Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert: Teil 1 9783110911664, 9783598248085

Publishers and the book trade between hyperinflation and world economic crisis, between the founding of the Republic and

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Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert: Teil 1
 9783110911664, 9783598248085

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Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert

Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert Im Auftrag des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels herausgegeben von der Historischen Kommission

Band 2: Die Weimarer Republik 1918 - 1933

Κ · G · Saur München 2007

Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert Die Weimarer Republik 1918-1933 Teil 1 Im Auftrag der Historischen Kommission herausgegeben von Ernst Fischer und Stephan Füssel

K G · Saur München 2007

Herausgeber: Historische Kommission Ordentliche Mitglieder: Prof. Dres. h.c. Klaus G Saur, Berlin, Vorsitzender; Prof. Dr. Reinhard Wittmann, Oberachau, Stellv. Vorsitzender; Prof. Dr. Stephan Füssel, Mainz; Wilhelm Hohmann, Stuttgart; Prof. Dr. Georg Jäger, München; Prof. Dr. Siegfried Lokatis, Berlin; Dr. Wulf D. von Lucius, Stuttgart; Prof. Dr. Ursula Rautenberg, Erlangen; Thedel von Wallmoden, Göttingen. Korrespondierende Mitglieder: Prof. Dr. Hans Altenhein, Bickenbach; Dr. Werner Arnold, Wolfenbüttel; Dr. Jan-Pieter Barbian, Duisburg; Prof. Frederic Barbier, Paris; Dr. Hans-Erich Bödeker, Göttingen; Prof. Dr. Bernhard Fabian, Münster; Dr. Bernhard Fischer, Marbach/N.; Prof. Dr. Ernst Fischer, Mainz; Prof. Dr. John Flood, London; Dr. Thomas Keiderling, Leipzig; Dr. Michael Knoche, Weimar; Prof. Dr. Hans-Joachim Koppitz, Mainz; Dr. Mark Lehmstedt, Leipzig; Prof. Dr. Alberto Martino, Wien; Prof. Dr. Ulrich Ott, Marbach/N.; Prof. Dr. Günther Pflug, Frankfurt a.M.; Lothar Poethe, Leipzig; Dr. Karl H. Pressier, München; Prof. Dr. Dres. h.c. Paul Raabe, Wolfenbüttel; Prof. Dr. Helmut Rötzsch, Leipzig; Prof. Dr. Walter Rüegg, Veytaux-Chilion; Prof. Dr. Wolfgang Schmitz, Köln; PD Dr. Ute Schneider, Mainz; Herta Schwarz, Frankfurt a.M.; Dr. Volker Titel, Erlangen; Prof. Dr. Peter Vodosek, Stuttgart; Clara Waldrich, München; Prof. Dres. Bernhard Zeller, Marbach/N. Redaktion und Satz: Anke Vogel, M.A.

Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Einbandillustration: George Grosz: Der Schuldige bleibt unerkannt. Collage 1919. © VG Bild-Kunst, Bonn 2007 Θ Gedruckt auf säurefreiem Papier © 2007 by Κ. G Saur Verlag, München Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG Alle Rechte vorbehalten Jede Art der Vervielfältigung ohne Erlaubnis des Verlags ist unzulässig Druck & Bindung: Strauss GmbH, Mörlenbach Printed in Germany ISBN 978-3-598-24808-5

1

Inhalt 1

Voraussetzungen und Entwicklungstendenzen

1.1

Kultur und Gesellschaft: Signaturen der Epoche (Ernst Fischer und Stephan Füssel) Revolutionärer Zeitgeist: Gewerkschaftliche Interessenvertretung im Buchhandel - Buchhändlerstreiks - Die Sozialisierungsdebatte im Buchhandel - Großstadt und Moderne: Berlin in den Zwanziger jähren Medienkonkurrenz: Hörfunk - Medienkonkurrenz: Kino - Weimar, eine Epoche zwischen Krise und Aufbruch

5

1.2

Wirtschaft und Politik in der Weimarer Republik Ein ÜberbUck (Volker Hentschel) 29 Einleitung - Unvollendete Revolution und unverträgliche Friedensbestimmungen - Der Inflation erster Teil: Kriegsfinanzierung und Kriegsfolgekosten — Soziale Unrast, militärischer Putsch und politischer Wandel Der Inflation zweiter Teil: Einfluss der Reparationen - Die Wirkungen der Inflation — Währungsreform und Neuregelung der Reparationen — Die Entfernung der Republik von ihren politischen Ursprüngen - Defekte und Problemlagen der Weimarer Wirtschaft - Der Wirtschaftskrise erster Teil: Kostenanstieg, Finanzierungsschwierigkeiten, kumulative Abwärtsbewegung - Der Rücktritt der parlamentarischen Demokratie - Der Wirtschaftskrise zweiter Teil: Geld und Bankenkrise, Einbruch der Exporte, prozyklische Finanzpolitik - Hitler und der Untergang der Republik

1.3

Staat und Recht

1.3.1

Zensur (Ernst Fischer und Stephan Füssel) Reichslichtspielgesetz 1920 - Zur Kontinuität der »Schund- und Schmutzdebatte« - Die Rechtspraxis nach 1926 - Zensurpraxis in Bibliotheken Zensureingriffe durch allgemeine Gesetze

71

1.3.2

Urheberrecht (Ernst Fischer) Kritik am geltenden Urheberrecht - Die Reichskulturabgabe - Dreißig oder fünfzig Jahre? Die Schutzfristdebatte - Neue Medien und Urheberrecht - Das Urheber- und Verlagsgesetz auf dem Weg zur Neufassung

83

2

Autoren und Publikum

2.1

Schriftsteller und Schriftstellerorganisationen (Britta Scheideier) Zwischen Beruf und Berufung: Schriftsteller und Berufsschriftstellertum in der Weimarer Republik - Die ökonomische Situation der Autoren zwischen Weltkrieg, Inflation und Weltwirtschaftskrise - Vom autonomen Schöpfer zum fremdbestimmten Spezialisten? Umstrukturierung des literarischen Marktes und Folgen für die Schriftsteller - Soziale Stellung und Krisenbewusstsein - Das Berufs- und Selbstverständnis der Autoren: Die Ausdifferenzierung der Rollenbilder — Probleme und Widersprüche in

99

2

Inhalt der Interessen- und Berufspolitik der Schrifistellerverbände - Der Deutsche Schriftsteller-Verband (DSV) - Der Allgemeine Schriftstellerverein (ASV) - Der Schutzverband Deutscher Schriftsteller (SDS) Kooperationen und Rivalitäten der Verbände - Fazit und Ausblick: Verberuflichung durch Verstaatlichung

2.2

Buchkäufer und Leserschaft (Ute Schneider) 149 Wirtschaftslage und Erwerbsstruktur - Alltagskultur und neue Freizeit Die »Novitätensucht« des »neuen« Publikums - Statistische Erhebungen Finanzbudgets im Einzelhaushalt für Bildung und Vergnügen - Bücher, Kino, Rundfunk, Sport - Beispiele von Lesergruppen — Beliebte literarische Lektürestoffe — Masse, Zeitgeist und der Trend zur Individualisierung Populärwissenschaftliche Lektüre - »Die Frau als Leserin ist heute zu einem Massenproblem geworden« — »Kannst Du ein Buch empfehlen?« Kinder und Jugendliche - Die lesende Arbeiterschaft - Medien der Buchvermittlung - Fortsetzungsromane in Zeitungen - Zeitschriften: Lektürelenkung, Unterhaltung, Diskurse, Vermittlung moderner Buchkultur - Das Buch im Kino - Das Buch im Rundfunk - Büchertage und Buchwochen Die Baedekerwoche

2.3

Bibliotheken als Institutionen der Literaturvermittlung (Peter Vodosek) 197 Die Situation der Öffentlichen Bibliotheken - Bestandsaufbau - Bestandsvermittlung — Das Konzept der volkstümlichen Bücherei - Entwicklung von zentralen Dienstleistungseinrichtungen für das volkstümliche Büchereiwesen - Deutsche Zentralstelle für volkstümliches Büchereiwesen — Einkaufshaus für Volksbüchereien GmbH — Institut für Leser- und Schrifttumskunde - Bibliothekarische Buchkritik - Vergleich mit dem Ausland - Die wissenschaftlichen Bibliotheken in der Krise der Weimarer Republik — Information und Dokumentation

3

Buchhandelsorganisation

3.1

Vereine und Verbände (Volker Titel) 223 Der Börsenverein als Zentralverband: Struktur, Aufgaben und Institutionen - Geschäftsstelle - Ausschüsse - Konfliktfelder - Preisanstieg, Währungsverfall, Absatzkrise - Kartelldiskussion - Externe Konkurrenz Interne Auseinandersetzungen - Reorganisation des Börsenvereins Angeschlossene Vereine - Fachvereine — Verlegervereine — Vereine des Zwischenbuchhandels - Vereine des Bucheinzelhandels — Kreisvereine Ausländische Vereine - Nicht angeschlossene Vereine - Fachvereine Regional- und Ortsvereine - Arbeitgeber- Verband der Deutschen Buchhändler - Buchhändlerische Ausbildung - Buchhändler-Lehranstalt Alternative Fortbildungsangebote - Die Professur für Buchhandelsbetriebslehre in Leipzig

3.2

Marktorganisation (Ernst Fischer) 265 Von der »Notstandsordnung« zur » Wirtschaftsordnung« - Hyperinflation: Das Grund- und Schlüsselzahlsystem - Die Buchhändlerabrechnungs-

Inhalt

3 genossenschaft (BAG) - Die »Bücherkrise«, eine Kulturkrise? - Krise als Ergebnis einer marktpolitischen Fehlsteuerung: Die Winterhoff-Debatte Der Buchmarkt in Konjunktur- und Absatzkrisen - Preisdebatten - Das Phänomen der » Volksausgaben« - Staatlicher Eingriff ins Marktgeschehen: Preissenkung im Buchhandel durch Notverordnung

4

Herstellungstechnik und Buchgestaltung

4.1

Drucktechnische Entwicklungen (Peter Neumann) Der wirtschaftliche Hintergrund- Weitere Ausbreitung des Maschinensatzes - Reproduktions- und Druckverfahren - Verkehr zwischen Verlag und Druckerei - Schriftgestaltung

4.2

Buchgestaltung und Buchkunst (Wulf D. v. Lucius) 315 Zwischen Tradition und Moderne - Gestaltung des Gebrauchsbuchs - Das Buchinnere: Schriften und Seitengestaltung - Illustration - Das Buchäußere: Einband und Umschlaggestaltung - Das künstlerische Buch/Pressendrucke - Produktionsgrundlagen - Gestaltungsprinzipien der künstlerischen Drucke - Die Klientel der Pressendrucker - Der Wettbewerb »Die schönsten deutschen Bücher«

5

Verlagswesen

5.1

Statistik und Topographie des Verlagswesens (Barbara Kastner) Krisenjahre der Buchproduktion - Führende Verlagszweige - Verlagssparten mittleren Produktionsniveaus - Kleine Verlagszweige - Saisonale Schwankungen der Buchproduktion - Umfang und Ladenpreis — Übersetzungen und Fremdsprachen - Schrift - Topographie - Bibliographische Statistik — Musikalien - Zeitschriftenproduktion — Ausblick

5.2

Programmbereiche

5.2.1

Der wissenschaftliche Verlag (Ute Schneider) 379 Druckkostenzuschüsse der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft 1920 - Der studentische Kaufkraftschwund — Die Arbeitsgemeinschaft wissenschaftlicher Verleger 1920 - Die produktionsstärksten Verlage 1927 — Konzentrationsbewegungen: Vereinigung wissenschaftlicher Verleger Walter de Gruyter in Berlin, Julius Springer Verlag Berlin und Wien — Naturwissenschaftlicher und technischer Verlag - Positionsveränderungen auf dem Buchmarkt: Friedr. Vieweg, J. A. Barth und B. G. Teubner - Das naturwissenschaftliche und technische Programm bei Springer — Akademische Verlagsgesellschaft Leipzig - Verlag Theodor Steinkopff Dresden - Forstwissenschaft und Landwirtschaft bei Paul Parey in Berlin - Geistes- und sozialwissenschaftlicher Verlag: Aufbau eines neuen Verlagssegments im Ferdinand Enke Verlag - Neuprofilierung bei J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) in Tübingen - Programmerweiterungen: W. Kohlhammer in Stuttgart, Felix Meiner Verlag Leipzig - Traditionelle geisteswissenschaftliche VerlageProgrammpflege und -erweiterung - Der medizinische Verlag: Die SpringerKonkurrenten Thieme, Urban & Schwarzenberg, Gustav Fischer und Enke -

305

341

4

Inhalt Urban & Schwarzenberg Berlin und Wien - Der juristische, wirtschaftsund staatswissenschaftliche Verlag: C. H. Beck, W. Kohlhammer, Carl Heymanns Verlag- Konkurrenten des Wissenschaftsverlags: Fachverlage Verlag Chemie - VDI- Verlag und Beuth Verlag - Arbeitsrecht und Wirtschaftsstatistik im Verlag von Reimar Hobbing Berlin - Wissenschaftliche Zeitschriften - Zeitschriftenentwicklung - Preise wissenschaftlicher Bücher im Vergleich mit den USA - Der wissenschaftliche Sondermarkt

5.2.2

Der Lexikonverlag (Thomas Keiderling) 441 Grundlegende Genre-Entwicklung - Vom Konversationslexikon zum sachlichen Universallexikon - Die Großlexika: F. A. Brockhaus, Leipzig, Bibliographisches Institut, Leipzig, Peter J. Oestergaard, Berlin - Mittlere und kleinere Lexikonausgaben - Redaktionsarbeit und Betreuung der wissenschaftlichen Lexikonautoren - Vertriebswege - Werbung für ein Großlexikon: Das Beispiel des Großen Brockhaus - Der befragte Nutzer: Marktanalyse für Enzyklopädien

5.2.3

Kunstverlage (Dorothea Peters) 463 Produktion und wirtschaftliche Entwicklung - Nachkriegszeit und Inflation 1918-1923 - Stabilisierung und Stagnation 1924-1929 - Wirtschaftskrise 1929-1933 -Reproduktionsverfahren zwischen Originalgrafik und industriellem Bilderdruck - Ökonomisierung und quantitative Steigerung der Bildproduktion - Verbesserung der Abbildungsqualität - Wiederbelebung manueller Druckverfahren - Drang zur Farbe im Kunstblattverlag Allgemeine Tendenzen des Kunstverlags - Die Buchreihe als Publikationsform zwischen Kunstwissenschaft und Kunstpopularisierung - Entgrenzung der Künste - Von der Technikfaszination zum Neuen Sehen in der Fotografie - Exemplarische Verlagsgeschichten: Bruno Cassirer, Berlin - Paul Cassirer, Berlin — Folkwang-Verlag/Auriga-Verlag, Hagen/Darmstadt

5.2.4

Musikverlage (Axel Beer) 509 Allgemeine und musikalische Grundlagen — Die Situation des Musikverlagswesens — Die Verlagslandschaft — Produktion — Programmbereiche — Komponist und Verlag - Nebenzweige - Verlag und Publikum

Die Autoren des Bandes

529

5

1

Voraussetzungen und Entwicklungstendenzen Ernst Fischer und Stephan Füssel

1.1

Kultur und Gesellschaft: Signaturen der Epoche

Die Geschichte des deutschen Buchhandels kennt Prozesse und Ereignisse, die phasenbildende oder sogar epochenbildende Wirkung entfaltet haben; die Kroner'sehe Reform von 1887/88 liefert mit der Verankerung des festen Ladenpreises ein Beispiel dafür. Doch stellt der Buchhandel kein autonomes System dar, er wird vielmehr in beträchtlichem Maße durch externe Faktoren beeinflusst. Er steht in engen Wechselbeziehungen zu gesamtwirtschaftlichen, gesellschaftlichen oder kulturellen Entwicklungen, seine Situation wird nicht zuletzt - und gelegentlich in entscheidender Weise - vom Wechsel der politischen Rahmenbedingungen bestimmt. Auch wenn Linien der Kontinuität und die Kraft von Traditionen nicht übersehen werden sollen: Die Umbrüche im politischen System, die vom November 1918 und Januar 1933 markiert werden, bilden plausible, im Grunde unabweisliche Epochengrenzen für diesen zweiten Band der Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Nicht erst die Novemberrevolution, sondern bereits die letzten Jahre des Ersten Weltkriegs hatten das Ende der wilhelminischen Ära herbeigeführt. Der Krieg forderte Menschenopfer in einem unerhörten Ausmaß, in Europa zehn Millionen, darunter rund zwei Millionen gefallene deutsche Soldaten und eine halbe Million Tote in der Zivilbevölkerung, er forderte außerdem ungeheure materielle Opfer, hatte die Wirtschaftskräfte fast völlig absorbiert, die Menschen in Hungersnot gestürzt. In welchem Maß der Buchhandel davon getroffen wurde, lässt sich schon daran ermessen, dass 1918 die Buchproduktion auf weit weniger als die Hälfte der letzten Friedensproduktion (1913) abgesunken war. Die Folgen des verlorenen Krieges reichten in mehrfacher Hinsicht weit in die Weimarer Republik hinein: mit Reparationszahlungen an die Siegermächte, Sachlieferungen (alle größeren Handelsschiffe, Maschinen, Ablieferung von Kriegsmaterial, Eisenbahnmaterial und Lastwagen, Verlust von Bergbaurechten), dem Verlust von Gebieten (u.a. Elsaß-Lothringen, die Provinzen Posen und Westpreußen, Teile Oberschlesiens), der Besetzung von Gebieten (des linken Rheinufers), dem Verlust aller Kolonien. Hinzu kamen im privaten Bereich die Vermögensverluste jener, die Kriegsanleihen gezeichnet hatten. Unter diesem Gesichtspunkt bedeutete der mit innerer Notwendigkeit erfolgte politische Umsturz im November 1918, der Übergang von der Monarchie zur Republik, nur die Vollendung dieses Bruchs mit der alten Welt des Kaiserreichs. Folgen dieses gesellschaftlichen Neuanfanges waren u.a. das Aufkommen der Gewerkschaftsbewegung, auch im Buchhandel, erste Buchhändlerstreiks in der Geschichte dieses konservativen Berufsstandes, das Aufblühen eines »Jungbuchhandels«, der, aus verschiedenen Quellen gespeist, auch neue politische und ideologische Motive in das Handelsgeschehen einbrachte, ein massiver Umbruch der sozialen Schichten mit einem Wandel von der tragenden Rolle des kaiserlichen Beamtenapparates hin zum Heer der neuen Angestellten und Arbeiter, der berufstätigen Frauen und einer lebendigen Großstadtkultur. Der Wandel von einer agrarisch strukturierten Gesellschaft zum großstädtischen Angestelltenmilieu ging nicht spurlos an den Stoffen, Themen und Motiven der Literatur vorbei: die Neue Sachlichkeit eroberte die Literatur ebenso wie die neuen

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1 V o r a u s s e t z u n g e n und E n t w i c k l u n g s t e n d e n z e n

Medien, die illustrierten Zeitungen und Zeitschriften, den Hörfunk und den Film. Nicht zuletzt die Technikbegeisterung dieser Epoche schuf mit dem Sachbuch ein neues Genre, das dem Buchmarkt im 20. Jahrhundert erhebliche Spartenzuwächse bescherte. Nicht jeder Leser und nicht jeder Verleger konnte aus der zeitgenössischen Perspektive diesen sich beschleunigenden Umbruch, den der Historiker im Nachhinein konstatieren kann, nachvollziehen. Gefangen in den wirtschaftlichen Schwierigkeiten und Nöten einer seit 1917 grassierenden Inflation, die 1923 in die Hyperinflation und einen Währungsschnitt führte, bis hin zur Weltwirtschaftskrise 1929, einer zum ersten Mal in dieser Konzentration erlebten Medienkonkurrenz und dem subjektiven Gefühl einer rasanten Beschleunigung aller gesellschaftlichen Entwicklungen veranlassten nicht wenige Kulturträger zu einer Laudatio temporis acti, die sowohl in der Literatur des 19. Jahrhunderts als auch in der geschlossenen Rezipientengruppe des Buchhandels der Kaiserzeit eine verflossene Goldene Zeit sahen. Einer der herausragenden Verleger der Jahrhundertwende, Samuel Fischer, fasste dies 1926 - nun 67-jährig - in die Worte: Man denke etwa an die Zeit vor dem Krieg zurück, damals, als es noch einen bürgerlichen Kreis gab, der eine Atmosphäre von Kultur und Sitte verbreitete und alle jene Elemente anzog, die in Gesellschaft, Wissenschaft und Kunst Ansehen und Einfluss gewonnen hatten.1 Die folgenden Vorwürfe einer Überproduktion, »Novitätensucht« und allgemeiner Bücherkrise waren nicht zuletzt ein generationenspezifisches Phänomen.2 Ausgerechnet Samuel Fischer, der Alfred Döblin zum Durchbruch verhalf und - Empfehlungen seines Schwiegersohns Gottfried Bermann-Fischer aufnehmend - mit einer 2,85 Mark Sonderausgabe von Thomas Manns Buddenbrooks fulminant auf dem Buchmarkt reüssierte, wurde in der allgemeinen Diskussion zum Kronzeugen des rückwärts gewandten Krisenlamentos. Das Börsenblatt ist voll mit Klagen über die neuen Tendenzen der Zeit, die sich vor allen Dingen in den Nebenmärkten, dem Warenhaus- und dem Bahnhofsbuchhandel und in den aufblühenden Buchgemeinschaften manifestierten. Der Börsenverein der deutschen Buchhändler reagierte aber auch nicht ungeschickt, indem er z.B. die Preisbindung in den chaotischen Abrechnungszeiten der Inflation durch ein Schlüsselzahlensystem aufrecht erhielt und damit - im Gegensatz zu anderen Branchen - eine beeindruckende Stabilität erreichte, oder indem er 1923 eine Werbestelle einrichtete, die sich sowohl um die »Reklame« für das Buch generell verdient machte als auch Verlegern und Sortimentern Handreichungen für eine individuelle Endkundenwerbung an die Hand gab. Auch vor Werbemaßnahmen in den neuen Medien schreckte man nicht zurück, ob es sich um Buchempfehlungen im Hörfunk oder um vorgeschaltete Zeichentrickfilme in den massenhaft besuchten Kinos handelte, wie z.B. den Werbefilm von 1924 »Meyers Werdegang«: Ein Mensch liest nicht und wird zum Affen, dieser Affe bekommt ein Buch gereicht und wird wieder zum Menschen... In dieser virulenten Umbruchsituation zeigte sich der Wandel vom Kulturgut Buch hin zu einer massenhaft konsumierten Ware, die Wissen und Information für eine neue Gesellschaft bereithielt. Dass es sich bei der »Bücherkrise« eher um eine allgemeine 1 S. Fischer: Bemerkungen zur Bücherkrise, S. 357 f. 2 Brohm: Das Buch in der Krise, S. 277.

1.1 K u l t u r und G e s e l l s c h a f t : S i g n a t u r e n d e r E p o c h e

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Kulturkrise handelte, wurde in zahlreichen Ansprachen am »Tag des Buches« (Goethes Todestag 22. März) 1929 etwa im Kreis der Bibliothekare thematisiert: Es waren (in früheren Zeiten) andere Schichten, die vorzugsweise lasen, es waren andere Bücher, die gelesen wurden, die Beziehung bestimmter Schichten zu bestimmten Buchwelten war anders, fester geformt, - aber dass das heute anders ist, sich anders darstellt, dass anstelle der relativ geschlossenen Buchkultur einer privilegierten Schicht heute Buchleben und Buchinteresse weniger leicht übersehbar an allen Stellen der Gesellschaft hervorbricht, - das berechtigt nicht, von einer Buchkrise zu sprechen. 3 Die Aufbruchstimmung, die verklärt als »Goldene Zwanzigeijahre« in der Erinnerung aufscheint und an große und kreative Erfolge in der Musik, in der Bildenden Kunst, in der Filmkunst, in Design und Gestaltung, in der literarischen Avantgarde erinnert, wäre nur unvollständig beschrieben, wenn nicht nachdrücklich darauf hingewiesen würde, dass sich ab Mitte der Zwanzigeijahre nicht mehr nur latent, sondern offen der Einfluss des politischen Extremismus auf das Kultur- und Geistesleben bemerkbar machte, der die neuen kulturellen Errungenschaften bekämpfte und zunichte machte. Auch wenn die NSDAP im Mai 1928 z.B. in Berlin nur auf 1,5% der Stimmen kam, schildert der Gauleiter Joseph Goebbels in seinen Erinnerungen Kampf um Berlin die zielgerichteten Aktionen, die sich gerade in diesem Zentrum eines neoliberalen kulturellen Klimas und in Gegenwart der fuhrenden Presseorgane des Reiches wie in einem Brennspiegel hundertfach verdichteten: Aufmärsche der Sturmabteilungen (SA) in den Arbeitervierteln Wedding und Neukölln waren seit 1926 an der Tagesordnung, seit 1929 lieferten sich mehrfach Nazis und Kommunisten blutige Auseinandersetzungen, die mit dem »Märtyrertod« des SA-Mannes Horst Wessel Anfang 1930 einen ersten Höhepunkt fanden. 1930 erreichten die KPD 4,6 Millionen und die NSDAP 6,4 Millionen Stimmen bei den Reichstagswahlen, in Berlin stiegen die Nationalsozialisten mit 14,6% zur drittstärksten Kraft auf, die am 13. Oktober 1930 während der ersten Sitzung des Reichstages die Hauptstadt regelrecht terrorisierten. Vergleichbares war in den nächsten drei Jahren an der Tagesordnung, so u.a. bei der Aufführung der Verfilmung von Im Westen nichts Neues nach Erich Maria Remarque. Die Berliner Ortsgruppe der NSDAP war im Sommer 1931 bereits auf 16.000 Mitglieder angewachsen und »stolz auf ihre Rolle bei der (Zer)Störung des kulturellen und politischen Lebens in der Hauptstadt«. 4 Im Juli 1932 errang die NSDAP 37,4% aller Stimmen im Reichstag und der Exodus von Künstlern und Intellektuellen aus Deutschland begann. In diesem Jahr gingen u.a. George Grosz oder Albert Einstein ins Exil in die USA. Diese kurzen Hinweise auf die Zunahme der Repressalien namentlich von rechts im letzten Drittel der Weimarer Republik können hier nur andeuten, wie wenig Entwicklungsmöglichkeiten in diesen 15 Jahren die erste deutsche Demokratie hatte, die am Ende der Kaiserzeit mit Sozialisierungstendenzen begonnen hatte und nach einem knappen Jahrzehnt in eine rechte Diktatur mündete. Der Buchhandel paralysierte sich im Januar 1933 durch blinde Gefolgschaftserklärungen selbst, was vor allem das Thema des folgenden dritten Bandes der Buchhandelsgeschichte sein wird. 3 4

Hofinann: Buchpolitik, S. 11. Large: Berlin, S. 231.

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1 V o r a u s s e t z u n g e n und E n t w i c k l u n g s t e n d e n z e n

Der vorgegebenen Gliederungsstruktur der Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert folgend, wird einleitend der Frage nachgegangen, was dem in diesem Band behandelten Zeitraum das Gepräge gegeben hat. Welches also sind die »Signaturen der Epoche«? Als eine Hauptsignatur der Weimarer Zeit kann sicherlich die Tendenz zur Politisierung der Gesellschaft gelten; sie soll im Folgenden demonstriert werden an den nachrevolutionären Auseinandersetzungen, die auch den Buchhandel ergriffen hatten. Eine andere Hauptsignatur der Epoche ergibt sich aus ihrer kulturellen Dynamik; sie wird exemplarisch veranschaulicht am reichen Kulturleben in Berlin und an der neu entstandenen Medienkonkurrenz (und Mediensymbiose) von Buch, Hörfunk und Film.

Revolutionärer Zeitgeist: Gewerkschaftliche Interessenvertretung im Buchhandel Ein Kennzeichen der mit dem Systemwechsel 1918/19 verbundenen neuen Situation war die verstärkte Partizipation bisher minderprivilegierter gesellschaftlicher Gruppen am politischen Geschehen. Die Gewerkschaften, die in der Weimarer Verfassung als staatstragende Kräfte anerkannt wurden, sahen den Augenblick gekommen, um ihre Forderungen mit mehr Nachdruck zu vertreten, und davon blieb auch der Buchhandel nicht unberührt. Hier bestanden bereits seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert zwei überregionale Interessenvertretungen der Buchhandelsangestellten, der bereits 1872 ins Leben gerufene »Allgemeine Buchhandlungs-Gehilfen Verein« (ADBV), der sich mehr als sozialer Unterstützungsverein verstand, und die 1895 gegründete, kämpferisch und im eigentliche Sinn gewerkschaftlich auftretende »Allgemeine Vereinigung Deutscher Buchhandels-Gehilfen« (AV); in ihrem seit 1897 erscheinenden Blatt Die Buchhändler-Warte befasste sie sich - zum Missfallen des Börsenvereins - u.a. mit Problemen wie Gehilfenelend oder Lehrlingsschwemme.5 Die AV hatte sich während des Kriegs, 1917, der »Arbeitsgemeinschaft freier Angestellten-Verbände« (AfA; seit 1921 »Allgemeiner freier Angestelltenbund«) angeschlossen, die den sozialdemokratischen Gewerkschaften nahestand; nach dem Umsturz 1919 wurde die rund 4.000 Mitglieder umfassende AV in den »Angestellten-Verband des Buchhandels, Buch- und Zeitungsgewerbes« umgewandelt. Eine von der AV in den Jahren 1915-1917 angestrebte Verschmelzung mit dem ADBV wurde von diesem abgelehnt. Im Zuge der Novemberrevolution löste sich der ADBV allerdings von seinem Status eines »Harmonie-Verbandes« und bekannte sich im Dezember 1918 zu einer gewerkschaftlichen Orientierung, war auch nachfolgend an der Organisation von Buchhändlerstreiks beteiligt; ab Februar 1919 wurde auf dieser neuen Basis wieder über einen Zusammenschluss mit der AV verhandelt - unter der Vorbedingung, dass die AV aus der sozialistischen AfA ausscheidet. Als daraufhin die Fusion von der AV, die ihren Mitgliederstand inzwischen auf 9.000 gesteigert hatte, mit großer Mehrheit abgelehnt wurde, schloss sich der ADBV 1921 dem völkisch-national ausgerichteten »Deutschen Handlungsgehilfen-Verein« (DHV) an und stellte dort die Fachgruppe Buchhandel. Die fur die Weimarer Republik charakteristischen Polarisierungstendenzen hatten somit auch auf dieser Ebene eingesetzt. Die AV schloss sich im gleichen Jahr dem »Zentralverband der Angestellten« (ZdA) an, der ebenfalls der AfA angehörte, woraufhin eine Austrittsbewegung einsetzte; die AV verlor in kurzer Zeit 5.000 Mitglieder. 5 Vgl. zum folgenden Adrian: Die Erste deutsche Buchhändler-Gewerkschaft; Adrian: Gewerkschaften und gewerkschaftliche Bestrebungen; Ackermann: Geschichte des BuchhandlungsGehilfen-Vereins; Der Allgemeine deutsche Buchhandlungsgehilfen-Verein 1898-1922; Zimmermann: Abriß einer Geschichte der deutschen Buchhandelsgehilfen-Bewegung.

1.1 K u l t u r und G e s e l l s c h a f t : S i g n a t u r e n der E p o c h e

9

Buchhändlerstreiks Bereits am 15. November 1918 hatten Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften die kollektive Regelung der Arbeitsbedingungen als zukünftige Norm anerkannt. Unter diesen Umständen mussten auch im Buchhandel entsprechende Vertretungen geschaffen werden: Am 11. Dezember 1918 konstituierte sich in Berlin die erste Ortsgruppe des »Arbeitgeberverbandes der deutschen Buchhändler«,6 der in enger Verbindung mit dem Börsenverein agieren wollte. Im Sinne der neuen arbeitspolitischen Linie suchte der AV anstelle der bisherigen individuellen Arbeitsverträge kollektiwertragliche Abschlüsse herbeizufuhren. Tatsächlich entstanden erste Vereinbarungen sehr rasch; am 25. November 1918 wurde auf Grundlage eines Beschlusses der paritätisch zusammengesetzten »Arbeitsgemeinschaft des Leipziger Buchhandels« der Achtstundentag, der Ladenschluss um 19 Uhr und das Verbot von Überstunden eingeführt.7 Ein erster, vorläufiger Manteltarifvertrag mit zunächst zweimonatiger Dauer konnte innerhalb der »Arbeitsgemeinschaft« wenig später, mit Wirksamkeit vom 1. Dezember 1918, abgeschlossen werden.8 Die Nachkriegsnot, gesteigert durch die Probleme mit der beruflichen Wiedereingliederung der Kriegsheimkehrer, förderte jedoch die Radikalisierung in den sozialen und politischen Forderungen. Im Zuge eines Generalstreiks in Leipzig, an dem auch die Buchhandelsangestellten teilnahmen, konnte vom 26. Februar 1919 an das Börsenblatt zwei Wochen lang nicht erscheinen;9 am 14. März lehnten die Leipziger Buchhandelsangestellten einen neuen Tarifentwurf ab, inzwischen zahlten die Leipziger Firmen 20% Zuschlag auf die bisherigen Gehälter, maximal aber 20.- Mark.10 In weiterer Folge war es bereits an anderen Orten zu Tarifabschlüssen im Buchhandel gekommen, so am 18. Februar 1919 in München, wo der Kollektivvertrag neben dem Achtstundentag einen nach Dauer der Betriebszugehörigkeit gestaffelten Jahresurlaub, 50% Überstundenzuschlag und einen Teuerungszuschlag von 50% auf das am 1. August 1914 gezahlte Gehalt vorsah; ebenso die Wiedereinstellung aller Kriegsteilnehmer." Weitere Tarifverträge wurden noch im Februar 1919 in Hannover12 und am 1. März im Württembergischen Buchhandel13 abgeschlossen, und am 18. März folgte Leipzig, wo man allerdings den Begriff Tarifvertrag vermied und eine »Vereinbarung« traf; diese bezog auch die Dauer und Entlohnungsbedingungen der Lehrzeit mit ein.14 Doch

6 Mit Arthur Georgi, Paul Nitschmann, Karl Siegismund und Franz Ullstein im geschäftsführenden Ausschuß. 7 Vgl. Börsenblatt (1918) 273, S. 706. - Das Verbot der Sonntagsarbeit im Handelsgewerbe wurde durch Verordnung der Reichsregierung vom 5. Februar 1919 mit Gültigkeit ab 1. April 1919 verbindlich. 8 Vgl. Börsenblatt 1918 (294), S. 765-767. 9 Vgl. den Bericht dazu im Börsenblatt (1919) 47, S. 149-151. 10 Vgl. Adrian: Gewerkschaften und gewerkschaftliche Bestrebungen, S. 111; vgl. auch den Artikel »Am Streik vorbei« im Börsenblatt (1919) 53, S. 181: Es gehe darum, »ob aristokratisch oder demokratisch über das Wohl und Wehe vieler Menschen entschieden werden« solle. 11 Vgl. Börsenblatt (1919) 54, S. 187 f.; Adrian: Gewerkschaften, S. 113. 12 Vgl. Börsenblatt (1919) 79, S. 291 f. 13 Vgl. Börsenblatt (1919) 73, S. 262 f. 14 Vgl. Börsenblatt (1919) 69, S.241 -243.

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1 Voraussetzungen und Entwicklungstendenzen

diese Leipziger Tarifvereinbarung wurde bereits am 31. Juli 1919 wieder gekündigt: Die Angestellten forderten mehr Gehalt, und nun waren es auch die Markthelfer, die einen Einheitstarif mit Lohnerhöhungen von fast 100% verlangten. Die Arbeitgeber, die unter Hinweis auf die schlechte wirtschaftliche Lage die Löhne eher senken als heben wollten, lehnten die Forderungen ab, ebenso die Wahl von Betriebsräten oder die weitere Herabsetzung der Arbeitszeit von 48 Wochenstunden um 2 oder, wie auch gefordert wurde, um 4 1/2 Stunden. Dies führte Anfang August 1919 zu einem Gehilfenstreik, dem sich auch die Markthelfer anschlossen, womit sich 80-85% der Leipziger Buchhandelsangestellten im Ausstand befanden. Der Arbeitgeberverband der deutschen Buchhändler, Ortsgruppe Leipzig, berichtete über diese »neuen wirtschaftlichen Erschütterungen« im Börsenblatt, »unverantwortliche Treiber« hätten einen Streik proklamiert, »dem die irregeleiteten Massen folgen, um neuen Schaden, nicht zuletzt fur sich selbst, heraufzubeschwören«. Die von radikalen jugendlichen Gewerkschaftsführern angestifteten Arbeitnehmerverbände der Buchhandlungsgehilfen seien auf einen »billigen Vorschlag« des Leipziger Arbeitgeberverbands nicht eingegangen, die von ihnen gestellten Forderungen seien aber auch nicht verhandelbar: Für das Unternehmertum wäre die Bewilligung so maßloser Forderungen, deren Unvernunft nur durch das Beispiel dargetan sei, dass nach dem einen Vorschlag mit Eintritt in das 18. Lebensjahr das Gehalt von M. 120.- auf M. 300.- bei Zettelsortierern u. dgl., ja sogar aufM. 350.- bei Auslieferern, Stenotypisten steigen sollte (!!!), der sichere und baldigste Ruin gewesen.15 Ein Schlichtungsausschuss fällte am 20. August einen Schiedsspruch, der von Arbeitnehmerseite abgelehnt wurde; der in nächster Instanz angerufene Demobilmachungskommissar hielt eine 40-prozentige Lohnerhöhung für angemessen - worauf hin sich die Arbeitgeber ans Reichsarbeitsministerium wandten mit dem Vorwurf, der Kommissar habe seine Befugnisse überschritten. Als den Markthelfern eine 30-prozentige Lohnerhöhung bewilligt wurde, brachen diese den Streik am 3. September ab, am 10. September beendeten auch die Gehilfen den insgesamt sechswöchigen Ausstand. Auch sie erhielten 30% mehr Gehalt, mit der Klausel, dass es um weitere 10% gesteigert würde, wenn dem Sortimentsbuchhandel von der Branchenorganisation eine Verdoppelung des bisherigen Teuerungszuschlags von 10% auf 20% zugestanden würde. Dies war 1920 der Fall. Die Situation beruhigte sich aber nur allmählich; die Arbeitsgesetzgebung der Regierung - Betriebsrätegesetz vom 4. Februar 1920, Arbeitstarifgesetz, Schlichtungsordnung, Arbeitsnachweisgesetz - brachte für die Arbeitgeberseite noch einige Irritationen mit sich; dem von AV und ADBV angekündigten Kampf um einen einheitlichen Reichstarif sah man mit Gelassenheit entgegen. Mit Recht, wie das Scheitern der Tarifforderungen der Angestellten der Firma Georg Stilke bewies, die einen reichsweiten Einheitstarif für alle rund 70 Bahnhofsfilialen verlangt hatten. Die Sozialisierungsdebatte

im Buchhandel

Unter den Themen, die nach der Novemberrevolution in Deutschland auf der Tagesordnung standen, gehörte die Vergesellschaftung privaten Eigentums zu den am leiden15 Börsenblatt (1919) 172, S. 689.

1.1 K u l t u r und G e s e l l s c h a f t : S i g n a t u r e n der E p o c h e

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schaftlichsten diskutierten. Immerhin enthielt die Weimarer Verfassung in Abschnitt 5, Art.151 eine entsprechende Kann-Bestimmung, im Grunde gehörte die Einschränkung des Privateigentums zum Programm aller linken Parteien. Auch der Buchhandel war Gegenstand dieser Sozialisierungsdebatte, und mindestens in den ersten Phasen des Umsturzgeschehens schien es, als könnte es hier tatsächlich zu Eingriffen in die Eigentumsstrukturen kommen.16 Die Angestelltenvertretungen waren in diesem Punkt allerdings nicht einer Meinung, die AV stand dem Sozialisierungsgedanken wie alle sozialistisch orientierten Gewerkschaften positiv gegenüber, während der ADBV/DHV die Buchhandelsunternehmen durchaus im Privateigentum belassen wollte, aber für die Sozialbindung von Eigentum eintrat.17 Die Debatte führte aber weit über die Arbeitnehmervertretungen hinaus. Die meistbeachteten Diskussionsbeiträge stammten von Walther Borgius und Walter Dette.18 Der Nationalökonom Borgius legte auf der vom 28. Dezember 1918 bis 2. Januar 1919 in Berlin abgehaltenen Ersten Sozialistischen Wirtschaftskonferenz des Bundes Neues Vaterland einen Plan zur Sozialisierung zunächst des wissenschaftlichen Publikationswesens und anschließend des gesamten Buchwesens vor. Der Buchhandel, dessen Sonderrolle er durchaus gelten ließ, sollte aufgrund eines »allgemeinen Kulturinteresses« aus der kapitalistischen Organisationsform herausgeführt und in eine solche übertragen werden, welche die ausreichende Versorgung der Bevölkerung mit ausschließlich hochwertiger Literatur zu günstigen Bedingungen sicherstellen konnte. Sein Vorschlag zielte dabei - schon zum Schutz der Meinungsfreiheit - nicht auf Verstaatlichung, sondern auf das Modell der Produktivgenossenschaft, genauer auf die Doppelform einer »Konsum-Produktiv-Genossenschaft«. 19 Denn erfolgreich könne ein solches Modell nur sein, wenn die Produktivgenossenschaft auf die vorausgegangene Organisation der Konsumenten aufbauen könne. Borgius exemplifiziert seine Vorstellungen am wissenschaftlichen Buchhandel, weil dort diese Organisation der Konsumenten bereits vorhanden bzw. weit fortgeschritten sei, etwa durch Standes- und Berufsvertretungen der Akademiker. Auf dieser Basis könne ein reichsweiter Bücher-Konsumverein errichtet werden, der alle potentiellen Käufer wissenschaftlicher Literatur zusammenfasst; im gesamten deutschsprachigen Raum wären das 350.000 Hochschulabsolventen, die in Jahresbeiträgen das Kapital für eine Fachverlagsstruktur aufbringen könnten, die aus der nach Disziplinen aufgefächerten Zusammenfassung der bisher bestehenden wissenschaftlichen Verlage gebildet werden könne. Ein Zentralverlag müsste die Koordination der Buchproduktion übernehmen. Verkaufsstellen in den größeren Städten würden die Bestellungen sammeln, auf die wissenschaftlichen Sortimentsbuchhandlungen könne man zugunsten einer Verbilligung der Bücher verzichten. Überhaupt wären durch genaue Bedarfsplanung und den Druck höherer Auflagen beträchtliche Einsparungen gegenüber dem privatkapitalistischen Verlag zu erzielen. Aber auch die Forschung würde durch solche Koordination profitieren, denn in logischer Konsequenz führe diese 16 Vgl. zu diesem Abschnitt die informative Darstellung bei Brohm: Das Buch in der Krise, S. 194-204; ferner die zeitgenössische Darstellung durch v. Wiese: Die Sozialisierung des Buchverlags. 17 Vgl. Adrian: Gewerkschaften und gewerkschaftliche Bestrebungen, S.123 f. 18 Borgius: Zur Sozialisierung des Buchwesens; Dette: Die Sozialisierung der Buchproduktion. 19 Borgius: Zur Sozialisierung des Buchwesens, S. 16.

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Form der Sozialisierung des Buchgewerbes zu einer Rationalisierung der wissenschaftlichen Arbeit. In diesem Zusammenhang prangert Borgius auch das komplizierte System der Buchdistribution an, das über so viele Instanzen des Zwischenbuchhandels laufende Bestell- und Lieferungsverfahren (in einem Beispiel ermittelt er insgesamt neun Stufen, bis ein in Tübingen bestelltes Buch aus Stuttgart via Leipzig eintrifft). Das System sei »volkswirtschaftlich etwas unerhört Unrationelles« und trage wesentlich zur Steigerung der Bücherpreise bei. Überhaupt sei die »heutige Überfülle von Buchhandlungen absolut überflüssig und ein reiner Unfug«; Borgius' Berechnungen ergeben, dass sich mit einem sozialisierten Buchhandel die Bücherpreise um zwei Drittel verbilligen würden. Das Konzept einer solchen Organisation, die in manchen Punkten auch an die am Beginn des 20. Jahrhunderts von Karl Bücher vertretenen Positionen anknüpfte,20 entsprach in seiner zentralistisch-planwirtschaftlichen Ausrichtung den damals gängigen Vorstellungen. Weniger überzeugend wirkten Borgius' Ideen fur den belletristischen Buchhandel: Weil es dem nichtakademischen Leser weniger um Buchbesitz, sondern um (Einmal-)Lektüre, um Versorgung mit gutem Lesestoff gehe, müssten sich die Sozialisierungspläne hier nicht auf den Produktionssektor oder den Konsum konzentrieren, sondern auf den Vertrieb, konkret auf die Leihbibliotheken und den Bahnhofsbuchhandel (der auf Leihbibliotheksbetrieb umgestellt werden sollte). In diesem Falle sei eine Kommunalisierung oder auch Verstaatlichung der gebotene Weg; hier sei auch eine rücksichtslose Entfernung der reinen Unterhaltungskitschliteratur vorzunehmen. Nach einiger Zeit würden sich damit konsumvereinsähnliche Strukturen herausbilden, die wiederum eine Einbeziehung auch der Belletristik in die Tätigkeit des Zentralverlags ermöglichten. Walter Dette, Mitinhaber des Verlags Banas & Dette in Hannover, suchte in seiner Broschüre Die Sozialisierung der Buchproduktion und des Buchhandels die Überlegungen Borgius' weiterzufuhren; sein idealistisch getönter Plan sah die schrittweise Zusammenlegung »geistig zusammengehörender Verlagsfirmen« zu Verlagsgruppen vor, die programmlich von einem von der Öffentlichkeit zu bestimmenden »Produktionsrat« gesteuert werden sollten. Den Buchvertrieb wollte er durch Auflösung des Zentralplatzes Leipzig zugunsten von 20 über Deutschland verteilten Auslieferungslagern rationeller gestalten; ein »Vertriebsrat« sollte über die reibungslose Durchführung der Bücherlieferungen wachen. Der Zahlungsverkehr sollte über eine Zentralkasse erfolgen. Nicht abschaffen wollte Dette die Sortimente (»Kleinvertriebsstellen«), deren Sortimentsgestaltung aber nicht mehr in den Händen von Einzelpersonen, sondern eines »Betriebsrats« liegen sollte. Die Möglichkeit zur praktischen Umsetzung seines Konzepts sah Dette aber erst dann gegeben, wenn die gesamte Wirtschaft ihren privatkapitalistischen Charakter verloren habe. Auf Zustimmung stießen Borgius' und Dettes Vorschläge nur in sehr begrenztem Maße.21 Dagegen gab es die zu erwartende scharfe Kritik von Seiten des Buchhandels, der solchen kollektivistischen Umgestaltungsbestrebungen naturgemäß wenig abgewinnen konnte; im Blatt der Buchhändler-Gilde wurde schon im Januar 1919 dazu aufgerufen, bei den Wahlen zur Nationalversammlung nur jene Kräfte zu wählen, mit deren Hilfe die weit20 Brohm: Das Buch in der Krise, S. 197-199, gibt Hinweise auf eine Vorgeschichte der Sozialisierungsdebatte im Buchhandel, die zu Karl Bücher, den Akademischen Schutzverein und einen 1913 von Armin Osterrieth vorgelegten Reformvorschlag zurückführt. 21 Vgl. Brohm, S. 200.

1.1 Kultur und G e s e l l s c h a f t : Signaturen der Epoche

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gehenden Sozialisierungsabsichten der gegenwärtigen Revolutionsregierungskreise vereitelt werden könnten.22 Immerhin kam es zu zwei Versuchen von »Verlagssozialisierungen«, in der Form der produktivgenossenschaftlichen Beteiligung der Verlagsmitarbeiter an den Betrieben, und zwar im Fall des Dresdner Verlags (unter den Gesellschaftern befanden sich u.a. Max Hermann-Neiße, Carl Hauptmann und Klabund) und des Verlags von Kurt Wolff (hier blieb es bei einer Absichtserklärung).23 Das Beispiel fur die Gründung eines Verlagskollektivs gab der 1919 gegründete Wiener Genossenschaftsverlag, zu dessen Initiatoren Albert Ehrenstein und Franz Werfel gehörten. Wie alle diese Versuche sehr schnell im Sande verliefen, so verschwand auch das Thema Sozialisierung aus den öffentlichen Debatten - im Buchhandel und in der Republik selbst, wo die Macht vom Rat der Volksbeauftragten auf die sozialdemokratisch geführte und an der Umwandlung des Privateigentums nicht interessierte Regierung übergegangen war. Die Verunsicherung, die von derartigen, auch von Autorenseite heftig akklamierten Plänen auf den deutschen Buchhandel ausgegangen war, blieb eine Episode, auch wenn es Nachwirkungen negativer und positiver Art gegeben haben mag: die Stärkung republikfeindlicher Ressentiments in der Buchhändlerschaft; das verstärkte Interesse an kooperativen oder genossenschaftlichen Organisationsformen; schließlich die Impulse, die vom Sozialisierungsgedanken fur die Gründung von Buchgemeinschaften ausgegangen sind.24 Und wie sich im Buchhandel in diesen ersten Jahren nach dem Systemwechsel die Tendenzen der Zeit und ihre Aufgeregtheiten prismatisch brachen, so spiegelte sich in Literatur und Verlagswesen jene kulturelle Aufbruchstimmung, von der die Menschen damals erfasst wurden - in besonderer Weise in der Hauptstadt der Republik. Großstadt und Moderne: Berlin in den

Zwanzigerjahren

»Die großen Städte, in denen wir leben, bestehen in unserer Vorstellung mit Recht als die Brennpunkte aller Gegensätze, die denkbar sind. Zwei Straßenzüge können einander entfernter als Nord- und Südpol sein. Die Kälte der Beziehungen zwischen den Einzelnen, den Passanten ist außerordentlich.« So beschreibt Ernst Jünger 1932 in seinem Essay Der Arbeiter seinen in Berlin täglich neu gelebten Eindruck von der Vermassung, der Schnelligkeit und der Unnahbarkeit des Einzelnen, der auf der anderen Seite einen Sog in diese Stadt mit sich brachte, die ihre Einwohnerzahl von 1910 bis 1925 von zwei auf über viereinhalb Millionen mehr als verdoppelte. Mehr als 100.000 Einwohner kamen durch Eingemeindung und Zuzug jährlich neu in diese Stadt und ließen sich sowohl von den Verdienstmöglichkeiten als auch von dem äußeren Glamour blenden. Durch das Gesetz vom 27. April 1920 wurde die neue Einheitsgemeinde Groß-Berlin gebildet und verstärkte damit eine beispiellose wirtschaftliche Konzentration: 41% aller Personen, die in Deutschland in der Elektroindustrie tätig waren, fanden hier ihre Ar-

22 Vgl. die bei Brohm, S. 202 (Anm. 74), aufgeführten Schriften aus dem Umkreis von Börsenverein, Buchhändlergilde und dem Deutschen Verlegerverein sowie den Nachweis zum Gilde-Blatt S.203, Anm. 79. 23 Vgl. Göbel: Sozialisierungstendenzen. 24 Diese Wirkungsaspekte werden von Brohm: Das Buch in der Krise, S. 204, aufgezeigt und im weiteren Verlauf seiner Darstellung näher ausgeführt.

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1 Voraussetzungen und Entwicklungstendenzen

beit. Mit 68.000 Handwerksbetrieben war Berlin die fuhrende deutsche Handwerksstadt, sie besaß 3.200 Bankniederlassungen und 15.000 Metall verarbeitende Firmen. Die Familien mitgerechnet, gab es 1,6 Millionen Arbeiter, 1,1 Millionen Angestellte und Beamte und 140.000 Hausangestellte - bei einem Frauenanteil von etwa 54%.25 Die Stadt zeigte sich auch als Kinometropole, in der es 1921 bereits 418 Kinos mit einem Gesamtplatzangebot von 148.000 Sitzen gab, mit Großkinos wie dem UFA-Palast am Zoo, dem Capitol, dem Titania-Palast und dem Universum, in dem zwischen 40 und 60 Millionen Menschen alleine in Berlin jährlich ihre Zerstreuung suchten. Kein Wunder, dass eine Romanfigur von Irmgard Keun (1905-1982), das Kunstseidene Mädchen (1931), aus der Provinzstadt nach Berlin flüchtet, sich dort in den Strom der Passanten in der Friedrichsstraße einreiht und nur noch in Film-Metaphern denken kann: »Da war ich ein Film und eine Wochenschau«, »Mein Herz ist ein Grammophon« oder das Selbstbekenntnis »Ich will schreiben wie Film«. 26 Wie im Roman wird Berlin auch im frühen Stummfilm als ein faszinierender Moloch gezeigt, so durch Fritz Lang in Doktor Mabuse (1922), der einen Meisterkriminellen vorstellt, dessen Macht sich über alle öffentlichen Orte der modernen Stadt, von der Börse über die Spielhallen bis zu den Vergnügungslokalen in den Armenvierteln erstreckt. Lang zeigt mit diesem sozialen Kriminalfilm ein erschreckendes Bild Berlins um 1922, ein Bild des inflationären Verfalls von Geld und Sitten. Als Doktor Mabuse in einer Abendgesellschaft gefragt wird: »Was halten Sie vom Expressionismus?« antwortet er: »Expressionismus ist eine Spielerei - aber warum nicht? Heute ist alles Spielerei!« Das Kriminalgenre erlaubte es Lang, Kritik zu üben, da die Verbrecher und die Kriminellen gesellschaftliche Schwachstellen als erste erkennen und für ihre negative Kraft ausnutzen. Als Fritz Lang 1924 zum ersten Mal New York sah, eine Stadt noch einmal doppelt so groß wie Berlin, wurde er zu einem Film inspiriert, der als Quintessenz der Moderne gilt: Metropolis - die Vision einer Großstadt im Jahr 2000. Die Herstellung sprengte alle bisherigen Dimensionen, bei eineinhalb Jahren Produktionszeit und mit 36.000 Statisten wurde er mit 5,3 Millionen Reichsmark zum teuersten Film, zum »Überfilm«, wie ihn die Werbung nannte. Eine besondere Art von Liebeserklärung an die Stadt Berlin und gleichzeitig als ein Musterbeispiel der Neuen Sachlichkeit im Film ist Walter Ruttmanns Meisterwerk Berlin - Symphonie einer Großstadt (1927) zu verstehen. Er zeigt darin das Bild einer Stadt, in der Mensch und Maschine wie in einem symphonischen Klangkörper harmonieren. Durch rhythmische Schnitte gerät die Abschilderung der Realität zu einem bewussten Zusammenspiel vieler Einzelner, die die Chronologie des Tagesablaufes mit dem Quietschen der Schienen der Straßenbahn, dem Rhythmus des Kommens und Gehens, dem Auf und Ab des Tages verbindet. Um diesen Rhythmus der Musik deutlich zu machen, schneidet er Zwischentafeln mit Noten ein und empfiehlt eine Begleitmusik für Pianisten oder Orchester, die diesen Stummfilm auch akustisch zu einer Großstadtsymphonie werden lässt. Eine hochinnovative Collage aus Film und Roman, die den Rhythmus der Großstadt auffangen möchte, ist Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz (1929). Die Geschichte von 25 Büsch: Entstehung und Leistung der ersten Berliner Demokratie, S. 20 f. 26 Zitiert nach Irmgard Keun: Das kunstseidene Mädchen. Roman. Nach dem Erstdruck von 1932 mit einem Nachwort hrsg. von Anna Barbara Hagen. Frankfurt: Büchergilde Gutenberg 2005, hier S. 92, 53 und 10.

1.1 K u l t u r und G e s e l l s c h a f t : S i g n a t u r e n der E p o c h e

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Franz Biberkopf ist bis heute einer der bedeutendsten Großstadtromane in deutscher Sprache, durch seine Technik des inneren Monologs und der erlebten Rede, der Montage von Zeitungsausschnitten und den Geräuschen großstädtischer Lebenswelt, der Komposition unterschiedlichster Sprachschichten, des Ineinanderschneidens von Motiven und Handlungssträngen, der filmschnittartigen Reihung heterogener Bilder und Szenen wird er immer wieder mit James Joyce' Ulysses oder John Dos Passos' Manhattan Transfer verglichen. Der aus dem Gefängnis entlassene Biberkopf beschließt anständig zu werden, scheitert aber an der Großstadtrealität. Der Text wurde als ein Paradigma für die Unterlegenheit des Einzelnen gegenüber der Übermacht der Großstadt und des modernen Lebensrhythmus' angesehen. Er wurde von den zeitgenössischen Rezensenten als der Großstadtroman, als die Symphonie des wirklichen Lebens seiner Zeit verstanden. Der zum großen Teil 1928 geschriebene Roman wurde zuerst in der Frankfurter Zeitung abgedruckt und im Oktober 1929 in einer Auflage von 10.000 Exemplaren bei S. Fischer veröffentlicht. Obwohl im Herbst 1929 nach dem Literaturnobelpreis für Thomas Mann im Verlag S. Fischer vor allen Dingen die Buddenbrooks mit einer 100.000er Startauflage im Mittelpunkt aller Anstrengungen standen, gelang es Döblin im Schatten dieses Großerfolges rasch mehrere neue Auflagen zu erzielen. Im Dezember 1929 wurden die zweiten 10.000, im Januar 1930 bereits die dritten 10.000, im April 1930 die vierten 10.000 aufgelegt. Weitere 10.000 erschienen 1931 als die Verfilmung von Phil Jutzi auf den Markt kam. Heinrich George als Franz Biberkopf gab dem Film im wörtlichen Sinne sein spezifisches Aussehen. Berlin konnte zahlreiche weitere Superlative für sich in Anspruch nehmen: mit den Berliner Verkehrsbetrieben (BVG) entstand das größte kommunale Unternehmen der Welt, das mit Straßen-, Bus- und U-Bahnlinien zur Beschleunigung des Stadtlebens beitrug; auch die Stromversorgung war technisch ohne Vergleich, sodass Berlin 1928 zur »Europäischen Stadt des Lichtes« deklariert wurde. Auch im kulturellen Bereich konnte die Stadt eine Sonderstellung erreichen: ein eigenes städtisches Opernhaus wurde gebaut, eine eigene städtische Gemäldegalerie eingerichtet, neben der schon erwähnten lebendigen Kinoszene belebten die Berliner Revueszene Jazzbands wie die Chocolate Kiddies, Tanzkompagnien wie die Tiller-Girls. Die Deutsche Grammophon-Gesellschaft kreierte in Berlin ein neues Plattenlabel speziell fur die Vermarktung amerikanischer Jazzproduktionen.27 Daneben unterrichtete Arnold Schönberg an der Preußischen Akademie, Paul Hindemith an der Hochschule der Musik, wurde 1926 Otto Klemperer zum Direktor der Kroll-Oper berufen und brillierte Wilhelm Furtwängler als Direktor der Berliner Philharmoniker. Die Verlage hielten mit diesem reichen Angebot Schritt: 1919 existierten bereits 769 Verlage in Berlin, 1929 sogar 870, dazu noch einmal 217 Verlage mit angeschlossener Sortimentsbuchhandlung.28 S. Fischer und Rowohlt verkörperten die traditionellen Verlage, denen es immer wieder gelang, sich neuen Tendenzen zu öffnen; der Berliner Verlag Th. Knaur startete unter dem Verleger Adalbert Droemer seine »Romane der Welt« zu dem unschlagbaren Preis von 2,85 Mark in gebundener Form, etwa der Hälfte des durchschnittlichen Ladenpreises. Die Reihe erschien unter der Herausgeberschaft Thomas Manns; die Romane kamen jeweils freitags in den Buchhandel, um das neu zur 27 Vgl. Large: Berlin, S. 204 ff. 28 Mahlke: Berlin als Verlagsort im 19. Jahrhundert, S. Β 136.

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Verfugung stehende freie Wochenende ab Samstagmittag mit guter Lektüre verbringen zu können,29 getreu dem Slogan eines anderen Verlags: »Du gehst am Abend nicht mehr aus, hast Du ein Malik-Buch zu Haus.« Dessen Verleger, Wieland Herzfelde, publizierte russische Autoren, Maxim Gorki und Uja Ehrenburg, aber auch sozialkritische Romane von Upton Sinclair und die skandalumwitterten Mappenwerke von George Grosz. Da in Berlin 1923 schätzungsweise 360.000 russische Emigranten lebten, gründete Ullstein einen eigenen Verlag fur russische Literatur, Slovo, in dem u.a. Vladimir Nabokov oder Alexej Tolstoi verlegt wurden. S. Fischer hatte nicht nur Gerhart Hauptmann, Thomas Mann und Hermann Hesse in seinem Programm, sondern auch Alfred Döblin und John Dos Passos. Rowohlt konnte neben dem Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil amerikanischen und französischen Erzählern wie Hemingway und Balzac zum Durchbruch in Deutschland verhelfen. Der Erich Reiss Verlag wurde besonders durch die Arbeiten von Egon Erwin Kisch Der rasende Reporter u.a. bekannt, Gustav Kiepenheuer brachte Marie Luise Fleißer, Erich Kästner, Siegfried Kracauer, Anna Seghers und Ernst Toller auf den Markt, Bruno Cassirer konnte mit seinem Literatur- und Paul Cassirer mit seinem Kunstverlag neue Maßstäbe setzen. Der lebendigste Berliner Verlag, der die Mehrfachverwertung in Zeitungen, Zeitschriften, Buch- und Filmgeschäft kreativ miteinander verband, war Ullstein.30 In seinem Buchprogramm konnte der Pressekonzern seit 1903 ein großstädtisches Massenpublikum erreichen, das sich danach noch die Verfilmungen durch die hauseigene Filmverlagsgesellschaft UCO ansah. Doktor Mabuse, der Spieler wurde 1921 in der Berliner Illustrirten Zeitung abgedruckt, dann als Buch publiziert und hatte 1922 als Stummfilm von Fritz Lang bei UCO Premiere. Die letzten Folgen des Vorabdrucks in der Berliner Illustrirten erschienen bereits mit Fotos vom Filmdreh.31 Die Verbindung aller Printmedien mit dem neuen Medium Film gehört zu den herausragenden Signaturen dieser Epoche, ebenso wie die bewusste Bestsellerpolitik.32 Medienkonkurrenz:

Hörfunk

Das Radio erzählt Euch allen, Was immer Neues vorgefallen... Wir funken bis zum Untergang Ins Weltall, kilometerlang.33 Skeptisch und fasziniert zugleich wurde 1923 das neue Medium Radio aufgenommen, zum einen als »Wunder der Welle« gefeiert, zum anderen wegen der unbegreiflichen Technik mit Schaudern betrachtet. Ein wesentliches Element des Radios wird schon in Kurt Schwitters Zeilen deutlich: die Schnelligkeit. Während in den Druckereien noch gesetzt wurde, hatte der Rundfunk die Nachricht bereits verbreitet. Die Voraussetzung 29 Vgl. Ute Schneider: Eine Stadt liest - Berliner Buchhandel und Verlagswesen. In: Berlin - Medien und Kulturgeschichte einer Hauptstadt. Hrsg. v. Matthias Bauer. Tübingen: attempo 2007, S. 73-88. 30 Schneider: Romanabteilung im Ullstein-Konzern. 31 Schneider: Eine Stadt liest. 32 Vgl. den Artikel Belletristische Verlage von Stephan Füssel im 2. Teilband. 33 Kurt Schwitters: Schmidt-Lied (1927).

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dazu hatte Heinrich Hertz mit der Entdeckung der elektrischen Wellen 1888 geschaffen. Das frühe Radio verstand sich zunächst als ein »drahtloses Telefon«. Daher wurde das neue Medium zunächst nicht als ein Massenkommunikationsmittel, sondern eher als die Weiterentwicklung persönlicher Kontaktformen wie Brief oder Telefon angesehen. Als die Massenwirksamkeit des Hörfunks erkannt wurde, sicherte sich die staatliche Post die Hoheitsrechte. Zwischen 1914 und 1918 war das Funken die Domäne des Militärs. Seit 1917 wurden aber nicht nur Heeresberichte und Kriegsnachrichten gesendet, sondern auch Musik und Lesungen von Literatur - wenn auch zunächst nur für Frontsoldaten. Die kriegsbedingte Verbreitung von Funkgeräten war die Grundlage für den Aufbau der Funkindustrie nach dem Krieg. Ein ganzer Industriezweig stellte sich von kriegsbedingter auf zivile Nutzung um. Der als »Vater des deutschen Rundfunks« apostrophierte Ministerialrat im Reichspostministerium Hans Bredow erläuterte dies: Radio ist in Deutschland gerade in einer Zeit der tiefsten wirtschaftlichen und seelischen Not wie ein befreiendes Wunder begrüßt worden und wird hier als Kulturfaktor betrachtet, dessen Auswirkungen auf das kulturelle, politische und wirtschaftliche Leben nicht hoch genug angeschlagen werden können. Zum ersten Mal seit der Erfindung der Buchdruckerkunst durch den Deutschen Gutenberg ist eine Möglichkeit geschaffen, geistige Güter gleichzeitig Ungezählten zu übermitteln.34 Als Bredow 1924 dieses Bekenntnis abgab, war das Radio aber noch mehr ein Hobby für Bastler, die nach einer nicht besonders anschaulichen Anleitung ihre Empfanger zusammenlöten mussten. Sie gingen dann auf die Jagd nach allem, was im Äther schwirrte. Am 7. November 1923, auf dem Höhepunkt der Inflation, wurde der Sendebetrieb in Berlin aufgenommen, die erste Rundfunkgebühr betrug 340 Milliarden Reichsmark. 1924 wurden neun weitere Rundfunkanstalten gegründet und das Radio wurde zunehmend als Bildungsinstitution angesehen, als eine Volkshochschule über den Äther. Der künstlerische Leiter des norddeutschen Rundfunks in Hamburg sagte dazu: »Es gilt, jeder neuen Generation als Ergänzung zur Literaturstunde Kenntnis der deutschen Dramatiker zu vermitteln und die Jugend für den Theaterbesuch vorzubereiten; es gilt weiter, der jungen Kunst den Weg in die Masse zu ebnen und diese Masse anzuregen, auch das Neue zu betrachten und zu beachten.«35 Der Slogan von der Demokratisierung des Wissens galt nun nicht mehr dem Buchdruck, sondern dem Hörfunk, dem man alle Segnungen der Technik zusprach. Stefan Zweig plädierte für die Schaffung von Rundfunkschulen und Rundfunkuniversitäten.36 Thomas Mann forderte noch 1932, der »Staat müsse dem Rundfunk seine Kulturmission zuweisen«.37 Max Brod pries die große kulturelle und soziale Aufgabe des Rundfunks: Dies sei »deshalb so besonders wichtig, weil durch die Verarmung Deutschlands die Pflege kultureller Werte aus wirtschaftlichen Gründen sosehr erschwert ist. Bücherkauf, Haltung von Zeitschriften, Theater- und Konzertbesuch sind für die große Masse der Interessierten sehr eingeengt. Hier ist eine Aufgabe für den Rundfunk; nicht in Konkurrenz, sondern im Einvernehmen mit den betreffenden Stellen 34 Hans Bredow: Dem deutschen Rundfunk zum Geleit. In: Ders.: Aus meinem Archiv. Heidelberg 1950, S. 154. 35 Hay: Literatur und Rundfunk, S. 141. 36 Schneider: Radio-Kultur, S. 104 f. 37 Schneider: Radio-Kultur, S. 118 f.

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durch Übertragungen, eigene Veranstaltungen, Vorträge, Bücherstunden usw. ein kulturelles Bedürfnis der Hörerschaft zu erfüllen und darüber hinaus dadurch werbend für Theater, Konzert, Buch- und Zeitschriftenverlag zu wirken«.38 Wurden zunächst Theateraufführungen live übertragen, so wurden sie wegen der schlechten technischen Qualität später im Studio nachgestellt und schließlich in einer gekürzten und bearbeiteten Fassung exklusiv für die Sendung inszeniert, auf diese Weise entstand das Hörspiel. Die im Radio gesendeten Vortragsserien, etwa zu den Dramatikern des 19. Jahrhunderts oder zum Deutschen Lustspiel bis Lessing wurden anschließend in Buchreihen, z.B. im Knaur-Verlag herausgegeben. Der Hörfunk wurde so zum direkten Anreger für die Verlage. Reclam schuf z.B. eine Reihe Reclams Rundfunk- und Theaterbibliothek?9 Im besonderen Maße wurde der Rundfunk zum Nährboden fur die Buchautoren, nämlich als direkter Werbeträger für das Buch. Titel, die in den »Bücherstunden im Rundfunk« rezitiert und vorgestellt wurden, waren am nächsten Tag der Verkaufsschlager im Sortiment, sodass die Verleger in ihren Anzeigen und Plakatanschlägen damit Werbung betrieben, dass der Titel in der »Funk-Stunde« besprochen werde. Auch der beginnende Sachbuchmarkt profitierte von der Technik-Euphorie, da sich mehrere Reihen von Technikratgebern mit der »Theorie und Praxis zum Selbstbau von Rundfunkgeräten« befassten. Medienkonkurrenz:

Kino

Aber nicht nur durch den Hörfunk, sondern auch durch das Kino wurden die Klassiker und die zeitgenössischen Autoren neu entdeckt.40 Neben der legendären FaustVerfilmung von Wilhelm Murnau 1926 mit Emil Jannings als Mephisto, Gösta Eckmann als Faust und Camilla Horn als Gretchen wurden auch Schillers Leben und seine Werke popularisiert. Es gab französische, englische, und italienische Verfilmungen des Wilhelm Teil und des Don Karlos, ja selbst von der Ballade Der Handschuh. 1917 wurde Die Glocke als ein Drama in vier Akten, »frei nach Motiven von Friedrich Schiller«, von Franz Hofer verfilmt, 1922 erneut.41 Einen Höhepunkt der Schiller-Verehrung bildete 1923 der Stummfilm Friedrich Schiller. Eine Dichterjugend unter der Regie von Kurt Goetz, der zusammen mit Max Kaufmann auch das Drehbuch erstellt hatte. Grundlage für diese Verfilmung von Schillers Jugendjahren war der Roman von Hermann Kurz (1813-1873) Schillers Heimatjahre. Die aufwendige Produktion wurde an den Originalschauplätzen in und um Stuttgart gedreht und versucht, die prägenden Jugendjahre Schillers mit viel Atmosphäre einzufangen, um damit den weiteren Lebensweg des Dichters verstehen zu helfen. Dieser Film lebt von den Milieuzeichnungen und den Eindrücken des jungen Schülers, Regimentsmedikus und Mannheimer Theaterdichters Schiller, und bietet damit eine höchst moderne Form der Interpretation aufgrund der

38 Schneider: Radio-Kultur, S. 110 f. 39 Vgl. Georg Ewald: Werbebeilagen in Reclams Universal-Bibliothek. In: Reclam. 175 Jahre Universal-Bibliothek 1867-1925. Hrsg. von Dietrich Bode. Stuttgart 1992, S. 245-256. 40 Vgl. mit weiteren Beispielen Füssel: Medienverbund statt Bücherkrise. 41 Vgl. den ausgezeichneten Katalog des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum Marbach a. N.: Hätte ich das Kino; zu Schiller S. 249 - 258.

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Prägungen der Jugendjahre. 42 Dieser Film, der zum Schiller-Jahr 2005 wiederentdeckt wurde, 43 hatte zeitgenössisch nicht nur die Schiller-Begeisterung neu entfacht, sondern auch den zugrunde liegenden Schiller-Roman von Hermann Kurz von 1843 (!) zu einem Bestseller gemacht, der nach 1923 in der Union Deutsche Verlagsgesellschaft in Stuttgart in sieben Auflagen erschien, darunter auch in einer gehobenen Ausstattung als Konfirmationsgeschenk; er wurde in den Zwanzigerjahren ebenso bei Westermann in Braunschweig verlegt, in Leipzig bei Grethlein, bei Hesse & Becker und bei R. Vogtländer sowie in Hamburg bei der Deutschen Dichter Gedächtnis-Stiftung. 1921 wurden Die Räuber als ein »großartiges Kriegsdrama« im Film inszeniert und ebenfalls 1921 im Ufa-Palast am Berliner Zoo die Verschwörung zu Genua mit Hans Mierendorff als Fiesco und Erna Morena als Gräfin Leonore aufgeführt. 1922 nahm sich G. W. Pabst der Luise Millerin an, die von Lil Dagover gespielt wurde, Fritz Kortner spielte den Vater Miller. Aber nicht nur die Klassiker erlebten durch den Film eine Renaissance, sondern auch nicht wenige zeitgenössische Schriftsteller strebten von vorne herein eine Verfilmung ihrer Dramen an, nicht zuletzt Gerhart Hauptmann. 44 Dessen Schauspiel Rose Bernd wurde unter der Regie von Alfred Helm bereits 1919 als »Monumentalfilm« verfilmt, 1922 sein in der Berliner Zeitung vorab gedruckter Roman Phantom in der Bearbeitung von Thea von Harbou sowie Die Weber unter der Regie von Friedrich Zelnik 1927. Thomas Mann unterstützte die Verfilmung der Buddenbrooks nach einem Drehbuch von Alfred Fekete und Luise Heilbom-Körbitz, und erhielt von der A.A. Film Export Comp. 50.000 Mark als Anzahlung sowie 5% von allen Brutto-Einnahmen.45 Die Expressionisten, u.a. Carl Hauptmann, Georg Kaiser oder Alfred Döblin experimentierten bewusst mit dem neuen Medium; Hugo von Hofmannsthal begeisterte sich für das Kino, das er als einen »Ersatz für die Träume« bezeichnete,46 und schrieb mehrere Filmmanuskripte. Zahlreiche Autoren wünschten sich - mit den Worten von Carlo Mierendorff »Hätte ich das Kino!«, 47 aber zunächst verstanden nur wenige Verleger, welche neue Einnahmequelle sich parallel zum Buchgeschäft entfaltete. Einer dieser weit blickenden Verleger war der Münchner Friedrich Oldenbourg. Anlässlich des 100-jährigen Jubiläums des Börsenvereins 1925 publizierte er einen Sammelband mit dem Titel Buch und Bildung, in dem er selbst die Zukunftsaussichten des Buches thematisierte. 48 Erfreulich nüchtern konstatierte er, dass weder das Aufblühen der Zeitungen, der weit verbreitete 42 Einen vergleichbaren Ansatz wählte im Schiller-Gedenkjahr 2005 Friedrich Dieckmann: »Diesen Kuss der ganzen Welt!« Der junge Mann Schiller. Frankfurt am Main: Insel 2005. 43 Jaedicke, Horst: Curt Goetz und sein in Stuttgart gedrehter Schillerfilm (1923). Marbach a. N.: Deutsche Schillergesellschaft 2005 (= Spuren Nr. 70). 44 Hätte ich das Kino, Katalog, S. 168-176 u.ö. 45 Das Kino und Thomas Mann. 1975, S. 13. 46 Seinen Aufsatz »Ersatz für die Träume« publizierte er in Das Tagebuch Jahrgang 2 (1921), S. 685-687: »Was die Leute im Kino suchen ... ist der Ersatz fur die Träume. Sie wollen ihre Phantasie mit Bildern füllen, starren Bildern, in denen sich Lebensessenz zusammenfasst, die gleichsam aus dem Inneren des Schauenden gebildet sind und ihm an die Nieren gehen. Denn solche Bilder bleibt ihnen das Leben schuldig«. 47 Nach dem Buchtitel von Carlo Mierendorff: Hätte ich das Kino! Berlin: Erich Reiss 1920 (Tribüne der Kunst und Zeit, Bd. XV). 48 Oldenbourg: Über die Zukunft des Buches, S. 87-103.

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Rundfunk, noch der Siegeszug des Kinos ein Ende des Buches bedeutet hätten. Er registrierte allerdings den zeitgenössischen Wandel und forderte seine Kollegen auf, sich diesen veränderten Rezeptions- und Marktgepflogenheiten kreativ anzupassen. Die zunehmende Zeitungslektüre habe eine Veränderung der Lesegewohnheiten bewirkt, der man sich auch im Buchbereich durch ein verändertes Layout, eine bewusstere Schriftwahl und eine gediegenere Abbildungsqualität anpassen müsse. Die verbesserte Reproduktionstechnik erlaube es, Fotografien nicht nur in Zeitungen und Zeitschriften zu verwenden, was eine gesteigerte Informationsvielfalt und veränderte Sehgewohnheiten mit sich bringe und die Buchverlage unter Zugzwang setze, es den reich bebilderten Zeitungen und Zeitschriften gleichzutun. Das veränderte Bildbewusstsein sei auch eine Folge der beliebten Kinofilme, die die ästhetische Wahrnehmungsfähigkeit der Menschen verändert haben. Er sieht es aber als Vorteil an, dass viele Menschen nun erst durch den Film auf die Literatur aufmerksam gemacht werden. Durch diese vorausschauenden Bemerkungen, die er bezeichnenderweise zum Börsenvereinsjubiläum vortrug, gehörte er zu den weitsichtigen Mitgliedern der Standesvertretung.49 Samuel Fischer hatte im vierzigsten Verlagsalmanach seines Verlages 1926 räsoniert: Es ist nun sehr bezeichnend, dass das Buch im Augenblick zu den entbehrlichsten Gegenständen des täglichen Lebens gehört. Man treibt Sport, man tanzt, man verbringt die Abendsstunden am Radioapparat, im Kino - ist neben der Berufsarbeit vollkommen in Anspruch genommen und findet keine Zeit, ein Buch zu lesen.50 Die Belege fur diese resignierte Haltung blieb Samuel Fischer freilich schuldig, denn sowohl die allgemeinen Buchmarktdaten als auch die Publikationsdaten seines eigenen Verlages sprechen z.T. deutlich gegen diese Einschätzung. Gerade in den Jahren 1925 — 1927 wurden mit etwa je 31.000 Titeln Spitzenwerte in der Weimarer Republik erreicht, daneben wurden etwa 7.000 Zeitschriften publiziert - ebensoviel wie in den USA, Großbritannien, Schweden, Ungarn und der Schweiz zusammen.51 Aber nicht nur die Titelproduktion, sondern auch die jeweiligen Auflagen bewegten sind - zumindest nach Ausweis der Werbeanzeigen im Börsenblatt - in aller Regel im hohen vier- oder im fünfstelligen Bereich. Während Samuel Fischer das Stichwort von der »Bücherkrise« ausgab, waren durch seine Lektoren und Berater bereits seit Anfang der Zwanzigerjahre wichtige Weichen gestellt, die dann sein Schwiegersohn Gottfried Bermann Fischer für eine positive Verlagsentwicklung nutzen konnte. Auch einer der bedeutendsten Autoren des Verlages, Gerhart Hauptmann, hatte sich von vorne herein die Filmrechte eigens sichern lassen und stand sowohl dem Hörfunk als auch der Filmverwertung sehr aufgeschlossen gegenüber. Der Verlag hatte zunächst diese Nebenrechte gar nicht in seine Verträge aufgenommen, sondern von Autor zu Autor unterschiedlich und anlassbezogen reagiert. Eine Ausnahme bildete der 1920 abgeschlossene Verlagsvertrag mit Hugo von Hofmannsthal, der einen separaten Filmvertrag vorsah, der auch dem Verlag 15 Prozent Provision

49 Brohm: Das Buch in der Krise, S. 273 fasst die Bedeutung Oldenbourgs sehr präzise zusammen: »Damit weist seine Interpretation der gewandelten und sich weiter veränderten Funktion des Mediums >Buch< deutlich über den Horizont der meisten seiner Zeitgenossen hinaus.« 50 S. Fischer: Bemerkungen zur Bücherkrise, S. 8 0 - 8 5 . 51 Umlauff: Beiträge zur Statistik des deutschen Buchhandels, S. 72; vgl. den Beitrag von Barbara Kastner in diesem Band.

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bei jeder Verfilmung zusicherte. Im Laufe der Zwanzigeqahre vermehrten sich aber dann die Verlagsverträge, die in einer Klausel die Verwertungsrechte (Übersetzungen, Abdrucke in Zeitungen und Zeitschriften, Verbreitung durch Rundfunk und Verfilmung) regelten. Die typische Klausel ab 1926 lautete: »Der Autor überträgt dem Verlag ferner das alleinige Recht, den Verkauf der Übersetzung in fremde Sprachen zu vermitteln, das Recht, Abdrucke in Zeitungen und Zeitschriften zu vergeben, sowie das Recht der Verbreitung durch den Rundfunk und der Verfilmung. Die erzielten Honorarbeiträge werden, abzüglich einer Provision von 25 Prozent fur den Verlag, an den Autor abgeführt resp. mit ihm verrechnet.«52 Diese Verrechnungsbestimmung ermöglichte es damit dem Verlag, hohe, nicht abgegoltene Buchvorschüsse wenigstens zum Teil wieder zu erlangen, bzw. jungen, auf dem Buchmarkt noch nicht reüssierten Autoren die Weiterarbeit durch die Zahlung einer monatlichen Rente zu ermöglichen, wie es Peter de Mendelssohn in seiner Verlagsgeschichte von S. Fischer an mehreren Fallbeispielen erörtert.53 Bermann Fischer ging noch einen Schritt weiter und schloss im Herbst 1929 einen der ersten Verträge einer internationalen Koproduktion mit Gaston Gallimard, dem Geschäftsführer des Pariser Verlagshauses, dem er ein deutsch-französisches Austausch-Abkommen zwischen beiden Verlagen vorschlug. Auf diese Art und Weise wurde es in einigen Fällen möglich, Bücher gleichzeitig in beiden Sprachen zu publizieren und somit den Autoren sehr gute Startmöglichkeiten zu eröffnen. Die Filmverwertungs-Nebenrechte nicht wahrzunehmen, hätte bedeutet, die Realitäten des Films nicht zur Kenntnis zu nehmen. Im Jahr 1920 gab es bereits 3.422 Kinos in Deutschland, bis 1931 wuchs die Zahl auf etwa 5.000 an, wobei die sogenannten Großkinos, die mehr als 1.000 Zuschauern Platz boten, dominierten. Das Gemeinschaftserlebnis wurde im Kino zu einem ganz wesentlichen Element der Rezeption der Filme, und dies wurde bei den Stummfilmen durch Orchesterbegleitung noch einmal gesteigert. Im Jahr 1925 wurden 350 Millionen Kinozuschauer gezählt, bei einer Einwohnerzahl von etwa 60 Millionen konnte man davon ausgehen, dass im Schnitt jeder Deutsche ab 6 Jahren sechsmal im Jahr ins Kino ging. Ein Grund dafür waren sicherlich die ausgesprochen niedrigen Eintrittspreise, die kaum eine finanzielle Schwelle darstellten, da sie in der Regel zwischen 10 und 20 Pfennigen lagen.54 Die meisten Kinos spielten den ganzen Tag, ab 10 Uhr morgens oder spätestens ab 15 Uhr und zwar fortlaufend. In den großen Städten war naheliegenderweise die Versorgung mit Kinoplätzen besser, in Städten wie Berlin, Hannover, Leipzig oder Wiesbaden lag das Verhältnis von Einwohnern zu Kinositzen bei 1:36, im Ruhrgebiet z.B bei 1:150. Seit 1919 kamen nicht nur viele literarische Verfilmungen in die Kinos, sondern auch die normale Vorfuhrlänge wurde auf etwa 80-100 Minuten ausgedehnt. Verschiedene Verlage stellten sich relativ rasch auf diese Mediensymbiose ein und produzierten das »Buch zum Film«, so u.a. der August Scherl-Verlag, der bereits 1920 zu Felix Philippis Romanverfilmung der Ufa Monica Vogelsang das Filmbuch mit Illustrationen zum gleichnamigen Film in einer zwanzigtausender Auflage herausbrachte. Damit war die Gattung der »Making Of«-Bücher geboren. Der Scherl-Verlag brachte dann u.a. Thea von Harbous Roman Metropolis zum gleichnamigen Monumentalfilm 1926 heraus, 52 Mendelssohn: S. Fischer und sein Verlag, S. 1048. 53 Mendelssohn, Kap. Exkurs über Nebenrechte, S. 1043-1050. 54 Vgl. Ute Schneider: Lektürebudgets in Privathaushalten. In: Gutenberg-Jahrbuch 1996, S. 341 -351.

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zusätzlich eine broschierte Ausgabe mit dem gekürzten Text und mit zahlreichen Filmfotos. Ebenfalls einen großen Bucherfolg erzielte Thea von Harbous Nibelungenbuch zum Film ihres Mannes Fritz Lang. Dieses Buch erschien 1924 im Drei Masken-Verlag, wiederum mit zahlreichen Fotos aus dem Film ausgestattet und erreichte eine nachweisbare Auflage von 70.000 Exemplaren. Ihr verfilmter Roman Das Indische Grabmal erschien als Ullstein-Buch Nr. 2 im Jahre 1921, ihr Roman Frau im Mond bei Scherl 1929. Ähnlich kreativ erwies sich der Zsolnay-Verlag, der Romanverfilmungen mit Sonderausgaben begleitete, u.a. anlässlich der Verfilmung von Arthur Schnitzlers Novelle Fräulein Else 1928 in einer wohlfeilen Buchausgabe mit 60.000 Exemplaren Startauflage. Natürlich profitierte der Buchmarkt auch davon, dass er Bücher über den Film herausbrachte und das Interesse an den Biografien der neuen Stars befriedigte. So erschienen Bildbände über die beliebten Schauspielerinnen Asta Nielsen oder 1931 ein Buch über Marlene Dietrich mit 40 Fotografien bei Kindt & Bucher.55 Neben Marlene Dietrich waren ihre erfolgreichsten Verlagstitel Filmphotos, wie noch nie und ein Bildband über Greta Garbo. Überaus beliebt wurde der Bildband von Stefan Lorant Wir vom Film. Das Leben, Lieben, Leiden der Filmstars.56 Das Buch lebt von den 300 Fotografien, Starportraits und Szenenfotos, aber auch von den zahlreichen Selbstäußerungen der deutschen und internationalen Schauspieler. Auch die Buchstatistik der Jahre zwischen 1919 und 1923 belegt, dass die Filmbücher ein hohes Wachstum aufwiesen, die Sparte »Musik, Theater, Tanz und Kino« steigerte sich von 1919 bis 1929 um das Dreifache. Im Rowohlt-Verlag gab Arnolt Bronnen Film und Leben Barbara La Marr heraus, einen Hollywood-Roman nach Tagebüchern des früh verstorbenen Stummfilm-Stars Reatha Watson. Im Scherl-Verlag erschienen insgesamt zwölf Bände in der Serie Illustrierte Filmbücher über die Ufa-Stars der Zwanzigeijahre, so über Lil Dagover, Lilian Harvey, Willy Fritsch und Hans Albers sowie über Lucy Englisch. Viele der Romane bei Ullstein wurden in den Zeitungen und Zeitschriften des Hauses vorab gedruckt und z.T. sogar als Auftragsarbeiten von den eigenen Redakteuren geschrieben, wie u.a. von der Redakteurin der Modezeitschrift Die Dame, Vicky Baum (1888-1960). Ihr Roman Menschen im Hotel erschien als Vorabdruck in der Berliner Illustrierten Zeitung, direkt danach im Juli 1929 mit einer Startauflage von 25.000 Exemplaren im Buchverlag (bis 1931 dann 56.000 verkaufte Exemplare im Hardcover) und dann 1932 anlässlich der Verfilmung mit Greta Garbo als eine Sonderausgabe zu 3 Mark, die über 100.000 mal verkauft wurde. Auch der absolute Bestseller dieses Jahrzehnts Im Westen nichts Neues von Erich Maria Remarque (der zuvor von Samuel Fischer abgelehnt worden war) wurde in der Vossischen Zeitung im November 1928 vorabgedruckt, mit 3.500.000 verkauften Exemplaren bei Ullstein bis 1932 zu einem der größten Bucherfolge aller Zeiten geführt und nach der Verfilmung von Lewis Milestone für ein internationales Publikum attraktiv, wie 28 Übersetzungen belegen. Vergleichbar erging es Heinrich Mann, dessen Roman Professor Unrat 1905 bei Albert Langen in einer Auflage von 1.500 Exemplaren erschienen war. Erst seit 1916 55 Hessel, Franz: Marlene Dietrich. Berlin: Kindt & Bucher 1931, 20 Seiten und 40 Privat- und Filmphotos, Kartonage mit Portrait-Photo auf beiden Deckeln. - Der Verlag Kindt & Bucher bestand von 1929-1932, anfangs firmierte er in Gießen, ab 1931 in Berlin. 56 Berlin: Theater- und Filmverlagsgesellschaft 1928, 128 Seiten mit 300 Photographien.

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verkaufte sich diese kritische Auseinandersetzung mit dem Gesellschaftssystem der Kaiserzeit im Kurt Wolff-Verlag in der Buchreihe »Der neue Roman« zum günstigen Preis von 3 Mark und in einem attraktiven Themenumfeld erheblich besser. 1925 wurde der Roman in die »Gelbe Reihe« bei Ullstein aufgenommen und bis 1930 etwa lOO.OOOmal verkauft. Die Verfilmung 1930 durch den Regisseur Josef von Sternberg setzte eigene Akzente, 57 nahm wesentliche Elemente der Sozialkritik an der Kaiserzeit heraus und schilderte im zweiten Teil eher eine individuelle Eifersuchts-Tragödie. Aber durch die Besetzung mit Marlene Dietrich als Lola und Emil Jannings als Professor Unrat wurde dieser Film zu einem der ganz frühen Erfolge des deutschen Tonfilms. Am 1. April 1930 wurde Der Blaue Engel im Gloria-Palast in Berlin glanzvoll uraufgeführt. Gleichzeitig wurde der Roman von Heinrich Mann bei Ullstein neu aufgelegt und nun dank der Verfilmung auch international rezipiert. Der Film übernahm in den Zwanzigeijahren durch seinen Einfluss auf das Massenpublikum mehr und mehr die Vorreiterrolle bei den kulturell wichtigen Themen ebenso wie bei der Unterhaltungsliteratur und bestimmte damit indirekt die Themenausrichtung des Buchmarkts. U.a. eröffnete Friedrich Wilhelm Murnaus Nosferatu-F i\m (mit Max Schreck in der Titelrolle) von 1922 nicht nur eine erneute Rezeption von Bram Stokers Z>acw/a-Roman 58 von 1897 in den deutschsprachigen Ländern, sondern gleichzeitig auch eine Fülle von weiteren Vampirromanen, die sowohl im regulären Buchhandel als auch im Kolportagehandel der Zwanzigeijahre zu finden waren. Der große Erfolg der Historienromane und historischen Biografien auf dem Buchmarkt der Zwanzigeijahre wurde begleitet und angeregt durch die Serie der Fredericus Äex-Filme nach den Romanen von Walter von Molo, die mit Unterstützung der deutschen Reichsregierung bei der Ufa hergestellt wurden. 59 Der Verlag Mörlins in Berlin gab 1923 Das Fridericus Rex Buch als »vom Dichter selbst getroffene Auswahl« mit einer Beschreibung aller vier Teile und 23 Szenenphotos heraus. Selbst der größte Kritiker der kapitalistischen Medienindustrie, Bertolt Brecht, spielte virtuos auf der Klaviatur der neuen Medien. Seine Umarbeitung von John Gays (1685-1732) Beggar's Opera in der Übersetzung von Elisabeth Hauptmann ist ein Musterbeispiel der Medienvielfalt. Nach der Uraufführung der Dreigroschenoper am 24. September 1928 im Berlin Theater am Schiffbauerdamm folgten 4.200 Theateraufführungen in etwa 120 Theatern in einem Jahr. Der Erstdruck erschien im Verlag Felix Blochs Erben, danach erschienen Übersetzungen in 18 Sprachen innerhalb von fünf Jahren, und es wurden bis zum Jahr 1933 mehr als 10.000 Theateraufführungen in ganz Europa gezählt.60 21 Schallplatten von elf verschiedenen Plattenfirmen wurden innerhalb von drei Jahren mit den bevorzugten Songs vertrieben. Neben den Schallplattenaufnahmen entstand das »Buch zur Schallplatte«, nämlich eine Ausgabe Brecht/Die Songs der Dreigroschenoper im Gustav Kiepenheuer-Verlag Potsdam in einer Gesamtauflage von 50.000 Exemplaren,

57 Sternberg, Josef von: Ich, Josef von Sternberg. Erinnerungen. Velber bei Hannover: Friedrich Verlag 1967; Dirscherl, Luise/Nickel, Gunther: Der blaue Engel. Die Drehbuchentwürfe. St. Ingbert: Röhrig 2000. 58 Vgl. Beiford, Barbara: Bram Stoker. A biography of the author of Dracula. 1996, S. 7 8 - 8 4 . 59 Vgl. Petersen: Zensur in der Weimarer Republik, S. 2 5 0 - 5 5 . 60 Brecht, Bertolt: Die Dreigroschenoper. Kommentar von Joachim Lucchesi. Frankfurt am Main: Suhrkamp BasisBibliothek 48, hier S. 120-130.

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1 Voraussetzungen und Entwicklungstendenzen

im Jahr darauf ein Klavierauszug bei der Universal-Edition. Bertolt Brecht selbst erstellte das Film-Expose Die Beule. Ein Dreigroschenfilm, das von grundlegenden, vertieften Reflexionen über die Möglichkeiten optischer Medien begleitet wurde.61 Nach der Ablehnung dieses Manuskriptes durch die Nero-Film wurde eine Neuverfilmung ohne Mitwirkung des Autors durch den erfahrenen Regisseur Georg Wilhelm Pabst vorgenommen, das Drehbuch erarbeiteten Läszlo Vajda, Leo Lania und Bela Baläzs, Uraufführung war am 19. Februar 1931 im Berliner Atrium. Der Autor klagte gegen diesen Film und beschrieb in einem Essay diesen Dreigroschen-Prozeß als ein soziologisches Experiment.62

Weimar, eine Epoche zwischen Krise und Aufbruch Die Diskussion um eine Bücherkrise in der Weimarer Republik zeigte, dass sich in diesen 15 Jahren das Verständnis vom Buch deutlich wandelte; es büßte seinen Nimbus als hohes Kulturgut ein und offenbarte deutlicher denn je seinen Warencharakter. Wichtige kulturelle Strömungen sind seitdem nicht mehr durch das frühere Leitmedium Buch allein zu interpretieren, sondern nur im Medienverbund: Neben das Buch rückten gleichberechtigt die illustrierten Zeitungen und Zeitschriften, der Hörfunk und die Schallplatte, der Stummfilm und der Tonfilm. Durch ihre Massenwirkung erreichten vor allem die aktuelle, illustrierte Tagespresse und der Film schnell eine meinungsbildende Wirkung. Darüber hinaus veränderten die bildbezogenen Medien die Seh- und Rezeptionsgewohnheiten des Publikums, ein Vorgang, der von manchem Beobachter mit Begeisterung quittiert wurde: »Das Bild wird eine der wirksamsten Waffen werden gegen den Intellektualismus, gegen die Mechanisierung des Geistes. >Nicht mehr lesen! Sehen! < wird das Motto der Erziehungsfragen sein.«63 Viele Kommentatoren der Entwicklung sahen damals eine radikale Umwälzung heraufdämmern, von der Buchkultur zur Filmkultur; sie erwarteten eine echte Zeitenwende und rechneten nicht mit einer Koexistenz der unterschiedlichen Formen. 64 Die Apokalyptiker unter ihnen glaubten den Trend der Zeit klar erkannt zu haben: »Los vom Buch! Schreit haufenweise eine Generation, die im Kraftwagen oder auf dem Laufrad durch die Lande rast, bobt und boxt, und die Bedürfnisse der Phantasie optisch im Kino und akustisch durchs Radio befriedigt. Lesen bedeutet ihr eine graue Abstraktion vom Leben, und Leben ist alles; im Leben selber wird sein Sinn gesucht.«65 Wieder andere geißelten jene Phänomene des Sensationalismus, die als typisch »amerikanisch« angesehen wurden,66 und deren schädliche Auswirkungen auf das deutsche 61 Als Heft 3 seiner Publikationsreihe Versuche. 62 Ebenso in Heft 3 der Versuche. 63 So Johannes Molzahn in einem im Kunstblatt 12/1928 erschienenen Beitrag Nicht mehr lesen! Sehen! (hier zit. nach: Weimarer Republik. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1918-1933, S. 228). 64 Vgl. etwa den Beitrag, den Adolf Behne 1926 zu dem vom Verlag der Weltbühne gemeinsam mit der Berliner Buchhandlung L.R. Prager veranstalteten Preisausschreiben zum Thema Die Stellung des Publikums zur modernen deutschen Literatur eingesandt hatte. Der Beitrag ist abgedruckt in: Die Weltbühne 22 (1926) 20, S. 774-777. 65 Willy Hellpach: Treue dem Buch. In: Aus Wissenschaft und Antiquariat. Festschrift zum 50jährigen Bestehen der Buchhhandlung Gustav Fock GmbH. Leipzig 1929, S. 1 -8; hier S. 1. 66 Vgl. Hierzu den Abschnitt Die Auseinandersetzung mit dem kulturellen Amerikanismus in: Weimarer Republik. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1918-1933, S. 265-286.

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Geistesleben: »Hauptsache ist schreien! schreien! schreien! Maßhalten ist verpönt. Trunkenheit ist Trumpf! Reklame ist Losung! Amerika lebe hoch!«67 In der Retrospektive relativieren sich diese Befunde und Visionen allerdings ganz beträchtlich. Von Krise und dem Niedergang der Buchkultur war zwar viel die Rede (und ökonomisch wurde der Buchhandel Ende der 1920er Jahre von der Krise tatsächlich eingeholt)68, doch stellt sich für die Jahre 1918-1933 die Epochenbilanz auch in buchhandelsgeschichtlicher Betrachtung als eine ausgesprochen reichhaltige dar. Aus den in diesem und im folgenden Teilband versammelten Beiträgen wird deutlich werden, dass sich das Buch in der Weimarer Zeit in vielfältigen Zusammenhängen im Zentrum der Diskussion befand. Jedes Verbot der in der Republik erstarkenden Zensur bestätigte indirekt die Bedeutung des gedruckten Mediums, und ähnliches gilt fur die Reformbestrebungen zum Urheberrecht, das von Autoren und Verlegern nicht nur aufgrund neuer Möglichkeiten zur Verwertung von Werknutzungsrechten in Rundfunk und Film intensiv debattiert wurde. Die Autoren lieferten durch ihr Organisationsverhalten, die energische Vertretung ihrer Interessen und die gründliche Reflexion ihrer gesellschaftlichen Rolle ein höchst ergiebiges Untersuchungsmaterial, und wie die Weimarer Zeit in der Geschichte des Schriftstellertums einen besonders aufschlussreichen Abschnitt darstellt, so trat auch das Lesepublikum in eine historisch spannende Phase ein, bedingt durch tiefgreifende Umschichtungen, die zeitgenössisch nicht nur zu empirisch-lesesoziologischen Erhebungen herausforderten, sondern in Buchhandel und Bibliothekswesen auch zu zahlreichen neuen Initiativen im Bereich der Lesergewinnung und Leseförderung, gerichtet an soziale Schichten und Milieus, die durch gewaltige Modemisierungsschübe einen stark gestiegenen Orientierungsbedarf hatten. Oftmals plakativen Ausdruck fanden die neuen Formen der Zielgruppenansprache in der äußeren Gestaltung der Bücher; der Schutzumschlag wurde kompromisslos als Werbefläche interpretiert und zusammen mit der Typographie in den Dienst des überbordenden Ausdruckwillens der Zeit genommen. Dass Buchkunst und Buchgestaltung, auch bibliophiles Interesse in der Weimarer Republik eine Blütezeit erlebten, fugt dem Gesamtbild eine wichtige Facette hinzu. Der Buchhandel sah sich also nach 1918 nicht nur einer bewegten politischen und wirtschaftlichen Lage, sondern auch in gesellschaftlich-kultureller Hinsicht markant veränderten Rahmen- und Entwicklungsbedingungen gegenüber gestellt. Eine besondere Herausforderung bedeutete dies für die Branchenorganisation, für den Börsenverein der Deutschen Buchhändler, der die explosiv gewachsenen inneren Spannungen durch strukturelle Reorganisation zu bewältigen suchte und zugleich in schwieriger Zeit die marktregulierenden Maßnahmen setzen musste, mit denen das Funktionieren des System des deutschen Buchhandels - schon damals das weitaus differenzierteste und leistungsfähigste weltweit - sicher gestellt werden konnte. Dass dies allen Hindernissen zum Trotz in beachtlichem Maße gelang, zeigen die Produktionsziffern des Buchverlagswesens, das sich gegenüber den krisenhaften Entwicklungen der Gesamtwirtschaft zwar nicht unempfindlich, aber in der Grundsubstanz doch einigermaßen beständig 67 J. E. Poritzky: Jack London oder: Das Übermaß der Anerkennung (1927/28); hier zit. n. VogtPraclik: Bestseller in der Weimarer Republik 1925-1930, S. 22. 68 Noch im Frühjahr 1929 konnte Willy Haas als Ergebnis einer Rundfrage bei großen Leipziger Verlagshäusern eine vergleichsweise günstige Situation des deutschen Verlagsgewerbes konstatieren, vgl. die Artikelserie in Die Literarische Welt, April u. Mai 1929.

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zeigte. Wie sich damals auch Erfolgsgeschichten schreiben ließen, zeigt unter anderem der Blick auf den Wissenschaftsverlag und das Fachverlagswesen; aus der Beobachtung der Kräfte Verschiebungen zwischen den Programmbereichen und der neuen Schwerpunktbildungen, auch der Sonderentwicklungen und -konjunkturen wie bei den politischweltanschaulichen Verlagen ergibt sich gleichsam von selbst ein Profil der Epoche. Nach außen unauffällig, nach innen aber wirksam änderte sich auch die Organisation der Verlagsarbeit; die gestiegene Bedeutung des Lektors ist nur ein Indiz dafür. Konzernbildung, Konzentration gehören ebenfalls zu den Themen, die in der Weimarer Republik neue Dimensionen gewannen. Dies gilt nicht nur für die großen Pressekonzerne wie Ullstein, die sich auch im Buchverlag betätigten und aus diesen Verbundformen eindrucksvolle Synergieeffekte erzielten; Konzentration verschaffte auch dem Zwischenbuchhandel beträchtlich vergrößerte Spielräume für strategisches Handeln auf dem Markt. Auch im Buchexport war ausgreifendes unternehmerisches Agieren gefordert, allein schon zur Schadensbegrenzung nach dem Ersten Weltkrieg. Ein Lehrstück anderer Art hielt die Weimarer Zeit für den Sortimentsbuchhandel bereit: Das Auftreten neuer Vertriebswege für das Buch, allen voran der Siegeszug der Buchgemeinschafitsidee, aber z.B. auch der offensiv agierende Warenhausbuchhandel und der Verkehrsbuchhandel stellten eine Herausforderung dar, die es erst einmal zu erkennen und im weiteren zu bewältigen galt. Bei aller Traditionslastigkeit gab es aber auch im Bereich des konventionellen Buchhandels frische Ideen und in der jüngeren Generation die Bereitschaft, manchem althergebrachten Schlendrian >den Zopf abzuschneidend Dass es der Welt des Buches und des Buchhandels in der Weimarer Zeit an Lebendigkeit gefehlt hätte, wird man schon nach solchen Andeutungen nicht für wahrscheinlich halten dürfen. Kaum 15 Jahre umfasst der Beobachtungszeitraum, und doch hält er so reichen Stoff bereit, dass es keine Mühe macht, daraus das Bild einer eigenständigen, dynamischen Epoche der deutschen Buchhandelsgeschichte zu rekonstruieren.

Literatur Quellen ACKERMANN, Eduard: Geschichte des Buchhandlungs-Gehilfen-Vereins. Leipzig o.J. BERMANN FISCHER, Gottfried: Bedroht - bewahrt. Weg eines Verlegers. Frankfurt a.M.: S. Fischer 1967. BORGIUS, Walther: Zur Sozialisierung des Buchwesens. Berlin: Verlag Neues Vaterland, E. Berger u. Co. 1919. Der Allgemeine Deutsche Buchhandlungsgehilfen-Verband 1898-1922. Festschrift zur Feier des Fünfzigjährigen Bestehens. Leipzig 1922. DETTE, Walter: Die Sozialisierung der Buchproduktion und des Buchhandels. Hannover: Banas & Dette 1919. FISCHER, Samuel: Bemerkungen zur Bücherkrise. In: Das 40. Jahr. Berlin: S. Fischer 1926, S. 80-85. FISCHER, Samuel: Novitätensucht. In: Börsenblatt 94 (1927) 279, S. 1402 f. HOFMANN, Walter: Buchpolitik. Vortrag, gehalten am 17. März 1929 im Alten Theater zu Leipzig anlässlich des »Tages des Buches«. In: Ders.: Buch und Volk, Köln: Der Löwe. 1951, S. 9 - 1 5 . JÄGER, Christian/Schütz, Erhard: Glänzender Asphalt. Berlin im Feuilleton der Weimarer Republik. Berlin: Fannei & Walz 1994 (Berliner Texte NF 10). KRACAUER, Siegfried: Über Erfolgsbücher und ihr Publikum (1931). In: Ders.: Schriften, Bd. 5.2, Aufsätze 1927-1931. Hrsg. v. Inka Mülder-Bach. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1990, S. 334-342.

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28

1 Voraussetzungen und

Entwicklungstendenzen

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29

Volker Hentschel 1.2

Wirtschaft und Politik in der Weimarer Republik Ein Überblick

Einleitung Die Republik von Weimar ist gescheitert, politisch und wirtschaftlich. Eins hing mit dem Anderen zu beiderseitigem Nachteil zusammen. Die Republik hätte ihre politischen Schwächen und Anfechtungen höchst wahrscheinlich verwunden und überstanden, wenn sie wirtschaftlich erfolgreich gewesen wäre. Die wirtschaftliche Erfolglosigkeit wurde aber ihrerseits von Belastungen ergänzt und zeitweise dramatisiert, die sich aus den politischen Schwächen und Anfechtungen der Republik ergaben. Die Wechselwirkungen verschärften die Probleme schließlich zum gemeinsamen Desaster. Einen Index für das wirtschaftliche Versagen liefert die Entwicklung des Bruttosozialprodukts:

Tatsächlicher Wachstumsverlauf

— Wachstumstrend (Durchschnittswachstum 1890-1990)

Säkulare Entwicklung des realen BIP pro Kopf (Gebiet der Bundesrepublik vor 1990). Quelle: Angus Maddison, Monitoring the World Economy 1820-1992, Paris 1995, SVR, Jahresgutachten 1998/1999

30

1 V o r a u s s e t z u n g e n und E n t w i c k l u n g s t e n d e n z e n

Sie ordnet das wirtschaftliche Wachstum in der Weimarer Republik in dessen säkularen Verlauf ein.1 Die durchgezogene Linie zeichnet den tatsächlichen Verlauf des Bruttosozialprodukts je Einwohner in festen Preisen nach, die gestrichelte Gerade gibt einen Wachstumstrend wieder, dem die durchschnittliche Wachstumsrate von 1890 bis 1990 zu Grunde liegt. Wenn das Bruttosozialprodukt je Einwohner von 1890 bis 1990 jährlich um die gleiche Rate, nämlich um 2 Prozent pro Jahr gewachsen wäre, dann hätte sich die deutsche Wirtschaft entlang der Trendlinie entwickelt. Tatsächlich tat sie dies nur zeitweise. Im Vierteljahrhundert vor dem 1. Weltkrieg und im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts stimmten das tatsächliche und das langfristig durchschnittliche Wachstum annähernd miteinander überein. Zwischendurch aber gab es beträchtliche Abweichungen nach unten und nach oben. In der Weimarer Republik wich das mittelfristige Wachstum vom langfristig »normalen« Wachstum deutlich nach unten ab. Die Republik trat in derlei Abweichung ein und perpetuierte sie. Im Ersten Weltkrieg war das reale Bruttosozialprodukt je Einwohner um ca. 20 Prozent geschrumpft. Während der Weimarer Republik schwankte es heftig, ohne dabei mehr als marginal zu wachsen und sich dadurch dem Trend wieder anzunähern. Deshalb war das reale Bruttosozialprodukt je Einwohner 1932 gut 40 Prozent kleiner als es hätte sein können, wenn es über 1913 hinaus im vorher üblichen Tempo weiter gewachsen wäre. Der Wohlstandsverlust war enorm und dennoch nicht der bedeutsamste Ausdruck der wirtschaftlichen Fehlentwicklungen in der Weimarer Republik. Schlimmer, weil ökonomisch-sozial unmittelbarer spürbar und deshalb historisch-politisch wirkungsvoller, waren die große Inflation in der Anfangsphase und die dramatische Unterbeschäftigung in der Endphase der Republik. Die Inflation war wesentlich politisch begründet, das katastrophale Ausmaß der Arbeitslosigkeit wurde von politischen Einflüssen erheblich mitbestimmt. Beides wirkte auf die politische Konstitution der demokratischen Republik schwächend und am Ende letal zurück. Der folgende Überblick geht den Ursachen, Wirkungen und Konsequenzen der großen Inflation, der außergewöhnlichen Wachstumsschwäche und der folgenschweren Beschäftigungskrise in der Weimarer Republik in deren wechselseitigen Beziehungen und in ihren Zusammenhängen mit der Politik weiter nach. Unvollendete Revolution und unverträgliche

Friedensbestimmungen

Die Weimarer Republik trat mit drei Geburtsfehlern ins Leben. Ein Geburtsfehler war die Revolution von 1918/19, der andere war der Friedensvertrag von Versailles, der dritte die Inflation. Alle drei waren Hinterlassenschaften des Kaiserreichs. Ende Oktober 1918 weigerten sich die Matrosen der Kriegsmarine in der Nordsee, dem vom Reichskanzler nicht autorisierten Befehl zum Auslaufen gegen England noch einmal zu folgen. Es kam zur Meuterei und zur Verhaftung der Meuterer. Die Kieler Werft- und Hafenarbeiter solidarisierten sich mit den Meuterern und befreiten sie; ein Arbeiter- und Soldatenrat übernahm gewaltsam die Stadtverwaltung. Der Vorgang wirkte beispielgebend. Es war, als hätte die im Krieg kumulierte Protestbereitschaft großer Teile der deutschen Bevölkerung auf die Zündfunken, die aus 1 Die zugrunde liegenden Daten beziehen sich im gesamten Zeitraum auf das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland von 1956 bis 1999.

1.2 W i r t s c h a f t und P o l i t i k in der W e i m a r e r R e p u b l i k

31

Kiel herüberflogen, nur gewartet. Eine Stadt nach der anderen tat es Kiel gleich. Anfangs handelte es sich um Revolten aus Empörung, Hunger und Erschöpfung. In München gewann die Bewegung revolutionären Gehalt. Am 7. November 1918 proklamierte Kurt Eisner den »Republikanischen Freistaat Bayern«. Zwei Tage später erreichte die Revolution Berlin. Am frühen Nachmittag des 9. November rief der Vorsitzende der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion Philipp Scheidemann die Deutsche Republik aus. Er tat dies freilich weniger aus revolutionärem Antrieb als von der Furcht geleitet, dass der radikalere Karl Liebknecht ihm zuvorkäme und eine sozialistische Räte-Republik proklamierte. Denn die Sozialdemokraten waren damals nichts weniger als einig. Von der reformistischen SPD hatten sich im Krieg die Unabhängigen Sozialdemokraten (USPD) getrennt. Die Führer der beiden Parteien überbrückten mühevoll deren Gegensätze und bildeten gemeinsam einen Rat der Volksbeauftragten, der gemeinsam mit nachgeordneten bürgerlichen Fachministern die Geschäfte der Reichsregierung übernahm. Am linken Rand der USPD regte sich aber bereits eine Gruppe noch radikalerer, wahrhaft revolutionärer Sozialisten, die sich »Spartakus« nannte. Zu ihr gehörten Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg. Die ideologischen und die politisch-taktischen Spannungen zwischen diesen Richtungen der Sozialdemokratie gaben den revolutionären und den staatsbildenden Vorgängen der nächsten Monate Farbe und Konturen. Es ging vor allem um zwei Fragen: Sollte die staatliche Neubildung möglichst bald einer frei gewählten verfassunggebenden Versammlung anvertraut werden oder sollte der neue Staat gleichsam urwüchsig und allmählich aus der revolutionären Situation hervorgehen? Und sollten die alten Führungseliten - voran die hohen Beamten, die Generalität und das Unternehmertum rasch und schonungslos beseitigt werden oder waren sie für den geordneten Übergang von der desolaten Kriegs- zur geordneten Friedensgesellschaft vorerst unerlässlich? Die Mehrheit der Sozialdemokraten wollte den demokratischen Verfassungsstaat und glaubte, die Generäle fur die Demobilisierung der Armee, die Fachbeamten fur die Reorganisation des Staates und die Unternehmer für eine möglichst reibungsarme Umstellung der Kriegs- auf eine Friedenswirtschaft und für die Wiedereingliederung einiger Millionen demobilisierter Soldaten in den Produktionsprozess zu brauchen. Sie befürchtete, dass der Verzicht auf deren Kenntnisse und Fähigkeiten das ohnehin erschütterte Land der Anarchie und dem Elend preisgäbe. Das Beispiel Russlands unter der Herrschaft der Bolschewiki schreckte. Es kann dahinstehen, ob der Glaube richtig und die Furcht berechtigt waren. Jedenfalls bestimmte beides die Entscheidung der Mehrheitssozialdemokraten gegen die Fortsetzung der Revolution und deren Ausweitung ins Wirtschaftlich-Soziale und damit für die Überlieferung macht- und wirkungsvoller Traditionsbestände in die Republik. Die Beamten blieben im Amt, die Offiziere behielten die Befehlsgewalt, die Wirtschaft blieb kapitalistisch. In den letzten Dezembertagen lehnte der Erste Allgemeine Kongress der Arbeiterund Soldatenräte unter dem Einfluss der Mehrheitssozialdemokraten den Antrag ab, das Rätesystem zur Grundlage der künftigen Staatsverfassung zu machen, und sprach sich für die baldige Wahl einer Verfassunggebenden Versammlung aus. Die USPD verließ deswegen den Rat der Volksbeauftragten und die revolutionären Sozialisten schlossen sich zur Sozialistischen Partei zusammen und riefen zum Generalstreik und zum Sturz der Regierung auf. Demonstrationen gegen Regierungsmaßnahmen wuchsen sich weit-

32

1 V o r a u s s e t z u n g e n und E n t w i c k l u n g s t e n d e n z e n

gehend eigendynamisch zu einer Revolte gegen die staats- und die wirtschaftspolitischen Absichten der Mehrheitssozialdemokraten aus. Der Volksbeauftragte Noske schlug den sogenannten Spartakus-Aufstand mit Freiwilligenverbänden der alten Reichswehr unter Führung der alten Offiziere blutig nieder. Das haben die Kommunisten der SPD nie verziehen; die Sozialdemokraten blieben bis zum Ende der Republik ihr hauptsächlicher politischer Feind. An der Wahl zur Verfassunggebenden Nationalversammlung vom 19. Januar 1919 nahmen die Kommunisten nicht teil. Die SPD und die USPD gewannen keine Mehrheit. Das enthob die SPD des problematischen Unterfangens, mit der USPD über eine Regierungskoalition zu verhandeln. Sie schloss statt dessen ein Gründungsbündnis mit dem Zentrum und der Deutschen Demokratischen Partei, das sich auf ca. 75 Prozent der Wählerstimmen berufen konnte. Ergebnisse der Reichstagswahlen 1919-1932 (in Prozent der abgegebenen Stimmen) 19.01.1919 Wahlbeteiligung

06.06.1920

04.05.1924

07.12.1924

20.05.1928

14.09.1930

31.07.1932

06.11.1932

78,4%

76,3%

77,7%

74,6%

81,4%

83,4%

79,9%

SPD

37,9%

21,6%

20,5%

26,0%

29,8%

24,5%

21,6%

20,4%

Zentrum

19,7%

13,9%

13,4%

13,5%

12,1%

11,8%

12,4%

11,9%

BVP

(mit Zentr.)

4,2%

3,2%

3,7%

3,1%

3,0%

3,2%

3,1%

DDP

18,5%

8,3%

5,7%

6,3%

4,8%

3,8%

1,0%

0,9%

demokrat Potential

76,1%

48,0%

42,8%

49,5%

49,8%

43,1%

38,2%

36,3%

4,4%

13,9%

9,3%

10,1%

8,7%

4,5%

1,2%

1,9%

10,3%

15,1%

19,5%

20,5%

14,2%

7,0%

5,9%

8,3%

6,6%

3,0%

2,6%

18,3%

37,3%

33,0%

DVP DNVP NSDAP





autoritäres Potential

14,7%

29,0%

35,4%

33,6%

25,5%

29,8%

44,4%

43,2%

USP/KPD

7,6%

20,9%

13,4%

9,2%

10,6%

13,1%

14,3%

16,9%

Partikulare

1,6%

2,1%

8,4%

7,7%

14,1%

14,0%

3,1%

3,6%

Quelle: Alfred Milatz, Wähler und Wahlen in der Weimarer Republik, Bonn 1965

Die Weimarer Nationalversammlung hatte zwei hauptsächliche Aufgaben. Sie musste eine Verfassung für die demokratische Republik entwerfen und Frieden schließen. Sie tat beides im Rahmen des Möglichen. Was sie tat, verhalf der Republik zu Leben und beeinträchtigte zugleich deren Überlebensfähigkeit.

1.2 W i r t s c h a f t und P o l i t i k in der W e i m a r e r R e p u b l i k

33

Ende Oktober 1918 hatte die Reichsregierung der dritten Aufforderung des amerikanischen Präsidenten Wilson zugestimmt, unter folgenden Voraussetzungen über einen Waffenstillstand zu verhandeln: Deutschland räumt alle besetzten Gebiete, beendet sofort den U-Boot-Krieg und tut nichts, was geeignet wäre, die augenblickliche militärische Überlegenheit der Alliierten zu verändern. Der Kaiser dankt ab. Die Oberste Heeresleitung, die noch wenige Wochen zuvor auf Waffenstillstandsverhandlungen gedrängt hatte, wies die Zumutungen nun zurück. Deshalb übernahm erstmals in der Kriegsgeschichte kein General, sondern ein Politiker die Leitung einer Waffenstillstandsdelegation. Die militärische Führung drückte sich darum, offen die Konsequenzen aus ihrem Scheitern zu ziehen. Abseits der Öffentlichkeit erkannte sie die Notwendigkeit, auf die Waffenstillstandsbedingungen einzugehen, an. Am 11. November 1918 telegrafierte der Chef der Obersten Heeresleitung, Paul von Hindenburg, aus dem Hauptquartier im belgischen Spa an den Leiter der Waffenstillstandsdelegation in Compiegne, den Zentrumsabgeordneten Mathias Erzberger, dass er keine Wahl habe und akzeptieren müsse. Das war alsbald vergessen und das, was aus Notwendigkeit geschehen war, hing fortan den Gründern der Republik und der Republik selbst als Odium an. Der Waffenstillstand galt 36 Tage. Es gelang Erzberger mit Mühe, ihn dreimal zu verlängern. Dabei musste er freilich Mal für Mal schwerer drückende Auflagen hinnehmen. Dann wurden in Versailles Friedensverhandlungen aufgenommen, die den Namen Verhandlungen eigentlich nicht verdienten. Am 7. Mai 1919 legt man der deutschen Delegation unter Außenminister Brockdorff-Rantzau die umfänglichen Friedensbedingungen mit dem Hinweis vor, dass es eigentlich nichts zu verhandeln, sondern nur etwas zu unterschreiben gebe. Die wichtigsten Bestimmungen sind bekannt: Ein Siebtel des Reichsgebiets mit erheblichen Getreideüberschüssen, einem Drittel der deutschen Kohleforderung, drei Viertel der Erzlager und 40 Prozent der Roheisen- und Stahlkapazitäten waren abzutreten. Das Rheinland sollte je nach Region fünf bis fünfzehn Jahre lang besetzt werden und danach dauernd entmilitarisiert bleiben. Deutschland durfte keine Kolonien mehr besitzen. Seine Heeresstärke sollte künftig hunderttausend Mann, die Stärke der Marine 15.000 Mann nicht mehr überschreiten. Die Wehrpflicht war abzuschaffen. Der von Österreich erwünschte Zusammenschluss mit Deutschland wurde ein für allemal untersagt. Deutschland musste die Alleinschuld am Krieg anerkennen und deshalb umfangreiche Entschädigungen bezahlen. Die deutsche Öffentlichkeit reagierte mit einem Aufschrei der Empörung. Die Unternehmerverbände und die Gewerkschaften erklärten übereinstimmend, dass die Annahme der Bedingungen einem Todesurteil für die deutsche Wirtschaft gleichkomme. Die Mehrheit in Regierung und Reichstag lehnte die Unterschrift spontan ab. Am 16. Juni 1919 forderten die Alliierten Deutschland ultimativ dazu auf, den Vertrag binnen einer Woche anzunehmen. Andernfalls gehe der Krieg weiter und Deutschland werde besetzt. Die Regierung Scheidemann trat zurück. Die DDP blieb ihrer Nachfolgerin fern. Die Entscheidung für Annahme oder Ablehnung des Friedensdiktats hing von der Haltung des Zentrums ab. Erneut trat Erzberger in den Vordergrund des Geschehens. Er wog den Ehrenstandpunkt und die nationale Integrität gegeneinander ab, fand, dass der Erhalt der Nation schwerer wog, und brachte in letzter Minute eine ausreichende Zahl von Zentrumsabgeordneten dazu, der bedingungslosen Unterschrift zuzustimmen. Außer ihnen stimmten alle Abgeordneten der SPD und der USPD sowie wenige

34

1 V o r a u s s e t z u n g e n und E n t w i c k l u n g s t e n d e n z e n

Abgeordnete der DDP zu. Vor der Abstimmung wurden die konservativen und die liberalen Gegner gefragt, ob sie die Regierung und mit ihr die Verantwortung für die Ablehnung übernehmen wollten. Das wollten sie nicht. Sie billigten der zustimmenden Mehrheit jedoch ausdrücklich patriotische Motive zu. Die Annahme des Versailler Vertrages ruhte mithin auf der Übereinstimmung aller politischen Richtungen - mit dem Unterschied freilich, dass die Sozialdemokraten, eine Mehrheit des Zentrums und eine Minderheit der DDP offen »ja« sagten, während die äußerste Linke, die Liberalen und die Konservativen nur unauffällig eingestanden, dass es keine Alternative gebe. Wahrscheinlich hätte dieser Unterschied weniger große Bedeutung erlangt, wenn der Vertrag nicht so vieles in der Schwebe und als ständige Erinnerung virulent gelassen hätte. Insbesondere die Anerkennung der Kriegsschuld und die Aberkennung der politischen und militärischen Gleichberechtigung blieben als innenpolitischer Zündstoff gegen den Staat von Weimar und dessen Gründer unverbraucht. Dazu kamen die Reparationen. Kein anderer Bestandteil des Versailler Vertrages hat aus politisch-psychologischen Gründen so viel ökonomischen Schaden mit schwerwiegenden politischen Konsequenzen gestiftet wie sie. Die Sieger waren sich in Versailles zwar darin einig, dass Deutschland Entschädigungen leisten sollte; über deren Höhe und Modalitäten gingen die Meinungen aber so weit und vorerst unversöhnlich auseinander, dass die Entscheidung darüber aufgeschoben wurde. Zunächst wurde Deutschland dazu verpflichtet, binnen Kurzem Vorleistungen im Wert von 20 Milliarden »Goldmark« zu erbringen. Über die Gesamthöhe und den zeitlichen Zahlungsrhythmus sollte eine internationale Reparationskommission ohne deutsche Beteiligung befinden. Die 20 Milliarden entsprachen einer knappen Hälfte der jährlichen Wirtschaftsleistung. Es ist ungeklärt, wie viel davon bis zur Verabschiedung des Plans der Reparationskommission im Mai 1921 tatsächlich geleistet wurde. Für ein wirtschaftlich erholungsbedürftiges Land, das an zerrütteten Staatsfinanzen und fortschreitender Geldentwertung laborierte, war es mit Sicherheit zu viel. Schlimmer noch war freilich die Art und Weise, wie der - materiell erträgliche - Vorschlag der Reparationskommission politisch umgesetzt wurde. Sie gab einem Inflationsprozess, der zur Ruhe gekommen zu sein schien, neue Impulse und eine Dynamik, die ihn unaufhaltsam werden ließ. Der Inflation erster Teil: Kriegsfinanzierung

und

Kriegsfolgekosten

Die Inflation war ebenfalls eine Hinterlassenschaft des Kaiserreichs. Die Kriegführung beanspruchte rund die Hälfte aller Güter und Leistungen, die während des Krieges in Deutschland erzeugt wurden. Der Anspruch des Krieges war ein Anspruch des Staates an das Sozialprodukt. Um die Aneignung einer Hälfte des Sozialproduktes ordnungsgemäß zu finanzieren, hätte der Staat dessen Erzeugern etwa die Hälfte der Einkommen wegnehmen müssen, die sie mit der Herstellung des Sozialprodukts erwarben. Das erschien als unzumutbar und geschah nicht, ebenso wenig wie in einem anderen kriegführenden Land. Überall wurde nur ein kleiner Teil der Kriegskosten mit Steuern, der sehr viel größere Teil mit Krediten finanziert. In Deutschland war der Steueranteil extrem klein; er betrug nicht mehr als sechs Prozent. 94 Prozent der Kriegskosten wurden mit Hilfe öffentlicher Kredite bestritten. In der ersten Hälfte des Krieges gelang es dem Staat, die erforderlichen Mittel in vollem Umfang durch den Verkauf von »Kriegsanleihen« an Banken, Versicherungen, sonstige Unternehmen und private Haushalte aufzubringen. In

1.2 W i r t s c h a f t und P o l i t i k in der W e i m a r e r R e p u b l i k

35

der zweiten Hälfte gelang ihm dies nicht mehr. Deshalb wurde nun ein zunehmender Teil der Kriegsausgaben durch den Verkauf von »Schatzwechseln« an die Reichsbank finanziert. Am Ende des Krieges belief sich der Teil auf rund ein Drittel der gesamten Kriegskosten. Die Kredite der Privaten und der Reichsbankkredit hatten manches miteinander gemein, anderes unterschied sie von einander. Gemeinsam war den Krediten, dass der Staat sie zu gegebener Zeit zurückzahlen und bis dahin verzinsen musste. Ein Unterschied war, dass die Reichsanleihen erst nach mehreren Jahren, die Schatzwechsel aber schon nach wenigen Monaten einzulösen waren. Der andere Unterschied war, dass der Kauf von Reichsanleihen mit Geld erfolgte, das bereits vorhanden war, wogegen die Reichsbank die Schatzwechsel mit Geld kaufte, das sie zum Zwecke des Kaufes zusätzlich schaffte. Geld, das eine Zentral- und Notenbank verlässt, ist immer zusätzliches Geld. Im einen Fall, beim Verkauf von Reichsanleihen, wurde mithin Unternehmen und Haushalten Kaufkraft entzogen und dem Staat übertragen. Im anderen Fall, beim Verkauf von Schatzwechseln, wurde Kaufkraft neu geschaffen. Zugleich sank nun aber die Gütermenge, die zum Kaufe stand. Gegen Ende des Krieges gab es fast dreimal so viel Geld wie vor dem Krieg in Deutschland, wegen Mangels an Arbeitskraft und Rohstoffen wurden aber 20 Prozent weniger Güter erzeugt. Unter solchen Umständen steigen in Marktwirtschaften die Preise, weil jeder versucht, mit dem reichlich vorhandenen Geld möglichst viele knappe Güter an sich zu bringen. Die Preise stiegen denn auch, sie stiegen aber weniger stark, als das zunehmende Missverhältnis zwischen Geldmenge und Sozialprodukt eigentlich erwarten Heß. Zu erwarten war ein Preisanstieg auf etwa das Vierfache, tatsächlich stiegen die Preise bis zum Kriegsende nur auf gut das Doppelte. Der Grund dafür war, dass die deutsche Wirtschaft im Laufe des Krieges den Charakter einer Marktwirtschaft weitgehend einbüßte. Die zunehmende Geldmenge war sehr ungleich verteilt und es schien nicht anzugehen, dass die Bessergestellten, die sich hohe und immer höhere Preise leisten konnten, einen übergroßen Teil des stark schrumpfenden Angebots an Gütern des zivilen Bedarfs an sich zogen und dass die Minderbemittelten deswegen um so mehr darben mussten. Um das zu verhindern, schrieben amtliche Stellen für mehr und mehr Güter des zivilen Gebrauchs Höchstpreise vor und bestimmten die Mengen, die jemand von derlei Gütern erwerben durfte. Die Wirksamkeit des Marktes wurde außer Kraft gesetzt. Geld nützte beim Kauf preisgebundener Güter nur noch in Verbindung mit Bezugsscheinen. Da die Bezugsscheine rationiert waren, wurde viel Geld nutzlos. Es lag brach. Die zunehmende Geldmenge lief erheblich langsamer in der Wirtschaft um als üblich. Dabei wartete die Umlaufgeschwindigkeit aber nur darauf, zum Üblichen zurückzukehren. Beides zusammen, die nutzlose Geldfulle und der unterdrückte Beschleunigungswille der Umlaufgeschwindigkeit, ergab ein inflatorisches Potential, das vom Kaiserreich an die Republik weitergereicht wurde. In der Republik wurde das Potential wirksam. Noch vor dem halbrevolutionären Übergang vom Reich zur Republik hatten die Gewerkschaften und großindustrielle Unternehmer in ebenso denkwürdigem wie durchsetzungsfahigem Bunde miteinander die kaiserliche Regierung handstreichartig dazu veranlasst, die wirtschaftsordnungspolitischen Weichen in die Nachkriegszeit so zu stellen, dass sie zu einer kapitalistischen Marktwirtschaft zurückführten. Das Bündnis und sein Zweck überdauerten den Verfassungswandel und den Regierungswechsel. Am 15. November 1918 wurde es mit einem

1 Voraussetzungen und E n t w i c k l u n g s t e n d e n z e n

36

formellen Abkommen unterlegt. Der Rat der Volksbeauftragten ließ das private »StinnesLegien-Abkommen« im Reichsanzeiger drucken und gab ihm dadurch den Charakter eines regierungsamtlichen Dokuments. Die sozialistische Regierung bekannte sich damit ebenso wie die kaiserliche Regierung zum Erhalt eines freien Unternehmertums und zur zügigen Wiederherstellung marktwirtschaftlicher Verfahren. Das schloss die Sozialisierung dieses oder jenes Industriezweigs nicht schlechthin aus, negierte aber Sozialismus und staatliche Wirtschaftslenkung als ökonomisch-soziale Gestaltungsprinzipien. Nach und nach wurden die meisten Bewirtschaftungsmaßnahmen eingestellt und die Preisbildung freigegeben. Geld verschaffte wieder unbehinderten Zugang zu Gütern. Der Nachholbedarf an Gütern war groß. Deshalb war auch die Bereitschaft der Besitzer nutzlosen Geldes groß, viel davon für knappe Güter herzugeben. Und knapp blieben die Güter. Sie wurden beim reibungsreichen Übergang von der Kriegs- zur Friedenswirtschaft unter dem Einfluss anhaltend starker sozialer Unruhen sogar noch knapper. 1919 nahm das reale Bruttosozialprodukt um weitere 12 Prozent ab. Unter solchen Umständen schössen die nicht mehr gebundenen Preise in die Höhe. Der Preisanstieg passte das bemerkenswert verminderte Sozialprodukt und die stark vermehrte Geldmenge bei zunehmender Umlaufgeschwindigkeit des Geldes einander an. Die von der Preisbindung zurück gestaute Inflation wurde zur Anpassungsinflation. Mehr noch: Der Drang nach entbehrten Gütern und zunehmendes Misstrauen in den Wert des Geldes näherte die Umlaufgeschwindigkeit nicht nur dem Gewohnten wieder an, beides trieb sie über das Gewohnte hinaus. Geld wechselte den Besitzer neuerdings schneller als üblich: Triebkräfte und Verlauf der Inflation nach dem Ersten Weltkrieg Zeitpunkt

Schwebende Schuld Mrd. Mark

Umlaufgeschwindigkeit 1914 = 100

Preisniveau 1914 = 1

November 1918

50

62

2,35

September 1919

80

100

5,00

März 1920

92

170

17,00

Mai 1921

180

90

13,00

Juni 1922

295

220

70,00

Januar 1923

2 Bio.

740

278,00

Oktober 1923

7 Trio.

?

700 Mrd.

Quelle: Carl Ludwig Holtfrerich: Die deutsche Inflation 1914-1932. Berlin 1980 Und auch damit noch nicht genug: Die Geldmenge nahm weiter zu, weil der neue Staat nicht anders als der alte einen großen Teil seiner Ausgaben mit Reichsbankkrediten bestritt. Die Kriegsausgaben waren nicht etwa ersatzlos entfallen. An ihre Stelle traten Kriegsfolgekosten. Der Staat musste die Kriegsversehrten und die Kriegshinterbliebenen versorgen, musste die demobilisierten Soldaten mit Geld versehen, solange sie erwerbslos waren, überdies seine Kriegsschulden bedienen und schließlich die Kriegsentschädigungen aufbringen. Das summierte sich zwar nicht zu dem außerordentlich hohen Anspruch an das Sozialprodukt, zu dem sich die Kriegsausgaben summiert hatten, aber doch zu einem Anspruch, der erheblich größer war als das Steueraufkommen. Auf den Kredit der Unternehmen und der Haushalte konnte die überstürzt geschaffene,

1.2 W i r t s c h a f t und P o l i t i k in der W e i m a r e r R e p u b l i k

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von rechts und links angefochtene Republik nicht rechnen. Andererseits konnte und wollte die weisungsgebundene Reichsbank sich den Kreditbegehren der republikanischen Regierung so wenig verweigern, wie sie sich den Kreditbegehren der kaiserlichen Regierung hatte verweigern können und wollen. Sie füllte die Finanzierungslücke durch den fortgesetzten Kauf von Schatzwechseln. Deshalb verdoppelten sich die »schwebenden« Schulden des Reiches und die Geldmenge in den ersten anderthalb Jahren nach dem Krieg. Wenn nun die Geldmenge und die Umlaufsgeschwindigkeit des Geldes zunehmen, wenn also mehr Geldeinheiten in den Umlauf gelangen und zugleich jede Geldeinheit häufiger als üblich zu Güterkäufen verwendet wird, dann steigen die Preise um so schneller. Im Frühjahr 1920 war das volkswirtschaftliche Preisniveau siebenmal höher, als es bei Kriegsende, und siebzehn Mal höher, als es vor dem Krieg gewesen war. Dann schien der Preisauftrieb freilich zur Ruhe zu kommen. In den folgenden zwölf bis fünfzehn Monaten stiegen die Preise nicht nur nicht weiter, sie bewegten sich sogar spürbar nach unten. Dabei setzten die Kreditvergabe an die Reichsregierung und die Geldmengenvermehrung mitnichten aus. Die Regierung unternahm zwar im Herbst 1919 und im Frühjahr 1920 ernst gemeinte und höchst couragierte Anstrengungen, den Kreditbedarf mit Hilfe einer tiefgreifenden Finanzverfassungs- und Steuerreform zu vermindern. Der politische Kraftakt des Finanzministers Erzberger verschaffte dem Reich die bis dahin den Ländern belassene Finanzhoheit und erschloss ihm zugleich Steuerquellen, die zuvor den Ländern vorbehalten gewesen waren, namentlich die Einkommen der Haushalte und der Unternehmen. Er hob die Sätze der Einkommens- und der erst 1916 eingeführten und seitdem rudimentären Umsatzsteuer in Höhen, an die sich die kaiserliche Regierung im Krieg nicht herangetraut hatte. Er führte neue indirekte Steuern ein und erlegte den Eigentümern eine einmalige Vermögensabgabe beinahe konfiskatorischen Umfangs auf. Die Empörung des besitzenden Bürgertums und der politischen Rechten war groß und die Reform gewiss nicht dazu angetan, der Republik die benötigte Loyalität zu verschaffen. Dabei kam sie dem Ziel, den Reichshaushalt auf ordentliche Weise auszugleichen, kaum näher. Es erwies sich, dass die grundsätzlich richtige Reform zahlreiche praktische Defekte hatte, und dass es leichter war, sie vom Reichstag verabschieden zu lassen, als sie administrativ durchzusetzen. Deshalb blieb das Steueraufkommen trotz der Reform weit hinter dem Bedarf zurück und die Reichsregierung auf den Reichsbankkredit weiterhin dringend angewiesen. Wenn der Preisverlauf trotz fortgesetzter Geldmengenvermehrung bei mäßigem Wachstum des Sozialprodukts2 die Richtung wechselte, dann konnte der Grund dafür nur ein bemerkenswerter Rückgang der Umlaufgeschwindigkeit des Geldes sein. Tatsächlich normalisierte sich der Geldumlauf von Frühjahr 1920 an. Bis dahin hatte er sich so sehr beschleunigt, dass seine Rückkehr zum Normalen fast Halbierung bedeutete. Das neutralisierte die andauernde Wirkung der Geldmengenvermehrung auf die Preise und tat sogar noch etwas mehr als dies. Die Preise sanken ein wenig.

2 1920 nahm das reale Bruttosozialprodukt um knapp 10, 1921 um gut 10 Prozent zu, war aber immer noch ein Achtel geringer als im letzten Vorkriegsjahr.

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1 V o r a u s s e t z u n g e n und E n t w i c k l u n g s t e n d e n z e n

Soziale Unrast, militärischer Putsch und politischer

Wandel

Die Ursachen der Verlangsamung des Geldumlaufs lassen sich allenfalls nachempfinden, aber nicht zweifelsfrei feststellen. Es ist begründet anzunehmen, dass sie mit den Ursachen der vorhergehenden Beschleunigung zusammenhingen. Geld wird schnellstmöglich ausgegeben, in Sachwerte umgesetzt oder gegen fremde Währung getauscht, wenn das Vertrauen in seine Wertbeständigkeit erodiert. Jenes Vertrauen hat etwas mit politischer Stabilität, sozialem Frieden und wirtschaftlichen Erwartungen zu tun. Nichts davon gab 1919 und Anfang 1920 Anlass zu Vertrauen. Während im abgelegenen Weimar die Nationalversammlung über eine demokratische Verfassung für die Republik beriet, ohne sicher sein zu können, dass eine Mehrheit der Deutschen Demokratie und Republik wollte, ging eine breite Welle aggressiv geführter Streiks über das Land. Dabei handelte es sich selbstverständlich auch um eine Lohnbewegung, in seiner Radikalität aber vielerorts um mehr als das. Die Löhne waren während der Kriegszeit und im Zuge der Anpassungsinflation bemerkenswert hinter den Preisen zurückgeblieben. Die Arbeiter drängten, weniger von den traditionellen Gewerkschaften als von jungen, radikalen, hochgradig politisierten Aktivisten »wild« dazu getrieben, auf Ausgleich des Rückstandes und darüber hinaus auf einen höheren Anteil am Produktionsergebnis. Soweit es nur darum ging, gaben die Arbeitgeber alsbald nach und wälzten die Lohnerhöhungen in die Preise ab. Das fiel im Zeichen der Inflation nicht schwer, erwies den Lohnanstieg freilich schnell als scheinbar und begründete die nächste streikgestützte Lohnforderung. Die derart in Gang gebrachte und in Gang gehaltene Lohn-Preis-Spirale tat das ihre zur Beschleunigung des Geldumlaufs und der Inflation. Vielerorts erschöpften sich die Zwecke der Streiks aber nicht in Lohnerhöhungen. In den Bergbau- und Industrierevieren an Rhein und Ruhr und in Mitteldeutschland erstreckten sie sich auf Sozialisierung und eine maßgebliche Teilhabe von Arbeiterräten an den Unternehmensleitungen und erweiterten sich zu Generalstreiks. In Berlin und Bayern traten die politischen vollends vor die wirtschaftlichen Motive und Zwecke. Einerseits wurden die von den Gewerkschaften und den Unternehmern vereinbarte und regierungsamtlich bestätigte Wirtschaftsordnung, andererseits die von der Regierungskoalition gewollte Staats- und Gesellschaftsverfassung gewaltsam in Frage gestellt. Die Regierung ging notgedrungen mit Mitteln und Kräften dagegen vor, die ihre Autorität zu behaupten vermochten, dabei aber ihre politisch-moralische Legitimation in schwere Mitleidenschaft zogen. Sie verhängte den Belagerungszustand, entsandte Truppen, ließ Städte besetzen. Bürgerkriegsähnliche Zustände entwickelten sich. Die Zahl der Toten ging in die Tausende. Den räumlich gestreuten revolutionären Attacken, denen die unfertige wirtschaftliche und staatliche Ordnung im Jahr 1919 von links ausgesetzt war, folgte im Frühjahr 1920 der konzentrierte gegenrevolutionäre Angriff auf das demokratische Regime von rechts. Am 13. März marschierten illoyale Freiwilligenverbände in umstürzlerischer Absicht in Berlin ein. Die Regierung konnte davon nicht überrascht sein und war dennoch unvorbereitet. Sie vertraute nicht darauf, dass die Reichswehr ihren Befehl befolgte, den Putsch mit militärischen Mitteln niederzuschlagen, unterließ den Befehl deshalb und wich mehrheitlich zunächst nach Dresden, dann nach Stuttgart aus. Der ostpreußische Generallandschaftsdirektor Kapp erklärte sie für abgesetzt und rief sich zum Reichskanzler aus. Er waltete des okkupierten Amtes keine fünf Tage lang. Die gesellschaftliche

1.2 W i r t s c h a f t u n d P o l i t i k in d e r W e i m a r e r R e p u b l i k

39

Tragkraft und der militärische Rückhalt des eiligen Putsches erwiesen sich schnell als schmal und schwach. Die ostelbischen Eliten unterstützten ihn, die west- und die mitteldeutschen Unternehmer lehnten ihn aus praktischen ökonomischen Gründen auch dann ab, wenn sie seine politischen Zwecke begrüßten. Beamte in den preußischen Ostprovinzen machten den Umsturz zu ihrer Sache, die Reichsbürokratie und die preußischen Landesbeamten blieben, wenn schon nicht mit dem Herzen, so doch mit dem Kopf loyal. Und die Reichswehr hätte sich womöglich geweigert, auf die anrückenden Freikorps zu schießen, lief aber nur zu einem sehr geringen Teil zu ihnen über. Die Putschisten entbehrten somit des Zuspruchs und der Mittel, die es ermöglicht hätten, mit dem Generalstreik fertig zu werden, den die Gewerkschaften umgehend ausriefen und dem die Arbeiter mit kampfbereiter Entschiedenheit folgten. Am 17. März war nicht mehr daran zu zweifeln, dass der Putsch opferreich gescheitert war. Kapp und die militärischen Rädelsführer flohen. Die Regierung kehrte nach Berlin zurück, blieb unter dem drängenden Einfluss der vom Erfolg des Generalstreiks in ihrem Selbstbewusstsein gestärkten Gewerkschaften aber nicht die, die sie vor der Flucht gewesen war. Dem weitreichenden Anspruch der Gewerkschaften auf wirksame politische Mitsprache widersetzte die umgebildete und dabei personell aufgerüstete Regierung sich freilich und tat dies mit Erfolg. Unterdessen hatte der Generalstreik im Ruhrgebiet seine eigene, über das Ende des Kapp-Putsches hinaustragende Dynamik gewonnen. Radikale Vollzugsräte und Arbeiterwehren waren dort entstanden, die sich mit einrückenden Freikorps heftig und siegreich geschlagen und das Industriegebiet binnen kurzem ihrer Kontrolle unterworfen hatten. Für die »Rote Ruhrarmee« war die Etablierung einer legitimen Regierung in Berlin kein hinreichender Grund, das Revier zu räumen und sich aufzulösen. Die Regierung versuchte es mit Verhandlungen. Abkommen wurden geschlossen, aber nicht eingehalten. Die rote Herrschaft im Ruhrgebiet ging in Anarchie und Terror über. Schließlich ließ die Reichsregierung das Ruhrgebiet von Militärverbänden, vornehmlich von Freikorps, besetzen. Sie rief um der nötigen Demonstration ihrer Autorität willen Kräfte zur Hilfe, deren sich die Putschisten zum Sturz ihrer Vorgängerin bedient hatten, und sie rief sie gegen die Auswüchse einer Maßnahme zur Hilfe, die den Erfolg des Putsches vereitelt hatte. Im Zeichen des andauernden sozialen Unfriedens und der politischen Anfechtungen, die sich durchs Jahr 1919 hinzogen und ins Jahr 1920 hineinreichten, sowie unter dem Eindruck des Inhalts und der Umstände eines Friedensvertrages, der Deutschland auf politische Zweitrangigkeit verwies und seiner Wirtschaft schwere Belastungen auferlegte, schien es um so geratener zu sein, wertflüchtiges Geld deutscher Währung nicht lange zu halten, sondern schnellstens in wertbeständige Güter oder in Devisen umzusetzen. Eins erhöhte die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes, das andere senkte den Wechselkurs der Mark und verteuerte dadurch die Importe und die Reparationen. Beides trieb die Inflation voran. Nachdem die demokratische Republik sich gegen die Putschisten behauptet hatte und die Ordnung im Ruhrgebiet gewaltsam und opferreich wiederhergestellt worden war, kehrte eine relative Ruhe ein. Das revolutionäre Potential hatte sich erschöpft, die führenden Revolutionäre waren ermordet worden oder geflohen, die Streikbewegung ging in eine Lohnbewegung über. Im Sommer 1920 wurden ohne bemerkenswerte Widerstände die Freikorps aufgelöst. Am 6. Juni fanden die ersten Reichstagswahlen statt.

40

1 V o r a u s s e t z u n g e n und E n t w i c k l u n g s t e n d e n z e n

Die Regierungskoalition verlor ihre stattliche Mehrheit. Viele, die bei den Wahlen zur Nationalversammlung für sie gestimmt hatten, wendeten sich - enttäuscht von zu wenig oder aufgebracht von zu viel »Revolution« - entweder nach links zu den Unabhängigen Sozialdemokraten oder nach rechts zur wirtschaftsbürgerlichen Deutschen Volkspartei und zur hochkonservativen Deutschnationalen Volkspartei. Die Bildung einer Mehrheitsregierung bedingte die Erweiterung der »Gründungskoalition« nach links oder nach rechts. Die USPD hätte freilich mit einem Beitritt zur Koalition die Wählerbewegung desavouiert, die ihr zugute gekommen war. Und für die SPD kam eine formelle Koalition mit der DVP nicht in Frage. Die prekäre Konsequenz der Unvereinbarkeiten war ein Minderheitskabinett aus Angehörigen des Zentrums, der DDP und der DVP, das mit der parlamentarischen Unterstützung der SPD rechnen konnte. Der Vorgang war doppeldeutig: Einerseits trat eine Partei in die Regierung ein, die wichtige historisch-politische Voraussetzungen und Wesensmerkmale der Republik nicht anerkannte, andererseits machte ihre Regierungsbeteiligung es wirtschafits- und bildungsbürgerlichen Kreisen leichter, sich mit jenen Wesensmerkmalen widerwillig - und jederzeit widerruflich abzufinden. Die soziale Befriedung und die vorbehaltliche Konsolidierung der Republik wirkten geld- und währungswirtschaftlich beruhigend. Es schien nicht mehr so dringend wie vordem geboten zu sein, Geld in Sachwerte umzusetzen oder in Devisen zu flüchten. Ausländische Anleger vermuteten, dass die deutsche Wirtschaft unter solchen Umständen über kurzem zu alter Stärke zurückfände, dass die über Gebühr herabgedrückte deutsche Währung wieder aufwertete und dass es deshalb lohnte, sich zu niedrigen Wechselkursen in Mark zu engagieren. Die unmittelbaren praktischen Konsequenzen, die aus der Zukunft gerichteten Deutung der Umstände gezogen wurden, bestätigten jene Deutung. Die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes nahm bemerkenswert ab, der Wechselkurs der Mark stieg bemerkenswert an. Importe wurden wesentlich billiger. Die Inflation verflachte zunächst und schließlich verkehrte sich die Entwicklung des Geldwertes sogar. Es bleibt fraglich, ob die derart bewirkte Deflation den Kreditbedarf des Reiches auf mittlere Sicht so sehr hätte reduzieren können, dass dessen Deckung die Geldmenge nicht weiterhin übermäßig aufblähte. Die dauerhafte Stabilisierung der Mark konnte selbstverständlich nur gelingen, wenn beide Triebkräfte der Inflation unwirksam wurden. Die internationale Politik ließ freilich keine Zeit, um die Probe aufs Exempel zu machen. Die dramatische Zuspitzung des Reparationsproblems kam dem zuvor. Der Inflation zweiter Teil: Einfluss der

Reparationen

Das Problem wurde nach dem Ende der Friedensvertragsverhandlungen auf zweierlei Ebenen traktiert. In der internationalen Reparationskommission arbeiteten die Fachleute im Stillen an einer abschließenden Regelung, während die Politiker anlässlich internationaler Konferenzen und in deren Folge laut und konfliktorisch damit umgingen. Im Juli 1920 wurde in Spa die Verteilung der ihrem Umfang nach noch zu bestimmenden Entschädigungsleistungen festgelegt. Mehr als die Hälfte davon erhielt Frankreich zugesprochen. Außerdem wurde Deutschland dazu bestimmt, monatlich zwei Millionen Tonnen Kohle an die Alliierten zu liefern und im Falle unzureichender Lieferung die Besetzung des Ruhrgebiets zu dulden. Die Reichsregierung akzeptierte die Lieferpflicht, nicht das alliierte Sanktionsrecht. Im Januar 1921 verständigten die Reparationsgläubiger sich

1.2 W i r t s c h a f t und P o l i t i k in der W e i m a r e r R e p u b l i k

41

ohne Rücksicht auf die Tätigkeit der Reparationskommission in Paris darauf, Deutschland ein Fixum in Höhe von 226 Milliarden »Goldmark«3, das in 42 Jahresraten abzutragen wäre, und dazu jährlich variable Beträge in Höhe von 12 Prozent des Ausfuhrwerts abzuverlangen. Die Reichsregierung wurde dazu aufgefordert, dem Verlangen auf einer Konferenz, die im März in London stattfand, zuzustimmen. Die Reichsregierung war davon weit entfernt und machte statt dessen einen Gegenvorschlag. Sie diskontierte die Summe der Jahresraten des Festbetrages mit 8 Prozent zu einem Gegenwartswert von gut 50 Milliarden Goldmark,4 ließ die Exportabgabe unbeachtet, subtrahierte von den 50 Milliarden Goldmark 20 Milliarden für ihres Erachtens erbrachte Vorleistungen und bot an, die verbleibenden 30 Milliarden in wenigen Jahren zu tilgen. Das Geld dafür sollte durch Anleihen im Ausland aufgebracht werden. Die Gläubiger empfanden das Angebot als Verhöhnung ihrer Forderungen und drohten damit, Düsseldorf, Duisburg und Ruhrort zu besetzen, die Zolleinnahmen im ganzen besetzten Rheinland zu beschlagnahmen und deutsche Exporterlöse einzubehalten, falls Deutschland die Pariser Beschlüsse nicht akzeptierte. Die Reichsregierung blieb bei ihrer Weigerung und die Besetzung fand statt. Wenig später legte die dazu berufene Reparationskommission ihren Plan vor. Die politisch-atmosphärischen Voraussetzungen waren seiner Aufnahme in Deutschland und der diplomatischen Behandlung mit den Alliierten nicht eben günstig. Dabei war der Vorschlag zwar bedenklich, aber nicht unbedacht. Und die wirtschaftlichen Konsequenzen seiner Annahme waren selbstverständlich belastend, aber mitnichten erdrückend. Er forderte Deutschland Leistungen mit einem Gegenwartswert von 132 Milliarden Goldmark ab. Davon sollten allerdings nur 50 Milliarden ab sofort verzinst und getilgt, die Zinsen und die Tilgungsraten der restlichen 82 Milliarden aber erst dann fallig werden, wenn sie mit Exportüberschüssen finanziert werden könnten. Die Aussicht darauf war so unsicher und reichte in ihrer Unsicherheit überdies in eine so ferne Zukunft, dass man sich um die 82 Milliarden bei gelassener Betrachtung eigentlich nicht zu kümmern brauchte. Die Verzinsung und Tilgung der »akuten« 50 Milliarden 3 Die sogenannte »Goldmark« war keine Währungseinheit, sondern eine Rechengröße, deren Anwendung das Inflationsrisiko ausschloss. Eine Goldmark war 0,358 g Feingold wert. Das entsprach dem von 1876 bis 1914 unveränderten Goldwert der »Papiermark« in der Vorkriegszeit. Der Goldwert der Papiermark nahm im Maß der Inflation ab. Gold wurde um etwa ebenso viel teuerer wie Güter. Eine Goldmark entsprach deshalb immer soviel Papiermark, wie nötig waren, um 0,358 g Gold zu kaufen. Nachdem der Dollar 1921 zu seinem festen VorkriegsGoldwert zurückgekehrt war, entsprach die Goldmark angesichts eines Vorkriegs-Dollarkurses von 4,20 Mark zugleich so viel Papiermark, wie nötig waren, um 0,283 Dollar zu kaufen. 4 Mit »Gegenwartswert« ist folgendes gemeint: Geld, das man heute besitzt, ist nützlicher als Geld, das man in einem Jahr bekommt. Man kann es zum Beispiel anlegen und erhält für die Anlage Zinsen. Unter Voraussetzung eines Zinses von 8 Prozent wären mithin 100 Mark, über die man heute verfügte, ebenso viel wert, wie 108 Mark, die man übers Jahr bekäme. Hundert Mark sind der Gegenwartswert des Betrages, der in einem Jahr zu erwarten ist. Es ist unschwer einzusehen, dass der Gegenwartswert zukünftiger Zahlungen oder Zahlungseingänge um so niedriger ist, je höher der Zins ist und je später die Zahlungstermine liegen. Wegen der langen Laufzeit der Reparationen und des von Deutschland willkürlich hoch angesetzten Zinssatzes betrug der - fiktive - Gegenwartswert der von den Alliierten verlangten Reparationen weniger als ein Viertel ihrer summierten Jahresraten.

42

1 V o r a u s s e t z u n g e n und E n t w i c k l u n g s t e n d e n z e n

Mark belief sich auf jährlich ca. drei Milliarden Goldmark. Das entsprach etwa sechs Prozent des Bruttosozialprodukts und war schmerzhaft, aber nicht unerträglich. Reichsregierungen

der Weimarer Republik

Amtszeit

Kanzler

Koalition

13.02.1919

-

21.06.1919

Scheidemann

(SPD)

SPD, DDP, Zentrum

21.06.1919

-

27.03.1920

Bauer

(SPD)

SPD, DDP, Zentrum

27.03.1920

-

21.06.1920

Müller I

(SPD)

SPD, DDP, Zentrum

21.06.1920

-

10.05.1921

Fehrenbach

(Zentrum)

Zentrum, DDP, DVP

10.05.1921

-

26.10.1921

Wirth I

(Zentrum)

Zentrum, SPD, DDP

26.10.1921

-

22.11.1922

Wirth II

(Zentrum)

Zentrum, SPD, DDP

22.11.1922

-

13.08.1923

Cuno

(parteilos)

Zentrum, DDP, DVP

13.08.1923

-

06.10.1923

Stresemann 1

(DVP)

DVP, Zentrum, SPD, DDP

06.10.1923

-

30.11.1923

Stresemann II

(DVP)

DVP, Zentrum, SPD, DDP

30.11.1923

-

03.06.1924

Marx I

(Zentrum)

Zentrum, DDP, DVP

03.06.1924

-

15.01.1925

Marx II

(Zentrum)

Zentrum, DDP, DVP

15.01.1925

-

20.01.1926

Luther I

(parteilos)

Zentrum, DDP, DVP, DNVP

20.01.1926

-

17.05.1926

Luther II

(parteilos)

Zentrum, DDP, DVP

17.05.1926

-

29.01.1927

Marx III

(Zentrum)

Zentrum, DDP, DVP

29.01.1927

-

26.06.1928

Marx IV

(Zentrum)

Zentrum, DVP, DNVP

26. 06. 1928

-

30. 03. 1930

Müller II

(SPD)

SPD, DDP, Zentrum, DVP

30.03.1930

-

07.10.1931

Brüning 1

(Zentrum)

Präsidialkabinett

07.10.1931

-

31.05.1932

Brüning II

(Zentrum)

Präsidialkabinett

31.05.1932

-

01.12.1932

von Papen

(Zentrum)

Präsidialkabinett

01.12.1932

-

29.03.1933

von Schleicher

(parteilos)

Präsidialkabinett

Die Stimmungslage schloss derlei Gelassenheit des Urteils und mit ihr die erwünschte Behutsamkeit bei der diplomatischen Behandlung des Plans freilich aus. Die Reparationsgläubiger machten sich den Vorschlag zu eigen, Deutschland wies ihn aufgeregt zurück. Die Alliierten bestanden darauf, die Reichsregierung scheute die Verantwortung und trat zurück. Tags darauf forderten die Alliierten das regierungslose Deutschland ultimativ dazu auf, den Vorschlag innerhalb von sechs Tagen anzunehmen. Bei fortdauernder Weigerung werde auch das Ruhrgebiet besetzt. Unter dem Eindruck dieser Drohung entschloss die SPD sich dazu, die offene Mitverantwortung für die Annahme des Plans zu übernehmen und trat anstelle der DVP wieder in die Regierung ein. Mit den Stimmen

1.2 W i r t s c h a f t und P o l i t i k in der W e i m a r e r R e p u b l i k

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der gemäßigten Rest-USPD5 kam in letzter Minute eine Reichstagsmehrheit fur die Annahme der widrigen Regelung zustande. Die Entscheidung war aus politischen und aus wirtschaftlichen Gründen nötig, weil andernfalls das schwerindustrielle Kerngebiet, das große Teile der deutschen Wirtschaft buchstäblich mit Energie versah, mit unabsehbaren Folgen unter fremde Herrschaft geraten wäre. Ihre Zwanghaftigkeit war aber zugleich politisch und wirtschaftlich desaströs. Sie brachte die »staatstragenden« Parteien, deren »Erfullungspolitiker« und mit ihnen den Staat, den sie trugen, in weiteren Misskredit und sie brachten verflüchtigte Gefühle der Unsicherheit und des Ausgeliefertseins zurück. Beides zusammen machte der geld- und währungswirtschaftlichen Beruhigung ein Ende. Die Flucht in Sachwerte und Devisen setzte wieder ein, der Geldumlauf beschleunigte und die Entwicklung des Geldwerts verkehrte sich wieder. Von nun an trieben die Vermehrung der Geldmenge infolge fortgesetzter Verschuldung des Reiches bei der Reichsbank und die Beschleunigung des Geldumlaufs einander und gemeinsam die Inflation zweieinhalb Jahre lang mit zunehmender Geschwindigkeit voran. Die Beschleunigung des Geldumlaufs zog Preissteigerungen nach sich. Die Preissteigerungen mehrten den Kreditbedarf der Regierung. Die Deckung des Bedarfs dehnte die Geldmenge aus. Die Ausdehnung der Geldmenge schaffte Preiserhöhungsspielräume, die umgehend genutzt wurden. Der Verfall des Geldwerts nährte das Misstrauen in die Währung und ließ es geraten erscheinen, Geld noch schneller in Güter umzusetzen als zuvor. Die weitere Beschleunigung des Geldumlaufs zog weitere Preissteigerungen nach sich und so fort. Bis Ende des Jahres 1921 verdoppelten sich die Preise, in der ersten Hälfte des Jahres 1922 verdoppelten sie sich abermals. Dann ging die galoppierende Inflation in Hyperinflation über. Im nächsten halben Jahr stiegen die Großhandelspreise um ihr Zwanzigfaches. Die Gründe für den Übergang sind schwer erfindlich. Im Juni 1922 wurde Außenminister Walther Rathenau ermordet, gleichsam die personifizierte Quintessenz all dessen, was den Feinden der Republik widerwärtig war: Jude, Demokrat und »Erfüllungspolitiker«. Im Monat darauflehnten die Reparationsgläubiger die Bitte ab, Deutschland einen Teil der 1922 falligen Reparationen zu erlassen - es sei denn, die Regierung liefere ihnen »produktive Pfänder« aus, an denen sie sich im Falle zukünftiger Zahlungsrückstände schadlos halten könnten. Das lehnte die Reichsregierung ab. Womöglich trugen die politische Destabilisierung, die sich im Mord an Rathenau äußerte, und die erneute Dramatisierung des Reparationskonflikts zur Dynamisierung des Inflationsprozesses bei. Im Wesentlichen lag jene Dynamisierung aber wohl in der Natur des Prozesses. Eine weitere politische Dramatisierung des Reparationsproblems änderte dann freilich die Qualität des Prozesses. Im Januar 1923 rückten französische und belgische Soldaten ins Ruhrgebiet ein. Den Anlass zum Einmarsch gab, dass Deutschland anerkanntermaßen mit seinen Kohlelieferungen im Rückstand war. Der Grund war etwas anderes. Frankreich registrierte mit Sorge eine britische Neigung, Deutschland von dessen Reparationspflichten nach und nach freizusprechen. Eben hatte die englische Regierung, vermutlich im Einvernehmen mit der amerikanischen, auf einer Konferenz der Alliierten vorgeschlagen, die »latente« Schuld von 82 Milliarden Goldmark kurzweg zu streichen und die »aktuelle« Schuld nur mit 5 Prozent pro Jahr 5 Ein größerer Teil der USPD hatte sich im Dezember 1920 der KPD angeschlossen. Der kleinere Teil blieb bis September 1922 unabhängig und trat dann der SPD bei.

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1 V o r a u s s e t z u n g e n und E n t w i c k l u n g s t e n d e n z e n

verzinsen, aber nicht in Jahresraten tilgen zu lassen. Damit nicht genug, sollten - einem deutschen Vorschlag folgend - die Zinsen auch noch vier Jahre lang aus- und weitere vier Jahre lang herabgesetzt werden. Die Schuldsumme wäre nach 30 Jahren in einem Betrag zu zahlen. Frankreich glaubte daran noch weniger als an die Wiederaufnahme der Zinszahlungen in vier Jahren und wollte mit dem Einmarsch ins Ruhrgebiet und dessen formeller Begründung vor aller Welt und namentlich vor den angelsächsischen Siegermächten demonstrieren, dass es an der ungeschmälerten Erfüllung seiner Gegenwartsansprüche an Deutschland nicht rütteln ließe. Für die wirtschaftlichen und finanziellen Wirkungen des Einmarsches waren dessen Gründe natürlich gleichgültig. Das Ruhrvolk leistete den Besatzern passiven Widerstand, die Besatzer legten im Gegenzug Zechen, Hütten und Stahlwerke still. Kohleund sonstige Grundstofflieferungen von der Ruhr in andere Industriegebiete blieben aus, die deutsche Industriegüterproduktion schrumpfte drastisch und die Zahl der Arbeitslosen schwoll ebenso drastisch an. Der Inflation trat eine veritable Wirtschaftskrise zur Seite. Zugleich geriet sie in ihr definitives Stadium. Die Löhne der Beschäftigten stillgelegter Betriebe wurden aus öffentlichen Mitteln weiter bezahlt. Die schwebende Schuld des Reiches und die Geldmenge vermehrten sich schneller denn je, damit erweiterten sich die Preiserhöhungsspielräume. Wer Geld erhielt, gab es umgehend aus - zumindest versuchte er dies. Immer öfter misslang der Versuch, Geld wurde im Zeichen seines rasenden Wertverfalls für Güter nicht mehr immer angenommen. Die Mark verlor ihre Eigenschaft, allgemein akzeptiertes Zahlungsmittel zu sein. Die deutsche Wirtschaft nahm Züge einer Naturaltauschwirtschaft an. Dergleichen verträgt eine moderne, hoch komplexe Wirtschaft nicht lange. Schon vor dem Sommer 1923 war eine Währungsreform auf mittlere Sicht unvermeidbar geworden, seitdem wurde jeder Aufschub der Reform mit fortschreitender wirtschaftlicher Lähmung bezahlt. Die Wirkungen der Inflation Bis zu diesem Punkt waren die wirtschaftlichen und die sozialen Wirkungen der Nachkriegsinflation mehrdeutig gewesen. Der Vorgang hatte all die abträglichen Folgen gezeitigt, die Inflationen gemeinhin zugeschrieben werden; wegen der besonderen historischen Umstände hatte er aber auch vorteilhafte Konsequenzen gehabt. Zunächst einmal ging es nach dem Krieg ja nicht darum, den Ursachen und Anfängen von Inflation zu wehren. Es ging vielmehr darum, die Triebkräfte einer in raschem Gang befindlichen Inflation zu bannen. In England und in Amerika, wo die Kriegsfiihrung ähnlich finanziert worden war wie in Deutschland und wo die Finanzierung ähnlich inflationäre Preissteigerungen bewirkt hatte, geschah dies kurz nach Kriegsende. Es geschah - notwendigerweise, wenn es erfolgreich sein sollte - schockhaft durch die starke Verminderung der öffentlichen Ausgaben, durch kräftige Steuererhöhungen und mittels strikt restriktiver Geldpolitiken der Zentralbanken. Der schockhafte Entzug von Geld und Nachfrage rief hier wie dort Stabilisierungskrisen hervor. Die Produktion brach ein und die Zahl der Arbeitslosen stieg auf mehrere Millionen an. Deutschland vermied derlei »gewaltsame« Stabilisierung, ersparte seiner Wirtschaft den Schock und umging die Krise. Nachdem der Übergang von der Kriegs- zur Friedenswirtschaft mühsam bewältigt worden war, machte die deutsche Wirtschaft, wenn schon auf geschwächten Grundlagen und mit unzureichenden Mitteln, so doch vorerst ohne weitere Unterbrechung den

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kriegsbedingten Produktionsrückgang allmählich wieder gut. Die demobilisierten Soldaten wurden zügig resorbiert, alsbald herrschte Vollbeschäftigung - Vollbeschäftigung bei niedriger Arbeitsproduktivität allerdings. Überdies begünstigte die Inflation die Exporte. Der Preis der Mark in fremder Währung ging alles in allem schneller zurück, als die deutschen Güterpreise im Verhältnis zu den Güterpreisen der internationalen Konkurrenten stiegen. Deshalb wurden deutsche Güter für Ausländer in deren eigener Währung nicht etwa teurer, sondern billiger. Das sollte Ausländer dazu ermuntert haben, mehr in Deutschland zu kaufen als bei Preisund Wechselkursstabilität. Trotz solcher Ermunterung wies Deutschlands Leistungsbilanz infolge des umfangreichen Bedarfs an Rohstoff- und Nahrungsmittelimporten ein beträchtliches Defizit aus. Dazu kamen Wellen von Kapitalflucht aus Deutschland. Das Defizit und die Kapitalflucht waren möglich, weil Ausländer bis tief ins Jahr 1922 hinein deutschen Unternehmen Kredit gewährten und weil ausländische Anleger ebenso lange dazu bereit und sogar daran interessiert waren, Mark mit eigener Währung zu kaufen und in spekulativer Absicht als Guthaben zu halten. Die Absicht entsprang der Erwartung, dass Deutschland schließlich den Willen und die Kraft zu nachhaltiger Stabilisierung aufbrächte, dass der Wechselkurs der Mark anstiege und dass der Wiederverkauf billig erworbener Mark stattliche Gewinne abwürfe. Solche Überlegungen bewegten auch ausländische Kreditgeber dazu, mit den deutschen Schuldnern zu vereinbaren, dass die Kredite zum Nennwert in Mark zurückzuzahlen wären. Die Erwartungen erwiesen sich als verfehlt. Unter dem Einfluss der Hyperinflation und der dramatischen Beschleunigung des Wechselkursverfalls verflüchtigte sich der Fremdwährungswert der Außenschulden von Deutschen zu beinahe nichts. Die Schulden wurden weit unter Wert getilgt und die in Mark denominierten Kredite sowie die Markkäufe von Ausländern verwandelten sich im Nachhinein in unbeabsichtigte Geschenke an Deutschland. Deren Wert ist schwer zu beziffern, aber mit 5 Prozent des deutschen Sozialprodukts der vier ersten Nachkriegsjahre eher unter- als überschätzt. Das war eine ansehnliche inflationsbedingte Wiederaufbauhilfe des Auslands für Deutschland. Selbstverständlich gingen nicht nur die Schulden von Deutschen bei Ausländern, sondern auch die Schulden des Reiches bei Deutschen in der Hyperinflation unter. Die Schulden des Reiches waren im Grunde Schulden der Steuerzahler. Denen wurden nun deren weitere Verzinsung und Tilgung erspart. Die Kehrseite dieses Vorteils war freilich, dass auch die Ansprüche der Gläubiger untergingen. Bei einer aufs Quantitative beschränkten Betrachtung höbe das einander auf. Wenn man aber bedenkt, dass die Gläubiger großenteils Institutionen - Banken, Versicherungen und sonstige Unternehmen - waren, die der Verlust weniger schwer traf, als die Masse der Bevölkerung an einer vermehrten Steuerlast zu tragen gehabt hätte, dann überwiegt der Vorteil. Die Summe der Vorteile ist nun aber mit den unbezweifelbaren Schäden zu verrechnen, die die Inflation anrichtete. Die Inflation brachte den Wirtschaftsprozess aus dem Gleichgewicht. Es kam zu wirtschaftlich störenden und sozial bedenklichen Verwerfungen zwischen den Preisen fur unterschiedliche Kategorien von Gütern und Leistungen. Der Prozess wurde unberechenbar und rationales ökonomisches Verhalten deshalb bis zur Unmöglichkeit erschwert. Die Unsicherheiten hielten von Investitionen ab, obwohl Kredit fur Investitionszwecke unschwer zu haben war und mit entwertetem Geld noch leichter zurückgezahlt werden konnte. Fehlkalkulationen und Fehlverhalten

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führten zu Verlusten und Zusammenbrüchen. Der wirtschaftliche Wiederaufbau wurde von alledem behindert und gehemmt. Die Preise und die Löhne trieben einander in die Höhe. Mal ums Mal und insgesamt blieben die Löhne dabei jedoch deutlich hinter den Preisen zurück. Die Lohnabhängigen erlitten beträchtliche Realeinkommens- und Wohlstandsverluste. Schlimmer noch als die - verhandelbaren - Geldeinkommen litten natürlich die Geldvermögen unter der Inflation. Die Geldeinkommen wurden dem Preisniveau angepasst, wenn auch ungleich und in vielen Fällen unzureichend. Die Geldvermögen - Bargeld, Bankguthaben, Wertpapiere - blieben nominal unverändert und büßten im Zuge der Inflation ihre Kaufkraft ein. Davon waren nicht nur die Wohlhabenden, sondern Massen mittlerer und kleiner Existenzen betroffen, die geglaubt hatten, mit Ersparnissen fur Krisenfalle vorgesorgt und insbesondere ein auskömmliches Dasein im Alter gesichert zu haben, und sich in ihrem Glauben enttäuscht fanden. Andererseits wurden die Schuldner infolge der Inflation ihrer Verpflichtungen ledig. Die Wirkungen der Inflation rührten jenseits des Materiellen auch an Moral und Gerechtigkeit. Schließlich überschatteten sie die ökonomisch-politische Zukunft. Die Inflationserfahrungen untergruben das ohnehin fragile Vertrauen in Wirtschaft und Staat, schwächten die Sparneigung und riefen eine lange nachwirkende, schnell aktualisierte Inflationspsychose in Deutschland hervor. Alles in allem fielen die schädlichen Wirkungen der Inflation schwerer ins Gewicht als die nützlichen. Deshalb wäre es von Vorteil gewesen, den Inflationsprozess bald nach Kriegsende zu unterbinden. Er war unter den damaligen Umständen aber nicht zu unterbinden. Dazu hätte es - eingedenk des Scheiterns der Steuerreform als Mittel der Stabilisierung - einer nachdrücklich-nachhaltigen Verminderung der Reichsausgaben und einer frühzeitigen politischen und sozialen Befriedung bedurft. Zu ersterem fehlte der Reichsregierung die Legitimation und die Kraft, letzteres hatte sie nicht in der Hand, und beides schloss einander aus. Die Regierung konnte sich der Kriegsopferversorgung und dem Schuldendienst nur auf Kosten des politisch-moralischen Bankrotts entziehen und die Reparationsleistungen nur auf Kosten der Besetzung und womöglich der Abtrennung wirtschaftlich ausschlaggebender Teile des Reiches verweigern. Sozialer Friede war von schwachen Regierungen, die sich des Militärs nur mit innerem Widerstreben bedienen und seiner auch nicht sicher sein konnten, nicht zu erzwingen. Und die Bedingungen politischer Befriedung wurden von den Siegern, namentlich von Frankreich definiert. Eine stabilisierungswirksame Verminderung der Staatsausgaben beschwor soziale Unruhe und politische Gewalt herauf und die Abwehr von beidem bedingte destabilisierende Staatsausgaben. Unter solch dilemmatischen Umständen war der Inflation erst dann Einhalt zu tun, als sie die Mark sämtlicher Funktionen beraubt, sich dadurch selbst unmöglich und eine Währungsreform unausweichlich gemacht hatte. Im Sommer 1923 war es soweit. Währungsreform und Neuregelung der

Reparationen

Die politischen Voraussetzungen einer Währungsreform waren eine handlungsfähige Regierung auf breiter parlamentarischer Grundlage und die Beendigung des Widerstandes an der Ruhr. Die SPD, die im Herbst 1922 die Rest-USPD in sich aufgenommen hatte, überwand sich dazu, mit der DVP, der DDP und dem Zentrum eine große Koalition zu bilden und das Kanzleramt dem nationalen, in industriellen Kreisen wohlgelitte-

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nen DVP-Vorsitzenden Gustav Stresemann zu überlassen. Trotz ihrer stattlichen Reichstagsmehrheit ließ das Kabinett sich um der Geschwindigkeit nötiger Entscheidungen und Maßnahmen willen vom Parlament dazu ermächtigen, auf dem Verordnungswege zu regieren. Verordnungen ohne parlamentarische Bestätigung traten gleichrangig an die Stelle von Gesetzen, solange das Parlament nicht mehrheitlich deren Rücknahme verlangte. Im September wurde der »Ruhrkampf« abgebrochen, der sich inzwischen nicht nur für Deutschland als katastrophal, sondern auch für Frankreich als ganz und gar unergiebig und deshalb als höchst kostspielig erwiesen hatte. Die Bildung und die Ermächtigung der Regierung sowie das Ende des Ruhrkampfes machten die Währungsreform möglich. Damit aus der Möglichkeit Gelingen würde, war zweierlei zu tun. Zunächst galt es glaubhaft zu machen, dass Geld wieder wertbeständig wäre, damit Geld als Tauschmittel wieder allgemein akzeptiert würde. Wenn das gelänge, galt es anschließend dafür zu sorgen, dass das Geld auch tatsächlich seinen Wert behielte. Dazu mussten die Triebkräfte der Nachkriegsinflation, die übermäßige staatliche Verschuldung samt Geldmengenvermehrung einerseits und die soziale und politische Friedlosigkeit als Treibsätze des Geldumlaufs andererseits außer Wirkung gesetzt werden. Der Glaube in die Wertbeständigkeit der Mark war unwiederbringlich. Deshalb waren sich die Fachleute darin einig, dass eine neue Währung geschaffen werden müsste. Unsicher waren sie, womit das Vertrauen in die Wertbeständigkeit jener neuen Währung am verlässlichsten zu erwecken wäre. Die materielle Grundlage des Vorkriegsvertrauens in die Mark waren deren »Golddeckung« und die Versicherung gewesen, Banknoten jederzeit in jedem Wert und zu einem gleichbleibenden Austauschverhältnis (1 Mark = 0,358 g Gold) bei jeder Reichsbankstelle in Gold umtauschen zu können. Selbstverständlich war das keine ein für allemal unverbrüchliche Grundlage gewesen. Deckung und Versicherung rechtfertigten das Vertrauen nur so lange, wie die Geldpolitiker sich daran hielten und wie es unter dieser Bedingung keine Goldbestände im Übermaß gab. Im Kaiserreich war beides der Fall und Inflation etwas Unbekanntes gewesen. Die Deutschen erinnerten sich der anhaltenden Preisstabilität mit Wehmut und hielten die Golddeckung fur deren Garanten. Deshalb gab es keinen Stoff, auf den sich Vertrauen in eine neue Währung besser gründen ließe als auf Gold. Unpassender Weise gab es aber in Deutschland nur noch Restbestände an Gold. Die Hauptbestände waren für den teilweisen Ausgleich der Leistungsbilanzdefizite im Krieg und in der Nachkriegszeit verwendet worden. Wenig hätte für den Gewinn und den Erhalt des Vertrauens in neue Banknoten verderblicher sein können als eine Versicherung, sie in Gold einlösen zu können, die sich als unhaltbar herausstellte. Einige rieten dennoch dazu. Die Regierung hielt jedoch nach einer anderen, ähnlich vertrauenerweckenden »Notendeckung« Ausschau und hoffte, sie schließlich im landwirtschaftlich genutzten Boden und im industriellen Anlagevermögen gefunden zu haben. In dieser Hoffnung erging am 15. Oktober 1923 die »Verordnung über Rentenbank und Rentenmark«. Sie rief ein neues Emissionsinstitut im Eigentum der deutschen Unternehmenswirtschaft mit einem Stammkapital von 3,2 Milliarden Goldmark ins Leben. Das Kapital wurde in Gestalt von Schuldverschreibungen der Industrie und des Dienstleistungssektors sowie erster Hypotheken auf den landwirtschaftlich genutzten Boden eingelegt. Schuldverschreibungen und Hypotheken dienten als »Deckung« neuer Noten maximal gleichen Werts. Die Ausgabe jener Noten wurde mit der Zusicherung verbunden, sie auf Wunsch in ein ebenfalls neu geschaffenes Rentenpapier des Emissionsinsti-

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tuts eintauschen zu können. Deshalb erhielt das Institut den Namen Rentenbank und die neue Währung den Namen Rentenmark. Deren Einlösbarkeit in Rentenbriefe sicherte natürlich noch weniger gegen inflationäre Preiserhöhungen und deren Wirkungen, als die Goldeintauschpflicht dagegen zu sichern vermochte. Auf derlei tatsächliche Sicherung kam es aber gar nicht an. Es kam darauf an, dass die Aussicht, die neuen Noten, wenn man ihnen nicht mehr traute, in - fiktive, aber nicht als fiktiv wahrgenommene Anweisungen auf Boden und Sachkapital tauschen zu können, die Deutschen dazu bewegte, jene Noten zu akzeptieren und mit ihnen umzugehen, statt sie einzutauschen. Das gelang. Am 15. November 1923 begann die Emission der Rentenmark; die Noten wurden angenommen und blieben im Umlauf. Die Rentenmark ersetzte die Papiermark übrigens nicht. Sie trat ihr an die Seite und vorübergehend in Konkurrenz zu ihr. Fünf Tage überließ man es scheinbar dem Markt, das Wertverhältnis zwischen beiden zu bestimmen. Scheinbar nur, weil die Regierung als Marktteilnehmer auf eine kräftige Abwertung der Papiermark hinwirkte. Tatsächlich sank deren Wert um weitere 40 Prozent. Daraufhin wurden am 20. November 1923 sowohl der Rentenmarkwert wie auch der Dollar-Wechselkurs der Mark fixiert. Künftig entsprachen eine Billion Papiermark einer Rentenmark und 4,2 Billionen Papiermark einem Dollar. Ein Dollar wurde zu 4,20 Rentenmark gehandelt. Das kam dem VorkriegsWechselkurs des Dollars in Mark gleich und beschwor Erinnerungen an glückliche Zeiten herauf. Die Reichsbank sorgte nötigenfalls mit Devisenmarkt-Interventionen dafür, dass der Kurs stabil blieb. Das hätte nicht gelingen können, wenn nicht auch die zweite Aufgabe der Währungsreform gelöst worden wäre. Die Preise durften nach der Ausgabe der neuen Geldzeichen nicht weiter steigen und deshalb durfte die Reichsregierung sich nicht weiter bei der Reichsbank verschulden. Am Tag nach der Rentenmark-Emission stellte die Reichsbank tatsächlich die Diskontierung von Reichsschatzwechseln ein. Die Reichsregierung erhielt 1,2 Milliarden Rentenmark und war aufgefordert, damit und mit dem laufenden Steueraufkommen ihre Ausgaben zu bestreiten, ohne sich ihren rechtlichen und moralischen Verpflichtungen zu entziehen. Auch das gelang. Es gelang unter der Voraussetzung des vorhergehenden Desasters und hatte deshalb vorher nicht gelingen können. Die entwertete Reichsschuld konnte mit einem kleinen Teil der RentenmarkDotation abgelöst werden. Dadurch entfiel der Schuldendienst. Die Reparationen waren während des Ruhrkampfes ausgesetzt worden und wurden nach dessen Abbruch in Erwartung einer grundsätzlichen Neuregelung nur rudimentär wieder aufgenommen. Außerdem sparte das Reich, indem es innerhalb eines halben Jahres seinen Personalbestand um 400.000 Beschäftigte reduzierte und die Löhne und Gehälter der verbleibenden Beamten, Angestellten und Arbeiter kräftig herabsetzte. Schließlich gingen drei Verordnungen, die einige Steuern erhöhten, andere neu ordneten und dabei für mehr Aufkommenssicherheit und schnelleren Zufluss sorgten, den Haushaltsausgleich auch auf der Einnahmenseite an. Unter diesen Umständen konnten im ersten Quartal des Jahres 1924 bereits 94 Prozent der bemerkenswert verminderten Reichsausgaben mit Steuern finanziert werden. Danach wurden sogar Einnahmenüberschüsse erzielt, wenn auch nur vorübergehend. Das wäre ohne eine vertragliche Neuregelung der Reparationen nicht möglich gewesen. Das Scheitern des Versuchs, mit Gewalt an - je nach Sichtweise: vorenthaltene oder unaufbringliche - Reparationen zu gelangen, machte Frankreich derlei Neurege-

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lung unter der Bedingung geneigt, dass nicht der Umfang der Reparationen, sondern nur die Modalitäten ihrer Aufbringung neu geregelt würden. Anfang 1924 trat in Paris ein internationaler Sachverständigenausschuss mit der Aufgabe zusammen, einen Reparationsplan zu entwerfen, dessen Erfüllung weder den Ausgleich des Reichshaushalts noch die Stabilität des Wechselkurses der Mark gefährdete. Die USA traten aus der Isolierung heraus, in die sie sich nach Kriegsende willentlich zurückgezogen hatten, und übernahmen in der Person des Direktors ihres Budget Office Charles Dawes die Rolle eines Moderators. Im April präsentierte die Dawes-Kommission das Ergebnis ihrer Arbeit. Der Dawes-Plan erwies sich als der erste Regelungsvorschlag, über den zwischen Deutschland und den Reparationsgläubigern unaufgeregt und vernünftig gesprochen werden konnte. Das geschah im August in Paris. Deutschland nahm den Vorschlag bei dieser Gelegenheit durch Unterzeichnung des so genannten Dawes-Abkommens an. Das Abkommen sah vor, dass Deutschland im nächsten Jahr Reparationen in Höhe von einer Milliarde Goldmark zahlte. Vom darauf folgenden Jahr an nahm der Betrag nach und nach zu, 1929 erreichte er 2,5 Milliarden Goldmark. Von da an blieb er auf vorerst unbestimmte Zeit konstant. Die Beträge entsprachen knapp zwei bis gut drei Prozent des Sozialprodukts und waren volkswirtschaftlich zu verkraften. Im Reichshaushalt hätten sie freilich schwerer als erträglich gewogen. Deshalb sollte nur die Hälfte über den Etat und die andere Hälfte von der Reichsbahn und der Industrie aufgebracht werden. Das konnte der Gefahr inflationärer Haushaltsdefizite infolge der inneren Aufbringung von Reparationen vorbeugen. Der weiteren Gefahr, dass der Transfer des Aufgebrachten ins Ausland mangels Devisenreserven unwiderstehlich auf den Wechselkurs der Mark drückte, sollte dadurch begegnet werden, dass immer nur so viel transferiert würde, wie aus Zahlungsbilanzüberschüssen verfugbar wäre. Die Differenz zwischen der innerer Aufbringung und dem Transfer sollte zugunsten der Reparationsgläubiger in Deutschland angelegt werden. Das waren beträchtliche materielle Zugeständnisse an Deutschland. Sie mussten mit der Hinnahme immaterieller Zumutungen von Deutschland honoriert werden. Für den Fall von Leistungsverweigerung waren bestimmte Steuern an die ausländischen Gläubiger zu verpfänden. In die Verwaltungsräte der Reichsbank und der Reichsbahn mussten ausländische Mitglieder aufgenommen werden. In Berlin wachte künftig ein ausländischer Reparationsagent, der Amerikaner Parker Gilbert, über das Haushaltsgebaren des Reiches, sorgte für den Transfer der Reparationen und war - falls es sich ergab - für die Anlage von Reparationsleistungen in Deutschland zuständig. Ein souveränes Land tat sich mit dergleichen selbstverständlich schwer. Der Transfer alsbald fälliger Leistungen wurde ihm hingegen mit Hilfe einer im Abkommen vereinbarten Auslandsanleihe spürbar erleichtert. Überdies führte die Anleihe der Reichsbank so viel Währungsreserven zu, dass die Rückkehr zur »Goldwährung« kein unkalkulierbares Wagnis mehr zu sein schien. Die Ermöglichung der Rückkehr war einer ihrer Zwecke. Die deutsche Wirtschaft sollte - zumindest nach angelsächsischer Absicht - wieder integraler Bestandteil einer liberalen Weltwirtschaft werden und die zur Vernunft gekommene deutsche Währung sollte sich in die wieder vom »Goldstandard« bestimmte Weltwährungsordnung einfügen. Letzteres wurde in engem zeitlichem, sachlichem und vertraglichem Zusammenhang mit dem Dawes-Abkommen im August 1924 vom deutschen »Bankgesetz« bewirkt. Das Bankgesetz zog die Mark aus dem Verkehr und führte die Reichsmark ein. Eine »Goldwährung« im eigentlichen Sinn des

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Wortes wurde jene Reichsmark übrigens ebenso wenig, wie der Dollar, das Pfund und andere wichtige Währungen noch »Goldwährungen« im eigentlichen Sinn des Wortes waren. Der internationale »Goldstandard« war in Wirklichkeit ein Gold-Devisenstandard. Die Reichsmarknoten waren, von den Scheidemünzen abgesehen, alleiniges Zahlungsmittel und teilten sich diese Eigenschaft nicht, wie dies vor dem Krieg die Marknoten getan hatten, mit Goldmünzen. Sie mussten freilich auf Verlangen von jeder Reichsbankstelle in Gold oder bestimmte Devisen eingetauscht werden. Außerdem war die Reichsbank gesetzlich dazu verpflichtet, 40 Prozent des Werts der umlaufenden Noten mit Gold oder bestimmten Devisen zu »decken«. Der Goldwert der Reichsmark lag grundsätzlich fest und konnte nur durch Gesetz geändert werden. Die Reichsbank durfte der Reichsregierung von Gesetzes wegen nicht mehr als 100 Millionen Reichsmark Kredit geben. Das Bankgesetz, in dem dies alles zu verbindlicher Beachtung stand, hatte einen eigentümlichen und folgenreichen Status. Es galt als Bestandteil des Dawes-Abkommens und durfte deshalb nur mit Zustimmung von dessen Signatarmächten geändert werden.

Die Entfernung der Republik von ihren politischen Ursprüngen Inzwischen hatte die deutsche Wirtschaft die akuten Produktions- und Beschäftigungsprobleme überwunden, die der Einmarsch ins Ruhrgebiet herbeigeführt hatte und die von den realwirtschaftlichen Wirkungen der Stabilisierung weitergetragen worden waren. Im Sommer 1924 begann die kurze Phase relativer Prosperität, die der Weimarer Republik zwischen den Wirren der Inflation und dem Desaster der großen Krise vergönnt war. Zugleich gewannen die politischen Verhältnisse an - ebenso relativer - Ruhe und Stetigkeit. Im Herbst 1924 wurde infolge eines zollpolitischen Konflikts, der sich zu einer Auseinandersetzung über die verfassungs- und die außenpolitischen Grundlagen der Republik von Weimar ausweitete, zwar der Reichstag aufgelöst, der kaum ein halbes Jahr zuvor gewählt worden war. Der alsbald neu gewählte Reichstag hielt dann aber über gelegentliche Veränderungen der Regierungskoalition und Neubildungen der Regierung hinweg die ganze Legislaturperiode durch. Bei der Regierungsbildung im Winter 1924/25 machte die Republik allerdings einen weiteren Ruck nach rechts. Das Regierungsbündnis schloss die SPD aus und statt ihrer die DNVP neben dem Zentrum, der DDP und der DVP ein. An der Zahl der Wählerstimmen gemessen war die DNVP sogar die stärkste Kraft darin. Wenige Monate später wurde der Rechtsruck gleichsam bestätigt. Ende Februar 1925 starb Reichspräsident Friedrich Ebert an einer akuten Bauchfellentzündung und an den persönlich-politischen Wunden, die ihm die Feinde der Republik in blindem, verachtungsvollem Hass zugefugt hatten. Nach zwei Wahlgängen trat der - auch politisch - steinalte und feldgraue nationalkonservative Weltkriegsgeneral Paul von Hindenburg an die Stelle des sozialdemokratischen Sattlermeisters, der Deutschland auf seine, wahrscheinlich zeit- und umstandsgemäße Weise zwischen Entschiedenheit und Bedenken, Gelingen und Versagen hindurch aus den politischen Zuständen, die Hindenburg personifizierte, in eine politische Verfassung überfuhrt hatte, die ihres populären Repräsentanten noch immer schmerzlich entbehrte. Statt solchen Repräsentanten bekam die Republik einen »Ersatzkaiser«. Das war bedenklich, musste aber nicht notwendig von Nach-teil sein. Wenn Hindenburg lauteren Sinnes die Rolle mit integrierender Kraft

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zugunsten der Republik erfüllte, dann konnte es sich sogar als vorteilhaft erweisen. Die Kehrseite solcher Möglichkeit eines Vorteils war freilich, dass weitreichende Machtmittel in die Verfügungsgewalt eines beeinflussbaren unpolitischen Greises gerieten, der nicht eigentlich von »dieser - demokratisch-republikanischen - Welt« war. Hindenburg wurde ja sinniger oder widersinniger Weise als »Ersatzkaiser« in ein Amt gewählt, das die Schöpfer der Weimarer Reichsverfassung als Parlamentsersatz ausgestaltet hatten, weil sie dem Parlament die Fähigkeit zur Repräsentanz der res publica nicht wirklich zutrauten. Deshalb wurde der Reichspräsident ebenso wie das Parlament direkt vom Volk gewählt und deshalb vereinigte er als vermeintlicher »Garant des überparteilichen Staats« Befugnisse auf sich, die geeignet waren, die parlamentarische Demokratie im Falle ihres Versagens zu substituieren. Seine Stellung war der Widerschein eines »demokratischen Minderwertigkeitskomplexes«6 und konnte zum Fluchtpunkt autoritärer Ambitionen geraten. Der Reichspräsident war der Oberbefehlshaber der Wehrmacht. Er ernannte und entließ den Reichskanzler nach freiem Ermessen. Er durfte den Reichstag auflösen und er konnte aus eigener diktatorischer Machtvollkommenheit rechtskräftige Notverordnungen erlassen, wenn »im Deutschen Reich die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet« zu sein schien. Somit ging die relative politische Konsolidierung der Republik mit deren Entfernung von ihren politischen Ursprüngen einher. Und Hindenburgs Wahl zum Reichspräsidenten war in ihrer historisch-politischen Widersprüchlichkeit eine Chance, die Gefahr lief, von der ostelbisch-adelig-militärischen Umgebung des neuen alten Reichspräsidenten in einen »Kapp-Putsch im Wege der Volksabstimmung«7 umgedeutet zu werden. Defekte und Problemlagen

der Weimarer

Wirtschaft

Derlei Doppeldeutigkeiten eigneten nicht nur der politischen, sondern auch der wirtschaftlichen Entwicklung in Weimars »Goldenen Zwanzigern«. Das Sozialprodukt je Einwohner wuchs von 1924 bis 1929 um mehr als ein Viertel und war am Ende ein Achtel größer, als es im letzten Vorkriegsjahr gewesen war. Es wuchs freilich unstetig in zwei kräftigen Schüben, zwischen denen ein schmerzhafter Rückschlag erfolgte und deren zweiter bereits 1927 in Stagnation auslief. Das Wachstum wurde mit Hilfe von Produktivitätssteigerungen ohne bemerkenswerte Vermehrung der Beschäftigung realisiert. Vollbeschäftigung war in der zweiten Hälfte der Zwanzigeijahre ein Ziel, dem die Entwicklung mal näher kam, mal ferner blieb, das aber nie erreicht wurde. Im Durchschnitt der Jahre waren etwa 5 Prozent der Erwerbsbevölkerung arbeitslos. Der Aufschwung erschöpfte sich in kurzbefristet-übertriebener Dynamik und entbehrte einer nachhaltigen Tragkraft.

6 Fraenkel: Die repräsentative und die plebiszitäre Komponente im demokratischen Verfassungsstaat. In: ders.: Deutschland und die westlichen Demokratien. 3. Aufl., Stuttgart 1968, S. 113. 7 Berliner Tageblatt Nr. 197 vom 27. April 1925.

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Entwicklung des realen Bruttoinlandsprodukts pro Kopf1913-1939

(in Milliarden Mark/Reichsmark).

Quelle: Angus Maddison: Monitoring the World Economy 1820-1992. Paris 1995

Solche Tragkraft war vor dem Krieg von wechselnden »Leitsektoren« ausgegangen. Mit »Leitsektoren« sind Industriezweige gemeint, die infolge weitreichend-wirkungsvollen technischen Fortschritts auf mittlere Sicht besonders schnell wachsen, dabei erhebliches Gewicht in einer Volkswirtschaft gewinnen und jener Volkswirtschaft überdies vielfaltige Entwicklungsimpulse geben. Im 19. Jahrhundert hatten zunächst die Eisenbahn und dann die wirtschaftliche Nutzung des Starkstroms Leitsektoren-Rollen gespielt. In den USA war die Rolle nach dem Krieg von der Automobilindustrie übernommen worden. In Deutschland fehlte es selbstverständlich nicht an der technischen, wohl aber fehlte es an einer anderen notwendigen Voraussetzung für solche Übernahme. Es fehlte an Masseneinkommen, deren Höhe den Gebrauch des Personenwagens als Massenverkehrsmittel zuließ. Das Auto war nur für wenige und fur umso weniger Haushalte erschwinglich, als die deutschen Autohersteiler sich nicht dazu verstanden, zur Fließbandfertigung eines billigen Mittelklassewagens überzugehen. Der Mangel an einem tragkräftigen Leitsektor war aber nicht die einzige und nicht einmal die bedenklichste Schwäche der Weimarer Wirtschaft jenseits ihres unstetigen Wachstums in der zweiten Hälfte der Zwanzigeijahre. Bedenklicher waren die Geringfügigkeit der Investitionen und die Unzulänglichkeit der Exporte. Investitionen setzen volkswirtschaftliche Ersparnisse voraus. Und das Sparen fiel den Deutschen nach dem Krieg und der Inflation aus materiellen und psychologischen Gründen schwer. Ersparnisse konnten aus einbehaltenen Unternehmensgewinnen und aus Haushaltseinkommen gebildet werden. Die Gewinne fielen bemerkenswert geringer aus als in der Vorkriegszeit, und dem Anstieg der Haushaltseinkommen korrespondierte ein Abfall der Sparrate, weil sich bei den Verbrauchern in den Kriegs- und Nachkriegsjahren ein drängender Nachholbedarf angesammelt hatte und weil die Inflationserfahrungen zur Bildung von Geldguthaben nicht eben ermunterten. Die Gewinne waren vergleichsweise niedrig, weil die Kosten hoch waren. Das galt insbesondere für die Arbeitskosten. Nach dem Ende der Inflation verkehrten sich die Verhältnisse. Unter dem Einfluss der Inflation waren die Preise Mal um Mal den Löh-

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nen enteilt, danach liefen die Löhne den Preisen davon. 1925 lagen das Preisniveau und das Niveau der Stundenlöhne in der Industrie jeweils gut 40 Prozent höher, als sie vor dem Krieg gelegen hatten. Bis 1929 stiegen dann die Preise um weniger als ein Zehntel, die Löhne aber um mehr als ein Drittel. Das wäre ohne Weiteres angegangen, wenn ein Anstieg der Arbeitsleistung je Stunde den Unterschied ausgeglichen hätte. Die Arbeitsproduktivität war 1925 aber immer noch 10 Prozent niedriger und 1929 nur 10 Prozent höher als vor dem Krieg. So ergab es sich, dass die Arbeitslöhne neuerdings einen erheblich höheren Anteil am Verkaufserlös der Güter beanspruchten als früher. Arbeitslosigkeit in Deutschland 1920-1938 (Jahresdurchschnitte in Prozent der Erwerbsbevölkerung).

Quelle: Angus Maddison: Monitoring the World Economy 1820-1992. Paris 1995

Das hatte zwei aufeinander bezogene Gründe. Ein Grund war das Erstarken der gewerkschaftlichen Verhandlungsmacht und Streikbereitschaft. Der andere Grund waren die politischen Konsequenzen, die daraus gezogen wurden. Die Regierung verschaffte sich 1923 die gesetzliche Möglichkeit, Tarifauseinandersetzungen zwangsweise zu schlichten. Sie konnte anordnen, dass ein Schlichtungsverfahren eingeleitet wurde, wenn Streik drohte. Und sie konnte in solchen Schlichtungsverfahren verbindliche Schiedssprüche treffen, wenn die Kontrahenten sich nicht einigten. Unter dieser Voraussetzung einigten die Kontrahenten sich immer seltener. Die Notwendigkeit der Einigung entfiel. Mit ihr schwand die Bereitschaft zum Kompromiss. Die Verhandlungsdelegationen der Arbeitgeber und der Gewerkschaften zogen es vor, standhaft bei ihren Positionen zu bleiben und sich widerstrebend den Schiedssprüchen der staatlichen Schlichter zu unterwerfen. So wurde alsbald die Mehrzahl der Löhne politisch bestimmt. Dabei neigte das über viele Regierungswechsel hinweg von dem christlichen Gewerkschaftler Heinrich Brauns

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geleitete Reichsarbeitsministerium dazu, sich eher den Forderungen der Arbeitnehmer als den Angeboten der Arbeitgeber anzunähern. Das brachte den Reallohnanstieg in guter Absicht mit doppelt übler Wirkung in ein Missverhältnis zur Produktivitätsentwicklung. Abgesehen davon, dass es die Ertragskraft der Unternehmen schwächte, verwickelte es den Staat in den Verteilungsstreit, ließ ihn darin parteiisch erscheinen und brachte die wirtschaftlichen Eliten gegen ihn auf. Dies umso leichter und umso heftiger, als die gleichfalls gut gemeinte Politik der sozialen Sicherung überdies die Lohnnebenkosten und die Steuern kräftig in die Höhe trieb. Die herkömmlichen Sozialversicherungen bezogen bislang ausgeschlossene Sozialgruppen ein und vermehrten ihre Leistungen; die Kriegsopferversorgung und die Sozialfürsorge wurden auf neue Rechtsgrundlagen gestellt und teils infolgedessen, teils infolge der nachwirkenden Verheerungen des Krieges und der Inflation wesentlich kostspieliger; die Arbeitslosenversicherung kam hinzu. Alles zusammen führte dazu, dass die Leistungen der sozialen Sicherung 1929 mehr als 10 Prozent des Sozialprodukts beanspruchten, wogegen sie 1913 nur 2 Prozent beansprucht hatten. Der Anspruch wurde mittels höherer Beiträge und höherer Steuern befriedigt. Der Anstieg der Arbeitskosten und der Steuern schmälerte die Erträge und verwies die Unternehmen mehr als zuvor auf die Fremdfinanzierung von Investitionen. Dazu passte schlecht, dass die deutschen Haushalte wenig sparten. Deswegen nämlich waren die Mittel auf den deutschen Kredit- und Kapitalmärkten knapp und teuer. Die ohnehin zweifelhaften Ertragsaussichten wurden angesichts hoher Kapitalkosten noch zweifelhafter. Und die Zweifel veranlassten häufiger, als der deutschen Wirtschaft zuträglich war, zum Verzicht auf Investitionen. So kam es, dass die Nettoinvestitionsquote bemerkenswert niedriger war als vor dem Krieg. Außerdem schwankte sie heftig. Ihre relative Geringfügigkeit äußerte sich in zweierlei Unzulänglichkeit. Zum einen beschränkte sie die Modernisierung des Produktionsapparats und mit ihr jenen Produktivitätsfortschritt, der den Kostenanstieg erträglicher gemacht hätte, und zum anderen war sie selbstverständlich mit einem Ausfall an Investitionsgüternachfrage identisch. Der Ausfall an Investitionsgüternachfrage gesellte sich zu einer nicht minder bedenklichen Schwäche der Auslandsnachfrage. Der Anteil Deutschlands an den Weltexporten war 1929 immer noch ein Drittel niedriger, als er 1913 gewesen war. Infolge des Krieges waren Auslandsmärkte verloren gegangen, die Deutschland vor dem Krieg mit einfachen Konsumgütern beliefert hatte. Einige Länder hatten gelernt, vormals importierte Güter selber zu machen, andere hatten sich, als deutsche Güter nach Kriegsbeginn nicht mehr zu haben waren, dauerhaft anderen Lieferanten zugewendet. Das war unerfreulich. Viel problematischer war freilich, dass der Verlust durch die Zunahme des Exports von technisch anspruchsvollen Gütern nicht wettgemacht werden konnte. Der Maschinen- und der Fahrzeugbau, die elektrotechnische und die feinmechanische sowie die chemische Industrie behaupteten sich im internationalen Wettbewerb nicht mehr mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie vor dem Krieg. Konkurrenten, aus Amerika und aus anderen Ländern machten ihnen das Feld mit modernen, bedarfsgerechteren Erzeugnissen erfolgreich streitig. Die deutschen Produzenten setzten sich mit Preiszugeständnissen zur Wehr, die ihre Erträge zusätzlich beschnitten. Ihre Weltmarktanteile schrumpften gleichwohl beträchtlich. Das war nicht nur ein Nachfrageproblem. Aus der Exportschwäche ergab sich überdies ein Leistungsbilanzproblem. Deutschlands Importbedarf hatte infolge von Gebiets-

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abtretungen zugenommen. Die Handelsbilanz war aber schon vor dem Krieg defizitär gewesen. Überschüsse in der Dienstleistungs- und in der Übertragungsbilanz hatten die Defizite ausgeglichen und überdies für beträchtliche Leistungsbilanzüberschüsse gesorgt. Wegen des weitgehenden Verlusts der Handelsflotte und der Kapitalanlagen im Ausland gelang der Ausgleich neuerdings nicht mehr. Im Gegenteil: Nettoübertragungen an das Ausland summierten sich mit den Handelsbilanzdefiziten zu Leistungsbilanzdefiziten im Umfang von stattlichen 3 Prozent des Bruttosozialprodukts im Durchschnitt der Jahre 1924 bis 1929. Das war möglich, weil Deutschland, d. h. weil deutsche Banken, sonstige deutsche Unternehmen und deutsche Gebietskörperschaften, Zugang zu ergiebigem Kredit im Ausland hatten. Entwicklung des realen Kapitalbestandes

1913-1939

(in Milliarden

Quelle: Angus Maddison: Monitoring the World Economy 1820-1992.

Reichsmark).

Paris 1995

Die Möglichkeit war nach den großen Verlusten, die ausländische Kreditgeber im Zuge der Inflation in Deutschland erlitten hatten, mitnichten selbstverständlich. Vorsicht lag danach näher als Vertrauen und musste mit hohen Zinsen und kurzen Fristen überwunden werden. Außerdem ließen ausländische Kreditgeber sich natürlich nicht abermals darauf ein, dass die deutschen Kreditnehmer Zinsen und Rückzahlungen in Reichsmark leisten durften. Sie verlangten mit Rechtsverbindlichkeit den Schuldendienst in ihrer eigenen Währung. Dies alles machte die Kreditaufnahme im Ausland zu einem mehrdeutigen Ding. Einerseits verbesserte sie die Versorgung der Industrie mit Rohstoffen und der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln und steigerte dadurch Wachstum und Wohlstand. Andererseits rief sie zusätzliche Zahlungsansprüche des Auslands hervor. Anfangs bestanden Deutschlands unentgeltliche Übertragungen an das Ausland fast nur aus Reparationen; mit Zunahme der Verschuldung traten den Reparationen anschwellende Zinszahlungen an die Seite und mehrten den Kreditbedarf. Und schließlich setzte

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die Verschuldung in fremder Währung Deutschland der Gefahr aus, dass bei Verlust des Vertrauens in seine wirtschaftliche oder seine politische Entwicklung kurzfristig Mittel in Massen abgezogen wurden, dass Kreditnehmer dadurch in existenzielle Probleme gerieten und dass der vertraglich festgelegte Wechselkurs der Reichsmark dem Abwertungsdruck infolge geballten Devisenbedarfs nicht standhielt. Entwicklung des deutschen Exportvolumens 1913-1939

(1913 = 100).

Quelle: Angus Maddison, Monitoring the World Economy 1820-1992,

Paris 1995

Der Wirkungszusammenhang von geringen volkswirtschaftlichen Ersparnissen, hohen Kosten, zurückhaltender Investitionstätigkeit, unzureichender Modernisierung, Exportschwäche und stark anschwellender kurzfristiger Auslandsverschuldung beeinträchtigte somit nicht nur die aktuelle, er überschattete zudem die zukünftige wirtschaftliche Entwicklung. Er wirkte zwar nicht mit Notwendigkeit auf eine schwere Krise hin, aber er enthielt und mehrte Krisenpotenziale, die sich unter ungünstigen Umständen oder bei Ungeschick gleichsam selbst aktivierten. Es war die Tragödie der Weimarer Republik, dass genau dies geschah.

Der Wirtschaftskrise erster Teil: Kostenanstieg, Finanzierungsschwierigkeiten, kumulative Abwärtsbewegung Spürbar wurde das im Sommer 1929, begonnen hatte es früher. Im Jahr 1928 stiegen die Arbeitskosten besonders schnell. Die Ertragslage der Unternehmen verschlechterte sich. Vom Herbst des Jahres an schwächte sich außerdem der Kreditzustrom aus dem Ausland bemerkenswert ab. In den Vereinigten Staaten steigerte sich ein anhaltender Börsenboom zu einem Spekulationsfieber, das niemanden zu verschonen schien, die Kurse in unvordenkliche Höhen trieb, die Aktienumsätze ohne Maß und Ziel aufblähte und mit alledem Geld, das anderenfalls für Auslandskredite verfügbar gewesen wäre, an der Börse band.

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Im Frühjahr 1929 wurden überdies erstmals Kredite aus Deutschland abgezogen. Der Grund dafür war nicht wirtschaftlicher, sondern politischer Art. In Paris wurde auf deutschen Wunsch hin über eine abschließende Regelung der Reparationen verhandelt. Die deutsche Delegation forderte, dass die im Dawes-Abkommen festgelegte Jahresrate deutlich herabgesetzt würde, verband die Forderung mit dem Verlangen nach Revision einiger Bestimmungen des Versailler Vertrages und tat beides mit solcher Hochfahrenheit und Unnachgiebigkeit, dass die Konferenz alsbald vor dem Abbruch stand und die französische Regierung die französischen Banken dazu ermunterte, ihre Kredite in Deutschland zu kündigen. Die Verminderung des Zustroms aus Amerika und der Abstrom nach Frankreich ergaben einen ansehnlichen Verlust der Reichsbank an Devisenreserven. Da nun 40 Prozent des Werts der umlaufenden Banknoten mit Gold oder Devisen »gedeckt« sein mussten, sah die Reichsbankleitung sich dazu veranlasst, die Notenemission zu verlangsamen. Das schränkte die Möglichkeiten der Geschäftsbanken ein, neue Kredite zu bewilligen. Geld wurde in Deutschland noch knapper und noch teurer. Der Kostenanstieg und die Kreditverknappung lähmten die Investitionsbereitschaft. Von Herbst 1928 an gingen die Anträge auf Baugenehmigung und der Auftragseingang der Investitionsgüterindustrie zurück. Der Abbau von Auftragsbeständen bewahrte die Produktion noch eine Zeitlang davor, dem Rückgang folgen zu müssen. Im Sommer 1929 begann jedoch auch sie zu schrumpfen. Ihr Schrumpfen leitete eine kumulative, sich selbst beschleunigende Abwärtsbewegung ein. Der Rückgang der Investitionsgüterproduktion verminderte die Nachfrage nach Produktionsgütern und machte Arbeitskräfte überflüssig. Der Ausfall von Arbeitseinkommen reduzierte die Konsumgüternachfrage. Deren Verfall setzte die Investitionsbereitschaft weiter herab usw., usw., usw. Innerhalb eines Jahres nahm die Industrieproduktion um ein Viertel ab und die Zahl der Arbeitslosen um mehr als anderthalb Millionen zu. Der Rücktritt der parlamentarischen

Demokratie

Im Frühjahr 1930 geriet in höchst unseliger Weise die Politik unter den Einfluss der Krise und blieb bis zu deren und dem Ende der Weimarer Republik zu beiderseitigem Nachteil darin verwickelt. Der rapide Verfall der Produktion und der Einkommen verminderte sowohl das Steueraufkommen wie auch die Einnahmen der Sozialversicherungen. Zugleich vermehrte die anschwellende Arbeitslosigkeit die Ansprüche an die Arbeitslosenversicherung. Alsbald konnte den Ansprüchen mit den Einnahmen nicht mehr genügt werden. Für das Defizit musste das Reich einstehen. Es hatte sich bei der Verabschiedung des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung im Jahr 1927 dazu verpflichtet. Der Reichshaushalt war aber ohnehin defizitär, die laufenden Ausgaben konnten mit ordentlichen Einnahmen nicht gedeckt werden. Deshalb suchte die Reichsregierung nach Wegen, über die der Zuschusspflicht zu entgehen wäre. Die Reichsregierung wurde inzwischen wieder von einer großen, aber nicht eben stabilen Koalition gestellt. Bei den Wahlen im Mai 1928 hatte die oppositionelle SPD ihren Stimmenanteil bemerkenswert vermehren können, der Anteil der DNVP war noch bemerkenswerter geschrumpft. Da die drei anderen Regierungsparteien ebenfalls Verluste erlitten, hatte die konservativ-liberale Regierung keine Mehrheit mehr. Nach langen, mühsamen Verhandlungen trat die SPD anstelle der DNVP wieder ins Regierungs-

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bündnis ein und übernahm die Führung der Regierung.8 Der tüchtige, aber glänz- und inspirationslose Parteivorsitzende Hermann Müller wurde Reichskanzler. Er präsidierte einem Kabinett, das ohne Ausgleich voneinander abweichender Grundsätze und Interessen zustande gekommen war und dem sich die Koalitionsfraktionen ausdrücklich nicht verpflichtet fühlten. Es war nicht zu erwarten, dass das Bündnis mit internen Konflikten unschwer fertig würde. Das notwendige Bemühen, den Zuschussbedarf der Arbeitslosenversicherung zu minimieren, rief nun aber einen Konflikt hervor. Die SPD schlug vor, zum Zwecke der Minimierung des Bedarfs die Beiträge zu erhöhen, die DVP wollte hingegen, dass statt dessen die Leistungen vermindert würden. Für beides gab es respektable Gründe. Respekt vor den Gründen des jeweils anderen hätte dazu verhelfen können, eine beiderseits erträgliche Lösung zu finden. Mehrheiten in der SPD und in der DVP wollten derlei Lösung freilich nicht, weil sie die Große Koalition nicht länger wollten. Deshalb verweigerten sie den Gründen des jeweils anderen den Respekt, beharrten auf ihren Standpunkten und ließen es auf den Bruch ankommen, ohne sich hinreichend klar gemacht zu haben, was an politischen Möglichkeiten danach noch verbliebe. Am 27. März 1930 trat die Regierung Müller zurück. Unterdessen hatte auch die politische Führung der Reichswehr, hatte namentlich der einflussreiche Leiter der Wehrmachtsabteilung im Reichswehrministerium, General Kurt von Schleicher, hintergründig auf den Bruch hingewirkt und in vielfältigen Gesprächen nicht nur einer neuen Regierung, sondern mit ihr zugleich auch einem anderen Regime politischer Herrschaft den Boden bereitet. Am 30. März 1930 ernannte Reichspräsident von Hindenburg auf Schleichers Betreiben den sozialkonservativen Fraktionsvorsitzenden des Zentrums, Heinrich Brüning, in der ausdrücklichen Erwartung, dass Brüning sich um Reichstagsmehrheiten nicht kümmerte und deshalb mit der Zusicherung zum Reichskanzler, ihm jederzeit die präsidiale Notverordnungskompetenz zur Verfugung zu stellen. Brüning bildete ein Minderheitskabinett aus Angehörigen des Zentrums, der DDP und der DVP und machte umgehend von Hindenburgs Zusicherung Gebrauch. Der Gebrauch wurde zur Gewohnheit. Deutschland wurde künftig nicht mehr demokratisch, sondern autoritär regiert. Das war zwar nicht schlechthin Verfassungsbruch, weil die Verfassung die Zuflucht zur außerparlamentarischen Autorität des Reichspräsidenten in Ausnahmefallen vorsah, wohl aber war es praktischer Verfassungswandel, weil es die Zuflucht zum Prinzip machte. Mit der Regierung Müller war auch die parlamentarische Demokratie zurückgetreten. Die neue Regierung tat per Notverordnung, was die alte Regierung auf parlamentarischen Wegen nicht vermocht hatte. Sie erhöhte die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung und dekretierte eine Vielzahl anderer Maßnahmen, die als geeignet erschienen, den Reichshaushalt ins Gleichgewicht zu bringen. Im Reichstag fand sich eine in nichts als ihrer Ablehnung einige Mehrheit von Abgeordneten rechter und linker Parteien, die verlangte, dass die Notverordnung widerrufen werde. Das war ihr Recht und die Regierung gab dem Verlangen nach. Sie tat freilich zugleich, was ihr Recht war, ließ den Reichstag vorzeitig auflösen und stellte die Notverordnung wieder her. Am 14. September 1930 erwies sich, dass der Reichstag nicht nur vor der Zeit, sondern zur Unzeit 8 »Die Fraktionen verhandelten miteinander wie feindliche Staaten um einen Friedensvertrag«. Schulze: Weimar. Deutschland 1917-1933, S. 304.

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aufgelöst worden war. An diesem Tag wurde er neu gewählt. Die Regierungsparteien verloren annähernd eine Million Stimmen, obwohl im Zuge einer beispiellosen politischen Massenmobilisierung über vier Millionen mehr Menschen wählten als 1928. Ihr Stimmenanteil schrumpfte von einem Drittel auf gut ein Viertel. Die beiden Parteien des politischen Extremismus, links die KPD und rechts die NSDAP, gewannen fast sieben Millionen Wähler hinzu und steigerten ihren Stimmenanteil von 13 auf 31 Prozent. Der hauptsächliche Sieger war die NSDAP. Dies nicht nur, weil 5,5 von den 7 Millionen zusätzlichen Wählern und 15 von den 18 Anteilspunkten auf sie entfielen und weil sie deswegen neuerdings nach der SPD die zweitstärkste Fraktion im Reichstag stellte; dies vor allem, weil sie in ihrer neu gewonnenen Stärke und im krassen Gegensatz zur KPD von der Regierung, der Reichswehrfuhrung und den wirtschaftlichen Eliten als verhandlungs-, koalitions- und regierungsfähige politische Kraft angesehen wurde. Das unnötige Wahlergebnis brachte Hitler ins Spiel um die politische Macht in Deutschland. Der Wirtschaftskrise zweiter Teil: Geld- und Bankenkrise, Einbruch der Exporte, prozyklische Finanzpolitik Der Gang der wirtschaftlichen Dinge sprach unterdessen freilich nicht mehr dafür, dass Hitler das Spiel schließlich gewänne. Von Juni 1930 an verflachte der zuvor absturzartige Produktionsrückgang, gegen Jahresende kam er zum Stillstand und in den ersten Monaten des Jahres 1931 nahm die Produktion sogar geringfügig zu. Mai 1929-Okt. 1929 Okt. 1929-Juli 1930 Juli 1930-Mai 1931 Mai 1931-Aug. 1932

-5% -21% -7% -20%

Zeitlicher Rhythmus der Wirtschaftskrise in Deutschland (Rückgang der Errechnet nach: Statistisches Jahrbuch fiir das Deutsche Reich 1929-1932

Industrieproduktion)

Die Beschäftigung reagierte darauf mit üblicher Verzögerung. Die Zahl der Arbeitslosen stieg bis Herbst 1930, über den Wahltermin hinweg, noch kräftig an und stagnierte danach. Die akute Krise schien an ihr Ende gelangt zu sein, man durfte auf Erholung hoffen. Dafür gab es Gründe. Ein Grund war, dass der Export in seiner allgemeinen Schwäche unter den besonderen Umständen konjunkturell stabilisierend wirkte. Die Krise, die im Sommer 1929 begann, war zunächst ja wesentlich deutschen und nicht etwa weltwirtschaftlichen Ursprungs. Eine Weltwirtschaftskrise gab es um diese Zeit noch nicht. Die kam, während in Deutschland die Produktion abstürzte, erst allmählich in Gang und der Absturz trug dazu bei. Maßgeblich dafür war freilich die wirtschaftliche Entwicklung in den Vereinigten Staaten. Die amerikanische Wirtschaft geriet unabhängig von der deutschen, aus anderen Gründen als die deutsche, aber zur gleichen Zeit in eine ähnlich schwere Krise wie die deutsche Wirtschaft. Von Amerika her breitete sich die Krise, durch rückläufige Güternachfrage und Einschränkungen des Kapitalexports vermittelt, mit regional unterschiedlicher Geschwindigkeit und unterschiedlicher Intensität über die Welt aus und wandelte sich dabei zu einer Weltwirtschaftskrise mit spezifischen Wirkungszusammenhängen und besonderer Dynamik. Die wichtigsten Importeure deutscher Güter, namentlich Großbritannien, Frankreich, Holland und ande-

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re west- und mitteleuropäische Länder, gerieten erst vergleichsweise spät unter ihren nachdrücklichen Einfluss. Vorher schränkten sie ihre Käufe in Deutschland kaum ein. Deshalb hielt sich der deutsche Export wesentlich besser als die Binnennachfrage. Andererseits ging mit der Binnen- auch die Importnachfrage weit zurück. Da weniger produziert wurde, mussten auch weniger Rohstoffe und Halbwaren eingeführt werden, und weil die Einkommen schrumpften, ging die Nachfrage nach ausländischen Nahrungsmitteln zurück. Außerdem fielen infolge des umfangreichen und fortschreitenden Ausfalls an amerikanischer und deutscher Nachfrage nach international gehandelten Rohstoffen und Agrargütern deren Preise drastisch ab. Die deutschen terms of trade verbesserten sich merklich. Mit dem Erlös der gleichen Menge an Exporten konnte erheblich mehr importiert werden als früher. Im Verein miteinander verkehrten die Verminderung der Importnachfrage und die Verbesserung der terms of trade die deutsche Handelsbilanz so durchgreifend, dass trotz Reparationen auch die Leistungsbilanz Überschüsse auswies. Der Reichsbank flössen Devisen zu, die ihr neue Kreditspielräume eröffneten. Nachdem die Verknappung und die Verteuerung von Geld die Krise mit verursacht hatten, sorgten die Krisenwirkungen dafür, dass Geld in ihrem Verlauf wieder leichter zugänglich und billiger wurde. Ähnliches galt für die Arbeitskosten. Bei anschwellender Arbeitslosigkeit, Verhandlungsschwäche der Gewerkschaften und geringer Streikbereitschaft der Arbeiter sanken die Stücklohnkosten schneller als die Preise. Die Verminderung der Arbeits-, der Kapital- und der Rohstoffkosten bei annähernd stabilen Exporten machte den Unternehmen neuen Mut, verlangsamte dadurch zunächst den Produktionsrückgang und brachten ihn schließlich zum Stillstand. In den ersten Monaten des Jahres 1931 durfte man eine Weile lang glauben, einen außerordentlich heftigen, aber nicht übermäßig langen und überdies heilsamen Konjunktureinbruch hinter sich gebracht zu haben und auf dem Weg der Besserung zu sein. Von Juni an wurde die Hoffnung enttäuscht. Der Rückgang der Produktion und die Zunahme der Arbeitslosigkeit setzten wieder ein. In den folgenden 14 Monaten fiel die Industrieproduktion abermals um 30 Prozent und war im Spätsommer 1932 nur noch halb so hoch wie im Frühsommer 1929. Die Zahl der registrierten Arbeitslosen stieg zugleich von vier auf sechs Millionen. Das entsprach 20 Prozent der gesamten und 30 Prozent der lohnabhängigen Erwerbsbevölkerung in Deutschland. Und dabei blieb die Zahl der registrierten hinter der Zahl der tatsächlich Arbeitslosen noch weit zurück. Seit Krisenbeginn hatte die Zahl der registrierten Arbeitslosen um 4,6 Millionen zu-, die Zahl der Beschäftigten aber um 6,7 Millionen abgenommen. Außerdem war die Reichsbevölkerung um eine Million und mit ihr das Arbeitskräftepotenzial um gut 400.000 Menschen gewachsen. Demnach waren zwischen 2 und 2,5 Millionen Arbeitslose bei den Arbeitsämtern nicht gemeldet, weil ihnen die Meldung weder Aussicht auf Arbeit noch Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung verschaffte. Die Zahl der tatsächlich Arbeitslosen lag mithin im Herbst 1932 zwischen 8 und 8,5 Millionen. Sie bezifferte mehr als ein Viertel der gesamten und zwei Fünftel der lohnabhängigen Erwerbsbevölkerung in Deutschland. Nur noch weniger als ein Drittel der tatsächlich Arbeitslosen konnte auf Leistungen der Arbeitslosenversicherung rechnen, ein weiteres knappes Drittel wurde mit kümmerlichen Beträgen von der öffentlichen Fürsorge unterstützt, über 40 Prozent erhielten nichts. Infolge jenes zweiten Schubs geriet die scheinbar beendete, womöglich heilsame Konjunkturkrise zum destruktiven ökonomisch-sozialen Desaster. Fraglich ist, ob das

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unvermeidlich, ob mithin die enttäuschte Hoffnung eine von vornherein verfehlte Hoffnung war. Die Antwort ist schwer und nicht mit Sicherheit erfindlich. Sie hängt davon ab, welche relativen Gewichte man den Ursachen und Triebkräften des zweiten Krisenschubs zuschreibt. Das ist Ermessenssache. Die Ursachen und Triebkräfte waren ein dramatischer Verlust von Währungsreserven, ein schroffer Rückgang der Auslandsnachfrage und krisenverschärfende Finanzpolitik. Im dramatischen Verlust von Währungsreserven wurde im Mai und Juni 1931 die latente Gefahr akut, die Deutschlands hoher Auslandsverschuldung innewohnte. Aufgeschienen, dann aber vorübergegangen, war jene Gefahr vorher schon einmal, nach den Reichstagswahlen im September 1930 nämlich. Die Erfolge der extremen Parteien hatte viele Auslandsgläubiger in Sorge um deren weitere Sicherheit dazu veranlasst, ihre kurzfristigen Kredite in Deutschland zu kündigen. Die deutschen Kreditnehmer waren bekanntlich dazu verpflichtet, ihre Schulden in den Gläubigerwährungen zu tilgen. Die besaßen sie natürlich nicht. Sie mussten sie vielmehr auf dem Devisenmarkt beschaffen. Zu diesem Zweck boten sie mehr Reichsmark an, als zu deren gängigem Wechselkurs nachgefragt wurden. Das übte einen kräftigen Abwertungsdruck auf die deutsche Währung aus. Die durfte dem Druck freilich nicht nachgeben, weil der gängige Kurs vom Bankgesetz und in völkerrechtlichen Verträgen mit den Reparationsgläubigem garantiert wurde. Damit sie ihm nicht nachgäbe, musste die Reichsbank auf dem Devisenmarkt intervenieren; sie musste Dollar, Pfund, Franc und was sonst gefragt war ihren Reserven entnehmen und damit die Angebotslücke füllen. Das tat sie und büßte dadurch innerhalb weniger Wochen ein Fünftel ihrer Reserven ein. Glücklicherweise verflüchtigten sich die schlimmsten Sorgen der Anleger nach kleiner Weile. Der angeschwollene Kreditrückstrom verdünnte sich zum Rinnsal und die Reichsbank konnte dank dem Leistungsbilanzüberschuss ihre Reserven wieder auffüllen. Es schien mit der Warnung sein Bewenden zu haben. Der Schein trog. Im Mai 1931 wurde bekannt, dass die größte österreichische Bank infolge riskanter Geschäfte große Verluste erlitten hatte und zahlungsunfähig geworden war. Die Kenntnis löste einen Ansturm auf die Verbindlichkeiten aller österreichischen Banken aus. Bald griffen die Sorgen der An- und Einleger, die sich darin kundtaten, auf die deutschen Banken über. Ausländische Gläubiger riefen ihre Kredite zurück und deutsche Kunden zogen Einlagen ab und transferierten das Geld ins Ausland. Die geballten Rückforderungen bewirkten den Zustand, dessen Annahme zu ihnen veranlasste. Sie brachten zahlreiche Banken in Zahlungsnöte. Ein probates Mittel in derlei Nöten ist die Refinanzierung bei der Zentralbank. Die Reichsbankleitung wusste, dass die Nöte der Banken nicht nur deren, sondern ein höchst bedrohliches volkswirtschaftliches Problem waren. Deshalb war sie besten Willens, notleidenden Banken im Rahmen ihrer Möglichkeiten zur Hilfe zu kommen. Unglücklicherweise reduzierten die Vorgänge, die die Geschäftsbanken in Not brachten, zugleich die Möglichkeit der Reichsbank, ihnen aus der Not zu helfen. Die Reichsbank musste nämlich erneut ihre Währungsreserven strapazieren, um den Wechselkurs der Reichsmark zu verteidigen. Nun garantierten das Bankgesetz und die Verträge mit den Reparationsgläubigern bekanntlich nicht nur den Wechselkurs der Reichsmark, sondern auch eine Mindestdeckung der umlaufenden Banknoten mit Gold und Devisen. Die Intervention auf dem Devisenmarkt beschnitt die »Decke« und beschränkte dadurch die reguläre Möglichkeit der Reichsbank, den Geschäftsbanken mit neuem Geld auszuhelfen. Umso nachdrücklicher mussten die

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Geschäftsbanken sich darum bemühen, den Zahlungsansprüchen ihrer Gläubiger dadurch nachzukommen, dass sie ihrerseits Kredite zurückforderten, die sie an Unternehmen und Haushalte vergeben hatten. So weit, so schlimm. Da kam Anfang Juni erneut die Politik ins Spiel und machte alles noch schlimmer. Am 5. Juni 1931 erließ die Reichsregierung zum Zwecke des Haushaltsausgleichs eine weitere »Notverordnung zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen«. Die Notverordnung dekretierte Steuererhöhungen, Lohn- und Gehaltskürzung für die öffentlich Bediensteten sowie die Verminderung von Sozialleistungen und war für die große Masse der Betroffenen höchst verdrießlich. Die Reichsregierung glaubte, den Verdruss von sich ablenken zu können, indem sie die Notverordnung mit einem klagevollen Appell an die Reparationsgläubiger verband: »Die Einsetzung der letzten Kräfte und Reserven aller Bevölkerungskreise gibt der deutschen Regierung das Recht und macht es ihr dem eigenen Volke gegenüber zur Pflicht, vor der Welt auszusprechen: Die Grenze dessen, was wir unserem Volke an Entbehrungen aufzuerlegen vermögen, ist erreicht [...]. Die aufs Äußerste bedrohte wirtschaftliche und finanzielle Lage des Reiches (zwingt) gebieterisch zur Entlastung Deutschlands von untragbaren Reparationsverpflichtungen«.9 Die amtliche Feststellung der äußersten Bedrohlichkeit der Lage und des Einsatzes der letzten Reserven verstärkte den Drang der ausländischen Gläubiger und der deutschen Einleger, ihr Geld heimzuholen beziehungsweise auf die Flucht ins Ausland zu schicken. Damit nicht genug: Eine große Mehrheit von Abgeordneten verlangte, dass der in Urlaub befindliche Reichstag einberufen werde, damit er die Gelegenheit habe, die Regierung zur Rücknahme der Notverordnung zu veranlassen. Was dann weiter geschähe, war abzusehen: Der Rücktritt des Reichskanzlers, die Auflösung des Reichstags, Neuwahlen und dabei eine - unabsehbare - Ausdehnung des Stimmenanteils der NSDAP. Die Aussicht darauf perpetuierte den Drang der Gläubiger und der Kapitalflüchtlinge. Die Reichsbank verlor innerhalb von zehn Tagen nach dem Aufruf ein Drittel ihrer Devisenreserven und geriet hart an die Grenze der Deckungspflicht.10 Ihr Präsident begab sich auf die Suche nach ausländischer Hilfe. Die Suche blieb nicht unbemerkt, wegen Mangels an ökonomischer Einsicht und eines Übermaßes an politischen Ressentiments, dazu wegen Unerfahrenheit in internationalem Krisenmanagement und des Fehlens geeigneter Einrichtungen dafür jedoch weitgehend erfolglos. Der Misserfolg des Bemühens vertrug sich schlecht mit der Aufmerksamkeit, die es hervorrief. Mitte Juli 1931 verband er sich mit dem Fehlverhalten deutscher Großbanken zu einer dramatischen Zuspitzung der Ereignisse. Der verlustreiche Bankrott eines großen Industriekonzerns zog die traditionsreiche, aber letzthin etwas traditionsvergessen operierende Darmstädter und Nationalbank als Anteilseigner und Kreditgeber in schwere Mitleidenschaft. Die davon bewirkte Beschleunigung der Abzüge hereingenommener Mittel brachte sie binnen kurzem an den Rand ihrer Zahlungsfähigkeit. Die Reichsbank ließ angesichts der Vergeblichkeit ihrer internationalen Refinanzierungsbemühungen notgedrungen wissen, dass sie die Bank 9 Das deutsche Reich von 1918 bis heute, S. 194. 10 Die SPD und die DVP zogen ihre Anträge auf Einberufung des Reichstags später zurück. Die Notverordnung blieb in Kraft. Die währungspolitische Schädlichkeit der Anträge konnte freilich nicht widerrufen werden.

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vor dem Stoß über den Rand nicht bewahren könnte und rief die anderen Großbanken in deren eigenem Interesse zu einer gemeinsamen Stützungsaktion auf. Teils waren die anderen Banken mangels liquider Mitteln nicht in der Lage, dem Aufruf zu folgen, teils wollten sie ihm nicht folgen, weil sie der DANAT-Bank den Zusammenbruch als Strafe für risikoreich-aggressives Geschäftsgebahren gönnten. Der Zusammenbruch werde die Atmosphäre reinigen, meinten sie. Die Reichsregierung und die Reichsbankleitung versuchten sich als Vermittler. Der Versuch schlug fehl. Am 13. Juli 1931 blieben die Schalter der DANAT-Bank geschlossen. Umgehend wurde offenbar, wie unverständig der Gedanke gewesen war, der Zusammenbruch einer Bank werde zugunsten der anderen Banken »die Atmosphäre reinigen«. Die Schalter der anderen Banken wurden berannt. Nach kurzer Zeit konnten die Schalterbeamten den Auszahlungswünschen nicht mehr entsprechen und machten ebenfalls dicht. Die beiden folgenden Tage wurden von der Reichsregierung zu »Bankfeiertagen« erklärt. Danach durfte der Zahlungsverkehr nur sachlich und quantitativ beschränkt wieder aufgenommen werden. Der Bankenkrach war die offenkundige, effektvolle Dramatisierung einer Entwicklung, die des Dramas nicht bedurft hätte, um der Wirtschaft schwer zu schaden. Die deutschen Geschäftsbanken hatten infolge der grassierenden Kredit- und Einlagenrückzüge fast 20 Prozent ihrer fremden Mittel verloren. Weil es ihnen nicht möglich war, sich bei der Reichsbank spürbar zu refinanzieren, hatten sie mehr als 20 Prozent ihrer kurzfristigen Ausleihungen an die Wirtschaft zurücknehmen müssen und überdies eigene Mittel eingebüßt. Der rapide Geldentzug lähmte die Wirtschaft. Viele Unternehmen mussten seinetwegen die Produktion verringern, weil sie Teile ihrer Arbeiterschaften nicht mehr entlohnen und nicht mehr genügend Material vorfinanzieren konnten. Eine zweite kumulative Abwärtsbewegung setzte ein, gewann Eigendynamik und erhielt sich selbst. Außerdem geriet sie unter beschleunigenden weltwirtschaftlichen Einfluss. Bis weit ins Frühjahr 1931 hinein war die Exportnachfrage nur wenig geschrumpft, seitdem fiel sie rapide. Unterdessen waren auch die hauptsächlichen Importeure deutscher Industriegüter mit der Krise infiziert worden. Überdies suchte man allerorten Zuflucht bei Handelsprotektionismus. Die Zufuhr ausländischer Güter wurde in der Erwartung erschwert, den heimischen Gütern dadurch Absatz zu sichern. Schließlich wertete die britische Regierung im September 1931 das Pfund um ein Drittel ab. Die Regierungen zahlreicher Länder, die wirtschaftlich und politisch eng mit England verbunden waren, taten es ihr nach und werteten ihre Währungen im gleichen Maße ab. Die deutsche Regierung hielt aus wirtschaftlicher Uberzeugung und politischer Notwendigkeit am Goldwert der Reichsmark fest. Die Reichsmark wurde in den Ländern mit abgewerteten Währungen erheblich teurer, die Konkurrenzfähigkeit deutscher Güter schwand dort nicht minder erheblich. Alles dies verminderte den Export gewerblicher Erzeugnisse binnen Jahresfrist um rund ein Drittel und die Gesamtnachfrage nach Industriegütern um mehr als 10 Prozent. Die Finanzpolitik tat ein Übriges. Sie verfolgte bekanntlich den Zweck, die öffentlichen Haushalte ohne weitere Kreditaufnahme auszugleichen, und tat dies mit Entschiedenheit. Das hatte prinzipielle und praktische Gründe. Reichskanzler Brüning und seine Regierung hingen dem Grundsatz an, dass der ordentliche Ausgleich der Staatshaushalte ein hervorragender Ausweis wirtschafts- und finanzpolitischer Vernunft und eine notwendige Bedingung der wirtschaftlichen Erholung wäre. Sie teilten diese Meinung nicht nur mit der Reichsbankleitung und den deutschen Unternehmern, sondern

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auch mit verantwortlichen Wirtschafts- und Finanzpolitikern in aller Welt, ganz unabhängig von deren Parteizugehörigkeit und ideologischer Prägung. Der amerikanische Präsident Hoover gab ihr sinnenfalligen Ausdruck: We cannot squander ourselfs into prosperity.11 Doch auch dann, wenn Brüning und Finanzminister Dietrich den Sinn und Nutzen des ordentlichen Ausgleichs der öffentlichen Haushalte gering geschätzt hätten, wäre ihnen etwas anderes als das fortgesetzte Bemühen darum gar nicht übrig geblieben. Auch Regierungen können nicht mehr ausgeben, als sie einnehmen. Entweder sie erhalten das benötigte Geld auf ordentliche Weise durch Steuern, Gebühren und Vermögenseinkünfte oder sie müssen es auf außerordentliche Weise herbeischaffen und Kredit aufnehmen. Letzteres hatten die deutschen Gebietskörperschaften bis 1930 getan. 1931 wurde es unmöglich. Mangels Mitteln und/oder Vertrauen war im Inland und im Ausland niemand mehr gewillt, dem deutschen Staat Kredit zu geben. Allenfalls der Reichsbank hätte es an Mitteln nicht fehlen können und an Vertrauen nicht fehlen dürfen. Dafür fehlte es ihr am Recht. Das völkerrechtlich verbriefte Bankgesetz untersagt ihr bekanntlich, dem Reich mehr als 100 Millionen Reichsmark Kredit zu geben. Die Reichsregierung musste dafür sorgen, dass die öffentlichen Haushalte ordentlich ausgeglichen waren, wenn sie nicht rechts- und vertragsbrüchig werden wollte. Und das wollte sie keinesfalls. Deshalb musste sie bei krisenbedingt rückläufigem Steueraufkommen die Ausgaben einschränken und die Steuern erhöhen. Das tat sie mit einer Reihe mehr oder weniger umfassender Notverordnungen und durch Verringerung der Ausgabenansätze im Haushaltsvollzug. Die Länder und die Gemeinden taten es ihr gleich. Dadurch sanken die Ausgaben der drei Gebietskörperschaften 1931 um 17 Prozent und 1932 um weitere 14 Prozent, insgesamt um 6 Milliarden Reichsmark, während das Steuersoll zugleich um rund 3 Milliarden Reichsmark zunahm12. Das summierte sich, auf das Nettosozialprodukt des Jahres 1930 bezogen, zu einem gesamtwirtschaftlichen Nachfrageausfall im Wert von ca. 9 Milliarden Reichsmark oder von gut 10 Prozent jenes Sozialprodukts und trug nicht weniger, sondern eher mehr als der Einbruch des Exports zum zweiten, desaströsen Krisenschub bei, verfehlter und zugleich unvermeidlicher Weise, deshalb der Regierung Brüning als Fehler nicht vorzuwerfen.

Hitler und der Untergang der Republik Der zweite Krisenschub war nun nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch desaströs. Wäre er ausgeblieben, hätte es Hitler an der Macht und den Zweiten Weltkrieg nicht gegeben. Hitler kam zwar nicht wegen der Wirtschaftskrise an die Macht, aber er wäre ohne die Wirtschaftskrise nicht an die Macht gekommen. Das klingt widersprüchlich, ist es aber nicht. Die Krise war nur eine Bedingung des Machtübergangs an die Nationalsozialisten. Eine andere Bedingung war Deutschlands besonderes politisches Befinden, seine obrigkeitsstaatliche Tradition, der Mangel an demokratischem Potential, 11 Davis: The world between the wars 1919-1939, S. 288. 12 Damit ist gemeint, dass die Steuerzahler unter der Voraussetzung eines unveränderten Sozialprodukts 3 Milliarden Reichsmark mehr Steuern gezahlt hätten. Tatsächlich ging das nominale Nettosozialprodukt um 25 Milliarden Reichsmark (= 30%) zurück. Deshalb nahm das Steueraufkommen nicht um 3 Milliarden Reichsmark zu, es nahm vielmehr trotz Steuersatzerhöhungen und der Einführung neuer Steuern um 3 Milliarden Reichsmark ab.

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Schwächen des Parteiensystems und der verbreitete Drang nach Revision des Versailler Vertrages vor allem. Und die dritte Bedingung war die politisch-persönliche Konstellation in der Schlussphase der Weimarer Republik. Bei anderem Befinden wären andere politische Konsequenzen aus der wirtschaftlichen Krise gezogen worden, sozialreformerische wie in den USA vielleicht oder sozialistische wie in Frankreich. Andererseits wäre das politische Befinden ohne die wirtschaftliche Krise nicht zu jenem Wahlverhalten mutiert, das Hitler zu einem Anwärter auf das Kanzleramt machte, sondern staatspolitisch folgenlos geblieben. Es war ja nicht Ausdruck einer zufalligen zeitlichen Koinzidenz, dass die Zunahme der Wählerstimmen, die für die NSDAP abgegeben wurden, fast parallel zum Anstieg der Arbeitslosenzahl verlief. Die Parallelität verweist vielmehr auf einen sachlichen Zusammenhang, der natürlich nicht auf die schlichte Feststellung zu reduzieren wäre, dass alle Arbeitslosen NSDAP wählten. Die Wähler, die unter Voraussetzung des latenten ideologisch-politischen Befindens von der akuten Wirtschaftskrise für die NSDAP gewonnen wurden, brachten Hitler freilich nur ins zunehmend frivole Spiel um die Macht, nicht auch in deren Besitz. In deren Besitz kam er, weil denen, die jenes frivole Spiel inszenierten, die Kontrolle darüber entglitt. In letzter Konsequenz war der Übergang der Regierungsgewalt an die Nationalsozialisten das katastrophale Scheitern des Versuchs, sie an die Macht zu binden, ohne sie die Macht gebrauchen zu lassen. Nach der Reichstagswahl im September 1930 wurde die NSDAP von der Regierung und von der Reichswehrführung als eine Partei wahrgenommen, mit der künftig zu rechnen und zu reden wäre. Brüning sprach im Oktober noch ohne konkrete Absichten zweimal mit Hitler. Wichtiger war freilich, dass Schleicher die Nationalsozialisten in zunächst noch unbestimmte Überlegungen einbezog, die rechtsgerichteten politischen Kräfte in einem Regierungsbündnis zu sammeln, das den Reichstag vollends ausschaltete. Bis Herbst 1931 blieb der Gedanke latent. Dann wurde er im Zeichen des ökonomisch-sozialen Debakels praktisch. Brüning nahm ihn auf, traf abermals mit Hitler zusammen, diesmal mit der konkreten Absicht, die Möglichkeit einer Beteiligung der Nationalsozialisten an der Regierung im Reich oder in Preußen zu sondieren, und vermittelte einen ersten Empfang Hitlers durch Hindenburg. Der Reichspräsident wollte, dass der politische Rückhalt der Regierung nach rechts erweitert würde, von Hitler aber wurde er instinktiv abgestoßen. Brüning verfolgte die Idee, den Nationalsozialisten Regierungsverantwortung zu übertragen und sie dadurch zu »zähmen«, gleichwohl weiter. In den folgenden Monaten wirkte er auf ein Regierungsbündnis des Zentrums mit der NSDAP in Preußen nach den Neuwahlen des preußischen Landtags im April 1932 hin. Die Absicht war in zweifacher Hinsicht illusionär. Zum Einen widersprach sie Schleichers aktivierten Vorstellungen von einem antiparlamentarischen Präsidialregime mit Einschluss der Nationalsozialisten. Und zum Anderen unterschätzte sie Hitlers Drang zur ungeteilten Macht, den unüberhörbarer Widerhall der nationalsozialistischen Propaganda in zusehends erweiterten Kreisen der Bevölkerung und lebhafter Zulauf zur Partei und zu deren Organisationen nährte und stärkte. Anfang 1932 meldete Hitler seinen Anspruch aufs Kanzleramt an und niemand konnte den Anspruch für schlechthin verfehlt halten und kurzweg negieren. Im Frühjahr trat der nationalsozialistische Parteiführer bei den Reichspräsidentenwahlen gegen Hindenburg an und vereinte erheblich mehr als ein Drittel der Stimmen auf sich. Kurz darauf gewann die NSDAP bei den preußischen Landtagswahlen annähernd 40 Prozent der Mandate. Es kam unter solchen

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Umständen umso weniger darauf an, was Brüning mit Hitler vorhatte, als Brüning unterdessen von seinem regierungspolitischen Urheber aufgegeben worden war. Es kam darauf an, wie Hitlers Drang und Schleichers Vorstellungen unter einen Hut zu bringen wären. Zu derlei »Hut« für eine Übergangszeit ersah Schleicher Ende Mai 1932 den bis dahin politisch gänzlich unauffälligen Zentrums-Abgeordneten Franz von Papen aus. Zuvor hatte er sich mit Hitler darauf verständigt, dass die NSDAP zunächst einmal ein von Schleicher inspiriertes und instruiertes Präsidialkabinett unter anderer als Brünings Führung tolerierte, das alsbald den Reichstag auflösen ließe und der Partei die Chance gäbe, ihre vermehrte Zustimmung in der Bevölkerung bei Neuwahlen in Wählerstimmen und Reichstagsmandate umzusetzen. Was danach geschähe, das blieb offen. Schleicher dachte an eine antiparlamentarisch-autoritäre Regierung, an der die Nationalsozialisten beteiligt wären, die aber von der Reichswehr getragen würde. Hitler mochte an einen Wahlsieg denken, der ihm auf den parlamentarischen Wegen, die er gleich darauf verschütten wollte, ins Kanzleramt brachte. Beide dachten falsch. Schleicher setzte bei Hindenburg unschwer Brünings Entlassung und Papens Ernennung durch, beides zum schweren Verdruss des Zentrums, das sich Papen weder verbunden noch verpflichtet fühlte. Er selbst wurde wider Willen, aber unvermeidlicher Weise Reichswehrminister in Papens ansonsten leichtgewichtigem Kabinett. Fünf Tage später, am 4. Juni 1932, ließ Papen den Reichstag auflösen. Am 31. Juli 1932 wurde neu gewählt. Zwischendurch setzte Papen im Einvernehmen mit Schleicher und in Abstimmung mit Hitler unter dem Vorwand, dass sie sich ungeordneter Haushaltsführung schuldig gemacht habe und die innere Sicherheit nicht zu garantieren vermöge, die preußische SPD/Zentrum-Regierung ab und schwang sich zum Reichskommissar über Preußen auf. Der »Preußen-Schlag« erwies, dass die demokratische Republik und die politisch-sozialen Kräfte, die sich zu ihr bekannten, gegen derlei anti-demokratische Gewalt wehrlos geworden waren. Die Gewerkschaften erwogen einen Aufruf zum Generalstreik. Zwölf Jahre zuvor hatte ein Generalstreik die Republik erfolgreich gegen den Kapp-Putsch verteidigt. Gegen Papens Putsch schien er kein Mittel zu sein. Angesichts von sieben bis acht Millionen Arbeitslosen und eingedenk der Sorge aller, die noch Arbeit hatten, dass sie ihrer verlustig gehen könnten, gab die Gewerkschaftsführung den Gedanken daran schnell auf. Das Ergebnis der Reichstagswahl enttäuschte die Nationalsozialisten. Sie gewannen kaum mehr Stimmen als Hitler vier Monate zuvor bei der Reichspräsidentenwahl gewonnen hatte, deutlich weniger als 40 Prozent. Wenn sie ehrlich mit sich selber waren, mussten sie sich eingestehen, dass sie ihr Wählerpotential erschöpft hatten. Gleichwohl oder gerade deshalb verlangte Hitler wenige Tage nach der Wahl von Schleicher, dass er Reichskanzler in einer Regierung mit autoritären Vollmachten werde. Das Verlangen behagte Schleicher nicht, aber es war mit seinen Vorstellungen nicht unvereinbar. Da er glaubte, die NSDAP für eine autoritäre Regierung, die den Rückhalt »seiner« Reichswehr hatte, gewinnen zu sollen und ohne Inkaufnahme von Hitlers Kanzlerschaft nicht gewinnen zu können, akzeptierte er das Verlangen. Er brachte den Reichspräsidenten freilich nicht dazu, Hitler zum Kanzler zu ernennen. Zu dessen Abneigung gegen den »böhmischen Gefreiten« war seine Zuneigung zu dem liebenswürdigen Major von Papen getreten. Am 13. August empfing er Hitler in Papens Gegenwart, trug ihm die Beteiligung an Papens Regierung an und entließ ihn unverrichteter Dinge, als Hitler darauf bestand, anstelle Papens Reichskanzler zu werden. Hitler war außer sich und zur weite-

1.2 W i r t s c h a f t und P o l i t i k in der W e i m a r e r R e p u b l i k

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ren Tolerierung der Regierung Papen selbstverständlich nicht bereit. Schleicher wurde von der Sorge bewegt, dass die NSDAP - frisch erbost über die Abweisung - und das Zentrum - immer noch erbost über Brünings Sturz - zusammenfänden und nach der Konstituierung des neuen Reichstags Hitler mit Mehrheit zum Kanzler wählten. Er ließ sich von drei hochgeachteten Staatsrechtslehrern gutachtlich versichern, dass Hindenburg Hitler dennoch nicht ernennen müsste, und bewegte Hindenburg dazu, eine Auflösungsorder auszufertigen, mit der Hitlers Wahl notfalls vorgebeugt werden konnte. Wobei er sich mit dem Reichspräsidenten und »seinem« Reichskanzler darin einig war, dass im Falle einer Auflösung der Reichstag vorerst nicht wiedergewählt würde. Das war am 30. August 1932. Am gleichen Tag trat der neu gewählte Reichstag zusammen und wählte mit den Stimmen der NSDAP und des Zentrums Hermann Göring zu seinem Präsidenten. An die Bildung eines Regierungsbündnisses und die Wahl Adolf Hitlers zum Reichskanzler dachten beide Parteien jedoch nicht. Die NSDAP schien vielmehr dazu bereit zu sein, einer längerfristigen Vertagung des Reichstags zuzustimmen. Von einer erneuten Auflösung und weiteren Wahlen hatten sie nicht viel zu erwarten. Der Reichstag wurde trotzdem aufgelöst. Die KPD stellte nämlich bei dessen nächster Zusammenkunft am 12. September 1932 unerwarteter Weise den Antrag, dem Reichskanzler das Misstrauen auszusprechen. Niemand widersprach dem Antrag. Hitler verstand ihn als willkommene Gelegenheit, die Reichsregierung zu blamieren. Papen wartete die Abstimmung über den Antrag nicht ab. Er ließ vielmehr eilends die Auflösungsorder herbeischaffen und legte sie dem Reichstagspräsidenten Göring auf den Tisch. Der übersah sie geflissentlich und ließ Papen dennoch das so gut wie einhellige, wenn auch wirkungslose Misstrauen des bereits aufgelösten Reichstags aussprechen. Papen seinerseits drängte im Kabinett darauf, von Hindenburgs Ermächtigung Gebrauch zu machen und das Parlament vorerst nicht wiederwählen zu lassen. Die Mehrheit der Minister ließ sich darauf aber nicht ein. Deshalb wurde am 6. November 1932 ein weiteres Mal gewählt. Das Ergebnis bestätigte die Erwartung der Nazi-Granden, dass mit Wahlen nichts mehr zu gewinnen wäre. Die Partei verlor die Wahl. Das Wahlvolk war der ewigen Wählerei und viele rasch gewonnene NSDAP-Wähler waren der Erfolglosigkeit des Griffs der Partei, die ihre Hoffnungen trug, nach der Regierungsgewalt müde geworden. Die Zahl der Wähler ging um 1,4 Millionen, die Zahl der Stimmen, die fur die NSDAP abgegeben wurden, um 2 Millionen zurück. Nur jeder vierte Wahlberechtigte wählte noch NSDAP. Der Höhenflug im parteipolitischen Aufwind des wirtschaftlichen Niedergangs war vorüber. Seit dem Sommer war die Wirtschaft im Aufschwung und die NSDAP im Niedergang, auch wenn eins mit dem anderen wegen der vorläufigen Unmerklichkeit der wirtschaftlichen Erholung wohl nicht viel zu tun hatte. Die größte Reichstagsfraktion stellte die NSDAP gleichwohl noch. Deshalb beauftragte Hindenburg deren »Führer« nicht ohne Hintersinn mit der Bildung einer Regierung, die eine parlamentarische Mehrheit hätte. Diejenigen, die ihm die Beauftragung eingaben, wussten natürlich, dass derlei Mehrheit nicht zu finden wäre, von niemandem. Hitler wusste es auch, lehnte den Auftrag ab, lehnte es auch ab, in eine andere, womöglich wieder von Papen geführte Regierung einzutreten und forderte mit verzweiflungsvoller Unnachgiebigkeit, zum Chef eines Präsidialkabinetts bestellt zu werden. Das kam fur Schleicher allenfalls, für Hindenburg und Papen kam es nicht in Frage. Papen hielt vielmehr den Zeitpunkt für gekommen, die NSDAP und die KPD zu verbieten, deren

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paramilitärische Organisationen niederzuschlagen und eine Militärdiktatur zu errichten. Hindenburg fand Gefallen an dem Gedanken. Schleicher hingegen missfiel die Absicht sehr. Dabei liefen auch seine Absichten auf eine Militärdiktatur hinaus. Während Papens Weg dahin durch einen Bürgerkrieg mit ungewissem Ausgang führte, dachte der vielgewandte Schleicher neuerdings freilich an eine Militärdiktatur als politische Exekutive einer Sammlung aller gewerkschaftlich-sozialpolitisch orientierten Gruppen und Kräfte. Dabei setzte er seine besonderen und nicht vollends unbegründeten Hoffnungen in den Vorsitzenden des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes, Theodor Leipart, und in den einflussreichen Organisationsleiter der NSDAP, Gregor Strasser. Einmal noch brachte er es fertig, Hindenburg gegen Papen für sich zu gewinnen. Am 3. Dezember 1932 wurde er Reichskanzler. Reichswehrminister blieb er. Hindenburg nahm ihm die Nötigung zu Papens Verabschiedung allerdings übel; Papen nahm sie ihm noch übler. Das wäre nicht weiter schlimm gewesen, wenn Strasser und Leipart die Hoffhungen gerechtfertigt hätten, die Schleicher in sie setzte. Da sie das nicht taten, erwies es sich als sehr schlimm. Strasser hielt Hitlers Kurs für falsch und Schleichers Absicht für verlockend. Um der Verlockung zu folgen, hätte er jedoch die NSDAP spalten und deren größeren Teil gegen Hitlers Willen in Schleichers Sammlung einbringen müssen. Dazu wäre er der Sache nach vielleicht in der Lage gewesen, aber er war persönlich nicht dazu fähig. Hitler nutzte die persönliche Schwäche und bootete ihn aus. Theodor Leipart aber begegnete auf dem unentschlossen eingeschlagenen Weg zum sonderbaren Bündnis zwischen Sozialreform und Militär dem Widerstand der SPDParteiführung und kehrte um. Danach blieb Schleicher nur noch die Militärdiktatur ohne populären Tragboden übrig. Unterdessen hatte Papen beleidigt und rachsüchtig gegen Schleicher zu intrigieren begonnen. Anfang 1933 traf er bei dem Kölner Bankier Schröder mit Hitler zusammen und versuchte, ihm eine Regierung unter gemeinsamer Leitung schmackhaft zu machen. Wenige Tage später machte er Hindenburg glauben, dass Hitler die Forderung nach umfassender Regierungsgewalt fallengelassen habe und bereit sei, mit ihm und anderen Politikern ein Kabinett der »nationalen Konzentration« ohne Parteibindungen zu bilden. Der Reichspräsident ermunterte ihn dazu, die Sache weiter zu verfolgen. Papen tat dies unter Zurhilfenahme des ebenso einfaltigen wie bei seinem Vater einflussreichen Hindenburg-Sohnes Oskar. Am Abend des 22. Januar brachte er Oskar mit Hitler zusammen und Hitler überzeugte den Sohn in einem längeren Gespräch zu zweit davon, dass er Reichskanzler werden müsse. Dem Sohn gelang es anderentags allerdings nicht, seinen Vater davon zu überzeugen. Der lehnte Hitler weiterhin ab. Schleicher erfuhr von alledem, kaum dass es geschehen war. Am Tag nach Oskar von Hindenburgs Treffen mit Hitler verschaffte er sich Klarheit darüber, wie weit er auf den Reichspräsidenten noch rechnen durfte. Er trug ihm die Absicht vor, den Reichstag aufzulösen und die Neuwahlen verfassungswidrig auszusetzen. Hindenburg lehnte den Verfassungsbruch ebenso ab, wie er Hitlers Ernennung zum Reichskanzler abgelehnt hatte. Die Auflösung des Reichstags behielt er sich vor. Am 28. Januar 1933 lehnte er auch die ab, obwohl sein Reichskanzler drei Tage später ein Misstrauensvotum des Parlaments zu erwarten hatte. Aber Schleicher war »sein« Reichskanzler eigentlich nie geworden. Sein Reichskanzler war Franz von Papen geblieben. Den wollte er wiederhaben. Noch bevor er Schleicher empfing, ihm die Auflösungsverordnung verweigerte und die Demission des Kabinetts entgegennahm, hatte er Papen damit beauftragt, eine neue Regierung zu bil-

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den. Schleicher und der Chef der Heeresleitung versuchten ihm beizubringen, dass er Papen nicht zum Reichskanzler ernennen dürfe, sondern Hitler ernennen müsse, wenn er den Bürgerkrieg vermeiden wolle. Sie bildeten sich ein, dass Schleicher in einer Regierung Hitler Reichswehrminister bleiben könnte und der starke Mann wäre. Hindenburg verstand sie nicht und fertigte sie ab. Papen wäre gern wieder Reichskanzler geworden, konnte aber selbst nicht wirklich daran glauben, dass seine Kanzlerschaft im Widerstreit mit Hitler und der Reichswehr möglich wäre. Deshalb sah er sie nur für den Fall vor, dass es auch ihm nicht gelänge, Hindenburg zur Berufung einer Regierung Hitler - selbstverständlich ohne einen Reichswehrminister Schleicher - zu bewegen. Es gelang ihm. Es gelang ihm, weil sich - hin und her gerissen zwischen abgrundtiefem Misstrauen und der peinigenden Sorge, politisch ausmanövriert zu werden - schließlich auch der Vorsitzende der DNVP, Alfred Hugenberg, dazu überwand, einer Regierung Hitler anzugehören, weil er in der Person Werner von Blombergs einen im Heer geachteten und von Hindenburg geschätzten Kandidaten fur das Amt des Reichswehrministers präsentieren konnte und weil Hindenburg in seinem Alter und seiner Hilflosigkeit nicht mehr wusste, wie er an irgendeinen Reichskanzler kommen sollte, wenn er den weiterhin ablehnte, den ihm alle, mit denen er darüber sprach, aufzureden versuchten. So ernannte er Hitler denn am Vormittag des 30. Januar 1933. Papen ernannte er zu Hitlers Stellvertreter und Hugenberg zum »Wirtschaftsdiktator«. »Wir rahmen Hitler ein«, sagte Hugenberg. Auf diese Weise kamen die Nationalsozialisten in den Besitz der Regierungsgewalt. In deren Besitz ergriffen sie in den folgenden Monaten die Macht in Deutschland.

Literatur BAHR, Johannes: Staatliche Schlichtung in der Weimarer Republik 1919-1932. Berlin: Colloquium 1989. BALDERSTON, Theo: The Origins and Course of the German Economic Crisis 1923-1932. Berlin: Haude und Spener 1993. BORCHARDT, Knut: Wachstum, Krisen, Handlungsspielräume der Wirtschaftspolitik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1982. BORN, Karl Erich: Die deutsche Bankenkrise 1931. München: Piper 1967. BURLEIGH, Michael: Die Zeit des Nationalsozialismus. Eine Gesamtdarstellung. Frankfurt am Main: S. Fischer 2000. DAVIS, Joseph Stancliffe: The world between the wars; 1919-39: an economist's view. Baltimore/London: Johns Hopkins University Press 1975. Das deutsche Reich von 1918 bis heute, Jg. 1931. Hrsg. v. Cuno Horkenbach. Berlin: Verlag für Presse, Wirtschaft und Politik 1931. EPSTEIN, Klaus: Matthias Erzberger und das Dilemma der deutschen Demokratie, Frankfurt am Main: Ullstein 1959. EVANS, Richard: Das Dritte Reich. Aufstieg. München: Deutsche Verlags-Anstalt 2004. FALTER, Jürgen: Hitlers Wähler. München: Beck 1991. FELDMAN, Gerald D.: The Great Disorder. Politics, Economics, and Society. In: the German Inflation 1914-1924. New York: Oxford University Press 1993. HENTSCHEL, Volker: Weimars letzte Monate. Hitler und der Untergang der Republik. Düsseldorf: Droste 1980. H O L T F R E R I C H , Carl Ludwig: Die deutsche Inflation 1 9 1 4 - 1 9 2 3 . Berlin: de Gruyter 1 9 8 0 .

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1 Voraussetzungen und

Entwicklungstendenzen

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71

1.3

Staat und Recht Ernst Fischer und Stephan Füssel

1.3.1 Zensur »Die Zensur ist durch die Weimarer Verfassung abgeschafft, aber die Tatsache scheint unseren Gerichten noch nicht vollständig bekannt zu sein.«1 Mit diesen enttäuschten Worten kommentierte die Zeitschrift Der Schriftsteller des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller die Rechtspraxis im Jahre 1922. Der Schutzverband brandmarkte verschiedentlich Eingriffe in die kulturelle Freiheit, so unter anderem bei einer Protestversammlung im Jahr 1921 nach dem Reigen-Prozess: »Die systematische Verfolgung von Werken der Literatur und Kunst aus angeblich moralischen Gründen bedeutet in Wahrheit nichts anderes als den Versuch der Wiedereinführung der verfassungsgemäß abgeschafften Zensur.«2 Diese zeitgenössischen kritischen Äußerungen verweisen auf das Spannungsfeld zwischen der Sichtweise der Zeitzeugen und einer historisch-resümierenden Beurteilung moderner Geschichtswissenschaft, die dagegen zu dem Ergebnis kommt: »Nie zuvor in der deutschen Geschichte sind Künste und Wissenschaften so frei gewesen.«3 Diese Sichtweise reflektiert die neuen Freiheiten dieser ersten deutschen Republik, die weitgehende Sicherung der Meinungsfreiheit und den offiziellen Verzicht auf Zensur, die Perspektive der Zwanzigeijahre eröffnet den Blick auf die Kommunikationsbehinderungen, die durch die allgemeinen Gesetze, die speziellen, medienbezogenen Gesetze oder aus der Reichsgewerbeordnung, verschiedenen Strafrechtsbestimmungen und der Alltagspraxis resultierten. Vier Aspekte sind dabei besonders zu beachten, einmal das »Gesetz über die Prüfung von Bildstreifen für Lichtspiele«, das am 29. Mai 1920 in Kraft trat und eine Vorzensur legitimierte, deren Grundprinzipien in nicht wenigen Fällen auch auf Theateraufführungen und Buchpublikationen übertragen wurden, zum anderen die Kontinuität der »Schund- und Schmutz-Debatte« seit der Kaiserzeit, die in dem »Gesetz zur Bewahrung der Jugend vor Schund- und Schmutzschriften« vom 18. Dezember 1926 mündete, drittens eine latente, mit volkserzieherischen Aspekten getarnte Zensur einiger Volksbibliothekare, die gemeinsam mit der zunehmenden Radikalisierung von rechts und links gegen Ende der Weimarer Republik fur ein Klima der Verunsicherung und vorauseilenden Zensur sorgte und schließlich einzelne Eingriffe der wenig liberal gestimmten Justiz, die die Möglichkeiten des Strafgesetzbuches ausnutzten. 1918 war nach den Restriktionen der Militärzensur im I. Weltkrieg zensurgeschichtlich eine neue Lage entstanden. Der »Rat der Volksbeauftragten« schuf bereits am 12. November 1918 mit bemerkenswert klaren Worten die neue Rechtssicherheit: »Der Belagerungszustand wird aufgehoben. Eine Zensur findet nicht statt. Die Theaterzensur wird aufgehoben. Meinungsäußerung in Wort und Schrift ist frei.«4 Der Abdruck dieser Verfügung im Börsenblatt an hervorgehobener Stelle kann als ein klarer Hinweis 1 2 3 4

Der Schriftsteller 9 (1922) 1/3, S. 8. Der Schriftsteller 8 (1921), 10/12, S. 128. Schulze, Hagen: Weimar - Deutschland 1917-1933. Berlin: Severin und Siedler 1982, S. 129. Börsenblatt, 14.11.1918.

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1 V o r a u s s e t z u n g e n und E n t w i c k l u n g s t e n d e n z e n

auf die eminente Bedeutung dieses Vorgangs für den deutschen Buchhandel geweitet werden. In der Situation der November-Revolution bedeutete die Aufhebung der verhassten staatlichen Zensur einen symbolischen Akt von beträchtlicher Signalwirkung. Im Artikel 118 der Weimarer Verfassung von 1919 wurde der entscheidende Satz »Eine Zensur findet nicht statt« noch einmal plakativ festgeschrieben. In Anlehnung an die vom Paulskirchenparlament 1848 beschlossenen Grundrechte bzw. an die Frankfurter Verfassung des Deutschen Reichs von 1849 wurde formuliert: Jeder Deutsche hat das Recht, innerhalb der Schranken der allgemeinen Gesetze seine Meinung durch Wort, Schrift, Druck, Bild oder sonstigerweise frei zu äußern. An diesem Rechte darf ihn kein Arbeits- oder Anstellungsverhältnis hindern, und niemand darf ihn benachteiligen, wenn er von diesem Rechte Gebrauch macht. Eine Zensur findet nicht statt, doch können für Lichtspiele durch Gesetz abweichende Bestimmungen getroffen werden. Auch sind zur Bekämpfung der Schundund Schmutzliteratur sowie zum Schutze der Jugend bei öffentlichen Schaustellungen und Darbietungen gesetzliche Maßnahmen zulässig.5 Dieser Verfassungsartikel ließ sich mit gewissem Recht als das Ende einer staatlichen Bevormundung im Bereich der öffentlichen Meinungsäußerung interpretieren, die auch Literatur und Kunst einschloss; zum anderen enthielt er aber auch Einschränkungen, die schon Hinweise auf die Aufweichung der Zensurfreiheit gaben, die nachfolgend zu Konflikten und Skandalen führen sollten, in denen sich die Gefährdung der Republik und die Versuche zur Revision der politischen Neuordnung durch Rücknahme demokratischer Freiheit andeuteten.6 Reichslichtspielgesetz

1920

Besonders die Fraktionen des Zentrums, der DNVP und der DVP setzten sich mit großem Nachdruck dafür ein, dass ein »Reichslichtspielgesetz« so rasch wie möglich eingeführt wurde. Der deutsch-nationale Abgeordnete Reinhard Mumm forderte am 16. Oktober 1919 die Reichsregierung »angesichts der schweren Missstände« auf, das von der Reichsverfassung vorgesehene Gesetz zur Lichtspielzensur »ohne Verzug« einzuführen, da sich das Kino mittlerweile zu einer »Volksverwüstung schlimmster Art« entwickelt habe. »Es ist immer und immer das eine erotische Element, das in den Vordergrund gestellt wird.«7 In den drei Lesungen in der Nationalversammlung sprachen sich nach und nach alle Parteien (bis auf die USPD) für die generelle Vorzensur von Filmen aus und erhöhten noch einmal die Jugendschutzbestimmungen: das Mindestalter für Kinobesuche wurde generell auf 18 Jahre heraufgesetzt. Als Verbotsgründe wurden definiert: erstens die Gefahrdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit; zweitens die Verletzung des religiösen Empfindens, drittens eine mögliche »verrohende und entsittlichende Wirkung« 5 Im Artikel 142 wurde auch die Kunst für frei erklärt. 6 Vgl. im Folgenden Petersen: Literatur und Justiz; Petersen: Zensur in der Weimarer Republik; Breuer: Geschichte der literarischen Zensur, S. 219-229. 7 Verhandlungen der verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung Bd. 330. Berlin 1920, hier 100. Sitzung vom 16.10.1919, S. 3165.

1.3.1

Zensur

73

des Films und viertens die »Gefahrdung des deutschen Ansehens oder der Beziehungen Deutschlands zu auswärtigen Staaten«. Der letzte, umstrittene Paragraph war auf Antrag der DNVP noch nachträglich in das Gesetz aufgenommen worden. 8 Erfasst wurden nicht nur die Bilder, sondern auch die Filmtitel, die Zwischentitel und nach der Einführung des Tonfilms die Dialoge sowie die für einen Film in Umlauf gebrachte Reklame (§ 5). Zu den Verschärfungen im Laufe der Weimarer Republik gehörte eine Gesetzesnovellierung 1931, in der auch die Gefahrdung »lebenswichtiger Interessen des Staates« (§ 1, Abs. 2, Satz 2) als ein »äußerst vieldeutiger und ausdehnbarer Verbotsgrund zusätzlich aufgenommen wurde«. 9 Dass es insgesamt bis auf spektakuläre Einzelfalle nicht zu flächendeckenden Verboten bestimmter Filme oder Genres gekommen ist, lag sicher zum einen an der Möglichkeit, beanstandete Stellen aus den Filmen herauszuschneiden und die Filme dann erneut zur Genehmigung vorzulegen und zum anderen an dem hohen Maß der Selbstzensur der Filmindustrie, die bei einer Verweigerung der Zulassung ja einen erheblichen finanziellen Verlust hätte tragen müssen. Einschnitte und Verbote gab es immer wieder bei sogenannten Aufklärungsfilmen wie z.B. Aus der Mappe eines Sexualforschers (1927), Geschlecht in Fesseln (1929) oder Das keimende Leben (1931), die an den Schneidetisch zurückgeschickt bzw. nur zur Vorführung »für naturwissenschaftliche und medizinische Zwecke« zugelassen wurden. 10 Im gleichen Zusammenhang wurden auch Filme, die die Abtreibung und die Diskussion um den § 218 thematisierten, wie der Film Cyankali (1930) zu Schnittauflagen verpflichtet, die den Film völlig entstellten. Vergleichbares wurde auch aus politischen Gründen beim Panzerkreuzer Potemkin oder Im Westen nichts Neues versucht, die aber später freigegeben wurden. Wie auch bei Theaterauffuhrungen, Cabarets und anderen öffentlichen Veranstaltungen kam es, gerade nach 1930, sehr häufig zu öffentlichen Massendemonstrationen und Krawallen, so dass dann solche Filme wegen »Gefahrdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit« abgesetzt wurden. Man kann aber auch konstatieren, dass in der kurzen und bewegten Geschichte der Filmzensur in der Weimarer Republik auch offen antirepublikanische Filme der Soldatenbünde, des Stahlhelm und der Nationalsozialisten genauso rigoros unterdrückt wurden wie ausgesprochen revolutionäre Filme der Kommunisten, u.a. Hindenburgs Ostpreußenreise (1923), Die Ruhrschande (Vaterländischer Filmvertrieb 1925) oder Gauparteitag der NSDAP (1930)." Ähnlich wie im Theater und Cabaret wurden auch im Kino die Verbindungen zur Buchvorlage gezogen, wenn z.B. die Textausgabe beanstandet worden war und sie trotzdem im Zusammenhang der Aufführung zum Verkauf angeboten wurde, wie z.B. 1920 im Berliner Kleinen Schauspielhaus Schnitzlers Reigen, der aufgrund eines Urteils des Landgerichts nach § 184a StGB eingezogen worden war. 12

8 Mumm, Reinhard: Die Lichtbühne: Ein Lichtblick aus den Verhandlungen der Deutschen verfassungsgebenden Nationalversammlung. Berlin 1920, S. 1 9 - 2 0 . 9 10 11 12

Zur Lichtspielzensur in der Weimarer Republik vgl. besonders Barbian: Filme mit Lücken, S. 63. Petersen: Zensur in der Weimarer Republik, S. 269. Petersen, S. 261. Petersen, S. 214.

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1 V o r a u s s e t z u n g e n und E n t w i c k l u n g s t e n d e n z e n

Zur Kontinuität der »Schund- und

Schmutzdebatte«

Bereits seit den 1890er Jahren führten Verfechter von Sittlichkeitsbewegungen und Volkschriftenvereinen eine Kampagne gegen den »Schund und Schmutz« in der Literatur, worauf hier kurz rekkuriert werden muss.13 Thomas Mann hat die kleinkarierten Eingriffe in die Kunstfreiheit einiger »Goethe-Bunde« in seiner Novelle Gladius Dei (1902) satirisch gegeißelt, in der er seine Kritik gegen die zeitgenössischen Eiferer richtete, die sich bemühten, mit einem »Schaufenstergesetz« gegen »unzüchtige« Kunst vorzugehen.14 Der § 184 des Reichsstrafgesetzbuches wurde um den Straftatbestand erweitert, der das »Feilhalten von Schriften, das Ausstellen von Abbildungen und das Aufführen von Theaterstücken (...) verbot, die, ohne unzüchtig zu sein, das Schamgefühl gröblich verletzten«. Während die Sittlichkeitsvereine regen Zulauf von Lehrern und Bibliothekaren, von Kirchen- und Parteienvertretern bekamen, setzte sich Thomas Mann auch 1911 mit den selbsternannten Sittenwächtern kritisch auseinander, denen er jede moralische Berechtigung absprach: Sie sind, sage ich, nicht Moralisten, sondern Antimoralisten, nur Aufpasser und Angeber, und sie verstehen unter Moral im Grunde nichts weiter, als was die Polizei unter >guter Sitte< versteht: nämlich die Forderung möglichster Vertuschung und Verhüllung alles Geschlechtlichen, - eine Forderung, die im bürgerlichen Leben vollauf berechtigt ist und bleibt, über die die Kunst sich aber zu allen Zeiten mit der ihr eigenen Anmut und Kühnheit hinweggesetzt hat.15 Die Kritik richtete sich neben der sexuell anzüglichen (Schmutz) auch gegen die literarisch und inhaltlich wertlose Literatur (Schund), worunter u. a. die Kolportageliteratur und die Hefitchenromane der Kaiserzeit verstanden wurden.16 Aber nicht nur der sozialdemokratische Vorwärts warnte, dass unter dem Deckmantel des Kampfes gegen die Unsittlichkeit der »Kampf gegen die Freiheit und Kunst« gefuhrt werde, da auf einer Konferenz der deutschen Sittlichkeitsvereine 1904 von der Indizierung von Flauberts Madame Bovary, von Zola und Maupassant, von Maeterlinck (Monna Vanna) und von Sudermanns Johannisfeuer gesprochen wurde.17 Die Leipziger Allgemeine BuchhändlerZeitung äußerte daher Sorge, dass jene ganze Bewegung auf nichts anderes abziele, als »uns das bisschen Geistesfreiheit, das wir noch in Deutschland genießen, zu verkümmern«.18 Führend im Kampf gegen Schmutz und Schund war der Hamburger Bibliothekar und Vorsitzende der »Deutschen Dichter-Gedächtnis-Stiftung« Dr. Ernst Schultze. Er wurde u.a. von dem Buchhändler Justus Pape sowie in Göttingen durch den Verlagsbuchhändler Dr. Ruprecht unterstützt. Der Vorstand des Börsenvereins der deutschen Buchhändler verurteilte ebenfalls in seinem Geschäftsbericht von 1908 das Anwachsen einer Produktion von Büchern, die »nur auf die Ausnutzung der niederen Instinkte der Menschen gerichtet ist«, und forderte alle Mitglieder auf, an der »Bekämpfung derartiger

13 14 15 16 17 18

Pöllinger: Die Gründung des Goethe-Bundes 1900, S. B89. Vgl. dazu Füssel: Thomas Manns Gladius Dei (1902), S. 429. Pornographie und Erotik. In: Der Zwiebelfisch. 3. Jahrgang. 1991, S. 103-105. Jäger: Der Kampf gegen Schmutz und Schund, S. 163 ff. Vorwärts vom 8.10.1904: Bekämpfung der unsittlichen Literatur. Allgemeine Buchhändler-Zeitung, Leipzig 20.10.1904.

1.3.1 Zensur

75

Literatur tatkräftig mitzuwirken«.19 Der Volksbibliothekar Walter Hofmann in Leipzig stellte daraufhin Empfehlungslisten »guter« Bücher zusammen, die der »Schundliteratur« bei einer Wanderausstellung des Dürer-Bundes plakativ entgegengestellt wurden. Da im Art. 118 der Weimarer Verfassung bestimmt worden war, dass zur »Bekämpfung der Schund- und Schmutzliteratur sowie zum Schutze der Jugend bei öffentlichen Schaustellungen und Darbietungen gesetzliche Maßnahmen zulässig« sind, meldeten sich sogleich einige Volkserzieher zu Wort, wie der Hamburger Jugendpastor Donndorf 1922: »Die Flut von Schund und Schmutz in Wort und Bild, die in den letzten Jahren über unser Volk und was das Schlimmste ist über unsere Jugend hereinbrach, übertrifft alles da gewesene.«20 Die Front des »Anti-Schund-Bündnisses« war sehr breit, sie wurde angeführt von Bibliothekaren und Pädagogen, es schlossen sich aber Parteienvertreter bis zu den Sozialdemokraten an. Die Sorge, dass nicht nur die »Abwehr des Ästhetisch-Minderwertigen« Anlass zu dieser neuen Gesetzes-Initiative sein könnte, sondern auch politisch nicht konforme Literatur verhindert werden sollte, brachte Bertolt Brecht engagiert zum Ausdruck: »Das Gesetz ist gegen uns gerichtet. Sie sagen Buffalo-Bill und meinen die Wahrheit.« Brecht teilt die Ansicht vieler kritischer Köpfe, dass nicht die Heftchenliteratur, sondern die sozialen Missstände Ursache fur Not und Kriminalität sei: Sie können unserer Jugend weder Brot noch Wahrheit geben, sie weder vor Hunger noch vor Irrtümern schützen. Wie schützen sie unsere Jugend vor jener Schundliteratur, die sie zu Kriegen und Unterdrückung hetzt? Wollen sie behaupten, dass unsere Jugend etwa der Buffalo-Bill-Hefte wegen verelendet?21 Bei den Beratungen des Gesetzes zur »Bewahrung der Jugend vor Schund- und Schmutz-Schriften« 1926 äußerte der Schutzverband Deutscher Schriftsteller seine Besorgnis und forderte Änderungen, um »die Freiheit des Schriftstellers gegen missbräuchliche Auslegung des Gesetzes sicherzustellen«. Der erste Vorsitzende des Schutzverbandes und Reichstagsabgeordnete Theodor Heuss wurde beauftragt, in der Gesetzeskommission die entsprechenden Bedenken und Modifikationen vorzutragen. Er kritisierte vor allem, dass im Gesetz keine Begriffsbestimmung von »Schmutz und Schund« und keine Grenzziehung gegenüber Literatur und Kunst vorgesehen war. Am 4. November 1926 verfasste der Schutzverband eine Resolution, die das Gesetz als Ganzes ablehnte und von einer »ungeheueren Bedrohung« fur die »durch die Verfassung garantierte Freiheit des geistigen und künstlerischen Schaffens« sprach. Am 3. Dezember 1926 wurde das Gesetz im Reichstag jedoch angenommen, gegen die Stimmen der Linksparteien.22 Es war nur gelungen, politische Periodika ausdrücklich auszunehmen und eine Oberprüfstelle einzurichten, als Entscheidungsinstanz über die selbständigen Landesprüfstellen. Diese Veränderungen hatte Theodor Heuss bewirkt, der zur Verärgerung des Schutzverbandes dem Gesetz insgesamt jedoch zustimmte und seinen Vorsitz daraufhin niederlegte. Aus seiner Rede am 27. November im Reichstag, die sich in den stenografi-

19 Müller: Die »Deutsche Dichter-Gedächtnis-Stiftung«. S. 22 f. 20 Heidtmann: Von der »Schmutz- und Schund«-Bekämpfung zur »Ausmerzung« von Büchern, S. 390. 21 Brecht, Bertolt: Verbot der Wahrheit. In: Gesammelte Werke 18. Schriften zur Literatur und Kunst 1. Frankfurt am Main 1967, S. 47 f. 22 Reichsgesetzblatt vom 24. Dezember 1926, Nr. 67, S. 505.

76

1 Voraussetzungen und E n t w i c k l u n g s t e n d e n z e n

sehen Berichten erhalten hat, ist zu entnehmen, dass Heuss die Schutzfunktion des Gesetzes für die Jugend höher gewichtete als die Gefahr eines Missbrauchs. Die Rechtspraxis

nach

1926

Von 1926 bis Januar 1933 wurden 188 Schriften auf die Verbotsliste gesetzt. In den Prüfstellen wirkten u. a. Heinrich Mann in München und Walter von Molo in Leipzig mit. Das Instrument der Indizierung und der schwarzen Listen war auf diese Weise gesellschaftsfähig und von einigen Schriftstellern akzeptiert worden. Wenn auch »nur« 188 Schriften verboten wurden, so führten doch die zahlreichen Anträge auf Indizierung zu einem Klima der Illiberalität und Bespitzelung und im Zeichen des Aufkommens nationalsozialistischer Regierungen in den Ländern seit 1930 zu einem Element der Auslese und Unterdrückung. Als 1930 der Novellenband Der Keuschheitsgürtel (Berlin 1928) von Pitigrilli23 von der Berliner Prüfstelle in die Verbotsliste aufgenommen wurde, warnten Arnold Zweig, einer der Beisitzer, und Alfred Kantorowicz in der Literarischen Welt vor einer falschen Anwendung dieses sogenannten »Schutzgesetzes«. 1931 beantragte z.B. das Landesjugendamt der Rheinprovinz den zehn Jahre alten Roman Serners Die Tigerin, im Paul Steegemann-Verlag zu indizieren mit der »Begründimg«: Diese Geschichte ist barer Unsinn. Schundig und ftir den, der die deutsche Sprache schätzt, geradezu peinlich ist der Jargon, in den der Verfasser jeden Augenblick fällt. Schmutzig sind die vielen sexuellen Schilderungen (...). Der Roman ist reinster Schund mit stark schmutzigen Einschlag. 24 Der Verleger Steegemann konterte mit drei Gutachten von Dichtern, die das Werk Serners mit positiven Kommentaren würdigten. Max Herrmann-Neiße, der selbst zweimal angeklagt worden war, unzüchtige Schriften verfasst zu haben, hob die Bedeutung des Themas und die objektive Gestaltung hervor: Durch Serners schriftstellerische Energie, die ihr Handwerk beherrscht und den wahren Tatbestand enthüllt, wird ein doch nicht unwichtiger, wenn auch obskurer Teil unserer Zeitgenossenschaft unter die Lupe genommen. 25 Ähnlich argumentiert Casimir Edschmid, der Sprache und Gestaltung als künstlerischen Reflex der Stoffwahl erläutert und anerkennt: Er trifft die Moral, den Jargon und die Anschauungsweise dieser sozialen Schicht sehr gut, und zwar in einem Stil, dessen scharfe und kalte Prägnanz unzweifelhaft literarische Qualität hat (...). Der Verf. zeigt, dass die beiden Hauptfiguren von ei23 Pitigrilli wurde dann 1933 von Dr. Wolfgang Hermann auf seiner ersten »Schwarzen Liste« vergessen; am 1. Mai 1933 schrieb er der »Deutschen Studentenschaft, Amt fur Presse und Propaganda«: »Auf unserer Liste für Volksbüchereien ist dieses Sexual-Schrifttum fast überhaupt nicht zu finden, denn davon hat sich jede Volksbücherei, auch wenn sie noch so schlecht geleitet war, weitgehend freigehalten. Pitigrilli usw. müssten für Ihre Liste noch zu unserer hinzugefugt werden.« Zitiert nach Die Bücherverbrennung. Hrsg. v. Gerhard Sauder. München: Hanser 1983, S. 115 f. 24 Deutsches Literaturarchiv Marbach am Neckar. Signatur: A: Stegemann; Konvolute: Material zu Walter Serner, hier: Akten zur Verhandlung der Indizierungsanträge. 25 Deutsches Literaturarchiv Marbach, Akten zur Indizierung.

1.3.1 Z e n s u r

77

nem moralisch minderwertigen Milieu (...) von einer tiefen und wahrhaft moralischen Liebe erfasst werden. Gegen diese Grundtendenz des Buches, welches die edelsten Gefühle bejaht, verschwinden alle Kleinigkeiten, die dagegen angeführt werden, vollkommen, und diese Grundtendenz macht das zuerst kalt und zynisch wirkende Buch zu einem moralischen Wert. Das engagierteste Gutachten stammt von Alfred Döblin, der als Mitglied des Senates der Preußischen Akademie der Künste auch aus seiner Erfahrung als Gutachter argumentierte, Sprache, Stil und Thema rechtfertigte: Die Begründung des Antrags stellt das Tollste und Herausforderndste dar, was wahrscheinlich auf diesem Gebiet zu leisten war. (...) Ich erkläre hier (...), dass ich empört darüber bin, dass ein guter Schriftsteller so vor ein Gericht gezerrt wird als >SchundgebildetenNeues< gibt. Das vor sechs oder zehn Monaten erschienene Buch, das der Käufer nicht gelesen, ist uninteressant, weil es nicht >Novität< ist. Kam nun ein Buch im Februar oder Juni anstatt kurz vor Weihnachten - der einzigen Zeit des Bücherkaufens im größeren Stil - auf den Markt, so geht es unter Umständen einfach unter.«21 Diese vordergründige Novitätensucht interpretierte Alfred Döblin als Charakteristikum einer »im tiefsten erschütterten bildungsfremden Schicht [...], die nicht mehr kulturell sammelt, die nicht festhält, [...], die ja letzten Endes im Zerfall ist und vom geistigen

19 Mommsen: Die Auflösung des Bürgertums, S. 300. 20 Braune: Was sie lesen: Drei Stenotypistinnen, S. 353. 21 Wolff: Der Verleger hat das Wort, S. 1366.

2.2 B u c h k ä u f e r u n d L e s e r s c h a f t

155

nur noch historische Vorstellungen hat«. 22 Die Vorstellung vom Buch als dominantem Bildungsgut schwingt auch noch im veränderten Konsumverhalten der Zwanzigeijahre mit, wenn auch nur noch unreflektiert und nicht mehr verinnerlicht. Der Kulturverleger Samuel Fischer begründete das zeitgenössische Käuferverhalten mit dem Argument, dass »wir keine literarische Atmosphäre besitzen, in der das Lesen wertvoller Bücher eine selbstverständliche und ununterbrochen ernsthafte Beschäftigung ist«.23 Das rasch sinkende Interesse an den eben erschienenen Werken führte zu Auflagensenkungen bei Neuerscheinungen, die innerhalb eines halben oder ganzen Jahres abgesetzt werden sollten. Die hohen Auflagenzahlen bei den älteren Werken kamen durch eine »stetige Nachfrage in Jahren, ja Jahrzehnten« 24 zustande, denn Werke eines bekannten Autors wurden in früheren Jahrzehnten immer wieder nachgefragt. Das Massenpublikum ließ sich vom Sortimenter jedoch nur schwer oder gar nicht in seiner Lektüreauswahl lenken: »Goethe und Schiller, überhaupt alle klassische Literatur hätte nicht ausgepackt zu werden brauchen, sie wurde weder verlangt noch auf Empfehlung verkauft. [...] Dagegen wurde am meisten Waldemar Bonseis und Tarzan [...] verlangt«.25 Die Nachfrage nach Bestsellern charakterisierte den Markt, was unterstützt und verstärkt wurde durch die Fortsetzungsromane in Zeitungen und Zeitschriften. Allen voran hatten die Zeitungen des Ullstein-Konzerns, und hier besonders die Berliner IIlustrirte Zeitung und die Vossische Zeitung, in ihren Feuilletons den Roman zum »Herzstück der Zeitung« 26 gemacht und »warfen bald für damalige Zeiten immense Honorare und eine schon fast amerikanische Reklame in den jeweils neuen Roman«. 27 Das berühmteste Beispiel ist der schlagartige Erfolg von Erich Maria Remarques Roman Im Westen nichts Neues, der im November/Dezember des Jahres 1928 als Vorabdruck in der Vossischen Zeitung erschien. Die 30.000 Exemplare der Erstausgabe in Buchform waren im Januar 1929 noch vor der Auslieferung vergriffen. Innerhalb nur eines Jahres konnte vom Propyläen Verlag (Ullstein) 1 Million Exemplare abgesetzt werden. Wie unterschiedlich dennoch die Lektürevorlieben des Massenpublikums aufgrund der Komplexität der wahrgenommenen Lebensstile empfunden und gedeutet wurden, demonstrieren die zeitgenössischen Versuche, ein Bild der kulturtragenden Leserschicht zu entwerfen. Wertbildend und -bindend für den alten Mittelstand war das mechanische Festhalten an überkommenen Konventionen, auch in seiner Lektüreauswahl; für den »neuen Mittelstand« hingegen »liegt das Schablonenhafte [...] in dem wähl- und sinnlosen Habenwollen alles modisch-modern Etikettierten«. 28 Idealtypisch für diese zeitgenössische Beschreibung wurden zwei Berufsgruppen herangezogen, die aus der Angestelltenschaft stammten: erstens das Ladenmädchen, »das seine Lebensfreude darin gipfeln sieht [...], die oberen Klassen wenigstens in Konturen nachzuahmen, das Modernste zu haben, gewisse Bücher zu lesen, die man gelesen haben muß, mit Film- und Bühnenleben eine Vertrautheit zu suchen, die sich in erster Linie aus dem Studium der 22 23 24 25 26 27 28

Döblin: Der moderne schöngeistige Verlag, S. 371. Der Verleger hat das Wort (Fischer), S. 1402. Der Verleger hat das Wort (Kossack), S. 1402. Kossack, S. 1402. Luft: Berliner Illustrirte, S. 94. Luft, S. 94. Levy: Volkscharakter und Wirtschaft, S. 101.

156

2 A u t o r e n und P u b l i k u m

Filmzeitschriften, dem Sammeln autographierter Ansichtspostkarten und dem Besuch der Operetten-Schlager ergibt, ist einer dieser Typen des modernen Spießbürgers«.29 Der zweite angeführte Typus war der junge Kaufmann, »der gleichfalls jede Mode mitmacht, [...] alles zu tragen sucht, was als neuer Schnitt, neue Mode, als die Eleganz in Anzeigen- und Fachblättern gepriesen wird, der sich mit Sport beschäftigt«.30 Eines der Hauptprobleme des Sortiments im Umgang mit dem neuen Publikum war die Diskrepanz zwischen dem Selbstverständnis des Sortimentsbuchhändlers als Kulturvermittler und den realen Bedürfnissen des Lesepublikums. In einer Vielzahl von Stellungnahmen der Sortimenter zur Lage des Buchhandels im Börsenblatt wurde zwar durchaus erkannt, dass sich die Käuferschichten der Weimarer Republik vom Vorkriegspublikum eklatant unterschieden, dass das Bildungsbürgertum der Jahrhundertwende nicht mehr die Zielgruppe des Buchabsatzes sein konnte und dass sich die Veränderungen in der Sozialstruktur auch in den veränderten Leseinteressen bemerkbar machten. Dennoch wurde immer wieder die ernste Absicht formuliert, das Lesepublikum »umzuerziehen«; nicht die Anpassung des Sortimenters an die Kaufinteressen der Kunden, sondern die Anpassung der Lese- und Kaufinteressen an die Vorstellungen des Sortiments waren erklärtes, aber freilich unerreichbares Ziel. Appelliert wurde in erster Linie an die erzieherische Aufgabe des Sortimentsbuchhandels, dem Leser ein »gutes Buch mit bleibendem Inhalt«31 zu vermitteln. Der Käufer bzw. Leser sollte verstärkt zu Werken hingeführt werden, die gerade nicht zur Tagesliteratur zählten, sondern eine Rückbindung an die Ideale des humanistischen Bildungsbegriffs zuließen. Einerseits existierte unter den Buchhändlern sehr wohl die Einsicht, dass das Publikum nicht mehr Geld für Lektüre ausgeben konnte, andererseits wurde aber der Anspruch erhoben, möglichst diejenige Literatur zu verkaufen, die das Bildungsniveau des Lesers heben sollte. Statistische

Erhebungen

Die neuen Konsum- und Freizeitmöglichkeiten warfen branchenintern die Frage nach den Kaufanreizen im Buchhandel auf. Die Werbestelle des Börsenvereins veranstaltete im Jahr 1926 eine statistische Erhebung, die Auskunft über die individuellen Motive beim Bücherkauf geben sollte. Zehntausend Fragekarten wurden an großstädtische Sortimenter (Hamburg, Frankfurt am Main, Düsseldorf, Leipzig, Dresden, München, Stuttgart), an Universitätsbuchhandlungen (Königsberg, Marburg, Freiburg, Heidelberg) wie auch an kleinstädtische Buchhandlungen verschickt. Knapp 2.200 Antworten kamen an die Werbestelle zurück.32 Die Erhebung ergab: Grundsätzlich wurden Bücher nicht nur aus einem einzigen Motiv, sondern aus mehreren Gründen erworben. Ein starkes Motiv war überraschenderweise die vorherige Kenntnis des Werks, möglicherweise durch den Fortsetzungsroman in der Zeitung. Immerhin um die 20 Prozent der Befragten nannten dieses Kriterium als ausschlaggebend für den Kauf eines Buches. Fast ebenso stark fiel die Buchempfehlung durch Bekannte und Freunde ins Gewicht, was ein Indiz für den

29 30 31 32

Levy, S. 101. Levy, S. 101. Bruchhaus: Der geistige Tiefstand, S. 13592. Vgl. den Bericht von Sommerfeld: Weshalb werden Bücher gekauft?

2.2 B u c h k ä u f e r und L e s e r s c h a f t

157

Einfluss des jeweiligen Sozialmilieus ist. Ein Drittel der Befragten gab an, die Kenntnis anderer Werke eines Autors motiviere sie zum Kauf eines seiner weiteren Werke. Die Klage der Verleger über die Novitätensucht des Publikums deckt sich nicht mit allen Ergebnissen dieser Umfrage, denn es wurden des weiteren vor allem diejenigen Autoren gekauft, deren Werke in besonders preiswerten Ausgaben gehandelt wurden, und hierunter dominierten die großen Realisten des 19. Jahrhunderts: Gottfried Keller, Theodor Storm, Wilhelm Raabe, Gustav Freytag und Conrad Ferdinand Meyer. Von den zeitgenössischen Schriftstellern wurden »deutlich getrennt nach der sozialen Schicht, der geographischen Provinz und der politischen Richtung« bevorzugt: Thomas Mann, Emil Ludwig, Stefan Zweig einerseits und Jakob Christoph Heer, Hermann Löns, Ernst Zahn andererseits. Schichtenübergreifend beliebte Schriftsteller waren: Christian Morgenstern, Hermann Hesse, Albrecht Schaeffer, Carl Ludwig Schleich und Bruno Bürgel, dessen bei Ullstein erschienenes Buch Vom Arbeiter zum Astronomen. Der Aufstieg eines Lebenskämpfers schon durch seinen Titel einschlägige Käuferkreise bestach. Der Titel eines Werkes wurde aber in der gesamten Umfrage nur siebenmal als Kaufmotiv genannt. Die Bemühungen des Sortimenters, durch anregende Schaufenstergestaltung den Absatz zu erhöhen, trafen nach dieser Umfrage eher ins Leere, denn nur etwa zwei Prozent der Kunden ließen sich dadurch zum Kauf eines ausgestellten Werkes animieren. Einband und Schutzumschlag eines Buches hingegen wurden von ca. acht Prozent als Kaufmotiv genannt. Kaufanregend wirkten auch die Rezensionen eines Werkes, fast 10 Prozent der Befragten führten dies aus, 160mal führte dieser Impuls als alleiniger Grund zum Kauf, während die Verlagswerbeanzeige nur 58mal zum Kauf motivierte. Verlagskataloge und Prospekte kamen nach dieser Umfrage als erfolgreiches Werbemittel nur für Sachbücher und wissenschaftliche Literatur in Betracht. Die neuen Medien Film und Rundfunk schlugen in der Motivstatistik nur minimal zu Buche (vier Käufer entschieden sich nach einem Kino-Besuch für ein Buch, neun nach einer Rundfunksendung), aber Vorabdrucke in Zeitungen, Inhaltsausschnitte aus Werken und mündliche Vermittlungen wie Vorträge und Dichterlesungen oder Rezitationsabende übertrafen die neuen Medien in ihrer Wirkung bei Weitem: mehr als 10 Prozent der Käufer wurden durch die traditionellen literarischen Vermittlungsinstanzen erreicht. Der Verleger Eugen Diederichs beklagte hingegen die Unwirksamkeit von Rezensionen: »Vor dem Kriege hagelte es auf eine Besprechung in der frankfurter Zeitung< in etwa zwei bis drei Tagen direkte Bestellungen von 100 bis 150 Stück. Heute kommt nicht eine einzige direkte Bestellung. So anders ist die Einstellung geworden«.33 Die Individualisierung als Ausdruck der Moderne und widersprüchliche Tendenzen stellten den Buchmarkt vor bis dahin nicht gekannte Probleme. So stand im Mittelpunkt der Veranstaltungen am Seminar für Buchhandelsbetriebslehre der Handelshochschule in Leipzig im Sommersemester 1927 die »Käuferkunde«, die nach dem Vorbild der »Leser- und Bücherkunde« der Leipziger Volksbücherei erarbeitet werden sollte.34 Wie aus dem Börsenblatt hervorgeht, wurden dazu im Jahr 1927 Fragebogen an 6.000 Akademiker verschickt, deren Auswertung publiziert werden sollte, was aber offensichtlich 33 Diederichs, in: Buch und Gesellschaft, S. 26. 34 Schönfelder: Spezialisierung und Käuferkunde, S. 482-484.

158

2 A u t o r e n und Publikum

nie geschehen ist. Die Daten sind heute nicht mehr erhalten. Kontroverse Beurteilungen des Lesepublikums durch Verleger, Sortimenter und Autoren zeigen die Fragmentierung des Publikums in Käufergruppen, die sich abhängig von individuellen Wertbegriffen entweder eher an traditionellem Bildungsgut orientierten oder sich von neuen Strömungen leiten ließen oder versuchten, beides zu vereinbaren, und ihren finanziellen Möglichkeiten entsprechend ihre Lektüreauswahl trafen. Der Trend zur Individualisierung schien ungebrochen: »Jeder dritte Leser, könnte man danach folgern, treibt auf eigene Faust eine Art primitive Literaturgeschichte der Gegenwart.«35 Wenn man sich eine der erfolgreichsten Reihen des Buchmarktes ansieht, die Ullstein Bücher, die seit 1910 als Markenprodukte beworben wurden, ab 1927 fortgesetzt mit den Gelben Ullstein Büchern, dann werden die Modeerscheinungen des Massengeschmacks deutlich: Künstlerromane, Hotelromane, Reiseromane, Großstadtromane, Romane aus der Filmwelt, Sportromane mit zugkräftigen Titeln nehmen die zeittypischen Konsumgewohnheiten und Freizeitbeschäftigungen des großstädtischen Publikums auf. Und natürlich finden sich unter den Ullstein-Büchern zahlreiche Liebesromane. Finanzbudgets im Einzelhaushalt für Bildung und Vergnügen Eine allgemeingültige Antwort auf die Frage, inwieweit die neue Freizeitkultur und die Medienkonkurrenz zwischen Film, Rundfunk und Buch das Konsumverhalten des Privathaushaltes bestimmt haben, kann kaum gegeben werden. Es existieren keine Untersuchungen, die stichprobenartig das Kaufverhalten der Bevölkerung über mehrere Jahre untersuchten, aus denen man z.B. Veränderungen im Konsumverhalten ablesen könnte. In den von Berufsverbänden durchgeführten Umfragen fehlen in der Regel konkrete Daten zum Buchkauf. Ausgaben für Bücher wurden häufig den allgemeinen Bildungsausgaben zugeordnet. Lektürebudgets erscheinen nicht als separat aufgeführte Kosten, sondern verschwinden in einem Ausgabenpool. Ausgaben für Bücher bzw. generell für Lektüre sind meist mit den Angaben der Ausgaben für Bildung und Vergnügen zusammengefasst worden. Diese Zuordnungen lassen den Schluss zu, dass das Buch einerseits als Bildungsgut im traditionellen Sinn, andererseits aber als reiner Unterhaltungsfaktor aufgefasst wurde. Die zeitgenössischen Studien verzichteten auf eine weitergehende Differenzierung. Den Angestellten wurde aufgrund ihrer steigenden Anzahl und der damit verbundenen wirtschaftlichen Bedeutung besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Zu nennen sind z.B. die Studie von Otto Suhr Die Lebenshaltung des Angestellten und des Weiteren die Untersuchung von Susanne Suhr Die weiblichen Angestellten. Arbeits- und Lohnverhältnisse. Bücherkäufe sind unter die Ausgaben für den allgemeinen Kulturbedarf subsumiert, der sowohl Bildungs- als auch Unterhaltungsbedarf einschließt. Ähnliches gilt fur die Erhebungen des Deutschen Beamtenbunds36 und des Einheitsverbands der Eisenbahner Deutschlands.37 In den Untersuchungen des Deutschnationalen Handlungsgehilfenverbandes von 1927,38 der die Lebenshaltung des Kaufmannsgehilfen ermittelte, des 35 36 37 38

Vgl. Sommerfeld: Weshalb werden Bücher gekauft? Deutscher Beamtenbund: Beamtenhaushalt, Lebenshaltungskosten und Kleinhandelspreise. Die Lebenshaltung des deutschen Reichsbahnpersonals. Der Haushalt des Kaufmannsgehilfen.

159

2.2 B u c h k ä u f e r und L e s e r s c h a f t

Baugewerbsbundes von 193 1 39 und des Reichsverbandes ländlicher Arbeitnehmer von 193040 wurden zwar allgemeine Bildungsausgaben errechnet, Buchkäufe jedoch nicht explizit genannt. Ernst Umlauff hat in seiner Statistik des Deutschen Buchhandels von 1934 bereits eindringlich auf diesen Mangel in den erwähnten Studien hingewiesen.41 Er bezog sich daher in seiner Analyse auf die Berechnungen des Instituts für Konjunkturforschung zur gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, die auf geschätzten Produktionswerten beruhten und lediglich Tendenzen widerspiegelten. Danach ergab der Gesamtumsatz für »Gegenstände des Buchhandels« in der zweiten Hälfte der Zwanzigeijahre: Jahr

Umsatz

1925

400 Millionen RM

1928

510 Millionen RM

1929

450 Millionen RM

1930

420 Millionen RM

Zum Vergleich: Nach Angaben Walther Lederers erhöhte sich der Umsatz fur den Rundfunk insgesamt von 33 Millionen Reichsmark im Jahre 1925 auf 68 Millionen Reichsmark im Jahr 1928.42 Der Rückgang der Umsatzzahlen im Buchhandel seit 1928 auf annähernd das Niveau von 1925 hat sich nach Umlauffs Schätzungen bis 1932 weiter fortgesetzt. Er führt diese Entwicklung sowohl auf einen Rückgang des Bucherwerbs im Einzelhaushalt als auch auf die unbefriedigende Finanzlage der öffentlichen Bibliotheken zurück, deren Etatkürzungen sich ebenfalls im Gesamtbild bemerkbar machten. In den Jahren 1927/28 führte das Statistische Reichsamt eine statistische Bestandsaufnahme der Finanzbudgets und des Konsumverhaltens von Einzelhaushalten durch 43 2.000 Arbeiter-, Angestellten- und Beamtenhaushalte in etwa 60 deutschen Städten wurden für die Analyse ihrer Lebenshaltungskosten herangezogen. Der weitaus größte Teil der befragten Haushalte befand sich in größeren Städten, da die Erhebung fast ausschließlich auf Gemeinden mit städtestatistischen Ämtern beschränkt wurde, um direkte Nachfragen zu den monatlich abgelieferten Haushaltsbüchern zu ermöglichen. Die Auswahl der Haushalte wurde so getroffen, dass »die wichtigsten Gewerbegruppen und Berufsarten sowie typische Einkommensverhältnisse vertreten waren«.44

39 Deutscher Baugewerbsbund: Die Lebenshaltung der Bauarbeiter nach (896) Wirtschaftsrechnungen aus dem Jahre 1929. 40 Die Lebenshaltung des Landarbeiters. Wirtschaftsrechnungen von 130 Landarbeiterfamilien. Eine Erhebung des Reichsverbandes ländlicher Arbeitnehmer. 41 Umlauft: Beiträge zur Statistik des deutschen Buchhandels, S. 159 ff. 42 Lederer: Was verbrauchen wir?, S. 696. 43 Die Lebenshaltung von 2.000 Arbeiter-, Angestellten- und Beamtenhaushaltungen. Erhebungen von Wirtschaftsrechnungen im Deutschen Reich vom Jahre 1927/28. 44 Die Lebenshaltung von 2.000 Arbeiter-, Angestellten- und Beamtenhaushaltungen., S. 2 (Hervorhebung im Original). Von den 2036 Jahresrechnungen sind 1940 ausgewertet worden, und zwar 896 Arbeiterhaushalte, 546 Angestellten- und 498 Beamtenhaushalte.

160

2 A u t o r e n und P u b l i k u m

Obwohl diese Studie lediglich formale soziale Klassifizierungsmerkmale wie Einkommen und Berufsgruppen berücksichtigte und Unterschiede im Lebensstil nicht in die Auswertung einfließen ließ, bietet sie gegenüber anderen Befragungen mehrere Vorteile: Der Anteil der Gesamtausgaben für Bücher, Zeitungen und Zeitschriften im Einzelhaushalt wurde separat ausgewiesen; die Studie lässt Vergleiche zwischen den verschiedenen Berufsgruppen zu sowie Vergleiche der Ausgaben fur Lektüre und für die Konkurrenzmedien. Die Daten wurden unmittelbar in den Jahren der sogenannten »Bücherkrise« gewonnen und beruhen auf einer relativ großen Datenbasis - zum Vergleich: Otto Suhr hatte in seiner Angestelltenstudie von 1926/27 lediglich 43 Haushalte in Großstädten auswerten können und auch nur sogenannte »besser verdienende« Angestellte mit einem Jahreseinkommen von ca. 4.000 RM ins Blickfeld genommen. Die groß angelegte Studie des Statistischen Reichsamts liefert eine Momentaufnahme, Veränderungen im Konsumverhalten können daraus nicht abgeleitet werden. Es lassen sich trotz dieser Einschränkung aus den untersuchten Haushaltsbudgets Tendenzen erfassen.45 Die von Umlauff aufgeführten Umsatzzahlen erreichten gerade im Jahr 1928 einen Höhepunkt. Es muß jedoch davon ausgegangen werden, dass sich die Ausgaben für Lektüre bis zum Ende der Weimarer Republik auch im Einzelhaushalt reduzierten. Von den knapp 900 befragten Arbeiterhaushalten hatten 91 Prozent ein jährliches Einkommen von weniger als 4.300 RM bei einer durchschnittlichen Haushaltsgröße von 4 - 5 Personen. Für Miete, Ernährung, Heizung und Beleuchtung, Steuern, Versicherungen und Bekleidung mussten bis zu 85 Prozent des Budgets investiert werden. Mit den verbleibenden 15 Prozent mussten sämtliche Ausgaben für Bildung, Vergnügungen, Gesundheitspflege, Fahrkarten, Schuldenabtragungen und weitere Gebühren aller Art etc. gedeckt werden. Für Bildungsausgaben verblieben insgesamt höchstens 1,8 Prozent des Jahreseinkommens (45 RM im Jahr). Davon wurden Bücher, Zeitschriften und Zeitungen, Schulgeld, Schulbücher, Schulbedarf und der Kindergarten bezahlt sowie die weitere Fortbildung durch Sprach- und Musikkurse, Vorträge etc. Bei einem weit überdurchschnittlichen Jahreseinkommen von 4.300 RM und mehr, das aber nur neun Prozent der Arbeiterhaushalte zur Verfügung stand, stiegen die Ausgaben für Bildung auf 103,20 RM. Der finanzielle Spielraum eines Arbeiterhaushalts für Anschaffungen, die nicht den unmittelbaren Grundbedürfnissen dienten, war extrem knapp. Auffallend hoch sind in diesen Haushaltsbudgets jedoch die Ausgaben für Verbands- und Vereinsmitgliedschaften und vor allem für Gewerkschaften (2,2 Prozent des Gesamteinkommens). Der größte Teil der befragten Arbeiter war gewerkschaftlich organisiert. In Bezug auf die Gesamtausgaben erreichten die prozentualen Anteile der Ausgaben für Freizeitbeschäftigungen wie Kino, Rundfunk und Sport zusammengenommen in den unteren Einkommensstufen höchstens ein Drittel der Ausgaben für Lektüre. In den höheren Einkommen nahmen die Ausgaben für Lektüre jedoch ab, und die für den Rundfunk verdoppelten sich. Die finanziellen Aufwendungen für den Rundfunk sind in einzelnen Haushalten höher als die hier errechneten Durchschnittswerte zu veranschlagen, da lediglich 20 Prozent der befragten Arbeiterhaushalte an den Rundfunk angeschlossen waren. Für nur 58 Prozent der Haushalte sind Ausgaben für Kinobesuche und für 54 Prozent Ausgaben für Sport nachgewiesen. Die Angebote der neuen Medien nahm nur 45 Vgl. dazu ausführlicher: Schneider: Lektürebudgets in Privathaushalten der zwanziger Jahre, S. 341-351.

2.2 Buchkäufer und Leserschaft

161

ein Teil der Haushalte wahr, für Printmedien gaben hingegen alle Geld aus. Eine kleine Spitze der Arbeiterhaushalte hatte höhere Bildungsausgaben als der Durchschnitt ihrer Einkommensklasse. Es handelte sich in erster Linie um Facharbeiter in Großstädten, und hier trat die Berufsgruppe, die mit dem Produktionsprozess von Druckwerken beschäftigt ist, besonders hervor: Buchdrucker, Schriftsetzer und Buchbinder. 71 Prozent der Angestelltenhaushalte verfugten über ein Jahreseinkommen von weniger als 5.100 RM. Ihre Haushaltsgröße war durchschnittlich etwas niedriger als die der Arbeiter, sie lag bei 3 - 4 Personen. Die Angestelltenfamilie war im Reichsdurchschnitt in den Zwanzigeijahren die kleinste. Die Ausgaben eines Angestelltenhaushalts in der niedrigsten Einkommensstufe (Jahreseinkommen bis 3.000 RM) betrugen für die Grundversorgung insgesamt 83 Prozent. Für Bildungsausgaben verblieben 1,9 Prozent des Jahreseinkommens (57 RM). In der höchsten Einkommensstufe, einem überdurchschnittlichen Jahreseinkommen von 6100 RM und mehr, wurden für Bildung bis zu 204 RM investiert. Der prozentuale Anteil der Ausgaben für Bücher, Zeitschriften und Zeitungen lag in allen Einkommensstufen um 1,3 Prozent der Gesamtausgaben. Dieser Anteil blieb bei allen Einkommensstufen konstant; je höher die Einkommen waren, desto mehr Geld wurde allerdings fur Rundfunk und für Sport ausgegeben. Dennoch blieben die Ausgaben für Vergnügungen hinter denen für Lektüre zurück, aber nicht in dem Maß wie bei den Arbeiterhaushaltungen. Auch hier wiesen zwar alle Haushalte Ausgaben für Lektüre auf, aber nur 43 Prozent Ausgaben für Rundfunk, 66 Prozent für Kino und 65 Prozent für Sport. Die Umfrage des Allgemeinen Freien Angestelltenbundes Was verbrauchen die Angestellten? aus den Jahren 1928-31 differenziert nach kaufmännischen Angestellten, Technikern und Werkmeistern mit einem Monatseinkommen zwischen 390 RM und 420 RM. Techniker hatten die höchsten Bildungsausgaben, sie gaben rund 30 Prozent mehr Geld für Bildung aus als die anderen Berufssparten. Bei den Ausgaben für Vergnügungen standen die Haushalte der kaufmännischen Angestellten an der Spitze. In allen Haushalten machten die Kosten für den Rundfunk etwa die Hälfte der Vergnügungsausgaben und die für Kinobesuche etwa zwei Zehntel aus. Ein Stadt-Land-Gefalle ist insofern festzustellen, als für Zeitungen und Zeitschriften (Bücher sind nicht ausgewiesen) sowie für ein Radiogerät in Kleinstädten mehr Geld investiert wurde als in Großstädten. Dort waren wiederum die Ausgaben für Kinobesuche leicht höher als auf dem Land. Der Angestelltenbund interpretierte dieses Phänomen als Indiz für die »oft beobachtbare Tatsache, daß das Radio auch für Angestelltenschaft in der Kleinstadt ein gewisser Ersatz für die größeren Möglichkeiten der Befriedigung kultureller Bedürfnisse in der Großstadt ist«46. Wie in der Gruppe der Angestellten hatte auch der größte Anteil der Beamtenhaushalte (54 Prozent) ein Jahreseinkommen von unter 5.100 RM. Die Haushaltsgröße entsprach der der Arbeiter (durchschnittlich 4 - 5 Personen). In einem Beamtenhaushalt mit einem Jahreseinkommen bis 3000 RM wurden für grundlegende Bedürfnisse insgesamt 79 Prozent des Einkommens ausgegeben. Für Bildung verblieben 1,5 Prozent des Jahreseinkommens, das waren 45 RM. Die Ausgaben eines Beamtenhaushalts mit einem Jahreseinkommen von 10.000 RM und mehr lagen für Bildung bei 4,3 Prozent des Jahreseinkommens (430 RM). Nur ein Bruchteil der Beamtenhaushalte konnte auf ein 46 Was verbrauchen die Angestellten?, S. 60.

162

2 Autoren und Publikum

solch hohes Jahreseinkommen zurückgreifen. Sank bei den Arbeitern mit Zunahme des Einkommens der Anteil der Aufwendungen für Lektüre an den Gesamtausgaben und blieb er bei den Angestellten konstant, so wurde er hier minimal gesteigert. Wiederum sieht man das bereits bekannte Bild: In allen Einkommensstufen sind die Ausgaben fur Vergnügungen in der Regel niedriger als die für Lektüre, obgleich nicht in dem Maß wie bei den Arbeitern. Im Durchschnitt aller Beamtenhaushalte entfielen 36,2 Prozent der gesamten Bildungsausgaben auf Bücher, Zeitschriften, Zeitungen und hatten damit im Vergleich den niedrigsten Prozentsatz, bei den Arbeitern erreichten die Ausgaben für Lektüre im Durchschnitt aller Haushaltungen 58 Prozent innerhalb der Bildungsausgaben, bei den Angestellten 45 Prozent. Es lassen sich unter den Vergnügungsausgaben relativ hohe Beträge für den Rundfunk nachweisen, wenn auch nicht in dem Maß wie bei den Angestellten. Auch hier hatten 100 Prozent der Haushalte Ausgaben für Lektüre, aber nur 39 Prozent für Rundfunk, 64 Prozent für Kino und 65 Prozent Sport.

Bücher, Kino, Rundfunk, Sport Die finanziellen Probleme beim Bücherkauf wurden in den niedrigen Einkommensgruppen drastisch deutlich. In den unteren Einkommensstufen haben die vorhandenen Mittel gerade ausgereicht, eine Zeitung im Abonnement zu beziehen, nimmt man für die Jahre 1927/28 einen durchschnittlichen Ladenpreis von 5 - 6 RM pro Buch an. 47 Der Zeitschriftenmarkt hingegen hatte in dieser Zeit enorme Wachstumsraten an Titeln und Auflagen zu verzeichnen. Bestätigt werden die Daten der Erhebung des Statistischen Reichsamtes durch die Studie des Allgemeinen Freien Angestelltenbundes. Dort errechnete man eine monatliche Belastung von ca. 4,40 RM für Zeitungen und Bücher in einem Angestelltenhaushalt mit einem relativ hohen Jahreseinkommen von ca. 4000 RM. 48 ES wurde dort explizit betont, ein Angestellter könne sich kaum neben dem Bezug der Tageszeitung noch ein Buch leisten. Mit Ausgaben von 5,02 RM pro Monat für Bücher und Zeitungen errechnete Otto Suhr ein ähnliches Ergebnis. 49 Auch Kinobesuche waren kein alltägliches Vergnügen. Angestellte investierten ca. 5,50 RM, Arbeiter bei knapp 5 RM und Beamten ca. 4 RM pro Jahr und Haushalt. Die durchschnittlichen Eintrittspreise für Filmvorführungen lagen nach Angaben des Reichsarbeitsblattes 1928 bei 94 Pfgn. 50 Nach Angaben der Zeitung Der Filmkurier von 1932 gingen die Einwohner größerer Städte durchschnittlich zwei- bis dreimal pro Vierteljahr ins Kino. 51 Andere Untersuchungen der Angestelltenhaushalte z.B. die des Afa-Bundes und die von Otto Suhr weisen ebenfalls nur sehr geringe Ausgaben für Kinobesuche nach. Die Afa-Studie gelangt zu dem Ergebnis, dass sich die erwachsenen Mitglieder einer Angestelltenfamilie nur alle zwei Monate einen Kino- oder Theaterbesuch leisten konnten. 52 47 48 49 50

Vgl. Umlauff: Beiträge zur Statistik des deutschen Buchhandels, S. 71. Was verbrauchen die Angestellten?, S. 30. Suhr, Otto: Die Lebenshaltung der Angestellten, S. 24. Bohnstedt: Untersuchung über die Beziehungen zwischen Einkommenshöhe und Lebenshaltung, S. 530. 51 Vgl. Bohnstedt, S. 530. 52 Was verbrauchen die Angestellten?, S. 30; Suhr, Otto: Die Lebenshaltung der Angestellten, S. 22.

2.2 B u c h k ä u f e r und L e s e r s c h a f t

163

Die Ausgaben für Rundfunk waren durchschnittlich zwei- bis dreimal so hoch wie die für Kinobesuche. Bei den Angestelltenhaushalten lagen sie bei ca. 17,50 RM im Jahr, bei den Arbeitern bei gut 6 RM und bei den Beamten bei knapp 13 RM. In einzelnen Haushalten, besonders in denjenigen mit einem überdurchschnittlichen Jahreseinkommen, machte der Rundfunk bereits einen relativ großen Anteil an den Ausgaben aus, z.B. gab die Familie eines Augsburger Reichsbahnschaffiiers (Beamter) mit einem Jahreshaushaltseinkommen von 6.541 RM für Vergnügungen 128 RM aus, davon 98 RM für einen Radioapparat. Ähnliches gilt für den Haushalt eines Duisburger Krankenkassenangestellten, bei einem Einkommen von 6.124 RM wurden 215 RM fur Vergnügungen ausgegeben, davon allein 203 RM für ein Radio. Es ließen sich noch weitere solcher Beispiele anfuhren. 1927/28 waren rund 11 Prozent der Haushalte im gesamten Deutschen Reich am Rundfunk beteiligt. Der überwiegende Teil der buchführenden Haushalte lebte in Großstädten, wo der Rundfunk besonders verbreitet war. Ein Detektorgerät kostete etwa 70 RM, dasselbe im Eigenbau etwa 20 RM, und die monatlichen Gebühren lagen bei 2 RM.53 Die ab 1927/28 schnell ansteigende Verbreitung des Rundfunks und der allmähliche Übergang vom Detektor- und Batterieempfänger zum Netzanschlussgerät dürfte die Höhe der Vergnügungsausgaben in allen Einkommensstufen der Arbeiter-, Angestellten- und Beamtenhaushalte wesentlich beeinflusst haben. Nach Walther Lederer war der Sport ein relativ preiswertes Vergnügen. Lederer errechnete einen durchschnittlichen Sportvereinsbeitrag von 5 RM pro Jahr.54 In fast allen Einkommensstufen und in allen drei Berufssparten wurde mehr Geld in den Sport investiert als in Kinobesuche. In der Einkommensstufe von 3.600-4.300 RM gaben Angestellte durchschnittlich ca. 7,60 RM, Arbeiter und Beamte jeweils ca. 5,60 RM pro Jahr aus. Alle zeitgenössischen Untersuchungen kommen annähernd zu demselben Ergebnis: Die wahrscheinlich größte Konkurrenz für die Lektüre war im privaten Zeitbudget vor allem der Sport. Susanne Suhr hat von 1925 bis 1930 die Arbeits- und Lebensverhältnisse von knapp 5.700 weiblichen Angestellten in Berlin untersucht mit dem Ergebnis, dass 62 Prozent der Befragten in ihrer Freizeit regelmäßig Sport trieben und auch bereit waren, nicht nur einen hohen Anteil ihrer Freizeit, sondern auch »leichter und lieber etwas Geld für Sport zu erübrigen als für Bücher und Theater«.55 Alternativen zum Buchkauf, wie z.B. Abonnements für eine Leihbibliothek oder den Lesezirkel einer Buchhandlung, wurden jedoch von den Frauen häufig genutzt. Im Finanzbudget des Einzelhaushaltes wurde die Medienkonkurrenz zwischen Kino und Lektüre nicht auffällig, allein der Kauf von Rundfunkgeräten schlug in einzelnen Haushalten als einmalige Anschaffung relativ stark zu Buche. Eine Gegenüberstellung der absoluten Ausgaben je Haushaltung innerhalb gleicher Einkommensstufen erbrachte, dass die Angestellten zwar die höchsten Ausgaben für Kino, Rundfunk und Sport hatten, aber auch für Lektüre. Von der allmählich zunehmenden Freizeit haben in erster Linie der Sport und die Sportvereine profitiert.

53 Vgl. Lerg: Rundfunkpolitik in der Weimarer Republik, S. 128 f. 54 Lederer: Was verbrauchen wir?, S. 691. 55 Suhr, Susanne: Die weiblichen Angestellten, S. 46.

164 Beispiele

2 Autoren und Publikum von

Lesergruppen

Für den Großteil der potentiellen Leserschaft existierte kaum die finanzielle Möglichkeit, ihren Etat für den Bücherkauf zu erhöhen. Der am Buch Interessierte musste auf andere Mittel der Lektürebeschaffung zurückgreifen. Das Leseverhalten und die Lektüreinteressen der Bibliotheksnutzer wurden in den Zwanzigerjahren mittels quantitativer Methoden untersucht. Durch Ausleihstatistiken in öffentlichen Bibliotheken und Büchereien sowie durch Leserumfragen wurden Erhebungen nach alters-, geschlechts- und schichtenspezifischen Merkmalen durchgeführt. Problematisch sind die zeitgenössischen Untersuchungen insofern, als ihre Ergebnisse oft ideologisch gefärbt waren. Die Studien zum Leseverhalten der Arbeiterschaft beispielsweise entstanden oft in politischen Kontexten, interesseleitend waren in der Regel Ausgangshypothesen, die von der jeweiligen durchführenden Organisation (oft Gewerkschaften oder Parteien) aufgestellt wurden und das Ergebnis beeinflussten. Diese Überlegungen sind in der folgenden Darstellung der Fallstudien zu berücksichtigen. Besonders Kinder und Jugendliche, Frauen und die Arbeiterschaft waren Zielgruppen der Befragungen. Ein beliebtes Instrument der Leserbefragung waren Preisausschreiben, die von Institutionen oder Zeitungen und Zeitschriften veranstaltet wurden.

Beliebte literarische

Lektürestoffe

1926 startete der Börsenverein ein Preisausschreiben unter der Frage Welche 12 Bücher aus der Zeit der letzten drei Geschlechter gehören in die Hausbücherei jedes gebildeten Deutschen? Die ersten sechs Preise waren mit immerhin 300 Mark dotiert, fast ein durchschnittlicher Monatslohn. 728 Leser beteiligten sich.56 An der Spitze der Autoren des »Bildungsschrifttums« standen der Reihenfolge nach Gottfried Keller, Gustav Freytag, Bismarck, Friedrich Nietzsche, Wilhelm Raabe, Theodor Storm, Friedrich Hebbel, Gerhart Hauptmann, Fritz Reuter, Viktor Scheffel, Thomas Mann, Wilhelm Busch, Eduard Mörike, Adalbert Stifter, Hermann Löns, Conrad Ferdinand Meyer, Wilhelm von Kügelgen und Theodor Fontane. Die Nennungen dieser Autoren entsprechen mit wenigen Ausnahmen der Charakteristik des Lesepublikums durch Alfred Döblin, der beklagte, dass die »breiten Bildungsschichten, soweit sie lesen, [...] in der Mentalität von vor 30 oder 50 Jahren [leben]. Man läßt uns also nicht mehr Geist und Triebkraft der Leute von heute sein.«57 Die Anerkennung der genannten Autoren als Repräsentanten deutscher Literaturgeschichte entsprach jedoch nicht dem KaufVerhalten des Massenpublikums, wie das großstädtische Weihnachtsgeschäft im selben Jahr zeigt. Nach den Angaben von Berliner Sortimentern war der Verkauf vor allem durch das Bestsellergeschäft bestimmt. 58 Von allen Sortimentern wurden als besonders gut verkäuflich genannt: Emil Ludwigs biographische Romane, vor allem sein Bismarck-Roman (von 1911), die Werke der Nobelpreisträgerin Sigrid Undset, Jack Londons Romane, Alfred Neumanns Teufel (1926 neu erschienen), Stefan Zweigs Novellen Verwirrung der Gefiihle (1926 Neuerscheinung), Thomas Manns Unordnung und frühes Leid (ebenfalls

56 Vgl. das Ergebnis des Preisausschreibens. In: Börsenblatt (1927) 100, S. 494 f. 57 Döblin: Der moderne schöngeistige Verlag, S. 375. 58 Vgl. den Abdruck der Umfrage in: Die Literarische Welt 3 (1927), Heft 2, S. 4.

2.2 B u c h k ä u f e r u n d L e s e r s c h a f t

165

1926 neu erschienen) sowie John Galsworthys Romane. Die als ideal apostrophierte Zusammenstellung einer Hausbibliothek beruhte weitgehend auf dem traditionellen Lektürekanon, während sich die realen Leseinteressen auf zeitgenössische Literatur konzentrierten. Masse, Zeitgeist und der Trend zur

Individualisierung

Die nicht mehr schnell erkennbaren und zuzuordnenden schichtenspezifischen Merkmale einzelner Käufergruppen stellten den Sortimentsbuchhandel vor vielfaltige Probleme. Die Suche von buchhändlerischer Seite galt einer neuen Käufergruppe, die den alten Mittelstand ersetzen bzw. die übrig gebliebenen Fragmente erweitem oder ergänzen konnte. Große Erwartungen richteten sich an das aufstrebende Proletariat; sie erfüllten sich aber nicht in dem Maße wie erhofft. Das (partei)politische Engagement eines Teils der Arbeiterschaft erbrachte nicht zwangsläufig eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Lektüreangebot des Buchhandels. Siegfried Kracauer gelangte jedoch zu der Auffassung: »Das Proletariat greift in der Hauptsache zu Büchern abgestempelten Inhalts oder liest nach, was ihm die Bürgerlichen schon vorgelesen haben.« 59 Erich Fromm bestätigt diese Gedanken in seiner sozialpsychologischen Untersuchung Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches. Einerseits konnte er nachweisen, dass ein Teil der befragten Arbeiter und Angestellten Bücher noch als »Symbole literarischer Bildung« 60 im Sinne des durch die Schule normierten und propagierten konventionellen Bildungskanons ansah. Andererseits kristallisierten sich aber stark individuelle Auffassungen heraus, die Bücher in erster Linie als »Mittel zur Wissenserweiterung und zur Vertiefung von Einsichten« 61 begriffen. Letzteres spiegelte sich in Lektürevorlieben fur wissenschaftliche und technische Bücher wider, aber auch für sozialkritische Romane von Autoren wie Zola, Upton Sinclair, Jack London und Maxim Gorki. Individuelle Interessen zeigten, nach Fromm, vor allem die Angestellten, während Arbeiter mehr den konventionellen Vorstellungen in der Lektüreauswahl folgten: »Im Vergleich zu den Arbeitern waren für die Angestellten kulturelle Werte somit bedeutend höher prestigebesetzt, und dies zieht auch ein feineres DifFerenzierungsvermögen und größeres Verständnis fur Literatur nach sich.«62 Andererseits waren unter den jüngeren Befragten grundsätzlich mehr »individuelle Leser« als »konventionelle Leser« zu finden, so dass die Berufszugehörigkeit nicht das allein ausschlaggebende Merkmal der Differenzierung sein konnte. Käuferprofile verschwimmen vor der »Mannigfaltigkeit von Schichten, die sich von der Großbourgeoisie bis herab zum Proletariat erstrecken«, 63 wie es Siegfried Kracauer formulierte. Voraussagen von Lektoren und Verlegern über den Erfolg eines Werkes seien daher nicht »minder problematisch als eine meteorologische Erwägung über das Wetter«. 64

59 60 61 62 63 64

Kracauer: Über Erfolgsbücher und ihr Publikum, S. 240. Fromm: Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches, S. 96. Fromm, S. 97. Fromm, S. 97. Kracauer: Über Erfolgsbücher und ihr Publikum, S. 240. Kracauer, S. 240.

2 Autoren und Publikum

166

Weniger die soziale Schicht des Käuferpublikums als vielmehr das soziale Milieu war ausschlaggebend fur die nach heterogenen Lebensstilen und Bildungsauffassungen zusammengestellte Lektüre. Für den Buchhandel bedeutete diese Entwicklung einen »Wechsel im Charakter der Kundschaft«.65 1922 wurde im Börsenblatt geklagt: »Wir kleinen Sortimenter bedauern außerordentlich, daß sich das Gesicht unserer Kundschaft in den letzten Jahren ganz verändert hat. Wir sehen als Käufer nicht mehr die Oberlehrer und Professoren, die Studenten in unseren Geschäften, wir haben es heute mit jungen Kaufleuten zu tun, mit Technikern, Arbeitern, die hohe Löhne beziehen usw.«66 Zur neuen Kundenzielgruppe gehörten der Arbeiter, der technische und der BüroAngestellte, der Handwerker, aber nicht mehr in dem Maß der akademisch gebildete Bürger wie vor dem Krieg. Diese neue Klientel des Buchhandels musste stärker umworben werden als der traditionelle Buchkäufer, der aus beruflichen Gründen den Weg in die Buchhandlungen fand. Der Facharbeiter, der Techniker, der Chemiker oder der Kaufmann las aus Berufsgründen, aber seine »Veranlassung zum Buchkauf [war] bei weitem keine so intensive«67 wie die des Akademikers. Als allgemein rückläufig wurde die Kauflust der Akademiker und Studenten angesehen, der »Ausfall der Akademikerschaft als Bücherkäufer« wurde als »Teilproblem der Absatzkrise«68 interpretiert. Im Börsenblatt wurde 1926 vermutet, dass Studenten im Unterschied zur Vorkriegszeit ihr Geld in erster Linie fiir den Sport ausgeben, und dies der eigentliche Konkurrenzposten zum Buchbudget sei. Es gelte daher, die Studenten »allmählich wieder an den Bücherkauf zu gewöhnen«.69 Ernst Umlauff zitiert Berechnungen von Gerhard Menz aus dem Jahr 1930, nach denen Studenten durchschnittlich 50-60 Mark im Jahr in Bücher investierten. Dies ist im Vergleich zu den erwähnten Haushaltsanalysen tatsächlich relativ hoch. Menz gab allerdings auch zu bedenken, dass über 11 Prozent der Studenten gar keine Bücher kauften.70 Populärwissenschaftliche

Lektüre

Die Beliebtheit schöngeistiger Werke und die belletristischen Lektürevorlieben des Publikums wurden vor allem in Bibliotheken und - wie gezeigt - auch vom Börsenverein erfragt. Seltener wurde die Verbreitung populärwissenschaftlicher Literatur erforscht. Die Leser der (populär)naturwissenschaftlichen Zeitschrift Kosmos des Stuttgarter Franckh Verlags wurden 1921 nach ihren Bücher-Vorlieben auf naturwissenschaftlichem Gebiet befragt. 620 Leser und Leserinnen, die jeweils 10 bis 20 Titel angegeben hatten, beteiligten sich an der Umfrage.71 Der Zeitschrift waren von Beginn an (1904) 65 66 67 68 69

Börsenblatt (1922) 184, S. 1149. Börsenblatt (1922) 184, S. 1149. Börsenblatt (1922) 184, S. 1149. Meyer-Bachem: Der Ausfall der Akademikerschaft als Bücherkäufer, S. 1025. Hedemann: Der Student und der Bücherkauf, S. 1026, vgl. hierzu auch Kap. 8.2.1 »Der studentische Kaufkraftschwund«. 70 Umlauff: Beiträge zur Statistik des deutschen Buchhandels, S. 163. 71 Vgl. Kellen: Die Verbreitung der naturwissenschaftlichen Literatur, S. 673 f.

167

2.2 B u c h k ä u f e r und L e s e r s c h a f t

die Kosmos-Bändchen fur Abonnenten beigegeben, die großen Anteil an der Popularisierung naturwissenschaftlicher Themen hatten. Als Dauerseller und auf Platz 2 von mehr als einem Drittel der Befragten als Lieblingsbuch benannt war das schon seit einigen Jahrzehnten existierende Brehms Tierleben (1864-1869 erstmals erschienen im Bibliographischen Institut). Der meistgelesene Autor war Wilhelm Bölsche, von dem allein sechs Titel von mindestens zehn Prozent der Leser genannt wurden. Platz 1 der Umfrage nahm seine Abstammung der Menschen ein, die im Jahr 1923 eine Auflage von insgesamt 118.000 Exemplaren erreicht hatte. Bölsche hatte bereits viele Titel in der Kosmos-Reihe des Stuttgarter Franckh Verlags publiziert. Außer Bölsche wurde der Leiter der Berliner Sternwarte Max Wilhelm Meyer wiederholt als populärer Autor genannt, der wie Bölsche seit 1904 in der gerade gegründeten Kosmos-Reihe publizierte: Weltschöpfung und Weltuntergang (schon 1905), Sonne und Sterne (1906), Die Rätsel der Erdpole (1907), Kometen und Meteore (1909), Der Mond und Die Welt der Planeten (1910). Schon von 1904 bis 1910 wurden insgesamt über 500.000 Exemplare dieser Bändchen von Meyer verkauft. »Die Frau als Leserin ist heute zu einem Massenproblem

geworden«72

Die lesende Frau wurde in den Zwanziger- und Dreißigeijahren innerhalb der Buchhandelsbranche wiederholt thematisiert. Insbesondere zum Tag des Buches 1931, der unter dem Thema »Frau und Buch« gefeiert und von über 50 unterschiedlichen Frauengruppen und Organisationen unterstützt wurde, war die Frau als Leserin und als Käuferin in der öffentlichen Diskussion präsent. Im Börsenblatt erschienen Beiträge wie zum Beispiel »Die Frau als Leserin«73 und »Das Verhältnis der Frau zum Buch«74, und im gleichen Jahr publizierte der Direktor der Städtischen Bücherhallen in Leipzig und Gründer des Instituts für Leser- und Schrifttumskunde, Walter Hofmann, seine Studie Die Lektüre der Frau, eine Analyse des weiblichen Nutzerverhaltens in den Leipziger städtischen Bücherhallen. Frauen gerieten nicht nur als Leserinnen ins Blickfeld der Branche, sondern als potenzielle Buchkäuferinnen. Als Abonnentinnen von speziell auf ihre Bedürfhisse zugeschnittenen Zeitschriften, die Blätter fur die Hausfrau und exklusive Journale wie Die Dame umfassten, wurden sie von Verlagen und auch vom Sortiment besonders umworben. Grund war die ansteigende Zahl berufstätiger Frauen mit eigenem Einkommen. Der Anteil der erwerbstätigen Frauen lag im Jahr 1907 bei 33,8 Prozent und war im Jahr 1925 auf 35,8 Prozent angestiegen.75 Ein gutes Drittel aller Angestellten waren Frauen; sie arbeiteten vorwiegend im Einzelhandel und bei Genossenschaften. Gegenüber der Berufszählung von 1907 hatte sich die Zahl der weiblichen Angestellten im Jahr 1925 verdreifacht, während sich die der männlichen lediglich verdoppelt hatte. Dieser Trend setzte sich in den Zwanzigeijahren weiter fort. Die vom Zentralverband der Angestellten 1930 publizierte Umfrage unter weiblichen Angestellten schätzte die Zahl der Frau-

72 73 74 75

Schönfelder: Die Frau als Leserin, S. 115. Schönfelder, S. 115. Börsenblatt (1931)50, S. 181 f. Materialien zur Statistik des Deutschen Reiches 1914-1945.

168

2 Autoren und Publikum

en in Angestelltenberufen auf 1,4 Millionen. 76 Begründet wurde diese Entwicklung in der Studie von Susanne Suhr über die weiblichen Angestellten mit dem Argument, die Rationalisierungsmaßnahmen in der Industrie verdrängten die Frauen aus dem Produktionsprozess und gleichzeitig würde der Angestelltenberuf finanziell wie arbeitstechnisch attraktiver als die Arbeit in der Fabrik. Ein weiteres Argument für die grundsätzliche Zunahme der Berufstätigkeit der Frau lieferte der finanzielle Aspekt: »Die Frauen des verarmten Mittelstandes aus der Inflation wie auch die junge weibliche Generation des Bürgertums, die einen aus Not, die andern aus Neigung zum Beruf getrieben, suchen in den Angestelltenberufen ein Tätigkeitsfeld. Von beiden Seiten mit Zustrom neuer Kräfte gespeist, wächst die weibliche Angestelltenschafit von einer kleineren Truppe zu einer typischen Berufsschicht der Frauen heran.« 77 Es handelte sich in erster Linie um junge, meist unverheiratete Frauen, die der Berufstätigkeit nachgingen: etwa 80 Prozent der weiblichen Angestellten waren unter 30 Jahren alt. Ganz deutlich kristallisierte sich auch das Bildungsprofil dieser jungen weiblichen Angestellten heraus: 84 Prozent hatten die Volksschule abgeschlossen, aber nur 11 Prozent die Mittelschule und 5 Prozent das Lyzeum. In der Generation der über 50jährigen weiblichen Angestellten hatten nur 42 Prozent einen Volksschulabschluss, aber 28 Prozent einen Mittelschulabschluss und 30 Prozent das Abitur. Die Studie des Zentralverbandes der Angestellten sah im sinkenden Schulbildungsstand eine »Proletarisierung der Angestelltenschaft« und den »Untergang des alten >Mittelstandes h " K "

MODELL

Auskunft erteilt:

Verlag Scherl / Berlin SW68 Abb. 5: Inserat des Scherl Verlags in der Zeitschrift Der Kinematograph (Nr. 1050, 1927) mit Romanangeboten zur Verfilmung

Vor allem der Ullstein Verlag konnte von den Verfilmungen seiner Bücher profitieren. 1921 wurde in der Berliner Illustrirten Zeitung der Roman Dr. Mabuse, der Spieler von Norbert Jacques abgedruckt, der Roman erschien anschließend als Buch, und schon 1922 hatte der Stummfilm von Fritz Lang Premiere. Gerhart Hauptmanns Roman Phantom erschien 1922 in der Berliner Illustrirten Zeitung, 1923 dann als Ullstein Buch und bereits ein Jahr zuvor, im Jahr 1922, war der Stummfilm von Friedrich Wilhelm Murnau gedreht worden. Murnau verfilmte 1921 auch Schloß Vogelöd nach dem gleichnamigen bei Ullstein erschienenen Roman von Rudolf Stratz. Im Westen nichts Neues von Erich Maria Remarque erschien 1928/29 in der Vossischen Zeitung, es folgte unmittelbar die Buchausgabe (über 1 Million verkaufte Exemplare innerhalb eines Jahres), und 1929/30 kam Remarques Bestseller als Tonfilm in die Kinos. 1929 erschien der Roman Menschen im Hotel von Vicki Baum in der Berliner Illustrirten Zeitung, es folgte das Ullstein Buch für 3 Mark, und 1932 wurde der Roman mit Greta Garbo verfilmt. Als »Gelbes Ullsteinbuch« wurde auch Heinrich Manns schon 1905 erstmals erschienener 157 Vgl. Wehrwolf und Biene Maja. Hrsg. v. Marianne Weil. Berlin 1986, S. 289-291. 158 Vgl. Richards: The German Bestseller in the 20th Century, S. 201.

2.2 B u c h k ä u f e r und L e s e r s c h a f t

189

Roman Professor Unrat wiederaufgelegt, 1930 kam Der blaue Engel mit Emil Jannings und Marlene Dietrich in die Kinos. Der Film wurde zum Welterfolg. Die Liste der Ullstein-Bücher, die auch zum Filmerfolg wurden, ließe sich noch erheblich verlängern. In den »Winken für den Kino-Buchhandel« der Zeitung Der Kinematograph wurden die Ullstein-Bücher besonders hervorgehoben.159 Das Buch im Rundfunk »An drei Millionen Apparaten hören drei Millionen Familien, d.h. zirka neun Millionen Menschen Radio. Die Öffentlichkeit der Kunst hat einen nicht mehr übersteigbaren Grad erreicht. Die Kunst ist sozialisiert. [...] was ist die Öffentlichkeit des Buchs, ja selbst der Tagespresse, gegen die Öffentlichkeit des Rundfunks!«, schrieb Arno Schirokauer im August 1929 in der Literarischen Welt. Die Anzahl der Hörer nahm seit Einfuhrung des Rundfunks 1923 schnell zu. 1924 knapp 10.000, 1925 fast 800.000, 1926 über 1,2 Millionen und 1929 schon 3 Millionen gemeldete Teilnehmer.160 1932 kamen auf je 1.000 Einwohner 66 Rundfunkgeräte.161 Hans Bredow, 1926-1933 Rundfunkkommissar des Reichspostministers, wollte das neue Medium als »Kulturfaktor« verstanden wissen, mit dem Wissen und Bildung in allen sozialen Schichten gleichermaßen rezipierbar werden sollte. Bildungsangebote machten den »Kernbereich des Programms« aus. Das waren neben Musikdarbietungen vor allem literarische Programme in Form von Lesungen »kanonisierter Lyrik, Prosa und Dramatik«162, dann auch Hörspiele. 1925 wurden 450 Sendungen »kanonisierter Literaturdenkmale« ausgestrahlt und 1926 allein 14 f"a«s/-Sendungen.163 Buchempfehlungen und literaturkritische Hinweise wurden mehrmals wöchentlich in der »Stunde mit Büchern« gesendet. Wie auch der Film und das Kino wurde die Rolle des Rundfunks von Verlegern, Autoren und Buchhändlern zunächst kontrovers diskutiert, aber weniger scharf und polemisch kritisiert als der Film. Schon bald wurden fuhrende Schriftsteller wie Bert Brecht, Max Brod, Alfred Döblin, Hermann Kesten, Erich Mühsam oder Arno Schirokauer für den Rundfunk tätig.164 Wechselwirkungen zwischen Literatur, Buch und Radio bestanden nicht nur in der Funkbearbeitung bereits erschienener literarischer Texte oder im sich schnell etablierenden Hörspiel als neuer Literaturgattung, sondern das literarische Leben und seine Akteure standen ebenfalls im Mittelpunkt einzelner Sendungen. An diesem Prozess maßgeblich beteiligt war beispielsweise Hermann Kasack, der als Schriftsteller und Verlagsmitarbeiter prädestiniert war, solche Themen aufzugreifen und den Hörern Einblicke in die »Werkstatt eines Verlages« und den »Büchermarkt« (beides im Dezember 1927 im Berliner Rundfunk) zu ermöglichen. Anfangs hat er vor allem Lyriksendungen konzipiert, doch Kasack weitete das Angebot später auf andere Literaturgattungen und 159 160 161 162 163 164

Brauner: Der Buchroman als Ergänzung des Films, o. S. Vgl. diese Angaben bei Schütz: Medien, S. 386. Vgl. die Angaben bei Becher: Geschichte des modernen Lebensstils, S. 178. Schütz: Medien, S. 386. Alle Angaben nach Schütz, S. 384. Ein Verzeichnis aller Autoren, die während der Jahre 1925 bis 1930 in der Berliner »FunkStunde« eigene Prosa oder Lyrik gelesen haben, befindet sich in: Schiller/Kutsch: Literatur im Rundfunkprogramm, S. 107-112.

190

2 A u t o r e n und P u b l i k u m

Themen aus, porträtierte Schriftsteller aus Geschichte und Gegenwart und brachte Rezensionen. Die Konzeption seiner Sendungen in den Jahren 1925 bis zur Erteilung des Sendeverbots durch die Nationalsozialisten 1933 umfasste die Vorstellung zeitgenössischer Schriftsteller in der »Stunde der Lebenden« (1925-27) und den Reihen »Köpfe der Dichter-Akademie« (1927-28) sowie »Jüngste Dichter« (1928), des weiteren Lesungen, Vorträge zur Literaturgeschichte, u.a. über »Deutsche Frauendichtung« seit dem Mittelalter (mehrere Sendungen 1926), Interviews und »Studiogespräche« mit Schriftstellern, Lektoren (z.B. mit Oskar Loerke über »Ungedruckte Literatur« 1930) und Verlegern (z.B. mit Gustav Kiepenheuer anlässlich des Tags des Buches 1929 über die Bücherproduktion) sowie eigene Hörspiele.165 Verlage partizipierten an der Verbreitung und dem Erfolg des Rundfunks durch die Publikationen von Rundfunk- bzw. Programmzeitschriften wie Der Deutsche Rundfunk (Berlin 1923-1941), Die Sendung. Rundfunkwoche (Berlin 1924-1941), Horchfunk (Dortmund 1926-1933) oder Funk (Berlin 1924-1944) und durch die Herausgabe von Buchreihen und Monographien bis hin zu Radio-Bastelbüchern. Der Reclam Verlag brachte 1926 eine »Rundfunk-Bibliothek« von Opern und Singspielen in 16 Bänden heraus, die sich aus den Operntextbüchern des Verlags entwickelt hatte und nun Radioübertragungen von Opern erläuterte.166 Die Reichs-Rundfunk-Gesellschaft gab zusammen mit der Deutschen Bücherei in Leipzig ab 1930 eine monatlich erscheinende Bibliographie Deutsches Rundfunkschrifttum heraus, die u.a. dazu dienen sollte, dem Buchhandel ein Verzeichnis an die Hand zu geben, um zu verhindern, dass die Rundfunkliteratur Handelsobjekt der Radiohändler werde. Allein für den Berichtszeitraum 1923 bis 1930 wurden retrospektiv knapp 9.000 Titel Rundfunkliteratur erfasst.167 Büchertage und

Buchwochen

Bereits Anfang der Zwanzigerjahre wurden Bestrebungen eingeleitet, durch regionale und lokale Büchertage und Buchwochen die deutsche Bevölkerung zum Buch, zum Lesen und schließlich zum Kauf hinzuführen. Dieses Ziel sollte durch die verstärkte Propagierung und Würdigung des Buches als Bildungsinstrument und als Vermittler geistiger Werte, die aus dem humanistischen Gedankengut stammten, erreicht werden. Integrationsfunktion wurde dabei Großveranstaltungen wie dem seit 1929 durchgeführten Tag des Buches zugeschrieben. Als Vorläufer dieser Initiative können in gradueller Abstufung die seit 1922 veranstalteten Buchwochen und Büchertage angesehen werden. Während der Buchwochen wurden in kleineren, mittleren und großen Städten kulturelle Veranstaltungen angeboten, bei denen die örtlichen Buchhandlungen und Bibliotheken, literarische und musikalische Vereine und Verbände, auch Theater, Schulen und Volkshochschulen eine Programm-Mischung von Dichterlesungen, wissenschaftlichen und künstlerischen Vorträgen sowie Ausstellungen des jeweils örtlichen Buch-, Kunst- und Musikalienhandels unter Beteiligung von Wissenschaftlern, Künstlern, Schriftstellern und Vertretern aus Handel und Industrie republikweit initiierten. 165 Vgl. das Verzeichnis seiner Sendungen in: Fromhold: Hermann Kasack und der Rundfunk der Weimarer Republik, S. 7 3 - 8 3 . 166 Vgl. Bode: Reclam. Daten, Bilder und Dokumente 1828-2003, S. 92. 167 Vgl. Fleischhack: Der Rundfunk im Schrifttum, S. 763 f.

191

2.2 B u c h k ä u f e r und L e s e r s c h a f t

Einige Beispiele seien genannt: Bereits seit 1922 wurden in Köln die Rheinischen Literatur- und Buchwochen veranstaltet. Im ix Herbst 1922 wurden in den Räumen des Kölner Kunstvereins ausgewählte Bestände der Kölner Stadtbibliothek ausgestellt, die t>«n ein Panorama der Werke rheinischer AutoS t i j θ φ ηαbe l ren vom »Anfang der Druckkunst bis in die neueste Zeit«168 darboten. Darüber hinaus präsentierte eine von Kölner Verlegern und Buchhändlern bestückte Ausstellung die Vielfalt rheinischer Literatur. Flankiert wurden die Ausstellungen von Lesungen rheinischer Dichter wie Wilhelm Schaefer, Herbert Eulenberg und Josef Ponten. Der Erfolg beim Publikum führte zur regelmäßigen Einrichtung mit jährlicher Wiederholung der Rheinischen Literatur- und Buchwochen, die 1924 unter das Motto »Die t > ( r U g 6(9 ö i r f e n e c r t i t t e ö t r fceutfcbeti rheinische Landschaft als Motiv in LiteI > u e b b 4 t i M e r in t e i p j i g ratur und Musik« gestellt wurden. Konzerte, Ausstellungen, Lesungen und Vorträge lockten mehrere Tausend Besucher an. Abb. 6: Publikation des Börsenvereins mit HandGanz ähnlich verliefen die Buchwo- reichungen zur Durchfiihrung von Buchwochen chen an anderen Orten, zum Beispiel in im Sortimentsbuchhandel München, wo der Münchener BuchhändlerVerein unter Mitwirkung der Vereinigung Münchener Verleger und des Verbandes bayerischer Autoren literarische Abende und eine Ausstellung von Büchern aus Münchener Verlagen organisierte. Emil Preetorius und Thomas Mann sprachen 1923 beispielsweise über »Kunst im Buch«, Fritz Strich und Kurt Stieler über »Klassische Literatur«. Das Programm füllte »siebenmal den ziemlich umfangreichen Saal des Hotels Bayerischer Hof«.169 Eine umfassende Pressekampagne in Münchener Tageszeitungen trug werbewirksam zum Erfolg bei. Die Münchener Veranstaltung hatte Vorbildfunktion für andere Städte wie zum Beispiel Augsburg. In Dresden fand 1928 unter Federführung des Vereins Dresdner Buchhändler mit der Vereinigung Dresdner Schriftsteller eine Buchwoche statt, die sich nicht auf den städtischen Buchhandel beschränkte, sondern auf ganz Sachsen ausgedehnt wurde. In Hamburg, Lübeck, Elberfeld, Görlitz, Merseburg und in zahlreichen anderen Städten wurden diese Werbewochen durchgeführt, deren Ziel es nicht war, das »gute« literarische Buch an den Leser zu bringen, sondern die Themenvielfalt der Buchwochen reichte von der »Garten- und Blumenpflege« über »Das billige Buch« bis hin zu »Sport und Spiel«. Auf eigens organisierten Kinderbüchertagen, z.B. in Löwenberg in Schlesien, wurden Märchenauffuhrungen und Vorlesestunden veranstaltet.

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168 Vgl. Bericht zur 3. Rheinischen Literatur- und Buchwoche. In: Börsenblatt (1924) 65, S. 3449. 169 Vgl. Schnabel: Büchertage und Buchwochen, S. 13.

192

2 A u t o r e n und P u b l i k u m

Der Börsenverein stellte für die Durchfuhrung der Büchertage und Buchwochen Materialien wie Plakate, Postkarten, Dias, Lesezeichen und Werbeschriften zur Verfügung. Angeboten wurden außerdem von der Werbestelle des Börsenvereins Artikel von prominenten Autoren wie Thomas Mann, Andersen Nexö, Walter von Molo u.a., die für einen Abdmck in der lokalen Presse kostenlos bezogen werden konnten. Die

Baedekerwoche

Als typisches Beispiel buchhändlerischen Einzelengagements kann die im Oktober 1927 durchgeführte »Baedekerwoche« in Essen angeführt werden, die anlässlich der Einweihung neuer Geschäftsräume der Buchhandlung G.D. Baedeker170 stattfand. Alfred Baedeker hatte zum einführenden Festakt und zur daran anschließenden Buchwoche Schriftsteller und Wissenschaftler eingeladen, die aus ihren Werken lasen oder Vorträge über kulturhistorische Themen hielten. Einerseits dienten die Veranstaltungen der Werbung für das eigene Sortiment, andererseits sollte das Ziel »eine Kundgebung für das deutsche Buch als den Träger geistiger Werte inmitten der Hochburg riesenhafter Produktion wirtschaftlicher Güter und Stoffe«171 sein: »geistige Kultur und Wirtschaft, das ist der tiefere Sinn der Veranstaltungen in Essen, sollen zusammengeführt werden, um den fortschreitenden Amerikanismus unseres Volkes in etwa aufzuhalten.« Die gut besuchten Veranstaltungen in Essen machten die Buchwoche zum gesellschaftlichen Großereignis. Die Baedekerwoche wurde von Hanns Martin Elster als vorbildlich für die gesamte Branche eingeschätzt.172 Neben diesen ambitionierten Buchwochen und Büchertagen fanden sogenannte »billige Bücherwochen« aus rein kommerziellen Erwägungen statt, zum Beispiel in Frankfurt am Main. 1926 wurde am 30. Januar die »billige Buchwoche« gestartet. Der Zeitpunkt war glücklich gewählt, denn für die Arbeiter und Angestellten war am Monatsende Zahltag. Anzeigen und Meldungen in Tageszeitungen sowie Sonderdekorationen in den Schaufenstern der Buchhandlungen ließen die Billigbuchwoche zum »allgemeinen Stadtgespräch« werden.173 Der Großverkauf von herabgesetzten, aber gut erhaltenen Büchern erbrachte für den örtlichen Buchhandel ein befriedigendes Ergebnis, was auf die Gemeinschaftswerbung zurückgeführt wurde.

Literatur Statistische Erhebungen und Befragungen DEUTSCHER BAUGEWERBSBUND: Die Lebenshaltung der Bauarbeiter nach (896) Wirtschaftsrechnungen aus dem Jahre 1929. Berlin 1931. DEUTSCHER BEAMTENBUND: Beamtenhaushalt, Lebenshaltungskosten und Kleinhandelspreise. Berlin 1930.

170 Vgl. Wisotzky: »...dem Buch eine Heimstätte zu geben«. Buchhandlung und Verlag in den 20er und 30er Jahren, S. 167-184. 171 Essener Anzeiger vom 13.10.1927, zit. nach Wisotzky, S. 173. 172 Vgl. Elster: Das Beispiel und die Bedeutung einer Buchwoche, S. 1324. 173 Vgl. Fellhauer: Billige Bücherwochen in Frankfurt a.M., S. 576.

2.2 B u c h k ä u f e r und Leserschaft

193

DINSE, Robert: Das Freizeitleben der Großstadtjugend. 5000 Jungen und Mädchen berichten. Zusammengestellt und bearbeitet in Verbindung mit dem Deutschen Archiv für Jugendwohlfahrt. Berlin 1932 (Schriftenreihe des Deutschen Archivs für Jugendwohlfahrt. Heft 10). Der Haushalt des Kaufmannsgehilfen. Eine Erhebung und Untersuchung des Deutschnationalen Handlungsgehilfenverbandes. Hamburg 1927. HOMANN, Hans Joachim: Die meistgelesenen Bücher. Nach einer Anfrage an Volksbüchereien. In: Das literarische Echo. Halbmonatsschrift für Literaturfreunde 25 (1922), Heft 3, Sp. 127-135. »Kannst Du ein Buch empfehlen?« Zum Schülerpreisausschreiben des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler. Leipzig 1928. KELLEN, Tony: Die Verbreitung der naturwissenschaftlichen Literatur. Betrachtungen aus Anlaß eines Preisausschreibens. In: Börsenblatt (1921) 108, S. 673 f. KLIEMANN, Horst: Wer kauft Karl May? In: Börsenblatt (1931) 150, S. 630 f. KORTH, Konrad: Welche fünf Bücher habe ich am liebsten? Das Ergebnis einer Rundfrage ... In: Börsenblatt (1929) 128, S. 607 f. Die Lebenshaltung von 2000 Arbeiter-, Angestellten- und Beamtenhaushaltungen. Erhebungen von Wirtschaftsrechnungen im Deutschen Reich vom Jahre 1927/28. Berlin 1932 (Einzelschriften zur Statistik des Deutschen Reiches. 22). Die Lebenshaltung des deutschen Reichsbahnpersonals. Ergebnisse einer Erhebung von (111) Wirtschaftsrechnungen unter den Arbeiter und Beamten der Deutschen Reichs-BahnGesellschaft. Durchgeführt vom Einheitsverband der Eisenbahner Deutschlands. Berlin 1930. Die Lebenshaltung des Landarbeiters. Wirtschaftsrechnungen von 130 Landarbeiterfamilien. Eine Erhebung des Reichsverbandes ländlicher Arbeitnehmer. Berlin 1930. LEDERER, Walter: Was verbrauchen wir? Ausgabenstatistik für die Jahre 1924 bis 1928. In: Die Arbeit 8 (1931), S. 696. SIEMERING, Hertha, Erna Barschak und Willy Gensch: Was liest unsere Jugend? Ergebnisse von Feststellungen an Schulen aller Gattungen und Erziehungsanstalten sowie den Jugendorganisationen und Jugendlichen. (Veröffentlichungen des Preußischen Ministeriums für Volkswohlfahrt aus dem Gebiete der Jugendpflege, der Jugendbewegung und der Leibesübungen. 12). Berlin 1930. SOMMERFELD, Martin: Weshalb werden Bücher gekauft? In: Berliner Tageblatt vom 2.9.1926. SUHR, Otto: Die Lebenshaltung der Angestellten. Untersuchungen auf Grund statistischer Erhebungen des Allgemeinen Freien Angestelltenbundes. Berlin 1928 (AFA-Schriften-Sammlung). SUHR, Susanne: Die weiblichen Angestellten. Arbeits- und Lebensverhältnisse. Eine Umfrage des Zentralverbandes der Angestellten. Berlin 1930. Was verbrauchen die Angestellten? Ergebnisse der dreijährigen Haushaltungsstatistik des Allgemeinen Freien Angestelltenbundes. Berlin 1931 (Wirtschaftspolitische Schriften des Allgemeinen Freien Angestelltenbundes. 3). Was wir vom Buch erwarten! Antworten der 15- bis 20jährigen Mädchen. Am Tag des Buches 1931. Vorbericht über das Ergebnis eines Preisausschreibens, erlassen vom Börsenverein der Deutschen Buchhändler zu Leipzig und vom Reichsverband des Deutschen Schrifttums. Leipzig: Börsenverein der Deutschen Buchhändler zu Leipzig 1931. WEICKERT, Ilse: Die Lese-Interessen der werktätigen Mädchen zwischen 14 und 18 Jahren. Eine leserkundliche Monographie. Bonn 1933 (Schriften für Volksbibliothekare. 2). Welche Bücher haben die Volksschulkinder in Aschersleben zu Weihnachten geschenkt bekommen? In: Börsenblatt (1929) 75, S. 353 f.

194

2 Autoren und Publikum

Zeitgenössische Fachliteratur und weitere Quellen ADAMS, Margarete: Ausnutzung der Freizeit des Arbeiters. Phil. Diss. Köln 1929. BOHNSTEDT, Werner: Untersuchung über die Beziehungen zwischen Einkommenshöhe und Lebenshaltung. In: Reichsarbeitsblatt 12 (1932), Teil II, S. 530. BRAUNE, Rudolf: Was sie lesen: Drei Stenotypistinnen. In: Frankfurter Zeitung vom 2 1 . 4 . 1 9 2 9 , Zit. nach Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1 9 1 8 - 1 9 3 3 , S. 3 5 3 . BRAUNER, Ludwig: Eine Deutsche Kino-Buchhandels-Gesellschaft. In: Der Kinematograph (1920) 682, o.S. BRAUNER, Ludwig: Der Kinobuchhandel bricht sich Bahn. In: Der Kinematograph (1920) 707, o.S. BRAUNER, Ludwig: Welche Bücher gehören ins Kino? In: Der Kinematograph (1920) 701/02, o.S. BRAUNER, Ludwig: Erfahrungen mit dem Kinobuchhandel. In: Der Kinematograph ( 1 9 2 0 ) 7 0 0 , o.S. BRAUNER, Ludwig: Kinobesuch und Publikum. In: Der Kinematograph ( 1 9 2 0 ) 6 9 9 , o . S . BRAUNER, Ludwig: Der Buchroman als Ergänzung des Films. In: Der Kinematograph (1921) 726, o.S. BRUCHHAUS, Hanns Walter: Der geistige Tiefstand. In: Börsenblatt (1924) 239, S. 13592. Buch und Gesellschaft. Tagung des Berliner Ausschusses zur Bekämpfung der Schmutz- und Schundliteratur und des Unwesens im Kino am 14. und 15. Oktober 1927. Berlin 1927. Das deutsche Volk an seine Dichter. In: Die neue Bücherschau 6 (1928), Schrift I, zit. nach: Weimarer Republik. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1918 - 1933, S. 310. DÖBLIN, Alfred: Der moderne schöngeistige Verlag. Rede, gehalten am 22. März 1929 zum »Tag des Buches« in der Singakademie zu Berlin. In: Börsenblatt (1929) 79, S. 374 f. ELSTER, Hanns Martin: Das Beispiel und die Bedeutung einer Bücherwoche. In: Börsenblatt (1927) 262, S. 1324. FELLHAUER, Ludwig: Billige Bücherwochen in Frankfurt a. M . In: Börsenblatt ( 1 9 2 6 ) 1 0 2 , S. 5 7 6 . Film-Roman-Leihbibliotheken. In: Der Kinematograph (1921) 734, o.S. FISCHER, Samuel: Der Verleger hat das Wort. In: Börsenblatt ( 1 9 2 7 ) 2 7 9 , S. 1 4 0 2 . FLEISCHHACK, Kurt: Der Rundfunk im Schrifttum. In: Börsenblatt (1930) 185, S. 763 f. GEIGER, Theodor: Die soziale Schichtung des deutschen Volkes. Soziographischer Versuch auf statistischer Grundlage. Stuttgart: Enke 1932. HEDEMANN, J . W . : Der Student und der Bücherkauf. In: Börsenblatt ( 1 9 2 6 ) 192, S. 1026. HEIMERAN, Ernst: Das gesprochene Buch. Eine Umfrage der Süddeutschen Rundfunkzeitung. In: Börsenblatt (1928) 168, S. 918. HOFMANN, Walter: Die Lektüre der Frau: ein Beitrag zur Leserkunde und zur Leserfuhrung. Leipzig: Quelle & Meyer 1931. KLIEMANN, HORST: Wie und wo erfasse ich Käuferschichten? Einteilung der Käufermassen in Interessenschichten als Grundlage des Verkaufs- und Produktionsplanes. Wien: Barth 1928. KOSSACK, Karl L.: Der Verleger hat das Wort. In: Börsenblatt (1927) 279, S. 1402. KRACAUER, Siegfried: Die Angestellten [ 1 9 2 9 ] . Frankfurt am Main: Suhrkamp 1 9 7 1 . LEVY, Hermann: Volkscharakter und Wirtschaft. Ein wirtschaftsphilosophisches Essay. Leipzig, Berlin: Teubner 1926. MARTENS, Kurt: Zur Frage der Buchwochen. In: Börsenblatt ( 1 9 2 8 ) 12, S . 5 0 f. MENZ, Gerhard: Kulturwirtschaft. Leipzig: Wolfgang Richard Lindner 1933. MEYER-BACHEM, Erich: Der Ausfall der Akademikerschaft als Bücherkäufer. Ein Teilproblem der Absatzkrise. In: Börsenblatt (1926) 192, S. 1025. POLLIN, Wilhelm: Lichtbilder und Filme vom Buch. Mosaiksteine im Bau der Buchwerbung. In: Buchhändlergilde-Blatt (1929) 9, S. 141 -143. SCHNABEL, Fritz: Büchertage und Buchwochen. Leipzig: Verlag des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler 1925. SCHÖNFELDER, Gerhard: Spezialisierung und Käuferkunde. In: Börsenblatt (1927) 98, S. 482 -484.

2.2 B u c h k ä u f e r und

Leserschaft

195

SPEIER, Hans: Die Angestellten vor dem Nationalsozialismus. Zur deutschen Sozialstruktur 1 9 1 8 1933. [1933] Frankfurt/Main: Fischer 1989. THIELEMANN, Walter: Der Buchabsatz im Kinotheater. In: Börsenblatt (1920) 181, S. 967 f. THIER, Erich: Gestaltwandel des Arbeiters im Spiegel seiner Lektüre. Ein Beitrag zu Volkskunde und Leserführung. Leipzig 1939 (Beiträge zur Volksbüchereikunde. 1). UMLAUFF, Ernst: Beiträge zur Statistik des deutschen Buchhandels. Leipzig: Verlag des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler 1934. WEIGERT, Josef: Vom Lesen und von den Büchern auf dem Lande. In: Börsenblatt (1922) 31, S. 1 5 3 - 1 5 5 ; 34, S. 1 7 8 - 1 8 0 .

WOLFF, Kurt: Der Verleger hat das Wort. In: Börsenblatt (1927) 271, S. 1366.

Forschungsliteratur BACHLEITNER, Norbert: Kleine Geschichte des Feuilletonromans. Tübingen: Niemeyer 1999. BARNDT, Kerstin: »Mittlerinnen zwischen Buch und Volk«? Die Leserin im literarischen Feld der Weimarer Republik. In: Jahrbuch zur Literatur der Weimarer Republik 5 (1999/2000), S. 7 7 - 1 1 3 . BARNDT, Kerstin: Sentiment und Sachlichkeit. Schreib- und Leseweisen der Neuen Frau am Ende der Weimarer Republik. Köln u.a.: Böhlau 2003. BECHER, Ursula A. J.: Geschichte des modernen Lebensstils. Essen - Wohnen - Freizeit - Reisen. München: C.H. Beck 1990. BINKOWSKI, Johannes/ Schottenloher, Karl: Flugblatt und Zeitung. Band II: Von 1848 bis zur Gegenwart. München: Klinkhardt & Biermann 1985. FROMHOLD, Martina: Hermann Kasack und der Rundfunk der Weimarer Republik. Ein Beitrag zur Geschichte des Wechselverhältnisses zwischen Literatur und Rundfunk. Aachen: Alano 1990. GUTTSMAN, Wilhelm Leo: Workers' culture in Weimar Germany between tradition and commitment. New York, Oxford, Munich: Berg 1990. Hätte ich das Kino! Die Schriftsteller und der Stummfilm. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum Marbach a.N. 1976. KOCKA, Jürgen: Die Problematik der deutschen Angestellten 1914-1933. In: Industrielles System und politische Entwicklung in der Weimarer Republik. Band 2. Hrsg. von Hans Mommsen u.a. Kronberg/Ts.: Athenäum 1977. LANGEWIESCHE, Dieter: Freizeit und »Massenbildung«. Zur Ideologie und Praxis der Volksbildung in der Weimarer Republik. In: Sozialgeschichte der Freizeit. Untersuchungen zum Wandel der Alltagskultur in Deutschland. Hrsg. von Gerhard Hack. 2. Aufl. Wuppertal: Peter Hammer 1982, S. 2 2 3 - 2 4 7 . LANGEWIESCHE, Dieter: »Volksbildung« und »Leserlenkung« in Deutschland von der wilhelminischen Ära bis zur nationalsozialistischen Diktatur. In: Internationales Archiv fur die Sozialgeschichte der deutschen Literatur 14 (1989), Heft 1, S. 108-125. Literatur und Rundfunk 1923-1933. Hrsg. von Gerhard Hay. Hildesheim: Gerstenberg 1975. MOMMSEN, Hans: Die Auflösung des Bürgertums seit dem späten 19.Jahrhundert. In: Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert. Hrsg. von Jürgen Kocka. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1987, S. 288-315. NIELSEN, Stefan: Sport und Großstadt 1870-1930. Komparative Studien zur Entstehung bürgerlicher Freizeitkultur. Frankfurt am Main: Peter Lang 2002 (Europäische Hochschulschriften III: Geschichte und ihre Hilfswissenschaften. 935). PETZINA, Dietmar/Abelshauser, Wemer/Anselm Faust: Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch Band III: Materialien zur Statistik des Deutschen Reiches 1914-1945. München: C.H. Beck 1978. Radio-Kultur in der Weimarer Republik. Eine Dokumentation. Hrsg. von Irmela Schneider. Tübingen: Gunter Narr 1984 (Deutsche TextBibliothek. 2).

196

2 Autoren und Publikum

REUVENI, Gideon: Reading Germany. Literature and Consumer Culture in Germany before 1933. New York, Oxford: Berghahn Books 2006. SCHILLER, Sabine/Kutsch, Arnulf: Literatur im Rundfunkprogramm. In: Rundfunk und Politik 1923-1973. Hrsg. von Winfried B. Lerg und Rolf Steininger. Berlin: Volker Spiess 1975, S. 87-118. SCHNEIDER, Ute: Lektürebudgets in Privathaushalten der zwanziger Jahre. In: Gutenberg-Jahrbuch 1996, S. 341-351. SCHNEIDER, Ute: Die »Romanabteilung« des Ullstein Verlags in den 20er und 30er Jahren. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 25 (2000), Heft 2, S. 93 -114. SCHNEIDER, Ute: Der Buchverlag in der perfektionierten Vermarktungskette. In: 125 Jahre Ullstein. Presse- und Verlagsgeschichte im Zeichen der Eule. Hamburg: Axel Springer 2002, S. 40-53. SCHÜTZ, Erhard: Medien. In: Handbuch der deutschen Bildimgsgeschichte. Bd. V: 1918-1945. Die Weimarer Republik und die nationalsozialistische Diktatur. Hrsg. von Dieter Langewiesche und Heinz-Elmar Tenorth. München. C.H.Beck 1989, S. 371-406. SCHWEINITZ, Jörg: Prolog vor dem Film: Nachdenken über ein neues Medium 1909-1914. Leipzig. Reclam 1992. Weimarer Republik: Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1918-1933. Hrsg. von Anton Kaes. Stuttgart: Metzler 1983. WISOTZKY, Klaus: »...dem Buch eine Heimstätte zu geben«. Buchhandlung und Verlag in den 20er und 30er Jahren. In: Buchkultur inmitten der Industrie. 225 Jahre G.D. Baedeker in Essen: Hrsg. von Dorothea Bessen und Klaus Wisotzky. Essen. Klartext 2000 (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Essen. 3), S. 167-184 . ZERGES, Kristina: Sozialdemokratische Presse und Literatur. Empirische Untersuchung zur Literaturvermittlung in der sozialdemokratischen Presse 1876-1933. Stuttgart: Metzler 1982. ZYMEK, Bernd: Schulen, Hochschulen, Lehrer. In: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. V: 1918-1945. Die Weimarer Republik und die nationalsozialistische Diktatur. Hrsg. von Dieter Langewiesche und Heinz-Elmar Tenorth. München: C.H.Beck 1989, S. 155-208.

197

Peter Vodosek 2.3

Bibliotheken als Institutionen der Literaturvermittlung

Obwohl die wenigen Jahre der Weimarer Republik einen überschaubaren Zeitabschnitt umfassen, hat ihr Bibliothekswesen bisher noch keine umfassende Darstellung erfahren. Das ist um so auffälliger, als sich trotz aller politischen und finanziellen Probleme zwar keine spektakulären, aber doch bemerkenswerte Entwicklungen ausmachen lassen.1 Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs bedeutete die Peripetie des Kaiserreiches und damit seiner Bibliotheken. Mit dem Ende des Krieges hatte das deutsche Bibliothekswesen sein erstes Cannae im 20. Jahrhundert erlebt. Der Sturz war tief, auch wenn es im Unterschied zum Zweiten Weltkrieg vor größeren Zerstörungen bewahrt geblieben ist. Es waren bemerkenswerter Weise die Vorgänge um die Vernichtung einer Bibliothek, der Universitätsbibliothek im belgischen Löwen, im August des ersten Kriegsjahres, die das überaus positive Bild der deutschen Wissenschaft im Ausland2 trübten: die Zerstörung war ein Schock, die nachfolgende Reaktion deutscher Wissenschaftler bewirkte international Verstörung. In einem Manifest, das von 93 Professoren, unter denen auch Wilhelm Conrad Röntgen und Max Planck vertreten waren, unterzeichnet wurde, wiesen diese alle Schuld Deutschlands am Ausbruch des Krieges zurück und versuchten, die Gewalttat gegen Löwen zu rechtfertigen. Eine der Folgen dieser Ereignisse war ein Boykott deutscher Fachzeitschriften und Referateorgane im Ausland.3 Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sich das Bibliothekswesen in Deutschland in einem kontinuierlichen Prozess der Aufwärtsentwicklung befunden. Das galt insbesondere fur die wissenschaftlichen Bibliotheken, die weltweites Ansehen genossen und als Vorbild galten. Die Organisation der Literaturversorgung der Wissenschaft wurde als Modell empfunden und strahlte auf die skandinavischen Länder ebenso aus wie auf die USA. Etwas von dieser Faszination wirkte noch bis in den Anfang der 1930er Jahre nach: »[...] Germany today has the best national system of exchange lending and the most efficient library information bureau in the world. [...] A student living anywhere in Germany may obtain quickly almost any book from any German library«.4 Die Volksbibliotheken und Bücherhallen hatten, ausgelöst durch die in den 1890er Jahren einsetzende Bücherhallenbewegung, respektable Erfolge zu verzeichnen gehabt, wenngleich von den Fachleuten hier der Nachholbedarf gegenüber den als Vorbild betrachteten amerikanischen und britischen Public Libraries durchaus gesehen wurde. Volksbibliotheken alten Typs, vielfach als literarische Suppenküchen< kritisiert, wurden in moderne Einrichtungen umgewandelt und zahlreiche Bücher- und Lesehallen neu 1 Getrennt für das öffentliche und für das wissenschaftliche Bibliothekswesen liegen zwar zwei umfassende Darstellungen vor, die heutigen historischen Ansprüchen aber nicht mehr genügen. Nichtsdestoweniger sind sie nach wie vor unentbehrlich: Handbuch der Bibliothekswissenschaft, Bd. 3, 2. Hälfte; Handbuch des Büchereiwesens, Halbband 1, S. 57-786. 2 Zwischen 1901 und 1914 ging ein Drittel aller Nobelpreise für Chemie und ein Viertel für Physik an deutsche Forscher. 1909 bezogen sich 45% aller Referate in den Chemical Abstracts auf deutsche Zeitschriften. 3 Zum Fall Löwen vgl. Schivelbusch: Die Bibliothek von Löwen; Ungem-Sternberg: Der Aufruf >An die Kulturwelt!Nothilfe< von 200 Millionen Mark für die volkstümlichen Büchereien zur Verfügung, doch war dies angesichts der rasend fortschreitenden Geldentwertung und der ansteigenden Bücherpreise bloß ein Tropfen auf dem heißen Stein.12 Zur äußeren Misere kam die innere. Bald nach Konstituierung der Republik flammten die Auseinandersetzungen im volksbibliothekarischen Lager, die 1912 offen zu Tage getreten waren, wieder mit aller Schärfe auf. Die sehr komplexen Hintergründe des sogenannten >RichtungsstreitesKultur-Zivilisations-Antithese^ eine maßgebliche Rolle gespielt hat. Kritiker ihrer Zeit wie Friedrich Nietzsche, Paul de Lagarde, Houston Stewart Chamberlain oder Julius Langbehn haben ihr Unbehagen damit zum Ausdruck gebracht, dass sie Kultur und Zivilisation als Gegensätze einander gegenüberstellten. Zivilisation erschien ihnen als das Seelenlose und Mechanische, Nivellierende und die Gemeinschaft Zerstörende. Dahinter verbarg sich ein Ressentiment gegen die Moderne und ihren Machbarkeitswahn schlechthin, das aber auch deswegen nicht unbedenklich war, weil es nicht nur die Kultur aufwertete; vielmehr berief man sich auf essentielle Werte und brachte sie mit dem deutschen Wesen< in Verbindung.14 Diese Anschauungen beeinflussten die bibliothekarischen Grundpositionen entscheidend. Sie sollen im folgenden zusammenfassend dargestellt werden. Bestandsaufbau Auf eine Formel gebracht ging es beim Bestandsaufbau um die >untere GrenzeNeuen Richtung< im Bibliothekswesen, sollte die volkstümliche Bücherei nicht das Lesebedürfnis befriedigen, sondern mit dem Buch Volksbildung betreiben. Dazu sei in besonderer Weise die Schöne Literatur geeignet. Dabei schienen ihm folgende Auswahlkriterien anwendbar: • • • •

>Das Echtec Bücher, die aus innerem schöpferischen Antrieb geboren und lebenswahr sind. »Formale Werthaftigkeitc Bücher, die dem Inhalt entsprechend formal adäquat gestaltet sind. »Inhaltliche Werthaftigkeitc Eine Wirkung auf den Leser, »die ihn zu einer Höherführung des Daseins leitet«.16 >Erlebensnähe und Lebensbedeutungc Bücher, die dem Leben und Denken des jeweiligen Benutzers nahestehen.

Diese Kriterien führten zu einer starken Bevorzugung der Literatur des sogenannten Poetischen oder Bürgerlichen Realismus und der sogenannten Heimatkunst, zur heimatbezogenen Tradition des Realismus also. Das Fatale an dieser Entwicklung war, dass diese literarische Richtung mehr oder weniger absolut gesetzt wurde. Die ganze Problematik solcher Prinzipien zeigte sich in dem am Ende der Weimarer Republik veröffentlichten Katalog Deutsche Erzähler, an dem Mitarbeiter der von Walter Hofmann begründeten Leipziger Institutionen zwei Jahrzehnte lang gearbeitet hatten und der von mehr als 20 deutschen Büchereien in Sonderausgaben übernommen wurde.17 Jürgen Eyssen hat ihn »als das literaturpädagogische Testament der Leipziger Richtung« zutreffend charakterisiert.18 Diese als »beratende Lesehilfe< gedachte Publikation empfahl von der Klassik an Autoren bis in die damalige Gegenwart, unter den Zeitgenossen durchaus ehrenwerte Namen wie Ricarda Huch oder Emil Strauß. Decouvrierend war hingegen, was fehlte: Thomas und Heinrich Mann, Franz Werfel und Joseph Roth, Kurt Tucholsky und viele andere mehr. Sie waren offensichtlich nicht »Erzähler von deutscher ArtStettiner Richtung< genannten Seite, für eine großzügigere, breitere Auswahl und damit für eine tiefere untere Grenze aus. Von Ackerknecht stammte die Theorie vom >Kitsch als kultureller Übergangswertverwaltet< werden. 21 Im Großen und Ganzen fiel die Einschätzung des Kreises um die Zeitschrift Bücherei und Bildungspflege ähnlich aus. Nur Wenige wie der Stettiner Bibliothekar Wilhelm Braun warnten vor solch einseitiger Überschätzung der Schönen Literatur. 22 Es ist vielleicht kein Zufall, dass nahezu gleichzeitig eine Sammlung naturwissenschaftlicher Schriften des Physikers und Physiologen Hermann von Helmholtz (1821-1894) neu aufgelegt wurde, der sich schon am Ende des 19. Jahrhunderts Gedanken über die Popularisierung der Wissenschaften gemacht und scharfsichtig erkannt hatte, »daß eine volle Bildung des einzelnen Menschen, wie der Nationen, nicht mehr ohne eine Vereinigung der bisherigen literarisch-logischen und der neuen naturwissenschaftlichen Richtung möglich sein wird.« 23

Bestandsvermittlung Beide Richtungen propagierten eine intensive Beschäftigung mit dem Leser und empfahlen daher die sogenannte »gebundene Ausleihen Innerhalb der gebundenen Ausleihe bevorzugte Hofmann die Schalterausleihe, da seiner Meinung nach die Freihandbibliothek, also die Selbstbedienung des Lesers am Regal, dem Prinzip der lebendigen Vermittlung des Buches von Mensch zu Mensch widersprach. Auch verliere der Leser angesichts der Unübersichtlichkeit der Büchermassen die Orientierung. In Leipzig war man von der Bedeutsamkeit des Ausleihaktes, den Wirkungsmöglichkeiten des >bücher- und menschenkundigen Bibliothekars< überzeugt. An ihn wurden als »Organisator, Verwaltungs- und Geschäftsmann, Bücher- und Zeitkenner in einer Person< bedeutende Anforderungen gestellt. Grundlage für diese Arbeit war die 20 Ackerknecht: Der Kitsch als kultureller Übergangswert. Ackerknecht entwickelte seine Theorie bereits vor 1933 und zwar zunächst im Rahmen seiner filmpädagogischen Bestrebungen. 21 Hofmann: Die >Nebengebiete< der volkstümlichen Bücherei. 22 Braun: Die belehrende Literatur in der Volksbücherei, S. 1 - 8 . 23 Helmholtz, Hermann von: Natur und Naturwissenschaft. (Bücher der Bildung; Bd. 11). München: Albert Langen 1925, S. 28

2.3 B i b l i o t h e k e n als I n s t i t u t i o n e n der L i t e r a t u r v e r m i t t l u n g

203

sogenannte >individualisierende AusleiheEmpfänglichenOrganismus BildungspflegeEinheitsbibliothekseelsorgerlicher< Tätigkeit statt sachlich-informativer Funktion. >Literarisch-künstlerische VolkserziehungSeelenkräftigung< statt >Intellekt-Übungmoderne Vollmenschentumguten Buch< im Sinn der jeweiligen Literaturpäpste ist selbstverständliches Postulat.

7. Die Bibliothek soll jedermann offen stehen.

7. Förderung nur derjenigen Leser, die für >echte< Werte empfänglich sind. Konzeption einer elitebezogenen dynamischem Volksbildung.

8. Didaktisches Prinzip der intuitiven Kommunikation = größtmögliche Berücksichtigung der Individualität des Lesers durch Intuition (vgl. 2).

8. Didaktisches Prinzip der programmierten Erziehung. Beratung nach rationalen objektiven Kriterien (Statistik, Leserkunde). Rational nur im Hinblick auf die Methode.

9. Förderung durch gezielten Bestandsaufbau. Innerhalb des Buchbestandes Bildung als frei variable Selbständigkeit Förderung durch Selbstorientierung.

9. »Kulminationspunkt volksbibliothekarischer Arbeit« ist die Ausleihe. Konzeption der Bibliothek als Organisation des Ausleihdienstes. Der Leser ist unfähig, sich selbst zu orientieren.

10. Auswahlkataloge zur Anregung.

10. Lebenskreisverzeichnis zur Führung.

11. Berechtigung des Kitsches als Konsequenz 11. Der Buchbestand darf nur echte Werte enthalten. der größtmöglichen Berücksichtigung der Individualität des Lesers. Ablehnung des Kitsches als unmoralisch.

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2 A u t o r e n und P u b l i k u m

Insgesamt betrachtet wurde die Entwicklung des öffentlichen Bibliothekswesens in Deutschland dadurch zurückgeworfen. Rückblickend musste Wilhelm Schuster 1928 bedauernd feststellen, dass der Zwist »die Bewegung ihrer geschlossenen Kraft beraubt und vielfach gehemmt« hat; » [...] wie weit könnten wir sein, wenn wir einig geblieben wären«.29 Es gab daher schon in den 1920er Jahren Vermittlungsversuche, vor allem durch Vertreter einer jüngeren Bibliothekarsgeneration, an der Spitze Wilhelm Schuster selbst; dadurch ebbten gegen Ende der 1920er Jahre die Kämpfe zumindest nach außen hin ab. Im Jahrgang 1927 der Zeitschrift erklärten drei der fuhrenden Köpfe »im Namen der deutschen Volksbibliothekare, die sich um die Zeitschrift Bücherei und Bildungspflege geschart haben«, dass sie sich durchaus die Formulierung zu eigen machen könnten, »daß unter Anerkennung der weltanschaulichen und politischen Gegensätze eine gestaltende Volksbildung getrieben werden müsse, die alle Schichten des Volkes zusammenführe«. Trotz der Teilung »in die von der Bücherei und Bildungspflege vertretene, im allgemeineren Sinne sozialpädagogische Auffassung und in die von Walter Hofmann geführte [...] Leipziger Richtung« gäbe es letztlich nur einen Punkt des Dissenses, nämlich die Überbetonung des ästhetischen Wertes »als weit überragenden Leitwert für das große Gebiet der erzählenden Literatur. (Nur auf diesem Gebiete liegen nämlich Unterschiede zwischen den beiden Auffassungen, die sich praktisch auswirken)«. In realistischer Einschätzung der Situation stellten sie nämlich fest: »Es ist daher einem literaturkundigen, aber büchereipolitisch unbefangenen Betrachter oft kaum möglich, beim Durchblättern eines Kataloges - auch der Abteilung Schöne Literatur - zu sagen, ob es sich um den Bestand einer der Leipziger Richtung zuzurechnenden Bücherei handelt oder um eine Bücherei, die unserem Kreise nahesteht«.30 Eine solcher Kompromissvorschlag hinderte Walter Hofmann freilich nicht an dem Versuch, 1933 die neuen Herren vor seinen Karren spannen zu wollen, um sich doch noch den alleinigen Einfluss auf das Volksbüchereiwesen zu sichern. Darüber hinaus hielt seine Klientel noch bis Ende der 1950er Jahre an seinen Theorien fest. Aus heutiger bibliothekshistorischer Sicht haben sich die Auffassungen der beiden Richtungen soweit relativiert, dass man daraus beinahe eine Konvergenztheorie ableiten könnte. So wirken die bitter geführten Auseinandersetzungen im Rückblick eher befremdlich. Sicher waren sie bis zu einem gewissen Grad auch in der Persönlichkeitsstruktur der Hauptkontrahenten Erwin Ackerknecht und Walter Hofmann begründet und durch deren Neigung zur Polemik bedingt. War schon dem aus liberalem schwäbischem Haus stammenden Ackerknecht ein gewisser Starrsinn eigen und ihm bei seinem theologischen Hintergrund missionarisches Denken nicht ganz fremd, so besaß Hofmann in seinem Sendungsbewusstsein »etwas von dem Anspruch eines Religionsstifters, der nur seiner Lehre alleinseligmachende Kraft zuzuerkennen bereit war«.31 Will man an diesen Kontroversen etwas Positives erkennen, könnte man sagen, dass sie zu einer Grundsatzbesinnung auf die Aufgaben der öffentlichen Bibliothek geführt haben. Das, was man 29 Schuster: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des deutschen Büchereiwesens, S. 300. 30 Erklärung. In: Bücherei und Bildungspflege 7 (1927), S. 143 f. Die Erklärung ist unterzeichnet von Erwin Ackerknecht, Gottlieb Fritz und Wilhelm Schuster (Auszeichnung im Original gesperrt). 31 Eyssen: Bildung durch Bücher?, S. 78; Schuster: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des deutschen Büchereiwesens, S. 2 9 9 - 3 0 1 .

2.3 B i b l i o t h e k e n als I n s t i t u t i o n e n der L i t e r a t u r v e r m i t t l u n g

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am Ende der Auseinandersetzungen etwas großspurig >Die Idee der deutschen Volksbücherei< genannt hat, hat man freilich nicht gefunden. Zu diesem Resümee gelangten bereits die Zeitgenossen.32 Trotz aller dieser Krisen sollte aber nicht übersehen werden, dass es auch Fortschritte gab. Abseits der >Heroenkämpfe< im inneren Kreis der Bibliothekspäpste herrschte seit dem Beginn der Weimarer Republik Aufbruchstimmung. Selbstbewusste und einsatzfreudige Bibliothekarinnen und Bibliothekare schalteten sich in die kulturpolitische Diskussion ein. Man experimentierte mit Kinderbibliotheken33 und diskutierte die Zusammenarbeit von Schule und Bibliothek. Ebenso erprobte man den ersten Einsatz mobiler Literaturversorgung. 1925 nahm die Stadtbibliothek Worms als erste deutsche Bibliothek die Überlandversorgung mit Büchern für 52 Dörfer in der Mischform von Transportfahrzeug und Fahrbücherei auf. 1927 folgte das Saargebiet, wo das preußische Kultusministerium die Initiative ergriff, 1929 Dresden. Lässt man einmal den ideologischen Überbau beiseite, waren Hofmanns Leistungen wegweisend: der Aufbau einer dezentralisierten Literaturversorgung in Leipzig, die Institutionalisierung der Deutschen Zentralstelle für volkstümliches Büchereiwesen (1914) als Dienstleistungseinrichtung, die Gründung des Einkaufshauses fur Volksbüchereien (1922) und des Instituts fur Leser- und Schrifttumskunde (1926) als Forschungs- und Versuchsabteilung. Auf einer Tagung von Volksbildnern auf Burg Lauenstein in Oberfranken 1924 räumte Walter Hofmann immerhin ein, dass bei allen Unterschieden zwischen »Kulturbücherei und Zivilisationsbücherei« Interesse an einer gemeinsamen fachlichen Arbeitsund Beschaffungsstelle vorhanden sei, »die ohne innere geistige Bindung« allen offenstehen könnte, »die die realen Lebensnotwendigkeiten einer solchen Gemeinschaft der Interessen respektierten«.34 Mit seinem >Organismus BildungspflegeKerngeschäftDeutschen Büchereigesellschaft< scheiterte aber durch den Ausbruch des Richtungsstreites im Herbst desselben Jahres.39 Als Konsequenz dieses Scheiterns machte sich Hofmann allein auf den Weg. Nach seinem Wechsel nach Leipzig zum 1. April 1913 gründete er die Zentralstelle für volkstümliches Büchereiwesen als e.V. und mit ihm selbst als Geschäftsführer. Das Startkapital stellte die Stadt Leipzig zur Verfugung und bereits 1919 hatte der Verein 50 Mitgliedsbibliotheken. Schon 1915 wurde der Zentralstelle als eigene Abteilung eine Fachschule für Bibliothekstechnik und -Verwaltung, die spätere Deutsche Volksbüchereischule (so die Bezeichnung ab 1921) angegliedert, die erste Fachschule für Bibliothekare - oder eher Bibliothekarinnen in Deutschland. Die Zentralstelle stellte »>eine Zusammenfassung, Klärung, Publizierung des in den Stamm-, Versuchs- und Modell-

37 Blätter für Volksbibliotheken. Neue Folge der Blätter für Volksbibliotheken und Lesehallen 1 (1920), S. 158 f. 38 Otto-Rudolf Rothbart hat in zwei Monographien die Geschichte dieser zentralen Einrichtungen vorbildlich bearbeitet: Bibliothekarische Buchkritik, und: Deutsche Büchereizentralen. Ergänzend heranzuziehen: Boese: Walter Hofmanns >Institut für Leser- und Schrifttumskundeden neuen Büchereigedanken zum Durchbruch zu verhelfen