Georg Büchner und die Moderne, Bd. 2: 1945-1980 9783503061068

In der Geschichte der deutschen Literatur gilt Georg Büchner als singuläre Erscheinung. Kaum ein anderer politischer Sch

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Georg Büchner und die Moderne, Bd. 2: 1945-1980
 9783503061068

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Dietmar Goltschnigg (Hg.)

Georg Büchner und die Moderne Texte, Analysen, Kommentar Band 2: 1945-1980

RICH SCHMIDT VERLAG

Dietmar Goltschnigg (Hg.)

Georg Büchner und die Moderne Texte, Analysen, Kommentar

Band 2 1945-1980

ERICH SCHMIDT VERLAG

UMWERSrTfUBRARY

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Georg Büchner und die Moderne : Texte, Analysen, Kommentar / Dietmar Goltschnigg (Hg.). - Berlin : Erich Schmidt Bd. 2. 1945- 1980.-2002 ISBN 3-503-06106-1

Gedruckt mit Unterstützung der Alexander von Humboldt-Stiftung

ISBN 3 503061061

Alle Rechte Vorbehalten

© Erich Schmidt Verlag GmbH & Co., Berlin 2002 www.erich-schmidt-verlag.de Dieses Papier erfüllt die Frankfurter Forderungen der Deutschen Bibliothek und der Gesellschaft für das Buch bezüglich der Alterungsbeständigkeit und entspricht sowohl den strengen Bestimmungen der US Norm Ansi/Niso Z 39.48-1992 als auch der ISO Norm 9706. Gesetzt aus der 9,5/11,5 pt Garamond Satz: Peter Wust, Berlin Druck und Bindung: Hubert & Co, Göttingen

Inhalt Abkürzungen und Zitieiweise.

9

A. Einleitung: „Der Büchner-Bazillus in unserer Literatur“ Politische, sozial- und kulturgeschichtliche Randbemerkungen.

1.

„Als der Krieg zu Ende war“ .

12

1.1 1.2

12

Entnazifizierung. Die soziologische Büchner-Deutung Hans Mayers. Ein Paradigmawechsel?. Erzählende und dramatische Texte.

18 22

„Kalter Krieg“, Stalinismus, Restauration und Wirtschaftswunder. Die 50er Jahre .

27

1.3

2.

2.1 2.2 2.3 2.4 2.5

3.

4.

11

Der „sozialistische Realismus“. Georg Lukäcs und die „Wunde Danton“ im Osten. Der entpolitisierte Dichter im Westen und der neugestiftete Büchnerpreis. „Engagement“, „Emigration“ und „Kritik“. ,Atemwende“ und „20. Jänner“ . Dramatische, lyrische und erzählende Texte.

28 34 39 44 48

Die Mauer: Eiszeit und Tendenzwende, Rezession und Revolte. Die 60er Jahre .

54

3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 3.7

Rückblick und „engagierte Einsamkeit“ . „Zerrissenheit“ und „Zufall“. Büchners 150. Geburtsjubiläum . Forciertes politisches Engagement . Abschied von der Revolution und Wiederauferstehung der Poesie ... Wiederbegegnung mit dem Lem im Osten. Dramatische, lyrische und erzählende Texte.

56 58 61 65 67 71 74

„Zweite Restauration“ und „konstruktiver Defaitismus“. Die 70erjahre .

81

4.1 4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.1.4 4.2 4.3 4.4

Büchnerpreisreden . Selbstbeschreibungskünstler. Jüdische Kosmopoliten, Exilanten und Dissidenten. „Neue Subjektivität“ und Innerlichkeit. Protestsatiren gegen das Ritual der Büchnerpreisverleihung. Revolte und Melancholie . „Konstruktiver Defaitismus“ im Osten. Lyrische, erzählende und dramatische Texte .

83 83 85 88 90 93 96 105 5

Inhalt

B.

Texte . 1

Herbert Roch: Georg Büchner als Richter seiner Zeit (1946).

133

2

Franz Theodor Csokor: Georg Büchner (1947)

.

138

3

Kasimir Edschmid: Woyzeck. Shakespeare enfant (1947).

139

4

Hans Mayer: Thermidorstimmung (1946) .

144

5

Stephan Hermlin: Georg Büchner und seine Zeit (1947).

149

6

I. M. Lange: Georg Büchner. Zu einer neuen Biographie (1948) .

152

7

Paul Rilla: Georg Büchner - und die sublime Langeweile (1948).

156

8

Wolfgang Langhoff: Die verschiedenen Fassungen des „Woyzeck“ (1948).

165

9

Friedrich Wolf: „Aber wo ist jener Georg Büchner?“ (1947 ff.)

.

168

10

Georg W. Pijet: Ein Komet stürzt ins Dunkel (1947) .

169

11

Heinz-Joachim Heydom: Georg Büchner (1947).

174

12

Adolf von Grolman: Büchners „Dantons Tod“ (1948).

181

13

Günter Felkel: Unsterbliche Flamme (1948).

184

14

Heinz-Winfried Sabais: Das Todesurteil (1948) .

186

15

Bertolt Brecht: Klassische Formexperimente (1949 ff.).

190

16

Franz Bauer: Georg Büchner (1949) .

191

17

Wilhelm Herzog: Büchner (nach 1950) .

198

18

Kasimir Edschmid: Wenn es Rosen sind, werden sie blühen (1950)

. .

212

19

Gottfried Benn: „Die Ruhe eines Kornfeldes“ (1951).

223

20

Paul Alverdes: Szenischer Prolog zu „Dantons Tod“ (1951).

225

21

Rene Schwachhofer: Georg Büchner und die deutsche Misere (1952) .

226

22

Willi Fehse: Der Feuergeist (1953) .

229

23

Heinz Kamnitzer: Georg Büchner. Zu seinem 140. Geburtstag am 17. Oktober 1953

6

131

. . .

230

24

Klaus Nonnenmann: Warum nicht auch Knollingen? (1953) .

240

25

Bert Brennecke: Ihr Maß ist voll (1954) .

243

26

Martin Kessel: Eine Sache des ganzen Lebens (1954).

247

27

Walter Hollerer: Georg Büchner in seinem „Woyzeck“ (1954)

249

28

Thomas Bernhard: „Leonce und Lena“.

.

Tragisches Lustspiel von Georg Büchner (1954).

252

29

Emst Kreuder: Georg Büchner, Existenz und Sprache (1955)

.

253

30

Karl Krolow: Intellektuelle Heiterkeit (1956) .

261

31 32

Hans Jürgen Geerdts: Hoffnung hinterm Horizont (1956). Arnold Zweig: Wozzeck (1957).

265 269

33

Erich Kästner: Wohin gehört Büchner? (1957).

271

34

Max Frisch: Emigranten (1958).

276

35

Ffeinz Kamnitzer: Die große Kapitulation (1959).

284

36

Emst Bloch: Das Prinzip Hoffnung (1959).

289

37 38

Günter Eich: Dichtung als kritische „Gegnerschaft“ (1959) . Marie Luise Kaschnitz: Wozzek (1960).

290 294

39

Hans Weigel: „Ruhm will ich davon haben ..." (1960).

299

40

Paul Celan: Der Meridian (1960) .

300

41

Hans Erich Nossack: So lebte er hin ... (1961) .

308

Inhalt

42

Wolfgang Koeppen: Die „vogelfreie Existenz“ des Schriftstellers (1962). Georg Maurer: Gespräch zwischen Schiller und Büchner

313

43

in den elysäischen Gefilden (1962/63) . Kuba: Georg Büchners „Dantons Tod“ am

316

44

Volkstheater Rostock (1962).

320

45

Franz Theodor Csokor: Die Revolution des Georg Büchner (1963) . ..

322

46

Carl Zuckmayer: Erinnerung an die Dankesrede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises 1929 (1963) .

324

47 48

Hans Jürgen Geerdts: Georg Büchners Volksauffassung (1963) . Walter Jens: Poesie und Medizin (1963).

327 333

49 50

Hans Magnus Enzensberger: „Staatsangehörigkeit deutsch“ (1963) . . . Anna Seghers: Die LOTz-Novelle als

343

,Anfang der modernen Prosa“ (1964 ff.).

345

51

Ingeborg Bachmann: Ein Ort für Zufälle (1964).

346

52

Plans Magnus Enzensberger: „Der Hessische Landbote“.

53

Zwei Kontexte (1965) .

347

Günter Grass: Über das Selbstverständliche (1965).

360

54

Friedrich Christian Delius: Butzbach, zum Exempel (1965).

363

55

Wolfgang Hildesheimer: Büchners atemlose Melancholie (1966) ....

364

56

Max Walter Schulz: Rendezvous mit Georg Büchner (1966).

371

57

Wolfgang Bauer: „Leonce und Lena“ auf der Probebühne (lerne gegen Akademie (1966)...

374

58

Heinrich Böll: Georg Büchners Gegenwärtigkeit (1967).

375

59

Golo Mann: Georg Büchner und die Revolution (1968) .

379

60

Christa Wolf: Weltbilder (1968).

386

61

Werner Bräunig: „Prosa schreiben“. Anmerkungen zum Realismus (1968).

388

62

Werner Steinberg: Protokoll der Unsterblichkeit (1969).

391

63

Helmut Heißenbüttel: „Der Riß zwischen Gebildeten und Ungebildeten“ (1969).

400

64

Botho Strauß: Bad trip. „Dantons Tod“ in Heidelberg (1969).

402

65

Günter Kunert: Fiebemacht (1970).

405

66

Walter Aue: Mit Maier & Biesinger in der Mensa (1970).

407

67

Uwe Johnson: Nachforschungen in New York (1971) .

408

68

Elias Canetti: Georg Büchner (1972)

.

410

69

Gaston Salvatore: Büchners Tod (1972).

417

70 71

Peter Schneider: Lenz (1973) . Hermann Kesten: Das Glück und die deutschen Dichter (1974).

420 422

72

Gerhard Kelling: Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck (1974) .

425

73' 74

Manes Sperber: „Ich habe keine Gewißheiten zu bieten“ (1975). Hilde Spiel: Liliputaner in König Peters Hofstaat (1975) .

432 434

75

Gerhard Zwerenz: Die Rede des Georg Büchner vor der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung anläßlich seiner Ablehnung als Büchner-Preisträger (1975)

76

.

437

Erik Neutsch: Reise zu Büchner. Endpunkt Garage (1975).

440

7

Inhalt

77 78

Bruno Weinhals: Büchner (1975). Hermann Bräuning-Oktavio: Georg Büchners Flucht und Ende (1976)

444 449

79

Heinz Piontek: Am Nachmittag des 16. Februar 1837 (1976).

451

80 81

Ulrich Berkes: Lenz (1976). Klaus Körner: J. M. R. Lenz in Moskau (1976).

454 454

82

Franz Fühmann: „Was bleibt ist das Werk, sonst nichts“ (1977) .

455

83 84

Volker Braun: Büchners Briefe (1977). Frieder Venus: Traumtanz. Szenen aus dem 19. Jahrhundert (1977) ..

456 463

85

Thomas Brasch: Danton (1977) - Es ist alles still. Literatur heute: Rückzug in die Schädelnerven oder Aufbruch in die Werkhallen (1978)

86

87 88

.

466

Heinz Jacobi, Eckart Menzler: Betreff: Forderung nach Verbot des Georg-Büchner-Preiscs (1977).

467

Heinz Jacobi: Aporie oder Büchner grüßt aus dem Knast (1978).

470

Hermann Lenz: Die Literatur - ein Heilmittel (1978) .

470

Rudi Dutschke: Georg Büchner und Peter-Paul Zahl, oder: Widerstand im Übergang und mittendrin (1979).

474

89

Peter Schneider: Georg Büchner: Lenz (1979) .

493

90

Uwe Grüning: Zürich 1837 (1979) .

497

91

Artur Rümmler: Das Verhör des Georg Büchner (1979).

497

92

Anna Rheinsberg: Nachtschattengewächs (1979) .

500

93

Rolf Hochhuth: Büchner lesen, um Marx zu retten (1980) .

501

94

Christa Wolf: Von Büchner sprechen (1980).

506

C. Kommentar .

513

D. Anhang

8

1.

Zeittafel.

605

2.

Bibliographie.

615

3.

Sachregister.

627

4.

Personenregister .

635

Abkürzungen und Zitierweise Zitate innerhalb dieses Bandes werden mit Seitenzahlen (S.), allenfalls auch mit Angabe des betreffenden Textes (Nr.) nachgewiesen. B

= Georg Büchner: Werke und Briefe. Münchner Ausgabe. Hg. von Karl Pömbacher, Gerhard Schaub, Hans-Joachim Simm und Edda Ziegler. 5. Aufl. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1995.

BPR I

= Büchner-Preis-Reden 1951-1971. Mit einem Vorwort von Emst Johann. Stuttgart: Reclam 1972 (Bibliographisch ergänzte Ausgabe 1981).

BPR II = Büchner-Preis-Reden 1972-1983. Mit einem Vorwort von Herbert Heck¬ mann. Stuttgart: Reclam 1984. BPR III = Büchner-Preis-Reden 1984-1994. Hg. von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Vorwort von Herbert Heckmann. Stuttgart: Reclam 1994. BuM I = Dietmar Goltschnigg (Hg.): Georg Büchner und die Moderne. Texte, Ana¬ lysen, Kommentar. Band 1: 1875-1945. Berlin: E. Schmidt 2001.

9

'

A.

„Der Büchner-Bazillus in unserer Literatur“1 Politische, sozial- und kulturgeschichtliche Randbemerkungen Wir sind und bleiben das Volk, das einen Büchner geboren hat (Günther Weisenbom, 1947). In der Tat, er ist virulent in unserer Literatur und Wirklichkeit, der Büchner-Bazillus (Hans Mayer, 1964).

Die immerwährende Zeitgenossenschaft Georg Büchners ist längst zum rezeptionshi¬ storischen Topos geworden. Als ganz Deutschland achtzehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, 1963, den 150. Geburtstag des Vormärzdichters feierte, da verwan¬ delte sich „der feierliche Epitaph“ „unversehens in die laudatio eines Zeitgenossen“ (Walter Jens, Nr. 48, S. 333), und man sah sich gar veranlaßt, die „virulente“ Wirkung eines „Büchner-Bazillus“ „in unserer Literatur und Wirklichkeit“ zu diagnostizieren (Elans Mayer).2 Büchners stete Allgegenwart bedeutet, daß sich in jede Auseinander¬ setzung mit ihm auch immer der jeweilige Zeithorizont der nachgeborenen Genera¬ tionen einblendet. Seine Rezeption bildet gewissermaßen einen Brennspiegel, der nicht nur die literarische, sondern auch die politische Geschichte Deutschlands reflektiert. Dies gilt in besonderem Maße für die im vorliegenden zweiten Band der Dokumen¬ tation Georg Büchner und die Moderne versammelten Rezeptionszeugnisse aus dem Zeit¬ raum von 1945 bis 1980. Die Teilung Deutschlands als das politisch einschneidendste Ereignis nach dem Zweiten Weltkrieg durchzieht als Konstante die Büchner-Rezeption der nächsten Jahrzehnte. Die permanenten Spannungen und Konflikte der beiden deutschen Staaten spiegeln sich in einer konträren, oft polemisch ausgetragenen Aktua¬ lisierung Büchners und seines literarischen wie politischen Vermächtnisses. Symptoma¬ tisch ist der Anspruch der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) auf die allein¬ berechtigte „Sachwalterschaff“ des hessischen Dichterrevolutionärs - mit dem erklärten Ziel, sein Werk vor den in der Bundesrepublik grassierenden „bourgeoisen“ und „kon¬ terrevolutionären“ Tendenzen in Schutz zu nehmen. Dabei sollten sich freilich der Einverleibung Büchners ins kanonisierte literarische Erbe der DDR nicht unbeträcht¬ liche Schwierigkeiten entgegenstellen, wie exemplarisch das rezeptionshistorische Schick¬ sal des Danton belegt, dessen „defätistischer“ und „genußsüchtiger“ „Revolutionsverrat“ einer ideologischen Revision unterzogen werden mußte. In der Bundesrepublik ergibt sich ein anderer, wechselvoller Befund. Während der sogenannten „Adenauer-Ara“ überwiegen noch eher unpolitische Büchner-Deutungen. Erst seit den späten 50er Jah¬ ren wird er zur oppositionellen Identifikationsfigur. In den 60er Jahren verstärkt sich seine politische Aktualisierung. Mit dem Eintritt der Sozialdemokratie in die Bundes¬ regierung (1966) wird der Verschwörer und Begründer der illegalen „Gesellschaft der Menschenrechte“ zum Anwalt der studentischen Protestbewegung, der „Neuen Linken“ und der außerparlamentarischen Widerstandsgruppen. Seit der „Übersetzung“ des Hes¬ sischen Landboten durch Hans Magnus Enzensberger ins Persische (1965, Nr. 52) gewinnt Büchners Befreiungsrhetorik aber auch zunehmend an internationaler Strahlkraft, die auf die Entwicklungsländer der „Dritten Welt“ gerichtet ist, bis hin nach China, Kuba,

11

A. „Der Büchner-Bazillus in unserer Literatur

Vietnam, Südamerika und Schwarzafrika, wie es namentlich auch Peter-Paul Zahl im Westen (S. 81 f.) und Heiner Müller im Osten proklamieren werden (S. 103 ff). Der spektakuläre Aufschwung, den die Büchner-Rezeption in der literarischen Öf¬ fentlichkeit, im Theater, im Verlags- und Zeitschriffenwesen schon nach dem Ersten Weltkrieg genommen hatte, erfuhr nach dem Zweiten Weltkrieg eine weitere Stei¬ gerung. Büchner wird nunmehr auf allen größeren und kleineren Bühnen gespielt, jähr¬ lich erscheinen neue Gesamt- und Einzelausgaben, die Tagespresse gedenkt seiner nicht nur anläßlich mnder Geburts- oder Todesjubiläen. Die im Jahre 1951 erfolgte Reorga¬ nisation des Büchnerpreises, der seither als bedeutendste literarische Auszeichnung im gesamten deutschsprachigen Raum gilt, hat die immerwährende Gegenwärtigkeit des Vormärzdichters institutionalisiert, andererseits aber auch die Kritik provoziert, daß solch staatlich gefördertes Vereinnahmungsritual alljährlich im Namen eines steckbrief¬ lich verfolgten und ins Exil vertriebenen Verschwörers praktiziert wird, der selber eine solche Auszeichnung wohl nie erhalten hätte. Als wesentliches rezeptionshistorisches Fazit gilt es indessen festzuhalten, daß Büchner in den Nachkriegsjahrzehnten welt¬ literarischen Rang erlangt, was sich einerseits in zahlreichen Übersetzungen seines Werkes widerspiegelt, andererseits in seiner Behandlung nicht nur durch die deutsch¬ sprachige, sondern auch durch die internationale Literaturwissenschaft. An der neueren Büchner-Forschung läßt sich die Entwicklung der Germanistik von einer „deutschen“ zu einer internationalen Wissenschaft exemplarisch nachvollziehen.

1. 1.1

„Als der Krieg zu Ende war“3 Entnazifizierung Deutschlands Weg hat ins Verderben geführt. Wir müssen neu beginnen. Müssen uns neu besinnen. Im Zerrspiegel sah das deutsche Volk die Welt. Die Namen Friedrichs II., Blüchers, Bismarcks sind uns geläufig, was aber weiß die Mehrheit von Lassalle, von Marx und Engels? Wie viele kennen Georg Büchner nicht einmal dem Namen nach! [...]. Büchner unterlag im Kampfe. Aber sein Wort ist uns Erbe und Mahnung - heute in entscheidender Zeit. (Leo Bauer, 1946)

Nach der bedingungslosen Kapitulation und dem vollständigen politischen und wirt¬ schaftlichen Zusammenbruch des „Dritten Reiches“ mußte auch eine tiefgreifende weltanschauliche und kulturelle Neuorientierung vorgenommen werden. Die deutsch¬ sprachige Nachkriegsliteratur stand im Zeichen einer radikalen Erneuerung, wie sie sich programmatisch in Schlagwörtem wie „Stunde Null“, „Kahlschlag“ oder „Inventur“ manifestierte. Gleichwohl kam es zu keinem totalen Bruch mit der Tradition. Gemäß dem verordneten Programm einer „Entnazifizierung“ und demokratischen „Umerzie¬ hung“ der deutschen Bevölkerung erfolgte eine Revision des gesamten „Kulturerbes“ und damit auch des literarischen Kanons. Jene Dichter wurden wieder stärker ins öffentliche Blickfeld gerückt, von denen sich kritisch-humanistische, widerständige und auch sozialistische Zielvorstellungen ableiten ließen. Ästhetisch galt es an die im „Dritten Reich“ abgeschnittenen Strömungen der als „entartet“ angesehenen „Moder-

12

1. „Ah der Krieg zu Ende war “

ne“ wie den Expressionismus, Surrealismus und Existentialismus und an Schreibweisen wie vor allem jene des Absurden und Grotesken wieder anzuknüpfen. Zu den im „Dritten Reich“ fast in Vergessenheit geratenen, gleichsam zum zweiten¬ mal ins Exil vertriebenen oder gar verbotenen Schriftstellern hatte auch Georg Büchner gezählt, der nun, nach Beendigung des Kriegs, nicht zuletzt dank den zurückgekehrten Emigranten wieder zur vielseitig aktualisierbaren, politischen und ästhetischen Leitund Identifikationsfigur erhoben wurde. Von den sich wieder formierenden Parteien waren es vor allem die Kommunisten, die sich demonstrativ auf das demokratische, Sozialrevolutionäre Vorbild des Vormärzdichters beriefen. Das neugegründete „Mittei¬ lungsblatt der KPD Bezirk Groß-Hessen“ nannte sich Der Hessische Landbote, die erste Nummer des Organs vom 10. Februar 1946 wurde mit Leo Bauers programmatischem Aufruf Z,um Beginn eingeleitet. Das Zentrum des Manifests bilden Zitate aus Büchners Flugschrift, die in den Ohren der Genossen so „aufrüttelnd“ klangen, als seien sie „für heute geschrieben“, für das von der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft befrei¬ te Deutschland: Ihr seid wie die Heiden, die das Krokodil anbeten, von dem sie zerrissen werden. Ihr setzt ihm eine Krone auf, aber es ist eine Dornenkrone, die ihr euch selbst in den Kopf drückt. ... Das ganze deutsche Volk muß sich die Freiheit erringen. Der Herr hat das schöne deutsche Land in die Hände der einheimischen Schinder gegeben, weil das Herz des deutschen Volkes von der Freiheit und Gleichheit abgefallen war ... Doch das Reich der Finsternis neigt sich zum Ende. Ueber ein kleines und Deutschland, das jetzt die Fürsten schinden, wird als ein Freistaat mit einer vom Volk gewählten Obrigkeit wieder auferstehen.4

Unter den vielen unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs neugegründeten kulturpolitischen Zeitschriften brachte der von Günther Birkenfeld in Berlin herausge¬ gebene „Horizont“, eine „Halbmonatsschrift für junge Menschen“, eine umfangreiche¬ re Artikelserie über Deutsche Schriftsteller als Richter ihrer Zeit, verfaßt von Herbert Roch (Nr. 1). Darin figuriert unter der Devise Einer sprengt die Fesseln Georg Büchner als einer der „großen Menschheitsrichter“ und „unbeirrtesten Vorkämpfer“ der Revolution. Die Horizontverschmelzung der reaktionären, tyrannischen Vormärzepoche mit dem soeben zusammengebrochenen „Tausendjährigen Reich“ ist durchgehend evident: eine Zeit wird immer nur durch den überwunden, der am tiefsten an ihr leidet. [...]. Die Tragik der damaligen Zeit hat niemand tiefer gelebt als ihr jüngster und genialster Sohn: Georg Büchner. In ihm faßt der Zeitgeist noch einmal seine unerfüllten Floffnungen, faßt das ge¬ schundene und getretene Leben noch einmal sein soziales und seelisches Leid in einem einzi¬ gen erschütternden Anklageschrei der Empörung, des Hasses und der Liebe zusammen. [...]. Er ist alles das, was seine Zeit noch nicht ist, und gleichzeitig mit allen Fasern seines Wesens in ihr verwurzelt, der äußerste Gegensatz dieser Zeit und ihr Mittelpunkt, ihr Überwinder und ihr Opfer. (S. 133)

Im Herbst 1947 fanden in Berlin und Hamburg zwei aufsehenerregende Theaterinsze¬ nierungen statt. Am 14. November gelangte der Woyzeck unter der Regie Wolfgang Langhoffs in den Kammerspielen des Deutschen Theaters Berlin zur Aufführung (vgl. Nr. 8), eine Woche später folgte in den Hamburger Kammerspielen die Uraufführung von Wolfgang Borcherts Draußen vor der Tür. Günther Birkenfeld stellte einen Vergleich der beiden Dramen und ihrer jungverstorbenen, „frühvollendeten“ Verfasser an.5 Die Signatur, die Bordiert für sich und seine Generation geprägt hatte, eine „Generation ohne Glück, ohne Heimat und ohne Abschied“ zu sein,6 ließ sich unschwer auch auf

13

A. „Der Büchner-Bazillus in unserer Literatur“

Büchner und seinen Umkreis übertragen, auf die vertriebenen, verurteilten und ge¬ schundenen Mitglieder der „Gesellschaft der Menschenrechte“. Der „erschütternde An¬ klageschrei der Empörung“ manifestiert sich bei Borchert in einem radikalen Pazifis¬ mus. Wenn der „ewige Gewaltzustand“, wie Büchner einst die staatliche Tyrannei seiner Zeit angeprangert hatte,7 jemals wieder, selbst nach den unvorstellbaren Mensch¬ heitskatastrophen des 20. Jahrhunderts, zu einem Krieg ausufem sollte, dann gab es für Borchert „nur eins!“, nämlich bedingungslosen Widerstand und Protest: „sagt NEIN!“8 Das einen Tag nach dem Tod des jungen Dichters uraufgeführte Schauspiel Draußen vor der Tür erzielte einen sensationellen Erfolg. Dreißig deutsche Bühnen nahmen das Stück sogleich in ihre Spielpläne auf. Der tote Dichter war über Nacht berühmt gewor¬ den. „Man nannte ihn neben dem unsterblichen Büchner“.9 In Beckmann, der Haupt¬ figur des Stücks, glaubte man dem „Woyzeck unseres Jahrhunderts“ wiederzubegeg¬ nen.10 Was Birkenfeld als Gemeinsamkeiten der beiden Dramen hervorhebt, sind die tragische, weil ausweglose Einsamkeit und Verlorenheit der Protagonisten, der Gestus des vergeblich Fragenden, ferner „eine Kunst des magischen Verismus, die mit den höchsten Leistungen des Films viel mehr Verwandtschaft besitzt als mit denen des klas¬ sischen Dramas“.11 Das erinnert an Hofmannsthals Urteil, der schon anläßlich der Münchner Uraufführung des Woyzeck (1913) die formalästhetische Modernität des Dramas mit der „bailadenhaften“, gemäß dem modernen Medium des „Films“ „abzu¬ schnurrenden“ Sequenz der Bilder begründet hatte.12 Wie der Woyzeck weist auch Drau¬ ßen vor der Tür eine offene Form und eine kreisförmige, um ein zentrales Ich angeord¬ nete Konfiguration auf. Beckmann, der schwerstinvalide Kriegsheimkehrer, sieht sich von lauter „grotesken, karikierten Menschenmarionetten“ umgeben, so daß ihm die gan¬ ze Welt als absurder, „großer Zirkus“ erscheint, in dem sich die Leute „kaputt“ lachen, „wenn es recht grausig hergeht, mit Blut und vielen Toten“.13 Als Kriegsheimkehrerdra¬ ma setzte Draußen vor der Tür zudem die Traditionslinie von Brechts Trommeln in der Nacht (1919) und Poliers Hinkemann (1923) fort, deren Protagonisten ebenfalls in die Woyzeck-Nachfolge gestellt worden waren. Während der letzten Lebensmonate Borcherts verfaßte ein anderer Angehöriger der geschundenen Kriegsgeneration einen umfangreichen Büchner-Essay. Heinz-Joachim Heydom war 1944 wegen Desertion von einem deutschen Kriegsgericht in Abwesen¬ heit zum Tode verurteilt worden, konnte jedoch untertauchen und so der Verhaftung und Hinrichtung entgehen. Nach dem Krieg erkrankte er an Tuberkulose und mußte sich in stationäre Behandlung begeben. In dieser Zeit erfolgte - gleichsam aus thera¬ peutischen Motiven - die Auseinandersetzung mit Büchner, der dem Erkrankten als „unerhörte Gegenwart“ und als Quelle des Widerstands gegen den Terror des deut¬ schen Obrigkeitsstaats wie gegen den eigenen vorzeitigen Tod diente.14 Heydom deutet den Standort seiner durch Fluchtversuche aus der Tyrannei bestimmten Existenz als Exil im Niemandsland nach dem Vorbild des hessischen Dichterrevolutionärs, der „trotz aller inneren Verzweiflung“ „den Kampf um die Freiheit“ aufgenommen habe und dafür „aus der Gemeinschaft seines Volkes“ ausgestoßen worden sei (Nr. 11, S. 180). Was Heydom in Büchners Leben und Werk exemplarisch vorgeprägt findet, ist vor allem der Riß zwischen „Idee und Wirklichkeit“, „Romantik und Materialismus“ verbunden mit der Frage nach dem Sinn politischen Handelns angesichts der Erkenntnis, daß jede Tat, die die sozialhistorisch-materialistische Bedingtheit des Seins ignoriere, zum Scheitern verurteilt sei. Aber gerade durch den Einsatz seines Lebens für den Kampf um die deutsche Freiheit, im Bewußtsein seiner Aussichtslosigkeit, habe

14

1. „Als der Krieg zu Ende war

Büchner eine Einzigartigkeit erlangt, deren weltgeschichtliche Tragweite erst nach den apokalyptischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts so richtig zu begreifen sei. In Heydoms von expressionistischem Pathos getragenem Essay waltet weniger der hegelia¬ nisch-marxistische Fortschrittsoptimismus als die pessimistische Weltdeutung Schopen¬ hauers, dessen Mitleidsethik dem heroischen Freiheitskampf Büchners als Leitmotiv zugrunde gelegt wird. Das Mitleid für die geknechteten Bauemmassen sei freilich untrennbar mit dem Haß gegen ihre Schinder verbunden. Aus dieser Ambivalenz, der Einheit und dem Gegensatz von Mitleid und Haß, entwickelt Heydom, seit 1945 Mitglied der SPD und 1946/47 Vorsitzender des Sozialistischen Deutschen Studenten¬ bundes (SDS), seine politische Vision, die auf eine radikale Umwälzung all jener gesell¬ schaftlichen Verhältnisse gerichtet ist, aus denen Herrschaft und Unterdrückung, Fa¬ schismus und Völkermord hervorgingen. Heydoms kühne Behauptung, daß Büchner „an echter Menschenkenntnis dem Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus um eine Klasse überlegen war“ (S. 179), bedeutet eine erhebliche Abweichung von der seit dem späten 19. Jahrhundert in sozialistischen Kreisen vorherrschenden Ansicht, die dem Verfasser des Hessischen Landboten und Begründer der „Gesellschaft der Menschen¬ rechte“ - bei allem Respekt für sein sozialrevolutionäres Engagement - doch nur ein noch unterentwickeltes, bei weitem nicht an den Marxschen dialektischen Materialis¬ mus heranreichendes historisches Bewußtsein bescheinigt hatte. Schon der junge Stu¬ dent und Sozialdemokrat Heydom erwies sich somit als engagierter, unbequemer „Quer¬ denker“, der 25 Jahre später, 1961, wegen einer Solidaritätserklärung für den SDS aus der SPD ausgeschlossen werden sollte. *

Büchners Vorbild wirkte indessen nicht nur auf die durch Nationalsozialismus und Weltkrieg „zerstörte Jugend“, sondern auch auf Angehörige der älteren Generation, die sich schon im Expressionismus auf den „widerständigen Klassiker“ berufen hatten und nunmehr die durch das „Dritte Reich“ unterbrochene Kontinuität seiner progressiven, Sozialrevolutionären Rezeptionsgeschichte wieder herzustellen trachteten. Als prominen¬ tester Gewährsmann solcher Kontinuität kann Kasimir Edschmid angesehen werden (Nr. 3), der Büchnerpreisträger des Jahres 1927, der sich jahrzehntelang in vielfältigster Weise mit dem Leben und Werk seines hessischen Landsmanns auseinandergesetzt hat.15 Schon 1916 hatte er dem „sehr großen toten Bruder Georg Büchner“ seinen No¬ vellenband Das rasende Leben gewidmet, und in den ersten Jahren der Weimarer Re¬ publik hatte er ihn als „genialsten Protest des Heroischen gegen eine unheroische Land¬ schaft und Bevölkerung“ glorifiziert.16 Nach dem Zusammenbruch Hitlerdeutschlands hält Edschmid, aus dem italienischen Exil nach Darmstadt zurückgekehrt, neuerlich der „stets zähen“, „reaktionären bürgerlichen Masse“ Hessens und Deutschlands den vormärzlichen Dichterrevolutionär entgegen. Im Gegensatz insbesondere auch zu den Burschenschaften, „ihren jungen Studenten wie ihren alten Herren“, die sich 1933 irre¬ geleitet „der Fahne des Nazi-Regimes“ untergeordnet hatten, repräsentiere Büchner eine „Elite“, die „immer rebellisch und feurig war“.17 Auf diese „noble Jugend“ setzt Edschmid nach der Katastrophe des „Dritten Reichs“ die politischen Hoffnungen des neuen Staates: „Und immer wieder wird in Deutschland ein junger rebellischer Geist erstehen, der ehrfurchtsvoll seinen Namen nennen und seiner Stirn den Lorbeer und seinem Mute den Ruhm reichen wird, deren er jede Minute seines kurzen Daseins wert gewesen ist.“18 Voraussetzung für dieses verheißungsvolle Rebellentum sei freilich die 15

A. „Der Büchner-Bazillus in unserer Literatur“

Überwindung jenes in der deutschen Geschichte ewigen untertänigen, „dumpfen We¬ sens“, als dessen Inbegriff Woyzeck erscheine: Die Gestalt dieses einfachen beamteten Militärmenschen wurde Büchner das Symbol der deut¬ schen Hilflosigkeit und Unfähigkeit zur Revolution, zum Bildnis der ewigen Marterung der Deutschen. Woyzeck wurde Büchner die Verkörpemng des Deutschen, der schließlich, geistig verwirrt, Selbstmord begeht, weil er aus einer unbegreiflichen Hemmung weder gegen Zustän¬ de, an die er gewöhnt ist, noch gegen die Autorität, welche selbst infernalische Zustände legali¬ siert, loszuschlagen willens und in der Lage ist.19

Das Woyzeck-,Drama stelle folgerichtig eine Provokation dar, die darauf abziele, den in der Fiktion ausgebliebenen Widerstand gegen eine barbarische Tyrannei in der politi¬ schen Wirklichkeit nachzuholen. Am Ende seines durchwegs vom Leitmotiv der „Entnazifizierung“ getragenen um¬ fangreichen Essays unternimmt Edschmid den bemerkenswerten Versuch, Büchner gemeinsam mit Heine als jedem Nationalismus abholdes europäisches Ereignis darzu¬ stellen. Wer immer dieses antinationalistische Europäertum verrate, den trifft Edschmids Bannstrahl. Selbst Ludwig Büchner, der Bruder des Dichters, bleibt davon nicht verschont, weil er ein deutsches Denkmal für den „von französischem Jahrgeld lebenden und von französischer Frivolität angesteckten Heine“ abgelehnt und so den von Frankreich und seiner Revolution inspirierten Geist des toten Bruders „in den Staub“ geworfen habe.20 Edschmids umfangreicher Büchner-Essay bildet die Einleitung zu einer von ihm besorgten Werkausgabe, die - infolge der politisch und wirtschaftlich tristen Nach¬ kriegssituation - erst mit erheblicher Verzögerung 1948 im Münchner Verlag Kurt Desch erscheinen konnte. Der Essay ist das Ergebnis gründlicher historischer Recher¬ chen, die sich nicht nur auf Büchners Leben und Werk beschränkten, sondern insbe¬ sondere auch das Wirken Friedrich Ludwig Weidigs und dessen Umkreis miteinbezogen. Noch fast zwei Jahrzehnte später, 1965, zu Edschmids 75. Geburtstag, sollte Carl Zuckmayer, der Büchnerpreisträger des Jahres 1929, in Erinnening rufen, „daß es kaum eine bessere und aufschlußreichere Biographie Georg Büchners“ gebe als Edschmids Einleitung zu dieser Werkausgabe.21 Neben Edschmid ist es in Deutschland vor allem der erst 1952 aus dem amerikani¬ schen Exil zurückgekehrte Wilhelm Herzog, der die Kontinuität der Büchner-Rezep¬ tion seit dem Expressionismus verbürgt. Schon 1910 hatte er in dem sozialdemokrati¬ schen Berliner Wochenblatt „Das freie Volk“ den damals in weiten Kreisen noch immer kaum bekannten Vormärzdichter, der off mit seinem im 19. Jahrhundert po¬ puläreren Bruder Ludwig Büchner, dem Verfasser von Kraft und Stoff, verwechselt wor¬ den war, der literarischen Öffentlichkeit als revolutionären „Propagandisten der Tat“ und als Verfasser des Hessischen Landboten, des „großartigsten politischen Pamphlets deutscher Sprache“, vorgestellt.22 Auch Herzog hat sich dann jahrzehntelang mit Büch¬ ner beschäftigt, und sein zu Beginn der fünfziger Jahre geschriebener Essay, der post¬ hum 1961 in dem mehrbändigen Sammelwerk Große Gestalten der Geschichte veröffent¬ licht wurde (Nr. 17), ist das Ergebnis gründlicher Vorarbeiten. Büchner wird als ein „in der Geschichte der Weltliteratur“ „einzigartiges Individuum“ gerühmt, als Dichter, Po¬ litiker, Philosoph, Naturwissenschaftler und Gesellschaftskritiker in einer Person, als „ein den Geist der bedeutendsten Denker des 19. Jahrhunderts vorwegnehmendes Ge¬ nie“ (S. 199). Die Reihe derer, die, ohne ihn zu kennen, in seinen Bahnen gedacht und

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1. „Als der Krieg zu Ende war“

gehandelt hätten, ist imponierend: Darwin, Schopenhauer und Nietzsche, Marx, En¬ gels und Lenin. Wie schon 1910 stellt Herzog auch diesmal wieder den Revolutionär ins Zentrum seiner Betrachtung, aber er läßt keinen Zweifel aufkommen, daß man den „Politiker Büchner nicht von dem Dramatiker trennen“ könne (S. 206). Herzogs Danfow-Analyse zeichnet sich dadurch aus, daß die politischen Ambivalenzen in diesem Revolutionsdrama nicht harmonisiert werden. Ohne Preisgabe seiner revolutionären Gesinnung habe Büchner in Danton, seiner Identifikationsfigur, den desillusionierten, zynischen und realistischen Revolutionsskeptiker dargestellt, der „gegen alle Freiheits¬ und Gerechtigkeitsphrasen“, wie sie Robespierre, „der Bolschewist des 18. Jahrhunderts“, von sich zu geben pflege, „mißtrauisch geworden“ sei (S. 208). Die Erschütterung sei¬ nes „Glaubens an eine höhere Entwicklung“ des Menschen habe Büchner im zentralen Motiv „absoluter“, „auswegloser Einsamkeit“ zum Ausdruck gebracht, das jedes seiner Werke durchziehe und das ihn selber nie verlassen habe. In diesem Leitmotiv sieht Herzog die philosophische Modernität Büchners begründet. Denn die allgegenwärtige, einen „wahrheitswütigen“ Realismus verratende und den Einblick ins Nichts gewähren¬ de „Atmosphäre des tragischen Alleinseins“ habe den hundert Jahre später, nach dem Zweiten Weltkrieg zur vieldiskutierten Philosophie ä la mode gewordenen Existentialis¬ mus vorweggenommen. Die politische Modernität Büchners begründet Herzog damit, daß sich im fortgeschrittenen 20. Jahrhundert Dantons Tod nicht mehr nur als Dramati¬ sierung der großen Französischen Revolution lesen lasse, sondern auch als geniale Pro¬ phetie der Russischen Revolution, der Machtkämpfe Stalins und seiner Schauprozesse. So präfiguriere der als Konterrevolutionär und Spion angeklagte und zum Tod verur¬ teilte Danton das Schicksal Trotzkijs oder Bucharins. Herzogs Danton-LzVxüxe nimmt vorweg, was dann später Manes Sperber in seiner Büchnerpreisrede ausführen (Nr. 73) und was Volker Braun, der Büchnerpreisträger des Jahres 2000, in seiner nicht nur im Titel Dantons Tod nachempfundenen Trilogie Lenins Tod (1968-1981) dramaturgisch in Szene setzen sollte (vgl. S. 99). Während Herzog für Leonce und Lena nur knapp fünf Zeilen erübrigen konnte, wid¬ mete er sich mit umso größerem Enthusiasmus dem Woyzeck als der Dramatisierung des Hessischen Landboten und dessen sozialrevolutionärer Devise: „Für die Armen gegen die Reichen“ (S. 209). Herzog preist den Woyzeck als größtes und modernstes Werk Büchners, das „in der Weltliteratur eine Sonderstellung“ einnehme, weil nie zuvor ein Dichter es gewagt habe, „einen so armen Teufel zum Helden einer Tragödie zu ma¬ chen“ - selbst Shakespeare nicht, den Büchner im Woyzeck, der erschütternden „Tragö¬ die der Armut, des hilflosen einsamen Menschen, des von der Umwelt Emiedrrgten und Gepeinigten“, übertroffen habe. Herzog erhebt den Woyzeck zum Paradigma des modernen Theaters, dem die „kühnsten Dramatrker des 20. Jahrhunderts wie Strindberg und Wedekind verpflichtet“ seien. Ohne den Woyzeck, habe ihm Wedekind ein¬ mal erklärt, wäre Frühlings Erwachen nicht entstanden (S. 210). Schließlich nimmt Her¬ zog auch noch das Verdienst in Anspruch, für die Titelrolle bei der Uraufführung des Woyzeck am 8. November 1913 im Münchner Residenztheater den großen Schauspreler Albert Steinrück gewonnen zu haben (S. 200).23 5t-

Im Gegensatz zum früheren Zeitraum zwischen 1875 und 1945, in dem sich zahlreiche österreichische Schriftsteller (wie Franzos, Hofmannsthal, Rilke, Csokor, Musil oder Polgar, um nur die wichtigsten zu nennen) mit Büchner befaßt hatten, wurde es nach 1945 in der wiedererstandenen Alpenrepublik merkwürdig still um ihn. Die Befreiung 17

A. „Der Büchner-Bazillus in unserer Literatur“

vom „Dritten Reich“ und dem Nationalsozialismus, als dessen „erstes Opfer“ sich Österreich mit Unterstützung der Alliierten produzieren durfte, ging kulturpolitisch mit einer „austriakischen Renaissance“ einher, die sich auf österreichische Traditionen besinnen und beschränken wollte - off unter demonstrativer Verabschiedung aus der mit Deutschland gemeinsamen Geschichte. Mit der Forcierung der „österreichischen“ nahm man bewußt auch eine Vernachlässigung der „reichsdeutschen“ Literatur in Kauf, der allenfalls die amerikanische oder andere europäische Literaturen vorgezogen wurden. Zudem war die konservative Legitimierung einer österreichischen Kontinuität durch den wieder heraufbeschworenen habsburgischen Mythos für die Rezeption eines aus Hessen stammenden, „vormarxistischen“ Dichterrevolutionärs nicht eben förder¬ lich. So verwundert es nicht, daß der einzig nennenswerte Beitrag aus dem unmittelba¬ ren Nachkriegsösterreich von Franz Theodor Csokor stammt, jenem Wiener Schrift¬ steller, der sich schon in den vorangegangenen Jahrzehnten große Verdienste um die literarische Büchner-Rezeption erworben hatte. Erinnert sei an sein frühes, expressioni¬ stisches Gedicht In memoriam Georg Büchner (1913), an die Woyzeck-Vollendung (1922), das Drama Gesellschaft der Menschenrechte (1927), die Danton-Inszenierung mit Karlheinz Martin auf der Berliner Volksbühne (1929) und an eine Reihe von Essays, in denen stets das Sozialrevolutionäre Engagement in den Vordergrund gerückt wurde.24 Dem tri¬ sten Schicksal der „Gesellschaft der Menschenrechte“ und des Hessischen Landhoten ist auch der Artikel gewidmet, den Csokor zum 110. Todestag Büchners sowohl in Öster¬ reich wie auch in New York veröffentlichte (Nr. 2). Sein Leitgedanke ist die Kontinuität deutscher Diktaturen vom 19. zum 20. Jahrhundert. Die absolutistische Restaurations¬ politik vor 1848 habe schon einen Vorgeschmack dessen vermittelt, was hundert Jahre später im „Dritten Reich“ folgen sollte. Die „peinlichen Parallelen“ seien evident: Verfolgung, Emigration, Verhaftung, barbarische Foltermethoden, die selbst vor Mord und Totschlag nicht zurückschreckten - Grund genug, daß man „Büchners hundert¬ sten Todestag 1937 in Hitler-Deutschland recht beklommen gefeiert“ habe (S. 139). Csokor hatte die Jahre nach dem „Anschluß“ Österreichs in Polen, Rumänien und Jugoslawien verbracht. Die gemeinsame Erfahrung der Emigration, die in dem Beitrag öfter angesprochen wird, hat Csokors wahlverwandte Affinität zu Büchner noch ver¬ tieft.

1.2

Die soziologische Büchner-Deutung Hans Mayers Ein Paradigmawechsel? Der Dichter jedoch, der Denker und Revolutionär Georg Büch¬ ner läßt sich nicht auffeilen. „Reine“ Dichtungsgeschichte muß vor ihm und der Vielspältigkeit seines Wesens und Wirkens ebenso versagen wie politische Vereinfachung, die bloß einen „Revolutionsdichter“ zu erblicken glaubt. (Hans Mayer: Georg Büchner und seine Zeit, 1946)

Als erster großer Beitrag zur Büchnerforschung nach dem Zweiten Weltkrieg gilt Hans Mayers 1935 im Exil (in Frankreich und in der Schweiz) begonnene und 1939 größten¬ teils abgeschlossene, aber erst 1946 veröffentlichte Monographie Georg Büchner und seine Zeit, die nicht nur in der Literaturwissenschaft, sondern auch in breiteren Kreisen der literarischen Öffentlichkeit großes Aufsehen erregte. Im erklärten Gegensatz zu den

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1. „Als der Krieg zu Ende war

herkömmlichen „unpolitischen“, das heißt geistesgeschichtlichen, psychologischen oder ästhetischen, werkimmanenten Darstellungen hatte sich Mayer für eine sozialhisto¬ risch-materialistische Betrachtungsweise entschieden, in der sich die „Sphären“ der Po¬ litik, der Naturwissenschaft, der Philosophie und der Dichtung wechselseitig durchdrin¬ gen und sich nur in „synthetischer Zusammenschau“ angemessen beurteilen lassen.25 Dem vielbeschworenen „Dualismus“ Büchners zwischen dem engagierten, Sozialrevolu¬ tionären Politiker einerseits und dem der Politik entsagenden Dichter, Wissenschaftler und Philosophen andererseits wird entschieden widersprochen. Büchners literarische, wissenschaftliche und philosophische Arbeiten stellten vielmehr einen „neuen Ver¬ such“ dar, die politisch nicht gelösten und (noch) nicht lösbaren Probleme mit anderen Mitteln zu bewältigen: „neues Wirken aus altem Geiste“.26 Mayer lehnt jedoch nicht nur alle „unpolitischen“ Deutungen Büchners ab, sondern ebenso auch jene Versuche, die in ihm nichts anderes als einen „Revolutionsdichter“ sehen wollen. Der Widerlegung solcher Fehlinterpretation dient besonders das zentrale Kapitel der Monographie, das Dantons Tod als „Drama der sterbenden Revolution“ deu¬ tet.27 Die von vielen Interpreten bevorzugte, methodisch prinzipiell fragwürdige Gleich¬ setzung von Autor und Titelfigur hält Mayer in einem einzigen, freilich wesentlichen Punkt für legitim, dort nämlich, wo Büchner seinen Danton aus der „Perspektive des Thermidor“ (Nr. 4, S. 144) urteilen und handeln lasse: aus der Einsicht, daß die Revo¬ lution wegen der ungelösten „Magenfrage“ zwangsläufig zum Scheitern verurteilt und der Sturz der Jakobiner, selbst Robespierres und St. Justs, die unermüdlich die Revo¬ lution vorantreiben wollen, unvermeidlich sei. Das Ende der Revolution werde - wie es der desillusionierte Verfasser des Hessischen Landboten und die Titelfigur seines Dramas voraussehen - einem unerbittlichen „Geschichtsmechanismus“ zufolge durch die Macht¬ ergreifung der „Revolutionsgewinnler“ besiegelt, einer neuen „Geldaristokratie“, die noch unsozialer sei als die alte Feudalaristokratie.28 Mayer interpretiert den Danton als „die Tragödie des Determinismus“, in der „politisches Pfandein des Menschen“ zum „hoffnungslosen Versuch“ verdammt sei, „gegen ein ,Muß‘ anzukämpfen“ (S. 148). Da sich im gescheiterten Revolutionär Danton der gescheiterte Revolutionär Büchner wie¬ dererkenne, lasse sich die dramatisch vermittelte Botschaft noch weiter generalisieren bis hin zur konterrevolutionär anmutenden, „einsam machenden Erkenntnis von Sinnhafligkeit und Möglichkeit der Revolution überhaupt“, „der Erkenntnis der Sinnlosig¬ keit aller Revolutionsprogramme“.29 Diese lähmende Skepsis spiegle sich im Phänomen der Langeweile, das auch die anderen Figuren Büchners charakterisiere: Lenz, bei dem es „den Zustand der Störung und Kontaktlosigkeit“, eine „Krankheit zum Tode“ offen¬ bare,30 oder die Adelsfiguren in Leonce und Lena, bei denen es die „Sinnlosigkeit und den Leerlauf einer todgeweihten, aussichtslosen Gesellschaft“ indiziere.31 Mayer versucht „Büchners gesamtes Denken, Fühlen und Schaffen“ aus einem ,„Ant¬ agonismus“ heraus zu begreifen, den er historisch unter die janusköpfige Epochen¬ signatur einer Zeitenwende stellt: einer „halben, irrgewordnen Zeit“ (Herwegh), einer „Übergangsperiode“ (Gutzkow), einem „Nicht mehr“ und „Noch nicht“ (Müsset). Der Vormärz wird als paradigmatische Epoche gesellschaftspolitischer „Umwälzungen und Übergänge“ beschrieben, als Epoche der „ehemaligen Stände und ungeborenen Klas¬ sen“.32 Büchner habe zwar scharfsichtig - wie kein anderer vor Karl Marx - „die klas¬ senmäßige Bedingtheit aller Politik erkannt“, „die Unvereinbarkeit der Interessen von Bourgeoisie und städtischer und ländlicher Elendsschicht“. Was er aber nicht sah und auch historisch noch nicht sehen konnte, war jene Klasse, die sich im weiteren Verlauf 19

A. „Der Büchner-Bazillus in unserer Literatur“

des 19. Jahrhunderts zur entscheidenden politischen Sprengkraft entwickeln sollte: das industrielle Proletariat.33 Aus dieser Unwissenheit erschließt Mayer jene Faktoren, die es Büchner noch nicht gestatteten, die fortschrittlichere Position des Kommunistischen Manifests einzunehmen: „seine Resignation, sein Determinismus und sein Mangel an historischem Denken“. Hier räche sich „die Unkenntnis von Hegels Dialektik - und die Unreife der gesellschaftlichen Umstände“. „Vom Fels des Atheismus aus“ habe Marx schon „ein Gelobtes Land“ erblickt, „Büchner dagegen nur das Grau in Grau hoffnungslosen Elends“.34 Was gegenüber dem jüngeren Marx noch als historische Un¬ reife zu bewerten sei, erweise sich jedoch gegenüber dem älteren Weidig bereits als un¬ endliche Überlegenheit in der Erkenntnis der „großen geschichtlichen Fragestellun¬ gen“.35 Während in der eher geistesgeschichtlich orientierten Literaturwissenschaft die Mo¬ nographie des „Soziologen Hans Mayer“ nur mit beträchtlichen Vorbehalten als poli¬ tisch-tendenziöser, vor der Kunst versagender „Feuilletonismus“ aufgenommen wur¬ de,36 gab es von Schriftstellern, insbesondere von jenen, die sich zum Marxismus bekannten, einhellige Zustimmung. Die erste dieser Besprechungen stammt von Ste¬ phan Hermlin (1947, Nr. 5), der damals mit Hans Mayer der Redaktion des Radio¬ senders Frankfurt/M. angehört hatte. Hermlin rühmt Mayers - glücklicherweise nun in einem hessischen Verlag (Limes, Wiesbaden) erschienene - Monographie als „erste erschöpfende Arbeit über den - nach Goethe - größten hessischen Dichter“ (S. 149). Dieses Lob wird mit der sich schon im Titel der Monographie ankündigenden Metho¬ de begründet, einer Darstellung „der Wechselwirkung von Individuum und Gesell¬ schaft, Literatur und Zeitgeschichte“ (S. 151), die es gewährleiste, „die im Urteil der Nachwelt schwankende Gestalt Georg Büchners aller zufälligen Willkür und Subjekti¬ vität zu entziehen“ (S. 149). Der Topos der Zeitenwende dient Hermlin nicht nur zur historisierenden Erklärung von Büchners Leben und Werk, sondern er erfährt überdies eine aktualisierende Horizontverschmelzung mit der gegenwärtigen Nachkriegszeit. Denn es handle sich ja bei Mayers Monographie um die „gründliche und fruchtbare Auseinandersetzung mit einer politisch-literarischen Epoche, deren Fragestellung sich in wesentlichen Punkten mit der unseren“ decke (S. 151). Für I. M. Lange (1948, Nr. 6), der seinerzeit noch in Franz Pfemferts expressionisti¬ scher ,Aktion“ mitgearbeitet hatte, stellt Büchner einen Modellfall der deutschen Lite¬ raturgeschichte des 19. Jahrhunderts dar, deren schon von Georg Lukäcs geforderte dia¬ lektisch-materialistische Neukonzeption erst nach der „grundsätzlichen“, durch den Zweiten Weltkrieg ausgelösten „Katastrophe des bisherigen Wertsystemes“ realisierbar erscheine (S. 152). Nach den Irrwegen der deutschen Literaturwissenschaft, die sowohl die Adepten Wilhelm Scherers (namentlich Erich Schmidt) durch ihre „großbürgerlich¬ imperialistischen“ Ideologisierungen als auch Wilhelm Dilthey durch das „Trugbild einer geisteswissenschaftlichen Strukturanalyse“ und schließlich die Psychoanalyse durch ihre unhistorische Verfahrensweise beschritten hätten, markiere Mayers Büchner-„Biographie“ den längst fälligen Paradigmawechsel. Hier werde endlich wieder „Literatur zur Geschichte“, der Dichter zum „historischen Faktor“, „das persönliche Schicksal, die individuelle Entwicklung“ zur „Signatur der Zeit“ (S. 153, 156). Mayers soziologische Methode eröffne den allen anderen Methoden verstellten Blick auf das „kleinbürgerli¬ che Klassenbewußtsein“ Büchners, der zwar noch nicht den historischen Weit- und Tiefblick von Marx besessen, aber sich doch bis zum radikalen Revolutionär aufge¬ schwungen habe, so daß er als „eines der so seltenen Exemplare eines deutschen politi-

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1. „Als der Krieg zu Ende war “

sehen Menschen“ angesehen werden könne, ja sogar als vorbildliche Verkörperung der „weltgeschichtlichen Berufung Deutschlands“ (S. 154). Von Büchner zieht Lange eine Entwicklungslinie zur Arbeiterbewegung und begründet diese Kontinuität mit der „Bedeutung des Dichters“, die „seiner Generation und der ihm unmittelbar folgenden so selbstverständlich“ gewesen sei, „daß sie Friedrich Engels [...] noch bei der einfachen Nennung des Namens voraussetzen konnte“ (S. 153). Die erstaunliche Tatsache, daß Büchner im riesigen Gesamtwerk von Marx und Engels nur einer einzigen, belanglosen und überdies fehlerhaften Erwähnung wert befunden wurde,37 hätte somit eine schlich¬ te, harmonisierende Erklärung gefunden, die allerdings später von Fritz J. Raddatz38 und Rolf Hochhuth (Nr. 94) durch eine wesentlich kritischere und plausiblere ersetzt werden sollte. Auch der Beitrag des in Ost-Berlin nach 1945 einflußreichen Literatur- und Thea¬ terkritikers Paul Rilla (1948, Nr. 7) wurde durch Hans Mayers Monographie angeregt. Den unmittelbaren Anstoß bildete jedoch eine anonym in der West-Berliner Zeitung „Der Kurier“ erschienene Rezension, die Mayers Verfahren, Büchners Leben und Werk in den Kontext der Vormärzepoche zu stellen, als untauglich abgelehnt und statt des¬ sen eine „unpolitische“ Interpretation Büchners „aus ihm selbst“ heraus mit folgender Begründung gefordert hatte: „Es heißt aber, den Emst einer solchen Existenz abzu¬ schwächen, wenn man ihr ein Koordinatensystem von Fortschritt und Reaktion über¬ wirft und sie daran, wenngleich zu ihrem Ruhme, mißt.“39 Rilla hat im ersten Teil seiner Gegenkritik die von dem anonymen Rezensenten postulierte „unverbindlich-un¬ politische“ Werkimmanenz mit souveräner, polemischer Meisterschaft als Symptom „bürgerlichen Abstiegs“ und „geistigen Verfalls“ entlarvt (S. 162).40 Im zweiten Teil resü¬ miert er die wichtigsten Thesen Mayers und geht in einem Punkt über sie hinaus, in¬ dem er - gestützt auf briefliche Äußerungen Büchners aus dem Straßburger Exil - dar¬ auf hinweist, daß der Dichter in allen seinen Werken an „der politischen Kategorie“ der „sozialen Veränderung“ festgehalten und so die „Tragödie des Determinismus“ einer „Selbstkorrektur“ unterzogen habe: „Büchners Dichtung, welche sich am Determinis¬ mus wundstößt, stößt zugleich an eine Erkenntnis, die den Determinismus sprengt.“ (S. 163) Diese These illustriert Rilla dann an dem im Wayzeck dramatisierten „System sozialer Abhängigkeiten“ - unter Berufung auf die schon erwähnte Berliner WoyzeckInszenierung Wolfgang Langhoffs (vgl. Nr. 8). Der Politiker, der Mediziner und der Dichter Büchner agierten hier gewissermaßen in enger Solidarität. Der Politiker erken¬ ne die „soziale Gebundenheit“ aller Figuren, der Mediziner diagnostiziere „die Patholo¬ gie des Falles“, und der Dichter artikuliere „das Unartikulierte“, mache „die Stummheit beredt“. Im Genre der sozialen Tragödie, im „Widerstand, welcher überwunden wer¬ den“ müsse, manifestiere sich Büchners Protest gegen den eigenen fatalistischen Glau¬ ben an den Determinismus (S. 164 £).

21

A. „Der Büchner-Bazillus in unserer Literatur“

1.3

Erzählende und dramatische Texte Wer von ihm erzählt, dem ist es Pflicht, mehr zu berichten, als die Geschichte eines einzelnen Menschen. (Karl Emil Franzos, 1880)

Bald nach Kriegsende erschienen die ersten erzählenden Texte über Büchner. Den Anfang machte Georg W. Pijet, der bis 1933 dem Vorstand des Bundes proletarischrevolutionärer Schriftsteller (BPRS) angehört und sich dann dem Widerstandskampf gegen Hitlerdeutschland angeschlossen hatte. Nach Kriegsende war er in die Feuille¬ tonredaktion des kommunistischen Zentralorgans „Neues Deutschland“ eingetreten. 1947 publizierte der Berliner Chronos Verlag einen Band, der Büchners Gwz-Novelle und, vorangestellt, Pijets „Erzählung“ Ein Komet stürzt ins Dunkel enthält (Nr. 10). Der Titel knüpft an die Metapher des „Leitsterns“ an, die Georg Herwegh in seinem be¬ rühmten Gedicht Zum Andenken an Georg Büchner, den Verfasser von Dantons Tod (1841) geprägt und die seither etliche Variationen, meist als „Meteor“ oder „Komet“, erfahren hatte: „Ein Komet stieg vor über hundert Jahren über Deutschland auf“, so leitet Pijet seine Vorbemerkung ein, „und stürzte nach kurzem Flug still und einsam in das Dun¬ kel seiner Nacht zurück. Dreiundzwanzig Jahre lang durchpflügte sein Herz Deutsch¬ lands Nacht und entfesselte in den letzten fünf Jahren seines geistigen Wirkens ein neues Sehen und Ahnen in den müden deutschen Hirnen.“41 Was Pijet im LIntertitel als eine „Erzählung“ ankündigt, entpuppt sich - wie er selber erläutert - als eine Reihe „einzelner“, „dichterisch durchgearbeiteter Novellen“, denen die „wichtigsten und dramatischsten Ereignisse“ in Büchners „Lebensablauf' zugrunde gelegt werden.42 Es handelt sich somit um die Konzeption eines kleinen Novellen¬ romans, der in sechs jeweils möglichst abgemndeten Einzeltexten stationenartig das aufregendste, 21. Lebensjahr Büchners, von der „Badenburger Verschwörung“ (3. Juli 1834) über die stürmischen Versammlungen in der „Gesellschaft der Menschenrechte“ und die Abfassung von Dantons Tod bis zur Flucht aus Darmstadt (5./6. März 1835), nachzuerzählen sucht. Der Text ist mit zahlreichen, teils fingierten, teils authentischen, meist aus Dantons Tod, aber auch aus Büchners Briefen und anderen historischen Quel¬ len entlehnten Zitaten durchsetzt. Pijets Held, der mit dem von ihm permanent zitier¬ ten Danton gleichgesetzt wird, verkörpert trotz aller Skepsis im Hinblick auf das Ge¬ lingen der Revolution und trotz aller Todesgewißheit die Idee unsterblicher Freiheit: „Wenn einmal die Geschichte ihre Grüfte öffnet, kann der Despotismus noch immer an dem Duft unserer Leichen ersticken [...]. Die Freiheit aber kommt auch in den Gräbern nicht um!“ (S. 173) Der zentralen Freiheitsidee fällt selbst die Authentizität des Zitats zum Opfer. Wo Büchners Danton in der Conciergerie seinen Freunden ver¬ sichert, daß - selbst wenn er „ganz zerfiele“, sich „ganz auflöste.“ und nur mehr „eine Handvoll gemarterten Staubes“ wäre - jedes seiner „Atome“ „nur Ruhe finden“ könnte bei Julie (B 119), deklamiert Pijets Büchner: „jedes meiner Atome könnte nur Ruhe fin¬ den bei der Freiheit“ (S. 172, Hervorhebung, D. G.). „Danton ist tot. Es lebe Danton!“ ruft er in die Stille der Nacht hinaus, als er die Niederschrift seines Revolutionsdramas beendet hat.43 „Georg Büchner ist tot. Es lebe Georg Büchner!“44 - lautet der parallele Schlußsatz der Vorbemerkung zu dem Novellenroman, mit dem der Verfasser nach der Weltkriegskatastrophe dem deutschen und europäischen Freiheitskämpfer aus dem Vormärz ein hoffnungsvolles Denkmal setzen wrollte. Während Pijet in der Erzähl-

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1. „Als der Krieg zu Ende war “

Aktion Dantons Tod in den Vordergrund stellt, ist es in der Vorbemerkung die WoyzeckTragödie, der sein Hauptaugenmerk gilt. Bevor Marx die neue Klassenerscheinung des Proletariers wissenschaftlich näher definiert habe, sei diese bereits - dank Büchners scharfsinnigem Einblick in alle politischen, wirtschaftlichen und sozialen Vorgänge sei¬ ner Zeit - plastische, dramatische Figur geworden. Auf dieses „unsterbliche“ literarische Verdienst gründet Pijet die „humanistische Wieder-“ und „demokratische Neugeburt“ Deutschlands nach 1945 und reiht sie in eine historische Tradition mit den Freiheits¬ stationen 1848 und 1918 ein.45 Dantons Tod und die Frage, welche Autorintention mit dem Revolutionsdrama ver¬ bunden sei, bilden auch das Zentrum der Erzählung Das Todesurteil\ die 1947 der späte¬ re Darmstädter Oberbürgermeister Heinz-Winfried Sabais veröffentlichte (Nr. 14). In Dantons Tod, so schildert es die Erzählung, manifestiere sich die „Revolution“, „die ungestüme Liebe zur Freiheit“ als „glühender Kern“ von Büchners „ganzem Dasein“ und als „sein erster Lebenszweck“. Was die Sympathievergabe des Dramatikers zu sei¬ nen Figuren, den Kontrahenten Danton und Robespierre, anbelangt, nimmt Sabais einen anderen Standpunkt als Pijet ein. Nicht Danton, sondern Robespierre gelte dem Dichterrevolutionär als Vorbild und „Held“ seines Dramas; ihm, dem „Unbestech¬ lichen“ als seinem Sprachrohr, „Geist von seinem eigensten Geiste“, habe er die kom¬ promißlosen Worte in den Mund gelegt: „Keinen Waffenstillstand, keinen Vertrag mit den Menschen, die nur auf die Ausplündemng des Volkes bedacht sind!“ In Robes¬ pierre läßt Sabais seinen Büchner das „Gewissen der großen Revolution“ erblicken, „das alle Dantons unbarmherzig schlug, die sich in den noch warmen Prunkbetten guil¬ lotinierter Aristokraten breitmachten und mit beiden Vorderpfoten in die volle Krippe plantschten“. Im „Namen der Tugend“ lautet daher das konsequente Urteil: „Danton mußte fallen!“ (S. 189) Dieses Selbstgespräch führt in Sabais’ Erzählung der Emigrant Büchner am Neu¬ jahrstag 1837, als er in Zürich von seinem Vater einen Brief erhalten hat, den ersten nach seiner fast zwei Jahre zurückliegenden Flucht aus dem Darmstädter Elternhaus. Der Vater erklärt seine Bereitschaft, dem „verlorenen Sohn“ das „Rebellentum des ,Hessischen Landboten1 und die fixe Idee des Dramenschreibens“ großmütig zu verzei¬ hen, weil der Sohn nach seinen knabenhaften Verirrungen nun ein „ruhiger Gelehrter“ zu werden verspreche. Aber dem jungen Zoologie-Dozenten fällt es bei der Lektüre die¬ ses Versöhnungsbriefes plötzlich wie Schuppen von den Augen, daß er als angehender Universitätsprofessor nun selber auf dem Wege sei, sich wie Danton zum bourgeoisen, saturierten Renegaten „herauszumausem“. Das aber hieße Verrat an seinem eigenen Revolutionsdrama zu üben. Das drakonische Urteil, das der vermeintliche Konterrevo¬ lutionär über sich fällt, spielt auf den selbstmörderischen Widerstand der Lucile an, die am Ende des Dramas mit dem Ausruf „Es lebe der König!“ ihre Festnahme und Hin¬ richtung „im Namen der Republik“ provoziert (B 133). In der Eiseskälte des Zürcher Neujahrsabends tritt Sabais’ Büchner ans offene Fenster heran: „Im Namen der Freiheit!“ sagte er, und der helle Spott zuckte ihm um den Mund, als er fort¬ fuhr: „Bürger Georg Büchner, hoffnungsvoller Professor der Zoologie in spe, du wirst für schuldig befunden des geheimen Einverständnisses mit der Tyrannenmacht. Dein Leben ver¬ fällt dem Tode. Es lebe die Revolution!“ Drüben über dem See erglühte in diesem Augenblick das Glämischmassiv in feuriger Abendröte. Seine schneeigen Felshäupter ragten in die rote Uferlosigkeit des Himmels. (S. 189)

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A. „Der Büchner-Bazillus in unserer Literatur“

Unmittelbar darauf unterzeichnet der Oberamtsarzt der Stadt Zürich den Totenschein: „Georg Büchner, Dozent an der Universität zu Zürich, 23jährig, einer Gehirnentzün¬ dung erlegen“. Daran knüpft der Erzähler den - in der Diktion wiederum an Herweghs vielzitiertes Gedicht gemahnenden - resignativ wirkenden Schluß, „daß mit diesem jungen Poeten eine ganze Revolution ungeboren in ihr Grab gesunken war und daß der dargereichte Siegeslorbeer in der Hand der Freiheitsgöttin verwelken mußte, weil er keine würdige Stirn fand, die sich mit ihm krönen durfte“ (S. 190). Zum Unterschied von Pijet und Sabais, die sich in ihren Prosatexten auf Teilaus¬ schnitte aus Büchners Leben beschränken, versucht der Dessauer Pädagoge Franz Bauer in seiner wesentlich umfänglicheren „biographischen Erzählung“ Georg Büchner (1949, Nr. 16), ein Gesamtporträt des Dichters und Politikers zu präsentieren. In zwölf Kapi¬ teln ziehen die letzten und entscheidenden drei Lebensjahre Büchners vorüber. Die Schildemng hält sich eng an die historischen Fakten. Ein Großteil des Textes besteht aus Zitaten, die Büchners Briefen und Werken wie auch den von Friedrich Noellner gesammelten Prozeßakten entstammen. Dem Hessischen Landboten und den vier Dich¬ tungen sind jeweils ein Kapitel gewidmet. Die anderen sieben Kapitel behandeln aus¬ führlicher Büchners Wanderung von Gießen nach Offenbach in der Nacht nach der Verhaftung Minnigerodes, die Flucht nach Straßburg, das Verhör August Beckers durch den Untersuchungsrichter Georgi, die Reise in die Schweiz und die letzten Lebenstage Büchners in Zürich und Weidigs im Darmstädter Gefängnis. Was den im allgemeinen eher spärlichen Erzählerkommentar zu Büchners Dichtungen anbelangt, ist abermals vor allem jener zu Dantons Tod bezeichnend, der keinen Zweifel aufkommen läßt, daß Dantons Hinrichtung zu Recht erfolge, „weil er die Revolution verraten“ habe, „sich auf den Lorbeeren seiner Erfolge“ ausruhe und „ein luxuriöses Leben“ führe.46 „Das politische Recht“ sei „auf der Seite Robespierres, St. Justs und des Wohl¬ fahrtsausschusses“.47 Das Sozialrevolutionäre Engagement Büchners legt Bauer auch dem Lustspiel Leonce und Lena zugrunde, das wie der Hessische Landbote einzig aus „Haß“ gegen die „verfaulende“ Feudalaristokratie geboren worden sei.48 Folgerichtig wer¬ den aus dem „politischen Stück“ ausschließlich die sozialkritischen Passagen zitiert. Im letzten, Februar 1837 überschriebenen Kapitel von Bauers Erzählung wechselt die Szene permanent zwischen der Darmstädter Gefängniszelle Weidigs und dem Züricher Krankenlager Büchners. Die Beziehung der beiden Todgeweihten zur realen Außenwelt wird immer stärker von Fiebervisionen überdeckt. Weidig träumt vom geeinten deut¬ schen Kaiserreich, Büchner von seinen literarischen Figuren Danton, Lenz und Woyzeck, mit denen er sich abwechselnd identifiziert. Alle Gesichte Weidigs und Büchners verwandeln sich schließlich in die höhnische Fratze des sadistischen Univer¬ sitätsrichters Georgi als der „Verkörperung des teuflischen Systems“ schlechthin, „das den Geist der Freiheit in Deutschland ausrotten will“ (S. 193). Mit dem fast zur glei¬ chen Zeit eintretenden Tod der beiden Revolutionäre „verlöscht die große, reine Flam¬ me, die über dem dunklen Deutschland der Reaktion gebrannt hat“ (S. 198). Auch hier ist die historische Horizontverschmelzung mit dem nationalsozialistischen Inferno evi¬ dent: „Der Februarwind heult durch das zerrissene Deutschland, das für seine aufrech¬ ten Söhne nur Gefängnis, Verbannung und Tod kennt.“ (S. 194) Aber die Freiheits¬ bewegung lebt weiter: „Elf Jahre später jagt der Geist des .Hessischen Landboten“ als Märzsturm durch das Land und bläst scharf in die vermotteten Hermeline.“ (S. 198) So lautet der Schlußsatz der Erzählung, der auch die Befreiung von der zwölf Jahre währenden Hitlerdiktatur miteinschließt.

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1. „Als der Krieg zu Ende war

Den bislang bedeutendsten und umfangreichsten Büchner-Roman hat Kasimir Edschmid geschrieben (Nr. 18). Die erste Ausgabe erschien 1950 unter dem Titel Wenn es Rosen sind, werden sie blühen.49 In siebzehn Kapiteln wird die hessische Revolutionsbewegung der beiden Jahrzehnte von 1819 bis 1837 aus der wechselnden Perspektive von neun Ich-Erzählern geschildert. Im Brennpunkt der Ereignisse steht freilich nicht Büchner, sondern Weidig, dem insgesamt elf Kapitel gewidmet sind. Insofern erscheint auch der Titel der Neuausgabe des Romans von 1966, Georg Büchner. Eine deutsche Revo¬ lution,^ inhaldich nicht ganz gerechtfertigt, wenngleich aus verlagsökonomischen Inter¬ essen durchaus verständlich. Der nunmehr allbekannte Dichterrevolutionär sollte als Titelfigur offenbar auch einen entsprechenden Verkaufserfolg des Romans garantieren. Edschmids Erzählverfahren gewährleistet mit dem ständigen Wechsel des Standorts ein ausgewogenes Verhältnis von historischer Treue und dichterischer Freiheit. Das nahezu vollständig erschlossene Quellenmaterial bildet den Erzählrahmen, dessen historische Freiräume mit erfundenen Gesprächen der Figuren und mit Reflexionen und Kommentaren der verschiedenen Ich-Erzähler aufgefüllt werden. Angesichts der konfliktreichen Brisanz der politischen Ereignisse soll die polyperspektivische Erzähl¬ technik ein Höchstmaß an Objektivität vermitteln und dem Lesepublikum eine selb¬ ständige und somit auch demokratische Urteilsbildung ermöglichen, die sich nicht im Nachvollzug einer monopolisierenden Autorintention erschöpft. Das dargebotene Büch¬ ner-Bild bleibt nach allen Seiten hin offen. Je nach Standort des jeweiligen Erzählers erscheint Büchner als dialektisch-materialistischer Sozialrevolutionär oder idealistischer Metaphysiker, als bürgerlich etablierter Naturwissenschaftler oder frei schwebender moderner Poet, als optimistischer Utopist oder skeptischer Pessimist. Die politische Auseinandersetzung zwischen Büchner und Weidig wird ähnlich dif¬ ferenziert wie in Hans Mayers Monographie dargestellt. Der theoretischen Überlegen¬ heit Büchners in der Analyse der sozialen Misere und ihrer Ursachen kontrastiert die strategische Überlegenheit Weidigs im politischen Handeln. Während Büchner „die Parole von der materiellen Not“ der Volksmasse „an die Spitze aller Forderungen der Revolution“ setzt (S. 217), bleibt Weidig seinem Leitmotiv der „Freiheit“ treu, welche die unverzichtbare Voraussetzung einer „gerechten“ Revolution bilden müsse: „Die Freiheit vor allem - und dann die Umordnung der Gesellschaft, nicht umgekehrt, sonst ging die Freiheit bei dem Betrieb verloren.“51 Welches der richtige politische Weg sei, wird nicht verbindlich entschieden. Die vieldimensionale Erzählweise widersteht auch in dieser elementaren politischen Auseinandersetzung einem auktorialen, allwissenden Erzählerkommentar und überläßt die Urteilsfindung dem mündigen Leser. Auch die zweite, aus der Konfrontation der beiden Revolutionäre hervorgehende Frage, ob im Widerstandskampf gegen die Tyrannenherrschaff eher der daheim ausharrende Mär¬ tyrer oder der Exilant als Vorbild anzusehen sei, erhält keine definitive Antwort. Die Informationsvergabe des Romans scheint über weite Strecken auf eine Parteinahme für den standhaften, opferbereiten Weidig abzuzielen, der kurz vor seiner Verhaftung sogar eine ihn rettende Dozentur in der Schweiz abgelehnt hatte.52 Andererseits wird man der illusionslosen Argumentation von Edschmids Büchner nur schwerlich widerspre¬ chen können, der nach dem durchaus selbstkritischen Eingeständnis, für „Opferung und Märtyrertum“ „keine Bereitschaft“ aufbringen zu können, erklärt: „So sehr es mir Achtung einflößte, daß Weidig den Landboten wieder herausgab, so töricht fand ich seine Absicht, ins Verderben hineinzurennen, und ich konnte den Verdacht nicht los¬ werden, als wolle er das Martyrium.“ (S. 220) Diesen Standpunkt teilten jedenfalls jene 25

A. „Der Büchner-Bazillus in unserer Literatur“

Leser des Romans, die - wie ja auch der Autor selber - das „Dritte Reich“ im Exil über¬ lebt hatten.53 Die dominante Thematisierung des Exils und des Widerstands gegen ein Terror¬ regime erklärt hinreichend die rezeptionshistorische Tatsache, daß Edschmids Roman vom zeitgenössischen Publikum nicht nur als Darstellung einer weiter zurückliegenden Epoche des 19. Jahrhunderts, sondern auch als Versuch unmittelbarer Vergangenheits¬ bewältigung gelesen wurde. „Verfolgung, Exil und Resistance, Flucht und Folter, politi¬ sche Justiz und Geheimpolizei: Mächte und Schicksale, die auch unser Jahrhundert prägen sollten, erscheinen bereits auf der Bühne des kleinen, zurückgebliebenen Feudalstaates der Ära Metternich.“54 Nach der Hitlerdiktatur wurde der Roman als Beispiel dafür gefeiert, daß Deutschland auf eine lange „Widerstandstradition“ zurück¬ blicken könne und daß „der Funke der Empörung gegen Tyrannei und Obskuran¬ tismus stets in den Herzen mutiger Einzelgänger glühte“.55 Gegen solch allzu optimi¬ stische Lesart gab es jedoch auch berechtigte Einwände, die auf die Kehrseite der historischen Medaille verwiesen. Denn am Ende des Romans überleben ja nicht die Vertreter der Resistance, sondern die kriminellen Werkzeuge des staatlichen Terrors vom Schlage eines Georgi und seiner Handlanger. Sie gehen aus der hessischen Ver¬ schwörung als Sieger hervor, und ihresgleichen sollten auch im weiteren Verlauf der deutschen Geschichte jede Revolutionsbewegung schon im Keim ersticken. Obwohl ein am 9. Mai 1843 von der Medizinischen Fakultät der Universität Zürich erstelltes Gutachten die Möglichkeit nicht ausschloß, daß Weidig im Darmstädter Gefängnis einem bestialischen Mord zum Opfer gefallen sei, wurde der verantwortliche Unter¬ suchungsrichter Georgi mangels Beweisen freigesprochen und wenige Jahre später, am 13. März 1838, sogar mit dem Ritterkreuz Erster Klasse des Großherzoglich Hessischen Ludwigsordens ausgezeichnet. In Anbetracht dieses zynischen Schlußpunkts unter die vormärzlichen Revolutionsbewegungen in Hessen wirkt die Lesart Rudolf Alexander Schröders plausibler, der aus Goethes Epigramm Kommt Zeit, kommt Rat (1815) nicht den zweiten, sondern den ersten Vers als eigentlichen, skeptischen Untertitel und Schlüssel für Edschmids Roman herangezogen hat: „Hier hilft nun weiter kein Bemiihn! / Sind Rosen, und sie werden blühn“.ib Die Romanfiktion bietet explizit zwei andere Deutungen des floralen Titels an. Die erste stammt vom nicht unsympathisch gezeich¬ neten hessischen Großherzog Ludwig II., der auf ein gerechtes Gerichtsurteil im Prozeß gegen die Verschwörer hofft: „Hoffentlich tun wir das Rechte. Se son rose, fioriranno ...“.57 Die andere Deutung ist in einem der letzten Worte des sterbenden Büchner ent¬ halten und dürfte mehr Gewicht beanspruchen. Als Caroline Schulz die Hoffnung äußert, daß das Aretino-Drama abgeschlossen sei, antwortet Büchner spöttisch: ,Ja, fer¬ tig. [...]. Der Woyzeck auch und der Aretino. [...]. Se son rose, fioriranno ...“. Wenn¬ gleich dem Sterbenden, wie Caroline Schulz berichtet, bei diesen Worten „ein unbe¬ schreiblich trostloser Ausdruck in seine grauen Augen“ trat,58 hat sich die Prophetie doch in gewisserWeise bewahrheitet. Weniger sein politisches Wirken als sein dichteri¬ sches Schaffen hat den Frühverstorbenen überlebt. Der Pietro Aretino blieb zwar ver¬ schollen, aber der Woyzeck hat die bescheidene Erwartung des italienischen Sprichwor¬ tes nicht nur erfüllt, sondern weit übertroffen. Das einzige Drama, das in den Nachkriegsjahren über Büchner geschrieben wurde, stammt von Günter Felkel und trägt den Titel Unsterbliche Flamme (1948, Nr. 13). Die abstmsen turbulenten Ereignisse, die sich hier in Büchners letzten Stunden abspielen, 26

2. „Kalter Krieg“, Stalinismus, Restauration und Wirtschaftswunder

sind frei erfunden. Umsorgt von seiner Braut Minna liegt der Sterbende in seinem Züricher Arbeitszimmer, empfängt aber noch die Besuche Weidigs und Stephan Hal¬ lers, hinter dem sich als historisches Vorbild der Verräter Johann Conrad Kühl verbirgt. Haller motiviert sein Spitzeltum mit dem Haß des elenden, notleidenden Proletariers gegen den erfolgreichen, wohlsituierten Bürger Büchner. Dieser hat ein Angebot zur Rückkehr als Professor an die Gießener Universität erhalten, lehnt es jedoch ab, weil er zu keinem Arrangement mit der Tyrannenherrschaff des hessischen Großherzogs bereit ist. Sein literarisches und wissenschaftliches Werk erscheint dem Todgeweihten wertlos. Nur der unverkennbar ins nächste Jahrhundert projizierte Zukunftstraum einer sich grenzenlos ausbreitenden Weltrevolution beseelt den Sterbenden, dessen letzte Worte eine Zeit prophezeien, da das Volk aufsteht und seine Peiniger abschüttelt. - Der Same ist gesät, - er wird aufgehen! Diese Revolution wird die Menschen gleich machen. Die Willkür wird sie aus dem Sattel wer¬ fen und die Gerechtigkeit aufpflanzen. Und keine Grenze wird sie aufzuhalten vermögen. Die hessische nicht, die französische nicht, die amerikanische nicht; die russische nicht, die engli¬ sche und die deutsche nicht. Diese Revolution wird aufsteigen wie ein Brand und die Welt umziehen. Und die Völker werden auf ihre Fahnen schreiben: Friede den Hütten - Krieg den Palästen!59

Mit dieser zukunftsoptimistischen politischen Prophetie findet der Titel von Felkels Unsterblicher Flamme seine angemessene Erklärung. Das Drama erlebte im Herbst 1948 am Stadttheater Freiberg an der Saale unter der Regie Richard Schräders eine erstaunli¬ che, auch von der Kritik gelobte Uraufführung.60 Die optimistische Vorhersage, daß „diesem Stück eine Zukunft auf dem deutschen Theater“ beschieden sei,61 hat sich frei¬ lich nicht erfüllt. Weitere Aufführungen der Unsterblichen Flamme sind unbekannt.

2.

„Kalter Krieg“, Stalinismus, Restauration und Wirtschaftswunder Die 50er Jahre Die Geburt zwischen den Schlachten ist das Symbol seines Le¬ bens. Es war so kurz wie die Pause und spiegelte den Übergang von einem Abschnitt zu einem anderen Abschnitt des Kampfes. (Heinz Kamnitzer, 1953, Nr. 23)

Nach dem Krieg war Deutschland von den Siegermächten in vier Besatzungszonen auf¬ geteilt worden, von denen sich die drei westlichen (die amerikanische, die englische und die französische) - in Abgrenzung von der sowjetischen - sukzessive wirtschaftlich und politisch zusammenschlossen. Mit der 1948 in den Westzonen durchgeführten Währungsreform war die Ost-West-Teilung Deutschlands faktisch besiegelt und auch durch die daraufhin von der Sowjetunion über West-Berlin verhängte Blockade, die dank der Solidarität der westlichen Alliierten entschärft und schließlich im Mai 1949 wieder aufgehoben wurde, nicht mehr aufzuhalten. Am 23. Mai 1949 wurde mit der Verabschiedung des „Bonner Grundgesetzes“ die Bundesrepublik Deutschland gegrün¬ det, am 7. Oktober folgte die Proklamation der Deutschen Demokratischen Republik. Die Teilung Deutschlands blieb in den nächsten Jahrzehnten auch das Hauptthema der politischen Büchner-Rezeption, die „hüben und drüben“ zahlreiche Kontroversen entfachte. 27

A. „Der Büchner-Bazillus in unserer Literatur“

2.1

Der „sozialistische Realismus “ Georg Lukäcs und die „ Wunde Danton “ im Osten Denn Büchner, das weiß bei uns jedes Schulkind, ist der literari¬ sche Vorfahr von so ziemlich der Hälfte aller in der DDR leben¬ den und schreibenden Schriftsteller. Jeder nimmt ihn auf seine Weise in Anspruch. Ohne ihn wäre Brecht nicht denkbar. (Erik Neutsch, 1975, Nr. 77)

Angesichts dieses panegyrischen Mottos ist es einigermaßen erstaunlich, daß die Rezeption des vormärzlichen Dichterrevolutionärs in der DDR ein ziemlich problema¬ tisches Kapitel darstellt, das erst in den 80er Jahren kritisch aufgearbeitet werden sollte. Schon die Titel zweier repräsentativer Studien verweisen auf die Schwierigkeiten, die sich einer systemkonformen Vereinnahmung Büchners im „ersten deutschen Arbeiterund-Bauern-Staat“ entgegenstellten: Der beiseitegelobte Georg Büchner in der DDRb2 oder „Sein Werk in unseren Händen“der letztere Titel ist ein euphemistisches Zitat des Schriftstellers und Regisseurs Kuba, der 1962 mit seiner Rostocker D^toiz-Inszenierung ein drastisches Exempel statuierte, wie ein allen Ideologien widerstrebendes Werk einem dogmatischen Marxismus gefügig gemacht werden sollte. Mit der Konstituierung der Deutschen Demokratischen Republik wurde das kulturpo¬ litische Programm eines „sozialistischen Realismus“ dekretiert. Die literaturtheoretische Grundlage lieferte Georg Lukäcs, der in den folgenden Jahren eine „Monopolstellung“ auf diesem Sektor einnehmen sollte.64 Die Begriffsbestimmung des „sozialistischen Rea¬ lismus“ orientierte sich geschichtsphilosophisch an Hegel, ästhetisch an den Normen der Klassik und des bürgerlichen Realismus. Daraus ergaben sich auch Konsequenzen für die Büchner-Rezeption im neugegründeten „Arbeiter-und-Bauern-Staat“. Eine der maßgeblichen Aufsatzsammlungen von Lukäcs (Deutsche Realisten des 19. Jahrhunderts, 1951) enthielt in unverändertem Wortlaut jene Studie, die bereits 1937 in der Mos¬ kauer Monatsschrift „Das Wort“, „einer Kampfzeitschrift der deutschen politischen Emigration“,65 unter dem bezeichnenden Titel Der faschisierte und der wirkliche Georg Büchner erschienen war.66 Der Aufsatz war hauptsächlich darauf angelegt, die im „Drit¬ ten Reich“ verbreitete Legende zu zerstören, daß Büchner in Dantons Tod seine eigene Enttäuschung an der Revolution gestaltet“ habe. Als Gegenargument hatte Lukäcs die „Antinomie“ Büchners ins Treffen geführt, der sich moralphilosophisch zwar mit dem individualistischen, „epikuräischen Materialismus“ Dantons, politisch jedoch mit dem „demokratisch-plebejischen“, „rousseauischen Idealismus“ Robespierres und St. Justs identifiziert habe. Trotz aller überzogenen und - namentlich gegen Karl Vietor67 auch ungerechten Polemik hatte dieser marxistische Exilessay angesichts der damals in Deutschland grassierenden geistesgeschichtlichen Mystifizierung und völkisch-nationa¬ len Vereinnahmung Büchners einen wesentlichen, auf politischen, sozialhistorischen und literaturtheoretischen Argumenten basierenden Fortschritt dargestellt. Vierzehn Jahre später bedeutete jedoch die Dogmatisierung von Lukäcs’ antifaschistischer Exil¬ polemik einen fast ebensolchen Rückschritt, der symptomatisch ist für die stalinistische Erstarrung der offiziösen Politik, Kultur und Wissenschaft in der DDR der fünfziger Jahre. Die Büchner-Rezeption wurde in der „ersten deutschen Arbeiter-und-BauemRepublik“ freilich noch viel länger durch Lukäcs gesteuert. Sein Aufsatz von 1937 sollte sich nahezu ein halbes Jahrhundert lang als äußerst zählebiger orthodox-marxistischer „Ur- und Leittext“ erweisen, der Hans Mayers dialektisch-materialistische, aber ideolo28

2. „Kalter Krieg“, Stalinismus, Restauration und Wirtschaftswunder

gisch viel weniger doktrinierte Büchner-Monographie zusehends in den Hintergrund drängte.68 Mit jedem Zitat, ob aus seinen Briefen, seinen literarischen Werken oder aus seinem Sozialrevolutionären Manifest, dem Hessischen Landboten mit der populären Devise „Friede den Hütten! Krieg den Palästen!“, schien Büchner für die Aufnahme in den kulturpolitischen „Erbe“-Kanon der DDR geradezu prädestiniert zu sein. Einzig der Danton erwies sich gleichsam als offene, unheilbare „Wunde“ im systemkonformen Vereinnahmungsprozeß, nicht der Wqyzeck, auf den Heiner Müller in seiner Büchner¬ preisrede von 1985 diese bekannte, der kontroversen Rezeptionsgeschichte Heines ent¬ lehnte Metapher übertragen hat.69 Für Hans Mayer war es „kein Zufall“, daß die Büh¬ nen der DDR in den Nachkriegsjahren auf Inszenierungen von Dantons Tod verzichtet haben, im auffallenden Gegensatz zur Bundesrepublik, wo das Revolutionsdrama auf vielen großen Bühnen gespielt wurde - bis in die 60er Jahre übrigens wesentlich öfter als Woyzeck oder Leonce und Lena.10 Noch unmittelbar vor der Proklamation der DDR war eine erste Anregung zur Auf¬ führung des Danton von Brecht ausgegangen (1949, Nr. 15). Für die Regie konnte er sich Erich Engel vorstellen, der das Drama schon 1924 im Deutschen Theater Berlin inszeniert hatte. Ganz geheuer war ihm bei dem Projekt freilich nicht, erschien ihm doch Danton als höchst suspekte Figur, als Verräter der Revolution, der obendrein mit der Aristokratie konspiriert habe. Dieser Verrat rechtfertige den Terror gegen ihn, mein¬ te Brecht, einen „nötigen Terror“, „der dann auch Robespierre verschlingt“. Bei einer neuen Inszeniemng des Revolutionsdramas müßte daher die Textvorlage adaptiert, das heißt „ergänzt werden“ (S. 190), vor allem im Hinblick auf die Herausarbeitung der abstoßenden, konterrevolutionären Rolle Dantons. Das Projekt kam nicht zustande. Es sollte mehr als ein Jahrzehnt vergehen, bis im Jahre 1962 erstmals in der DDR eine marxistische Z)tf«to«-Inszenierung gewagt werden konnte. Vorher mußte allerdings noch von Schriftstellern und Literaturwissenschaftlem viel ideologische Überzeugungs¬ arbeit geleistet werden. Im Zentmm der essayistischen und wissenschaftlichen Darstellungen stand von An¬ fang an der Konflikt zwischen Danton und Robespierre. Die Bewertung der beiden Widersacher erfolgte nach dem von Lukäcs vorgegebenen Muster. Wo dessen Argu¬ mentation jedoch noch eine gewisse Differenzierung zugelassen hatte, was etwa Büch¬ ners zwischen Dantons moralischer und Robespierres politischer Überlegenheit schwan¬ kende Antinomie anbelangt, wurde nunmehr auf solche Relativierungen zusehends verzichtet. Die Aufwertung Robespierres ging Hand in Hand mit der Abwertung Dan¬ tons - unter Berufung auf den Dichter selber, dem „Parteilichkeit“ zugeschrieben wur¬ de. Die schlichtweg vorausgesetzte, vorbehaltlose Identifikation mit Robespierre von seiten des Autors zielte auf eine ebensolche Identifikation von seiten des Publikums ab, die mit der grundlegenden „politischen Erkenntnis“ motiviert wurde, daß eine „durch¬ greifende“ Revolution „bloß durch die große Masse des Volkes“ gelingen könne (Rene Schwachhofer, 1952, Nr. 21). Aus dieser Erkenntnis, die Büchner mit Robespierre ge¬ teilt habe, wurde dann die Schlußfolgerung gezogen: „Über den fatalistischen Danton siegt der ehern-klare, konsequente Robespierre.“ (S. 228) Das bedeutete nicht nur einen politischen, sondern auch einen moralischen und der Vernunft gehorchenden Sieg. Der Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953 führte keine kulturpolitische Wende in der DDR herbei. Der rigide „sozialistische Realismus“ blieb weiterhin die bestimmende literarische Doktrin, auch für die Büchner-Rezeption. Wenige Monate später hat Heinz 29

A. „Der Büchner-Bazillus in unserer Literatur“

Kamnitzer zum 140. Geburtstag des Dichters in der „Neuen Deutschen Literatur“ einen repräsentativen, den Postulaten des „sozialistischen Realismus“ vorbehaltlos ver¬ pflichteten Beitrag veröffentlicht (Nr. 23). Entsprechend der schon von Engels und dann von Lukäcs vertretenen Auffassung, daß die kritisch-realistische Schreibweise zu einem Resultat fuhren könne, das nicht mit der Autorintention übereinstimmen müsse, erklärt Kamnitzer, daß Büchner, obwohl er „keineswegs gegen Danton Stellung bezie¬ hen“ wollte, durch seinen „historischen und poetischen Realismus“ gezwungen worden sei, „seinen ,Helden1 mit allen persönlichen Schwächen und politischen Gebrechen auf die Bühne zu stellen“ (S. 236). Die Charakterisierung Dantons, die Kamnitzer anbietet, könnte nicht abfälliger sein: ein Mann mit allen nur erdenklich schlechten Eigenschaf¬ ten, eine „Marionette“, ein „Abtrünniger“, „bewußter Überläufer“ und Verräter, geplagt von „Mißmut“, „Hoffnungslosigkeit“, „Langeweile“, „Ermattung“, „Gleichgültigkeit“ und „Ekel“ als dem „Preis für verlorene Ideale“. Und als Kontrastfigur der „große Ge¬ genspieler“ Robespierre, der zugegebenermaßen „vom Verfasser nicht geliebt“, aber „von dem großen Realisten Büchner“ doch als das gezeigt worden sei, „was er war: unbestechlich, unbeugsam und unbeirrbar. Er glaubt, was er sagt, und er sagt, was er glaubt.“ (S. 236) Gegen seine Intention, „über Sympathie und Antipathie hinweg“ habe der Dichter der historischen und poetischen Gerechtigkeit zum Sieg verholfen. Indessen bleibt Kamnitzer nicht bei einer bloßen Parteinahme Büchners für Robes¬ pierre und gegen Danton stehen. Denn beide Figuren repräsentierten ja die schon zum damaligen historischen Zeitpunkt überholte bürgerliche Revolution. Während Robes¬ pierre der „konsequentesten Fraktion“, den Jakobinern, angehöre, verkörpere Danton „den Standpunkt der Gironde“, das heißt „die Kritik an der Revolution von ,rechts‘“. Büchner hingegen habe bereits die bürgerliche Position überwunden und jene des „ar¬ men Volkes“ eingenommen: „Seine Kritik der Französischen Revolution geschieht von entgegengesetztem Standort, es ist die Kritik aller Phasen der bürgerlichen Revolution von ,links‘“. Das dramaturgische Konzept sei nicht gegen Revolutionen gerichtet, „die ihre Kinder verschlingen“, sondern gegen „das Bürgertum, das seine revolutionären Kinder“ verschlinge (S. 235). Das Drama verfolge demnach eine „unerbittliche“ und „notwendige Abrechnung“ „mit der bürgerlichen Revolution“, es vertrete die Interessen weder der Girondisten noch der Jakobiner, sondern jene der armen Volksmassen, die empört ihre Enttäuschung über den Verlauf der Revolution zum Ausdruck bringen. Einen Ausweg aus dieser Enttäuschung, die auch den jungen Dichter erfaßt habe, hätte nur die Arbeiterklasse weisen können, die als neue politische Kraft zu entdecken dem zu früh Verstorbenen jedoch historisch nicht mehr vergönnt gewesen wäre. Deshalb herrsche in Dantons Tod wie in allen anderen Werken Büchners eine Atmosphäre der Melancholie. Kamnitzer beschließt seinen Beitrag mit der Aufforderung an die deut¬ sche Arbeiterklasse, die legitime Sachwalterschaft des Vormärzdichters zu übernehmen. Eine ähnliche Aneignung und Pflege von Büchners literarischem und politischem Erbe postulierte der Literarhistoriker und Kritiker Hans Richter in seinem Jubiläums¬ beitrag zum 140. Geburtstag des Dichters: Mit der bloßen Bewunderung der Leistungen Büchners ist aber nichts getan. Wir müssen sein Werk rein und unbefleckt erhalten, seinen Geist erfassen und uns seiner würdig zeigen. Erst dann werden wir dem Andenken des Mannes gerecht, dessen Dichten und Trachten der Befreiung des arbeitenden Menschen galt. Ob als Agitator in Hessen, ob als Gestalter der Größe und Grenzen der Französischen Revolution, ob als Anwalt des unterdrückten Volkes: in allem war er seiner Zeit voraus. Bleiben wir nicht hinter ihm zurück!71

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2. „Kalter Krieg“, Stalinismus, Restauration und Wirtschaftswunder

Wie schon der Titel dieses Beitrags verrät, wird Büchner ausdrücklich als Politiker und Dichter gewürdigt, als bedeutendster vormarxistischer Schriftsteller, dessen Hessischer Landbote das „gewaltigste revolutionäre Dokument des Jahrhunderts vor dem .Kommu¬ nistischen Manifest““ darstelle.72 Wie Kamnitzer übernimmt auch Richter für die Deu¬ tung des Danton von Lukäcs den historisch problematischen Begriff einer „plebejischen Revolution“, als deren Verfechter jedoch noch keine der dramatis personae,73 sondern erst der Dichter selber anzusehen sei, der somit weder die Interessen Dantons noch die Robespierres, sondern jene des Volkes vertrete. Diesen „plebejischen“ Weg habe Büch¬ ner dann im Wüyz^-Drama konsequent weiter beschritten, das „aus der instinktiven Vorwegnahme der marxistischen Theorie des Klassenkampfes“ entstanden sei: „Es ruft nicht zur plebejischen Revolution auf, aber es führt geradlinig auf sie hin, weil es ein schonungsloses und zur Aktivität zwingendes Bild der Lage eines Ärmsten der Armen bietet.“74 Der Woyzeck stellte die Kulturpolitik der DDR indessen vor keine Schwierigkeiten. Er ließ sich bequem ins Programm des „sozialistischen Realismus“ einpassen und war da¬ her in der DDR das bei weitem meistgespielte Stück Büchners.75 Die offene „Wunde“ blieb nach wie vor der Danton, für dessen Inszenierung die Zeit noch längst nicht reif war. Die „sozialistisch-realistische“ Aneignung des Revolutionsdramas mußte zunächst auf anderer Ebene - in Schulbüchern, Literaturgeschichten, Einzelstudien und kom¬ mentierten Werkausgaben - fortgesetzt werden.76 Ende der 50er Jahre fand in der Zeitschrift „Theater der Zeit“ eine Diskussion statt, die sich eine Erweiterung des Theaterrepertoires um bisher vernachlässigte Stücke des „bürgerlichen Erbes“ zum Ziel setzte. Dabei sollte nach folgendem probaten Rezept verfahren werden: „weitgehende Tilgung der widersprüchlichen Züge im geistigen Ge¬ halt der betreffenden Werke durch Bearbeitungen oder radikale Umbewertungen von Figuren und Handlungen“.77 Die Diskussion wurde von dem Literarhistoriker Helmut Rabe eröffnet, der größtenteils den Thesen von Lukäcs folgte und nicht Danton als revolutionäre Hauptfigur, sondern - dem Titel des Dramas entsprechend - deren poli¬ tisch notwendigen Tod in den Mittelpunkt der Handlung stellte. Dantons Weg führe „vom Verrat der Revolution zum Verrat des Lebens“.78 Mittels dramaturgischer Ein¬ griffe müsse der sonst unvermeidliche, aber zu Unrecht positive Eindruck Dantons einer Korrektur unterzogen werden, auf daß das Theateipublikum die Befähigung „zur parteilichen Aufnahme des Werkes“ erlange.79 Zur Rechtfertigung dieser „richtigen In¬ terpretation“ wird abermals der Dichter selber bemüht, der mit Robespierre und mehr noch mit St. Just sympathisiert habe. Welche konkreten Adaptierungsmaßnahmen im einzelnen, die bis zur „Streichung“, „Raffüng“ und „Umstellung von Szenen“ reichten, den „Sieg des Realismus“ - insbesondere die Aufwertung Robespierres und St. Justs sowie die Abwertung Dantons - gewährleisten sollten, erläuterte dann Renate Zuchardt.80 So sollte etwa das Motiv des Neides, das Danton in die Unterredung mit Robespierre einbringe, gestrichen werden: „man müßte sich ernstlich überlegen, ob man die ,Kränkungs‘-Partien in Robespierres Monolog nicht teilweise opfern sollte, um eben keinerlei Anhaltspunkte für eine Deutung Robespierres im üblichen bürgerlichen Sinne zu geben, selbst wenn darüber einige psychologische Nuancen zunächst verlo¬ rengehen müßten.“81 Noch rabiater ist der Vorschlag, die Reden Robespierres vor dem Jakobinerklub (1/3, B 77-79) oder St. Justs vor dem Nationalkonvent (II/7, B 103-105) zu zerreißen und einige Passagen daraus an den Schluß des Dramas zu verlegen - mit der bezeichnenden Begründung: „wir stehen vor dem Faktum, daß Büchner den Tod 31

A. „Der Büchner-Bazillus in unserer Literatur“

eines überlebten Revolutionärs in den Mittelpunkt seines Dramas gestellt hat, ohne die Vertreter der Gegenseite, die die Revolution weitergeführt haben und weiterführen mußten, bei der dramatischen Gewichtsverteilung entsprechend zu bedenken“. So ent¬ stünde „die Gefahr, daß der Zuschauer die Notwendigkeit des Sturzes der Dantonisten“ vergesse „und sich zuguterletzt doch nur - trotz aller kritischen Darstellungswelse - im Mitleid mit den Hingerichteten“ erschöpfe.82 Julius Grau, dem dritten Teilnehmer der Debatte, reichte jedoch selbst solch „ehrliche und überlegte Regie“ nicht aus, um das Stück zu retten und es dem klassischen Repertoire des DDR-Theaters einzuverleiben. Er verwahrte sich entschieden gegen die in Dantons Tod vorherrschende, „bürgerlichen Gymnasiasten“ anstehende „Lust am Schweinigeln“. Mit solch „überwuchernder Eroto¬ manie“ und „breitgetretenem Lotterleben der Dantonisten“ werde „das ganze Drama der Revolution in den Kot gezerrt“. Besonders suspekt sei die politisch indifferente Autorintention: „Bei Büchner ist zumindest offengelassen, zu welcher Partei er neigte. Eher deuten seine Sympathien auf ein Plus für die ,Gemäßigten“. Das ganze Stück hat dadurch einen verkehrten ,Drall‘. Mehr, es bietet sich geradezu an als Propagandamittel, das zur Diffamierung jeder Volksbewegung oder -herrschaft, jeder Revolution geeignet ist.“83 Das Schlußwort der Debatte wurde Helmut Rabe eingeräumt, der die „originellen Maßstäbe“ Julius Graus relativierte und mit Renate Zuchardt eingestand, daß „eine Neuinterpretation“ des Danton nicht genüge: „Wenn wir Büchners Drama für die Bühnen unserer Republik zurückgewinnen wollen, müssen wir auch den Mut haben, wo es notwendig ist, dramaturgisch einzugreifen, zu verändern.“ Unter dieser Voraussetzung wollte Rabe „den nächsten Schritt“ gehen und die Aufführung versu¬ chen: „Ich glaube, das Experiment lohnt sich.“84 Das Resultat dieser Debatte, die erst unmittelbar vor dem Ende des „Arbeiter-undBauern-Staates“ als „Tiefpunkt der Danton-Rezeption in der DDR“ verurteilt werden sollte,85 stellt die Rostocker Inszenierung des Revolutionsdramas unter der Regie des Schriftstellers Kuba (Kurt Barthel) im Jahre 1962 dar. Sein Leitmotiv war der unverhüll¬ te „literaturpolitische“ Anspruch, „der heutigen Konterrevolution in Westdeutschland den revolutionären Büchner“ abzugewinnen und diesem „in der ersten deutschen Arbeiter-und-Bauem-Republik“ eine Heimstätte zu sichern (Nr. 44, S. 320). Die in Dantons Tod aufgeworfenen politischen und moralischen Fragen seien gerade auch in der DDR „äußerst aktuell“, weil damit im noch andauernden Kampf gegen die bürgerlichen Opportunisten „die Notwendigkeit der revolutionären Diktatur tief begründet“ werde. Zunächst mußte jedoch der Zensor seines Amtes walten und das Drama von seiner subversiven, „sexuell aufgeladenen Freiheitssemantik“ reinigen,86 die sich nicht mit dem rationalistisch-puritanischen Revolutionsverständnis der DDR in Einklang bringen ließ. Sodann galt es, die Figurenkonstellation in die „richtige Ordnung“ zu bringen. Mittels entsprechender Szenenumstellungen und - schon von Brecht geforderter „Hinzufügungen“ erfuhren die „so großartigen Gestalten wie St. Just und Robespierre“ eine demonstrative Aufwertung auf Kosten des „abtrünnigen“ „Revolutionsgewinnlers“ Danton (S. 320). Kuba wollte das Drama in die historische Realität rückübersetzen. Wo es von dieser abgewichen sei, nahm er sich das Recht zur geschichtlichen Richtig¬ stellung, und mit der dramatischen Fiktion korrigierte er auch gleich die von der bür¬ gerlichen Geschichtsschreibung durch zwei Jahrhunderte kolportierten Lügen über die „Jakobinerdiktatur“. „Um Büchners Absicht erlebbar zu machen“, so stimmte die Kritik dem Verfahren Kubas zu, „half man seinen aus trüben Quellen abgezogenen histori¬ schen Kenntnissen mit: den Ergebnissen der marxistischen Geschichtsforschung aus.“87 32

2. „Kalter Krieg“, Stalinismus, Restauration und Wirtschctftswunder

Was Engels und Marx über die mögliche Differenz von Autorintention und kritisch¬ realistischer Werkproduktion ausgeführt haben, wurde hier gewissermaßen durch Um¬ kehrung zum Ausgleich gebracht - in der ideologiebefangenen Überzeugung, daß erst das „richtiggestellte“ Werk den adäquaten, deckungsgleichen Nachvollzug der Autor¬ intention zu gewährleisten vermöge. Das Ergebnis der Inszeniemng, die wissentlich den Kunstcharakter des Dramas zugunsten einer vermeintlich authentischen Histori¬ zität preisgab, wurde in der literarischen Öffentlichkeit vorbehaltlos gewürdigt: „Ein schönes Beispiel fruchtbaren, parteilichen Herangehens an das dramatische Erbe ver¬ gangener Epochen“, befand man im „Neuen Deutschland“.88 Die folgenreichste Textveränderung, die Kuba vomahm, betraf die Hinzufügung der historisch überlieferten Anklagerede St. Justs zur Entschärfung seiner von Büchner erdichteten sogenannten „Blutrede“ (B 103 ff.). Mit diesem Eingriff sollte offenbar der Dtfwfcw-Deutung Hans Mayers widersprochen werden, der seine „Thermidor“-These gerade auf die von dem Dichter in diesem Punkt „unhistorisch“ gestaltete Saint JustFigur gegründet hatte: Nirgends ist vielleicht die von der Thermidorstimmung eingegebene Umdeutung der histori¬ schen Vorgänge deutlicher als hier bei der Kennzeichnung St.-Justs. Höchst charakteristisch, daß Büchner sich für St.-Justs Rede im Konvent von der historischen Vorlage ganz freimacht und selbst die Ansprache erfindet und aufbaut: zwar mit Hilfe St.-Justscher Worte, aber in der Tendenz der geschichtlich überlieferten Anklagerede St.-Justs gegen Danton völlig entgegenge¬ setzt. An diesem Punkte wird die Grundhaltung des Dramas vollkommen sichtbar.89

Die Denunziation St. Justs durch Büchner spiegle demnach die aus der Retrospektive des Thermidor gewonnene Erkenntnis wider, daß die idealistische Objektivierung des „gräßlichen Fatalismus der Geschichte“ im Sinne eherner, notwendiger Faktizität eben¬ so zwingend zum barbarischen Terror führen müsse. Kuba gesteht die erschreckende Wirkung der „Blutrede“ St. Justs in der Version Büchners offen ein und fügt sogar hinzu, daß diese Rede „wenige Jahre nach Auschwitz in Deutschland natürlich schwer vertretbar“ sei, hofft aber doch, daß sie - mit gezielten Änderungen in den „richtigen Zusammenhang“ gebracht - dem Theaterpublikum „richtig verständlich“ gemacht werde (S. 321). Trotz aller historisch und gegenwärtig notwendigen Parteinahme für Robespierre und St. Just habe er, resümiert Kuba, auf eine „heldische Glorifizierung“ der beiden Revolutionäre verzichtet, um statt dessen den „Volksmassen“, deren Rolle in maßgeblichen westdeutschen Inszenierungen ignoriert worden sei, einen möglichst großen „Wirkungsraum“ zu eröffnen (S. 321). Theaterkritik und Literaturwissenschaft gaben dem Regisseur recht. Mit den dramaturgisch zur Geltung gebrachten Volksmas¬ sen als dem „eigentlichen Gegenspieler“ der revolutionären Protagonisten, die ja alle noch dem geschichtlich schon überholten Bürgertum entstammen, habe Kuba eine sogar über Robespierre und St. Just hinausweisende Perspektive gewonnen.90 Gleichwohl blieb dieser „lohnende Versuch“,91 der Büchner neben Heine als einen „der wenigen großen vormarxistischen Realisten in Deutschland“ kanonisieren wollte (S. 320), ohne Nachahmung. Es mußte abermals mehr als ein Jahrzehnt verstreichen, bis Dantons Tod wieder auf einer Bühne der DDR (1973 in Magdeburg) als „Lehrstück revolutionären Verhaltens“ zur Aufführung gelangen konnte, diesmal zwar ohne rabia¬ te Texteingriffe, aber noch immer reduziert auf die schematische „Tugend-Laster-Kollision“ zwischen Robespierre und Danton - mit der tendenziösen Rezeptionsvorgabe, 33

A. „Der Büchner-Bazillus in unserer Literatur'

den „Unbestechlichen“ „nicht nur als ebenbürtigen Partner, sondern als politisch über¬ legenen Kontrahenten“ in Erscheinung treten zu lassen.92

2.2

Der entpolitisierte Dichter im Westen und der neugestiftete Büchnerpreis Wie Dantons Tod kein politisches Tendenzstück ist, so ist der Woyzeck seinem Hauptanliegen nach kein soziales. (Karl Vietor: Georg Büchner. Politik, Dichtung, Wissenscheft, 1949) Es riecht nach Rosen, nach Verwesung und nach den Sternen des Firmaments. Die Komik ist hier so ernst, daß man an keiner Stelle des Spieles lachen kann! Büchners Bezeichnung „Lust¬ spiel“ ist nur aus dem einen bitteren Tropfen verständlich: daß das Leben eben ein Lustspiel sei (Thomas Bernhard, 1954, Nr. 28).

Während in der DDR die systemkonforme, vorwiegend an Lukäcs geschulte BüchnerRezeption den politischen, vormarxistischen Schriftsteller in den Vordergmnd stellte, um ihn mit Heine als realistischen Ahnherrn des „ersten deutschen Arbeiter-undBauern-Staates“ dem Kanon des fortschrittlich-humamstischen Erbes einzuverleiben, überwog in der Bundesrepublik eine „Entpolitisierung Büchners“ im Zeichen des Pessi¬ mismus Schopenhauers, des Nihilismus Nietzsches und des Existentialismus Kierke¬ gaards. Ein puristisches Dichterbild wurde präsentiert, das Karl Vietor schon in den 30er Jahren exemplarisch in Einzelstudien vorgezeichnet und dann nach dem Krieg in einer Monographie (1949) restauriert hatte.93 Als politischer Schriftsteller sollte Büch¬ ner im Westen erst wieder seit den späten 50er Jahren wahrgenommen werden, insbe¬ sondere von jenen Autoren, die mit dem nach ihm benannten Literaturpreis ausge¬ zeichnet wurden. Seit den Büchnerpreisreden Erich Kästners (1957, Nr. 33), Max Frischs (1958, Nr. 34) und Günter Eichs (1959, Nr. 37) wandelte sich das Bild des Dichters, es wurde komplexer, und vor allem traten die politischen und sozialkritischen Züge seines Werkes stärker hervor. Die akademische Büchnerforschung ging jedoch weiterhin, bis Mitte der 60er Jahre, vorzugsweise formalästhetischen und sprachlichen, philosophischen und editionskritischen Fragestellungen nach. Mit Recht konnte in einem aus dem Ausland vorgelegten Forschungsbericht das Fazit gezogen werden, „sol¬ ches Überkritzeln des Politischen in Büchner gehöre schließlich auch zum Bilde der Germanistik als einer deutschen Wissenschaft“1.94 Rückblickend muß es als Anachro¬ nismus erscheinen, daß erst die erweiterte, 1972 im Suhrkamp-Verlag erschienene Neuausgabe von Hans Mayers Monographie einen soziologischen, auch rezeptionsge¬ schichtliche Perspektiven miteinbeziehenden Paradigmawechsel in der westdeutschen Büchner-Forschung markiert.95 Zum Unterschied vom Osten gab es im Westen keine Berührungsängste mit dem Danton, auf den sich zunächst das Interesse der literarischen Öffentlichkeit konzentrier¬ te. Während in der DDR das Drama prinzipiell als Plädoyer für die soziale Revolution verstanden und die Sympathie des Publikums unter Berufung auf eine entsprechende „Parteilichkeit“ des Dichters entweder auf Robespierre und St. Just oder auf das arme, betrogene Volk gelenkt wurde, herrschte in der Bundesrepublik die Tendenz vor, Danton sowohl von der Produktions- wie auch von der Rezeptionsseite her als positive 34

2. „Kalter Krieg“, Stalinismus, Restauration und Wirtschaftswunder

Identifikationsfigur zu affirmieren, deren Tod auch zugleich den Tod der Revolution besiegle. „Büchners Sympathie muß für Danton blühen“, erklärt Adolf von Grolman (1948, Nr. 12), und der „herße Mittag des Revolutionstags“ müsse dem „Abend“ wei¬ chen, wie es der große Lebenskreislauf der Natur vorschreibe, der mit „seinen ewigen Gesetzen größer als die größte Revolution“ erscheine. Gesellschaftsgeschichte tritt in den Schatten der Naturgeschichte. Das Mysterium vom „Werden, Sein und Vergehen der Dinge“ bestimme auch die Politik. Wie schon Vietor Dantons Tod als „untendenziö¬ se, reine“, „auf ein überzeitliches, allgemein Gültiges“ hinausweisende Dichtung gefei¬ ert hatte,96 so wurde auch hier das Revolutionsdrama aus den Niedemngen der Politik emporgehoben und zur hehren, metaphysischen Natur- und Menschheitspoesie stili¬ siert. Die Metaphorik eines puren Kunst- und Naturmysteriums kennzeichnet auch die Entpolitisierung der Woyzeck-Tragödie, bei deren Wiederlesen den Lyriker Gottfried Benn 1951 (Nr. 19) anläßlich der Verleihung des Büchneipreises - trotz allen in dem Fragment so eindringlich dramatisierten „Geschehnissen“ wie „Schuld“ und „Un¬ schuld“, „Armseligkeit“, „Mord“ und „Verwirrung“ - „die Ruhe eines Kornfeldes“ über¬ kommt: „wie ein Volkslied mit dem Gram der Herzen und der Trauer aller“. Solch ver¬ wandeltes Kunstwerk eines vor Generationen Dahingeschiedenen scheint keinen Anlaß mehr zur Beunruhigung zu bieten: „erst die Toten haben es gut, ihr Werk ist zur Ruhe gekommen und leuchtet in der Vollendung“, auch wenn es nicht darüber hinwegtäu¬ schen könne, daß alles einst „ebenso erkämpft“ war, „behängen mit Blut, mit Opfern gesühnt, der Unterwelt entrissen und den Schatten bestritten“ (S. 224). Gottfried Benn war der erste Preisträger des 1951 neugestifteten Büchnerpreises eine politisch nicht unumstrittene Entscheidung, wie dem damaligen Preisrichterkolle¬ gium wohl bewußt war, handelte es sich doch um einen Dichter, der sich 1933, wenn auch nur für kurze Zeit, öffentlich zum Nationalsozialismus bekannt hatte. Aber mit Benn wurde auch einer der letzten Überlebenden des Expressionismus ausgezeichnet, Repräsentant einer „belasteten Generation: verlacht, verhöhnt, politisch als entartet ausgestoßen“.97 In seinen letzten Lebensjahren hat sich der einst gefeierte, dann verfem¬ te und schließlich rehabilitierte Lyriker - unter Hinweis auf seine schon im Ersten Weltkrieg gefallenen Kollegen, vielleicht auch unter Anspielung auf Büchner - „oft ge¬ fragt, welches das schwerere Verhängnis“ sei, „ein Frühvollendeter oder ein Überleben¬ der, ein Altgewordener zu sein. Ein Überlebender, der zusätzlich die Aufgabe überneh¬ men mußte, die Irrungen seiner Generation und seine eigenen Irrungen weiterzutragen, bemüht, sie zu einer Art Klärung, zu einer Art Abgesang zu bringen“.98 Der 1923 erstmals verliehene Büchnerpreis war ursprünglich in Hessen geborenen Künstlern und Schriftstellern Vorbehalten. Die prominentesten literarischen Preisträger in der Weimarer Republik waren Kasimir Edschmid (1927) und Carl Zuckmayer (1929, vgl. Nr. 46). Im „Dritten Reich“ hatte man den Preis nicht vergeben, was nach 1945 als „Glück“ empfunden wurde, da so dem Andenken an Büchner eine politische „Gleich¬ schaltung“ erspart geblieben war, während seine Schutzherren, die hessischen Politiker Wilhelm Leuschner, Theodor Haubach und Carlo Mierendorff, als Widerstandskämp¬ fer dem Naziregime zum Opfer gefallen waren.99 In den ersten Nachkriegsjahren wur¬ den vorwiegend literarische Persönlichkeiten ausgezeichnet: Hans Schiebelhuth (1945), Fritz Usinger (1946), Anna Seghers (1947) und Elisabeth Langgässer (1950). 1951 wurde dann der Kunstpreis in einen Literaturpreis umgewandelt und der Kreis der Preisträger und Preisträgerinnen auf den gesamten deutschen Sprachraum ausgedehnt. Innerhalb 35

A. „Der Büchner-Bazillus in unserer Literatur“

weniger Jahre avancierte der Büchnerpreis zur höchsten literarischen Auszeichnung der Bundesrepublik. Die Reihe der Preisgekrönten umfaßt durchwegs bedeutende Schrift¬ steller und Schriftstellerinnen der beiden deutschen Staaten, Österreichs und der Schweiz, darunter auch drei Nobelpreisträger (Heinrich Böll, Elias Canetti und Günter Grass). Die meisten Preisträger und Preisträgerinnen setzen sich in ihren Dankreden mit Büch¬ ners Leben, Werk und Wirkung auseinander und stellen Beziehungen zu ihrem eige¬ nen Schaffen und zum zeitgenössischen kulturellen und politischen Leben her, so daß diese Texte nicht nur für das rezipierte Objekt, sondern mindestens ebenso für die rezi¬ pierenden Subjekte belangvoll sind. Viele der Preisreden kommunizieren auch unter¬ einander, so daß die intertextuelle Vernetzung der zahlreichen für die literarische Büchner-Rezeption einschlägigen Zeugnisse eine weitere Verdichtung erfährt. In den wenigen Fällen, in denen sich die Preisträger mit Selbstaussagen begnügen, die nicht aus der Konfrontation mit Büchner hervorgehen, sondern ausschließlich autobiogra¬ phisch bedingt sind, wurde auf eine Aufnahme der Reden in diesen Band verzichtet. An Gottfried Benns unpolitische Naturmetaphorik scheint 1954 der Erzähler, Lyri¬ ker und Essayist Martin Kessel anzuknüpfen (Nr. 26), wenn er aus seiner „Begegnung mit Büchner“ die Erkenntnis gewinnt: „Das Poetische war hier autonom, es war selber eine Naturkraft.“ Aber gerade in der autonomen Naturkraft hege auch das politische Potential dieser Dichtung begründet, die Vermittlung einer Widerstandskraft, einer Le¬ benshilfe und Selbstbehauptung, die standhält „wie ein Stück Brot“ (S. 248), selbst in finsteren Zeiten, „bei Inflation, Demonstration, Schiebertum, Revolution und Selbst¬ zerstörung“ (S. 249). In der Dankrede Emst Kreuders (1953) nehmen seine frühen Leseerlebnisse mit Schopenhauer und Dostojewskij mehr Raum ein als Büchner, der nur einmal zitiert wird (BPR I, 19), und zwar aus der Züricher Antrittsvorlesung Über Schädelnerven, wo von der unmittelbar sich selbst genügenden Natur die Rede ist (B 260). Zwei Jahre spä¬ ter wiederholte Kreuder dieses Zitat in einem umfangreicheren Essay (Nr. 29, S. 259), der als exemplarischer Versuch einer existentialistischen Lektüre Büchners angesehen werden kann. Wie schon der Untertitel Existenz und Sprache verrät, geht es hier um die Erschließung der Zusammenhänge zwischen der schicksalsbedingten „Existenzspan¬ nung“ des Dichters und der „Ausdrucksspannung“ seiner Sprache. Mit der existentiali¬ stischen Perspektive und Begrifflichkeit Soren Kierkegaards, dessen Geburtsjahr kaum zufällig mit jenem Büchners identisch sei, entdeckt Kreuder im Woyzeck und im Lenz „die innere Grenzhaftigkeit menschlicher Existenz, die sich umstellt weiß vom Ver¬ hängnis, von einem ins Ausweglose treibenden, undurchdringlichen Geschick, verloren weiß in der angstgezeichneten Einsamkeit der Seele angesichts der Gewißheit des To¬ des“ (S. 257). Wenige Jahre später finden sich übrigens ähnliche Formulierungen über „die Angst und das Nichts“ in Emst Blochs „Philosophie der Hoffnung“ (1959, Nr. 36), derzufolge die „Hölle kraft der Aufklärung verschwunden, doch das Korrelatsproblem des ganz und gar durchdringenden, des metaphysischen Grauens geblieben“ sei (S. 289). Mit Zitaten aus Büchners Lenz und dem Woyzeck versucht Bloch den Nachweis zu erbrin¬ gen, daß dort die Angst „als eine Erwartung nach der unbestimmt-finstersten Seite, nach Seite des würgenden, starrenden Nichts im Real-Möglichen“ zum Ausdruck komme (S. 290). Nur „im sozialistischen Bewußtsein“ sieht er das „Verschwinden des letalen Nichts“ ohne metaphysischen Trost gewährleistet. Indem „der rote Held [...] bis zu seiner Ermordung die Sache bekennt, für die er gelebt hat, geht er klar, kalt, bewußt 36

2. „Kalter Krieg“, Stalinismus, Restauration und Wirtschaftswunder

in das Nichts“, aus dem es keine Wiederkehr gebe. Den „roten Helden“ charakterisiert Bloch mit dem „völlig diesseitigen Wort“ Philippeaus aus Dantons Tod: „Wir sind wie die Herbstzeitlose, welche erst nach dem Winter Samen trägt.“ (S. 290) Blochs hoffnungsträchtiger, antimetaphysischer, „roter“ Nihilismus im Zeichen Büch¬ ners trägt freilich eine politisch völlig andere Farbe als jener F„mst Kreuders. Dieser sieht die fortschreitende „Existentialisierung“ als den entscheidenden Beweggrund an, daß Büchner „die revolutionäre, die politische Aktivität bald aufgegeben“ habe (S. 258). Ähnliche geistesgeschichtliche Kategorien versucht Kreuder der Sprache Büchners ein¬ zuschreiben: etwa „die numinose Aura der ,Poetik der Natur‘, wie Novalis sie genannt“ habe (S. 260), oder die „existentielle Prosa“, von der bei Gottfried Benn die Rede war (S. 258). Überzeugender wirkt Kreuders Sprachanalyse, wenn er die metaphorische Ra¬ tionalität, die sinnliche Bildhaftigkeit, die erlebnisbezogene Anschaulichkeit, die ro¬ mantische Selbstironie, die Freude am Grotesken und Sarkastischen und die expressio¬ nistisch anmutende „Ausdrucksmunition“ in Büchners Sprache hervorhebt (S. 255). Bemerkenswert ist schließlich auch die Erkenntnis, daß Sprachkritik bei Büchner im¬ mer zugleich Ideologiekritik bedeute, insbesondere dort, wo er die Erstarrung der Spra¬ che zu Phrasen anprangere (S. 260). Daran sollten die nächsten Büchnerpreisträger mit Gewinn anknüpfen. Der Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Walter Hollerer bietet in einem Essay die bis dahin subtilste formalästhetische Analyse von Büchners Werk, insbesondere des Wqyzeck (1954, Nr. 27). Die herausragende Modernität des Vormärzdichters und dessen europäischen, mit Baudelaire und Kafka vergleichbaren Rang sieht Hollerer in Verfah¬ rensweisen begründet, deren Tragweite erst hundert Jahre später richtig wahrgenommen und begrifflich erfaßt werden konnte. An einer Reihe von Textbeispielen belegt er die „schockierende Verfremdung der gewohnten Wirklichkeit“, „die Rettung der Schönheit in die Wahrheit“ durch Ästhetisierung des Häßlichen und eine neue, „von jedem Ornament, jeder dekorativen Geste“ völlig befreite Sprache, ein „konzises, sachliches Pathos, verdichtet und zustoßend, aber unterscheidend und seismographisch reagie¬ rend, mit expressiven Visionen und mit Spannungen zwischen Pol und Gegenpol“ (S. 250 £). Den Schwerpunkt bildet die Beschreibung der offenen Dramenstruktur. Was Volker Klotz später in seinem Standardwerk systematisch als Gegensatz zur „geschlossenen Form im Drama“ ausgebaut hat,100 wird hier bereits von Hollerer in der Gesamtkonzeption der Woyzeck-Tragödie wie in deren einzelnen Szenenausschnitten, in der rhythmischen, antithetischen Aufsplitterung des Geschehens, in der mehrspuri¬ gen Finalität und der metaphorischen Verklammerung des Textes - vor allem durch das Leitmotiv des Karussells - exemplarisch dargestellt. Modische Etikettierungen des Woyzeck-Yrzffntnts im Sinne etwa eines „poetischen Nihilismus“ hält Hollerer für wenig aussagekräftig. Am Beispiel des von der Gro߬ mutter erzählten Märchens, das off für nihilistische Deutungen herhalten mußte, wird gezeigt, daß hier keineswegs „das Nichts“ thematisiert werde, sondern eine kühne Verschwisterung von „Häßlichkeit und Wahrheit“, „Schmerz und Schönheit“ - eine Symbiose freilich, die „der Leser und Hörer“ immer wieder aufs neue „in sich selbst vollziehen“ müsse (S. 251). Damit nimmt Hollerer die rezeptionsästhetische Lesart vor¬ weg, die erst in den siebziger Jahren als literaturwissenschafflicher Paradigmawechsel begrüßt werden sollte.101 Hollerer hat jedenfalls frühzeitig und scharfsichtig erkannt, daß Büchners offene Dramenform im allgemeinen und die fragmentarische Struktur der Wqyzeck-Szenen im besonderen eine Fülle später so genannter „Leer-“ und „Unbe37

A. „Der Büchner-Bazillus in unserer Literatur

stimmtheitsstellen“ aufweisen, die aufzufiillen oder zu beseitigen die Leserschaft in besonderem Maße gefordert sei.102 Dies gilt nicht zuletzt für die Finalisiemng, in der Ästhetik und Metaphysik über Sozialkritik und Realismus die Oberhand behalten: Dieser offene Schluß widerspricht der inneren Bewegung dieses Dramas nicht. Er zeigt Büch¬ ner in seiner Realistik und in der Überblendung dieser Realistik. Er zeigt, im Tod des Barbiers Woyzeck, den Ankläger Büchner, der aber nicht bei einem Sozialrevolutionären Stück stehen¬ blieb, sondern darüber hinausging. Büchners Tragödie ist theatrum mundi am Exempel Woyzecks. (S. 252)

Höllerers eher unpolitische, aber nichtsdestoweniger brillante Lesart kehrt in ähnli¬ chem Wortlaut bei Marie Luise Kaschnitz wieder, deren Büchnerpreisrede (1955) hauptsächlich dem „unzählige Male gelesenen“ Woyzeck-Fragment gewidmet ist. „Mit erschreckender Deutlichkeit stand mir damals das ganze finstere Werk vor Augen“, bekennt die Dichterin, als sei ihr Eindruck gegen jene „Ruhe eines Kornfeldes“ gerich¬ tet, von der Gottfried Benn so abgeklärt gesprochen hatte. Aber zugleich erfüllt sie der Woyzeck „mit Mut und mit Glück“, weil er ihr als „vollkommenes“, „in seinem Aus¬ druckswillen unerbittliches Kunstwerk“ erscheint, das „die härteste innere Wahrheit“ und „die äußerste Bemühung um die Form“ offenbare. Fünf Jahre später, anläßlich ihrer Frankfurter Poetikvorlesungen, kam sie erneut auf die „nachtschwarze“ Szenen¬ folge des Woyzeck zurück (1960, Nr. 38). Im Bewußtsein der „sehr verschiedenen“ poli¬ tischen und philosophischen Lesarten des Dramas entscheidet sich Kaschnitz für einen Kompromiß: Am Anfang stehe zwar die Gesellschaftskritik im Vordergrund, die aber am Ende in existentialistischer Metaphysik aufgehoben sei. Nach der sich im Märchen der Großmutter manifestierenden grenzenlosen „Heillosigkeit, gegen die auch eine an¬ dere Gesellschaftsordnung nichts ausrichten könnte“, und nach dem Selbstmord Woyzecks sei „alles dem Bereich irdischer Gerichtsbarkeit und Gerechtigkeit entrückt“ (S. 295). Dem Büchnerpreisträger des Jahres 1956, Karl Krolow (Nr. 30), fällt es - wie er gleich eingangs bekennen muß - nicht leicht, sich von dem ihm eigenen, lyrischen Genre her „in Beziehung zu dem zu setzen, was uns von Georg Büchner überkam“ (S. 261). Sein Interesse gilt daher „dem verborgenen Lyriker“, den er in Leortce und Lena zu entdecken vermeint. Vom „Spiel um den Prinzen Leonce und die Prinzessin Lena“ ausgehend, versucht Krolow, zum eigenen lyrischen Selbstverständnis zu gelangen, mehr noch: stellvertretend daraus gleich eine „Tendenz“, das heißt eine Poetologie des modernen Gedichts um die Jahrhundertmitte, „in jenen Tagen nach der Stunde Null“, zu „erraten“. Es sind durchwegs romantische, teils philosophische, teils ästhetische Motive, die er aus Büchners Phantasie gewinnt: die „gewisse Dosis Enthusiasmus“, der „Zauber der Imagination“, die „Weisheit der Absichtslosigkeit“ und schließlich die „Ironie“, die „unversehens vollkommene Poesie werden kann, eine Poesie der Schwe¬ bung, der Balance, des geistigen Vergnügens an einer Einsicht, der man alles Schmerz¬ hafte nahm, da man sich ihr wie leichthin, wie von ungefähr zu nähern vermochte“ (S. 263). Der neoromantische Optimismus, der hier zur Bewältigung des unvorstellba¬ ren, durch die vorangegangenen „barbarischen Ereignisse“ ausgelösten „Schreckens“ heraufbeschworen wird, erinnert an jenes geflügelte Wort von Novalis, das sich schon der Büchner-Verehrer Hofmannsthal für die Konzeption des Schwierigen zu eigen ge¬ macht hatte: daß man nämlich nach verlorenen Kriegen Lustspiele schreiben müsse, die „das Schwerste, das Unheimlichste, in jener Gleichgewichtslage höchster versam38

2. „Kalter Krieg“, Stalmismus, Restauration und Wirtschaftswunder

melter Kraft“ aussprechen können, „die immer den Eindruck spielender Leichtigkeit“ erwecke.103 Nur sind es bei Krolow eben keine Lustspiele, sondern Gedichte, die aus dem „Schock“ des Verstummens wieder zur Sprache, „nach der Atemlosigkeit wieder zu Atem kommen“ müssen (S. 263). An diese eindringliche Metaphorik sollte vier Jahre später Paul Celan anknüpfen und in seiner Dankrede aus Büchners Gesamtwerk eine noch weit vielschichtigere, ästhetische, philosophische und politische Aspekte ver¬ schränkende Poetologie der modernen, aus dem entsetzten Verstummen über Welt¬ krieg und Holocaust hervorgegangenen Lyrik entwickeln.104

2.3

„Engagement“, „Emigration “ und „Kritik “

Georg Büchner als Dichter aus politischem Engagement, Büch¬ ner als Emigrant, davon sind wir ausgegangen, um unseren eignen Standort als Schriftsteller zu suchen (Max Frisch, 1958, Nr. 34).

Wie die meisten Büchnerpreisträger beginnt auch Erich Kästner seine Dankrede (1957, Nr. 33) mit einer captatio benevolentiae, dem Eingeständnis, „daß die Auszeichnung im Gedenken an einen genialen Schriftsteller verliehen“ werde, an dessen „Wert und Größe“ kaum einer der Preisträger heranzureichen vermöge. Was ihn indessen doch zur Annahme des Preises bestärke, sei die Erinnerung an das Schicksal Büchners, Minnigerodes und Weidigs, das sich im Schicksal seiner eigenen Generation mit Schreib¬ verbot, Bücherverbrennung, Verbannung, Verfolgung, Verhaftung, Zuchthaus und Konzentrationslager wiederholt habe. Nicht nur das „Dritte Reich“ hat Kästner dabei im Blickfeld, sondern auch die unmittelbare politische Gegenwart der Bundesrepublik, wo einen Monat zuvor, am 15. September 1957, die CDU/CSU unter Konrad Ade¬ nauer bei den Bundestagswahlen mit 50,2 % der Stimmen die absolute Mehrheit errin¬ gen konnte. Mit dem „Wirtschaftswunder“ der restaurativen Adenauer-Ara gingen die heftig umfehdete Aufrüstung der Bundeswehr und, was den Umgang mit dem Na¬ tionalsozialismus anbelangt, ein opportunistischer Verdrängungsmechanismus einher, der - wie Kästner befürchtete - „gesonnen“ war, „die größte und gemeinste Brandstif¬ tung in der Geschichte der deutschen Literatur zu verniedlichen, wenn nicht gar zu ver¬ gessen“ (S. 272). Den ursprünglichen Plan, im Namen Büchners „über jene Art Literatur zu sprechen, die seit längerem als die ,engagierte‘ bezeichnet wird“, über „den Unterschied zwischen humanem und ideologischem Engagement“, „über die nichtengagierte Literatur, die angeblich, wenn nicht gar tatsächlich ,um ihrer selbst willen1 betrieben“ werde, über die nur in Deutschland „geltende fatale Unterscheidung von ,Dichtem1 und .Schrift¬ stellern1 und über die schwerwiegenden Folgen einer solchen autarken Rangordnung“ (S. 272), verwirft Kästner schließlich, um sich als gelernter Philologe mit drei literarhi¬ storischen „Marginalien“ zu begnügen, die er sich bei der Wiederbeschäftigung mit Büchners Werk notiert hat. Die erste „Randbemerkung“ betrifft einen „Anachronis¬ mus“: den Vormärzdichter als verspäteten Stürmer und Dränger, „den .ungleichzeiti¬ gen Zeitgenossen1 des jungen Goethe“ in Straßburg, die „Wahlverwandtschaft“ des Danton und des Woyzeck mit dem Götz und dem Urfaust - einen Traditionszusammen¬ hang, wie ihn auch Brecht mehrmals betont hatte (Nr. 15). Die zweite Randbemerkung ist Dantons Tod gewidmet, einem historischen Drama mit offener Form und offenem 39

A. „Der Büchner-Bazillus in unserer Literatur“

Ende, weil der weitere reale Geschichtsverlauf dem Dichter so gut wie dem Theater¬ publikum bekannt sei und weder aus der Produktion noch der Rezeption der dramati¬ schen Fiktion ausgeblendet werden könne. So komme es auch nicht auf den mehr oder minder authentischen Nachvollzug der allen geläufigen Realhistorie an, sondern auf die ihrer Dramatisierung zugmnde liegende Philosophie: „den gräßlichen Fatalismus der Geschichte“ - eine Reminiszenz vielleicht an die „Thermidor“-These Hans Mayers, der übrigens die poetologischen Reflexionen in Kästners Büchnerpreisrede sehr zu schätzen wußte.105 Die dritte Randbemerkung bezieht sich auf den Woyzeck als eine „Tragedia dell’ arte“ - nämlich die stilistische Transzendierung des „psychologischen Realismus“ durch die „tragische Groteske“, die auch bedeutende wirkungsgeschichtli¬ che Folgen gezeitigt habe: So ist es kein Wunder, daß das Stück, das ja erst 1875 aufgefunden wurde, sehr bald in beiden Richtungen weiterwirkte. Gerhart Hauptmann und Frank Wedekind sind bedeutende und glaubwürdige Zeugen für diese zweisinnige Strahlkraft. Und beide haben sich, an Büchners Grab auf dem Zürichberg, vor dem 23jährigen Genius mit der gleichen Dankbarkeit verneigt. (S. 276)

Kästner fügt dem hinzu, daß die Wirkung des Woyzeck - vor allem dank der darin ent¬ deckten und so makaber gestalteten Verschwisterung der „tragischen Groteske“ - auf die deutschsprachige Literatur seit dem Expressionismus nicht zu überschätzen sei, und bekennt sich auch selber mit seiner ein Jahr zuvor veröffentlichten Komödie Die Schule der Diktatoren (1956) „als Schüler und Schuldner Büchners“. Von der thematischen Konzeption her steht dieses Stück in der Nachfolge von Dantons Tod. Was Büchner am Beispiel der Französischen Revolution als den „gräßlichen Fatalismus der Geschichte“ bezeichnet hat, das spiegelt die Fabel von Kästners Komödie mit den Mitteln des Grotesken und Absurden wider: Eine blutige Diktatur soll durch eine gerechte, demo¬ kratische Revolution beseitigt werden. Aber der führende Revolutionär wird ermordet, bevor er an die Macht gelangt, so daß sich unverzüglich die nächste Diktatur etablieren kann. Der ermordete, durchaus idealistische Rebell diente ihr nur als Werkzeug, gleich¬ sam als „Trojanischer Esel“.106 Der Kreis hat sich wieder geschlossen, das politische Weltkarussell vollzog nur eine Drehung, um wieder am Ausgangspunkt anzukommen. Indessen hat auch der Woyzeck in der Schule der Diktatoren produktive Rezeptions¬ spuren hinterlassen. In der Vorbemerkung zur Komödie hat Kästner jene Stilmittel her¬ vorgehoben, die er dann in seiner Büchnerpreisrede unter dem Begriff der „tragischen Groteske“ zusammenfaßt und mit „Grenzsituationen“ und „Zerrbildern“ umschreibt, in denen sich durch „die Genauigkeit der Übertreibung“ die „Wirklichkeit und die Kritik an ihr“ vervielfachen. Wie im Woyzeck werden auch in der Schule der Diktatoren Menschen als „Karikaturen“ vorgeführt, die mit ihren realen Modellen identisch gewor¬ den sind. Die Karikaturen aus dem Woyzeck kehren entsprechend verwandelt in der Schule der Diktatoren wieder. Dies gilt insbesondere für die Figur des Doktors, der bei Kästner als Leibarzt der Diktatoren in Erscheinung tritt und Züge eines KZ-Mediziners annimmt. Nachdem er dem gegen die Diktatur aufbegehrenden Präsidenten die Todes¬ spritze verabreicht hat, tritt er „zur Leiche“, „untersucht Puls und Auge“ und erklärt dem anwesenden Inspektor: „Sie bürgen dafür, daß sich der teure Entschlafene in Rauch und Wohlgefallen auflöst.“107 Alle Figuren in Kästners Groteske - die Herrscher wie die Untertanen - agieren wie „Marionetten“, „Papageien im Gehrock“, „aufgezoge¬ ne Automaten“, „Werkzeuge“, „dressierte Meerschweinchen“, „ferngesteuerte Maschi40

2.

„Kalter Krieg“, Stalinismus, Restauration und Wirtschaftswunder

nen“, deren verantwortliche Drahtzieher unerkannt im Hintergrund sitzen. Die Ana¬ logien sind evident, nicht nur zu Dantons Tod oder dem Woyzeck, sondern auch zu Leonce und Lena. Die satirische Abrichtung der bäuerlichen Untertanen zur Freuden¬ kundgebung anläßlich der bevorstehenden Fürstenhochzeit wiederholt sich bei Kästner in der allgemeinen Volksbegeisterung, die sich in mechanisch eingetrichterten Reflexen entlädt. Die Manipulation der Beherrschten ist so perfekt, daß sich - wie der Professor als Zeremonienmeister der Diktatur verkündet - „befohlene Freude [...] von echter nicht mehr unterscheiden“ läßt. Erklärtes Ziel der gelenkten Massenpsychose ist die „Seele als erziehbarer Mechanismus.“108 Die Wirkung von Dantons Tod auf Kästners Komödie reicht bis ins Zitat. So paraphrasiert der die „Schule der Diktatoren“ überwachende Inspektor mit seiner Behaup¬ tung, daß die Sentimentalität der Menschen „ein Laster als Tugend“ kostümiere,109 Robespierres vielstrapazierte demagogische Antithese. Und die Bemerkung des anfüh¬ renden Rebellen, daß seine designierten Minister auf der Flucht ins Ausland „mehr Vaterland an den Schuhsohlen“ mitgenommen hätten als die in den Kasernen der Diktatur zurückgebliebenen Generäle,110 variiert den Ausspruch Dantons (B 92) und spielt zugleich auf die Emigration Büchners an, die Kästner auch in seiner Preisrede ausdrücklich in Erinnerung ruft. Die Propagandatechnik der Machthaber hat sich frei¬ lich in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts medial erheblich verändert. Wenn Danton bei Büchner im Nationalkonvent eine Rede hält, dann spricht er zu einigen hundert anwesenden Deputierten - es sei denn, man entzieht ihm gewaltsam das Wort. Bei Kästner sprechen die Revolutionäre zu Millionen oder, „wenn in der Tonkabine an einem Knopf gedreht wird, zu niemandem“. Fazit: „Die Technik des Staatsstreichs hat mit dem Staatsstreich der Technik zu rechnen.“111 i'f

Die Wiederentdeckung des politischen Schriftstellers Büchner - in Kästners Dankrede vor allem durch die Stichwörter der engagierten Literatur, des Widerstands im „Dritten Reich“ und der Emigration zum Ausdruck gebracht - erfuhr im nächsten Jahr bei Max Frisch (1958, Nr. 34), dem ersten Büchnerpreisträger aus der Schweiz, eine zwiespältige Fortsetzung. Der Züricher, der unschwer schon auf den Straßen seiner Heimatstadt Bezüge zu dem hessischen Vormärzdichter zu finden vermag, greift gleich am Beginn seiner Rede das von Kästner eingeworfene Stichwort der Emigration auf und gesellt als zweites das der Revolution hinzu: „Emigranten! Revolutionäre!“ Gemeint sind damit Büchner und Lenin, die - durch den Zeitraum von acht Jahrzehnten getrennt - als Nachbarn in der Züricher Spiegelgasse ihre Exilwohnungen bezogen hatten. Beider Vermächtnisse wiesen freilich bezeichnende Unterschiede auf: „der eine hinterläßt ,Woyzeck“, der andere hinterläßt die Sowjetunion“ (S. 277). Auch das zweite Stichwort, das Frisch zur Charakterisierung Büchners zum Einsatz bringt, das „Engagement“, fin¬ det sich bereits bei Kästner, dort allerdings noch ohne nähere Bestimmung. Frisch begreift Büchner „als Dichter aus politischem Engagement“, dem allerdings auf dem Weg ins Exil auch konträre Erfahrungen wie Resignation und Anti-Engagement nicht ganz fremd geblieben seien. Von den genannten Stichwörtern her sucht und findet Frisch seinen eigenen Standort als Schriftsteller. Das „Emigrantische“ bedeutet ihm die Absage an den Nationalismus zugunsten eines grenzenlosen, die Freiheit des Einzel¬ menschen respektierenden Humanismus. Resignation und Anti-Engagement, die ihn mit Büchner verbänden, wertet er zur „kombattanten Resignation“ auf, zum „individu¬ ellen Engagement an die Wahrhaftigkeit“ (S. 283). Darunter versteht er die Zersetzung

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A. „Der Büchner-Bazillus in unserer Literatur“

abstrakter, tödlicher Phrasen und Ideologien durch das authentische Bild der einzel¬ nen, lebendigen Kreatur - eine „Tat“, wie sie Büchner vor allem im Woyzeck vollbracht hätte und wie sie Frisch selber in seinem drei Jahre später vollendeten und wohl inter¬ national erfolgreichsten Stück Andorra (1961) adäquat nachvollziehen sollte. Phrase bedeutet in Andorra Vorurteil, die einzelne Kreatur heißt Andri. Als frucht¬ barer Nährboden, aus dem die Vorurteile schießen, dient der blutgläubige Aberwitz der Andorraner, der sich mit unaufhaltsamer Mechanik wie eine Epidemie ausbreitet und sich gegen Andri, den vermeintlichen fremden Juden, richtet. Zersetzt werden die antisemitischen Vorurteile dadurch, daß sich am Ende Andri als „echter“ Andorraner entpuppt, was freilich nicht ohne tragische Ironie erfolgt. Denn der aufklärerische Zer¬ setzungsprozeß erreicht erst zu dem Zeitpunkt sein Ziel, als Andri schon dem antisemi¬ tischen Massenwahn zum Opfer gefallen ist. Wie Woyzeck wird Andri von der Gesell¬ schaft gnadenlos gejagt: und gehetzt. Auffällig ist auch die analoge Konfiguration der beiden Dramen. Der Pater, der Andri gutmütig Zureden möchte, der Doktor, aus dem die „gebildete“ Borniertheit schwatzt, der Soldat mit der Trommel, der sich brutal Andris Geliebte nimmt und ihn dann „zur Sau“ macht: alle diese schon Woyzeck umgeben¬ den Gestalten mutierten in Andorra zu faschistischen Typen des 20. Jahrhunderts. Frischs Büchnerpreisrede erntete in der DDR scharfen Protest. Heinz Kamnitzer ver¬ urteilte in seiner Replik unter der unmißverständlichen Überschrift Die große Kapitu¬ lation (1959, Nr. 35) den Versuch, von Büchner ein ideologiekritisches, den Dogmen und Phrasen sowohl des Ostens wie auch des Westens mißtrauendes Anti-Engagement abzuleiten, als unstatthafte „Kastration“ des Vormärzdichters, der auch in der Emigra¬ tion seinem Sozialrevolutionären Engagement ungemindert treu geblieben sei. Der Ver¬ zicht auf „politische Parteinahme“, die Frisch noch zehn Jahre zuvor in seinem Tage¬ buch so dezidiert eingefordert hatte, bedeute nichts anderes als politische Indifferenz, die in ihrem Unvermögen, die Gleichsetzung von „Krieg und Kapitalismus“ einerseits, von „Frieden und Sozialismus“ andererseits zu akzeptieren, „Wahrheit“ mit „Phrase“ verwechsle. Wenn Frisch aus dem Motto zum Hessischen Landboten die relativierende Schlußfolgerung ziehe, daß die Hütten „rar geworden“ seien, „wenigstens im Westen“, dann verrate das nur seine soziologische Blindheit, die nicht die Hütten in Italien und Spanien, die Slums in London und die Katen in Wales, die Mietskasernen von Paris und Marseille und nicht zuletzt auch die Notunterkünfte in der Bundesrepublik Deutschland wahrzunehmen vermöge. Was als „kombattante Resignation“ gepriesen werde, sei nichts anderes als die „bedingungslose Kapitulation“ eines „lendenlahmen Liberalismus“. Auch methodisch hält Kamnitzer die Argumentation Frischs für höchst verwerflich, weil sie sich einer manipulativen Zitiertechnik bediene, die genau das Gegenteil dessen affrrmiere, was der Zitierte gemeint habe: Hat Büchner ständig die Magenfrage in den Vordergrund gerückt, so gibt es für Frisch heute nur die geistige Not. Wo Büchner fordert, Farbe zu bekennen und Stellung zu beziehen, da verlangt Frisch den Rückzug von den Fronten. Was bei Büchner Anklage ist, verkümmert bei Frisch zur Wehklage. Wo Büchner zum Sturm läutet, da betet Frisch um Windstille. Wenn bei Büchner der Revolutionär verzweifelt, so resigniert bei Frisch der Pfahlbürger. Wuchs bei Büchner die Distel neben der Barrikade, so verblüht bei Frisch das Veilchen auf dem Fen¬ sterbrett. (S. 288)

Kamnitzer setzt Frischs Zitierverfahren mit der Bearbeitung des Hessischen Landboten durch den „unglücklichen Weidig“ gleich, der die Flugschrift „verschlimmbessert“ ha42

2. „Kalter Krieg“, Stalinismus, Restauration und Wirtschaftswunder

be. „Die Kunst des Weglassens muß die Klarheit und Wahrheit steigern“, so die philo¬ logisch berechtigte Maxime Kamnitzers. „Sie darf nicht die Aussage eines Dichters schmälern oder gar verändern.“ Das entscheidende Briefzitat aber, das die unverbrüch¬ liche Konstanz von Büchners revolutionärem Engagement verbürge, habe Frisch wohl¬ weislich zur Gänze weggelassen: „Das Verhältnis zwischen Armen und Reichen ist das einzige revolutionäre Element in der Welt.“ (S. 288) Kamnitzers Polemik gegen Frisch ist symptomatisch für die Polarität der politischen Systeme östlich und westlich der Elbe im allgemeinen und für die Polarität der „hüben und drüben“ praktizierten Büchner-Rezeption im besonderen: im Osten der Sozialrevo¬ lutionäre Schriftsteller und Politiker als Pionier der „ersten deutschen Arbeiter-undBauem-Republik“, im Westen ein zusehends komplexer, aber auch widersprüchlicher werdendes Bild des Vormärzdichters, das ästhetische und psychologische, philosophi¬ sche und politische Aspekte zu verknüpfen sucht. Kamnitzers Argumentation befleißigt sich einer systemimmanenten Logik, die das politische Engagement Büchners auf eine „parteiliche“, marxistische Position reduzieren möchte, während Frisch - in der Tradi¬ tion seines eidgenössischen Landsmanns Gottfried Keller - einen offeneren, umfassen¬ deren und kritischeren Politik-Begriff vertritt: eine unparteiische, anti-ideologische Skep¬ sis gegenüber allen Dogmen und dem ganzen „Arsenal der Phrasen, die man hüben und drüben zur Kriegsführung“ brauche (S. 280). Wenngleich Frisch tatsächlich an man¬ chen Stellen seiner Dankrede Gefahr läuft, das „anti-ideologische Anti-Engagement“ Büchners im Straßburger und Züricher Exil zu stark zu betonen und so einer abermali¬ gen Entpolitisierung des Emigranten Vorschub zu leisten, sind seine Ausführungen (mit dem Eingeständnis, daß uns bei Büchner nicht „geheuer“ sei) insgesamt doch komplexer und differenzierter als die systemkonform-maixistische Aneignung Büchners durch Kamnitzer, die übrigens auch in der DDR - allerdings erst im letzten Jahr ihrer Existenz - öffentlich kritisiert werden sollte. Kamnitzers Vorwurf, Büchner sei von Frisch „zur Kassandra des 20. Jahrhunderts“ herabgewürdigt worden (S. 284), entbehrt retrospektiv nicht einer gewissen Ironie. Im selben Heft der „Neuen Deutschen Literatur“ (1959), in dem die Polemik gegen Frisch erschien, wurde die grandiose Überlegenheit des sozialistischen Systems von einer damals noch unbekannten jungen Schriftstellerin gefeiert,112 die sich jedoch zwei Jahr¬ zehnte später (1980) als erste Büchnerpreisträgerin der DDR zu der Feststellung veran¬ laßt sehen sollte, „bis auf die Knochen“ ernüchtert zu sein (S. 507).113 Es handelt sich um Christa Wolf (Nr. 94), die dann just der von Kamnitzer so abfällig apostrophierten griechischen Prophetin einen aufsehenerregenden Prosatext widmete, in dem die Re¬ zeption Georg Büchners - besonders im Entwurf einer feministischen, von der Figur der Rosetta aus Leonce und Lena abgeleiteten Geschichtsphilosophie - produktive Spuren hinterlassen hat. Christa Wolfs vielschichtige mythologische Schlüsselerzählung Kassandra (1983) läßt sich unschwer auch als Kritik an dem „hüben wie drüben“ prakti¬ zierten Blockdenken in festgefahrenen Freund-Feind-Schemata lesen (vgl. S. 101 ff.).114 >1-

Auch der Büchnerpreisträger des Jahres 1959 knüpfte an seinen unmittelbaren Vorgän¬ ger an. „Kritik“, im umfassendsten Sinne der allzu „geläufigen Vokabel“ verstanden, ist für den Lyriker und Hörspielautor Günter Eich (Nr. 37) das „Schlüsselwort“ Büchners, dessen „Wesenszug“ schlechthin, „der alle andern Kennzeichnungen und Benennun¬ gen“ einschließe: „Realismus, Politik, Groteske, Pessimismus, Ironie und selbst die Seifenblasen, die Narrheiten Valenos und des Prinzen Leonce, mögen sie auch da und 43

A. „Der Büchner-Bazillus in unserer Literatur “

dort nicht mehr die Welt, sondern den Himmel angehen“ (S. 291). Was Frisch vorwie¬ gend als Ideologiekritik beschrieben hat, wird bei Eich vor allem um den Aspekt der Sprachkntik erweitert. Mit Büchner bekennt sich Eich zu einer Dichtung als „Gegner¬ schaft“ gegen die etablierte „Macht“ und deren systemerhaltende „Sprachlenkung“, wel¬ che „die Inhalte zum Nichts“ deformiere und den existentiell notwendigen Fragen mit fertigen Antworten zuvorkomme. Das historische Exempel des Nationalsozialismus und seiner Propaganda habe schon wieder seine abschreckende Wirkung verloren, und so sieht Eich sich genötigt, seine Kritik gegen jedwede Macht zu richten, „wo immer sie beansprucht oder erlistet, erkämpft, erzwungen oder wohl erworben sei“. Als Indizien für eine Sprachlenkung von zählebiger Kontinuität nennt Eich in bewußt „polemischer Absicht“ einige Vokabeln, die nicht nur „in der sogenannten Kulturkritik von heute“, sondern gerade auch in der Literaturgeschichte bei der Beurteilung Büchners „eine peinliche Rolle spielen“: „Zersetzend, nihilistisch, negativ, trostlos, intellektuell, heil¬ los“. Alle diese Prädikate hätten definitiven „Antwortcharakter“, das heißt „den Charak¬ ter eines endgültigen Urteils, gegen das es keinen Widerspruch“ gebe (S. 293). Abermals ist die Analogie zu Frisch evident, der sich mit Büchner ausdrücklich einer „zersetzen¬ den“, einzig individueller „Wahrhaftigkeit“ dienenden „Schriftstellerei“ verpflichtet fühlt (S. 283), als deren erklärtes Leitmotiv die Entlarvung solcher abstrakten Vorurteile und ideologischen Phrasen gilt.

2.4

„A temwende “ und „20. Jänner “ Ich habe bei Lucile der Dichtung zu begegnen geglaubt, und Lucile nimmt Sprache als Gestalt und Richtung und Atem wahr [...]. Ich hatte mich, das eine wie das andere Mal, von einem „20. Jän¬ ner“, von meinem „20 Jänner“, hergeschrieben. (Paul Celan, 1960, Nr. 40).

Daß die Verbrechen des Nationalsozialismus nicht dem öffentlichen Gedächtnis der Bundesrepublik entschwanden, sondern in den nächsten Jahren sogar ins Zentrum des politischen Interesses rückten, ist nicht dem zitierten Appell des Büchnerpreisträgers Erich Kästner zu verdanken, sondern einem spektakulären internationalen Ereignis, das jahrelang die Titelseiten der Weltpresse füllen sollte. Am 11. Mai 1960 wurde Adolf Eichmann vom israelischen Geheimdienst in Argentinien aufgegriffen, nach Jerusalem entführt und dort vor Gericht gestellt. Der ehemalige SS-Obersturmbannführer hatte am 20. Januar 1942 das Protokoll bei der berüchtigten Wannsee-Konferenz zur soge¬ nannten „Endlösung der Judenfrage“ geführt und war dann einer der Hauptverantwort¬ lichen für die generalstabsmäßige Planung und Exekution des Holocausts. Der Jerusa¬ lemer Prozeß endete im Dezember 1961 mit dem Todesurteil, das am 1. Juni 1962 vollstreckt wurde. Der Erinnerung an die Wannsee-Konferenz ist auch die Büchner¬ preisrede Paul Celans (1960, Nr. 40) gewidmet, der bereits mit seiner legendären Todes¬ fuge (1944/45) den Holocaust thematisiert hatte. Celans Ansprache Der Meridian gilt als eines der bedeutendsten poetologischen Dokumente der modernen europäischen Ly¬ rik. Schon 1956 hatte Karl Krolow in seiner Büchnerpreisrede - den Prinzen Leonce zitierend - erklärt, daß das deutsche Gedicht „nach der Stunde Null“ einer „gewissen Dosis Enthusiasmus“ bedurft hätte, um den „Schock“ des Verstummens zu überwin44

2. „Kalter Krieg“, Stalinismus, Restauration und Wirtschaftswunder

den und wieder zur Sprache zu finden: „Es mußte nach der Atemlosigkeit wieder zu Atem kommen.“ (S. 263) Diese Metaphorik greift 1960 Paul Celan wieder auf, indem er bei Büchners Lenz ein „furchtbares Verstummen“ wahmimmt, das ihm, dem „Selbstvergessenen“, - „und auch uns - den Atem und das Wort“ verschlage. Daran knüpft er jedoch sogleich die Hoffnung an: „Dichtung: das kann eine Atemwende bedeuten. Wer weiß, vielleicht legt die Dichtung den Weg - auch den Weg der Kunst um einer solchen Atemwende willen zurück?“ (S. 304) Trotz der „starken Neigung zum Verstummen“, unbeschadet seiner Einsamkeit brauche das moderne Gedicht, das „durch die tausend Finsternisse todbringender Rede“ hindurchgehen mußte,115 „ein Gegenüber“, das es aufsuche und sich ihm zuspreche (S. 306). Im betonten Gegensatz zu Gottfried Benn verneint Celan die Existenz des monologischen, „absoluten Ge¬ dichts“ und hält - trotz allen unsäglichen Katastrophen der Zeitgeschichte - am dialo¬ gischen Charakter des modernen Gedichts fest. Dieses behaupte sich am Rande des Verstummens, indem es sich, „um bestehen zu können, unausgesetzt aus seinem Schon-nicht-mehr in sein Immer-noch zurück“ rufe (S. 305). Zu dieser Position gelangt Celan mit der Figur der Lucile aus Dantons Tod, die am Ende angesichts der Hinrich¬ tung ihres geliebten Camille plötzlich „Es lebe der König!“ ausruff, um von der Wache „im Namen der Republik“ zu ihrer eigenen Hinrichtung abgeführt zu werden. Für Celan wird dieser Ausruf zum paradigmatischen „Gegenwort“, zu einem utopischen „Akt der Freiheit“, der gegen den Terror der Geschichte „die Gegenwart des Mensch¬ lichen“, die „Majestät des Absurden“ verbürge (S. 301). Im Gespräch mit einem Gegenüber müsse, fordert Celan, das moderne Gedicht aller „seiner Daten eingedenk“ bleiben (S. 305). Das markanteste Datum, das er in seiner Büchnerpreisrede immer wieder, geradezu ostentativ, anspricht, ist der „20. Jänner“, an dem einst Büchners Lenz „durchs Gebirg“ ging. An diesem Tag des Jahres 1778 begann das Martyrium des vom „unrettbaren Wahnsinn“ befallenen Sturm und Drang-Dich¬ ters. Und am gleichen Tag - welch fatale Koinzidenz! -, 164 Jahre später, am 20. Jän¬ ner 1942, fand die durch den Fall Eichmann wieder ins öffentliche Gedächtnis gerufe¬ ne Wannsee-Konferenz zur „Endlösung der Judenfrage“ statt. Auf dieses makabre Datum gründet Celan seine Theorie moderner Lyrik nach Auschwitz, deren Engage¬ ment darin bestehe, ihrer Herkunft aus dem Verstummen, ihres „20. Jänner“, einge¬ denk zu bleiben. Wenn Celan dem modernen Gedicht „eine aller unserer Daten eingedenk bleibende Konzentration“ abnötigt, dann bedeutet das ebenso Vergegenwärtigung historischer Erfahrung wie Aktualisierung literarischer Tradition - ein Vorgang, der sich vorzugswei¬ se im Medium des Zitats manifestiert.116 Viele dieser Zitate haben schon in ihrem ursprünglichen Kontext - wie der Ausspruch der Lucile in Dantons Tod - den Charakter eines sich dem barbarischen Terror der Geschichte widersetzenden „Gegenworts“, mit dem sich Celan zu solidarisieren sucht. Des verhängnisvollen „20. Jänner“ bleibt er auch stets in seiner Lyrik eingedenk.117 Das berühmteste Gedicht mit diesem Monats¬ namen in der Überschrift (Tübingen, Jänner) entstand am 29. Januar 1961, drei Monate nach der Büchnerpreisrede vom 22. Oktober 1960. Es ist Hölderlin gewidmet und zitiert den vom Wahnsinn gezeichneten Dichter, der jahrzehntelang in einem Turm nurmehr - wie Celan es in seiner Büchnerpreisrede von Lenz sagt - so „^/«gelebt“ hatte. Das Gedicht endet mit der Strophe:118

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A. „Der Büchner-Bazillus in unserer Literatur

Käme, käme ein Mensch, käme ein Mensch zur Welt, heute, mit dem Lichtbart der Patriarchen: er dürfte, spräch er von dieser Zeit, er dürfte nur lallen und lallen, immer-, immerzuzu. („Pallaksch. Pallaksch.“)

Die Schlußzeile zitiert einen unverständlichen Neologismus, ein Lallwort des geistig umnachteten Hölderlin, das offenbar als paradoxe Artikulation von Sprachlosigkeit moderner Lyrik verstanden werden soll. Durch die Doppelbedeutung von „Ja“ und „Nein“, die der kranke Dichter mit diesem Wort zum Ausdruck zu bringen pflegte, durch dessen Wiederholung und interpunktionelle Einklammerung wird jedoch der endgültig anmutende Sprachverlust wieder zurückgenommen - im Sinne der schon aus Celans Büchnerpreisrede zitierten Erfahrung, daß sich das moderne Gedicht am Rande des Verstummens behaupte und sich „aus seinem Schon-nicht-mehr in sein Immer¬ noch zurück“ rufe (S. 305). Unmittelbar vor diesem doppelten und ambivalenten „Pal¬ laksch“ zitiert das Gedicht, diesmal allerdings ohne Anführungszeichen, noch eine andere Person, die in den Wahnsinn getrieben wurde: nämlich Büchners Woyzeck,119 der auf dem „freien Feld“, von inneren Stimmen verfolgt, sich auf den Boden pressend, sein „Immer zu! immer zu!“ herausstöhnt: „He was, was sagt ihr? Lauter, lauter, stich, stich die Zickwolfin tot. Soll ich? Muß ich? Hör ich’s da auch, sagt’s der Wind auch? Hör ich’s immer, immer zu, stich tot, tot.“ (B 229) Auch bei Woyzeck handelt es sich bereits um ein obsessives Zitat, das die leidenschaftliche Begierde der in der unmittel¬ bar vorhergehenden Wirtshausszene mit dem Tambourmajor tanzenden Marie wieder¬ gibt und dem Betrogenen nicht mehr aus dem Kopf geht, bis es ihn schließlich zur verzweifelten Mordtat treibt. Der in Tübingen, Jänner herbeizitierte IL&yzecUKontext ent¬ hält schließlich noch einen nicht minder erschreckenden Bezug zum Holocaust-Datum des „20. Jänner“. Denn die Wirtshausszene schließt mit der Predigt eines Handwerks¬ burschen, die in der allgemeinen Aufforderung gipfelt: „Zum Beschluß, mei geliebte Zuhörer laßt uns noch über’s Kreuz pissen, damit ein Jud stirbt.“ (B 229) Woyzecks unmittelbar darauf zum Ausdmck gebrachte Zwangsvorstellung des „Immer zu! immer zu!“ transzendiert somit die innere, fiktionale Kommunikationsebene des Dramas und verstärkt abermals auf beklemmende Weise die von Celan dem modernen Gedicht auf¬ erlegte, „aller unserer Daten eingedenk bleibende Konzentration“. Das „Gegenwort“ der von Celan in der Büchnerpreisrede wiederholt zitierten Lucile aus Dantons Tod ist die Quintessenz eines weiteren berühmten Gedichts, das die kreati¬ ve Komplexität von Celans Büchner-Rezeption, ihr ästhetisches und politisches Poten¬ tial exemplarisch zur Geltung bringt:120

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2. „Kalter Krieg“, Stalinismus, Restauration und Wirtschaftswunder Du liegst im großen Gelausche umbuscht, umflockt. Geh du zur Spree, geh zur Havel, geh zu den Fleischerhaken, zu den roten Äppelstaken aus Schweden Es kommt der Tisch mit den Gaben, er biegt um ein Eden Der Mann ward zum Sieb, die Frau mußte schwimmen, die Sau, für sich, für keinen, für jeden Der Landwehrkanal wird nicht rauschen. Nichts stockt.

Das in Berlin in der Nacht vom 22. auf den 23. Dezember 1967 entstandene „Weih¬ nachtsgedicht“ ist mehrerer atem- und sprachverschlagender Daten der Weltgeschichte eingedenk. Es setzt zunächst zwei politische Motive in eins:121 die Hinrichtung der Hitler-Attentäter vom 20. Juli 1944 und die Ermordung der beiden Arbeiterführer Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht am 15. Jänner 1919. Dieses Doppelmotiv wird aus der Perspektive eines als „Du“ apostrophierten lyrischen Subjekts mit der bevorstehenden Weihnachtsbescherung verschränkt.122 Die im Eingangsvers mit dem lauschenden Du evozierte doppelte Erwartung, die einerseits auf das messianische, Frieden und Erlö¬ sung verheißende Weihnachtsfest und andererseits auf einen Protest gegen die beiden barbarischen politischen Verbrechen gerichtet ist, erfüllt sich nicht. Der Landwehrka¬ nal, der dort, wo Rosa Luxemburg ins Wasser geworfen wurde, rauschen und stocken, auf Widerstand stoßen müßte, fließt ruhig weiter, als wäre nichts geschehen. Das Ge¬ dicht gemahnt uns jedoch noch an ein drittes weltpolitisches Datum: nämlich an den 5. April 1794, jenen Tag, an dem Georges Danton und seine Freunde auf Betreiben Robespierres und St. Justs hingerichtet wurden. Das lauschende Du, mit dem sich das lyrische Subjekt in eins setzt, erinnert an jemanden, der - wie Celan in seiner Büch¬ nerpreisrede ausführt - „hört und lauscht und schaut ... und dann nicht weiß, wovon die Rede war“ (S. 300). Es ist Camille Desmoulins’ entsetzte, trauernde Witwe, die nach seiner Hinrichtung zu begreifen anfängt, was Sterben heißt, und es doch nicht wahrhaben will und kann, da ja sonst alles weiterleben dürfe:123 Der Strom des Lebens müßte stocken, wenn nur der eine Tropfen verschüttet würde. [...] nein! es darf nicht geschehen, nein - ich will mich auf den Boden setzen und schreien, daß er¬ schrocken Alles stehn bleibt, Alles stockt, sich nichts mehr regt. [...]. Das hilft nichts, das ist noch alles wie sonst, die Häuser, die Gasse, der Wind geht, die Wolken ziehen. - Wir müs¬ send wohl leiden. (B 132)

Es ist die Resignation dessen, der erfahren muß, daß auch nach dem entsetzlichsten Geschehen „nichts stockt“, wie es am Ende von Celans Gedicht heißt. Aber es ist nicht das letzte Wort Luciles. Ihr bleibt noch das absurde, ihre unvermeidliche Selbstopfe¬ rung herbeiführende „Gegenwort“: „Es lebe der König!“, das für Celan zum Synoym der Kunst schlechthin geworden ist. Auch sein „Weihnachtsgedicht“ schließt mit einem „Gegenwort“, dessen resignativer Gehalt ästhetisch durch Zeilenbrechung und Verseinzug aufgehoben wird: 47

A. „Der Büchner-Bazillus in unserer Literatur

Nichts stockt.

Wenn „nichts“, weder Natur noch Gesellschaft, angesichts der barbarischen Ereignisse der Weltgeschichte ins Stocken geraten, so stockt doch die Kunst, das sich erinnernde Gedicht, indem es formalästhetisch eine unübersehbare Zäsur setzt. In der Büchnerpreisrede verweist Celan ferner auf „eine kleine Geschichte“, in der er „einen Menschen ,wie Lenz“ durchs Gebirg gehen ließ“ (S. 307). Gemeint ist sein Prosa¬ gedicht Gespräch im Gebirg (1959), in dem eine Begegnung beschrieben wird: eine Begegnung mit einem Du, die sich als Selbstbegegnung, als „eine Art Heimkehr“, er¬ weist. Was in der Preisrede ein „Gegenüber“ genannt wird, das sich im dialogischen Raum des Gedichts konstituiert, nimmt im Gespräch im Gebirg die wahlverwandte Gestalt von Büchners Lözz-Novelle an, deren Wort- und Bildmaterial Celan der eige¬ nen Textur einverleibt.124 Das Gespräch im Gebirg entpuppt sich somit als permanenter intertextueller Dialog mit Büchners Lenz. Wie sich darin „das angesprochene“ Du, der Text Büchners, konstituiert, so formiert sich auch das „ansprechende und nennende Ich“, der Text Celans. In konsequenter Chronologie folgt das Gespräch im Gebirg der Metaphorik und den Selbstaussagen der Lmz-Novelle. In der Büchnerpreisrede erhält die über die Lenz-Figur erfolgte Selbstbegegnung Celans noch eine weitere Bedeutung. Denn auf der „Heimkehr“, „auf der Suche nach sich selbst“, findet er - den rezeptions¬ historischen Spuren des Lewz-Dichters folgend - seinen bukowinischen „Landsmann Karl Emil Franzos“ wieder, den „Herausgeber jener ,Ersten Kritischen Gesammt-Ausgabe von Georg Büchners Sämmtlichen Werken und handschriftlichem Nachlaß“, die vor einundachtzig Jahren bei Sauerländer in Frankfurt am Main erschienen ist“ (S. 307). Im Bewußtsein des Lesefehlers, der Franzos am Ende von Leonce und Lena unterlaufen ist, als Valerio von Gott eine „kommende“ statt einer „kommoden Religion“ erbittet, kann Celan doch nicht umhin, „im Lichte der Utopie“, die sich mit dem Komödien¬ schluß in der Textversion seines Landsmannes assoziieren läßt, „Toposforschung“ zu betreiben. Keinen der Orte seiner buchenländischen Heimat, die er „mit wohl sehr un¬ genauem, weil unruhigem Finger“ auf „einer Kinder-Landkarte“ sucht, vermag er mehr wiederzufinden. Statt dessen findet er „etwas - wie die Sprache - Immaterielles, aber Ir¬ disches, Terrestrisches, etwas Kreisförmiges, über die beiden Pole in sich selbst Zurück¬ kehrendes und dabei - heitererweise - sogar die Tropen Durchkreuzendes

... [er]

finde[t] einen Meridian“ (S. 308). In der Begegnung mit Büchner ist Celan „diesen Weg des Unmöglichen“ zum „Ort“ seiner „eigenen Herkunft“ in die kakanische Bukowina zurückgegangen, einen Heimweg, der eine „Atemwende“ zu verheißen scheint.

2.5

Dramatische, lyrische und erzählende Texte Oder Büchner, der in Zürich starb

100 Jahre vor deiner Geburt Alt 23, aus Mangel an Hoffnung (Heiner Müller, 1956).

Die Reihe der schon in den späten 40er Jahren über Büchner und seine Werke entstan¬ denen belletristischen Texte wird in den 50er Jahren „hüben und drüben“ mit zwei Ro¬ manen, einer Erzählung, zwei Anekdoten, einem Gedicht und einem dramatischen Prolog fortgesetzt. 48

2. „Kalter Krieg“, Stalinismus, Restauration und Wirtschaftswunder

Der Münchner Schriftsteller Paul Alverdes, ehemaliger Mitherausgeber der (zeitwei¬ lig verbotenen) Monatsschrift „Das Innere Reich“ (1934-1943), verfaßte 1951 einen Szenischen Prolog zu „Dantons Tod“ (Nr. 20) - vermutlich für die Inszenierung des Dramas im Juli desselben Jahres an den Münchner Kammerspielen unter der Regie Hans Schweikarts. Das Konzept der Inszenierung stellt die Tragödie der Revolution in eine Kontinuität, die von den französischen Jakobinern bis zu den russischen Bol¬ schewiken reicht.125 Dieser Dramaturgie entsprechend läßt Alverdes den Prolog „in Gestalt eines Mannes“ als Kommentator einer barbarischen Revolution auftreten, deren Ende ebenso wenig abzusehen sei wie die Suche des ohnmächtigen, blutenden Volkes „nach sich selbst“. Das Schicksal Frankreichs steht stellvertretend für jenes der ganzen Menschheit. Nach der Hinrichtung des „tyrannischen Königs“, die „ein neues Zeitalter der Menschheit“ zu versprechen scheint, erschallen jedoch Rufe, die sowohl Danton wie auch Robespierre als „Mörder“ oder „Verräter“ verdammen. Unaufhaltsam mar¬ schiert die Revolution weiter, begleitet von der Marseillaise, deren Fanfaren den Prolog in Angst versetzen, „als sollte ein jeder Notenkopf darin mit noch einmal tausend Menschenköpfen bezahlt werden“ müssen. Die Angst kippt schließlich in hysterische, selbstzerstörerische Panik um: „Dann wird er eben bezahlt! / Das soll es uns wert gewe¬ sen sein! / Das muß es uns wert gewesen sein!“ (S. 226) Der Prolog dient offenbar als Rezeptionsvorgabe für die anschließende Inszenierung von Dantons Tod, in der die Revolution von 1789 (und in sie eingeblendet jene von 1917) zur total entmenschlich¬ ten und anonymen Machtmaschinerie instrumentalisiert wird. Ähnliche antirevolu¬ tionäre Aufführungen des Dramas in der Nachfolge von Max Reinhardts legendärer Berliner Danlon-\nszcnierung (1916) gab es in Österreich: zuerst 1947 am Wiener Burg¬ theater (unter der Regie Adolf Rotts) und dann noch 1960 anläßlich der Wiener Fest¬ wochen im Volkstheater (unter der Regie Gustav Mankers). Die beiden erklärten BrechtGegner Plans Weigel (1960, Nr. 39) und Friedrich Torberg würdigten die unpolitischen und enthistorisierenden Tendenzen von Mankers Inszenierung, die - unter Berufung auf den desillusionierten Autor - „die Vergeblichkeit aller Revolutionen“ offenbarte126 und den Thermidor zur „allgegenwärtigen Tragödie aller“ (S. 299) stilisierte. Ein skeptisches, wenn nicht gar pessimistisches Welt- und Menschenbild vertritt auch Heiner Müller im Zusammenhang mit seiner Annähemng an Büchner. 1956, im To¬ desjahr Brechts, von dessen Anmerkungen zur Tradition des „epischen Theaters“ und zur „realistischen Schreibweise“ der dramatische Anfänger auch im Hinblick auf Büch¬ ner zweifellos etliche Impulse empfangen hat, schrieb er ein kurzes, nur drei Zeilen umfassendes Gedicht: „Oder Büchner, der in Zürich starb / 100 Jahre vor deiner Ge¬ burt / Alt 23, aus Mangel an Hoffnung“.127 Diese Verse stehen ursprünglich am Ende eines Lektionen überschriebenen, aus fünf Gedichten bestehenden Zyklus, in dem der Verfasser Zwiesprache mit sich selber, aber auch mit Brecht, Büchner und anderen revolutionären Autoren hält.128 Die erste Anspielung auf Brecht und Büchner findet sich bereits im ersten Gedicht Zwei Briefe, in dem das Gespräch zweier Republikaner über Demokratie mit den Versen kommentiert wird: „Jeder ein Weiser nach Keuners Entwurf / Kein Gedanke, der nicht durch den Magen geht / Und keine Angst vor Pfützen wie bei Büchner“.129 Abgesehen von der Reminiszenz an Brechts aufklärerische Geschichten vom Herrn Keuner (1930/56) wird hier auf die revolutionäre „Magenfrage“ und auf jene groteske Szene in Dantons Tod (II/2) angespielt, in der ein promenierender „Herr“ - unbeschadet des aktuellen, lebensbedrohlichen Revolutionsgeschehens - sich 49

A. „Der Büchner-Bazillus in unserer Literatur“

in Reflexionen über ein neues Theaterstück verliert, darüber von Schwindel erfaßt wird und schließlich die Hilfe eines anderen „Herrn“ in Anspruch nehmen muß, um bei sei¬ nem Spaziergang unversehrt über eine Pfütze zu gelangen: 2. Herr: Haben Sie das neue Stück gesehen? Ein babylonischer Turm! Ein Gewirr von Ge¬

wölben, Treppchen, Gängen und das Alles so leicht und kühn in die Luft gesprengt. Man schwindelt bei jedem Tritt. Ein bizarrer Kopf, (er bleibt verlegen stehn.) 1. Herr: Was haben Sie denn? 2. Herr: Ach nichts! Ihre Hand, Herr! die Pfütze, so! Ich danke Ihnen. Kaum kam ich vorbei,

das konnte gefährlich werden! (B 95)

In dieser grotesken Szene manifestiert sich die Wirkungslosigkeit der Revolution trotz ihrer elementaren Gewalt. Die Gefährlichkeit der Pfütze hat den Gedanken an die Re¬ volution verdrängt. Ähnlich wirkungslos sei - so Müllers erste daraus gelernte analoge „Lektion“ - die große, aufklärerische und revolutionäre, aber stets „mißverstandene“ Literatur, ob von Shakespeare, Büchner, Johannes R. Becher oder Brecht: „Oder der mißverstandene Bertolt Brecht / Mit großer Zähigkeit und etwas Hoffnung / Mehr als den Bogen spannen konnte auch er nicht / Wieviele Strohköpfe überlebten ihn.“130 Mit die¬ sen Versen korrespondiert das schon zitierte letzte Gedicht von Müllers Oder Büchner.

Lektionen:

Abgesehen von der - mit poetischer Freiheit veränderten - Tatsache,

daß Büchner 92 Jahre vor Heiner Müllers Geburt an Typhus gestorben ist,131 wird hier mit anaphorischer Rhetorik („oder“) eine Analogie zu Brecht hergestellt. Beide Dich¬ terrevolutionäre erlebten Enttäuschungen: der eine durch das Scheitern des Hessischen Landboten und der „Gesellschaft der Menschenrechte“, der andere durch den niederge¬ schlagenen Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953, für dessen Ursache (den Protest gegen eine erneut verordnete Produktionssteigerung bei gleichzeitiger Lohnsenkung) Brecht Verständnis aufgebracht haben soll.132 Beide Dichter wurden mißverstanden und star¬ ben mehr oder minder ohne Hoffnung auf Verwirklichung ihrer gesellschaftspoliti¬ schen Zielvorstellungen, an deren Berechtigung und Notwendigkeit sie jedoch zeidebens festgehalten haben. Auch die anderen „Lektionen“ Müllers, die sich auf Wladimi r Majakowski und Hölderlin beziehen, thematisieren das „Paradox der Revolution“, das Hans Mayer am Beispiel Büchners als Widerspruch zwischen „optimistischer“ und „pessimistischer Weitsicht“, „Fortschritt und Freiheit“, „Kreislauf und Gebundenheit des menschlichen Handelns durch gegebene Determinanten“ definiert hatte.133 Müller variiert diese Definition im zweiten Gedicht der

Lektionen

am Beispiel Brechts zum

Widerspruch zwischen „Finsternis“ und „Helle“.134 Der „mit großer Zähigkeit“ unter¬ nommene Versuch, einen Ausweg aus diesem „Paradoxon“ zu finden, scheint jedoch in jeder „Lektion“ pessimistisch zu enden. Bei keinem der angemfenen Dichterrevolutio¬ näre findet Müller eine tragfähige Hoffnung, es bleibt ihm nur, wie es in der Schlu߬ zeile der ersten „Lektion“ heißt: „die Spanne zwischen Nichts und Wenig“.135

Aus der Bundesrepublik haben in den 50er Jahren der Göttinger Schulrektor Willi Fehse und der Pforzheimer „Rentner und freie Schriftsteller“ Klaus Nonnenmann zwei Beispiele humoristisch-anekdotischer Kurzprosa vorgelegt. Fehses Miniatur Der Feuer¬ geist (1953, Nr. 22) ist die erzählerische Umsetzung eines Briefzitats, in dem Büchner seinen Eltern mitteilt, daß er den Gießener Universitätsrichter Konrad Georgi während seiner Vernehmung am 5. August 1834 „mittels des höflichsten Spottes fast ums Leben gebracht“ habe (B 294). In lockerer, dialogischer Form schildert Fehse, wie sich „der 50

2. „KalterKrieg“, Stalinismus, Restauration und Wirtschaftswunder

junge Feuergeist“ in das Amtsgebäude begibt, „um den Stier bei den Hörnern zu pakken“, und wie es ihm dank seiner „entwaffnenden“ und ironischen „Zivilcourage“ ge¬ lingt, den Fängen der staatlichen Obrigkeit zu entkommen, gegen die es - wie mit einem weiteren revolutionären Briefzitat Büchners erläutert wird - sonst „keine andere Berufung als Sturmglocken und Pflastersteine gab“ (S. 229). Klaus Nonnenmanns frühe Anekdote Warum nicht auch Knollingen? (1953, Nr. 24) stellt eine originelle Satire auf den peniblen Detailfetischismus der Büchnerforschung und auf jene Institutionen dar, die aus der „von Jahr zu Jahr“ weiter in die Welt ausstrahlenden Wirkung des „ewig modernen, genialen Dramatikers“ Kapital schlagen möchten. Warum sollte davon nicht auch Knollingen profitieren? Denn hier beim Ochsenwirt habe Büchner einst „auf seiner fluchtartigen Reise“ von Straßburg in die Schweiz eine Nacht verbracht, so die sensationelle Entdeckung eines hiesigen siebzi¬ gjährigen Archivrats, den vor lauter Aufregung sogleich der tödliche Schlag trifft. Aber die Kreisstadt Knollingen verdankt „dieser wahren Tiefenschürfung in der Historie“ einen unaufhaltsamen Aufstieg: die Errichtung eines Büchnermuseums, die Pflanzung einer „Georg-Büchner-Linde“, die Gründung der „Georg-Büchner-Festspiele“, die all¬ jährlich Dantons Tod und die Leiden des armen Woyzeck zur Aufführung bringen, und als neueste Errungenschaft - die Produktion eines „Büchnerfilms“. Die Persiflage auf die ambitionierte, die weltliterarische Bedeutung des Dichters reklamierende Büchner¬ rezeption erreicht ihren Höhepunkt in der „überaus klugen Regie des Stadtrates“, die Festspielstatistik dadurch zu steigern, daß die ins Französische übertragenen Texte Büchners von der Tochter des Ochsenwirtes ins Deutsche rückübersetzt werden, was „in hohem Maße dazu beitrug, die Dramen Georg Büchners als eines ausländischen Autors in Deutschland populär zu machen“ (S. 242). Wesentlich umfänglicher sind die Erzähltexte, die in den 50er Jahren von DDR-Autoren über Büchner verfaßt wurden. Wie Franz Bauer (1949, Nr. 16) hat auch Bert Bren¬ necke, ehemaliges Mitglied des Stuttgarter Soldatenrats während der Novemberrevolu¬ tion 1918 und nunmehriger Leiter des „Hauses für Deutsch-Sowjetische Freundschaft“ in Halle, eine breit angelegte, historisch-biographische Büchner-Erzählung verfaßt, die 1954 unter dem Titel Ihr Maß ist voll erschien (Nr. 25). Bei dem Titel handelt es sich um ein Zitat: aus dem Hessischen Landboten, wo es sich wiederholt auf die „Schandtaten“ der deutschen Fürsten bezieht, „die die Bürger und Bauern peinigten und ihr Blut aus¬ saugten“ (B 60). Zusammen mit dem „Wahlspruch“ der Flugschrift „Friede den Hütten! Krieg den Palästen!“, der die Erzählung beschließt, bildet das Titelzitat eine Klammer, die das Leitmotiv Brenneckes enthält, daß angesichts der im Hessischen Landboten so auffüttelnd dargestellten Knechtschaft des Volkes die Zeit für eine tiefgreifende Revo¬ lution endlich reif sei. Wie Bauer hält sich auch Brennecke eng an die historischen Quellen, die im Anhang einzeln aufgelistet werden. Büchners Schicksal wird konse¬ quent in den zeitgeschichtlichen politischen und gesellschaftlichen Kontext Deutsch¬ lands und Frankreichs eingebettet. Gleich zu Beginn wird der kalendarische Zusam¬ menfall seines Geburtstags mit der Völkerschlacht bei Leipzig kräftig ausgemalt, wodurch der Eindmck entsteht, als stünden Napoleons Untergang und Büchners Geburt in einem geheimnisvollen, diametralen Zusammenhang. Das Zentrum der Erzählung bil¬ den die Vorgänge um die „Gesellschaft der Menschenrechte“ und den Hessischen Land¬ boten. Das zukunftsweisende politische Credo legt Brennecke jedoch weder Büchner noch Weidig in den Mund, sondern einem älteren Mann, der Büchner auf dessen 51

A. „Der Büchner-Bazillus in unserer Literatur“

erster Reise zum Studium nach Straßburg in der Postkutsche begleitet. Der „sonderba¬ re“ Fremde, ein überzeugter Saint-Simonist, erklärt seinem jungen Zuhörer, daß nur eine Klasse befähigt sei, die Führung zu übernehmen, nämlich die Arbeiterschaft ... Wer das richtig versteht und die Zeichen der Zeit zu deuten weiß, wird erkennen, daß in der weiteren Entwicklung der menschlichen Gesellschaft notgedrungen einmal diejenige Klasse, die die nützlichsten Arbeiten verrichtet, auch die erste Rolle im Staate spielen wird.136

Noch umfangreicher ist der Büchner-Roman geraten, den 1956 der Greifswalder Lite¬ rarhistoriker Hans Jürgen Geerdts unter dem Titel Hoffnung hinterm Horizont publizierte (Nr. 31). In zwölf chronologisch aneinandergereihten, mit thematischen Überschriften versehenen Kapiteln wird in konventioneller, auktorialer Erzählweise das Leben Büch¬ ners geschildert, allerdings erst ab einem relativ späten Zeitpunkt, nach der Verhaftung Karl Minnigerodes (31. Juli 1834). Der im Mai 1837 amnestierte, 1839 nach Amerika abgeschobene Freund Büchners beschließt dann auch den Roman. In London, wo die Überquerung des Atlantiks ihren Ausgang nehmen soll, gerät Minnigerode zufällig in eine Arbeiterdemonstration. Durch die Erinnerung an Büchner und die gemeinsamen Erlebnisse in der „Gesellschaft der Menschenrechte“ beflügelt, schließt er sich dem Protestmarsch an, wird verhaftet, aber - nach Intervention eines Schiffskapitäns - wie¬ der freigelassen, so daß seiner Emigration nach Amerika nichts mehr im Wege steht. Mit dieser frei erfundenen Schlußepisode erläutert Geerdts den utopischen Titel seines Romans dahingehend, daß Büchners Sozialrevolutionäre Ideen, wenn schon nicht in Deutschland, so doch im Exil weiterleben.137 Breiten Raum nehmen hier die Werke Büchners, vor allem Dantons Tod und Wcyzeck ein. Wie in seinem späteren Essay (Nr. 47) identifiziert Geerdts den Dichterrevolutio¬ när politisch mit Robespierre, mag dessen zelotische „Askese im Schatten des Blut¬ gerüsts“ auch wenig liebenswert erscheinen.138 Die wahre revolutionäre Kraft verkörpert jedoch, wie Geerdts seinen Helden erkennen läßt, das von Danton verachtete, obschon einst geliebte und von Robespierre geachtete, aber ungeliebte Volk: „Aber was hieß Danton, was Robespierre? Immer sehnsüchtig, nimmersatt tummelte sich das Volk von Paris auf den Plätzen. Es besaß Instinkt, ihm kam es nicht auf den Mann an, nur auf die Tat. Es verlangte Brot und Zeit, um ein wenig über sich selber nachzusinnen.“139 Hervorzuheben ist noch jenes Romankapitel, in dem die Entstehung des WoyzeckDramas in Szene gesetzt wird. In einem sonderbaren Zustand zwischen Traum und Bewußtsein begegnet Büchner nachts an einem Teich einer fremden Gestalt und führt mit ihr ein inquisitorisches Gespräch. Die entscheidenden Erlebnisse, deren sich die Gestalt auf Geheiß Büchners erinnert, werden von diesem sogleich gemäß der sozialkri¬ tischen Konzeption seines späteren Dramas korrigiert und interpretiert. Das Verhör gipfelt in der Frage, warum der Fremde seine Lebensgefährtin erstochen habe. Während dieser nur stumpf antwortet: „Weiß es nicht“, deutet Büchner die Tat als ohnmächti¬ gen, verzweifelten Aufschrei einer von ihrer unmenschlichen Umgebung geschundenen Kreatur: geschunden vom Meister in der Lehre, vom Feldwebel beim Militär, vom Arzt und dem Tambourmajor. Fassungslos hört die gespenstische Gestalt das Plädoyer ihres Verteidigers. Bevor sie endgültig im Schilf verschwindet, stammelt sie noch: „Ich ver¬ steh Euch nicht.“ (S. 268) Aber Geerdts’ Büchner versteht seinen Klienten und wird dessen Schicksal dramatisieren. Insgesamt wurde Geerdts’ Roman von der marxistischen Literaturkritik der DDR wohlwollend aufgenommen. Besonders gewürdigt wurde die Vermeidung von Ana52

2. „Kalter Krieg“, Stalinismus, Restauration und Wirtschaftswunder

chronismen bei der Konzeption Büchners, der Hauptfigur, der es - trotz allem politi¬ schen Engagement - aus historischen Gründen noch versagt bleiben müsse, das ihr „unheimlich“ erscheinende Gesetz des gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses zu be¬ greifen.140 In der Schlüsselszene des Romans erklärt Büchner - von den Gendarmen im Darmstädter Elternhaus bewacht, heimlich unter den Anatomielehrbüchern den Dan¬ ton entwerfend und auf seine Flucht sinnend - seinem engsten Vertrauten August Becker, daß er „keine Lust“ habe, den Bourgeois aufs Stühlchen zu helfen und ihnen ganz Deutschland, einschließlich Stra߬ burg, zu schenken. Die Bauern aber sind noch zu reich. August, was soll ich mit reichen Hungerleidem? Erst wenn sie Dreck fressen, können sie mir wohlgefällig sein. Ihr redet immer von Dingen, die mein Herz kalt lassen ... Freiheit ... ein einiges Reich ... Gerechtigkeit ... Demokratie .... Verteilung des Besitzes ... Mein lieber Eisenfresser, das ist Quark. Die Ge¬ schichte will ein anderes. Aber ich begreife noch nicht, was sie will, August, ich begreife es noch nicht, das unheimliche Gesetz.141

Den dialektischen Materialismus als dieses Gesetz der Geschichte zu begreifen und wis¬ senschaftlich zu begründen, sollte erst den Verfassern des dreizehn Jahre später erschie¬ nenen Kommunistischen Manifests Vorbehalten bleiben. Nur so viel ahnt bereits Geerdts’ Protagonist, daß sich in der Französischen Revolution auch die Jakobiner geirrt hätten und daß daher „das gute Ende“ von Dantons Tod, „diesem verfluchten Stück“, „erst in der Zukunft geschrieben werden“ könne.142 Zu den älteren Autoren, die sich - wie etwa Csokor und Edschmid - schon in der Zwischenkriegszeit intensiv mit Büchner, sowohl essayistisch als auch editorisch, befaßt hatten, zählt Arnold Zweig.143 In den Zwanziger Jahren hatte er unter dem Titel Der große Krieg der weißen Männer mit der Konzeption eines monumentalen Romanzyklus begonnen, der mit der Darstellung des imperialistischen Zeitalters und des Ersten Weltkriegs als markanter Epochenzäsur zu einem historisch vertieften Vorverständnis des Nationalsozialismus beitragen sollte. Nach seiner Rückkehr aus dem palästinensi¬ schen Exil 1948 setzte Zweig die Arbeit an der Romanreihe fort, deren letzter Band 1957 unter dem Titel Die Zeit ist reif veröffentlicht wurde (Nr. 32). Der Roman schildert den ersten Zeitabschnitt des Zyklus vom August 1913 bis zum Frühjahr 1915. Am Schicksal der beiden Hauptfiguren, des jüdischen Schriftstellers Werner Bertin und sei¬ ner Verlobten Lenore Wahl, stellt Zweig die Desillusionierung der bürgerlichen, intel¬ lektuellen Jugend angesichts der Erkenntnis dar, daß hinter den Unmenschlichkeiten des Völkermordens „nicht das heroische Opfer, sondern der Profit der Großgrund¬ besitzer, des Industriekapitals, der Banken“ stehe.144 Das kulturelle Schlüsselerlebnis am Vorabend des Ersten Weltkriegs bildet eine von Bertin und Lenore gemeinsam besuch¬ te Vorstellung der IFozz^-Tragödie, die damals, Ende 1913, zum hundertsten Geburts¬ jubiläum Büchners, im Münchner Residenztheater mit Albert Steinrück in der Titel¬ rolle zur Uraufführung gelangt war. Die „arme getretene Kreatur“ Wozzeck, in dem die beiden Liebenden „wahrhaftig einen Menschen unseresgleichen“ erblicken, „den die Gemeinheit“, das heißt „die herrschende Klasse“, „zerdrückt“ (S. 270), weckt das sozial¬ kritische Bewußtsein des Publikums und bestärkt Bertin, als Dramatiker „der Bahn“ Büchners zu folgen. Die mit der enthusiastischen Hinwendung zum Wozzeck-Dichter verbundene Abwendung von Hebbel erinnert an Friedrich Wolf (Nr. 9), der 1951 nach eingehendem Studium der für die Schulen der DDR vorgesehenen neuen Lehrpläne und Lesebücher dringend empfohlen hatte, „Hebbels ,Maria Magdalena1 wegzulassen 53

A. „Der Bücbner-Bazillus in unserer Literatur

und stattdessen Georg Büchners ,Woyzeck‘ einzusetzen“. Mit dem Woyzeck, so Wolfs Begründung, „beginnt das erste wirklich sozial betonte realistische Drama in Deutsch¬ land. Ich weiß nicht, was Hebbels ,Maria Magdalena1 unseren Schülern literarisch und ideologisch zu sagen hat?“ (S. 168)

3.

Die Mauer: Eiszeit und Tendenzwende, Rezession und Revolte Die 60erJahre Wir gehören zwei Teilen eines Ganzen an, das nicht existiert; zwei Teilen, von denen jeder leugnet, Teil zu sein, und jeder auftritt im Namen des Ganzen und als wäre er ganz. Das Ganze, nicht mehr vorhanden, ist somit zugleich halbiert und gedop¬ pelt. Dieser Zustand gilt zugleich als vorläufig und als definitiv: das Provisorium ist unantastbar. (Hans Magnus Enzensberger, 1963, Nr. 49)

Die 60er Jahre sind durch tiefgreifende politische und wirtschaftliche Krisen gekenn¬ zeichnet. Das einschneidendste und folgenreichste Ereignis steht gleich zu Beginn und erfolgte buchstäblich über Nacht: der Bau der Berliner Mauer. Im ersten Jahrzehnt der Existenz der DDR hatten mehr als zwei Millionen Menschen das Land verlassen. Um dieser Massenflucht Einhalt zu gebieten, ließ die Regierung am 13. August 1961 über¬ raschend eine Sperrmauer zwischen Ost- und West-Berlin errichten. Der „antifaschi¬ stische Schutzwall“ sollte sich aus der Sicht seiner Erfinder als durchaus erfolgreich erweisen, denn er bewirkte einen beträchtlichen Rückgang der sogenannten „Republik¬ flüchtigen“ auf insgesamt 156.000 im Zeitraum von 1961 bis 1974.145 Die massiven politischen und sozialen, wirtschaftlichen, psychologischen und kulturellen Folgen des Mauerbaus waren jedoch verhängnisvoll und keineswegs nur auf Berlin und die beiden deutschen Staaten beschränkt, die ganze Welt schien nunmehr unwiderruflich in die feindlichen Machtblöcke des Ostens und des Westens geteilt zu sein. Nicht minder als die äußeren, materiellen „Konsequenzen“ waren die inneren, seelischen „Beschädigun¬ gen“, die durch diesen „Riß“ verursacht wurden. Im Westen schien der am 11. Oktober 1963 erfolgte Rücktritt Konrad Adenauers, der sich in den letzten Jahren einer wachsenden Kritik von seiten der intellektuellen Opposition ausgesetzt sah, das Ende einer Ära zu besiegeln. Seinen Abgang verbanden viele Zeitgenossen mit der Hoffnung auf baldige Überwindung einer als lähmend emp¬ fundenen Restaurationspolitik. Adenauers Nachfolger wurde der bisherige Wirtschaftsminister Ludwig Erhard, ein unbeirrter Verfechter der „sozialen Marktwirtschaft“, die sich jedoch seit Mitte der 60er Jahre als immer krisenanfälliger erweisen sollte. Die wirt¬ schaftliche Rezession und der rapide Anstieg der Arbeitslosigkeit vergrößerten unauf¬ haltsam das Defizit des Bundeshaushalts, so daß sich die FDP am 27. Oktober 1966 entschloß, das Regierungsbündnis mit der CDU/CSU aufzukündigen. Schon einen Monat später kam es zur Bildung einer unpopulären „Großen Koalition“ aus CDU/ CSU und SPD unter dem ehemaligen NSDAP-Mitglied Kurt-Georg Kiesinger als Bun¬ deskanzler und Willy Brandt als Vizekanzler und Außenminister, gegen die sich bald eine „Außerparlamentarische Opposition“ (APO), getragen hauptsächlich von der stu¬ dentischen Protestbewegung und der „Neuen Linken“, formierte. Viele ältere und jün¬ gere Intellektuelle nahmen - wie der Berliner Germanistik-Student Friedrich Christian 54

3. Die Mauer: Eiszeit und Tendenzwende, Rezession und Revolte

Delhis (vgl. Nr. 54) - enttäuscht Abschied

von Willy:

„Brandt: es ist aus. Wir machen

nicht mehr mit. / Viel Wut im Bauch. Die Besserwisser grinsen. / Der letzte Zipfel Hoffnung ging verschütt.“146 Bereits ein halbes Jahr nach Bildung der „Großen Koalition“ kam es am 2. Juni 1967 anläßlich des Berlin-Besuchs des persischen Schahs Resa Pahlawi zu den ersten schwe¬ ren Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und staatlichen Ordnungskräften. Dabei wurde der 26jährige unbewaffnete Germanistik-Student Benno Ohnesorg von einem Polizisten „in Notwehr“ erschossen. Daraufhin solidarisierten sich in zahlreichen Universitätsstädten der Bundesrepublik die Studenten mit den Berliner Demonstran¬ ten. Der Tod Benno Ohnesorgs wurde zur eigentlichen Geburtsstunde der APO, zu deren einflußreichstem Protagonisten der aus der DDR stammende Kriegsdienstverwei¬ gerer und nunmehr in West-Berlin an der Freien Universität Soziologie studierende Rudi Dutschke avancierte. Als Vorsitzender des Sozialistischen Deutschen Studenten¬ bundes (SDS) befürwortete er die Eskalierung der Gewalt - von seiten des staatlichen Machtapparates ebenso wie von seiten der Opposition - zur Schaffung eines totalen, revolutionsbereiten Chaos. Die prominenteste Gegenstimme kam postwendend von Jürgen Habermas, der unmißverständlich vor den Gefahren dieses „linken Faschismus“ warnte, weil das kalte Kalkül der Macht „das Risiko von Menschenverletzung“ absicht¬ lich einschließe.147 Hier zeichnete sich bereits der Bruch der antiautoritären Studen¬ tenbewegung mit der aus der Frankfurter Schule hervorgegangenen „Kritischen Theo¬ rie“ ab. Mit den von Dutschke im Februar 1968 organisierten Demonstrationen gegen den amerikanischen Vietnam-Krieg trieben die studentischen Protestaktionen ihrem Höhepunkt zu. Aber schon zwei Monate später, am Gründonnerstag, dem 11. April 1968, wurde Dutschke selber ein Opfer der Gewalt, als er bei einem Attentat durch mehrere gezielt auf ihn abgefeuerte Pistolenschüsse lebensgefährlich verletzt w'urde. In der Folge kam es noch während der Osterfeiertage zu den schwersten Straßenschlach¬ ten, die die Bundesrepublik je erlebt hat. Gleichzeitig meldeten sich skeptische Stim¬ men auf die Frage, ob „eine Revolution unvermeidlich“ sei. Paul Celan hoffte im Rück¬ blick auf 1933 und die Folgen zwar „immer noch auf Änderung“ und „Wandlung“ Deutschlands, warnte aber vor „Ersatzsystemen“: Die „soziale und zugleich antiauto¬ ritäre“ Revolution fange „in Deutschland, hier und heute, beim Einzelnen an. Ein Vier¬ tes bleibe uns erspart.“148 Nach dem Mordanschlag auf Rudi Dutschke zerfiel der SDS in verschiedene Fraktionen. Die APO erfuhr eine unaufhaltsame Abschwächung. Die überwältigende Mehrheit der „Achtundsechziger“ distanzierte sich von der Gewalt als probatem Mittel zur grundlegenden Veränderung der gesellschaftlichen Ordnung und befürwortete einen pragmatisch-evolutionären, systemimmanenten Wandel der politi¬ schen Verhältnisse. Mit den Bundestagswahlen vom Herbst 1969 und der daraus her¬ vorgegangenen Koalitionsregierung aus SPD und FDP schien die Zeit für den langer¬ sehnten Machtwechsel endlich gekommen zu sein. Die vielfältigen Krisen der 60er Jahre zeitigten bei den meisten Schriftstellern eine schärfere Profilierung ihres politischen Selbstverständnisses. Schon 1961 hatten zahlrei¬ che Intellektuelle unter Führung von Walter Jens der als undemokratisch empfundenen Politik der damaligen Bundesregierung ihren „Nonkonformismus“ entgegengehalten, dessen kulturelle Repräsentanz vor allem der Gruppe 47 zugeschrieben wurde. Doch so verdienstvoll diese lose Autorenvereinigung die fortschrittliche, „engagierte“ Literatur in den 50er und frühen 60er Jahren repräsentiert hatte, so ohnmächtig stand sie später dem gesamtgesellschaftlichen Polarisierungsprozeß gegenüber. Ihre faktische Auflösung 55

A. „Der Büchner-Bazillus in unserer Literatur“

im Jahre 1967, als deren Grund von Kritikern die politische Indifferenz vieler ihrer Mitglieder geltend gemacht wurde, bedeutete eine Zäsur, welche die Epoche der deut¬ schen Nachkriegsliteratur beendete.

3.1

Rückblick und „ engagierte Einsamkeit “ Was von der Literatur unserer Tage übrigbleiben wird, kann nur Monolog sein. [...]. Sollte die Größe des Menschen in seiner Einsamkeit liegen? (Hans Erich Nossack, 1961, Nr. 41) Ich verabscheute meine

Generation,

es

erboste mich ihre

Bravheit der Kälber im Pferch des Metzgers, und als ich mit ihnen zur Musterung gehen mußte [...], da hätte ich trotz Büchners Warnung, „daß jeder, der im Augenblicke sich aufop¬ fert, seine Haut wie ein Narr zum Markte trägt“, auf die Straße gehen und schreien mögen. (Wolfgang Koeppen, 1962, Nr. 42)

Die Büchnerpreisreden Hans Erich Nossacks und Wolfgang Koeppens vermitteln ein widersprüchliches Bild. Nossack beginnt mit einem Rückblick auf seine „intensive“ Beschäftigung mit Büchner und dessen Zeit. Um 1935 hatte er ein Theaterstück mit dem Titel Der Hessische Landbote verfaßt, nachdem er zuvor aus Gegnerschaft zum Nationalsozialismus in die KPD eingetreten und daraufhin im Jahre 1933 Hausdurch¬ suchungen durch die Gestapo ausgesetzt war. Nossack verstand sein Büchner-Drama als einen „Akt der resistance“: „die Auflehnung der Jugend gegen Diktatur und Restau¬ ration“ (S. 308). Die „geschichtlichen Parallelen“ zwischen der Vormärzepoche und dem „Dritten Reich“ waren ihm evident, ein „spezifisch deutsches Schicksal“: die Ver¬ folgung, Verbannung und Ermordung revolutionärer Aktivisten. Das Manuskript des Dramas ist 1943 bei einem Bombenangriff auf Hamburg verbrannt. Was dem späteren Büchnerpreisträger davon in Erinnerung blieb, war eine von dem Vormärzdichter mit erschreckender Hellsichtigkeit vorausgeahnte Revolution, „die durchzuführen die Auf¬ gabe der nächsten Jahrhunderte sein“ werde: „Die Auflehnung des Menschen gegen die Abstraktion.“ (S. 312) Darauf gründet Nossack sein literarisches Engagement und nimmt eine Position ein, wie sie mit ähnlichem Wortlaut bereits Max Frisch am Ende seiner Büchnerpreisrede vertreten hatte. Nossacks Schlußfolgerung unterscheidet sich jedoch erheblich von Frischs „individuellem Engagement an die Wahrhaftigkeit“, das dieser ausdrücklich auch als ein grenzenloses, mit anderen zeitgenössischen Schriftstellern so¬ lidarisches beschrieben hatte. Am Ende seiner Rede reduziert Nossack die von Büchner abgeleitete „revolutionierende Kraft“ auf „das Alleinsein-Wollen“ des Schriftstellers und setzt seine Hoffnung „auf den monologischen Charakter der heutigen Literatur“. Damit scheint Nossack entgegen dem Standpunkt Celans wieder zur Autonomie abso¬ luter Poesie zurückkehren zu wollen, wie sie Gottfried Benn vertreten hatte. Wie Nos¬ sack die dialogische und das heißt auch soziale Qualität der Literatur ignorieren möchte, so lehnt er auch eine historische und/oder gesellschaftliche Interpretation der Werke Büchners ab. Die Lewz-Novelle preist er als „höchste Form der Prosa, die sich erreichen läßt“, eine „ahistorische Prosa und allein geeignet, die Wahrheit zu sagen“. Die „histo¬ risch-materialistische Erkiärungsweise“, die „rein bürgerlicher Provenienz“ sei, versage Büchner gegenüber völlig:

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3. Die Mauer: Eiszeit und Tendenzwende, Rezession und Revolte Indem sie uns das oberflächlich Interessante geschichtlicher Umstände deutet, mit erhobenem Zeigefinger, verstellt sie uns den Blick auf das Menschliche. Man redet vom Sozialen, weil man das Tragische nicht wahrhaben will, von der Gesellschaft, statt vom Leben; man ver¬ tauscht Mittel und Zweck. Und man bemerkt dabei nicht, daß man sich damit des Verhaltens schuldig macht, das Büchner im „Woyzeck“ und musikalisch aufgelöst in „Leonce und Lena“ persifliert und anprangert. Wäre „Woyzeck“ nichts als eine soziale Anklage, würde uns das Stück nicht mehr wehtun; es wäre nur historisch oder literaturwissenschaftlich interessant wie etwa die Dramen von Ibsen, deren Problematik nicht mehr die unsere ist. „Woyzeck“ ist aber eine höchst lästige Anklage gegen das Nützlichkeitsdenken, gegen das Gesellschaftliche als Endziel, gegen die Diktatur der Norm und des als praktisch propagierten Modells. „Woyzeck“ ist die Iragödie der Kreatur, die an der Abstraktion zugrunde geht, die Tragödie des Men¬ schen, dem es nicht gelingt, „alles zu tun, wie es die anderen tun“. (S. 311)

Trotz der abermaligen Anleihen bei Max Frisch mutet Nossacks enthistorisierende Büchner-Deutung wie ein Rückfall ins erste Nachkriegsjahrzehnt an, der symptoma¬ tisch ist für das in der Tradition deutscher Ästhetik tiefverwurzelte Vorurteil, daß nur das aller historischen, gesellschaftlichen und politischen Bedingtheiten entkleidete Werk als reine, ewige Kunst gelten könne. Kein Wunder, daß sich Hans Mayer, den Nossack als abschreckendes Beispiel „historisch-materialistischer Erklärungsweise“ im Visier gehabt haben mochte, von solch „hochmütiger Ablehnung aller geschichtlichen Interpretationen des Falles Büchner“ und fragwürdigem, jeder „Beweiskraft“ entbehren¬ dem „Rückzug in den Innenraum“ distanzieren mußte.149 Überzeugter zeigt sich Mayer hingegen von der Dankrede des nächsten Büchner¬ preisträgers. Wolfgang Koeppen spricht zwar auch als „Einsamer“ und „Außenseiter“, bekennt sich aber mit Büchner zum „Beruf' des engagierten Schriftstellers „gegen die Macht, gegen die Gewalt, gegen die Zwänge der Mehrheit, der Masse, der großen Zahl, gegen die erstarrte faule Konvention“ (S. 314). Wie viele seiner Vorgänger und Nach¬ folger kommuniziert auch Koeppen nicht nur mit Büchner, sondern auch mit den Dankreden anderer Preisträger. Wie Kästner möchte er die Auszeichnung auch im Na¬ men jener aus seiner „wahrhaft geschlagenen“, „ganz und gar verlorenen“, „vom Teufel geholten Generation“ annehmen, „die für immer verstummt sind, die umkamen, die vertrieben waren, die als Emigranten ihr Dasein fristeten, die zum Freitod gezwungen wurden, die tragisch in des Unmenschen Schlachten fielen“ (S. 315). Wie Eich sieht Koeppen den Dichter „bei den Außenseitern der Gesellschaft“, sieht „ihn als Leiden¬ den, als Mitleidenden, als Empörer, als Regulativ aller weltlichen Ordnung“, erkennt „ihn als den Sprecher der Armen, als den Anwalt der Unterdrückten, als den Verfechter der Menschenrechte gegen der Menschen Peiniger und selbst zornig gegen die grausa¬ me Natur und gegen den gleichgültigen Gott“ (S. 314). Mit Frisch, gegen den Kamnitzer den polemischen Vorwurf erhoben hatte, Büchner zur „Kassandra des 20. Jahrhun¬ derts“ herabgewürdigt zu haben (S. 284), solidarisiert: sich Koeppen, indem er den sich nicht mit den Siegern freuenden Dichter just in die „traurige Lage der Kassandra unter den Trojanern“ versetzt: „er ahnt immer, wo die ewige Bastille steht und wie sie sich tarnt, und seine bloße, seine unzeitgemäße, seine ungesicherte, seine täglich erkämpfte vogelffeie Existenz zersetzt doch allmählich jede Mauer“. Eine deutliche Anspielung auf den ein Jahr zuvor, 1961, von der DDR in Berlin errichteten „antifaschistischen Schutzwall“, zu dessen erhofftem Einsturz Koeppen die „Trompeten von Jericho“ her¬ beizitiert. Mit einem verdeckten Zitat aus Brechts Kälbermarsch straft Koeppen schlie߬ lich die Angehörigen seiner Generation, „die Hitler trugen, stützten, inthronisierten“, 57

A. „Der Büchner-Bazillus in unserer Literatur“

mit Verachtung und zeigt sich „erbost“ über die „Bravheit der Kälber im Pferch des Metzgers“ (S. 315). Koeppens Büchnerpreisrede markiert den Übergang zur entschie¬ den politischen, konkret auf das geteilte Deutschland bezogenen Aktualisierung des hessischen Dichterrevolutionärs. Den gravierenden Folgen des Berliner Mauerbaus, der Diagnose und der utopischen Therapie dieser kollektiven und individuellen Zerrissen¬ heit sind dann explizit die beiden nächsten Büchnerpreisreden von Hans Magnus En¬ zensberger und Ingeborg Bachmann gewidmet.

3.2

„Zerrissenheit “ und „Zufall“ Die Zerrissenheit ist unsere Identität. (Hans Magnus Enzens¬ berger, 1963, Nr. 49) Der Wahnsinn kann von außen kommen, auf die einzelnen zu, ist also schon viel früher von dem Innen der einzelnen nach außen gegangen, tritt den Rückweg an, in Situationen, die uns geläufig geworden sind, in den Erbschaften dieser Zeit. (Ingeborg Bachmann, 1964, Nr. 51)

Mit dem 34jährigen Hans Magnus Enzensberger, dem bis dahin jüngsten Büchnerpreis¬ träger, wurde „gegen mancherlei Widerstand“ erstmals ein Vertreter der „Neuen Lin¬ ken“ ausgezeichnet. Der Münchner „Volksbote“ brandmarkte die Preisverleihung an den „führenden Bonzen“ eines „perfiden“, sich „antifaschistisch-antiklerikal“ gebärden¬ den „Nonkonformismus“ als höchst „blamable Fehlentscheidung“.150 Enzensberger teil¬ te mit seinen Gegnern den Zweifel, ob er den Preis, „gar diesen Preis“, überhaupt ver¬ diene. Aber „jener Zweifel“, so rechtfertigte er seine Auszeichnung, verstehe „sich von selbst“ (S. 345), womit er sich mit Büchner solidarisierte, dessen skeptischen Danton er hier leitmotivisch zitierte: „Oh, es versteht sich Alles von selbst.“ (B 71) Aus wenigen, insgesamt sieben leichthin eingestreuten Büchner-Zitaten zieht Enzens¬ berger schwerwiegende Schlußfolgerungen über die gegenwärtige Existenz Deutsch¬ lands und die nationale Identität deutscher Staatsbürger. Gleich zu Beginn der Rede wird mit subtil modifizierten, den Tatbestand scheinbar relativierenden Zitaten aus dem Hessischen Landboten und August Beckers gerichtlichen Verhören („An Georg Büchners hundertundfünfzigstern Geburtstag wird, wer die Wahrheit sagt, im hessischen Lande nicht mehr gehenkt. Dieser oder jener Liberale darf seine Gedanken drucken lassen. Ein großer Teil Deutschlands ist imstande, seine Kartoffeln zu schmälzen. Das ist gut. Das ist vor¬ trefflich. Doch zu feiern haben wir nichts.“) das flauptthema vorgegeben: die politi¬ sche Krise Deutschlands, seine Teilung, die mit dem Bau der Berliner Mauer „zemiert“ und irreversibel erscheine (S. 344). Es ist ein Riß, der wie in Büchners Lenz durch die Außen- und Innenwelt gehe: „die Welt, die er hatte nutzen wollen, hatte einen Unge¬ heuern Riß“ (B 155). Der zerrissenen Identität entspreche eine „gespenstige“ Sprachre¬ gelung. Enzensberger umschreibt die totale Unverständlichkeit der „politischen Spra¬ che, die heut in Deutschland gesprochen“ werde, mit einem offenen Woyzeck-Zitat: „Haben Sie schon gesehn, in wasfür Figuren die Schwämme auf diesem Boden wachsen ? Wer das lesen könnt!“ (S. 343, B 226) Mit einem weiteren, verdeckten Zitat aus der L