viele Dutzende? Das ergäbe eher Gruppen von Disziplinen. 23 Vgl. Kosthorst (Anm. 8). 24 Vgl. z. B. Bodo von Borries: Wissenschaftsorientierung. Geschichtslernen in der »Wissensgesellschaft«. In: Ulrich Mayer u. a. (Hrsg.): Handbuch Methoden im Geschichtsunterricht. Schwalbach/Ts. 2004, S. 30–48. Wichtig sind vor allem die – oft negativen – Erfahrungsberichte von Geschichtsdidaktikerinnen bei Thomas Sandkühler (Hrsg.): Historisches Lernen denken. Gespräche mit Geschichtsdidaktikern der Jahrgänge 1928–1947, Göttingen 2014. 25 Kosthorst (Anm. 8).

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Erziehungswissenschaft und Erkenntnistheorie, Soziologie und Lernpsychologie, Geografie und Archäologie lassen sie sich ja nicht leugnen, ohne dass es absurd wird. Bezug kann durchaus auch bloß »dienend«, d. h. unterordnend (»anweisungsbedürftig«) statt eingliedernd (»subsumptiv«) gemeint sein. Und das ist sogar meist der Fall. In der Tat sind Methodenspezialisten stets in Gefahr, zu »Messknechten«, zu »Rechen-Dienstleistern«, zu »Hilfskräften aus Hilfswissenschaften« herabgestuft zu werden. Man hält sich eine abhängige Arbeitskraft für die statistischen Auswertungen von Befragungen oder Tests, wie sich geschichtswissenschaftliche Fachbereiche ja allenfalls einzelne Fachdidaktiker(innen) als Betreuer der lästigen, aber vorgeschriebenen Schulpraktika »halten«. Die erwähnten statistischen Verfahren sind ja auch, seit das probabilistische »Rasch-Modell« die »klassische Testtheorie« abgelöst hat, so kompliziert, dass sie sogar ein normaler Psychologe oder Soziologe nicht mehr »drauf haben« kann. Dann steht die Methode am Scheidewege: Sie kann zur Sklavin (verachteten Magd) oder zum Selbstzweck (unbemerkten Diktator) werden. Jedenfalls gehen Augenhöhe einerseits und Verständlichkeit – für Lehrer(innen) und leider auch Fachdidaktiker(innen) – andererseits verloren; dieses häufige Defizit ist nicht zu unterschätzen oder zu verschmerzen. Was hilft es, wenn wir – erfreulicherweise – immer mehr empirische Studien in der Geschichtsdidaktik geschenkt bekommen, aber niemand (kaum jemand) unter Studierenden, Schulpraktiker(inne)n und Hochschulleuten will oder kann sie zur Kenntnis nehmen, weil sie viel zu »hermetisch« (statt »hermeneutisch«) angelegt und aufbereitet sind (eigene Lektürezeit ist ohnehin nicht unbegrenzt frei!)? Früher war Empirie bei den Hochschullehrer(inne)n verhasst und unbekannt, heute ist sie es bei Lehrer(inne)n und Student(inn)en. Das Fehlen noch so geringer mathematisch-statistischer Grundlagen ist da nur eine Ursache; epistemologische Defizite arger Art – noch bei Lehramtsstudierenden – sind ebenso verantwortlich, wie wir noch jüngst bei der Arbeit am Geschichtskompetenz-Test HiTCH feststellen konnten.26

3.

»Aufgaben der ›Geschichtsdidaktik«

Es gibt mehr angewandte (z. B. »Computerdesign«, »Zahnchirurgie«) und mehr grundlagenorientierte Wissenschaften (z. B. »reine Mathematik«, »Logik«). Die Ingenieurfächer können mit einiger Berechtigung als angewandte Naturwissenschaften bezeichnet werden. Die Erziehungswissenschaft ist per se, wenn auch nicht nur, angewandte Psychologie und Soziologie. Kann man die Fach26 Trautwein (Anm. 16).

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didaktiken auch als anwendungsorientierte Teile ihrer jeweiligen Fachwissenschaften ansehen? Das passt insofern nicht, als ja »Geschichtswissenschaft«, »Anglistik«, »Biologie« und sogar »Mathematik« selbst durchaus angewandt sind – oder jedenfalls angewandte Teildisziplinen haben. Ist Verfassen und Herausgeben einer Neubearbeitung des Gebhardt wirklich weniger »anwendungsbezogen« als eine Schulbuchrevision? Die Wissenschaftsvermarktung (auch mit Hilfe professioneller Agenturen) ist Anwendung par excellence; diese gehört schon lange zur Wissenschaft selbst dazu und in ihren Kern (ohne den sie wirkungslos bleibt). Ich selbst kann mit dem Begriff »Bezugswissenschaft(en)« nicht viel anfangen; denn ich halte viele Wissenschaften – besonders meine eigene – für konstitutiv multi-, inter- und transdisziplinär, schon weil überall Methodenvielfalt und Methodenmix angesagt sind. In angewandten Fächern – nicht nur dort! – muss man permanent Bögen bauen und Brücken schlagen, womit wir wieder bei der Metapher der Kuppel wären.27 Ich arbeite nicht in »Geschichte« und stütze mich zusätzlich auf »Lernpsychologie« oder »Testtheorie und -konstruktion« oder »Gruppendynamik« oder »Schulpädagogik« (einmal ganz abgesehen von den elementaren fachlichen Beiträgen der Literatur- und Kunstwissenschaft zur Historie). Auch in diesen Bereichen muss ich selbst leben und Erfahrungen machen, wobei ich mir natürlich von »besseren«, »engeren«, »einheimischeren« Spezialist(inn)en und Freund(inn)en helfen lassen kann, ja muss. Nicht immer und überall werde ich auf dem allerhöchsten internationalen »state of the art« agieren und argumentieren können (denn dann würde die Vorbereitung auf eigene Arbeit mehr als ein Berufsleben dauern müssen). Pedantische Methodenexperten können immer etwas auszusetzen haben; das ist wohlfeil. Sie verhindern dann dadurch eher Erkenntnis, statt sie zu befördern. Versuche, sich zu »Päpsten« aufzuwerfen, gibt es (ebenso wie nötige Hinweise und fördernde Einwände) überall – deshalb auch langdauernde »Schismen« zwischen wissenschaftlichen Schulen (z. B. überflüssige Spaltung zwischen Jüngern der »Triangulation« und der »mixed methods«). Mit durchaus verschiedenen – und verschieden elaborierten – Empirieformen werden wir umgehen müssen, ohne einseitige oder gegenseitige Herabsetzung. Einen »Fingerhut voll Erkenntnis« (so Lucas in Wiesemüller schon 1972) kann man oft auch aus ziemlich schlicht gemachter Empirie ziehen, wenn es keine groben Denk27 Sie dürfte dem geläufigen Bild von der »Brücke« oder »Brückenfunktion« überlegen sein, weil sie die Eigenständigkeit, das Proprium, der jeweiligen Aufgabe betont, hier der Geschichtsdidaktik als Wissenschaft von Gestalt, Funktion, Wandel und Beeinflussbarkeit des individuellen wie gesellschaftlichen Geschichtsbewusstseins und von dessen Aufbau in kumulativen Prozessen des Geschichtslernens (oder ähnlich ausgedrückt). Brücken sollen nur verbinden und überschritten werden, Kuppeln sind Selbstzweck und tragen frei aus eigenem Recht.

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fehler, sondern nur einigermaßen simple Zugriffe zu bemängeln gibt.28 Übrigens: Alle Methoden haben ihre Kosten und auch ihre Grenzen; Methodeneffekte kann man kaum vermeiden; Triangulierung ist – im technischen wie im metaphorischen Sinne – stets erwünscht. Vielleicht müssen wir noch lernen, uns gerade auch als Konkurrenten gegenseitig zu helfen, zu beraten und dadurch zu verbessern und positiv zu kontrollieren. Wer allerdings größere Drittmittel einfahren will, muss etwas früher aufstehen, vermutlich am besten auch einen »mächtigen Löwen« (z. B. gegenwärtig einen Psychologen der empirischen Bildungsforschung) mit ins Boot holen. Eine wichtige Frage, die mich seit langem beschäftigt, ist, ob eine einzelne Person allein alles das überhaupt noch können kann, was in der Geschichtsdidaktik zwingend gefordert ist.29 Das mag vor fünfzig oder vierzig Jahren noch einigermaßen der Fall gewesen sein. Heute sind vermutlich nur noch Teams – seien es drei bis sieben, seien es viel mehr Personen – imstande, den ganzen nötigen Bereich abzudecken. Intensive Erfahrungen der produktiven Zusammenarbeit mit engeren Fachkolleg(inn)en, Professor(inn)en anderer Disziplinen, hochbegabten Nachwuchsleuten und – nicht zu vergessen – »Best-Practice-Teachers« habe ich in meiner Karriere mehrfach machen dürfen (z. B. Geschichtswettbewerb »Spurensuchen« 1978–2008, europaweiter Vergleich »Youth and History« 1992–1997, bulgarisch-deutsches Joint Venture »Miteinander leben in Europa« 1996–2006, Comenius-Aktivität »FUER Geschichtsbewusstsein« 1999–2006, DFG-Graduiertenkolleg »Bildungsgangforschung« 2002–2008, BMBF-Projekt »HiTCH« 2012–2015). Wenn man sich allerdings im Team nicht auf Augenhöhe begegnet, wenn die Rang- und Gehaltsstufen zu steil angelegt, die Abhängigkeiten zu quälend fühlbar, die Chancen zu ungleich verteilt sind, geht viel von den Vorteilen wieder verloren. Die Hierarchien sollten also relativ flach und flexibel ausgestaltet werden, wenn man denn auf Hierarchie nicht ganz verzichten kann.30 »Teamfähigkeit« und »Teamleitungsfähigkeit« sind inzwischen nicht zufällig zu Hochschullehrerqualifikationen aufgerückt, auch wenn sie nicht systematisch beigebracht werden. Aber vor einem Irrtum muss gewarnt werden: Die Multi-, Inter- und Transdisziplinarität kann nicht auf andere Verantwortliche in einem 28 Friedrich Lucas: Ein Fingerhut voll Erkenntnis. In: Gerhard Wiesemüller : Unbewältigte Vergangenheit – überwältigende Gegenwart? Stuttgart 1972, S. 9–25. 29 Bodo von Borries: Empirische – und andere? – Forschungsmethoden der Fachdidaktiken in den ›Humanities‹ – am Beispiel der Domäne Geschichte. In: Marko Demantowsky/Volker Steenblock (Hrsg.): Selbstdeutung und Fremdkonzept. Die Didaktiken der kulturwissenschaftlichen Fächer im Gespräch. Bochum/Freiburg 2011, S. 98–137. 30 Die »demokratischen« Illusionen von 1968 in Richtung freiwilliger Assoziation mit sachund personengerechter Arbeitsteilung, z. B. Unterordnung der Durchschnittlicheren unter die Tüchtigsten, scheinen da inzwischen gründlich verflogen zu sein.

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Team abgeschoben werden; am »Brückenbau« (besser noch »Kuppelbau«) muss jede(r) selbst aktiv teilnehmen, und das – in gewissem Maße – nicht nur als Architekt, sondern auch als Bauarbeiter : »Wenn die Könige bauen, haben die Kärrner zu tun.« Aber es schadet den Königen nichts, wenn sie selbst ernsthaft mit anfassen. Es sollte auch nicht verschwiegen werden, dass besonders Psycholog(inn)en einerseits und Historiker(innen) andererseits aus ganz verschiedenen Wissenschaftskulturen kommen und in recht abweichenden Denklogiken arbeiten. Da schlagen, was man nicht denken sollte, die berühmten »Zwei Kulturen« noch immer voll zu: geisteswissenschaftlich-literarische versus naturwissenschaftlich-technische Kultur.31 Manche prominenten Psychometriker – wenn auch keineswegs alle (die an HiTCH beteiligten sind z. B. eindeutig auszunehmen) – meinen und behaupten: »Wir können alles messen!« Wenn sie dann – wegen klarer Operationalisierungsdefizite ihrer Erhebungsinstrumente – jenseits schlichter und nur kognitiver Leistungen nichts anderes finden, folgern sie einfach unbewusst und sogar ausdrücklich: »Und wenn wir etwas nicht messen können, dann gibt es das auch nicht!« Bestenfalls halten sie das Nicht-Messbare nicht mehr für wichtig, d. h. messwürdig. Das ist natürlich eine Art von Zirkelschlussverfahren oder besser »Salto mortale«. Uns Geschichtsdidaktiker(inne)n, die wir quantitativ und zusammen mit Psychometrikern arbeiten, geht es darum, nicht vorweg zu wissen, was man messen oder nicht messen kann, sondern im ernsthaften Experiment festzustellen, wie weit man die Pflöcke jenseits des bisher Geleisteten vorrücken und im zuvor Unbekannten einschlagen kann. So kann man durch Deichbau neues Land gewinnen und sichern. »Multi-, Inter- und Transdisziplinarität« sind also kein Selbstläufer und kein sanftes Ruhekissen. Man braucht viel Geduld, Toleranz, Kommunikation und Verzicht auf Dogmatismus. Man muss in der Kooperation lernen, aufeinander zuzugehen und miteinander weiterzugehen, ohne das Eigene als Kern aufgeben zu wollen oder sich auch nur einzubilden, den Abgrund ganz zuschütten zu können. Das aber setzt – wie gesagt – »Augenhöhe« statt »Herrschaft« und »Knechtschaft« voraus. Ist noch ein Wort zum beleidigenden und grottenschädlichen Sprichwort »Traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast!« nötig? Forschungsethisch ist die Sache klar : Man darf nicht fälschen und muss alle Schritte der Theoriegrundlegung, Hypothesenbildung, Instrumenterstellung, Operationalisierung, Stichprobenziehung, Erhebung, Auswertung, Interpretation usf. offenlegen, inzwischen meist auch den Datensatz selbst.32 Wie sollte man da 31 Charles Percy Snow: Die zwei Kulturen. Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz. Stuttgart 1967. 32 So schon die CD-Rom zu Angvik/von Borries (Anm. 16).

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leichter fälschen können als in irgendeinem anderen Wissenschaftskontext? Andererseits sind Replikationsstudien gerade in der Psychologie relativ selten und erschreckend oft nicht bestätigend, was auch an den vielfach beklagenswert kleinen Stichproben liegen mag und vermutlich gerade bei den Psychometrikern nicht zutrifft. Für die Seriosität der großen geschichtsdidaktischen Untersuchungen habe ich – wenngleich selbst Partei – eine Reihe von gravierenden Indizien: Bei HiTCH beispielsweise sind die Ergebnisse in den beiden Pilotierungen (2013, 2014) und in der Validierungsstudie (2014) – mit insgesamt fast 6.000 Schüler(inne)n und fast 500 Studierenden – unbedingt stabil gewesen, haben sich also als »Replikationen« gegenseitig bestätigt.33 So war es übrigens auch schon in den drei ostdeutsch-westdeutschen Befragungen zum Geschichtsbewusstsein und zur Geschichtssozialisation 1990, 1992 und 1995, die sich untereinander massiv validiert haben.34 Anders gesagt: Nicht die Statistiken werden absichtlich gefälscht, sondern die – durchaus offen gelegten – Theoriebildungen, Operationalisierungen, Auswertungsroutinen und Kausalzuschreibungen bei der Interpretation können unangemessen sein oder in die Irre führen (so – nach Meinung mancher Kritiker – beim gewiss nicht absichtlich und offen »zahlen-manipulierenden« PISA 2000, 2003, 2006 usw.) und insofern – bewussten oder (häufiger noch?) unbewussten – Missbrauch von Statistiken einschließen. Um dem jedoch zu entgehen, darf man nicht weniger, sondern muss mehr von »Quantifizierung« verstehen. Der blöde Spruch von der »selbst gefälschten Statistik« ist ein bequemes, aber gefährlich selbst-verblendendes Vorurteil denkfauler Menschen. Damit ist zu einem Fazit und Ausblick in Thesenform überzugehen: Die bisherigen Überlegungen zum Verhältnis von Geschichtsdidaktik und Empirischer Bildungsforschung lassen sich in vier Feststellungen und einer Ermutigung zusammenfassen: – Empirische Bildungsforschung ist nicht etwas Anderes jenseits der (bloß historisch-hermeneutisch verfahrenden) Geschichtsdidaktik, sondern – thematisch wie methodisch – deren konstitutiver und vermutlich zur Zeit strategisch sogar wichtigster Teil. Ihre Erkenntnisverfahren sind nicht etwas Fremdes (keine andere »Disziplin«), sondern unser eigener Job, selbst wenn 33 Trautwein (Anm. 16). 34 Vgl. Bodo von Borries (unter Mitarbeit von Susanne Dähn, Andreas Körber und Rainer H. Lehmann): Kindlich-jugendliche Geschichtsverarbeitung in West- und Ostdeutschland 1990. Ein empirischer Vergleich. Pfaffenweiler 1992 (Geschichtsdidaktik. Studien, Materialien. Neue Folge, Bd. 8); von Borries: Das Geschichtsbewusstsein Jugendlicher (Anm. 16.); Bodo von Borries (unter Mitarbeit von Andreas Körber, Oliver Baeck und Angela Kindervater): Jugend und Geschichte. Ein europäischer Kulturvergleich aus deutscher Sicht. Opladen 1999 (Schule und Gesellschaft, Bd. 21).

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sie bei Nachbarn entwickelt – und dort elaborierter angewandt – worden sind. »Empirische Bildungsforschung zum Geschichtslernen« ist Geschichtsdidaktik, wie Historie von Kindheiten und Sozialisationspraktiken – spätestens seit AriHs und de Mause – Geschichtswissenschaft ist.35 Die verwendeten Instrumentarien haben sich ja auch dabei – und anderswo in der Historie – geändert; mit Rankes »historisch-philologischem« Verfahren allein kommen keine heutigen Sozialhistoriker(innen) mehr aus. Hinter die »Strukturgeschichte« der »Annales« können sie nicht zurückgehen. Entsprechendes gilt ebenso für elementare qualitativ- und quantitativ-empirische Zugriffe in der Geschichtsdidaktik. – Empirische Bildungsforschung hat umgekehrt keinen Alleinvertretungsanspruch in der Geschichtsdidaktik. Wenn jede(r) sie dringend kennen, rezipieren und – je nach eigener Neigung und Begabung in spezifischer Tiefe – betreiben sollte (was jedenfalls vor acht Jahren bei meinem Ausscheiden aus dem Amt durchaus noch nicht eingelöst wurde), heißt das nicht, dass alle nur das tun – oder auch nur alle das in gleichem Maße tun – sollten. Es darf auch »Theoriespezialisten« – und »Unterrichts-Anleitungsexperten« und »exzellente Schulbuchmacher« – geben, nur nicht zu viele, zu engstirnige und zu dominante. Ebenso wichtig ist: Die überwiegend empirisch arbeitenden Kolleg(inn)en müssen – zwingend und »auf Augenhöhe« – multi-, inter- und transdisziplinär mit anderen spezialisierten »empirischen Bildungsforschern« aller Art (»Psychometrie«, »Schulsoziologie«, »Erziehungswissenschaft«, »Medienpädagogik«, »Deutschdidaktik«, u. U. »Ethnologie« usw.) kooperieren, nicht zu vergessen die Unterrichtspraxis von »Best Practice Teachers«. – Empirische Bildungsforschung gibt es nicht nur in einer Form, nach einer Methode. Über die Doppelung von quantitativer und qualitativer Empirie hinaus (das Beste, Ertragreichste sind wohl zweistufige oder kombinierte Studien [»mixed methods«])36 gilt: Die Felder der Geschichtskultur (Präsentation, Rezeption und Kommunikation), der Historischen Identität (einstellungsprägende, handlungsdisponierende Selbstdefinition und -verortung) und der Geschichtskompetenz (Fähigkeit und Bereitschaft zu Problemfindung und -lösung) sind unerschöpflich. Auch interkulturell (d. h. international wie intranational zwischen Mehrheit und Minderheiten) vergleichende und historische Studien (z. B. zum Unterricht, zu Kenntnissen, Kompetenzen oder Einstellungen, zum Schulbuch, zu Gedenkfeiern) sind 35 Philippe AriHs: Geschichte der Kindheit. München 1975; Lloyd de Mause (Hrsg.): Hört ihr die Kinder weinen. Eine psychogenetische Geschichte der Kindheit. Frankfurt/M. 1977. 36 Z. B. von Borries u. a.: Schulbuchverständnis, Richtlinienbenutzung und Reflexionsprozesse im Geschichtsunterricht (Anm. 15).

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empirisch und sind in der Geschichtsdidaktik legitim (solange sie nicht andere Hauptgeschäfte, z. B. Forschungen aller Art zu aktuellem Geschichtslernen und Geschichtsunterricht, überwuchern). – Empirische Bildungsforschung wirkt nicht von allein bzw. durch ihre bloße Publikation in 150 Exemplaren. Sie muss auf allen Ebenen übersetzt, erklärt, angewandt, vereinfacht, auf Alltagspraxis bezogen werden. Ohne »Vermarktung« (Implementation, Dissemination), von der man als Wissenschaftler(in) nicht automatisch etwas versteht, geht es überhaupt nicht (man sollte ruhig eine Agentur beauftragen). Nicht mit dem Bericht an den Drittmittelgeber und der Drucklegung (heute auch Netzstellung) endet ein Forschungsprojekt, sondern mit der – vereinfachenden und bewerbenden – Verbreitung, und das nicht nur in der scientific community, sondern auch in Öffentlichkeit, Schulwesen und Lehrpraxis der ersten, zweiten und dritten Phase der Lehrerausbildung. Dafür darf man sich nicht zu schade sein. Dass heute ohne eine englische Version in einem angelsächsischen Verlag das Getto der deutschsprachigen Provinz nie zu sprengen ist, kommt hinzu. Ein persönliches Wort zum Schluss: »Empirische Bildungsforschung in/als Geschichtsdidaktik« macht Spaß; denn es bringt nicht selten Flow-Erlebnisse, wenn man endlich genauer weiß, »was der Fall ist«, und die eigenen Vorannahmen bestätigt (oder widerlegt!) werden. (Quantitative) Empirie kann jedoch auch zu Einseitigkeit verführen und umschließt nicht das ganze pralle geschichtsdidaktische Leben. Ich werde nie vergessen, wie ich selbst in der größten biografischen Herausforderung durch die internationale Vergleichsstudie »Youth and History« (NSchüler > 31.600 und NLehrer > 1.250 in 30 Stichproben) von 1995 (Auswertung bis 1999) verfahren bin bzw. verfahren musste.37 Durch Arbeit und Verantwortung wurde ich fast erdrückt, durch den Zahlenwust fühlte ich mich mental auch schwer belastet. Ich brauchte für meine Psyche den »hermeneutischen« Ausgleich: Während der heftigsten Messversuche sind meine vielleicht schönsten »hermeneutischen« Bücher »Imaginierte Geschichte. Die biografische Bedeutung historischer Fiktionen und Phantasien« und »Vom ›Gewaltexzeß‹ zum ›Gewissensbiß‹? Autobiografische Zeugnisse zu Formen und Wandlungen elterlicher Strafpraxis im 18. Jahrhundert« entstanden.38 Nur : Richtig verstanden sind auch das ganz entschieden Werke »empirischer Bildungsforschung«, in einem Falle mehr systematisch-qualitativer, im anderen Falle ganz historisch-qualitativer Art.

37 Angvik/von Borries (Anm. 16). 38 Ebd.; von Borries: Imaginierte Geschichte (Anm. 6); von Borries: Vom »Gewaltexzeß« zum »Gewissensbiß«? (Anm. 6).

Frank-Michael Kuhlemann

Historische Religionsforschung und Geschichtsdidaktik

Historisches Lernen im 21. Jahrhundert wird sich nicht länger ohne eine angemessene Berücksichtigung der religiösen Dimension didaktisch konzeptualisieren lassen. Die Herausforderung für eine (Neu)Berücksichtigung religionshistorischer Fragestellungen ergibt sich aus einer veränderten gesellschaftlichen Situation, ebenso wie aus grundlegenden Neuorientierungen der Geschichtsund Kulturwissenschaften seit den 1990er Jahren. Provokante wissenschaftliche und zeitdiagnostische Analysen, die in begrifflichen Umschreibungen wie »Rückkehr der Religionen«, »Wiederkehr der Götter« oder dem inzwischen berühmten »clash of civilizations« ihren Niederschlag gefunden haben, bringen das Phänomen schlagwortartig auf den Punkt.1 Sie korrespondieren jedoch mit Erfahrungen und Beschreibungen fortschreitender »Säkularisierung«, manifester Unkirchlichkeit und religiöser Indifferenz, die zuweilen bis hin zu einem »religiösen Analphabetismus« reichen und in Deutschland vor allem in den neuen Bundesländern zu beobachten sind.2 Auch das Problem zunehmender gesellschaftlicher Migration und damit verbundene religiös-kulturelle Desintegrationsprozesse stellen die europäischen Gesellschaften vor grundlegend neue, nicht zuletzt bildungs- und schulpolitisch zu bewältigende Aufgaben.3 1 Vgl. Martin Riesebrodt: Die Rückkehr der Religionen. Fundamentalismus und der »Kampf der Kulturen«. München 2000; Friedrich Wilhelm Graf: Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur. München 2004; Samual P. Huntington: The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order. New York 1996; Jos8 Casanova: Europas Angst vor der Religion. Berlin 2009; Gottfried Küenzlen: Die Wiederkehr der Religion. Lage und Schicksal in der säkularen Moderne. München 2003; Hans Joas (mit Jos8 Casanova): Religion und die umstrittene Moderne. Stuttgart 2010 (Globale Solidarität – Schritte zu einer neuen Weltkultur, Bd. 19). 2 Vgl. Detlef Pollack: Säkularisierung – ein moderner Mythos? Studien zum religiösen Wandel in Deutschland. Tübingen 2003; Ders.: Rückkehr des Religiösen? Studien zum religiösen Wandel in Deutschland und Europa II. Tübingen 2009; Hartmut Lehmann: Säkularisierung. Der europäische Sonderweg in Sachen Religion. Göttingen 2004; Thomas Großbölting: Der verlorene Himmel. Glaube in Deutschland seit 1945. Göttingen 2013. 3 Vgl. Hartmut Lehmann: Migration und Religion im Zeitalter der Globalisierung. Göttingen 2005; Martin Affolderbach: Migration, Religion und Bildung – national und international. In:

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Der vorliegende Beitrag soll im Kontext der hier skizzierten Problemhorizonte ansetzen: Es ist sein Ziel, die in der geschichtsdidaktischen Reflexion bestehenden Defizite und Desiderata mit Blick auf die Berücksichtigung der religiösen Dimension des historischen Lernens herauszuarbeiten. Er plädiert dafür, religionsgeschichtliche und religionskulturelle Entwicklungen sowohl in der geschichtsdidaktischen Grundlagenreflexion als auch bei der Gestaltung von Lehrplänen und Schulbüchern stärker als bisher zur Geltung zu bringen.4 Zu diesem Zweck werde ich erstens einige charakteristische Tendenzen der neueren Historischen Religionsforschung skizzieren. Es folgen zweitens einige Bemerkungen zur Forschungslage in der Geschichtsdidaktik. In einem dritten Schritt sollen didaktische Konsequenzen und Perspektiven aufgezeigt werden. Alles zusammen bleiben das nur ein paar Pinselstriche, die an anderer Stelle, vor allem mit Blick auf aktuelle religiöse Entwicklungen (im Kontext nationalstaatlicher, europäischer oder weitweiter Bezüge sowie auch anhand aktueller Untersuchungen zu religiösen Einstellungen von Schülern und Schülerinnen und deren Interessen an Religion) weiterzuführen sind. Insgesamt geht es um eine deutliche Perspektiverweiterung der geschichtsdidaktischen Reflexion; wenn man so will: um eine Geschichtsdidaktik in der Erweiterung.

1.

Die neue religionsgeschichtliche Forschung

Die Geschichts- und Kulturwissenschaften haben sich seit den 1990er Jahren der Religion in ihren vielfältigen Facetten und mit vielfach neuen Perspektiven zugewandt. Religion erscheint wieder als eine historische Potenz (im Burckhardtschen Sinne) – in der neueren Forschung bezogen vor allem auf die Moderne, die ich auch in den Mittelpunkt meiner Überlegungen stelle, wobei sich das Plädoyer für eine reflektiertere Didaktisierung der Religionsfrage auf ihre historische Bedeutung insgesamt richtet.5 Peter Schreiner u. a. (Hrsg.): Handbuch Interreligiöses Lernen. Gütersloh 2005, S. 70–84; Migration – Religion – Integration. Hrsg. von der Friedrich-Ebert-Stiftung. Braunschweig 2009 (Policy. Politische Akademie, Nr. 30). 4 Vgl. knapp und pointiert dazu bereits meinen Beitrag: Ohne Religionsgeschichte wird es nicht gehen. Der Geschichtsunterricht wird den religionskulturellen Fragen der Gegenwart nicht gerecht. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 31. 12. 2015, S. 7. 5 Vgl. Jacob Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen [1905]. Mit einem Nachwort von Alfred von Martin. Krefeld 1948, bes. S. 35–88, 91–166. Vgl. auch Siegfried Weichlein: Religion und Kultur. In: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte 99 (2005), S. 371–384. Religiöse Dimensionen der gesellschaftlichen Entwicklung traten besonders im Rahmen einer Auffassung der Geschichtswissenschaft als Historischer Sozialwissenschaft in den Hintergrund, deren Erkenntnisinteressen vornehmlich den sozialen und ökonomischen Strukturprozessen der modernen Gesellschaft seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert galten. Vgl. Hans-Ulrich Wehler : Historische Sozialwissenschaft und Geschichtsschreibung. Studien

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Die neueren Forschungen zum 19. und 20. Jahrhundert beschäftigen sich mit Fragen des religiösen Alltags und Mentalitäten, religiösen Riten und Symbolen. In diesem Kontext sind Wallfahrten, Grabsteininschriften, Todesanzeigen, die Nutzung von Simultankirchen und Friedhöfen, konfessionelle Schulkämpfe etc. untersucht worden. Andere Arbeiten widmen sich religiösen Milieus und Erweckungen, religiösem Fundamentalismus und Rekonfessionalisierungstendenzen. Aspekte der Volksfrömmigkeit oder auch religiös geprägter Bürgerlichkeit, Formen traditioneller Kirchlichkeit oder auch vagierender Religiosität werden erforscht. Religiöse Berufsgeschichte und Sozialisation, Zusammenhänge von Religion und Kunst, Religion und Bildung, Religion und Wissenschaft, Religion und Nation, Religion und Gewalt, Religion und Migration, Religion und Globalisierung, Formen von Ersatz- und Zivilreligionen, politische Religionen, Fragen religiöser Kommunikation im Rahmen des Politischen und manches andere mehr finden das Forschungsinteresse.6 Ein entscheidender Punkt der neuen Aufmerksamkeit besteht darin, dass sich altvertraute Interpretationsangebote – und das heißt vor allem die Vorstellung einer unaufhaltsam voranschreitenden Säkularisierung – zwar nicht auflösen, aber zumindest deutlich in Frage gestellt werden. Theologisch und religionssoziologisch schon längst umstritten, gelangen auch Historiker zunehmend zu der Einsicht, dass sich die Religionsgeschichte nicht in linearen Niedergangsszenarien beschreiben lässt. Für die Zeit des 19. und die erste Hälfte des zu Aufgaben und Traditionen deutscher Geschichtswissenschaft. Göttingen 1980. Aber auch im Rahmen der Begriffsgeschichte wurde die religiöse Dimension vernachlässigt. So finden sich im maßgeblichen Historischen Lexikon zur politisch-sozialen Sprache zwar Artikel zum Thema »Christentum« und »Säkularisation, Säkularisierung«. Weiterreichende Artikel wie »Religion«, »Religiosität«, »Judentum«, »Islam« usw. fehlen. Vgl. Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. 8 Bde. Stuttgart 1972–1997. 6 Ein auch nur einigermaßen erschöpfender Nachweis der neueren Forschungen kann hier aus Platzgründen nicht erfolgen. Als erste Zugänge und Forschungsüberblicke vgl. Peter Dinzelbacher (Hrsg.): Handbuch der Religionsgeschichte im deutschsprachigen Raum. 6 Bde. Paderborn 2007–2016; Hans G. Kippenberg u. a. (Hrsg.): Europäische Religionsgeschichte. Ein mehrfacher Pluralismus. Göttingen 2009; Benjamin Ziemann: Sozialgeschichte der Religion. Von der Reformation bis zur Gegenwart. Frankfurt/M./New York 2009; Michael Klöcker : Geschichtswissenschaft: Inner- und interdisziplinäre Erweiterungen der Religionsgeschichte (Fazit 2010). In: Ders.: Religionen und Katholizismus, Bildung und Geschichtsdidaktik, Arbeiterbewegung. Frankfurt/M. 2011 (Beiträge zur Kirchen- und Kulturgeschichte, Bd. 21), S. 545–567; Monika Neugebauer-Wölk: Zur Konstituierung historischer Religionsforschung 1974 bis 2004. In: zeitenblicke 5 (2006), H. 1: URL: http://www.zeitenblicke.de/ 2006/1/Einleitung/index_html, URN: urn:nbn:de:0009–9–2755 (Zugriff am 14. 3. 2016); Michael Hochgeschwender : Religion, nationale Mythologie und nationale Identität. Zu den methodischen und inhaltlichen Debatten in der amerikanischen »New religious history«. In: Historisches Jahrbuch 124 (2004), S. 435–520; Irmtraud Götz v. Olenhusen: Die neue Religionsgeschichte. In: Christoph Cornelißen (Hrsg.): Geschichtswissenschaften. Eine Einführung. 3. Aufl. Frankfurt/M. 2004, S. 271–280.

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20. Jahrhunderts hat Olaf Blaschkes Begriff des »Zweiten Konfessionellen Zeitalters« eine gewisse Karriere gemacht. Auch Jürgen Osterhammel hat in seiner »Verwandlung der Welt« des 19. Jahrhunderts den Religionen eine zentrale Bedeutung zugewiesen. Die Religion figuriert als eine »Daseinsmacht ersten Ranges«; und es gibt nach Osterhammel »gute Gründe dafür, Religiosität, Religion und Religionen in den Mittelpunkt einer Weltgeschichte des 19. Jahrhunderts zu stellen«.7 Wenn wir zudem einen Blick auf aktuelle politische und sozialkulturelle Transformationsprozesse werfen, wird man kaum davon ausgehen können, dass sich religiöse Problemstellungen verflüchtigen werden. Ich verweise noch einmal auf die bereits eingangs zitierten zeitdiagnostischen Analysen, die sich mit der Wiederkehr der Religionen als einem gesellschaftlichen und politischen, in der Sprache der Didaktik: einem Schlüsselproblem beschäftigen.8

2.

Zur Forschungslage in der Geschichtsdidaktik

In der geschichtsdidaktischen Reflexion muss die Diskussionslage im Hinblick auf die religiöse Dimension des Historischen Lernens als offen, zuweilen auch eigentümlich ambivalent charakterisiert werden. Zum einen hat die Geschichtsdidaktik die Dimension des Religiösen nie vollständig aus den Augen verloren. Das geschah in den 1970er Jahren im Kontext der damals in Blüte stehenden Säkularisierungsthese sowie ganz generell der Neuformierung der Geschichtsdidaktik als »Sozialwissenschaft«, die Klaus Bergmann im Anschluss an die wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Diskussionen um die Geschichte als »Historische Sozialwissenschaft« [neu] zu begründen suchte. Religion kam hierbei, wie schon in den fachwissenschaftlichen Debatten, allenfalls am Rande, als eine Residualkategorie vor, die eher als Kontrastfolie zur Verdeutlichung der im Zentrum stehenden säkularen Struktur- und Transformationsprozesse der Moderne (auf den Feldern von Ökonomie und Politik, Demographie und Kultur) dienen konnte.9 Darüber hinaus ist die Religionsfrage 7 Olaf Blaschke (Hrsg.): Konfessionen im Konflikt. Deutschland zwischen 1800 und 1970: ein zweites konfessionelles Zeitalter. Göttingen 2002; vgl. auch: Anthony J. Steinhoff: Ein zweites konfessionelles Zeitalter? Nachdenken über die Religion im langen 19. Jahrhundert. In: Geschichte und Gesellschaft 30 (2004), S. 549–570. Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München 2009, S. 1239, Zitate ebd. 8 Vgl. Wolfgang Klafki: Zweite Studie: Grundzüge eines neuen Allgemeinbildungskonzeptes. Im Zentrum: Epochaltypische Schlüsselprobleme. In: Ders.: Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Zeitgemäße Allgemeinbildung und kritisch-konstruktive Didaktik (1985). 4. Aufl. Weinheim/Basel 1994. 9 Vgl. Klaus Bergmann: Geschichtsdidaktik als Sozialwissenschaft. In: Hans Süssmuth (Hrsg.): Geschichtsdidaktische Positionen. Paderborn 1980, S. 17–47. Intensiver, aber mit derselben

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seit den 1990er Jahren in Qualifikationsarbeiten einbezogen worden, so in den Dissertationen von Bettina Alavi über den »Geschichtsunterricht in der multiethnischen Gesellschaft« und Wolfgang Hasberg über die Behandlung der Kirchengeschichte sowohl im Geschichts- als auch im Religionsunterricht.10 In den empirischen Studien von Bodo von Borries zur Ausbildung des Geschichtsbewusstseins11 sowie in grundsätzlichen Überlegungen im Rahmen eines Forschungsprojekts unter Leitung von Waltraud Schreiber12 ist die religiöse Dimension ansatzweise präsent. Auch in neueren Schulbüchern, hier aber vor allem bezogen auf die jüdische Geschichte und neuerdings einen vor allem als gewaltbereit charakterisierten Islam.13 Aber das alles bleiben eher zaghafte Ansätze, fachwissenschaftlich und didaktisch keineswegs hinreichend, in der Zunft der Geschichtsdidaktiker auch ohne breite Resonanz. Der Mangel wird umso deutlicher, wenn man sich die

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geschichtstheoretischen Intention, wird die Religionsfrage von Annette Kuhn: Didaktische Kriterien für die Darstellung der Religion und der Kirchen im industriellen Zeitalter in westeuropäischen Lehrbüchern. In: Religion und Kirchen im industriellen Zeitalter. Hrsg. vom Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung. Braunschweig 1977, S. 78–92, behandelt. Bettina Alavi: Geschichtsunterricht in der multiethnischen Gesellschaft. Frankfurt/M. 1998; Dies.: Geschichtsunterricht in der multiethnischen Gesellschaft – eine neuere geschichtsdidaktische Position. In: Marko Demantowsky/Bernd Schönemann (Hrsg.): Neuere geschichtsdidaktische Positionen. Bochum 2002, S. 13–25; Wolfgang Hasberg: Kirchengeschichte in der Sekundarstufe I. Analytische, kontextuelle und konstruktiv-pragmatische Aspekte zu den Bedingungen und Möglichkeiten der Kooperation von Geschichts- und Religionsunterricht im Bereich der Kirchengeschichte. Dargestellt am Beispiel der Kreuzzugsbewegung. Trier 1994. Vgl. Bodo von Borries: Jugend und Geschichte. Ein europäischer Kulturvergleich aus deutscher Sicht. Opladen 1999 (Schule und Gesellschaft, Bd. 21), S. 290–292; Ders. u. a.: Schulbuchverständnis, Richtlinienbenutzung und Reflexionsprozesse im Geschichtsunterricht. Eine qualitativ-quantitative Schüler- und Lehrerbefragung im Deutschsprachigen Bildungswesen 2002. Neuried 2005, S. 37–60, 275–293. Auf der Basis der Ergebnisse von von Borries mit weiterreichenden Perspektiven auch: Wolfgang Hasberg: The religious dimension of social diversity and history education, in: Yearbook. International Society for History Didactics 34 (2013), S. 147–169. Waltraud Schreiber (Hrsg.): Die religiöse Dimension im Geschichtsunterricht an Europas Schulen. Ein interdisziplinäres Forschungsprojekt. Neuried 2000 (Bayerische Studien zur Geschichtsdidaktik, Bd. 2). Dieses Projekt konnte leider nicht weiter fortgeführt werden. Vgl. Martin Liepach/Dirk Sadowski (Hrsg.): Jüdische Geschichte im Schulbuch. Eine Bestandsaufnahme anhand aktueller Lehrwerke. Göttingen 2014 (Eckert. Expertise. GeorgEckert-Institut für internationale Schulbuchforschung, Bd. 3); Gerdien Jonker : The longue dur8e of the Islam-Narrative: The Emergence and the Development of a Narrative Concept in European School Textbooks. In: Dies./Shiraz Tobani (Hrsg.): Narrating Islam. Interpretations of the Muslim World in European Texts. London 2009, S. 19–40; Keine Chance auf Zugehörigkeit? Schulbücher europäischer Länder halten Islam und modernes Europa getrennt. Ergebnisse einer Studie des Georg-Eckert-Instituts für Internationale Schulbuchforschung zu aktuellen Darstellungen von Islam und Muslimen in Schulbüchern europäischer Länder. Braunschweig 2011.

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Thematisierung religionsgeschichtlicher Entwicklungen noch bis in die Schulbücher der 1970er Jahre anschaut.14 Festzuhalten ist, dass sich die Frage nach der religiösen Dimension der historischen Bildung bisher weder in den geschichtsdidaktischen Grundlagendebatten angemessen niedergeschlagen hat noch dass es hinreichende Überlegungen für die praktische Umsetzung möglicher Themen in Lehrplänen und Schulbüchern oder in Form von Unterrichtsvorschlägen gibt.15 Als problematisch erscheint die in den Lehrplänen und Lehrwerken fast ausschließliche Verbindung von Religion und Politik, durch die Religion geradezu zum Appendix des Politischen wird. Für die Moderne gilt, dass die Religion seit der Französischen Revolution, von wenigen Einsprengseln abgesehen, nicht mehr thematisiert wird. Hinzu kommen sachliche Fehler, die von einer bedenklichen Unkenntnis grundlegender kirchengeschichtlicher und theologischer Zusammenhänge zeugen, etwa wenn die Sozialideen christlicher Akteure im 19. Jahrhundert als Antworten der »Kirchen« und nicht der freien konfessionellen (»bürgerlichen«) Vereine charakterisiert werden oder der »Bekennenden Kirche« im Nationalsozialismus pauschal bescheinigt wird, sie habe außer ihrem Kampf gegen die Verfälschung des Christentums auch den Antisemitismus verurteilt.16 Insgesamt fehlt ein hinreichend reflektierter religionshistorischer Narrativ. Der Vermittlung des Religiösen mangelt es an empirischer, narrativer und normativer Triftigkeit, für die die bereits genannten Beispiele stehen und deren Mangel sich bei der Behandlung der Moderne in der ungebrochen behaupteten Säkularisierungsthese widerspiegelt.17 14 Vgl. Robert Multhoff: Religion und Kirchen im industriellen Zeitalter in der Darstellung der Lehrbücher der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. In: Religion und Kirchen im industriellen Zeitalter, hrsg. vom Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung. Braunschweig 1977, S. 114–125. 15 Der Mangel an Themenvorschlägen für die Behandlung religiöser Entwicklungen in der Moderne zeigt sich etwa auch bei der Durchsicht der Zeitschriften »Geschichte lernen« oder »Praxis Geschichte«. Auch bei Bärbel Kuhn/Astrid Windhus (Hrsg.): Religiöse Dimensionen im Geschichtsunterricht. St. Ingbert 2012 (Historica et Didactica. Fortbildung Geschichte. Ideen und Materialien für Unterricht und Lehre, Bd. 3), dominiert die Vormoderne. Etwas breiter dagegen: Harry Noormann (Hrsg.): Arbeitsbuch Religion und Geschichte. Das Christentum im interkulturellen Gedächtnis. 2 Bde. Stuttgart 2009 u. 2013. 16 Vgl. Sächsisches Staatsministerium für Kultur und Sport (Hrsg.): Lehrplan Gymnasium Geschichte. Dresden 2011, S. 33; Daniela Bender u. a. (Hrsg.): Geschichte und Geschehen. Sekundarstufe II. Leipzig 2003, S. 70; Ulrich Baumgärtner/Wolf Weigand (Hrsg.): ANNO 5: Gymnasium Sachsen. Braunschweig 2007, S. 186. Ulrich Baumgärtner hat am Beispiel des Lehrplans für das bayerische Gymnasium von 1992 von einer geradezu folkloristisch anmutenden Charakterisierung des Religiösen gesprochen. Vgl. Ders.: »Ich mache doch keinen Religionsunterricht!«. Reflexionen aus der Schulpraxis über die religiöse Dimension historischen Lernens. In: Schreiber (Anm. 12), S. 433–444, 436. 17 Vgl. Jörn Rüsen: Historische Vernunft. Grundzüge einer Historik. Bd. 1: Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft. Göttingen 1983, S. 85–116. Beispielhaft sei auf das Schulbuch von Rolf Brütting u. a.: Geschichte und Geschehen 6. Sachsen. Sekundarstufe 1. Leipzig 2010, verwiesen. Das Buch verweist mit einschlägigen Quellenzitaten auf die »islamistische

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3.

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Didaktische Konsequenzen und Perspektiven

Die nachfolgenden Bemerkungen unternehmen den Versuch, die zunächst wichtigsten Aufgaben zu beschreiben, die sich für die geschichtsdidaktische Arbeit im Hinblick auf eine angemessene Berücksichtigung der Religionsfrage stellen; und ich gehe dabei von zentralen, uns bereits zur Verfügung stehenden und in hohem Maße anschlussfähigen theoretischen Konzepten und geschichtsdidaktischen Prinzipien aus. Eine erste dringende Aufgabe sehe ich in der systematischen Wiederaneignung der religionsgeschichtlichen Problemstellung überhaupt. Und das heißt in der gegenwärtigen geschichtsdidaktischen Diskussionslage: die Religion als Potenz und in ihrer ganzen Vielfalt wahrzunehmen. Religion ist mehr als ein Appendix des Politischen. Religion ist fundamentale Sinndeutung und Alltagspraxis, Religion ist Theologie und Frömmigkeit, enthält ideologische Überformungen ebenso wie Vernunftpotentiale, ob im Judentum und Christentum oder im Islam. Es geht damit um nicht mehr und nicht weniger als die Sachangemessenheit des Gegenstandes. Dazu gehört es, Lehrpläne und Schulbücher auf der Basis fundierterer Kenntnisse über theologische, religiöse und kirchengeschichtliche Grundfragen zu gestalten. Es geht vor allem auch darum, die Geschichte nicht so eindeutig zu erzählen, wie es in der Regel geschieht. Religionskulturelle Entwicklungen lassen sich als Geschichten der Gewalt, aber auch der Friedenssehnsucht,18 der Legitimation von Diktatur und Unrecht, aber auch als deren Überwindung beschreiben. Die Rolle der Kirchen in der DDR sowie die nicht unwesentlich protestantisch inspirierte Revolution von 1989 sind dafür gute Beispiele.19 Schreckensherrschaft« und die Existenz von »Gotteskriegern« in Afghanistan (S. 60, 80) sowie auf Konflikte zwischen »Serben, Kroaten und Muslimen« auf dem Balkan (S. 68). Es werden Aussagen von Osama bin Laden zur Berechtigung des »Dschihad« gegen die USA (S. 81), Johannes Raus zum Problem der »Missachtung religiöser Gefühle und kultureller Traditionen« (S. 82) oder Joschka Fischers über die EU als »Christenclub« (S. 103) abgedruckt. Auch die Bedeutung der Kirchen für die friedliche Revolution in der DDR (S. 145) oder Aussagen von Konrad Adenauer zur Verteidigung der »christlich-europäischen Kultur« im Kontext der Wiederbewaffnung (S. 11) finden Eingang in das Schulbuch. Auf der anderen Seite wird aber, freilich in anderem Kontext, die Säkularisierung als übergreifender historischer Narrativ behauptet, denn der »Jahrhundertprozess der Säkularisation« (sic!) sei »durch die Katastrophe des Weltkrieges nur vorübergehend verzögert worden« (S. 125). 18 Beispiele dafür, ob in Judentum, Christentum und Islam, Buddhismus oder Hinduismus, bieten sich zur Genüge. Die vieldiskutierte These Jan Assmanns, wonach es eine besondere Disposition zur Gewalt in den monotheistischen Religionen gebe, ist inzwischen deutlich zurückgewiesen worden. Vgl. als guten Einstieg in die Gesamtproblematik Georg Baudler : Gewalt in den Weltreligionen. Darmstadt 2005. 19 Zur Diskussion: Trutz Rendtorff (Hrsg.): Protestantische Revolution? Kirche und Theologie in der DDR: ekklesiologische Voraussetzungen, politischer Kontext, theologische und his-

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Zur Sachangemessenheit des Gegenstandes gehört die Mehrdimensionalität der Geschichte. Das bedeutet, Religion in ihrer wechselseitigen Verschränkung mit anderen Dimensionen des Historischen, mithin mit Politik, Ökonomie, Sozialem und Kultur zu betrachten. So stellt sich für die Behandlung der Moderne im Geschichtsunterricht die Frage, wie man denn eigentlich historische Entwicklungen und Phänomene wie die Englische, Amerikanische, Französische oder auch die »Friedliche Revolution«, wie man Kolonialismus und Imperialismus, moderne Freiheitsidee und Menschenrechte, Antisklavereibewegung und Antikolonialismus, Liberalismus und Nationalismus, Nationalsozialismus und Diktatur, Emigration und Migration, Rechts- und Sozialstaat ohne den Bezug auf die Religion angemessen darstellen will, wenn man die Neuzeit nicht zu einem atomistischen, quasi geschichtslosen Projekt säkularer Selbstbezogenheit verkommen lassen will? Eine zweite notwendige Konsequenz besteht darin, den Faktor Religion im Konzept des Geschichtsbewusstseins deutlicher als bisher zu verankern. Erfreulicherweise liegen hierzu mit den Untersuchungen von von Borries wichtige Befunde vor, etwa wenn es darum geht, die Zusammenhänge zwischen religiöser Prägung, historischen Interessen und Geschichtsbewusstsein empirisch herauszustellen. Der Autor betont – auf der Basis von sozialwissenschaftlich abgesicherten Stichproben in 27 Ländern Europas im Rahmen des groß angelegten Projektes »Youth and History« –, dass der »Religionsbindung« von Kindern und Jugendlichen für das Interesse an Geschichte sowie auch elaborierteren Formen des Geschichtsbewusstseins geradezu eine »Schlüsselbedeutung« zukomme.20 Wolfgang Hasberg hat diesen Zusammenhang weiter entfaltet, indem er die Religion als einflussreiche Sinnressource auf den Ebenen des historischen Denkens (Wahrnehmung/Erfahrung, Deutung bzw. Interpretation, Orientierung/Urteilsbildung) herausstellt.21 Auch sei in diesem Zusammenhang auf die Arbeit von Christian Noack verwiesen, der – wenn auch empirisch dürftig – einen stufenweisen Aufbau des Geschichtsbewusstseins im Anschluss an die religions- und kognitionspsychologischen Studien von James W. Fowler herausarbeitet.22 Solche Zusammenhänge sind in Zukunft intensiver zu erforschen. torische Kriterien. Vorträge und Diskussionen eines Kolloquiums in München, 26.–28. 3. 1992. Göttingen 1993. 20 Von Borries (1999) (Anm. 11), S. 31, 290–292, Zitate ebd.; Ders. u. a. (2005) (Anm. 11), S. 37–60, 275–293. 21 Hasberg (2013) (Anm. 11), S. 151. 22 Christian Noack: Stufen der Ich-Entwicklung und Geschichtsbewußtsein. In: Bodo von Borries/Hans-Jürgen Pandel (Hrsg.): Zur Genese historischer Denkformen. Qualitative und quantitative empirische Zugänge. Pfaffenweiler 1994, S. 9–46 (Jahrbuch für Geschichtsdidaktik, Bd. 4); James W. Fowler : Stages of Faith. New York 1981.

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Unabhängig davon wird es darum gehen müssen, die in der Regel diskutierten Teildimensionen des Geschichtsbewusstseins, wie sie von Hans-Jürgen Pandel entwickelt worden sind, um die Kategorie eines religiös-kulturellen Bewusstseins zu erweitern. Diese Dimension ist nicht im Sinne einer glaubenden Aneignung von Religionsinhalten zu verstehen. Wohl aber geht es um die Ausbildung einer kritischen Reflexionsfähigkeit über religiöses Denken und Handeln, theologische Selbstverständnisse und Motivationen, wie sie sich in Geschichte und Gegenwart herausgebildet haben. Es ist von daher nicht nachvollziehbar, wenn Pandel in seiner »Geschichtsdidaktik« von 2013 die mit der Religion verbundenen Bewusstseinsinhalte einseitig der Theologie zuweisen will. Ebenso ließe sich das politische Bewusstsein allein der Politikwissenschaft und das ökonomisch-soziale Bewusstsein der Soziologie und den Wirtschaftswissenschaften zuordnen. Der Religion auf der Ebene der Theorie bereits die angemessene systematische Berücksichtigung zu verweigern, halte ich für problematisch.23 Das Problem ist noch gravierender, wenn man sich vergegenwärtigt, in welch hohem Maße Schülerinnen und Schüler bis hin zu Studierenden heute nicht mehr in der Lage sind, zentrale religionsgeschichtliche Entwicklungen und Grundkenntnisse zu reproduzieren und einzuordnen. Ob es die Kenntnis des Dekalogs oder die Abfolge zentraler Perioden der Kirchen- und Religionsgeschichte sind, empirische Studien verweisen auf weitreichende Unsicherheit, wenn nicht gar Unkenntnis. Noch problematischer wirkt sich ein nicht selten tiefsitzender Vorbehalt vieler Geschichtslehrer aus, die der festen Überzeugung sind: ›Wir machen hier keinen Religionsunterricht‹.24 Man mag den kulturellen Verlust beklagen, weit wichtiger aber sind die bedenklichen Folgen für historisches Lernen und Verstehen. Drittens: Mit der Ernstnahme der religiösen Dimension im Geschichtsbewusstsein ist ihre Verankerung im Konzept der Geschichtskultur zu verbinden. Sofern die Geschichtskultur die »praktisch wirksame Artikulation von Geschichtsbewusstsein im Leben einer Gesellschaft« ist,25 sofern sie sich vor allem

23 Vgl. Hans-Jürgen Pandel: Dimensionen des Geschichtsbewusstseins. Ein Versuch, seine Struktur für Empirie und Pragmatik diskutierbar zu machen. In: Geschichtsdidaktik 12 (1987), S. 130–142; Ders.: Geschichtsdidaktik. Eine Theorie für die Praxis. Schwalbach/ Ts. 2013, S. 137–150, 143f. Analog zu den von Pandel aufgestellten Dichotomien innerhalb der einzelnen Dimensionen ließen sich für die Religionsgeschichte Dichotomien wie beispielsweise »transzendent« und »immanent«, »geistlich« und »weltlich« (»säkular«) »kirchlich« und »profan« zugrunde legen, wobei die religiösen Konnotationen dieser Dichotomien per se bereits dialektisch zu fassen wären. Vgl. dazu auch meine Ausführungen unter Punkt »fünftens«. 24 Vgl. von Borries u. a. (2005) (Anm. 11), S. 54–60; Baumgärtner (Anm. 16), S. 433. 25 Vgl. Jörn Rüsen: Was ist Geschichtskultur? Überlegungen zu einer neuen Art, über Ge-

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auch hinsichtlich ihrer Institutionen, professionellen Akteure, Medien und Adressaten in Geschichte und Gegenwart beschreiben lässt,26 werden wir um das Feld einer auch religiös inszenierten Geschichtskultur nicht herumkommen. Zu denken ist an das weite Feld der kirchengeschichtlichen Vereine und Kommissionen, Ausstellungen und Projekte. Auch elektronische »Religionsspiele« etwa oder sprachliche Klischees über fremde Religionen, wie z. B. die »›jüdische Hast‹, das Schlachten ›heiliger Kühe‹« oder »der ›Bonze‹ als abwertender Terminus für Funktionär«, wären zu analysieren bzw. kritisch zu reflektieren.27 Das bevorstehende Reformationsjubiläum sowie die laufende Reformationsdekade bringen eine Vielzahl von Veranstaltungen hervor, die geschichtsdidaktisch zu analysieren sind. Sie bieten zudem die Möglichkeit, das Problem religiöser Geschichtskultur diachron vergleichend – mit Blick auf die historischen Reformationsfeiern der letzten Jahrhunderte –, aber auch synchron mit Blick auf andere Gedenkfeiern der unmittelbaren Gegenwart zu bearbeiten.28 Die Existenz einer explizit religiösen Geschichtskultur berührt die Ausbildung geschichtskultureller Kompetenz, die an den Sachfragen des Religiösen nicht scheitern darf.29 Die religiöse Dimension ist daher viertens auch auf andere Kompetenzbegriffe zu beziehen. So lassen sich zentrale Fragen der Ausbildung von Sach-, Methoden-, Orientierungskompetenz (im Sinne der Domänenspezifik und Niveaustufenbeschreibung von Kompetenzen) selbstverständlich an die Domäne der Religion richten. Das erfolgt im Kompetenzmodell Werner Heils etwa, der der Religion – neben Herrschaft, Wirtschaft usw. – einen zentralen Platz im Rahmen der Vermittlung von Sach- und Orientierungskompetenz zuweist. Problematisch bleibt an Heils Konzeption aber, dass er die religionsgeschicht-

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schichte nachzudenken. In: Klaus Füßmann u. a. (Hrsg.): Historische Faszination. Geschichtskultur heute. Köln u. a. 1994, S. 3–26, Zitat S. 5. Vgl. Bernd Schönemann: Geschichtsdidaktik und Geschichtskultur. In: Ders. u. a. (Hrsg.): Geschichtskultur. Theorie – Empirie – Pragmatik (Schriften zur Geschichtsdidaktik, Bd. 11), S. 26–58, hier bes. 50–55. Vgl. Udo Tworuschka: Vom »Visible« zum »Auditive Turn« in der Praktischen Religionswissenschaft; sowie Monika Tworuschka: Religiopolis als Beispiel virtueller Begegnung mit Religionen, beide in: Michael Klöcker/Udo Tworuschka (Hrsg.): Praktische Religionswissenschaft. Ein Handbuch für Studium und Beruf. Köln 2009, S. 76–83; 287–292; Zitate: Klöcker (Anm. 6), S. 565; vgl. auch Abdoldjavat Falaturi u. a. (Hrsg.): Religionsgeschichte in der Öffentlichkeit. Köln 1983. Hartmut Lehmann: Luthergedächtnis 1817 bis 2017. Göttingen 2012 (Refo 500 Academic Studies); Frank-Michael Kuhlemann/Justus H. Ulbricht/ Thomas A. Seidel (Hrsg.): »Deutscher Mann«, »Rebell« und »Held«. Lutherverehrung und Lutherkult seit 1800. Quellen zu einem erinnerungskulturellen Phänomen (erscheint 2017). Zum Problem religiöser Erinnerungskultur am Beispiel des deutschen Protestantismus Frank-Michael Kuhlemann: Erinnerung und Erinnerungskultur im deutschen Protestantismus. In: Zeitschrift für Kirchengeschichte 119 (2008), S. 30–44; zum Konzept geschichtskultureller Kompetenz: Pandel (2013) (Anm. 23), S. 232–239.

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liche Entwicklung offensichtlich nur im Rahmen eines am europäischen Säkularisierungsmodell orientierten Schemas zu verorten weiß.30 Hier werden Geschichtsbilder transportiert, die der fachwissenschaftlichen Debatte nicht gerecht werden und die jede Form von Kontroversität über den Verlauf historischer Religionsentwicklung vermissen lassen. Damit ist fünftens das Problem einer angemessenen Gegenwarts- und Zukunftsorientierung als eines tragenden geschichtsdidaktischen Prinzips angesprochen. Unsere Gegenwart ist keine eindeutig säkularisierte. Und es geht darum, sie als prinzipiell offen – zumal religionsgeschichtlich keineswegs klar konturierbar – zu begreifen. Die Aufgabe der Geschichtsdidaktik muss es in dieser Hinsicht sein, das historische Lernen in den kontroversen Zusammenhang vielfältiger, möglicherweise sich widersprechender religionskultureller Entwicklungen der Gegenwart und erwartbaren Zukunft zu stellen. Dazu gehört es u. a., religiöse Einstellungsmuster von Kindern und Jugendlichen angemessen zu analysieren, denn diese reichen von einem weit verbreiteten religiösen Analphabetismus über entkirchlichte Formen von Religiosität im Sinne zusammengebastelter Patchwork-Identitäten und »bricolage-Konzepte« bis hin zu traditionellen Religionsformen und fundamentalistischen Glaubensüberzeugungen; letztere sind nicht selten unter Migrantenkindern verbreitet.31 Eine angemessene Analyse der Gegenwart bedeutet ferner, die religionsgeschichtliche Entwicklung Europas möglicherweise als einen Sonderweg begreifen zu lernen, der sich von anderen Entwicklungen unterscheidet.32 Zu verweisen ist dabei auf beträchtliche Zugewinne der christlichen Religion und Konfessionen in Ländern und Regionen wie Südkorea und China, Lateinamerika und den USA, von der Herrschaft des Religiösen in islamisch geprägten Ländern und Regionen ganz zu schweigen. Der Verweis auf solche Entwicklungen muss nicht bedeuten, dass damit das Säkularisierungsmodell ad acta zu legen ist, weil es Hinweise darauf gibt, dass auch in religiös zeitweise aufstrebenden Ländern bei steigendem Wohlstand – und damit im Sinne älterer modernisierungs30 Vgl. Werner Heil: Kompetenzorientierter Geschichtsunterricht. 1. Aufl. Stuttgart 2010 (Geschichte im Unterricht, Bd. 1), dort die tabellarische Übersicht zur Orientierungskompetenz, S. 72. Zur Kritik an Heils westlich-europäisch ausgerichteter Modellvorstellung schon Andreas Körber : Rezension zu Werner Heil: Kompetenzorientierter Geschichtsunterricht. Stuttgart 2010. URL: http://Koerber/2005.erzwiss.uni-hamburg.de/wordpress-mu/ historisc (Zugriff am 22. 03. 2016). 31 Vgl. etwa Norbert Scholl: Religiös ohne Gott. Warum wir heute anders glauben. 2. Aufl. Darmstadt 2011; darüber hinaus die aktuellen religionskulturellen Erhebungen: Bertelsmann-Stiftung (Hrsg.): Religionsmonitor – verstehen was verbindet. Religiosität und Zusammenhalt in Deutschland. Gütersloh 2013; Engagement und Indifferenz. Kirchenmitgliedschaft als soziale Praxis. V. EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft. Hannover 2014; MDG-Trendmonitor Religiöse Kommunikation 2010 (durchgeführt vom Institut für Demoskopie Allensbach). München 2010. 32 Vgl. Lehmann (Anm. 2).

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theoretischer Vorstellungen – die religiösen Revivals wieder abflauen.33 Das sind aber offene Fragen, die nicht im Vorhinein apodiktisch entschieden werden können, sondern die didaktisch zu reflektieren sind. Die Gegenwarts- und Zukunftsorientierung machen es schließlich notwendig, die Säkularisierungsfrage im Hinblick auf theologische, religionsphilosophische und religionssoziologische Modelle zu erörtern, weil man Säkularisierung als ein Konzept verstehen kann, das in der jüdisch-christlichen Religionsgeschichte angelegt ist und in the long run zu einer Durchdringung »säkularer« Gesellschaften mit christlichen Werten führt – etwa, indem tragende Sozialideen und Vernunftpotentiale, Individualitätsforderungen und Gewissensethiken, Freiheits- und Gerechtigkeitsvorstellungen als politisch und gesellschaftlich verbindliche Normen übernommen werden.34 Sechstens: Das bereits angeschnittene Problem der Kontroversität steht bei Klaus Bergmann im Kontext der Frage nach der Multiperspektivität der Akteure. Zu dieser zählen die Perspektivität der Herrschenden und der »Leidenden«.35 Für die damit verbundenen unterschiedlichen Zugänge bieten sich in religionsgeschichtlicher Hinsicht vielfältige Beispiele an: der vergleichende Blick auf Kirchen und Sekten, auf Pfarrherren und Märtyrer, auf Bischöfe und Bauern, aber auch auf Staat und Kirche usw. Das Bergmannsche Konzept ist darüber hinaus mit Blick auf die unterschiedlichen Perspektiven von Juden und Christen, Muslimen und Atheisten zu erweitern – nicht nur als Zeitgenossen in der Geschichte, sondern als spätere, kontrovers urteilende Betrachter und Historiker.36 Siebtens: Die Bergmannsche Unterscheidung von Personalisierung und Personifizierung ist als wichtiges geschichtsdidaktisches Prinzip für die Rekon33 Vgl. Detlef Pollack: Kehren die Götter zurück, oder verschwinden sie gerade? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29. 4. 2015, S. N 3; Ders. (2003) (Anm. 2); Ders. (2009) (Anm. 2); Petra Kolonko: Wenn Mao keinen Sinn mehr stiftet. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11. 2. 2015, S. 3. 34 Vgl. im Anschluss an Hegel bereits Richard Rothe: Theologische Ethik. 5 Bde. 2. Aufl. Waltrop 1991; Friedrich Gogarten: Verhängnis und Hoffnung der Neuzeit. Die Säkularisierung als theologisches Problem. 2. Aufl. Stuttgart 1958. Der amerikanische Soziologe Talcott Parsons konnte pointiert formulieren, dass »modern society is more in accord with christian values than its forbears«, zit. n. Hartmann Tyrell: Transferbericht. In: Geschichte und Gesellschaft (22) 1996, S. 428–457, 447f. 35 Vgl. Klaus Bergmann: Multiperspektivität. Geschichte selber denken. Schwalbach/Ts. 2004; Ders.: Multiperspektivität. In: Ulrich Mayer u. a. (Hrsg.): Handbuch Methoden im Geschichtsunterricht. Schwalbach/Ts. 2004. 36 Vgl. Gisbert Gemein (Hrsg.): Kulturkonflikte – Kulturbegegnungen. Juden, Christen und Muslime in Geschichte und Gegenwart. Bonn 2011 (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 1062); anhand der Kreuzzugsgeschichte unlängst: Hansjörg Biener : Die Kreuzzüge in deutschen Religions- und Geschichtsbüchern. Analysen zur Verbesserung ihrer Darstellung. Berlin 2014. Vgl. auch Elisabeth Erdmann: Crusades and peaceful coexistence in the Near East? And what do current history textbooks tell? In: Yearbook. International Society for History Didactics 34 (2013), S. 73–86.

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struktion des Religiösen in Geltung zu bringen.37 Zu fragen ist: Wie sollen die religiösen und kirchlichen Entwicklungen dargestellt werden bzw. wer soll im Zentrum des Interesses stehen? Bonifatius, Luther, die großen Kirchenführer und religiösen Virtuosen? – Oder eben auch die Vielen, die Namenlosen, die Leidenden, die Sekten und die Missionierten? Die empirischen und entwicklungspsychologischen Erkenntnisse, über die wir verfügen, bieten uns in dieser Hinsicht Anhaltspunkte, wenn auch noch längst nicht ausreichende. Die Bedeutung der religiösen Dimension ist achtens im Kontext des von Bettina Alavi geforderten »Geschichtsunterrichts in der multiethnischen Gesellschaft« deutlicher zu konturieren als bisher. Es müsste in Zukunft vor allem darum gehen, die zunehmend »religiöse[n] Codierungen im Migrationsdiskurs« in den Blick zu nehmen.38 Beispiele dafür lassen sich zur Genüge finden. Insgesamt stehen die schwierigen Fragen des Verhältnisses von Ethnizität und Religion zur Debatte. Vor allem geht es mit Blick auf das Zusammenleben in multiethnischen Gesellschaften um Konflikt und Konfliktlösung, die nicht zuletzt – fast überflüssig das hier zu sagen – unter dem Einfluss der Religionen ihre konkrete Gestalt gewonnen haben.39 Die Herausforderung durch die Religionen hat im übrigen nicht nur zu einer dumpfen Politisierung unter rechtspopulistischen Bewegungen wie Pegida geführt, sondern scheint unter liberalen Intellektuellen wie Jürgen Habermas und anderen zu einer Neubesinnung auf die jüdisch-christlichen Wurzeln der europäischen Identität zu führen.40 Hier findet offensichtlich unter völlig verschiedenen Prämissen und Wertvorstellungen eine religiös fundierte Umcodierung eines lange Zeit vermeintlich säkularen europäischen Identitätspostulats statt. Auch das ist didaktisch zu reflektieren, weil es kontroverse Deutungsmuster für die Darstellung der Religionsgeschichte eröffnet. Ein neunter Punkt ist, die Religionsgeschichte im Konzept einer Globalgeschichte stärker zu konturieren. Jürgen Osterhammel hat in »Die Verwandlung der Welt« die immense Bedeutung des Religiösen und der Religionen für eine 37 Klaus Bergman: Personalisierung im Geschichtsunterricht – Erziehung zur Demokratie? Stuttgart 1972; Ders.: Personalisierung, Personifizierung. In: Ders. u. a. (Hrsg.): Handbuch der Geschichtsdidaktik. 5. überarb. Aufl. Seelze 1997. 38 Vgl. Thomas Mittmann: Säkularisierungsvorstellungen und religiöse Identitätsstiftung im Migrationsdiskurs. Die kirchliche Wahrnehmung »des Islams« in der Bundesrepublik Deutschland seit den 1960er Jahren. In: Archiv für Sozialgeschichte 51 (2011), S. 267–289, Zitat: S. 273. 39 Gemein (Anm. 36); Astrid Reuter : Religionen im Prozess von Migration. Eine Fallstudie: Muslimische Migration nach Deutschland und Frankreich im 20. Jahrhundert. In: Kippenberg u. a. (Anm. 6), S. 371–410; Jan Fuhse: Religion in der Migration. Ein Blick auf das Einwanderungsland Deutschland. In: Vorgänge 73 (2006), S. 54–62. 40 Jürgen Habermas: Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze, Frankfurt/M. 1988; Ders.: Nachmetaphysisches Denken II. Aufsätze und Repliken. Berlin 2012.

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Weltgeschichte des 19. Jahrhunderts herausgestellt.41 Und es ergeben sich Fragen, wie religionsgeschichtliche Aspekte in den Unterricht zu integrieren sind. Ich möchte in dieser Hinsicht Susanne Popp zustimmen, wenn sie mit Blick auf globalgeschichtliche Aspekte für eine reflektierte Beziehungsgeschichte plädiert, die es ermöglicht, »Weltzusammenhänge« zu erkennen.42 Beziehungsgeschichten lassen sich auch für den Fall der Religionsentwicklung immer wieder rekonstruieren. Zu denken ist an die Geschichte der christlichen Missionen, »Konfessionsmigrationen«, »Antisklavereibewegung« und vieles andere mehr. Solche Themen böten die Möglichkeit, das Globale im Lokalen (»Glokalen«) wiederzufinden.43 Ich komme zu einem zehnten und letzten Punkt. Vermutlich ist es der schwierigste: In Anbetracht neuer und veränderter Perspektiven sowie knapp bemessener Unterrichtszeit, auch in Anbetracht gleichzeitig formulierbarer Ansprüche anderer Fachdisziplinen stellt sich die didaktische Kardinalfrage nach der Auswahl von Themen im Geschichtsunterricht.44 Ich kann diese Frage hier nicht hinlänglich beantworten, weil sie eine grundlegende geschichts- und allgemeindidaktische Debatte voraussetzt. Mein Grundargument in dieser Hinsicht ist aber, dass wir in Anbetracht einer sich vielfältig verändernden Welt und eines sich ständig erweiternden Wissensbestandes um eine grundlegende Neuorganisation unseres Unterrichts nicht herumkommen werden. Dazu gehört eine stärker als bisher erfolgende kategoriale Bestimmung von Unterrichtsthemen.45 Möglicherweise steht in absehbarer Zeit gar eine neue Curriculumdis41 Vgl. Osterhammel (Anm. 7). 42 Susanne Popp: Weltgeschichte im Geschichtsunterricht? Geschichtsdidaktische Überlegungen zum historischen Lernen im Zeitalter der Globalisierung. In: Dies./Johanna Forster (Hrsg.): Curriculum Weltgeschichte. Globale Zugänge für den Geschichtsunterricht, Schwalbach/Ts. 2. Aufl. 2008, S. 88. 43 Der Begriff des »Glokalen« bei Popp (Anm. 42) in Anlehnung an Ulrich Beck. Vgl. Hartmut Rudolph: Flucht/Flüchtlingsfürsorge. In: Theologische Realenzyklopädie 11 (1983), S. 224–240; Harm Klueting: Katholische Konfessionsmigration (2012). In: Europäische Geschichte Online. URL: http://ieg-ego.eu/de/threads/europa-unterwegs/christliche-kon fessionsmigration/harm-klueting-katholische-konfessionsmigration (Zugriff am 15. 3. 2016); Birgitta Bader-Zaar: Abolitionismus im transatlantischen Raum: Organisationen und Interaktionen der Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei im späten 18. und 19. Jahrhundert (2010). In: Europäische Geschichte Online. URL: http://ieg-ego.eu/de/ threads/transnationale-bewegungen-und-organisationen/internationale-soziale-bewegun gen/birgitta-bader-zaar-abolitionismus-im-transatlantischen-raum-abschaffung-dersklaverei (Zugriff am 15. 3. 2016). 44 So schon Bernd Schönemann: Die Dimension des Religiösen. Historisch-didaktische Befunde und Reflexionen. In: Schreiber (Anm. 12), S. 411–432, der vor allem »Längsschnitte« als methodischen Zugang vorschlägt. 45 Vgl. Bodo von Borries: Inhalte oder Kategorien? Überlegungen zur kind-, sach-, zeit- und schulgerechten Themenauswahl für den Geschichtsunterricht. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 46 (1995), S. 421–436.

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kussion an. Unter den gegebenen Bedingungen (die wir als Geschichtsdidaktiker ja nicht so ohne weiteres verändern können) schlage ich zunächst fünf Kriterien vor, um zu einer reflektierteren Berücksichtigung religionsgeschichtlicher Inhalte zu gelangen: a) Religion muss als fundamentale Sinnorientierung, als alltägliche Lebensmacht, als Frömmigkeit und Mentalität, als Weltdeutung und kulturelles Handeln in der Vormoderne wie in der Moderne erkennbar werden. b) Religion hat politische Implikationen. Das soll keineswegs vergessen werden, darf aber nicht zum einzigen Kriterium ihrer Berücksichtigung im Geschichtsunterricht werden. Auch müssen geradezu diametral entgegengesetzte Funktionen von Religion deutlich zum Ausdruck kommen: die Legitimation und Stabilisierung von Herrschaft ebenso wie ihre Delegitimation und Erschütterung, auch ihre modernisierenden und liberalisierenden Elemente bzw. die ihr innewohnenden Vernunftpotentiale. c) Religion ist im Zusammenhang multiethnischen Zusammenlebens zu thematisieren. Dabei sind bei der historischen Rekonstruktion Fragen nicht nur des Konflikts, sondern vor allem auch der friedlichen Kohabitation herauszuarbeiten. d) Religion ist sowohl im nationalen und lokalen, ebenso wie im europäischen und weltweiten Kontext zu thematisieren. Bezogen auf den lokalen Kontext sei darauf verwiesen, dass sich dieser Ansatz vor allem wohl für Grundschulkinder, wenn auch keineswegs allein für diese, eignet. e) Religion unterliegt dem historischen Wandel und ist in ihren Erscheinungsformen vielfältig. Eindeutige Richtungskriterien der Religionsentwicklung lassen sich nicht ausmachen und können, da sie u. a. auch vom Religionsbegriff abhängen, nur kontrovers erörtert werden.

Thomas Sandkühler

Geschichtsdidaktik und Geschichtswissenschaft

1.

Einleitung

Die Geschichtsdidaktik galt sich selbst schon vor drei Jahrzehnten als »schwierige« Disziplin; heute erscheint sie manchem Außenstehenden als »problematische Disziplin«.1 Einerseits wird ihr die Befähigung zu einem »Pyrrhussieg« attestiert, andererseits wird die Geschichtsdidaktik verbal zu einem Fach marginalisiert, das »mehr Kraft auf die Selbstfindung verwendet als auf ihr beanspruchtes Forschungsfeld.«2 Solche Urteile sind nicht besonders originell. Schon Ende der 1970er Jahre beklagte ein namhafter Historiker »die immer selbstbewußteren Einflußansprüche einer zunehmend professionalisierten, separat sich etablierenden Didaktik (mit einem schnell wechselnden, aber doch Eigenständigkeit demonstrierenden Fachjargon)«, durch welche sich »die Fachwissenschaft zunehmend in Verteidigungsstellung« getrieben sehe.3 Offenbar stieß die kurz zuvor gefundene Formel, Geschichtsdidaktik, Ge-

1 Annette Kuhn: Geschichtsdidaktik seit 1968. Zur Entstehungsgeschichte einer schwierigen wissenschaftlichen Disziplin. In: Klaus Bergmann/Gerhard Schneider (Hrsg.): Gesellschaft – Staat – Geschichtsunterricht. Beiträge zu einer Geschichte der Geschichtsdidaktik und des Geschichtsunterrichts von 1500–1980. Düsseldorf 1982, S. 415–443; Stefan Jordan: Die Entwicklung einer problematischen Disziplin. Zur Geschichte der Geschichtsdidaktik. In: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 2 (2005), H. 2, http://www.zeit historische-forschungen.de/16126041-Jordan-2-2005 (aufgerufen am 10. 9. 2015), Abschnitt 3. 2 Martin Sabrow: Nach dem Pyrrhussieg. Bemerkungen zur Zeitgeschichte der Geschichtsdidaktik. In: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 2 (2005), H. 2, http://www.zeithistorische-forschungen.de/2-2005/id=4668 (aufgerufen am 10. 9. 2015), bes. Abschnitt 1. 3 Jürgen Kocka: Sozialgeschichte – Strukturgeschichte – Historische Sozialwissenschaft. Vorüberlegungen zu ihrer Didaktik. In: Klaus Bergmann/Jörn Rüsen (Hrsg.): Geschichtsdidaktik: Theorie für die Praxis. Düsseldorf 1978 (Geschichtsdidaktik. Studien, Materialien, Bd. 4), S. 14–30, hier S. 27.

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schichtsforschung und Geschichtstheorie seien gleichwertige Bestandteile der Geschichtswissenschaft, nicht überall auf Zustimmung.4

2.

Geschichtsdidaktik als Fachdidaktik

Die heutige Geschichtsdidaktik wurde in den 1970er Jahren als Subdisziplin der Geschichtswissenschaft auf den Weg gebracht. Daran war vieles gut und richtig.5 Denn Geschichtsdidaktiker sind Historikerinnen und Historiker, jedenfalls in erster Linie, weil sie über vergangene Wirklichkeit handeln: inhaltlich über die Ergebnisse eigener oder fremder historischer Forschung, intentional über die Distribution historischen Wissens und seiner geschichtskulturellen Ausdrucksformen an die Nachgeborenen, nicht nur, aber doch ganz wesentlich im schulischen Zusammenhang. Gelegentlich – wohl auch in dieser Sektion – wird die Auffassung vertreten, die Geschichtsdidaktik zeichne sich durch ihre Inter- oder Transdisziplinarität aus, finde ihre Mitte also gewissermaßen in der Fähigkeit, Anregungen aus den verschiedensten Wissensgebieten aufzunehmen. Diese These steht keineswegs im Widerspruch zu einer fachdidaktischen Geschichtsdidaktik. Denn auch die Geschichtswissenschaft unserer Tage überschreitet als experimentierfreudige »Schwammwissenschaft« beständig die Grenzen ihrer Bezugsdisziplinen.6 Ein prominentes Beispiel ist die zunehmend wichtige Rolle der Geschichtskultur bzw. Public History in der Zeitgeschichtsforschung, und nicht nur auf diesem Gebiet sind in den letzten rund zwei Jahrzehnten Fragestellungen, Methoden und Arbeitsfelder der Geschichtsdidaktik Allgemeingut der Geschichtswissenschaft geworden.7 Insofern hat es die heutige Geschichtsdidaktik zugleich leichter und schwerer als in den Zeiten ihres jüngsten Aufbruchs: leichter, weil die Geschichtswissenschaft ihren Gegenstandsbereich um Vermittlungs- und Rezeptionsfragen erweitert hat, so dass die fachliche Kommunikation im Grunde besser funktionieren könnte; schwerer, weil die fachlichen Propria der Geschichtsdidaktik 4 Erich Kosthorst (Hrsg.): Geschichtswissenschaft. Didaktik – Forschung – Theorie. Göttingen 1977. 5 Anders Christian Heuer : Sound des Mainstreams. Geschichtsdidaktik am Scheideweg. In: Public History Weekly 1 (2013), H. 7, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2013–466 (aufgerufen am 4. 9. 2014), der die Geschichtsdidaktik auf die Rolle einer »Reflexionswissenschaft« beschränkt sehen will, freilich unter Einbeziehung von »verschüttgegangenen Traditionen des Faches«. 6 Paul Nolte: Hans-Ulrich Wehler. Historiker und Zeitgenosse. München 2015, S. 151f. 7 Marko Demantowsky : »Public History« – Aufhebung einer deutschsprachigen Debatte? In: Public History Weekly 3 (2015), H. 2, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2015–3292 (aufgerufen am 4. 9. 2015).

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von Teilen der Historikerzunft in Frage gestellt werden.8 Und da der schulische Geschichtsunterricht zunehmend an Boden verliert, droht unser Fach auch diejenige Basis seines Tuns zu verlieren, auf die sich das ›Alleinstellungsmerkmal‹ der Geschichtsdidaktik gründet.9 Ein Problem für den fachlichen Status der Geschichtsdidaktik entsteht aus dem zunehmend selbstbewussten Einflussanspruch der Geschichtswissenschaft (namentlich der Zeitgeschichtsforschung) dann, wenn sie deren Unterstellung unwidersprochen hinnimmt, nur die Erforschung der Public History sei geschichtswissenschaftlich integer. In solchen Unwerturteilen wird die traditionelle Verachtung der Didaktik fortgeschrieben, die der Münsteraner Historiker Karl-Ernst Jeismann schon vor vier Jahrzehnten treffend als »Mischung von Besorgnis und Geringschätzung« charakterisiert hat.10 An der Klugheit zeitgeschichtlicher Aus- und Abgrenzungen darf man ohnedies zweifeln. Denn die Geschichtswissenschaft insgesamt ist nur noch eine unter vielen Stimmen im Chor der öffentlichen Beschäftigung mit Geschichte. Obwohl Geschichtliches geschichtskulturell in hohem Kurs steht, ist keineswegs ausgemacht, dass Clio als Wissenschaft von der Geschichte weiterhin hörbar sein wird.11 In dieser Situation sollten Geschichtsforschung und Geschichtsdidaktik kooperieren, um die Rationalitätsstandards ihrer Disziplin zu verteidigen. Die Geschichtsdidaktik braucht die Offenheit zu den Nachbarfächern, um lebendig zu bleiben; sie braucht aber auch einen festen disziplinären Kern, der sie unverwechselbar macht. Gemeinhin wird dieser Kern mit dem Begriff »Geschichtsbewusstsein« umschrieben. Die Frage, ob die Geschichtsdidaktik unter dem Leitbegriff der »Geschichtskultur« darüber hinaus oder stattdessen als historische Kulturwissenschaft definiert werden soll, wird im Fach kontrovers beurteilt.12

8 Vgl. Anm. 1 und Anm. 2. 9 Alois Ecker : Well educated professionals to teach the next generation of European citizens? First results of the CHE-Study on civic and history teachers’ education in Europe. Summary [2013], http ://che.itt-history.eu/fileadmin/CHE_template/pdf_test/doc_7.4_Summary. pdf (aufgerufen am 10. 9. 2015), S. 8–10. 10 Karl-Ernst Jeismann: Didaktik der Geschichte. Die Wissenschaft von Zustand, Funktion und Veränderung geschichtlicher Vorstellungen im Selbstverständnis der Gegenwart. In: Kosthorst (Anm. 4), S. 9–33, hier S. 11. 11 Paul Nolte: Öffentliche Geschichte. Die neue Nähe von Fachwissenschaft, Massenmedien und Publikum: Ursachen, Chancen und Grenzen. In: Michele Barricelli/Julia Hornig (Hrsg.): Aufklärung, Bildung, »Histotainment«? Zeitgeschichte in Unterricht und Gesellschaft heute. Frankfurt a. M. 2008, S. 131–146, hier S. 143; Ders. (Anm. 6), S. 164–166. 12 Wolfgang Hasberg: Methoden geschichtsdidaktischer Forschung. Problemanzeige zur Methodologie einer Wissenschaftsdisziplin. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 1 (2002), S. 59–77; Hans-Jürgen Pandel: Geschichtsdidaktik. Eine Theorie für die Praxis. Schwalbach/ Ts. 2013, S. 6f., S. 32–37; Thomas Sandkühler: Die Geschichtsdidaktik der Väter. Zur Kul-

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In diesem Beitrag soll keiner Hierarchie mit dem Ziel das Wort geredet werden, die Pädagogik oder die Psychologie, die empirische Sozialforschung, die Religionswissenschaften oder die Politikwissenschaft auszugrenzen. Ich spreche mich aber dafür aus, die Kooperation mit der historischen Forschung zu intensivieren. Dieses Plädoyer soll im Folgenden zunächst disziplingeschichtlich, sodann in einer aktuellen Bestandsaufnahme und schließlich mit Blick auf künftige Aufgabenstellungen knapp begründet werden.

3.

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Die Geschichtsdidaktik gewann ihr eigenständiges Profil in Absetzung von einem staatsfrommen Verständnis der Politikwissenschaft. Dieser Entstehungszusammenhang ist heute weitgehend in Vergessenheit geraten, obwohl die Geschichtsdidaktik auch heute gute Gründe hätte, sich gegen bestimmte Geltungsansprüche der politischen Bildung abzugrenzen.13 »Im ewigen Kampf zwischen aktueller Staatsmacht und der Zukunftsoffenheit der Gesellschaft«, forderte der Gießener Didaktiker Friedrich Lucas Mitte der 1960er Jahre, »muß […] die Didaktik dem Lehrer Hilfen geben, sich aus einem ›Unterrichtsbeamten‹ zum verantwortlichen Träger einer dritten Gewalt zu entwickeln, sonst verfehlt sie ihren Auftrag im Interesse des Heranwachsenden. Eben deshalb darf die Reduzierung des Geschichtsbewußtseins auf das unmittelbar Nachwirkende […] nicht bloßes Bedauern unter Historikern bleiben, sondern muß sich in der Offenheit geschichtlicher Orientierung tätig korrigieren.«14 Die Politikwissenschaft jener Zeit beanspruchte Deutungshoheit über die Zeitgeschichte, die gemäß dem seinerzeit kanonischen Modell der totalitären Diktatur politische Legitimationsansprüche erfüllen sollte.15 Die professionelle Zeitgeschichtsforschung distanzierte sich zwar von der These, Nationalsozialismus und Kommunismus seien wesensgleich.16 Aber im schulischen Kontext

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turgeschichte der siebziger Jahre. In: Michael Wildt (Hrsg.): Geschichte denken. Perspektiven auf die Geschichtsschreibung heute. Göttingen 2014, S. 260–279. S. u. Anm. 51. Friedrich J. Lucas: Der Beitrag des Geschichtsunterrichts zur politischen Bildung [1966]. In: Ders.: Geschichte als engagierte Wissenschaft. Zur Theorie einer Geschichtsdidaktik, hrsg. v. Ursula A. J. Becher u. a., Stuttgart 1985, S. 70–88, zit. S. 80. KMK-Empfehlung Ostkunde an Schulen und Hochschulen, 13. 12. 1956; KMK-Beschluss über die Behandlung der jüngsten Vergangenheit im Geschichtsunterricht, 11./12. 2. 1960; KMK-Beschluss Richtlinien für die Behandlung des Totalitarismus im Unterricht, 5. 7. 1962. In: Karl Borcherding (Hrsg.): Wege und Ziele politischer Bildung in Deutschland. Eine Materialsammlung zur Entwicklung der politischen Bildung in den Schulen 1871–1965. München 1965, S. 88–94, 99–101. Karl-Dietrich Bracher : Zeitgeschichtliche Kontroversen. Um Faschismus, Totalitarismus, Demokratie. München/Zürich 1984.

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blieb der schematische Diktaturvergleich noch lange maßgeblich und verband sich dort mit der fragwürdigen Selbstwahrnehmung der Deutschen als Opfer kommunistischer Gewaltherrschaft.17 Lucas stand mit seiner Reserve gegen staatliche Bildungsaufträge jedweder Couleur unter dem Eindruck des Nationalsozialismus, den er als junger Mann erlebt hatte.18 Andererseits distanzierte er sich von einer Verkürzung des Geschichtsbewusstseins auf die Zeitgeschichte und plädierte für den Einbezug von Strukturen langer Dauer im Sinne der französischen Annales-Schule in die weitgehend ereignisgeschichtlich orientierte Historiographie seiner Zeit.19 Die Vergangenheit sollte durch die Bildung vernunftgeleiteter Werturteile kritisiert, die Gegenwart durch historisches Begreifen diskursiv verflüssigt und die Offenheit der Zukunft gegen technokratischen Fortschrittsglauben zur Geltung gebracht werden.20 Die damals junge Sozial- und Gesellschaftsgeschichte wies deutliche Affinitäten zu solchen geschichtsdidaktischen Leitvorstellungen auf.21 Die Geschichtsdidaktik entwickelte gleichzeitig ein ungleich höheres theoretisches Argumentationsniveau, als es bislang üblich gewesen war.22 Nicht trotz, sondern wegen dieser Modernisierungsleistungen wurden Geschichtsdidaktiker zu geeigneten Partnern des eher fachkonservativ auftretenden Historikerverbands bei der Abwehr von Angriffen auf die Existenzberechtigung des eigenständigen Schulfachs Geschichte und der gymnasialen Geschichtslehrerausbildung. Der rasante Aufstieg der Geschichtsdidaktik an den bundesdeutschen Universitäten erklärt sich nicht zuletzt aus dieser paradoxen Bündniskonstellation.23 Die Geschichtsdidaktik wurde überwiegend in geschichtswissenschaftlichen Fachbereichen institutionalisiert, die traditionell für die Gymnasiallehreraus17 Bodo von Borries: The Third Reich in German History Textbooks since 1945. In: Journal of Contemporary History 38 (2003), S. 45–62. 18 Friedrich J. Lucas: Drei akute Fragen zum Geschichtsunterricht [1970]. In: Lucas (Anm. 14), S. 20–38, hier S. 21f. 19 Ders.: Marc Bloch, die »Annales« und die »Apologie der Geschichte«. In: Marc Bloch: Apologie der Geschichte oder Der Beruf des Historikers [1949], übers. v. Siegfried Furtenbach (Anmerkungen und Argumente zur historischen und politischen Bildung, Bd. 9). Stuttgart 1974, S. 7–23, auch in Lucas (Anm. 14), S. 57–69. 20 Lucas (Anm. 14). 21 Kocka (Anm. 3), S. 26–28. 22 Kuhn (Anm. 1); Pandel (Anm. 12), S. 84–105; Thomas Sandkühler : Biographie und/als historisches Lernen. Generationen, Konflikte und Deutungsmuster in der Geschichtsdidaktik der Siebzigerjahre. In: Ders. (Hrsg.): Historisches Lernen denken. Gespräche mit Geschichtsdidaktikern der Jahrgänge 1928–1947. Mit einer Dokumentation zum Historikertag 1976. Göttingen 2014, S. 7–34, hier S. 22–27. 23 Thomas Etzemüller : Sozialgeschichte als politische Geschichte. Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945. München 2001, S. 187–190, S. 331–334.

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bildung zuständig waren. Disziplinär lag insofern kein Bruch mit der bislang dominierenden Praxis der Lehrerausbildung für das mittlere Schulwesen an Pädagogischen Hochschulen vor. Die PH-Professoren – und wenigen Professorinnen – waren ihrer Denomination nach allerdings durchweg für eine Epoche und »ihre Didaktik« zuständig. Fachhistorische Ansprüche und Selbstverständnisse waren der Profilierung der Geschichtsdidaktik als eigenständiger Disziplin daher nicht immer förderlich.24 Karl-Ernst Jeismann kritisierte auf dem Mannheimer Historikertag 1976 ein Verständnis von Geschichtsdidaktik, das sich aus der allgemeinen Didaktik oder der Pädagogik herleitete. Er polemisierte umgekehrt aber auch gegen die damals – und wohl noch heute – gängige Vorstellung, die historische Forschung stelle objektive Erkenntnisse für die didaktische Reduktion bereit, die man gemeinhin mit der Unterrichtspragmatik gleichsetzte und der Geschichtsdidaktik als Aufgabengebiet minderen Rechts zuwies.25 Jeismanns einflussreiches Referat ging letztlich einher mit der Zurückweisung der »kritisch-kommunikativen« Didaktik und ihres Anspruchs, Lernende durch den Geschichtsunterricht zur Emanzipation von institutionellen Zwängen der Gesellschaft zu befähigen.26 Das Jahr 1976 markierte insoweit den Abschluss der tiefgreifenden Debatte um die Hessischen Rahmenrichtlinien Gesellschaftslehre. Der Mannheimer Historikertag leitete zu einer Konsolidierung des Fachs auf dem erreichten Institutionalisierungsniveau über.27 Jeismann appellierte an die Geschichtswissenschaft, »die Didaktik der Geschichte als ihre eigene Disziplin« anzuerkennen und voranzutreiben, indem in der Forschung selbst die Didaktik als die Frage nach dem »Willen, der Bedingtheit und der Wirkung von Forschung« systematisch zur Geltung gebracht werde. Allein schon dadurch, dass sich praktische Geschichtsforscher mit dieser didaktischen Grundfrage beschäftigten, könne, so Jeismann, eine »enge Verbindung von Forschung, Historik und Didaktik« gewährleistet werden.28 Sein Hinweis, eine interessenlose Geschichtsforschung sei schlechterdings nicht denkbar, weil jede Kommunikation über Vergangenheit »einem gegenwärtigen Orientierungswillen […] ursprünglich verpflichtet ist«, dürfte heute zum geschichtstheoretischen Allgemeingut zählen. Historische

24 Marko Demantowsky : Zum Stand der disziplin- und ideengeschichtlichen Forschung in der Geschichtsdidaktik. In: Michael Wermke (Hrsg.): Transformation und religiöse Erziehung. Kontinuitäten und Brüche der Religionspädagogik 1933–1945. Jena 2011, S. 359–376, hier S. 367f. 25 Jeismann (Anm. 10), S. 15–17. 26 Ebd., S. 27, S. 32f. 27 Sandkühler (Anm. 22), S. 511–513. 28 Jeismann (Anm. 10), S. 27, S. 32.

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Forschung dient daher der »Orientierung des Menschen in der Zeit«; sie macht aus den Daten der Vergangenheit Geschichte »für uns«.29 An die Professionalisierung einer eigenständigen Geschichtsdidaktik scheint Jeismann indes nicht gedacht zu haben.30 Folglich beantwortete er nicht die Frage, was die Geschichtsdidaktik im Unterschied zur Geschichtsforschung als spezifische Leistung in die Fachkommunikation der Geschichtswissenschaft einbringen könne. Jeismanns weite Definition des Begriffs »Geschichtsbewusstsein« war insoweit Stärke und Schwäche der Disziplin gleichermaßen. Denn die Geschichtsdidaktik verstand sich als Reflexionsinstanz historischen Forschens und Lernens in Schule, Wissenschaft und Öffentlichkeit. Als »Theorie des Geschichtsunterrichts«, wie der Historiker Stefan Jordan sie wahrnimmt, trat die Geschichtsdidaktik gerade nicht auf.31 Die Geschichtsdidaktik steckte damals in einem Dilemma. Einerseits hatte sie gar keine andere Wahl, als sich von ihrer Verengung auf eine Schulfachdidaktik bzw. Unterrichtslehre zu emanzipieren. Andererseits führte der stürmische Ausbau des Schulwesens in den 1970er Jahren dazu, dass die erste Generation geschichtsdidaktisch ausgebildeter Lehrer vor verschlossenen Türen stand. Jeismanns Annahme, Forschung und Didaktik würden unter dem Dach einer theoretisch und methodisch verjüngten Geschichtswissenschaft künftig enger zusammenarbeiten, erwies sich als zu optimistisch, obwohl die neu berufenen Didaktiker mit ganz wenigen Ausnahmen ausgewiesene Fachhistoriker waren. Entgegen Jordans These, die Lehrerarbeitslosigkeit der 1980er Jahre habe zu einer anachronistischen Konservierung überholter linksliberaler Positionen geführt32, ist hervorzuheben, dass die bundesdeutsche Geschichtsdidaktik ihr fachliches Profil erst in diesem Jahrzehnt voll ausprägte. Sie hatte sich bereits vom gesellschaftspolitischen Postulat der »Emanzipation« verabschiedet. Aber auch das Ideal geisteswissenschaftlicher Bildung, für das Jeismann stand, kollidierte zunehmend mit den Realitäten der neuen Unübersichtlichkeit von Lebensformen und Lebensstilen, die soziale Ungleichheit individualisierten.33 Insofern ist die Frage müßig, ob eine deutlichere Schwerpunktsetzung auf den 29 Ebd., S. 18f. 30 Ebd., S. 19, S. 27f., deutliche Distanzierung von der Verselbstständigung der Didaktik aber ebd., S. 29. 31 Jordan (Anm. 1), Abschnitt 5. Wie auch Jordans feinsinnige Unterscheidung zwischen Wissenschaftlern auf der einen, Didaktikern und Pädagogen auf der anderen Seite (ebd.) mehr über Vorurteile des Verfassers als über die Geschichte der Geschichtsdidaktik aussagt. 32 Ebd., Abschnitt 3. 33 Ulrich Beck: Jenseits von Klasse und Stand? Soziale Ungleichheiten, gesellschaftliche Individualisierungsprozesse und die Entstehung neuer sozialer Formationen und Identitäten. In: Reinhard Kreckel (Hrsg.): Soziale Ungleichheiten. Göttingen 1983, S. 35–74; Wolfgang Zapf u. a. (Hrsg.): Individualisierung und Sicherheit. Untersuchungen zur Lebensqualität in der Bundesrepublik Deutschland. München 1987.

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Geschichtsunterricht, curriculare Fragen und Auswahlentscheidungen, übrigens auch auf die Unterrichtsmethodik, Stellung und Ansehen des Fachs innerhalb der Geschichtswissenschaft hätten verbessern können. Andererseits ging diese Pluralisierung mit einer Demokratisierung des öffentlichen Geschichtsbewusstseins einher, sei es durch den Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten, sei es durch die anfänglich betont antiakademische Bewegung der Geschichtswerkstätten. Auf derselben Linie liegt die Wiederentdeckung der Frauengeschichte, ansatzweise auch der Umweltgeschichte. Institutionell und personell war die Geschichtsdidaktik mit diesen bürgerbewegten Vorgängen einer Geschichte von unten teilweise verbunden.34 Doch fällt auf, dass die Geschichtsdidaktik der Gedenkstättenbewegung kaum Beachtung schenkte, obwohl sie rückblickend der wohl wichtigste Beitrag zur breitenwirksamen Distribution eines gesellschaftskritischen Geschichtsbewusstseins war.35 Die Erweiterung geschichtsdidaktischer Forschungsgegenstände auf die Geschichtskultur sparte das Gedenkstättenwesen weitgehend aus, mit meines Erachtens nachteiligen Folgen für beide Seiten.36

4.

Bestandsaufnahme

An der institutionellen Stellung der Geschichtsdidaktik hat sich in den letzten Jahrzehnten wenig geändert, auch nicht nach der staatlichen Wiedervereinigung von 1990. Die Umstellung der Lehrerausbildung auf gestufte Studiengänge hat die Rolle der Geschichtsdidaktik zwar quantitativ gestärkt, doch führte dieser Ausbau nicht zu einem qualitativ neuen Selbstverständnis des Faches und namentlich nicht zu einer engeren Zusammenarbeit mit der Pädagogik unter dem Gesichtspunkt der beruflichen Qualifizierung von Lehrkräften.37 Der Vorwurf des Zeithistorikers Martin Sabrow, die Geschichtsdidaktik habe ihre Ressourcen

34 Thomas Sandkühler : Interview mit Bodo v. Borries, 12. 12. 2012. In: Ders. (Anm. 22), S. 390–434, hier S. 414f., S. 423. 35 Ders.: »… begangene Fehler nicht aus Gedankenlosigkeit wiederholen«. Die selbstkritische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und die Konzeptualisierung historischpolitischer Bildung und Gedenkstättenarbeit in der »alten« Bundesrepublik. Was bleibt relevant? Vortrag bei der Tagung »70 Jahre danach. Historisches Begreifen und politischethische Orientierung in der Gedenkstättenarbeit des 21. Jahrhunderts«, Berlin, 11. 9. 2015. Eine überarbeitete Druckfassung ist in Vorbereitung. 36 Demantowsky (Anm. 7) begründet sein Plädoyer für die begriffliche Unterscheidung zwischen Geschichtskultur und Erinnerungskultur wesentlich mit dieser Differenz. 37 Heinz-Elmar Tenorth: Professionalität im Lehrerberuf. Ratlosigkeit der Theorie, gelingende Praxis. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 9 (2006), S. 580–597.

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seit den 80er Jahren »imperial« überdehnt, verfehlt die Realität eines kleinen Faches.38 Die bildungspolitisch induzierte Umorientierung auf fachliche Kompetenzen historischen Lernens hat allerdings nicht gerade dazu beigetragen, das Misstrauen der Historikerzunft abzubauen. Zwar ist die verbreitete Wahrnehmung, der Geschichtsunterricht werde unter diesen Vorzeichen von Inhalten und dem Erfordernis des Wissenserwerbs abgekoppelt, wenig sachkundig.39 Doch tut sich die Geschichtsdidaktik keinen Gefallen damit, solche Vorwürfe einfach zu ignorieren. Denn es besteht durchaus Grund zur Sorge, weniger wegen der Kompetenzorientierung als wegen des Ausbildungs- und Kenntnisstandes von Absolventinnen und Absolventen des Lehramtsstudiums Geschichte. Die immer mehr auf berufsausbildende Aufgaben verwiesene Geschichtsdidaktik gerät in den Ruch, dem Bohren fachlich dünner Bretter Vorschub zu leisten. Sie wird durch externe Fehlsteuerungen und teils rapide nachlassende fachwissenschaftliche Leistungen von Lehramtsstudierenden in eine defensive Rolle gedrängt.40 Quantitativ hat der Anteil fachhistorischer Ausbildungsanteile im Lehramtsstudium abgenommen, derjenige von pädagogischen Modulen ohne Fachbezug hingegen zugenommen. Aber auch geschichtsdidaktische Ausbildungsanteile weisen eine mitunter beträchtliche Distanz zur Geschichtswissenschaft auf, die sich in der Selbstwahrnehmung und Motivation von Studierenden durchaus niederschlägt.41 Unabhängig davon – und tendenziell im Widerspruch dazu – stehen Geschichtswissenschaft und Geschichtsdidaktik gleichermaßen unter dem Generalverdacht der Theorielastigkeit und Praxisferne, die den Anforderungen beruflicher Ausbildung vermeintlich nicht gerecht werden.42 Die neuerdings in Gang kommende Professionalisierungsforschung deutet 38 Sabrow (Anm. 2), Abschnitt 2. Auch die Tatsache, dass die Geschichtsdidaktik eigene Buchreihen, Diskussionsforen etc. unterhält, rechtfertigt nicht Sabrows harsches Urteil über die angebliche Abseitigkeit geschichtsdidaktischer Diskurse (ebd., Abschnitt 1). Es gibt Vergleichbares auch in der Zeitgeschichtsforschung. 39 So aber Thomas Vitzhum: Der fatale Niedergang des Schulfachs Geschichte. In: Die Welt vom 14. 12. 2015, http://www.welt.de/politik/deutschland/article149909227/Der-fatale-Nie dergang-des-Schulfachs-Geschichte.html (aufgerufen 20. 12. 2015). 40 Ungeachtet dessen erhöhen die Bildungsverwaltungen durch die Praxis ihrer Mittelvergabe den Druck, möglichst viele Bewerber zum Abschluss zu führen. 41 Thomas Sandkühler : Vom Master zum Meister? Zur Sozialisation künftiger Geschichtslehrer im Land Berlin. In: Susanne Popp u. a. (Hrsg.): Zur Professionalisierung von Geschichtslehrerinnen und Geschichtslehrern. Nationale und internationale Perspektiven. Göttingen 2013, S. 167–185. 42 Michael Sauer : Die Ausbildung von Geschichtslehrerinnen und Geschichtslehrern. In: Michele Barricelli/Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts. Bd. 2. Schwalbach/Ts. 2012, S. 349–369.

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indes in eine ganz andere Richtung: Ein Geschichtslehrer, eine Geschichtslehrerin, kann ohne gründliche fachhistorische und fachdidaktische Kenntnisse seinen oder ihren Beruf nicht erfolgreich ausüben.43 Die Geschichtsdidaktik täte gut daran, die Kompetenzen von Lehramtsstudierenden und Lehramtsabsolventen des Fachs Geschichte einmal flächendeckend zu erheben. Hochschuldidaktisch sollten Lehrformate entwickelt oder, falls bereits vorhanden, vertieft werden, in denen Studierende an ein und demselben Gegenstand unter fachwissenschaftlichen und fachdidaktischen Perspektiven arbeiten können. Auf diese Weise kann dem verbreiteten Missverständnis entgegengewirkt werden, didaktische Auswahlkriterien und Kompetenzerwartungen ließen sich gleichsam aus der Sache selbst generieren, statt dem konstruktiven Charakter jeglicher historischer Sinnbildung Rechnung zu tragen.44 Umgekehrt können integrierte Lehrformate dazu beitragen, das Erfordernis gründlicher historischer Kenntnisse am jeweiligen Fallbeispiel zu verdeutlichen, damit Quellen und Darstellungen mehr als nur pflichtschuldig gelesen werden. Geschichtsforschung, Geschichtstheorie und Geschichtsdidaktik müssen so aufeinander bezogen werden, dass die Teildisziplinen in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit und jeweiligen Leistung erkennbar zutage treten. Insoweit lässt sich an den Diskussionsstand in der zweiten Hälfte der 70er Jahre anknüpfen, jedoch mit deutlicherem Blick auf die akademische Lehre und die Lehrerprofessionalisierung, als er damals üblich war.45 Mit diesem Vorgriff auf künftige Herausforderungen der Geschichtsdidaktik sollte gezeigt werden, dass Verbindendes zwischen Geschichtsforschung und Geschichtsdidaktik das Trennende deutlich überwiegt. Geschichtsdidaktiker haben gute Gründe, historische Forschung und Geschichtsschreibung fachdidaktisch zu reflektieren.46 Denn es ist der Aufmerksamkeit von Geschichtsdidaktik und Geschichtsforschung möglicherweise entgangen, wie stark Teile der neueren historischen Fachliteratur von geschichtsdidaktischen Fragestellungen und Begriffen durchsäuert sind. Karl-Ernst Jeismanns Appell, die Geschichtsforschung möge sich ihrer didaktischen Implikationen bewusst werden, ist offenbar auf fruchtbaren Boden gefallen. 43 Manfred Seidenfuß/Georg Kanert: Die Wirksamkeit der Geschichtslehreraubildung. Forschungsansätze und Forschungsergebnisse. In: Popp u. a. (Anm. 41), S. 139–166. 44 Ebd., S. 269–343. 45 Im Vor- und Umfeld der Gründung der Konferenz für Geschichtsdidaktik hatte es allerdings in der ersten Hälfte der 70er Jahre eine recht intensive hochschuldidaktische Diskussion gegeben, die später nicht mehr weiterverfolgt wurde, vgl. Sandkühler (Anm. 22), S. 17, 22f. 46 Klaus Bergmann: Geschichtsdidaktik als Sozialwissenschaft. In: Hans Süssmuth (Hrsg.): Geschichtsdidaktische Positionen. Bestandsaufnahme und Neuorientierung. Paderborn 1980, S. 17–47, hier S. 39, hat demgegenüber einen Anspruch der Geschichtsdidaktik hervorgehoben, der Geschichtsforschung ihre Gegenstände vorzugeben.

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Drei kurze Beispiele mögen genügen: a) Die Frage nach den »Meistererzählungen« einerseits, individueller Narrativierungen von Historikern andererseits wird wissenschafts- und wissensgeschichtlich intensiv diskutiert. Affinitäten zur narrativen Geschichtstheorie der Geschichtsdidaktik sind nicht zufällig, oft aber auch nicht beabsichtigt.47 b) Die Rückkehr der großen Form auf die Bühne der Historiographie verbindet sich teils implizit, teils ausdrücklich mit der Frage nach Lernpotenzialen und nicht genutzten Lernchancen der Deutschen in »ihrem« 20. Jahrhundert, wie sie auch bei der Entstehung der historischen Sozialwissenschaft Pate standen. Historisches Lernen gewinnt so eine politische und lebensweltliche Relevanz zurück, die es zwischenzeitlich verloren zu haben schien.48 c) Wohl als Folge der ökonomischen Globalisierung und ihrer Deutung in den Gegenwartsgesellschaften werden Zeit und Raum in der historischen Forschung deutlicher adressiert und vor allem historisiert, als das zuvor der Fall gewesen ist. Nimmt man die viel zitierte Formel des Historikers Jörn Rüsen ernst, historisches Lernen sei »Sinnbildung über Zeiterfahrung«, tun sich hier Schnittfelder zur Geschichtsdidaktik auf, die bislang kaum ausgemessen wurden.49 Diesen Beispielen ist gemeinsam, dass sie Affinitäten zur Zeitgeschichtsforschung aufweisen. Auch das ist kein Zufall. Die deutsche Zeitgeschichte überwindet zunehmend die Grenzen ihres »Sonderwegs«, vorwiegend Diktaturforschung zu sein, und öffnet sich mit der »Abkehr von der Dominanz einer staatszentrierten Politikgeschichte« zu einem gesamteuropäischen Verständnis von Zeitgeschichte, das eher auf das 20. Jahrhundert insgesamt abstellt und auch gegenwartsnahe Gegenstände einbezieht.50 Insofern ist die Ausgangslage eine deutlich andere als zu Zeiten des Kalten Krieges. Friedrich Lucas’ Besorgnis, die Politikwissenschaft könne aus Gründen der bundesdeutschen Staatsraison auf 47 Konrad H. Jarausch/Martin Sabrow (Hrsg.): Die historische Meistererzählung. Deutungslinien der deutschen Nationalgeschichte nach 1945. Göttingen 2011; Martin Sabrow: Die Ohnmacht der Objektivierung. Deutsche Historiker und ihre Umbruchserinnerungen nach 1945 und nach 1989. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B 28/2001, S. 31–42. 48 Ulrich Herbert: Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert. München 2014; vgl. meine Rezension in: Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus 31 (2015), S. 214–217. 49 Alexander C. T. Geppert/Till Kössler (Hrsg.): Obsession der Gegenwart. Zeit im 20. Jahrhundert. Göttingen 2015 (Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 25). Es braucht wohl nicht näher begründet zu werden, dass in diesem Zusammenhang Reinhart Kosellecks Arbeiten zur Theorie geschichtlicher Zeiten geschichtsdidaktisch neu zu entdecken sind. 50 Gabriele Metzler : Zeitgeschichte: Begriff – Disziplin – Problem, Version 1.0. In: DocupediaZeitgeschichte, 07. 04. 2014, https://docupedia.de/zg/Zeitgeschichte (aufgerufen am 20. 1. 2015).

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die Zeitgeschichte als Vorgeschichte der Gegenwart disziplinären Anspruch erheben, ist, so gesehen, unbegründet. Andererseits sind Politikwissenschaft und Politikdidaktik dabei, Teile der Zeitgeschichte unter Leitbegriffen einer weitgehend ahistorischen Menschenrechtserziehung bzw. Holocaust Education für sich zu reklamieren.51 Die rituelle Beschwörung der »Erinnerung« im öffentlichen Raum sollte unser Fach an sich zur kritischen Stellungnahme aus originärer Fachkompetenz herausfordern.52 Doch meldet sich die Geschichtsdidaktik hier kaum zu Wort. Gegenwärtig drängt sich der Eindruck auf, dass Politikdidaktik und Geschichtsdidaktik je eigene Wege beschreiten, statt nach Trennendem und Verbindendem zu fragen.53 Das ist bedauerlich, weil der inzwischen weitgehend vergessene Leitbegriff der historisch-politischen Bildung mit neuem Leben gefüllt werden könnte.54 Hiervon soll im Folgenden die Rede sein.

5.

Perspektiven

»Es gibt nur eine allgemeine Geschichtswissenschaft, die sich nur nach Fragestellungen gliedern lässt. Dass sich dabei die Fragen nicht bloß auf Zeitabschnitte, sondern ebenso auf Zeitschichten ausrichten sollten, ist ein Postulat, das unmittelbare Folgen für die so viel bemühte Didaktik haben wird«, schrieb 1971 der Historiker Reinhart Koselleck.55 Obwohl Koselleck kein Freund einer professionalisierten Geschichtsdidaktik war, hat seine Absage an die naturale Chronologie nach wie vor ihre Berechtigung. Der Geschichtsunterricht ist noch immer chronologisch-epochal gegliedert, und noch immer führen Versuche, 51 Vgl. die Beiträge in Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 11 (2012). – In einer Diskussion mit dem Schriftsteller Uwe Timm über einen heute weitgehend vergessenen Roman von Wolfgang Koeppen äußerte sich der Literaturkritiker Denis Scheck wie folgt: »Bei der inhaltlichen Zusammenfassung denkt man: Um Gottes Willen, ich kann mir’s vorstellen. Das klingt ja wie so ein Sozialkundeunterricht, die unbewältigte Nazi-Vergangenheit, der Holocaust, alles, was da drüber schwebt.« Die Beiläufigkeit dieser Bemerkung lässt aufhorchen, zeigt sie doch an, was Scheck für selbstverständlich hält. Sendung »lesenswert« des SWR vom 17. 9. 2015, http://www.ardmediathek.de/tv/lesenswert/Uwe-Timm-zu-Gast-bei-Denis-Scheck/SWRFernsehen/Video?bcastId=1100796& documentId=30610434 (aufgerufen am 8. 3. 2016), 23:46’. 52 Volkhard Knigge: Abschied der Erinnerung. Anmerkungen zum notwendigen Wandel der Gedenkkultur in Deutschland. In: Ders./Norbert Frei (Hrsg.): Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord. München 2002; Ders.: Zur Zukunft der Erinnerung. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B 25–26/2010, S. 10–16. 53 Georg Weißeno/Hubertus Buchstein (Hrsg.): Politisch handeln. Modelle, Möglichkeiten, Kompetenzen. Bonn 2012 (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 1191), S. 155–270. 54 Anders Pandel (Anm. 12), S. 32–34, S. 54f. 55 Reinhart Koselleck: Wozu noch Historie? In: Historische Zeitschrift 212 (1971), S. 1–18.

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thematische Strukturierungskonzepte an die Stelle des chronologisch-genetischen Prinzips zu setzen, zu teils wütenden Protesten von Eltern- und Lehrerverbänden.56 Hierbei spielt das Missverständnis eine gewichtige Rolle, die Abkehr von der Chronologie gehe mit dem Verzicht auf Orientierungswissen einher. Das Gegenteil ist der Fall. »Zeitschichten« im Sinne Kosellecks setzen historisches Wissen in beträchtlichem Umfang voraus, versehen dieses Wissen aber mit einem sozialzeitlichen Index jenseits der bloßen Unumkehrbarkeit des Verhältnisses von Vorher und Nachher.57 Die folgenden Überlegungen sollen daher nicht zum Ausdruck bringen, die Vormoderne gehöre nicht zu den legitimen Gegenständen des Geschichtsunterrichts. Im Gegenteil lässt sich das, was die inzwischen historisch werdende Hochmoderne auszeichnet(e), nur durch den problemorientierten Vergleich mit Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit bestimmen. Auf die Einheit »der Geschichte« kann der Geschichtsunterricht in der heute so klein gewordenen Welt also schlechterdings nicht verzichten.58 Doch sollte er Schülerinnen und Schülern auch mit der Schwierigkeit konfrontieren, diese Einheit begrifflich zu bestimmen und zu bewerten. Heilsgeschichtliche Erwartungen und ihre säkularisierte Variante, der emphatische Fortschrittsbegriff des 19. Jahrhunderts, sind keine tragfähigen Sinnbildungen mehr. Deshalb müssen der Begriff historischer Prozesse und die retrospektive Beurteilung solcher Prozesse als Rückschritt oder Fortschritt zwar nicht aufgegeben werden.59 Aber die Geschichte ist, wie die heutige Gesellschaft, unübersichtlicher geworden. Wenn im Folgenden überwiegend von der Zeitgeschichte jenseits der Mitlebenden die Rede ist, so ist dies keiner Deformation professionelle des Verfassers geschuldet, sondern dem Umstand, dass das 20. Jahrhundert in den schulischen Lehrplänen eine dominante Rolle spielt und die Geschichtsdidaktik es sich daher schlechterdings nicht erlauben kann, dieses Feld den Fachhistorikern zu überlassen.60 Es geht mir allerdings weniger um die Zeitgeschichte als Epochenbe56 Peter Stolz: Alle Jahre wieder. Lehrplanrevision in Berlin und Brandenburg. In: Public History Weekly 3 (2015), H. 8, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2015-3714 (aufgerufen am 14. 3. 2015), mit der umfangreichen Diskussion. 57 Helge Jordheim: »Unzählbar viele Zeiten«. Die Sattelzeit im Spiegel der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. In: Hans Joas/Peter Vogt (Hrsg.): Begriffene Geschichte. Beiträge zum Werk Reinhart Kosellecks. Frankfurt/M. 2011, S. 449–480; Achim Landwehr: Von der ›Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‹. In: Historische Zeitschrift 295 (2012), S. 1–34. 58 Rolf Schörken: Geschichtsunterricht in einer kleiner werdenden Welt. Prolegomena zu einer Didaktik des Fremdverstehens. In: Süssmuth (Anm. 46), S. 315–335; Jörn Rüsen: Geschichte und Norm. Wahrheitskriterien der historischen Erkenntnis. In: Willi Oelmüller (Hrsg.): Normen und Geschichte. Paderborn 1979 (Materialien zur Normendiskussion, Bd. 3), S. 110–139. 59 Karl-Georg Faber/Christian Meier (Hrsg.): Historische Prozesse. München 1978 (Theorie der Geschichte. Beiträge zur Historik, Bd. 2). 60 Marko Demantowsky/Bernd Schönemann (Hrsg.): Zeitgeschichte und Geschichtsdidaktik.

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zeichnung denn um die Zeitgeschichte als »Beitrag zur kritischen Selbstvergewisserung«.61 So gesehen, lassen sich meine (sicher unvollständigen und vorläufigen) Überlegungen zu einer erneuerten Didaktik der Zeitgeschichte bis zu einem gewissen Grad verallgemeinern.62 a) Wie bereits angedeutet wurde, hat die zeitgeschichtliche Forschung damit begonnen, die Zeit des 20. Jahrhunderts zu historisieren. Eine solche ZeitGeschichte ist für die Geschichtsdidaktik von besonderem Interesse. Sie zwingt einerseits dazu, das Theorieangebot von Philosophie und Geschichtswissenschaft auf den Prüfstand zu stellen. Andererseits ermöglicht sie eine Anknüpfung an die Lebenswelt von Schülerinnen und Schülern. Diese sind wie alle Menschen dazu gezwungen, die Erfahrung des Zeitflusses mit Sinn und Bedeutung zu versehen, mithin Naturzeit in kollektive und individuelle Zeit zu transformieren. Dies eröffnet problematisierende Vergleichsperspektiven auf die Art und Weise, wie frühere Generationen diese Aufgabe bewältigt haben und was es konkret bedeuten kann, wenn für das 19. und 20. Jahrhundert metaphorisch von einer Beschleunigung der Zeiterfahrung die Rede ist.63 b) Die Didaktik der Zeitgeschichte müsste u. a. die herausragende Rolle geschichtskultureller Vermittlungsformen als Signum der Zeitgeschichte ausweisen und analysieren.64 Sie könnte etwa erforschen, wie Jugendliche die vielfältigen zeitgeschichtlichen Informationsangebote in den inzwischen gar nicht mehr so neuen Medien nutzen, welche Reichweite die historische Forschung in diesem Zusammenhang hat und welche Schlussfolgerungen daraus für eine sinnvolle Einbeziehung der Geschichtskultur in den Ge-

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Schnittmengen – Problemhorizonte – Lernpotentiale. Bochum 2004; Christian Heuer : Geschichtsdidaktik, Zeitgeschichte und Geschichtskultur. In: Geschichte, Politik und ihre Didaktik 33 (2005), H. 3/4, S. 170–175. Metzler (Anm. 50), vor der dortigen Anm. 19. Ähnlich die Problemanzeige bei Holger Thünemann: Zeitgeschichte im Schulbuch. Normative Überlegungen, empirische Befunde und pragmatische Konsequenzen. In: Susanne Popp u. a. (Hrsg.): Zeitgeschichte – Medien – Historische Bildung. Göttingen 2010 (Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, Bd. 2), S. 117–132, hier S. 119–122; Wanda Kampmann: Zur Didaktik der Zeitgeschichte. In: GWU 18 (1966), S. 358–364, war gemäß dem damaligen Diskussionsstand noch von der Zeitgeschichte als »Epoche der Mitlebenden« ausgegangen. Hartmut Voit: Vorüberlegungen zu einer Didaktik der Zeitgeschichte. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 1 (2002), S. 7–17; erweiterte Fassung u. d. T. »Zeitgeschichte als Aufgabe«. Überlegungen in geschichtsdidaktischer Absicht. In: Demantowsky/Schönemann (Anm. 60), http://www.zeithistorische-forschungen.de/sites/default/files/medien/material/ voit_didaktik.pdf (aufgerufen am 15. 7. 2015), S. 19–34. Vgl. die Beiträge in Geppert/Kössler (Anm. 49) und Joas/Vogt (Anm. 57). Soweit ich sehe, hat sich bisher nur Arie Wilschut: Images of Time. The Role of a Historical Consciousness of Time in Learning History. Charlotte, NC 2012, geschichtsdidaktisch mit diesem Problemkreis befasst. Vgl. Popp u. a. (Anm. 41).

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schichtsunterricht zu ziehen sind. Eine solche zeitgeschichtliche Rezeptionsforschung liegt bisher nur in Ansätzen vor.65 Auch die zeitgeschichtliche Mediengeschichte einschließlich des Topos von der »Lügenpresse« spielt im Geschichtsunterricht bislang eine zu geringe Rolle.66 c) In den 1980er Jahren entdeckte die Geschichtsdidaktik das »triviale Geschichtsbewusstsein«, das sich vor allem über zeitgeschichtliche Erfahrungen und Gegenstände formierte.67 Der Begriff ist nicht sehr glücklich, weil er Trivialität im Wesentlichen an der Distanz zu den Standards historischer Forschung misst.68 Doch dürfte die Existenz solcher Bewusstseinsformen weder bestreitbar sein noch die Geschichtsdidaktik unberührt lassen. Verzichtet man auf die kognitivistische Verkürzung und den kulturkritischen Gestus jener Zeit und bezieht man die inzwischen deutlich angewachsene Literatur über die Tiefenpsychologie des Geschichtsbewusstseins ein, käme man vermutlich alltäglichen Repräsentationen der Vergangenheit auf die Spur, die mit den Begriffen und Taxonomien der gegenwärtigen Geschichtsdidaktik nur schwer erfasst werden können.69 d) Zu Recht hat der Geschichtsdidaktiker Hans-Jürgen Pandel die Beliebigkeit geschichtsdidaktischer Begriffsbildung und die Theorieschwäche der gegenwärtigen Geschichtsdidaktik kritisiert.70 Ob aber die intensive theoretische Debatte der 70er und 80er Jahre ohne weiteres wiederbelebt werden kann, ist eine andere Frage, die sich nur historisch beantworten lässt. Der Wert disziplingeschichtlicher Forschungen kann hierbei in der Aufhellung von Zusammenhängen und Gegensätzen zwischen historischer Sozialwissenschaft, Geschichtsdidaktik und Zeitgeschichtsforschung liegen. Dies sollte theorie- und wissensgeschichtlich geschehen, begriffsgeschichtlich und tunlichst im internationalen Vergleich. 65 Hinweise bei Meik Zülsdorf-Kersting: Zwischen Dämonisierung und Glorifizierung – Zeitgeschichte in der Bild-Zeitung, ebd., S. 47–60, hier S. 47f. und Oliver Näpel: Kommerz, Bildung, Geschichtsbewusstsein. Historisches Lernen durch Geschichte im TV?, ebd., S. 219–238, hier S. 236. 66 Vgl. neuerdings Christian Kuchler/Benjamin Städter (Hrsg.): Zeitungen von gestern für das Lernen von morgen? Göttingen 2016 (Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, Bd. 11). 67 Rolf Schörken: Geschichte im Alltag. Über einige Funktionen des trivialen Geschichtsbewusstseins. In: GWU 30 (1979), S. 73–88. 68 Volkhard Knigge: »Triviales« Geschichtsbewusstsein und verstehender Geschichtsunterricht. Pfaffenweiler 1988 (Geschichtsdidaktik: Studien, Materialien, Neue Folge Bd. 3). 69 Peter Schulz-Hageleit: Geschichtsbewusstsein und Psychoanalyse. Freiburg 2012; Carlos Kölbl/Jürgen Straub: Geschichtsbewusstsein als psychologischer Begriff. In: Journal für Psychologie 11 (2003), http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-17457 (aufgerufen am 4. 6. 2014), S. 75–102. 70 Hans-Jürgen Pandel: Geschichtstheoretische Kenntnisse: Mangelhaft. In: Public History Weekly 3 (2015), H. 24, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2015-4422 (aufgerufen am 5. 9. 2015).

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e) Wie mir scheint, war die Ablösung des Begriffs Emanzipation durch denjenigen des Geschichtsbewusstseins im Sinne Karl-Ernst Jeismanns nicht nur vorteilhaft. Denn die Geschichtsdidaktik büßte auf diese Weise ein gesellschaftskritisches Potenzial ein, das ihr in der gegenwärtigen Situation gut zu Gesicht stände. Hier darf ausnahmsweise die Definition der Zeitgeschichte als »Epoche der Mitlebenden« verwendet werden. Die gegenwärtige Migrationskrise ist ein globales Phänomen, das den europäischen Kontinent und namentlich die Europäische Union als politischen Akteur in besonderem Maße herausfordert. Schon jetzt ist meiner Ansicht nach absehbar, dass die Flüchtlingskrise das Geschichtsbewusstsein der Bundesrepublik nachhaltig verändern wird. Zeitordnungen verändern sich rapide; die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen und scharfe soziale Differenzen werden das Erscheinungsbild unserer Gesellschaft in viel stärkerem Maße prägen, als es gegenwärtig der Fall ist.71 Ob man diesen Herausforderungen der Gegenwart unterrichtlich mit dem bloßen Appell an menschenrechtlichen Universalismus wird begegnen können, scheint mir zweifelhaft.72 Vielmehr bedarf es der problematisierenden Rückfrage an die Geschichte der Migration von der Peripherie zu den Rändern der Gesellschaft, der Zwangsmigration in ihren verschiedenen Ausformungen, die oft genug in umgekehrter Richtung verlief, und des Wechselverhältnisses von Inklusion und Exklusion, das sich in der historischen Identität von Migranten niedergeschlagen hat.73 Massenhafte Gewalt hat in den Gesellschaften des 20. Jahrhunderts, weltweit auch nach 1945, ihren Ausgang häufig von großen Bevölkerungsverschiebungen genommen.74 Europa blieb von diesen Schrecken der Nachkriegszeit 71 Vgl. als erste Anregungen Andreas Rödder: 21.0. Eine kurze Geschichte der Gegenwart. 3. Aufl. München 2015, S. 163–168; Holger Thünemann: Historia Magistra Vitae. Die Banalität des Kurzschlusses. In: Public History Weekly 4 (2016), H. 3, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw2016–5466 (aufgerufen am 4. 2. 2016); Markus Bernhardt: Zurück zum Nationalismus. Keine Zukunft für die Geschichte? In: Public History Weekly 4 (2016), H. 5, DOI: dx.doi.org/ 10.1515/phw-2016-5514 (aufgerufen am18. 2. 2016). 72 Anders Micha Brumlik: Kosmopolitische Moral. Globales Gedächtnis und Menschenrechtsbildung. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B 3–4/2016, S. 29–37. 73 Johannes Meyer-Hamme: Historische Identitäten und Geschichtsunterricht. Fallstudien zum Verhältnis von kultureller Zugehörigkeit, schulischen Anforderungen und individueller Verarbeitung. Idstein 2009 (Schriften zur Geschichtsdidaktik, Bd. 26); ernüchternd: Anne Albers: »Weißt Du eigentlich, wer Atatürk ist?« Eine Rekonstruktion von Lehrer/innenbeliefs über Themen, Unterrichtsprinzipien und Lernpotenziale eines Geschichtsunterrichts für die vielfältige (Migrations)Gesellschaft. In: Gerhard Henke-Bockschatz (Hrsg.): Neue geschichtsdidaktische Forschungen. Aktuelle Projekte. Göttingen 2016 (Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, Bd. 10), S. 51–75. 74 Christian Gerlach: Extrem gewalttätige Gesellschaften. Massengewalt im 20. Jahrhundert. München 2011.

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weitgehend verschont. Das muss nicht zwangsläufig so bleiben, wie Historiker allzu gut wissen. f) Historisches Lernen war in der Geschichte der Bundesrepublik ein unentbehrlicher Beitrag der Zivilgesellschaft zur Zivilisierung der Gesellschaft.75 Hieran muss erinnert und angeknüpft werden, um neuerdings erhobenen Forderungen nach einer identitätsstabilisierenden, exkludierenden Funktion des Geschichtsunterrichts entgegenzutreten.76 Es liegt aber auch auf der Hand, dass sich der Geschichtsunterricht nicht auf die Einübung von Kompetenzen beschränken kann. Wer nach Inhalten historischen Lernens sucht, die auf der gesellschaftlichen Tagesordnung stehen, braucht nicht lange zu suchen: Die Demokratie, für viele Schülerinnen und Schüler ein ganz normaler Bestandteil ihrer Lebenswelt, ist in der Bundesrepublik zwar nicht unmittelbar gefährdet, aber eben auch nicht mehr selbstverständlich. Die »Zeitgeschichte der Demokratie« steht vor paradoxen Befunden, die sich auch schulisch bemerkbar machen: Die parlamentarische Demokratie herkömmlichen Zuschnitts gerät unter den Druck der partizipativen Demokratie, von der Bürgerbewegung bis hin zum Populismus. Letzterer ist dezidiert elitenkritisch, um es zurückhaltend zu formulieren, zugleich jedoch sozial und ethnisch elitär, wie überhaupt zivilgesellschaftliches Engagement zunehmend von der Medienkompetenz abhängt und folglich die Unterschichten tendenziell ausschließt.77 Da aber diese Schichten in Verteilungskämpfe mit Migranten eintreten müssen oder doch jedenfalls in dem Glauben gelassen werden, dies sei der Fall, da künftig Zugewanderte aus in der Regel diktatorischen Gesellschaften beschult werden müssen, die mit der Demokratie Hoffnung, aber keine lebendige Erfahrung verbinden, wird die Schule zum Schauplatz historischer, sozialer und politischer Verwerfungen, die den Geschichtsunterricht nicht unberührt lassen dürfen. Vielmehr liegt in den Umbrüchen der Gegenwartsgesellschaft eine Herausforderung und Chance, die als zeitgeschichtliche Erfahrung adressiert und reflektiert werden kann. Die Rückgewinnung der gesellschaftlichen Komponente durch die 75 Herbert (Anm. 48), S. 1010–1022, S. 1251f. 76 Im Wahlprogramm der Alternative für Deutschland (AfD) für die Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt (März 2016) heißt es u. a., die Lehrpläne für das Fach Geschichte müssten im Interesse einer »gefestigte[n] Nationalidentität […] überarbeitet« werden (S. 15), denn eine »einseitige Konzentration auf zwölf Unglücksjahre unserer Geschichte« verstelle den Blick auf »Jahrhunderte, in denen eine einzigartige Substanz an Kultur und staatlicher Ordnung aufgebaut wurde« (S. 1), http://www.sachsen-anhalt-waehlt.de/fileadmin/LTW2016/Wahl programme/wahlprogramm_afd.pdf (aufgerufen am 1. 4. 2016). Migranten sind von dieser »Nationalidentität« ausdrücklich ausgenommen. 77 Paul Nolte: Was ist Demokratie? Geschichte und Gegenwart. München 2012; Ders.: Jenseits des Westens. Überlegungen zu einer Zeitgeschichte der Demokratie. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 61 (2013), S. 275–302.

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lebensweltlich relevante Reflexion auf Ursachen und Folgen sozialer Differenzen kann dazu beitragen, dass Schülerinnen und Schüler die Bundesrepublik als historisch gewordenes und folglich sich veränderndes Gemeinwesen wahrnehmen. Mit dem bloßen Rekurs auf das Grundgesetz und die Verfassungsorgane ist es da nicht getan. Die Demokratie muss sich gleichsam selbst historisch werden, um lebendig zu bleiben. Das kann der Politikunterricht nur bedingt leisten, im Unterschied zum zeitgeschichtlichen Unterricht.78

6.

Zusammenfassung

Die Geschichtsdidaktik ist eine Subdisziplin der Geschichtswissenschaft, nicht ihr bloßer Annex. Der vor rund vier Jahrzehnten erhobene Anspruch auf Gleichwertigkeit mit der Geschichtsforschung ist zwar bis heute Programm geblieben, und eine umstandslose Wiederanknüpfung an die späten 70er Jahre ist weder möglich noch wünschenswert. Doch sind die Voraussetzungen für eine Wiederbelebung der innerfachlichen Diskussion günstiger, als die mitunter zerknirschte Geschichtsdidaktik es wahrnimmt. Ich habe für eine Didaktik der Zeitgeschichte plädiert, weil sich hier weitere Felder einer möglichen Zusammenarbeit zwischen Geschichtsdidaktik und Geschichtsforschung eröffnen. Diese liegen gar nicht so sehr im Bereich der Public History, sondern in der Historisierung von Grundbegriffen beider Subdisziplinen (Zeit und Raum sind die grundlegenden Kategorien, aber auch Geschichtsbewusstsein, Identität etc. sind hier gemeint), mithin in einem beachtlichen Theoretisierungspotenzial, das überhaupt erst einmal entfaltet und auf seine Tragweite hin überprüft werden müsste. Die Geschichtsforschung könnte durch eine engere Zusammenarbeit mit der Geschichtsdidaktik ebenfalls gewinnen: durch einen Zugewinn an Selbstreflexivität und Selbstvergewisserung im Hinblick auf die Vermittlung ihrer Ergebnisse an die Außenwelt, mithin die Stärkung eigener didaktischer Kompetenzen, durch die Selbstreflexion des eigenen Forschungsprozesses und namentlich durch Einblicke in die kognitiven Voraussetzungen historischen Lernens im digitalen Zeitalter. Eine Geschichtsdidaktik, die den Geschichtsunterricht und die Professionalisierung von Geschichtslehrkräften aus dem Blick verlöre, müsste sich die 78 Ähnlich, wenn auch mit Akzent auf dem politischen Liberalismus, neuerdings Marko Demantowsky : Jenseits des Kompetenzkonsenses. In: Saskia Handro/Bernd Schönemann (Hrsg.): Aus der Geschichte lernen? Weiße Flecken der Kompetenzdebatte. Berlin 2016, S. 21–35, bes. S. 34f.

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Folgen ihrer Marginalisierung allerdings selbst zuschreiben. Die berechtigte Abwehrhaltung gegen die Zumutungen einer falsch verstandenen »Didaktisierung« hat dazu geführt, dass die Geschichtsdidaktik der fachwissenschaftlichen Qualität des praktizierten Geschichtsunterrichts und der Berufsbiographie von Lehrkräften zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet hat. Das hat sich in letzter Zeit erfreulicherweise geändert.79 Aber die Kompetenzdebatte wird noch immer merkwürdig inhaltsleer geführt. Um die Inhaltsdimension in ihre Reflexion des Geschichtsunterrichts stärker einzubeziehen – empirisch, aber eben auch normativ –, sollte die Geschichtsdidaktik über eine Neubelebung des Programms historisch-politischer Bildung nachdenken und die vielfältigen Herausforderungen adressieren, mit denen die deutsche Gesellschaft konfrontiert ist. Im Unterschied zu den 70er Jahren wird man heute nicht mehr umstandslos »zu Demokratie« erziehen, weil die Demokratie selbst einem tiefgreifenden Wandel unterworfen ist. Jedoch erscheint eine Zeitgeschichte der Demokratie als geschichtsdidaktisch und geschichtsunterrichtlich relevanter Gegenstand. Ähnlich wie auf dem Gebiet der Menschenrechtsgeschichte, der politischen Urteils- und Handlungskompetenz etc. wird es darauf ankommen, herauszuarbeiten, was die Demokratie zu einem Gegenstand des historischen Lernens sui generis macht und warum es sich lohnt, im Geschichtsunterricht über die Zukunft der Demokratie nachzudenken. Angesichts einer unübersichtlich werdenden, insgesamt fragileren Demokratie, die sich zudem den Herausforderungen globaler Migrationsprozesse stellen muss, erscheint eine Wiederbelebung der Emanzipationsforderung nicht zeitgemäß. Denn diese ging von der Vorstellung aus, Schülerinnen und Schüler müssten sich von institutionellen Zwängen befreien, um eine bessere Zukunftsgesellschaft zu schaffen. Heute kommt es wohl eher darauf an, demokratische Institutionen zu bewahren und Institutionen einer partizipativen Demokratie jenseits des Populismus zu entwickeln. Der Geschichtsunterricht bleibt aber der Ort, an dem vor dem Hintergrund historischer Erfahrung über Teilhabe und Gerechtigkeit fachlich kompetent nachgedacht werden kann. Historisch-politische Bildung mit einem deutlichen Akzent auf der ersten Begriffshälfte steht weiterhin auf der Tagesordnung der Geschichtsdidaktik. Gelegentlich lohnt sich für Geschichtsdidaktiker und Historiker der Blick zurück nach vorn.

79 Vgl. zuletzt Holger Thünemann/Meik Zülsdorf-Kersting (Hrsg.): Methoden geschichtsdidaktischer Unterrichtsforschung. Schwalbach/Ts. 2016.

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Prof. Dr. Bettina Alavi, Pädagogische Hochschule Heidelberg Prof. Dr. Michele Barricelli, Ludwig-Maximilians-Universität München Prof. Dr. Bodo von Borries, Universität Hamburg Prof. Dr. Charlotte Bühl-Gramer, Friedrich-Alexander-Universität ErlangenNürnberg Prof. Dr. Kunibert Bering, Kunstakademie Düsseldorf Ivonne Driesner, Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald Dr. Nadine Fink, Haute 8cole p8dagogique vaud Lausanne Nikola Forwergk, Technische Universität Darmstadt Dr. Carolin Führer, Technische Universität Dresden Prof. Dr. Peter Gautschi, Pädagogische Hochschule Luzern Prof. Dr. Bernd-Stefan Grewe, Pädagogische Hochschule Freiburg Daniel Groth, Universität Siegen Prof. Dr. Wolfgang Hasberg, Universität zu Köln Prof. Dr. Anke John, Friedrich-Schiller-Universität Jena Prof. Dr. Alfons Kenkmann, Universität Leipzig

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Prof. Dr. Ullrich Kockel, Heriot Watt University Edinborough Prof. Dr. Christian Kuchler, RWTH Aachen Prof. Dr. Frank-Michael Kuhlemann, Technische Universität Dresden Prof. Dr. Konstantin Lindner, Universität Bamberg Dr. Wolfgang Moschek, Technische Universität Darmstadt Anja Neubert M.A., Universität Leipzig PD Dr. Patrick Ostermann, Technische Universität Dresden Prof. Dr. Oliver Plessow, Universität Rostock Prof. Dr. Thomas Sandkühler, Humboldt-Universität Berlin Prof. Dr. Michael Sauer, Georg-August-Universität Göttingen Prof. Dr. Astrid Schwabe, Universität Flensburg Prof. Dr. Laurenz Volkmann, Friedrich-Schiller-Universität Jena