Endspiele: die unversöhnliche Moderne : Essays und Vorträge [2 ed.]

Die Idee einer postmetaphysischen Moderne ist das gemeinsame Thema der in diesem Band enthaltenen Arbeiten Albrecht Well

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Endspiele: die unversöhnliche Moderne : Essays und Vorträge [2 ed.]

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ii; leoowrso Essays und Verträge? suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft

Technisch-ökonomisch ist die Moderne aus so hartem Holz, daß Spiele mit ihrem Ende leicht zu Spielereien werden; hingegen ist ihre mora­ lisch-politische Substanz, sind ihre liberalen und demokratischen Traditionen so fragil, daß Spiele mit ihrem Ende zu Spielen mit dem Feuer werden. Die Überschreitung der Mo­ derne als Rückfall in die Barbarei ist eine reale Möglichkeit.

ISBN 3-518-28695-1

DM 24.80

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suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 1095

Die Idee einer postmetaphysischen Moderne ist das gemeinsame Thema der in diesem Band enthaltenen Arbeiten Albrecht Wellmers aus den letz­ ten fünfzehn Jahren. Die geschichtlichen Utopien in der Manischen Tradition sind ebenso wie die Letztbegründungsprogramme in der Kantischen Tradition Endspiele innerhalb der Metaphysik, die Dekonstruktionen dieser Utopien und Letztbegründungsprogramme sind Endspiele mit der Metaphysik. Und das Spiel mit dem Ende als einem letzten Telos - der ■ Geschichte, der Erkenntnis, des menschlichen Lebens - ist die Metaphy­ sik. Beckett hat das Ende dieses Spiels mit dem Ende als Spiel inszeniert, eben als Endspiel; der Plural im Titel dieses Bandes steht nicht nur für die Pluralität der oben genannten Assoziationen, sondern auch für die Tatsa­ che, daß das Endspiel mit der Metaphysik, wo es philosophisch gespielt wird, nur im Plural gedacht werden kann: es hat vorerst kein absehbares Ende. Das Beiwort »unversöhnlich« im Untertitel enthält eine Kritik und zugleich eine Hommage an Adorno. In seinem Werk koexistieren die drei eingangs genannten Arten von Endspielen in den komplexesten Konstel­ lationen schiedlich-unfriedlich miteinander. Albrecht Wellmer, geb. 1933, ab 1974 Professor für Philosophie an der Universität Konstanz, seit 1990 an der Freien Universität Berlin. In der Reihe Suhrkamp taschenbuch Wissenschaft hat er bereits veröffentlicht: Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Vernunftkritik nach Adorno (stw 532); Ethik und Dialog. Elemente des moralischen Urteils bei Kant und in der Diskursethik (stw 578).

Albrecht Wellmer Endspiele: Die unversöhnliche Moderne Essays und Vorträge

Suhrkamp

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Wellmer, Albrecht: Endspiele: die unversöhnliche Moderne : Essays und Vorträge / Albrecht Wellmer. 2. Aufl. - Frankfurt am Main : Suhrkamp 1999 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 1095) ISBN 3-518-28695-1 NE: GT suhrkamp taschcnbuch Wissenschaft 1095 Erste Auflage 1993 © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1993 Suhrkamp Taschenbuch Verlag Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil dieses Werkes darf in irgendeiner Form (durch Photographie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Satz und Druck: Wagner GmbH, Nördlingen Printed in Germany Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt

2 3 4 S 6 7 - 04 03 02 01 00 99

Inhalt Vorwort

9

I. NEGATIVE UND KOMMUNIKATIVE FREIHEIT

. . . .

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2. Bedingungen einer demokratischen Kultur. Zur Debatte zwischen »Liberalen« und »Kommunitaristen« (1992)

54

3. Bedeutet das Ende des »realen Sozialismus« auch das Ende des Marxschen Humanismus? Zwölf Thesen (1990)

81

4. Naturrccht und praktische Vernunft. Zur aporetischcn Entfaltung eines Problems bei Kant, Hegel und Marx (1978)

95

1. Frciheitsmodelle in der modernen Welt (1989)

II. NACHMETAPHYSISCHE PERSPEKTIVEN

5. Wahrheit, Kontingenz, Moderne (1991)

157

6. Adorno, die Moderne und das Erhabene (1991)

. . .

178

7. Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes (1988)

. . .

204

8. Die Bedeutung der Frankfurter Schule heute. Fünf Thesen (1986)

224

III. ZEIT-BILDER

9. Ludwig Wittgenstein — Über die Schwierigkeiten einer Rezeption seiner Philosophie und ihre Stellung zur Philosophie Adornos (1991)

239

10. Der Mythos vom leidenden und werdenden Gott. Fragen an Hans Jonas (1992)

2JO

11. Architektur und Territorium (1988)

257

12. Terrorismus und Gesellschaftskritik (1979) . . . ,

2793

ANHANG

13. Hannah Arendt on Judgement: The Unwritten Doctrine of Reason (1985)

3°9

Nachweise

331

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Für die Eisbären

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Vorwort

In dem vorliegenden Band sind Arbeiten aus den letzten fünfzehn Jahren abgedruckt, deren gemeinsames Thema die Idee einer post­ metaphysischen Moderne ist. Die geschichtlichen Utopien in der Marxschen Tradition sind ebenso wie die Letztbegründungspro­ gramme in der Kantischen Tradition Endspiele innerhalb der Metaphysik, die Dekonstruktionen dieser Utopien und Letztbe­ gründungsprogramme sind Endspiele mit der Metaphysik. Und das Spiel mit dem Ende als einem letzten Telos - der Geschichte, der Erkenntnis, des menschlichen Lebens - ist die Metaphysik. Beckett hat das Ende dieses Spiels mit dem Ende als Spiel insze­ niert, eben als Endspiel; der Plural im Titel dieses Bandes steht nicht nur für die Pluralität der Assoziationen, die ich eben ge­ nannt habe, sondern auch für die Tatsache, daß das Endspiel mit der Metaphysik, wo cs philosophisch gespielt wird, nur im Plural gedacht werden kann: es hat vorerst kein absehbares Ende. Ich will auch eine ironisch-polemische Komponente des Titels nicht verschweigen; sic betrifft jene Spiele mit dem Ende der Moderne, die in der jüngsten Vergangenheit Konjunktur hatten. Hier kom­ men auch die pejorativen Konnotationen des Wortes »Spiel« zu ihrem Recht: technisch-ökonomisch ist die Moderne aus so hartem Holz, daß Spiele mit ihrem Ende leicht zu Spielereien werden; hin­ gegen ist ihre moralisch-politische Substanz, sind ihre liberalen und demokratischen Traditionen so fragil, daß Spiele mit ihrem Ende zu Spielen mit dem Feuer werden. Die Überschreitung der Moderne als Rückfall in die Barbarei ist eine reale Möglichkeit. Das Beiwort »unversöhnlich« im Untertitel enthält eine Kritik und zugleich eine Hommage an Adorno. In seinem Werk koexistieren die drei eingangs genannten Arten von Endspielen in den komple­ xesten Konstellationen schiedlich-unfriedlich miteinander. Es hat mich immer gereizt, das produktive Dickicht dieser Konstellatio­ nen ein wenig zu lichten, selbst um den Preis, das Gespinst dialek­ tischer Subtilitäten in Adornos Texten hierbei gelegentlich zu zer­ reißen. Die Essays 6, 7, 8 und 9 dieses Bandes gehören in der einen oder anderen Weise in diesen Zusammenhang. Die im Teil 1 unter dem Obertitel »Negative und kommunikative Freiheit« zusammengefaßten Aufsätze bilden, auf der Ebene der

9

politischen Philosophie, gewissermaßen das Korrelat meiner Überlegungen zur Moralphilosophie in Ethik und Dialog (Frank­ furt 1986). »Freiheitsmodelle in der modernen Welt« ist mein Versuch, den internen Zusammenhang zwischen liberalen Grund­ rechten und moderner Demokratie und hierin zugleich das Span­ nungsverhältnis zwischen »negativer« und »kommunikativer« Freiheit aufzuweisen. Dieser 1989 geschriebene Aufsatz enthält u. a. eine Auseinandersetzung mit älteren Positionen von Haber­ mas, die sich mit der Publikation von Habermas’ Faktizität und Geltung nur scheinbar erledigt hat. Leider lassen sich in einer Vorbemerkung die Punkte nicht aufführen, an denen sich meine Einwände nicht erledigt haben (sie betreffen vor allem Habermas’ Vertrauen in die systematische Kraft des »Diskursprinzips«; ich habe sie in zwei Fußnoten zu den ersten beiden Aufsätzen ange­ deutet). »Bedingungen einer demokratischen Kultur« nimmt Mo­ tive des älteren Aufsatzes, wenngleich unter veränderten Frage­ stellungen, wieder auf; neu ist der Versuch, auf normative Konsequenzen hinzuweisen, die sich aus dem internen Zusam­ menhang zwischen Menschen- und Bürgerrechten ergeben. In den zwölf Thesen zum Thema »Bedeutet das Ende des >realen Sozialismus» auch das Ende des Marxschen Humanismus?« habe ich Grundmotive der vorangehenden Aufsätze in einem etwas di­ rekter zeitgeschichtlich-politischen Sinne in eine Kritik des Marx­ schen Humanismus umgesetzt. Im Zusammenhang der drei eben genannten Arbeiten stellt der bereits 1978 entstandene Aufsatz »Naturrecht und praktische Vernunft« eher eine Vorarbeit dar, von der ich mich heute in einigen ihrer Prämissen distanziere; ich habe den Aufsatz deshalb mit aufgenommen, weil ich ihn in sei­ nen kritischen Resultaten und einer Reihe von Detailanalysen immer noch als Hintergrund meiner späteren Überlegungen gel­ ten lassen möchte. Der Teil 11 - »Nachmetaphysische Perspektiven« - enthält drei der eingangs erwähnten Arbeiten (Nr. 6, 7 und 8), in denen ich versu­ che, mich kritisch und konstruktiv mit Grundmotiven Adornos auseinanderzusetzen. In »Adorno, die Moderne und das Erha­ bene« steht eher die Ästhetische Theorie, in »Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes« eher die Negative Dialektik im Zen­ trum. In den Thesen zum Thema »Die Bedeutung der Frankfurter Schule heute« habe ich Vermutungen über ein »rationalitätstheo­ retisches« Potential von Adornos Analysen formuliert, denen ich 10

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in anderen Arbeiten bislang nur sporadisch und indirekt nachge­ gangen bin, auf die ich aber an anderer Stelle zurückzukommen hoffe. Der erste Aufsatz des Teils n, »Wahrheit, Kontingenz, Mo­ derne«, enthält schließlich den Versuch einer wechselseitigen Kri­ tik von Rorty auf der einen Seite und Apel/Habcrmas auf der anderen, bei der es zugleich um das Problem eines postmetaphy­ sischen Wahrheitsverständnisses und die Grundlagen einer libera­ len Kultur ohne letzte Grundlagen geht. Den Zeit-Bildern des Teils in liegen Beiträge zu speziellen Gele­ genheiten zugrunde, denen ihr Gelegenheitscharakter deutlich anzumerken ist. Sic sind thematisch untereinander heterogen, va­ riieren aber sämtlich Grundmotive der Arbeiten aus Teil i und II. Als Anhang habe ich eine ältere, auf Englisch geschriebene und bisher nicht übersetzte Arbeit über Hannah Arendt in der Origi­ nalfassung aufgenommen; zum einen, weil sie thematisch in den Kontext der hier abgedruckten Arbeiten (insbes. Essays i, z und 5) gehört, zum anderen, weil ich die große Bedeutung, die Han­ nah Arendts politische Philosophie für mich gehabt hat, in keinem der vorangehenden Aufsätze gebührend gewürdigt habe - so wollte ich ihr hier wenigstens einen kritischen Artikel widmen; und schließlich habe ich noch ein sehr persönliches Motiv: Unter meinen drei früheren Lehrern bzw. Kollegen aus der Generation der jüdischen Emigranten (Adorno war einer meiner Lehrer, Hans Jonas und Hannah Arendt waren eine kurze Zeit lang meine älteren Kollegen an der New School for Social Research in New York) habe ich Hannah Arendt, was die in der Person unmittelbar faßbare intellektuelle und moralisch-politische Physiognomie be­ trifft, am meisten bewundert; deshalb sollte sie in einem Band, in dem ich mich auf Adorno extensiv und auf Jonas wenigstens in einem kleinen Artikel beziehe, nicht fehlen. Aufsätze zur Sprachphilosophie habe ich in diesen Band nicht aufgenommen. Ich habe vor, sie in näherer Zukunft zusammen mit ein oder zwei neueren Arbeiten in einem weiteren Sammel­ band abzudrucken. Mein besonderer Dank gilt Ina Gumbel, die nicht nur unermüd­ lich und zuverlässig die Texte geschrieben und neugeschrieben, sondern auch in kritischen Phasen die Nerven behalten hat.

II

I.

Negative und kommunikative Freiheit

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i

i. Freiheitsmodelle in der modernen Welt

Die Frage, wie sich Freiheit in der modernen Welt verwirklichen und sichern läßt, hat die europäische politische Philosophie über die Jahrhunderte hinweg immer wieder inspiriert und beunruhigt. Dies gilt zumindest für jene politischen Philosophen, die der Tra­ dition der Aufklärung im weitesten Sinne des Wortes zugerechnet werden können. Zu den Philosophen in dieser Tradition der Auf­ klärung rechne ich etwa Locke, Rousseau, Kant, Hegel, Marx, Mill, Tocqueville und, in unseren Tagen, Jürgen Habermas, Char­ les Taylor und John Rawls. Was diese Philosophen miteinander verbindet, ist ein universalistisches Freiheitskonzept, verknüpft mit einem starken Begriff der Menschenwürde und/oder der Menschenrechte. Freilich hören die Gemeinsamkeiten hier auf; die grundlegenden Differenzen betreffen die Frage, ob die Idee der Freiheit eher »individualistisch« oder »kommunalistisch« ver­ standen werden sollte.1 Individualistische Freiheitstheorien sind zentriert um einen Begriff grundlegender Rechte-, die Freiheit wird verortet in den Grundrechten von Individuen. Kommunalistische Freiheitstheorien verorten demgegenüber die Freiheit in einer intersubjektiven Form des Lebens; sie verstehen Freiheit nicht in erster Linie (negativ) als Abwesenheit äußeren Zwanges, also im Sinne eines rechtlich gesicherten Freiheitsspie/rawzns von

1 Meine Unterscheidung zwischen individualistischen und kommunalistischen Freiheitsbegriffen hat naturgemäß eine gewisse Affinität zu Isaiah Berlins Unterscheidung zwischen »negativen« und »positiven« Freiheitsbegriffen. Da ich im übrigen aber begrifflich ganz anders vor­ gehe als Berlin, sind die beiden Unterscheidungen zugleich bis zu einem gewissen Grade inkommensurabel. Weiterhin entspricht meine Gegen­ überstellung von individualistischen und kommunaiistischen Freiheits­ begriffen bis zu einem gewissen Grade dem Gegensatz von »liberalen« und »kommunitaristischen« Positionen. Da sich aber die entsprechen­ den Begriffsfelder nur innerhalb bestimmter Grenzen zur Deckung bringen lassen, ziehe ich es vor, an dem Wort »kommunalistisch« fest­ zuhalten. Vgl. aber den Aufsatz »Bedingungen einer demokratischen Kultur. Zur Debatte zwischen »Liberalen« und »Kommunitaristen«« in diesem Band. >5

Individuen, sondern (positiv) als eine normativ ausgezeichnete Form des Lebens von Individuen-in-Gescllschaft. Kommunale Freiheit ist in einem wesentlichen Sinne öffentliche Freiheit; in der Tradition der Aufklärung war es vor allem der Begriff der Ver­ nunft, der die zentrale normierende Rolle beim Übergang von einem (bloß) negativen zu einem positiven, kommunalistischcn Freiheitsbegriff gespielt hat. Individualistische und kommunalistischc Freiheitsverständnisse erscheinen in der modernen politischen Philosophie durchaus nicht immer als polare Gegensätze. Häufig verhalten sie sich viel­ mehr komplementär zueinander, so etwa in den Theorien von Hegel, Mill und Tocqueville. Radikaler Individualismus und radi­ kaler Kommunalismus sind eher Grenzfälle; vielleicht könnte man Robert Nozick einen radikalen Individualisten und Lenin einen radikalen Kommunalisten nennen. Für gewöhnlich führen dagegen individualistische Theorien zum Begriff einer demokrati­ schen Selbstorganisation der Gesellschaft (ein »kommunalistisches« Element), während kommunalistische Theorien eo ipso den Anspruch erheben müssen, individualistische Freiheitskon­ zeptionen gleichsam auf ihrem eigenen Felde zu überbieten, das heißt aber: in sich »aufzuheben«. Besonders deutlich wird dies am Beispiel von Marx; dessen Idee eines Reichs der Freiheit ist die kommunalistische Antizipation einer nahezu schrankenlosen Freiheit der Individuen. Prägnanter wird der Gegensatz zwischen Individualismus und Kommunalismus, wenn man ihn als einen Gegensatz anthropolo­ gischer Grundorientierungen begreift. Als solchen hat ihn etwa Charles Taylor analysiert.2 Individualistische Theorien gehen von einzelnen, gleichsam »vorsozialen« Individuen aus, denen sie gewisse natürliche Rechte zuschreiben sowie die Fähigkeit zu zweckrationalem bzw. strategisch-rationalem Handeln. Dement­ sprechend verstehen solche Theorien politische Institutionen als legitim, sofern sie als Resultat eines Vertrags zwischen gleichen und freien Individuen gedacht werden können. Freiheit ist hier verstanden als die Freiheit zu tun, was ich tun will - was immer es ist, das ich tun will -, und natürliche Rechte lassen sich verstehen im Sinne von Kants Definition des Rechts in der Einleitung zur

2 Ch.Taylor: »Atomism«, in: Philosophy and the Human Sciences. Philosophical Papers. Bd.a, New York: Cambridge University Press 1985. i6

Rechtslehre der Metaphysik der Sitten: »Eine jede Handlung ist recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann.«3 Freiheit im Sinne von Kants »Frei­ heit der Willkür« wird oft auch als Freiheit im negativen Sinne oder als negative Freiheit bezeichnet. Negative Freiheit, begrenzt durch allgemeine Gesetze, die eine gleiche Freiheit aller garantie­ ren, ist der Grundgehalt natürlicher Rechte, während die Aufgabe des Sozialvertrags in der Positivierung und institutionellen Absi­ cherung solcher natürlichen Rechte besteht. Kommunalistische Theorien stellen demgegenüber die anthropo­ logische Grundprämisse der individualistischen Vertragskon­ struktionen in Frage.'1 Der kommunalistischen Gegenthese zufolge ist die Idee eines vorsoziaien, rational seine je zufälligen Zwecke verfolgenden Individuums nicht nur eine pure Fiktion was die Individualisten wohl zugeben würden —, sondern unter Gesichtspunkten der politischen Theoricbildung eine unangemes­ sene und schlechte Fiktion. Wenn, so wird etwa ein Kommunalist argumentieren, menschliche Individuen wesentlich soziale Indivi­ duen sind, wenn ihre Individualität das Produkt ihrer Sozialisie­ rung und nicht deren Ausgangspunkt ist; wenn die Kultur, die Traditionen, die Lebensformen und die Institutionen einer Gesell­ schaft konstitutiv für die Individualität der Individuen sind, dann müssen die individualistischen Theorien das Verhältnis von Indi­ viduum und Gesellschaft, von Subjektivität und Intersubjektivi­ tät, und daher auch das Problem der Freiheit bereits in ihren Grundprämissen verfehlen. Die kommunalistische Grundinten­ tion ist, daß von individueller Freiheit überhaupt nicht geredet werden kann außer durch einen internen und positiven Bezug auf die Lebensformen und Institutionen einer Gesellschaft: Individu­ elle Freiheit ist eine kommunal ermöglichte Freiheit in dem Sinne, daß die anderen nicht bloß die Grenze, sondern auch die Bedin­ gung der Möglichkeit meiner Freiheit sind. Der ursprüngliche Ort der Freiheit wäre demnach nicht das vereinzelte Individuum, son­ dern die Gesellschaft als Medium einer Individuierung durch Sozialisierung; Freiheit wäre zu denken als etwas, das nicht nur —

3 I. Kant: Metaphysik der Sitten, in: Werke in sechs Bänden (Hg. W. Weischedel), Bd. iv, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgescllschaft 1956, S.337. 4 Vgl. Ch. Taylor, a.a.O.

>7

als negative Freiheit - durch Institutionen begrenzt, sondern das als positive Freiheit - durch die Institutionen, Praktiken und Le­ bensformen einer Gesellschaft allererst ermöglicht und hervorge­ bracht wird. Da aber der soziale Zusammenhang als der Ort positiver Freiheit nur durch die Individuen, die sein Teil sind, am Leben erhalten, »reproduziert«, interpretiert und fortgebildet werden kann, erweisen sich nun individuelle und »öffentliche« Freiheit als unlösbar miteinander verknüpft; und dies bedeutet, wie Taylor zeigt, daß der Freiheitsbegriff einen normativen Gehalt bekommt, den er in individualistischen Konzeptionen nicht ha­ ben kann. Freiheit bezeichnet nicht mehr nur einen durch Rechte definierten Handlungsspielraum, sondern eine normativ ausge­ zeichnete Form des Umgangs mit sich selbst und mit anderen, eine Fähigkeit, unter den möglichen - individuellen oder kollekti­ ven - Zwecken die richtigen zu wählen; eine Freiheit, nicht nur zu tun, was ich tun will, sondern auch zu wollen, was gut ist. Taylor hat noch einmal sehr schön gezeigt, daß die Idee der - individuel­ len oder kollektiven - Selbstbestimmung eine normative Distink­ tion in sich bereits enthält: Selbstbestimmung meint vernünftige Selbstbestimmung. Und hier kann das Wort »vernünftig« nicht mehr nur »zweckrational« oder »strategisch rational« bedeuten wie im individualistischen Modell; es bezeichnet vielmehr eine deliberierende, reflektierende und kommunikative Vernunft, die sich im rationalen Umgang mit intersubjektiven Geltungsansprü­ chen aller Art manifestiert,5 im reflektierten Selbstverhältnis der Individuen ebenso wie im öffentlichen Diskurs, in den morali­ schen Urteilen der Individuen ebenso wie in den Formen gesell­ schaftlicher Solidarität und politischer Entscheidungsfindung. Für den Kommunalisten existiert auch die Vernunft nur als kom­ munale, als kommunikative Vernunft; indem in den Ideen der Freiheit und der Vernunft das intersubjektive, das kommunale Element freigelegt wird, treten diese Ideen zugleich in einen inter­ nen Zusammenhang miteinander. Individualistische und kommunalistische Freiheitstheorien ent­ werfen zwei miteinander unvereinbare Bilder jener rationalen Ak­ toren, um deren Freiheit es geht. Man könnte die individuali­ stischen Konzeptionen, deren erster wichtiger Vertreter Hobbes war, charakterisieren durch einen anthropologischen »Atomis5 VgL Ch. Taylor, a.a.O. 18

mus«6 und einen »instrumentalistischen« Rationalitätsbegriff; in erkenntnistheorctischer Hinsicht haben diese Konzeptionen eine enge Affinität zurobjektivistischen (mechanistischen, physikalistischcn) und anti-Aristotclischcn Tradition der modernen wissen­ schaftlichen Weltauffassung; politisch gesehen, so könnte man sa­ gen, reflektiert sich in ihnen die gesellschaftliche Perspektive und das Sclbstverständnis jener revolutionären Klasse, die im moder­ nen Europa zur Dominanz kam: der Bourgeoisie. Die kommunalistischen Konzeptionen repräsentieren demgegenüber eine kriti­ sche Gegenströmung gegen den modernen Rationalismus: teils in Anknüpfung an die Aristotelische Tradition, die in den individua­ listischen Naturrechtstheorien weitgehend verdrängt wurde, teils als Ausdruck einer radikalen Kritik der Moderne, wie sie von Rousseau und der deutschen Frühromantik zuerst formuliert wur­ de, teils schließlich durch Assimilation von Motiven aus jener radi­ kalen Kritik an der neuzeitlichen Subjekt- und Sprachphilosophie, die in unserem Jahrhundert vor allem durch Wittgenstein und Hei­ degger initiiert wurde. Während die individualistischen Konzep­ tionen politischer Freiheit in engstem Zusammenhang stehen mit der Selbst-Artikulation der modernen bürgerlichen Revolutionen und der Legitimation der kapitalistischen Gesellschaft, haben die kommunalistischen Konzeptionen durchweg einen kritischen Be­ zug nicht nur auf die anthropologischen Prämissen der individua­ listischen Theorien, sondern auch auf die Realität der modernen bürgerlichen Gesellschaft. Hieran zeigt sich natürlich, daß die phi­ losophische Kritik des »Atomismus« oder des »possessiven Indivi­ dualismus«7 in der Regel zugleich dessen politische Kritik war; und dies kann nur heißen, daß aus kommunalistischer Sicht die an­ thropologischen Prämissen der individualistischen Theorien zwar philosophisch falsch, daß sie aber in einem gewissen Sinne in der modernen bürgerlichen Gesellschaft praktisch wahr geworden sind. Dementsprechend ist bis heute die Kontroverse zwischen »Individualisten« und »Kommunalisten« eine politische Kontro­ verse über die Frage, welche Rolle bürgerliche Gesellschaft und bürgerliche Demokratie im Hinblick auf die Verwirklichung von Freiheit in der modernen Welt gespielt haben.

6 Der Ausdruck stammt von Ch. Taylor; vgl. a.a.O. 7 C. B. Macpherson: The Political Theory of Possessive Individualism, New York: Oxford University Press 1962; dt.: Die politische Theorie des Besitzindividualismus, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1967. i9

II.

Im Verlauf meiner idealtpyischen Skizze zweier entgegengesetzter Typen der modernen politischen Philosophie habe ich bereits an­ gedeutet, daß ich, soweit es um die anthropologischen und episte­ mologischen Grundannahmen geht, auf der Seite der Kommunalisten stehe. Nun habe ich aber bereits darauf hingewiesen, daß der Gegensatz zwischen Individualismus und Kommunalismus, wenn man von Extremfällen absieht, eigentlich nur im Hinblick auf solche anthropologischen und epistemologischen Prämissen klare Konturen hat, während in den Gehalten der politischen Phi­ losophie Individualismus und Kommunalismus sich häufig kom­ plementär zueinander verhalten. Denkbar wäre, daß hierin eine sachliche Nötigung zum Ausdruck kommt, nämlich die Nöti­ gung, auf der Ebene der politischen Philosophie die Antithese als solche in Frage zu stellen oder jedenfalls neu zu definieren. Für den Kommunalisten wäre dies die Nötigung, zwischen den an­ thropologisch-epistemologischen und den politischen Gehalten des Individualismus schärfer zu unterscheiden, als dies in der kommunalistischen Tradition - bis hin zu Charles Taylor - in der Regel der Fall war.3 Für einen Kommunalisten stellt sich ja in der Tat das Problem, daß öffentliche Feihcit und demokratische Institutionen in der modernen Welt nur in jenen bürgerlichen Ge­ sellschaften - und zwar ungeachtet der philosophischen Defizite ihrer Selbst-Auslegung - eine gewisse, wenngleich immer prekäre Realität gewonnen haben, die in entscheidenden Zügen zugleich dem individualistischen Modell entsprechen, insofern in ihnen die Institutionalisierung von Grundrechten verknüpft war mit der Freisetzung einer Sphäre strategischer - d. h. nicht solidarischer oder »kommunikativer« - Interaktionen. Es muß eine geschichtli­ che Erfahrung zumindest analoger Art gewesen sein, die bereits aus Hegel, der als radikal-romantischer Kommunalist begann, am Ende einen kommunalistischen Verteidiger der bürgerlichen Ge­ sellschaft machte. Hegels Antwort auf die Frage, wie Freiheit in der modernen Welt möglich sei, ist dementsprechend ein Versuch, 8 Vgl. jedoch inzwischen: Ch.Taylor: »Cross-Purposes: The LiberalCommunitarian Debate«, in: N. Rosenblum (Hg.), Liberalem and the Moral Life, Cambridge/Mass. und London 1989, wo Taylor zwischen dem »ontologischen« und dem »advokatorischen« Aspekt des Problems unterscheidet. 20

die politische Alternative von Individualismus und Kommunalismus zu überschreiten. Ich glaube, daß diese Hcgelsche Antwort trotz aller unübersehbaren Schwächen seiner Staatskonstruktion in einigen Zügen bis heute unübertroffen geblieben ist. Des­ halb möchte ich Hegels Versuch einer Versöhnung von Individua­ lismus und Kommunalismus zum Ausgangspunkt meiner weite­ ren Überlegungen machen. Hegels Grundstrategie war es bekanntlich, die Tradition des Na­ turrechts in einem kommunalistischen Begriff der »Sittlichkeit« aufzuheben. Die Aufhebungsfigur bedeutet eine Affirmation und eine Kritik des Naturrechts zugleich. Ich möchte im folgenden, um den irreführenden Singular »das« Naturrecht zu vermeiden, von einem naturrechtlichen Dispositiv sprechen; die Grundzüge dieses naturrechtlichen Dispositivs habe ich in der Einleitung skizziert. Hegels Affirmation des naturrechtlichen Dispositivs be­ sagt, daß er in der »naturrechtlichen« Verfassung der modernen bürgerlichen Gesellschaft eine — im normativen Sinne - unhinter­ gehbare historische Realität erblickt. Hegels Kritik des natur­ rechtlichen Dispositivs besagt, daß die bürgerliche Gesellschaft, sofern man sie nur sub specie ihrer naturrechtlichen Verfaßthcit betrachtet, zugleich die Negation aller Formen kommunalen Le­ bens, die Negation gesellschaftlicher Solidarität, die Negation der Kategorie Sittlichkeit ist. Die bürgerliche Gesellschaft, so wie He­ gel sie analysiert, ist eine Gesellschaft von Eigentümern, die ungeachtet ihrer religiösen, rassischen oder politischen Unter­ schiede vor dem Gesetz gleich sind und die dementsprechend ein durch allgemeine Gesetze sanktioniertes gleiches Recht haben, ihre persönlichen Interessen und ihre idiosynkratischen Glücks­ vorstellungen zu verfolgen, ihren Lebensplan, ihren Beruf, ihren Arbeitsplatz, Wohnsitz oder sozialen Lebensumkreis frei zu wäh­ len. Diese Rechtsstruktur der bürgerlichen Gesellschaft ist für Hegel intern verknüpft mit einer kapitalistischen Marktökono­ mie, deren progressive und destruktive Dynamik Hegel bekannt­ lich bereits eindringlich analysiert hat. Die bürgerliche Gesell­ schaft bedeutet die Institutionalisierung allgemeiner und gleicher »negativer« Freiheit; das heißt aber die Institutionalisierung von Menschenrechten ebenso wie die Institutionalisierung eines allge­ meinen sozialen Antagonismus. In der naturrechtlichen Verfaßtheit der bürgerlichen Gesellschaft macht Hegel deren moralische Zweideutigkeit sichtbar; als Gesellschaft allgemeiner und gleicher 21

Menschenrechte bedeutet diese Gesellschaft die Realisierung einer conditio sine qua non aller möglichen politischen Freiheit in der modernen Welt; als Gesellschaft eines allgemeinen sozialen Ant­ agonismus dagegen bedeutet diese Gesellschaft nicht nur die Negation aller vormodernen Formen sozialer Solidarität, sondern die Negation der Kategorie sozialer Solidarität, der Kategorie Sitt­ lichkeit. Wo sich die bürgerliche Gesellschaft »in ungehinderter Wirksamkeit befindet«,9 gibt es keine kommunalen Bande mehr, keine Sorge für das öffentliche Wohl, keine moralischen Skrupel, die die soziale Zerstörung aufhaltcn könnten, deren Opfer die Verlierer des allgemeinen Wettlaufs nach materiellen Gütern, Macht, Geld und Glück sind. Hegels Antwort auf diese moralische Zweideutigkeit der moder­ nen bürgerlichen Gesellschaft ist seine Theorie des Staates. Der Staat bezeichnet für Hegel jene Sphäre substantieller Sittlichkeit, in welcher der Antagonismus der bürgerlichen Gesellschaft aufgehoben ist, eine Sphäre der Relativierung, Kontrolle und Domesti­ zierung des sozialen Antagonismus und hierin zugleich einer Wiederherstellung kommunaler Freiheit unter Bedingungen der Modernität. In Wirklichkeit ragt nach Hegel die Sphäre kommu­ naler Sittlichkeit bis tief in die bürgerliche Gesellschaft hinein; deren naturrechtliche Verfaßthcit ist ebensowohl Realität als auch Schein. Hegels Grundidee ist, daß die naturrechtliche Verfaßthcit der bürgerlichen Gesellschaft gar nicht angemessen in Kategorien des naturrechtlichen Dispositivs verstanden werden kann. Die bürgerliche Gesellschaft ist immer schon mehr und anderes, als sie in ihrer naturrechtlichen Selbst-Artikulation erscheint. Denn die Idee einer Gesellschaft von gleichen und freien Rcchtssubjekten, die als Eigentümer auf dem Markt strategisch miteinander inter­ agieren, setzt nicht nur voraus, daß diese Rechtssubjekte einander moralisch als Freie und Gleiche anerkennen, sie setzt vielmehr auch politische und juridische Institutionen voraus, deren Funk­ tionieren nicht in Begriffen einer strategischen Handlungsrationa­ lität erklärt werden kann. Dies bedeutet aber, daß die Rechtssub­ jekte der bürgerlichen Gesellschaft immer schon mehr und anderes sein müssen, als das naturrechtliche Modell zu denken

9 G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts (im folgenden Rph), Werke in zwanzig Bänden, Bd. 7, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986, §243, S. 389. 22

erlaubt. Hegel versucht die kommunalistischen Implikationen des naturrcchtlichcn Dispositivs zu entfalten; er versucht zu zeigen, daß die negative Freiheit der bürgerlichen Rcchtssubjekte gar nicht kohärent denkbar wäre ohne ihre Integration in einen Zu­ sammenhang öffentlicher, kommunaler, »vernünftiger« Freiheit. Die politischen Institutionen sind der Ort dieser kommunalen, vernünftigen Freiheit; einer Freiheit, die mit der Sorge um das öffentliche Wohl, mit der Entfaltung von Bürgertugenden, mit öffentlicher Diskussion und der politischen Kontrolle der Öko­ nomie zusammengedacht werden muß. Die bürgerliche Gesell­ schaft als Verkörperung des naturrechtlichen Dispositivs erscheint nun als nur eine Dimension der Sittlichkeit des modernen Staates, nämlich als jene Dimension, in welcher das »Recht der Besonder­ heit«, die negative Freiheit der Individuen, ihre institutionelle Verwirklichung gefunden hat. Für Hegel stellt diese Institutiona­ lisierung einer Sphäre negativer Freiheit eine notwendige Bedin­ gung »positiver«, politischer Freiheit in der Moderne dar; aber frei im vollen Sinne vernünftiger Freihheit können die emanzi­ pierten Individuen nur als Bürger eines politischen Gemeinwe­ sens, als Staatsbürger sein. Bevor ich auf das entscheidende Defizit der Hegelschen Staats­ konstruktion eingehe, möchte ich noch etwas zum »Recht der Besonderheit« in Hegels politischer Philosophie sagen. Bekannt­ lich war für Hegel wie für viele seiner Zeitgenossen die athenische Polis ein exemplarisches Modell der Institutionalisierung politi­ scher Freiheit. Am Modell der Polis konnte Hegel auch seine These illustrieren, daß politische Freiheit nur als eine Form kon­ kreter Sittlichkeit Wirklichkeit haben kann. Die konkrete Sittlich­ keit eines Volkes ist - im Gegensatz zu dem, was Hegel »Moralität« nennt - unlösbar verknüpft mit seinen Institutionen und Traditionen, mit kollektiven Weltdeutungen und Selbstver­ ständnissen, mit gemeinsamen Gewohnheiten, Praktiken und Wertorientierungen. Wenn aber die Individuen nur im Medium einer Form konkreter Sittlichkeit zu dem werden können, was sie sind, wenn ihr Selbstverständnis und ihre sozialen Beziehungen immer schon geprägt sind durch eine intersubjektiv geteilte Form des Lebens, dann werden auch ihre individuellen Interessen, ihre Ambitionen, ihre praktisch-konkreten Wertungen, ihre Gefühle der Selbstachtung, der Scham und Schuld in ihrer Tiefenstruktur geprägt sein durch den objektiven Geist ihrer Gesellschaft. Umge23

kehrt bedeutet dies, daß die Idee der Freiheit in einer Gesellschaft nur dauerhaft Fuß fassen kann, wenn sie zu einer Form konkreter Sittlichkeit wird. Dies geschah in Hegels Beschreibung zum er­ stenmal in der großen Periode der athenischen Demokratie, »wo der Geist herangcreift sich selbst zum Inhalt seines Wollens und Wissens erhält, aber auf die Weise, daß Staat, Familie, Recht, Re­ ligion zugleich Zwecke der Individualität sind und diese nur durch jene Zwecke Individualität ist.«10 Hegel nennt die griechische Form der Sittlichkeit »schön«. Schön ist die griechische Form der Sittlichkeit in ihrer wechselseitigen Durchdringung von Mythos, Kunst und Politik, durch welche sie zugleich »verkörperter Geist« und »vergeistigte Sinnlichkeit« ist.11 Diese Charakterisierung der griechischen Sittlichkeit - ein ferner Nachhall des überschwenglichen Ältesten Systempro­ gramms des deutschen Idealismus - bedeutet beim späten Hegel freilich zugleich die Charakterisierung ihrer Grenzen. Diese Grenzen werden manifest in den Institutionen des Orakels und der Sklaverei.12 Beide sind unvereinbar mit dem »Prinzip der selbständigen Besonderheit« bzw. dem Prinzip der »subjektiven Freiheit«,15 d.h. mit dem emanzipatorischen Grundprinzip der modernen Welt. In seiner Kritik des Orakels und der Sklaverei entfaltet Hegel zwei wesentliche Aspekte dieses Grundprinzips. Der Einwand gegen die Sklaverei ist vertraut: Die Sklaverei, so notwendig sie war für die griechische Form der Freiheit und Gleichheit der Bürger, steht im Widerspruch zum Prinzip der Freiheit und Würde aller als Menschen. Das Korrelat dieser Kritik ist das Postulat allgemeiner und unveräußerlicher Menschen­ rechte. Wie schon betont, folgt Hegel in seiner juridischen und institutionellen Explikation dieses Postulats ein gutes Stück Weges der Tradition des modernen Naturrechts (bzw. der modernen po­ litischen Ökonomie). Menschenrechte sind in dieser Tradition zentriert um Eigentumsrechte und ihre moralischen und juridi­ schen Implikationen. Indessen erschöpft sich das »Recht der Besonderheit« nicht in diesen negativen Freiheitsrechten. Dies

io G.W.F.Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (im folgenden Gph), in: Werke in zwanzig Bänden, Bd. iz, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970, S. 275. ti A.a.O. 12 A.a.O., S. jiof. 13 G.W.F.Hcgel, Rph, a.a.O., § 1S5, S. 342. 24

wird deutlich an Hegels Kritik des Orakels. Hegel charakterisiert die Institution des Orakels als strukturelle Begrenzung des ratio­ nalen Diskurses und der rationalen Selbstverantwortung der Han­ delnden in der griechischen Polis. Selbstverantwortung ist das Komplement von Selbstbestimmung; diese aber — das »aus sich selbst Beschließen« - verlangt eine »festgewordene Subjektivität des Willens, den überwiegende Gründe bestimmen«.14 Der »schönen Individualität« der Griechen, die in der Mitte steht zwi­ schen der »Selbstlosigkeit des Menschen« und der »unendlichen Subjektivität«,15 ist das Prinzip der Selbstbestimmung durch »überwiegende Gründe« noch fremd. Die konkrete Sittlichkeit der griechischen Polis ist die einer traditionalen Gesellschaft, die »den Feind der Unmittelbarkeit, die Reflexion und Subjektivität des Willens, noch nicht in sich« hat.16 Die Grenzen rationaler Selbstverantwortung in der griechischen Polis, die die Institution des Orakels anzeigt, bezeichnen zugleich einen irreduzibel dog­ matischen Charakter der griechischen Sittlichkeit; die mythologi­ schen Grundlagen der griechischen Welt- und Selbstdeutung, der griechischen Demokratie, sind noch nicht zum möglichen Gegen­ stand rationaler Kritik geworden. Der dogmatische oder konven­ tionelle Charakter der griechischen Sittlichkeit ist die Bedingung ihrer exemplarischen Schönheit. Deshalb mußte die griechische Aufklärung, die in der Figur des Sokrates kulminierte, eine Auf­ klärung, in der zum erstenmal das »Prinzip der selbständigen Besonderheit« geltend gemacht wurde, die griechische Welt »ins Verderben« stürzen;17 in dem Augenblick, in dem das Bedürfnis nach Begründung und Rechtfertigung sich auf die Grundlagen der griechischen Sittlichkeit zu richten begann, mußten diese Grund­ lagen sich als brüchig erweisen. Insofern war nicht nur die sophi­ stische Aufklärung, sondern mehr noch der Sokratische Geist Ferment einer Zersetzung der Polis; deren Vertreter hatten gute Gründe, Sokrates zum Tode zu verurteilen. Im Sokratischen Geist tritt das Prinzip der selbständigen Besonderheit nicht in seinen juridischen, sondern in seinen moralischen und kognitiven Aspekten in Erscheinung; nämlich als »das Recht, nichts anzuer­ kennen, was Ich nicht als vernünftig einsehe«.18

14 15 17 18

G.W.F. Hegel, Gph, a.a.O., S. 310. A.a.O., S. 293. r6 A.a.O., S. 308. A.a.O., S.309; vgl. auch Rph, a.a.O., § 185. G. W.F.Hegel, Rph, a.a.O., § 132, 8.245. 2S

Dieses Recht verlangt eine Form der politischen Legitimation, die innerhalb der Grenzen der griechischen Polis nicht zugänglich war; aus diesem Grunde war Platos Versuch, die Schönheit und Wahrheit der griechischen Sittlichkeit im Medium des philosophi­ schen Gedankens noch einmal zu restaurieren, von allem Anfang an paradox - er konnte nur zur repressiven Konzeption einer Idealgesellschaft führen. »Platon in seinem Staate«, sagt Hegel, »stellt die substantielle Sittlichkeit in ihrer idealen Schönheit und Wahrheit dar; er vermag aber mit dem Prinzip der selbständigen Besonderheit, das in seiner Zeit in die griechische Sittlichkeit her­ eingebrochen war, nicht anders fertig zu werden, als daß er ihm seinen nur substantiellen Staat cntgcgenstellte und dasselbe bis in seine Anfänge hinein, die es im Privateigentum [...] und in der Familie hat [...] ganz ausschloß.«1’ Das Prinzip der selbständigen Besonderheit, darauf wollte ich noch einmal hinweisen, hat für Hegel einen »internen« und einen »externen« Aspekt. Im umfassenden Sinne verstanden ist es »das Prinzip der selbständigen in sich unendlichen Persönlichkeit des Einzelnen, der subjektiven Freiheit«,20 ein Prinzip, das in He­ gels philosophischer Sicht der Geschichte zur weltbildenden Macht wurde mit dem Christentum auf der einen Seite und dem römischen Recht auf der anderen.21

III.

Nach allem, was ich bisher über die Prämissen von Hegels Kon­ struktion des modernen Staates gesagt habe, hätte beim späten Hegel der Versuch nahegelegen, für moderne Gesellschaften den Begriff einer demokratischen, universalistischen und säkularisier­ ten Form der Sittlichkeit zu konstruieren. Bekanntlich hat Hegel diesen Versuch nicht unternommen. In mancher Hinsicht kommt er einer entsprechenden Konzeption nahe, wenn er über die Selbstverwaltung von Kommunen und Korporationen, über die öffentliche Meinung, die Freiheit der Presse oder über parlamen­ tarische Repräsentation spricht. Hegels halbherzige Konzessioij A.a.O., § 185, S. 342. 20 A.a.O. 21 A.a.O.

26

ncn an den demokratischen Geist der modernen westlichen Welt sind jedoch immer verknüpft mit prinzipiellen Einwänden gegen jeden Versuch, die Idee der Demokratie auf die moderne Welt anzuwenden. Hegel verwirft die politische Interpretation natur­ rechtlicher Prinzipien, d.h. ihre Interpretation als Prinzipien einer demokratischen Form der Willensbildung in modernen Ge­ sellschaften. Hegels philosophische Gründe für diese Zurückwei­ sung eines politisch verstandenen Naturrechts sind komplex, aber letztlich wenig überzeugend. Seine beiden wichtigsten Argumente sind: (r) ein »kommunalistischer« Einwand gegen die individua­ listische Anthropologie des Naturrechts; und (2) ein Hinweis auf die Differenziertheit und Komplexität moderner Gesellschaften. Dem ersten Argument zufolge ist der naturrechtliche Begriff der Demokratie »abstrakt«, weil die anthropologischen Annahmen des Naturrechts und das Prinzip negativer Freiheit unzureichend sind, einen Begriff von Demokratie als Form konkreter Sittlich­ keit zu begründen. Dem zweiten Argument zufolge lassen die Komplexität und die funktionale Differenzierung moderner Ge­ sellschaften, läßt insbesondere die Entstehung einer weitgehend entpolitisierten Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft eine direkte Demokratie im modernen Staate nicht zu. Während das erste Ar­ gument die im Begriff der »Sittlichkeit« implizierte Komplexität gegen die Formalität des »abstrakten« Rechts ausspielt, spielt das zweite Argument die Komplexität moderner Gesellschaften gegen die im Begriff der direkten Demokratie implizierte Überschau­ barkeit kleiner, vormoderner Gesellschaften aus. Aber diese bei­ den Prämissen, zusammen mit Hegels Konklusion, ergeben keinen gültigen Schluß: Hegel zeigt keineswegs, daß die universa­ listischen Prinzipien des Naturrechts sich nicht in einen demokra­ tischen Begriff der Sittlichkeit für moderne Gesellschaften »über­ setzen« lassen. Dies ist der blinde Fleck der Hcgelschen Rechtsphilosophie. Für diesen blinden Fleck der Hegelschen Rechtsphilosophie gibt es sicherlich mehrere Erklärungen: Eine ist, daß Hegel, obwohl ein »kommunalistischer« Philosoph, den Geist letztlich als Subjektivität und nicht als Intersubjektivität begriff22; eine zweite Erklärung ist, daß Hegel keine unmittel-

22 Wie Vittorio Hösle gezeigt hat, hat Hegel den Übergang zu einem intersubjektiven Begriff des Geistes nur auf der Ebene der »Realphilo­ sophie«, nicht aber in seiner Logik vollzogen. Dies würde, so Hösle, die unaufgelösten Spannungen und Widersprüche zwischen Hegels 27

bare Erfahrung mit demokratischen Traditionen in der modernen Welt hatte; eine dritte Erklärung wäre schließlich, daß der Begriff einer posttraditionalen Form demokratischer Sittlichkeit in der Tat begriffliche Schwierigkeiten bereitet: denn in ihm wäre die Abwesenheit einer der Kritik entzogenen sittlichen »Substanz« zusammenzudenken mit einer zur Gewohnheit, zur Tradition und zur Lebensform geronnenen Form ethischer Toleranz, kritischer Rationalität und demokratischer Selbstbestimmung. Eine demo­ kratische Sittlichkeit wäre eine Sittlichkeit zweiter Stufe; eine Sittlichkeit jenseits des »Standpunkts] der Sittlichkeit, welche nur Gewohnheit und Sitte ist und damit noch eine Partikularität im Dasein«.23 Zwar ist Hegels Rechtsphilosophie der Versuch, den Begriff einer Sittlichkeit jenseits des »Standpunkts der Sittlich­ keit« zu konstruieren; aber Hegel bleibt eigentümlich unent­ schlossen, wo es um die Frage geht, wie diese Sittlichkeit jenseits der Sittlichkeit sich zur substantiellen Sittlichkeit traditionaler, vormoderner Gesellschaften verhält. In seiner ingeniösen Ideali­ sierung des preußischen Staates bleibt er - ein Preuße. Deshalb hatte Marx recht, wenn er in seiner Kritik des Hegelschen Staatsrechts auf dem demokratischen Prinzip der modernen euro­ päischen Geschichte insistierte. »Die Demokratie«, sagt Marx, »ist das aufgelöste Rätsel aller Verfassungen. Hier ist die Verfas­ sung nicht nur an sich, dem Wesen nach, sondern der Existenz, der Wirklichkeit nach in ihren wirklichen Grund, den wirklichen Menschen, das wirkliche Volk, stets zurückgeführt und als sein eignes Werk gesetzt. Die Verfassung selbst erscheint als das, was sie ist, freies Produkt des Menschen [...]« Und: »Die Demokratie verhält sich zu allen übrigen Staatsformen als ihrem alten Testa­ ment [...]. In der Demokratie ist das formelle Prinzip zugleich das materielle Prinzip. Sie ist daher erst die wahre Einheit des Allge­ meinen und Besonderen.«24 Indes bleibt Marx’ eigene Artikula-

Logik und seiner »Realphilosophie« erklären. Aber es könnte ebenso eine Erklärung dafür sein, daß auf der Ebene der »Rcalphilosophic« selbst, nämlich in der Rechtsphilosophie, der Bereich der Intersubjek­ tivität den Zwängen einer Philosophie des absoluten Subjekts unter­ liegt und sich daher nicht im Sinne eines demokratischen Begriffs der Sittlichkeit ausformulieren läßt. (Vgl. V. Hösle: Hegels System, 2 Bde., Hamburg: Meiner 1987.) 23 G. W. F. Hegel, Cph, a.a.O., S. 311. 24 K.Marx: »Kritik des Hegelschen Staatsrechts«, in: V/erke-Schriften28

tion der Idee der Demokratie »abstrakt« genau im Hegelschcn Sinne. Seine Idee einer freien Assoziation der Produzenten, die nach der Überwindung des Kapitalismus gemeinschaftlich ihren Metabolismus mit der Natur regulieren würden, bezeichnet die utopische Perspektive eines kollektiven Lebensprozesses, dessen Einheit und Harmonie sich spontan aus der sozialen Interaktion voll emanzipierter Individuen ergeben würde. Diese ehrwürdige anarchistische Utopie enthält im Grunde eine transpolitische Deu­ tung der Idee der Demokratie; gegenüber einer solchen Deutung aber erscheinen die oben erwähnten Argumente Hegels als durch­ aus überzeugend. In Marx’ Konzeption haben weder die »negati­ ven« Freiheiten noch politische Institutionen oder funktionale und systemische Differenzierungen einen Platz. Marx hat das Hegelsche Problem einer Institutionalisierung der Freiheit in der modernen Welt nicht wirklich im Sinne eines kapitalismuskriti­ schen Demokratiebegriffs gelöst; am Ende hat er das Problem bloß exorziert.25 Was er vom Kopf auf die Füße stellte, ist mehr Rousseau als Hegel. Der Preis für diese Vernachlässigung der po­ litischen Dimension der Freiheit im Marxistischen Denken war hoch, wie wir wissen; die Gesellschaften, die seine Utopie von der Theorie in die Praxis zu übersetzen versuchten, waren am Ende repressiver als der Hegelsche Staat es hätte sein können. Es war nicht Marx, sondern Tocqueville, der die Hegelsche Frage aufnahm, wie eine Verfassung der Freiheit in der modernen Welt möglich sei. In Hegelschen Kategorien gesprochen, geht es Toc­ queville um die Bedingungen der Möglichkeit einer demokra­ tischen Form der Sittlichkeit unter Voraussetzungen eines for­ mal-egalitären Rechts. Natürlich ist Tocquevilles Analyse der amerikanischen Demokratie keine direkte Antwort auf Hegels Rechtsphilosophie. Soweit es aber um das Verständnis der post­ revolutionären Problematik und die Exposition des Freiheits­ problems geht, sind die Gemeinsamkeiten so stark, daß man Tocquevilles Demokratie in Amerika sehr wohl als demokratie­ theoretisches Gegenstück zu Hegels Philosophie des Rechts lesen könnte. Für beide Autoren war die Französische Revolution mit ihrer internen Dialektik von Emanzipation und Repression die Briefe (Hg. H.-J. Lieber/P. Furth), Bd. i, Darmstadt: Wissenschaft­ liche Buchgesellschaft 1962, S. 293. 25 Vgl. A.Wellmer: »Reason, Utopia, and the Dialectic of Enlightenment«, in: Praxis International, Bd. in, 2 (Juli 1983).

29

entscheidende geschichtliche Erfahrung. Und die grundlegende Frage, die beide sich stellten, war die Frage, wie eine Institutiona­ lisierung politischer, »öffentlicher« Freiheit unter Bedingungen einer im rechtlichen Sinne egalitären bürgerlichen Gesellschaft möglich sei, welche beide als das - zumindest der Tendenz nach unwiderrufliche Ergebnis der bürgerlichen Revolutionen ansa­ hen. Für beide, Hegel wie Tocqueville, bedeutete das Heraufkom­ men der bürgerlichen Gesellschaft den Einsturz der alten feudalen oder aristokratischen - politischen Ordnungen; beide sahen in der bürgerlichen Gesellschaft vor allem die Institutiona­ lisierung einer egalitären, um Eigentumsrechte zentrierten Ord­ nung »negativer« Freiheit; beide anerkannten die emanzipatori­ sche Bedeutung der bürgerlichen Gesellschaft, nicht zuletzt im Hinblick auf die Durchsetzung allgemeiner Individual- (»Menschen«-)Rcchte; und beide sahen schließlich deutlich, daß die egalitäre Rechtsordnung der bürgerlichen Gesellschaft keines­ wegs gleichbedeutend war mit einer Institutionalisierung politi­ scher, öffentlicher Freiheit. Im Egalitarismus der bürgerlichen Gesellschaft lauerten nämlich auf der einen Seite die Gefahren eines neuen Despotismus - sei es der bürokratische Despotismus eines zentralisierten modernen Staates oder der Despotismus einer schrankenlosen Mehrheitsherrschaft; auf der anderen Seite bedeutete die Durchsetzung allgemeiner, ums Eigentumsrecht zentrierter Individualrechte in der bürgerlichen Gesellschaft ten­ denziell die Zerstörung aller überkommenen Grundlagen sozialer Solidarität. Bei Hegel findet sich diese Einsicht im Zusammenhang seiner Kri­ tik an einer politischen, d.h. demokratischen Interpretation der Naturrechtstheorien. Im Kem besagt diese Kritik, daß ein ver­ nünftiger gemeinsamer Wille unmöglich aus einem Zusammen­ schluß atomistisch konzipierter Eigentümer entstehen kann, deren soziale Beziehungen wesentlich durch die Auflösung jener kommunalen, solidarischen Bande charakterisiert werden müs­ sen, durch welche die Individuen in früheren Gesellschaften mit­ einander verbunden waren. Tocqueville — obwohl weniger theore­ tisch orientiert als Hegel - benutzte dasselbe Argument; die wesentliche Differenz zwischen ihnen ist im Grunde nur termino­ logischer Art: Weil für Tocqueville der Begriff »Demokratie« vor allem die egalitäre Verwirklichung der »negativen« Freiheit in der modernen bürgerlichen Gesellschaft bedeutete, wurde es für ihn



zum Problem, wie Freiheit in einer demokratischen Gesellschaft realisiert werden kann. Obwohl die geschichtliche Erfahrung des Niedergangs des Geistes und der Institutionen der politischen Freiheit im nachrevolutionären Frankreich der gemeinsame Aus­ gangspunkt von Hegels und Tocquevilles Reflexionen war, such­ ten sie in entgegengesetzten Richtungen nach Alternativen: Hegel glaubte, daß er in einer idealisierten Preußischen Monarchie eine gangbare Alternative gefunden hatte; Tocqueville dagegen wandte sich einer Untersuchung der zweiten großen revolutionären Ge­ sellschaft seiner Zeit zu - der amerikanischen. Hier fand er, was nicht nur der postrevolutionären französischen Gesellschaft, son­ dern allen großen kontinental-europäischen Staaten seiner Zeit fehlte: einen Geist der Freiheit, der zu einem sittlichen Lebenszu­ sammenhang geworden war. Ich habe diese Form eines sittlichen Lebenszusammenhanges frü­ her »demokratisch« genannt. Der Begriff »demokratisch« kann hier sowohl im Sinne Tocquevilles als auch in dem eher traditio­ nellen Sinne Hegels verstanden werden: es handelt sich nämlich um einen sittlichen Lebenszusammenhang egalitärer Gesellschaf­ ten (»demokratischer« Gesellschaften in Tocquevilles Sinn), und es handelt sich um eine Form der Sittlichkeit, die auf einem uni­ versalistischen Prinzip individueller und kollektiver Selbstbestim­ mung beruht. Zu explizieren bleibt noch, was es heißt zu sagen, daß Demokratie eine Form der Sittlichkeit im Sinne Hegels ge­ worden ist. Im Sinne einer solchen Explikation möchte ich an einige wesentliche Aspekte von Tocquevilles Analyse erinnern. Zunächst einige Worte zu Tocquevilles Konzeption der Freiheit und ihrem Verhältnis zu dem, was ich Demokratie nennen werde. Tocquevilles Konzeption der Freiheit ist kommunalistisch. Sie ist untrennbar (i) von der Idee, daß Individuen gemeinsam über ge­ meinsame Angelegenheiten verhandeln und entscheiden; (2) von der Idee einer diskutierenden Öffentlichkeit als des Mediums der Klärung, Transformation und Kritik von individuellen Meinun­ gen, Präferenzen und Interpretationen; und (3) schließlich von der Idee eines gleichen Rechts der Individuen, an der Gestaltung und der Zielsetzung ihres kollektiven Lebens mitzuwirken. Die negative Freiheit, die in den Strukturen der bürgerlichen Gesell­ schaft verkörpert ist, wird hier in die »positive« Freiheit gemein­ sam Handelnder transformiert. Im Medium dieser »positiven« oder »vernünftigen« Freiheit werden auf einer neuen Ebene kom31

munalc Beziehungen zwischen Individuen wicderhergestcllt, die als bloß unabhängige Eigentümer gerade durch das Fehlen solcher Beziehungen charakterisiert sind. »Die Freiheit allein« sagt Toc­ queville, »[...] vermag die Bürger aus der Vereinzelung, in der gerade die Unabhängigkeit ihrer Lage sie leben läßt, herauszuzie­ hen, um sie zu nötigen, sich einander zu nähern; sie, die Freiheit, erwärmt und vereinigt sie jeden Tag aufs neue durch die Notwen­ digkeit, sich in der Behandlung gemeinsamer Angelegenheiten miteinander zu besprechen, einander zu überzeugen und sich wechselseitig gefällig zu sein. [...] sie allein läßt von Zeit zu Zeit die Lust am behaglichen Leben durch tüchtigere und erhabenere Leidenschaften verdrängen, bietet dem Ehrgeiz edlere Gegen­ stände als die Erwerbung von Reichtümern und erzeugt das Licht, das es gestattet, die Laster und Tugenden der Menschen zu erken­ nen und zu beurteilen.«26 So viel scheint offensichtlich: Freiheit in diesem Sinne kann es nur als eine Form von Sittlichkeit geben; d. h. als eine Form kommu­ naler Praxis, die die Institutionen einer Gesellschaft auf allen Ebenen durchdringt und die für den Charakter, die Gewohnhei­ ten und die moralischen Gefühle der Bürger konstitutiv geworden ist. Etwas dieser Art hat Tocqueville in den Institutionen und im alltäglichen Leben des nachrevolutionären Amerika entdeckt. Ich glaube, daß er recht hat, wenn er die tiefsitzenden Unterschiede zwischen dem Verlauf der französischen und der amerikanischen Revolution darauf zurückführt, daß die constitiaio libertatis in den Vereinigten Staaten nicht von der Spitze der Gesellschaft aus­ ging - wie in der französischen Revolution -, sondern gleichsam von der Basis. Die amerikanische Revolution war im Grunde nur eine Revolution gegen eine Kolonialmacht, d. h. gegen die briti­ sche Krone, während die politischen und sozialen Strukturen, die sich auf lokaler und regionaler Ebene während der Periode der Kolonialregierung herausgebildet hatten, die radikalsten libertä­ ren Traditionen des kolonialen Mutterlandes selbst repräsentier­ ten. In diesem Sinne war die demokratische Republik auf der Ebene von townships und regionalen Assoziationen schon lange Realität, bevor sie zum Prinzip der amerikanischen Föderation wurde. Eine lange Tradition der Selbstregierung in den townships 26 A.. de Tocqueville: Der alte Staat und die Revolution, Hamburg: Ro­ wohlt 1969, S. 13. 32

hatte jene politischen Erfahrungen, Einstellungen und Kenntnisse hervorgebracht, ohne welche die amerikanische Revolution nicht zur Konstitution einer egalitären demokratischen Republik hätte führen können. »Die amerikanische Revolution mit ihrer Lehre von der Volkssouvcränität«, sagt Tocqueville, »[brach] in den townships aus und nahm von dorther den Staat in Besitz.«27 Und sie »war das Ergebnis einer reifen und reflektierten Vorliebe für die Freiheit.«28 Ich werde hier nicht auf Details der faszinierenden Analyse von Tocqueville eingehen; insbesondere werde ich nichts über die von Tocqueville beschriebenen Institutionen der Selbstregierung auf lokaler Ebene sagen, über Tocquevilles Reflexionen über die er­ zieherische Rolle des Geschworenengerichts oder über die Tei­ lung und Dezentralisierung der Macht in der amerikanischen Verfassung. Tocqueville verhielt sich bekanntlich nicht unkritisch gegenüber der amerikanischen Demokratie und sah sie keines­ wegs als Modell an, das man in europäischen Staaten einfach hätte nachahmen können. Darüber hinaus gibt es - eineinhalb Jahrhun­ derte nach der Veröffentlichung von Tocquevilles Buch — eine Reihe von Gründen, die amerikanische Demokratie nicht zu idea­ lisieren: die Geschichte der amerikanischen Demokratie ist auch die Geschichte der politischen, sozialen und ökonomischen Aus­ grenzung. von Minderheiten und sie war auch die Geschichte imperialistischer Ausbeutung und Einmischung. Dabei sollte aber nicht vergessen werden, daß Hegels Diktum über die bürgerliche Gesellschaft - »Der Mensch gilt so, weil er Mensch ist, nicht weil er Jude, Katholik, Protestant, Deutscher, Italiener usf. ist«29 nirgendwo auf der Welt in größerem Ausmaß als ein Prinzip der Bürgerrechte, d. h. als ein Prinzip politischer Freiheit Wirklichkeit geworden ist als in den Vereinigten Staaten von Amerika. All das jedoch ist in einem gewissen Sinn irrelevant im Hinblick auf die philosophischen Fragen, um die es mir hier geht. Ich habe nämlich nur auf Tocqueville verwiesen, um zu zeigen, daß es - Hegels Einwänden zum Trotz - keinen Grund für die Behauptung gibt,

27 Wegen der schöneren Übersetzung zitiert nach Hannah Arendt: Über die Revolution, München/Zürich: Piper 196}, S. 21 j. Vgl. Alexis de Tocqueville: Über die Demokratie in Amerika, Bd. 1, München 1976, S. 64. 28 Vgl. A. de Tocqueville, a.a.O., S. 79. 29 G. W. F. Hegel, Rph, a.a.O., § 209, S. 360. 33

die universalistischen Prinzipien des Naturrechts seien nicht in eine kommunalistische Konzeption politischer Freiheit übersetz­ bar; was Tocqueville tatsächlich zeigt, ist, daß Freiheit in der modernen Welt nur als Form demokratischer Sittlichkeit gedacht werden kann. Tocquevilles Analyse hat eine besonders interessante Konse­ quenz. Wenn man versuchen wollte, diese Analyse in den syste­ matischen begrifflichen Rahmen von Flegels Rechtsphilosophie zurückzuübersetzen, würde offensichtlich, daß die Grenzen zwi­ schen bürgerlicher und politischer Gesellschaft, die schon in Hegels Analyse keineswegs scharf geschnitten waren, in der Tat eher als fließend angesehen werden müssen. Denn der Geist einer demokratischen Sittlichkeit - so es ihn überhaupt gibt - wird alle Institutionen einer Gesellschaft durchdringen; folglich kann nicht ein für allemal eine scharfe Grenze gezogen werden, die die Sphäre »negativer« Freiheit klar von derjenigen »positiver«, öf­ fentlicher Freiheit trennen würde. Mit anderen Worten: eine demokratische Sittlichkeit wird die Art und Weise beeinflussen, in der die »negative« Freiheit von Eigentümern ausgeübt wird und sozial zur Geltung kommt. Um das offensichtlichste Beispiel zu nehmen: Die Sozialisierung von Produktionsmitteln muß immer eine mögliche Option für eine demokratische Gesellschaft sein. Bedeutet dies nun, daß eine kommunalistische Konzeption poli­ tischer Freiheit den ganzen Wahrheitsgehalt der Naturrechtstheo­ rien in sich aufhebt? Oder sollten wir annehmen, daß Hegels begriffliche Strategie - die de facto (wenngleich in einem weniger systematischen Sinn) auch die von Tocqueville und sogar die von J.S. Mill ist und dergemäß die »negative« Freiheit des bürger­ lichen Individuums eine Sphäre von Rechten sui generis bezeich­ net, die in demokratischen Entscheidungsprozessen nicht zur Disposition gestellt werden darf-einen Begriff des Rechts impli­ ziert, der sich nicht in eine demokratisch-kommunalistische Kon­ zeption aufheben läßt? Mit diesen Fragen komme ich zurück auf meine anfänglichen Überlegungen über die Alternative von indi­ vidualistischen und kommunalistischen Freiheitsmodellen in der Moderne.

34

IV.

Um meine Fragen zuzuspitzen, möchte ich zunächst eine neuere individualistische mit einer neueren kommunalistischcn Konzep­ tion von Freiheit kontrastieren. Ich nehme Nozick als Protagoni­ sten einer individualistischen und Habermas als Protagonisten einer kommunalistischcn Konzeption. Habermas habe ich ausgcwählt, weil seine Theorie die anspruchsvollste und originellste Rekonstruktion einer kommunalistischcn Freiheitskonzeption darstellt, die es heute gibt; für Nozick habe ich mich entschieden, weil sein Buch Anarchy, State, and Utopia die radikalste Verteidi­ gung einer individualistischen Konzeption ist, die ich kenne. Ich werde hier keine Details diskutieren, auch nicht die anthropologi­ schen und epistemologischen Prämissen der beiden Autoren; was letztere angcht, so denke ich, daß Habermas grundsätzlich recht hat und daß Nozick sich grundsätzlich irrt. Was ich diskutieren möchte, ist nur eine interessante formale Analogie zwischen den beiden Theorien. Beiden, Nozick wie Habermas, geht cs um be­ stimmte /Wetaprinzipien der Freiheit, d. h. um Prinzipien, die nur die formalen Bedingungen einer freien Gesellschaft definieren und noch keine Inhalte - im Sinne von institutionellen Strukturen, Lebensformen, Assoziationsformen etc. - spezifizieren. Im Falle Nozicks sind diese Metaprinzipien Prinzipien negativer Freiheit, die um Eigentumsrechte zentriert sind, im Falle von Habermas handelt es sich um Prinzipien des rationalen Diskurses. In beiden Fällen definieren die Metaprinzipien der Freiheit keinen utopi­ schen Zustand der Gesellschaft, sondern - wie Nozick es formu­ liert - einen »Rahmen für Utopien« (»a framework for utopias«), eine »Meta-Utopie«.30 Die formalen Bedingungen der Freiheit definieren in beiden Fällen die Bedingungen einer wesentlich plu­ ralistischen Gesellschaft; die Metaprinzipien buchstabieren aus, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit bestimmte Inhalte legitim genannt werden können. Und sofern diese Bedingungen erfüllt sind, wäre jeder Inhalt - z. B. institutionelle Arrangements, Lebensformen, individuelle Entscheidungen, Handlungsweisen etc. - legitim. An diesem Punkt endet die Analogie; denn, wie nicht anders zu 30 R. Nozick: Anarchy, State, and Utopia, New York: Basic Books, 1974, S. 312.

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erwarten, werden bei Nozick und Habermas Form und Inhalte auf sehr verschiedene Weisen miteinander verknüpft, je nachdem, ob diese Verknüpfung durch Prinzipien des rationalen Diskurses oder durch Prinzipien des Eigentumsrechts vermittelt ist. Die Me­ taprinzipien des rationalen Diskurses sind vor allem Prinzipien der Institutionalisierung öffentlicher Freiheit und demokratischer Willensbildung; aus der Perspektive dieser Metaprinzipien er­ scheinen Eigentumsrechte als möglicher Inhalt eines demokrati­ schen Konsenses. Die Metaprinzipien der Individualrechte sind dagegen vor allem Prinzipien negativer Freiheit. Aus der Perspek­ tive dieser Metaprinzipien erscheint eine partizipatorische Demo­ kratie als möglicher Inhalt einer Abmachung (eines Vertrags) zwischen bestimmten Mitgliedern der Gesellschaft. In den Wor­ ten von Nozick: »Visionaries and crackpots, maniacs and saints, monks and libertines, capitalisis and communists and participatory democrats, proponents of phalanxes (Fourier), palaces of labor (Flora Tristan), villages of unity and Cooperation (Owen), mutualist communities (Proudhon), time Stores (Jo­ siah Warren), Bruderhof, kibbutzim, kundalini yoga ashrams, and so forth, may all have their try at building their vision and setting an alluring example.«31

Im Vergleich mit Habermas stellt Nozicks Vision, eine postmo­ derne Version der liberalen Utopie, eine verblüffende Umkehrung von Form und Inhalt dar. Warum aber ist sie verblüffend und nicht einfach absurd? Ich denke, es ließe sich leicht zeigen, daß sie tatsächlich in mancher Hinsicht absurd ist, absurd nämlich in Hinsicht auf die zugrunde liegenden anthropologischen, soziolo­ gischen und rationalitätstheoretischen Annahmen, und insbeson­ dere absurd, weil Nozick noch nicht einmal die Frage stellt, wie die Bürger seiner liberalen Utopie sicherstellcn können, daß die Metaprinzipien ihrer Freiheit in der richtigen Weise praktisch um­ gesetzt werden. Genau an diesem Punkt haben Locke oder Kant eine Konzeption repräsentativer Regierung (und Hobbes eine Konzeption des Staates als Leviathan) entwickelt. Prima facie und aus philosophischer Sicht spricht alles gegen Nozicks liberale Utopie; es scheint offensichtlich, daß eine kommunalistische Per­ spektive im Sinne von Habermas viel kohärenter ist, wenn man eine formale Konzeption von Freiheit entwerfen will. Der Grund,

ji A.a.O., S.316. 36

weshalb ich in Nozicks Konstruktion trotzdem etwas für einen Kommunalisten Interessantes (und nicht nur etwas Absurdes) finde, ist, daß sie als Beschreibung der bürgerlichen Gesellschaft im Hegelschcn Sinne verstanden werden kann. Wenn man sic aber in diesem Sinn versteht, d. h. als Legitimation einer Sphäre nega­ tiver Freiheit im modernen Staat, einer Sphäre negativer Freiheit, die strukturell unterschieden und in einem gewissen Sinn unab­ hängig ist von der kommunalen Sphäre öffentlicher Freiheit, dann könnte man versuchen, Nozicks Konstruktion so zu verstehen, wie Hegel die Konstruktionen des Naturrcchts verstand: nämlich als Artikulation einer grundlegenden Dimension der Freiheit in der modernen Welt, einer negativen Freiheit, durch welche ineins die überkommenen Bande der Solidarität zwischen den Indivi­ duen zerstört und die Voraussetzungen für jene reflexive - univer­ salistische und demokratische - Form von Solidarität geschaffen werden, die die einzig mögliche im modernen Staat ist. Die Frage, die sich dann stellt, wäre, ob eine kommunalistische Konzeption von Freiheit in Habermas’ Sinn dieser Dimension negativer Frei­ heit zureichend Rechnung tragen kann oder ob die liberale Ideo­ logie einen unabhängigen Wahrheitsgehalt hat, der explizit in eine kommunalistische Konzeption von Freiheit implantiert werden müßte. Um zu erklären, was auf dem Spiel steht, werde ich zwischen drei verschiedenen Möglichkeiten unterscheiden, wie das Problem der Legitimation einer Sphäre negativer Freiheit aus einer kommunalistischen Perspektive behandelt werden kann. Die ersten beiden Arten der Legitimation stellen den Primat der kommunalistischen Perspektive, d. h. den Primat eines demokratisch verstandenen ge­ meinsamen Willens in keiner Weise in Frage; nur im Falle der dritten Legitimationsart wird der Primat der kommunalistischen Perspektive, wenngleich nicht wirklich in Frage gestellt, so doch in ein neues Licht gerückt. Die erste Art der Legitimation betont die Steuerungskapazitäten eines freien Marktes. Die einzige Alternative zum ökonomischen Steuerungsmechanismus des Marktes, die wir kennen, ist die bürokratische Planung, und es scheint heute einen beinahe univer­ salen Konsens darüber zu geben, daß der Marktmechanismus weit überlegen ist, soweit es um ökonomische Effizienz geht; und mit »ökonomischer Effizienz« meine ich Effizienz hinsichtlich der Produktion und Verteilung von Gütern (Gebrauchswerten) aus

V7

dem Gesichtspunkt der Bedürfnisse der potentiellen Verbraucher dieser Güter. Im ökonomischen »Subsystem« moderner (west­ licher) Gesellschaften bestimmt Geld als ein »generalisiertes Me­ dium der Kommunikation« einen Typus von Interaktion und Entscheidungsfindung hinsichtlich der Produktion und Vertei­ lung materieller Güter, der sich als viel flexibler und effizienter erwiesen hat, als irgendein Typus »politischer« Interaktion und Entscheidungsfindung es je sein könnte. Weil dies mehr oder we­ niger zum ökonomischen common sense in modernen Gesell­ schaften geworden ist, könnte man die marktförmige Organisa­ tion der Ökonomie leicht als Inhalt eines realen - oder zumindest potentiellen - demokratischen Konsenses interpretieren. Am Pri­ mat der kommunalistischen Perspektive wird hier in einem direk­ ten Sinne festgehaltcn, da die Delegierung von Steuerungsfunktio­ nen an den Markt-als einer Sphäre negativer Freiheit-sowohl als zumindest potentielles Resultat eines demokratischen Entschei­ dungsprozesses als auch durch einen solchen begrenzt aufgefaßt werden kann. Diese Art der Legitimation einer Sphäre »strategi­ schen« ökonomischen Handelns ist jene, die Habermas in seine Theorie des kommunikativen Handelns integriert hat. Die zweite Art der Legitimation steht der ersten vergleichsweise nahe, obwohl es bei ihr unmittelbar nur um das Problem distribu­ tiver Gerechtigkeit geht. Ich denke dabei an Rawls’ zweites Ge­ rechtigkeitsprinzip, demzufolge eine ungleiche Verteilung von materiellen Gütern und Chancen nur dann gerecht ist, wenn sie sich zum Vorteil der am meisten Benachteiligten auswirkt.52 Weil dieses Prinzip offensichtlich eine besondere Relevanz für jene Ungleichheiten hat, die mit einer Marktökonomie verbunden sind, vor allem mit der kapitalistischen Ökonomie, könnte es wie­ derum als Teil einer kommunalistischen Rechtfertigung einer Sphäre negativer (ökonomischer) Freiheit gesehen werden. Nur das dritte Argument für eine Sphäre negativer Freiheit stellt ein besonderes Problem für die kommunalistische Perspektive dar. Ich denke an die Art von Argument, wie Hegel cs gebraucht, wenn er sich direkt auf die Tradition des Naturrechts beruft. Die­ ses Argument, das zwar mit den beiden anderen, die ich erwähnt habe, kompatibel ist, unterscheidet sich von ihnen insofern, als es

32 J.Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt: Suhrkamp 1988, 4. Aufl., S. 81, 336 ff. 38

- um cs paradox auszudrücken - die positive Seite der negativen Freiheit in den Vordergrund rückt. Negative - oder wie Hegel sie nennen würde - »abstrakte« Freiheit wird hier als ein »Moment« - und insofern auch als eine Voraussetzung - jener Form kommu­ naler Freiheit gesehen, die auf einer Anerkennung von Individual­ rechten beruht; es handelt sich genau um diejenige Handlungs­ freiheit (Kants Freiheit der Willkür), die begrifflich vorausgesetzt werden muß, wenn kommunale Freiheit - d. h. vernünftige Frei­ heit- als eine Form von Freiheit möglich sein soll, die auf Einsicht und freiwilliger Zustimmung basiert. Negative Freiheit - im Sinne einer egalitären Institutionalisierung des abstrakten Rechts - ist in der modernen Welt genau in dem Maße eine Voraussetzung kom­ munaler Freiheit, als sie zugleich Bedingungen bezeichnet, unter denen die Individuen ein Recht haben, nicht vollkommen rational zu sein. Denn nur wenn sie ein Recht haben, im Sinne eines kom­ munalen Begriffs von Rationalität nicht vollkommen rational zu sein, kann ihre kommunale Rationalität ihre eigene Leistung, ihr eigenes Werk, und kann kommunale Freiheit eine Manifestation ihrer individuellen Freiheit werden. Negative Freiheit, verstanden als ein Menschenrecht der Selbstbestimmung, impliziert in einem bestimmten Sinn das Recht, selbstsüchtig, verrückt, exzentrisch, unverantwortlich, provokativ, obsessiv, selbstdestruktiv, mono­ manisch etc. zu handeln; man muß nur einschränkend hinzufü­ gen, daß das, was aus einer bestimmten Perspektive als verrückt, exzentrisch, abweichend - und sogar egoistisch - etc. erscheint, aus einer anderen Perspektive - sogar aus der einer kommunalen Rationalität - als vernünftig und gerechtfertigt erscheinen mag. Für Hegel war die bürgerliche Gesellschaft - als die Sphäre der institutionalisierten negativen Freiheit - »das System der in ihre Extreme verlorenen Sittlichkeit«.33 Als eine Sphäre negativer Freiheit verkörperte die bürgerliche Gesellschaft für Hegel jenes Moment der Entzweiung im modernen Leben, welches er - im Gegensatz zu Rousseau, den Frühromantikern und später Marx, die darin den Skandal der Moderne sahen - als Preis für eine Wie­ derherstellung kommunaler Freiheit unter den Bedingungen der Moderne ansah; d. h. unter Bedingungen emanzipierter Indivi­ dualität, universaler Menschenrechte und einer Emanzipation der Wissenschaft, der Kunst und des Berufslebens von den politischen 33 G. W. F. Hegel, Rph, a.a.O., § 184, S. 340. 39

und religiösen Einschränkungen vormoderner Gesellschaften. Als ein zu zahlender Preis war dies Moment der Entzweiung zugleich die Voraussetzung jener modernen Form kommunaler Freiheit, die im Gegensatz zur klassischen griechischen Sittlichkeit keine Einschränkungen des rationalen Diskurses und der kritischen Prüfung zulassen würde. Die bürgerliche Gesellschaft, als eine Sphäre immer möglicher Entzweiung, ist für Hegel zugleich eine Sphäre des Lernens und der Bildung der Individuen in einem praktischen, kognitiven, moralischen und ästhetischen Sinn; in­ folgedessen hat sie eine positive Funktion für die Bildung von Individuen, vor allem auch hinsichtlich der intellektuellen und moralischen Qualifikationen, die sie als Bürger eines modernen Staates erwerben müssen. Hegel wird dementsprechend sogar be­ haupten, daß der Verlust an kommunalen und solidarischen Be­ ziehungen, der in der antagonistischen Struktur der bürgerlichen Gesellschaft zum Ausdruck kommt, im Grunde, d. h. aus der Per­ spektive der Sittlichkeit eines modernen, rationalen Staates nur ein Schein ist. Was nun diese Behauptung betrifft, so hatte Marx sicherlich recht, wenn er sie als eine unausgewiesene Voraussetzung der Hegel­ sehen Konstruktion kritisierte. Marx verfehlte jedoch die Pointe der Hegelschen Metakritik der romantischen Kritik der Moderne, wenn er das Verhältnis von Wirklichkeit und Schein einfach um­ kehrte - Marx zufolge war die bürgerliche Gesellschaft die Wirk­ lichkeit und das Element der kommunalen Freiheit im modernen Staat nur ein Schein. Denn die Substanz jener Metakritik ist un­ abhängig von Hegels idiosynkratischer Konstruktion des moder­ nen Staates. Sogar eine radikal demokratische Konzeption von Sittlichkeit als der Form kommunaler Freiheit im modernen Staat müßte den Wahrheitsgehalt von Hegels Kritik an romantischen Versöhnungsutopien in sich aufnehmen. Der Wahrheitsgehalt die­ ser Kritik liegt darin, daß keine kommunale Freiheit in der modernen Welt denkbar ist, die nicht auf der Institutionalisierung einer gleichen negativen Freiheit für alle beruht.



V.

Zwei Fragen bleiben zu beantworten: (1) In welchem Verhältnis stehen negative Freiheit und Eigentumsrechte? (2) In welcher Weise berührt das dritte Argument für eine Sphäre negativer Frei­ heit ein kommunalistisches Verständnis des demokratischen Ge­ meinwillens? (r)Was die erste Frage betrifft, so ist Hegels Konstruktion des Verhältnisses ziemlich klar: Negative Freiheit kann nur existieren, wenn sie in bezug auf die individuelle Person eine äußere Realität hat.34 Deshalb kann sic nur in der Form eines Individualrechts existieren, das sich auf jene Objekte bezieht, die ausschließlich mir gehören. Wenn Menschenrechte an Individuen als Individuen gebunden sind, dann müssen Eigentumsrechte individualisiert werden — das ist der Kern des Hegelschen Arguments. Allerdings ist das noch weit entfernt von der Rechtfertigung einer kapitalisti­ schen Ökonomie; eine andere Art von Argumenten, z. B. solche, die der ersten und zweiten Art von Gründen für eine Marktöko­ nomie entsprechen, wie ich sie oben erwähnt habe, müßte hinzu­ genommen werden, wenn man eine spezifische Organisations­ form der Ökonomie rechtfertigen wollte. Es wäre offenbar schwierig, eine scharfe Trennlinie zu ziehen zwischen jenen indi­ viduellen Eigentumsrechten, die im Begriff negativer Freiheit impliziert scheinen, einerseits, und jenen Eigentumsrechten ande­ rerseits, deren Anerkennung und Institutionalisierung als Inhalt eines demokratischen Konsenses in einer bestimmten Gesellschaft verstanden werden könnte. Darüber hinaus ist es, wie Nozick zu Recht betont, eine legitime Weise des Gebrauchs von Eigentums­ rechten, auf individuelle Eigentumsrechte zu verzichten, bei­ spielsweise zugunsten einer kommunalen Form von Eigentum. Bedeutet dies, daß freiwillige Übereinkunft, d.h. ein »rationaler Konsens«, trotz allem das grundlegende Legitimitätskriterium hinsichtlich der Reichweite von individuellen Eigentumsrechten ist? Und wenn dem so wäre, käme dies am Ende nicht doch einem unbedingten Vorrang einer kommunalistischen Perspektive gleich? Mit diesen Fragen wende ich mich jenen Problemen zu, auf die ich in der zweiten Frage am Anfang dieses Abschnittes hingewiesen habe. 34 A.a.O., § 4>> S. 102 ff. 41

(z) Meine bisherigen Überlegungen zeigen, daß es keine klar ge­ schnittenen Grenzen des möglichen Inhalts eines rationalen Kon­ senses über die Institutionalisierung von Individualrechten, z. B. von Eigentumsrechten gibt - immer vorausgesetzt, daß natürlich kein Konsens rational genannt werden kann, der genau jene Be­ dingungen in Frage stellen würde, unter denen allein ein rationaler Konsens zwischen Bürgern erzielt werden kann. Diese Bedingun­ gen könnte man mit Hilfe von Metaprinzipien des rationalen Diskurses zu beschreiben versuchen. Man muß sich aber klarma­ chen, daß man durch die Formulierung solcher Prinzipien nicht auch schon ein Prinzip gleicher Individualrechte formuliert — ge­ schweige denn es »abgeleitet« - hätte. Das heißt aber, daß durch die Angabe der Bedingungen eines rationalen Diskurses noch kei­ nesfalls jener normative Kern formuliert ist, der bei keiner Insti­ tutionalisierung von Individualrechten zur Disposition gestellt werden darf, wenn nicht die Grundlagen eines demokratischen Diskurses in Frage gestellt werden sollen. Entgegen einem einge­ fleischten Vorurteil sind die Bedingungen eines rationalen Diskur­ ses nicht identisch mit den Bedingungen eines demokratischen Diskurses. Erstere lassen sich mit Hilfe eines Metaprinzips des rationalen Dialogs formulieren, letztere nur mit Hilfe eines Prin­ zips gleicher Individualrechte; die Kategorie der Individualrechte läßt sich aber aus keinem Rationalitätsprinzip begrifflich ableiten. Habermas’ Versuch, den Primat der kommunalistischen Perspek­ tive dadurch zu sichern, daß er die Metaprinzipien des rationalen Diskurses zur einzigen unhinterfragbaren Grundlage einer demo­ kratischen Konkretisierung von Individualrechten macht, muß deshalb scheitern, weil die Prinzipien des rationalen Diskurses nur in Verbindung mit dem Prinzip gleicher Individualrechte jene unhintergehbare Grundlage darstellen kann, die von keiner demo­ kratischen Institutionalisierung und Konkretisierung negativer Freiheit in Frage gestellt werden darf. Offensichtlich läßt sich die normative Substanz moderner demokratischer Kulturen aus kei­ nem Begriff diskursiver Rationalität allein ableiten.35 Ich denke, daß Argumente dieser Art auch im Zentrum von He35 Dies hat Habermas inzwischen ausdrücklich anerkannt. Allerdings glaube ich, daß auch die »Verschränkung« von »Diskursprinzip« und »Rechtsform« nicht ausreichend ist für eine solche Ableitung. Vgl. J. Habermas: Faktizität und Geltung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992, insbes. S. 154 ff.

42

gels antiformalistischcr Strategie stehen. Wenn es richtig ist, daß wir mehr als den Begriff rationaler Argumentation oder eines ra­ tionalen Konsenses brauchen, um die grundlegenden Bedingun­ gen eines rationalen politischen Konsenses in modernen Gesell­ schaften auszubuchstabieren, dann hat Hegel insbesondere in Hinsicht auf die Naturrechtstheorien immer noch in einem zwei­ fachen Sinn recht: (r) in seinem Versuch, ein Wahrheitsmoment in der »atomistischen« Konzeption natürlicher Rechte zu retten; und (z) in seiner Weigerung, die Idee des Naturrechts in ein tran­ szendentales Prinzip kommunikativer Rationalität und kommu­ nikativer Freiheit zu übersetzen. Ein Indiz dafür, daß von einem Prinzip der letzteren Art - sogar wenn cs im Sinne einer prozedu­ ralen Rationalitätskonzeption ausbuchstabiert wird — keine uni­ versalistische Konzeption negativer Freiheit direkt ableitbar sein kann, ist, daß die negativen Freiheitsrechte - wie ich früher ange­ deutet habe —, in einem bestimmten Sinn sogar Rechte gegen die Forderungen einer kommunalen Rationalität sind. Dies wird we­ niger paradox erscheinen, wenn wir berücksichtigen, daß die Forderungen kommunaler Rationalität in jedem bestimmten Kontext und zu jedem geschichtlichen Zeitpunkt eine Art öffent­ licher Definition in der Form von Institutionen, moralischen Überzeugungen, öffentlicher Meinung etc. haben werden, eine Art öffentlicher Definition, die jedoch offen für Kritik und mög­ liche Veränderungen sein und Platz für Dissens lassen muß. Aus dieser Perspektive gesehen wäre negative Freiheit zumindest die Freiheit, anderer Meinung zu sein und als Nonkonformist zu han­ deln. Es scheint aber offensichtlich, daß die Anerkennung ent­ sprechender Rechte ein essentieller Bestandteil einer jeden mög­ lichen Konzeption kommunaler Freiheit in der modernen Welt sein muß. Natürlich würde ein »Kommunalist« wie Habermas dem zustimmen. Die einzige kontroverse Frage wäre deshalb, ob »vermittelnde« philosophische Argumente der Art, wie ich sie hier — Hegels Strategie folgend - zu skizzieren versucht habe, notwendig sind für eine angemessene Rekonstruktion unserer weitgehend unkontroversen Intuitionen. Um meine These zu un­ termauern, daß ein universalistisches Prinzip negativer Freiheit begrifflich nicht als Teil eines Begriffs kommunikativer Rationali­ tät in Habermas’ Sinn betrachtet werden kann, möchte ich zwei weitere Anmerkungen zu dieser These machen. (i) Vom Standpunkt einer prozeduralen Rationalitätskonzeption 43

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können wir ein universalistisches Prinzip der Menschenrechte entweder als moralische Norm verstehen, die wir für den Inhalt eines möglichen rationalen Konsenses halten, oder es als in den Metaprinzipien der Rationalität impliziert betrachten. Im ersten Fall müßten wir die Möglichkeit zugestehen, daß sich unsere uni­ versalistischen moralischen Intuitionen als falsch erweisen kön­ nen, weil ein rationaler Konsens zustande kommen könnte, der diese Prinzipien negiert. Abgesehen davon, daß diese Interpreta­ tion zutiefst kontraintuitiv ist, könnte Habermas sie wohl kaum akzeptieren. Gemäß der Logik seiner Position muß der Universalismus deshalb in den »unvermeidbaren normativen Präsuppositionen« des rationalen Diskurses impliziert sein, d.h. er muß ein Teil der Metaprinzipicn der Rationalität sein. Aber wie könnte ein Prinzip der Rationalität, sogar wenn es ein Prinzip »kommunikati­ ver« und/oder »diskursiver« Rationalität ist, irgend etwas über ein Recht sagen, nicht rational zu sein? Die Pointe eines Prinzips der Rationalität besteht darin, die Sphäre der rationalen Kommunika­ tion und des rationalen Diskurses - gleichsam von innen — zu be­ grenzen; es besagt gewissermaßen, daß wir kein »Recht« haben, nicht rational zu sein, und es buchstabiert aus, was es ist, wozu wir kein Recht haben. Wenn dieses Prinzip nun ein Prinzip a priori ist, dann muß es für jeden möglichen Sprecher zu jeder Zeit gelten; es kann keine möglichen Ausnahmen zulassen. Deshalb muß es sich, wenn es denn so etwas wie ein Recht, nicht rational zu sein, gibt, um eine andere Art von »Rechten« handeln. Ein Sprecher könnte sich beispielsweise auf kein moralisches Recht berufen, die Forderun­ gen kommunaler Rationalität zu verletzen, (denn solche Rechte kann es nicht geben). Wenn also überhaupt ein moralisches Recht impliziert ist, dann muß es ein moralisches Recht sein, das nur in terms der moralischen Verpflichtungen erklärt werden kann, die andere Menschen bezüglich meiner Sphäre negativer Freiheit ha­ ben, d. h. eine moralische Verpflichtung, meine Sphäre negativer Freiheit zu respektieren - selbst wenn ich die entsprechenden Rechte in einer nicht rationalen Weise ausübe. Ein entsprechendes Prinzip negativer Freiheit kann nicht Teil eines Metaprinzips der Rationalität sein, obwohl es höchst plausibel wäre zu argumentie­ ren, daß ein rationaler Konsens über ein Prinzip dieser Art möglich sein muß. Wie wir jedoch gesehen haben, erscheint dieser Ausweg aus der Perspektive einer prozeduralen Rationalitätskonzeption als verstellt. Interessanterweise ist dieser Ausweg nur dann offen, 44

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’wenn wir uns den Zusammenhang zwischen dem Prinzip negativer IFreiheit und der Möglichkeit eines rationalen Konsenses anders 'vorstellen. Das bringt mich zu meiner zweiten Anmerkung. 1(2) Rawls hat sein erstes Gerechtigkeitsprinzip, das als universali­ stisches Prinzip negativer Freiheit verstanden werden kann, als den Inhalt eines rationalen Konsenses zwischen Individuen inter­ pretiert, die unter Bedingungen einer »original position« - d. h. hinter einem »Schleier des Nichtwissens« - und auf der Grund­ lage rein strategischer Kalkulationen herauszufinden versuchen, welche Art von grundlegenden sozialen Arrangements am besten für sie wäre. Der Begriff der »original position« - eine begriffli­ che Fiktion — ist der Kunstgriff, den Rawls benutzt, um sicherzu­ stellen, daß die strategischen Kalkulationen der Individuen unter den einschränkenden Bedingungen einer universalistischen Moral durchgeführt werden.36 Aus diesem Grund kommt Rawls’ erstes Gerechtigkeitsprinzip der Kantischen Definition von »Recht« sehr nahe, die ich früher zitiert habe; noch näher kommt sie je­ doch der Hegelschen Konzeption des »abstrakten Rechts«. Der interessante Punkt ist nun, daß der Konsens, um den es hier geht, ein »transzendentaler« Konsens ist: Unter der Voraussetzung einer Pluralität von Individuen mit unterschiedlichen Interessen muß doch jedes einzelne Individuum, das rational seine eigenen Interessen hinter einem Schleier des Nichtwissens verfolgt, zu demselben Ergebnis kommen. Kein Diskurs zwischen den Indivi­ duen ist notwendig. Das ist ein »transzendentales« Argument anderer Art als dasjenige, das in der Rechtfertigung der Metaprin­ zipien des rationalen Diskurses in Habermas’ Sinn impliziert ist; d. h. das Prinzip, das Rawls zu begründen versucht, ist weder ein Metaprinzip des rationalen Diskurses in Habermas’ Sinn, noch eine spezifische moralische Norm, die der Inhalt eines möglichen rationalen Konsenses (in Habermas’ Sinn) sein könnte. Es ist eher ein Metaprinzip der Gerechtigkeit für Individuen, die eine maxi­ male Sphäre negativer Freiheit für sich wollen und bereit sind, dieselbe Sphäre negativer Freiheit allen anderen zu gewähren. Diese Individuen sind »abstrakte« Individuen und ihre Freiheit insoweit eine »abstrakte« Freiheit.

36 »Mein Vorschlag ist der, die wichtigsten Parallelen zwischen dem Ur­ zustand und dem Blickwinkel hcrauszustellen, unter dem das intelligible Ich die Welt sieht.« J. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, a.a.O., S. 288. 45

Es ist nun interessant zu sehen, daß Rawls einer Prozedur zu folgen versucht, die in einem gewissen Sinn derjenigen analog ist, die Hegel gewählt hat. Rawls versucht nämlich zu zeigen, daß seine »dünne« Konzeption von Gerechtigkeit, wenn man alle ihre Implikationen bezüglich einer möglichen Institutionalisierung durchdenkt, zu einer universalistischen Konzeption kommunaler Freiheit im Sinne dessen führt, was ich eine demokratische Form von Sittlichkeit genannt habe. Natürlich unterscheidet sich Rawls’ Prozedur deutlich von derjenigen Hegels, soweit es um den spe­ ziellen Übergang vom »abstrakten Recht« zur »konkreten Sitt­ lichkeit« geht; wobei der wichtigste Unterschied der ist, daß für Rawls das erste Gercchtigkeitsprinzip, d. h. das Prinzip gleicher Freiheit, direkt zu einem Prinzip gleicher politischer Partizipa­ tionsrechte führt.37 ich will hier nicht die Details der Rawlsschen Konstruktion verteidigen; was ich an ihr aber bemerkens­ wert finde, ist, daß einer solchen Konstruktion keine Grenzen bezüglich der möglichen begrifflichen und anthropologischen »Auffüllung« der »abstrakten« Gerechtigkeitskonzeption gezo­ gen sind, die den Ausgangspunkt bildet; man könnte sogar einen Begriff kommunikativer Rationalität in sie einschreiben. Folglich ist es kein Problem, mit Rawls zu einer kommunalen Konzeption von Freiheit zurückzukommen-, hierbei ist jedoch von Anfang an garantiert, daß diese Konzeption kommunaler Freiheit eine für die moderne Welt sein wird - denn die Konstruktion beginnt, Kantisch, im Zentrum des modernen Bewußtseins, d. h. mit einer universalistischen Konzeption von Recht und Moral. Deshalb wird dieser Konstruktion von Anfang an eine Art Dualismus von bürgerlicher Gesellschaft und Staat innewohnen, eine Art Dualis­ mus mit normativem Gehalt. Diesen normativen Dualismus könnte man auch als den gemeinsamen Wahrheitsgehalt der poli­ tischen Philosophien von Hegel, Mill und Tocqueville sehen. Im Gegensatz dazu enthält eine Konzeption kommunaler Freiheit, die ausschließlich auf einer Konzeption kommunikativer Rationa­ lität aufruht, keinen solchen normativen Dualismus, und zwar deshalb, weil ihr kein Prinzip negativer Freiheit einbeschrieben ist. Dies ist natürlich auch der Grund, weshalb die »atomistischen« Aspekte der bürgerlichen Gesellschaft in Habermas’ Theorie nur aus der Perspektive einer notwendigen »Reduktion

37 A.a.O., S. 251. 46

von Komplexität« gerechtfertigt werden können, d. h. in Begrif­ fen eines »Stcucrungsproblcms« moderner Gesellschaften. Man könnte jedoch argumentieren, daß vom Standpunkt eines Prinzips negativer Freiheit nicht die Reduktion, sondern die Erzeugung von Komplexität der versöhnende Zug jenes Aspekts von »Ent­ zweiung« ist, der für die moderne bürgerliche Gesellschaft konsti­ tutiv ist. Meine Vorbehalte bezüglich der Möglichkeit der Begründung ei­ nes modernen Freiheitsbegriffs ausschließlich auf der Grundlage eines prozeduralen Begriffs »kommunikativer« oder »diskursi­ ver« Rationalität sollten nicht mißverstanden werden. Ich glaube nämlich, daß Habermas recht hat, wenn er einen solchen Rationa­ litätsbegriff als den normativen Kern jeder möglichen nachmctaphysischcn Vernunftidee denkt. In einem wichtigen Sinn begreift diese Rationalitätskonzeption die grundlegenden normativen Strukturen des modernen Bewußtseins in sich. Ich habe lediglich argumentiert, daß sic allein nicht ausreicht, um den vollen norma­ tiven Gehalt eines modernen Freiheitsbegriffs zu erklären. Ein universalistisches Prinzip gleicher Menschenrechte ist ein mora­ lisches Prinzip, das - wie man mit Rawls und Habermas argumen- • tieren könnte - der einzig mögliche Inhalt eines universalen rationalen Konsenses über Menschenrechte ist. Weil jedoch die Kategorie »abstrakter« oder »negativer« Freiheit - und somit ein wichtiger Aspekt dessen, was wir mit Menschenrechten meinen — nicht Teil eines Rationalitätsprinzips sein kann, scheint es, daß ein Prinzip der Menschenrechte nicht direkt in einem Prinzip der Ra­ tionalität impliziert sein kann: Ein Prinzip der Menschenrechte ist ein substantielles moralisches Prinzip, dessen Rechtfertigung sich von der Rechtfertigung des Rationalitätsprinzips unterscheiden muß. Zugleich aber ist ein Prinzip der Rechte nicht eine jener spezifischen Normen, die in einem rationalen demokratischen Konsens gerechtfertigt werden könnten: Als ein Meraprinzip der Rechte kommt es eher einem Metaprinzip der Moral nahe und definiert deshalb eine einschränkende Bedingung dessen, was der legitime Inhalt eines demokratischen Konsenses sein könnte.38

38 Daß diese einschränkende Bedingung zugleich eine »ermöglichende« Bedingung des demokratischen Diskurses ist, habe ich hervorgehoben. Wenn Habermas demgegenüber heute sagt, daß eine »ermöglichende« Bedingung keine »einschränkende« Bedingung sein könne (vgl. J. Ha­ bermas, a.a.O., S. 162), so verstehe ich den Sinn dieses Arguments

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Genau in diesem Sinne definiert ein Prinzip der Menschenrechte eine Bedingung der möglichen moralischen Legitimität eines de­ mokratischen Konsenses. Das, so scheint mir, ist der Wahrheits­ kern der Tradition der modernen Naturrechtstheorien von Hobbes bis Rawls. Dieser Wahrheitskern der naturrechtlichen Tradition muß in der Tat durch einen Begriff »kommunikativer« und »diskursiver« Rationalität ergänzt werden, wenn er zum »abstrakten« Kern einer modernen Konzeption »positiver«, kom­ munaler Freiheit werden soll, d.h. einer universalistischen Kon­ zeption demokratischer Sittlichkeit. Das Prinzip gleicher Frei­ heitsrechte und das Prinzip kommunikativer Rationalität sind aufeinander angewiesen, aber sie »implizieren« einander in kei­ nem transparenten Sinn. Genau deshalb koinzidieren Freiheit und Vernunft in der modernen Welt nicht - selbst wenn der Anspruch auf Freiheit ein vernünftiger Anspruch ist und wenn das Telos negativer Freiheit eine vernünftige, öffentliche Freiheit ist.

VI.

Auch wenn Freiheit und Vernunft in der modernen Welt nicht koinzidieren, so gibt es doch - dies habe ich auch bisher schon vorausgesetzt - einen internen Zusammenhang zwischen Haber­ mas’ Begriffen kommunikativer und diskursiver Rationalität auf der einen Seite und der Idee kommunaler Freiheit auf der anderen. Der Zusammenhang scheint offensichtlich: die Idee demokrati­ scher Selbstbestimmung verlangt einen öffentlichen Raum zwang­ loser Kommunikation und Diskussion ebenso wie institutionelle Formen diskursiver Willensbildung. Individuelle Freiheitsrechte werden hier in Rechte der politischen Partizipation »übersetzt«, negative Freiheit wird in kollektive Selbstbestimmung »aufgeho­ ben«. Gerade deshalb könnte man versucht sein zu argumentie­ ren, daß kommunale Freiheit einfach diskursive Rationalität ist, die eine Form von »Sittlichkeit« geworden ist, um noch einmal Hegels Begriff zu benutzen. Die Plausibilität einer solchen Argu­ mentation hängt damit zusammen, daß eine prozedurale Konzcpnicht: Ein demokratischer Diskurs, der diese (ermöglichende) Bedin­ gung verletzen würde, wäre kein genuiner demokratischer Diskurs mehr; insofern wird die »Souveränität des Gesetzgebers« sehr wohl durch ihre ermöglichenden Bedingungen auch eingeschränkt.



tion von Rationalität in Habermas’ Sinn einen posttraditionalcn Typus von ethischer Übereinstimmung - nämlich eine Überein­ stimmung über die A/efanormcn rationaler Argumentation - und incins damit ein Verfahren - und zwar das einzig mögliche Verfah­ ren - zur Wiederherstellung ethischer Übereinstimmung zwi­ schen freien und gleichen Individuen zu definieren scheint, wenn einmal die traditionalcn ethischen Bindekräfte der Gesellschaft sich zersetzt haben. Durch das Verfahren der Argumentation würde Freiheit mit Solidarität und Rationalität verknüpft; eine prozedurale Konzeption von Rationalität würde deshalb - so könnte das Argument lauten — den normativen Kern einer posttraditionalen Form von kommunaler Freiheit definieren. Ich habe jedoch zuvor argumentiert, daß kein universalistisches Prinzip »negativer« Freiheit wirklich - in einem transparenten Sinn - in einer prozeduralen Konzeption von Rationalität »impli­ ziert« ist. Das heißt eben, daß Freiheit und Vernunft in der Moderne nicht koinzidieren. Wenn das aber stimmt, kann ein pro­ zeduraler Rationalitätsbegriff auch nicht ausreichend sein, um eine postkonventionellc Idee von Solidarität (»Brüderlichkeit«) zu begründen. Eine postkonventionell verstandene Solidarität erfor- * dert, daß wir einen Raum negativer Freiheit für alle anderen wollen: einen Raum negativer Freiheit, der die Voraussetzung da­ für ist, daß wir das eigene Leben bestimmen und für die eigenen Entscheidungen die Verantwortung übernehmen können, und der gleichzeitig die Freiheit einschließt, »nein« zu sagen und entspre­ chend zu handeln. Nur auf der Grundlage einer solchen Freiheit sind symmetrische Formen wechselseitiger Anerkennung, sind freiwillige Übereinkünfte und ist ein rationaler Konsens unter Gleichen denkbar. Nur wenn eine prozedurale Konzeption von Rationalität schon die Antizipation oder »Projektion« einer Le­ bensform implizieren würde, die sich als Verkörperung kommuni­ kativer und diskursiver Rationalität in einem idealen Sinne verste­ hen ließe (im Sinne einer »idealen Kommunikationsgemein­ schaft«), könnten wir eine Konzeption kommunaler Freiheit allein auf eine Idee von Rationalität gründen. Ich glaube jedoch - und habe an anderer Stelle zu zeigen versucht39 -, daß eine solche

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39 A. Wellmer: Ethik und Dialog. Elemente des moralischen Urteils bei Kant und in der Diskursethik, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986, Abschnitte vn und vin. 49

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Idealisierung keinen Sinn macht. Was ich sagen will, ist nicht, daß die Idee der Rationalität eine transzendentale Illusion enthält- wie z. B. Derrida argumentieren würde-, d. h. daß sie auf Idealisierun­ gen basiert, die so unvermeidlich wie illusionär sind. Ich will viel­ mehr sagen, daß jene Idealisierungen mit den ihnen immanenten begrifflichen Inkohärenzen nicht wirklich im Begriff der Rationalität impliziert sind. Auchi aus diesem Grund kann die Idee kommunaler Freiheit, selbst wenn sie der rationalen Argumentation einen privilegierten Platz mit Bezug auf die Wiederherstellung und Erhaltung ethischer Konsense einräumen wird, nicht auf eine prozedurale Konzeption von Rationalität reduziert werden. Kommunale Freiheit ist eine Freiheit, die - durch die Institutio­ nen und Praktiken einer Gesellschaft, durch das Selbstverständ­ nis, das Interesse und die Gewohnheiten der Bürger — ein gemeinsames Ziel geworden ist. Negative Freiheit verändert ihren Charakter, wenn sie eine gemeinsame Angelegenheit wird. Denn dann wollen wir nicht nur unsere je eigene Freiheit, sondern ein Maximum an Selbstbestimmung für alle. Einen solchen gemeinsa­ men - und gemeinsam anerkannten - Raum der Selbstbestim­ mung kann es jedoch nur geben, wenn es einen institutionalisier­ ten Raum öffentlicher Freiheit gibt, in dem wir im Medium öffentlicher Diskussion und demokratischer Praxis unsere Rechte der Selbstbestimmung als politische Rechte wahrnehmen. Wäh­ rend negative Freiheit durch die Institutionen und Praktiken kollektiver Selbstbestimmung in kommunale Freiheit transfor­ miert wird, ist solche kommunale Freiheit, wo sie existiert, not­ wendig selbstreflexiv: sie wird zu ihrem eigenen Zweck. Dies galt in einem bestimmten Sinn schon für die griechische Polis, zumin­ dest wenn wir jenen Philosophen von Hegel bis zu Hannah Arendt glauben, für die die griechische Polis das erste große Para­ digma politischer Freiheit war. Die Institutionen, Praktiken und Gewohnheiten kommunaler Freiheit werden sich selbst zum Zweck, wo sie für die Sclbstinterpretation, die Identität und die praktischen Orientierungen der Individuen konstitutiv geworden sind; denn wo dies geschieht, wird der Inhalt demokratischer Wil­ lensbildung nicht länger nur durch jene vorpolitischen Angele­ genheiten, Interessen und Konflikte bestimmt, die von außen in die politische Sphäre hineingetragen werden (mit dem Ziel einer gerechten oder pragmatisch sinnvollen Regelung); vielmehr wird die kommunale Freiheit selbst zum Inhalt der Politik - nicht nur



im revolutionären Akt der constitutio libertatis, der für Arendt immer das Paradigma politischen Handelns darstellte, sondern auch in jener politischen Praxis, bei der es um die Sicherung, die Neuinterpretation, die Verteidigung, Veränderung und Erweite­ rung des Raums öffentlicher Freiheit geht. Die constitutio liberta­ tis ist eine unabschließbare Aufgabe des politischen Handelns unter Bedingungen öffentlicher Freiheit; das ist das Wahrheitsmo­ ment in Arendts ansonsten paradoxer Überzeugung, daß die Sphäre politischen Handelns sich selbst zum Inhalt habe.40 Was die Selbstreflcxivität kommunaler Freiheit, wie wir sie schon der griechischen Polis zuschreiben können, von der Selbstreflexi­ vität jeder modernen Form kommunaler Freiheit unterscheidet, ist nicht nur, daß letztere auf der (universalistischen) Anerken­ nung eines »Rechts der Besonderheit« basieren muß, sondern auch, daß sie noch in einem anderen Sinn sclbstreflexiv ist; näm­ lich im Sinne des Wissens darum, daß weder bestimmte normative Gehalte noch die Interpretationen, auf denen sie basieren, gegen­ über der Möglichkeit rationaler Kritik immun sind. In einem bestimmten Sinn - und das ist der Wahrheitsgehalt von Habermas’ Interpretation kommunaler Freiheit - ist jeder besondere norma­ tive Gehalt, jede spezifische institutionelle Regelung und jeder bestimmte Zusammenhang von Interpretationen im Prinzip an­ fechtbar und für Revisionen offen. Deshalb definiert eine proze­ durale Konzeption von Rationalität in der Tat eine wichtige strukturelle Bedingung jeder modernen Form kommunaler Frei­ heit. Daß sie nur eine Bedingung definiert und uns noch keinen zureichenden Begriff kommunaler Freiheit an die Hand gibt, könnte man nun auch so ausdrücken: ein prozeduraler Begriff von Rationalität kann uns zwar sagen, was vernünftige Freiheit wäre, aber nicht, was vernünftige Freiheit wäre.

40 Vgl. beispielsweise H. Arendt: Über die Revolution, München/Zürich: Piper 1963. Tatsächlich hat Arendt nicht wirklich (immer) die extreme Position vertreten, die ich ihr hier zuschreibe. Vgl. z. B. ihre interessan­ ten Antworten auf eine Reihe von Fragen zu diesem Thema, die ihr 1972 während einer Konferenz über ihr Werk in Toronto gestellt wur­ den. (In: M. A. Hill (Hg.): Hannah Arendt: The Rccoveryof the Public World, New York: St. Martin’s 1979, S. 315 ff.) Arendt bestimmt hier jene gemeinsamen Angelegenheiten als »politische«, für die es keine klar definierten technischen Lösungen gibt und die deshalb ein ange­ messenes Thema für öffentliche Debatten sind (S. 317). 51

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2. Bedingungen einer demokratischen Kultur Zur Debatte zwischen »Liberalen« und »Kommunitaristen«

I.

Das Thema unseres Kongresses - »Gemeinschaft und Gerechtig­ keit« - eröffnet eine Vielfalt von Assoziationen an die Geschichte der modernen politischen Philosophie und Soziologie seit der amerikanischen und französischen Revolution. In erster Linie aber verstehe ich das Thema des Kongresses als eine etwas irrefüh­ rende deutsche Überschrift über die jüngste und noch andau­ ernde, weitgehend nordamerikanischc Debatte zwischen soge­ nannten Liberalen und sogenannten Kommunitaristen. Zwar reichen die Wurzeln dieser Debatte tief zurück in die Geschichte der modernen politischen Philosophie, aber die Debatte selbst hat zugleich die Parameter der Diskussion über die politische Legiti­ mität der Moderne in produktiver Weise verschoben: sie hat gleichsam eine Problematik, die so alt ist wie die moderne bürger­ liche Gesellschaft, eine Problematik, die schon Rousseau, die Frühromantiker, Hegel, Marx und Tocqueville beunruhigte, auf den neuesten Stand gebracht. Im folgenden möchte ich an diese Debatte anknüpfen, und zwar zunächst an einen Aspekt der Debatte, der eine Thematik betrifft, die noch älter ist als die Revolutionen des 18. Jahrhunderts - sie reicht zurück bis zur Zeit der europäischen Religionskriege und zum Beginn des modernen Naturrechts. Einen Anlaß dafür, ge­ rade mit diesem Aspekt der Debatte zu beginnen, sehe ich in den jüngsten Ausbrüchen des Nationalismus im Bereich des ehemali­ gen sozialistischen Staatensystems. Michael Walzer hat das heu­ tige Problem der nationalen, kulturellen oder ethnischen Identität mit dem der konfessionellen Identität zur Zeit der europäischen Religionskriege verglichen. Mit diesem Vergleich verbindet er die Hoffnung, daß der nationale, kulturelle und ethnische Pluralismus der modernen Welt dereinst in den Strukturen einer sich heraus­ bildenden Bürgergesellschaft friedlich aufgehoben werdet) könnte,

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ähnlich wie cs mit dem konfessionellen Pluralismus der bürger­ lichen Frühzeit in den modernen Staaten des Westens mehr oder weniger erfolgreich gelungen ist.1 Wenn man nun, wie Walzer dies tun möchte, die Strukturen einer egalitären Bürgergcscllschaft dem Partikularismus nationaler oder ethnischer Identitäten vorordnet, so erinnert dies an ein Grundmotiv des modernen Naturrechts, das in der kommunitaristischen Kritik am Liberalismus merkwürdig unterbelichtet geblieben ist. Gegenstand der letzteren Kritik ist vor allem der »atomistischc« Individualismus der liberalen Theo­ rie, und zwar als das ideologische Spiegelbild der Pathologien und Anomien der liberalen Gesellschaft. Walzers Erinnerung an die europäischen Religionskriege hebt nun einen Aspekt der liberalen Tradition hervor, der sich als Ausgangspunkt einer liberalen Me­ takritik am Kommunitarismus anbietet, und zwar weil der Indivi­ dualismus der liberalen Tradition hier nicht als Ausdruck eines anthropologischen Atomismus, sondern als Ausdruck eines spe­ zifisch modernen Reflexions- und Emanzipationsschubes er­ scheint. Das liberale Selbst, so hat Walzer es ausgedrückt, ist ein post-soziales, kein z>or-soziales Selbst:2 das scheinbar »ontologi­ sche« Problem daher, in Charles Taylors Worten, in Wirklichkeit ein »advokatorischcs«.3 In Walzers Hinweis auf die Religionskriege ist ersichtlich bereits eine Stellungnahme in der Debatte zwischen Liberalen und Kommunitaristen vorgezeichnet. Walzer bestreitet nicht das Recht der kommunitaristischen Kritik an der liberalen Gesellschaft, er ver­ sucht aber die möglichen kommunitären Gegenkräfte zu den Pathologien und Anomien der liberalen Gesellschaft an anderer Stelle zu verorten als die Kommunitaristen, nämlich im Innern der liberalen Tradition selbst. Diese Strategie finde ich einleuch­ tend; im folgenden möchte ich sie verteidigen und explizieren.

1 Vgl. Michael Walzer, »The Idea of Civil Society*, in: Dissent, Frühjahr 1991, S. 300. 2 Michael Walzer, »The Communitarian Critique of Libcralism*, in: Po­ litical Theory, Bd. 18, Nr. 1, Februar 1990, S. 21. 3 Zur Unterscheidung zwischen dem »ontologischen« und dem »advokatorischen« Aspekt der Debatte zwischen Liberalen und Kommunitaristen s. Charles Taylor, »Cross-Purposes: The Liberal-Communitarian Debate«, in: Nancy Rosenblum (Hg.), Liberalism and the Moral Life, Cambridge, Mass./London 1989, S. 159 ff. 55

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Und zwar möchte ich dies in zwei Schritten tun: im ersten Schritt wähle ich als Bezugspunkt-wie die Kommunitaristen es explizit und die Liberalen in der Regel zumindest implizit tun - partiku­ lare Gesellschaften mit klar definierten Zugehörigkcitskritierien; dies bedeutet, wenn wir uns zunächst auf moderne westliche Ge­ sellschaften beschränken, daß zugehörig diejenigen Menschen sind, die Bürgerrechte haben - was auch immer die Kriterien sein mögen, nach denen solche Bürgerrechte zuerkannt werden. Aus der Wahl eines solchen Bezugspunktes folgt, daß Bürger- und Menschenrechte klar unterschieden werden müssen. Der »Volks­ souverän« solcher Gesellschaften ist der Inbegriff aller Menschen mit Bürgerrechten; was die übrigen Menschen betrifft, so werden sie stillschweigend als Glieder eines anderen »Volkssouveräns« betrachtet, und, zumindest theoretisch, mehr oder weniger ver­ nachlässigt. Mit anderen Worten: die Gesellschaften, die ich im ersten Schritt meiner Überlegungen als Bezugspunkt wähle, sind politisch-moralisch in sich abgeschlossen und nach außen hin klar abgegrenzt. Natürlich handelt es sich hier um eine politisch-mo­ ralische Fiktion. Im zweiten Schritt meiner Überlegungen werde ich erläutern, welche Konsequenzen sich aus der Auflösung dieser Fiktion für eine angemessene Deutung der im ersten Schritt ge­ wonnenen Resultate ergeben.

II.

»Der Diskurs der Moderne«, so hat Habermas es formuliert4, »hatte seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts unter immer wieder neuen Titeln ein einziges Thema: das Erlahmen der sozialen Bin­ dungskräfte, Privatisierung und Entzweiung; kurz: jene Defor­ mationen einer einseitig rationalisierten Alltagspraxis, die das Bedürfnis nach einem Äquivalent für die vereinigende Macht der Religion hervorrufen.« Dieses Zitat erlaubt uns, den »Ort« der liberalen und kommunitaristischen Positionen im philosophi­ schen Diskurs der Moderne zumindest in grober Weise zu bestim­ men: Als kommnnitaristisch können wir Positionen bezeichnen, die auf der Annahme basieren, daß eine bloß auf die Garantie

4 Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt 1985, S. 166. 56

individueller - liberaler, sozialer und demokratischer - Grund­ rechte fixierte Gesellschaft kein Äquivalent für die »vereinigende Macht der Religion« hervorbringen kann; hierfür wäre vielmehr eine ebenso verpflichtende wie identitätsstiftende gemeinsame Konzeption des Guten vonnöten, ein kollektiv verbindlicher und verbindender Wert- und Verständnishorizont, der allen individu­ ellen Rechten normativ vorgeordnet wäre und gleichsam erst deren Grenzen und deren legitimen Anspruch bestimmen könnte. Als liberal können wir demgegenüber Positionen bezeichnen, die auf der Annahme basieren, daß erstens die liberalen und demokra­ tischen Grundrechte intern mit einer — zumindest potentiell solidaritätsstiftenden Konzeption eines gemeinsamen Guten ver­ knüpft sind, und daß zweitens in modernen Gesellschaften keine darüber hinausgehende Konzeption des Guten zu einer für alle Gesellschaftsmitglieder verpflichtenden Grundlage der gesell­ schaftlichen »Vereinigung« gemacht werden darf. Nun operieren ja Liberale und Kommunitaristen auf dem Boden derselben Gesellschaften, nämlich der liberalen und demokrati­ schen Gesellschaften Nordamerikas (und zunehmend auch: West­ europas). Ihr Dissens ist daher weitgehend ein Dissens innerhalb gemeinsamer Wertorientierungen. Etwas vergröbernd könnte man sagen, daß Liberale und Kommunitaristen jeweils verschie­ dene Aspekte derselben Tradition in den Vordergrund stellen: Liberale betonen die Unhintergehbarkeit liberaler Grund- und Freiheitsrechte, während die Kommunitaristen eher an den bür­ gerlichen Republikanismus der amerikanischen Frühzeit anknüp­ fen, also an die Tradition demokratischer Selbstregierung in überschaubaren »communities« — d.h. Kommunen und Assozia­ tionen. Der Grunddissens ließe sich dann auch so beschreiben: Liberale insistieren darauf, daß liberale und demokratische Grund- und Freiheitsrechte allen Formen kommunaler oder kol­ lektiver Selbstbestimmung wie auch allen besonderen kulturellen, ethnischen oder religiösen Traditionen und Identitäten vor­ zuordnen sind; Kommunitaristen argumentieren, daß nur im Kontext kommunitärer Lebensformen - etwa der des »civic republicanism«5 — liberale Grundrechte einen nicht-destruktiven

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$ Zur Debatte um den »civic republicanism« (auch »classical republicanism« oder »civic humanism«) vgl. exemplarisch Charles Taylor, a.a.O., insbes. S. 177 ff.; ders., Philosophical Papers 2, Cambridge 198$, S. 334 f.; Roben N.Bellah u. a., The Good Society, insbes. Kap. 4: »Go-

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Sinn erhalten und daher legitim sein können. Für die Liberalen, mit anderen Worten, bilden individuelle Freiheitsrechte den nor­ mativen Kern der modernen liberalen und demokratischen Tradi­ tion, während Kommunitaristen eher jene vergessenen Bedingun­ gen oder Voraussetzungen ans Licht heben möchten, unter denen allein liberale Freiheitsrechte zu einem produktiven Moment in­ nerhalb kommunitärer Lebensformen werden können. Und noch einmal ganz grob gesagt: Im Zweifelsfall werden die Liberalen auf dem Schutz individueller Grundrechte bestehen; im Zweifelsfall werden die Kommunitaristen der Integrität kommunitärer Le­ bensformen oder auch einem Recht auf kollektive Selbstbestim­ mung den Vorrang geben. Wenn man den Dissens so zuspitzt, und wenn man sich nur für einen Moment die Komplexität der poli­ tisch-moralischen Probleme vor Augen führt, die sich allein schon im Zusammenhang mit den heutigen nationalen und ethnischen Konflikten auf der nördlichen Halbkugel stellen, dann wird sofort klar, daß in einem praktischen Sinne der Dissens zur Zeit als kaum auflösbar erscheinen muß. Eher ist zu vermuten, daß der Wider­ spruch zwischen den Desideraten nationaler, ethnischer oder kultureller Selbstbehauptung auf der einen Seite, und der Forde­ rung nach individuellen Grundrechten auf der anderen, zur Zeit gelegentlich Züge eines tragischen, d.h. nicht ohne moralische Verletzungen auflösbaren Konflikts hat.6 Dies schicke ich vorweg, um fürs Folgende den wirklichen Stachel des kommunitaristischen Arguments präsent zu halten. Zunächst möchte ich aber, wie schon angekündigt, auf die Debatte als eine interne Debatte liberaler Gesellschaften eingehen. Und zwar

vernment, Law, and Politics«; John Rawls, »The Priority of Right and Idcas of the Good«, in: Philosophy and Public Affairs, 17, 1988, insbes. S. 272 f.; Michael Walzer, »The Idea of Civil Society«, a.a.O., insbes. S. 294 f. und S. 303 f. 6 Ich sage: gelegentlich; denn was die gegenwärtigen Ausbrüche nationa­ listischer oder rassistischer Barbarei in Europa, etwa auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien oder auch in deutschen Ausländerpogromen, betrifft, so kann von tragischen Konflikten kaum die Rede sein. In jenen Ausbrüchen spielt ein legitimierendes Motiv kultureller Selbstbehaup­ tung keine Rolle mehr (oder allenfalls bei den Opfern). Eine Politik der ethnischen Säuberung hat nichts mit der Verteidigung kommunitärer Lebensformen zu tun; sie ist bestenfalls ein Symptom, schlimmstenfalls ein Instrument ihrer Zerstörung.

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I werde ich, zum Teil in Anknüpfung an Walzers überzeugendes Resümee der Debatte,7 zu zeigen versuchen, wie - und wie weit — das kommunitaristische Motiv in eine liberale Theorie integriert werden kann. Ich hoffe, daß hierbei auch die Konturen der De­ batte, zumindest was die wesentlichen Streitpunkte betrifft, noch schärfer hervortreten werden als bisher. Ich hatte bereits auf einen Streitpunkt hingewicscn, der in einer älteren Phase der Debatte eine wichtige Rolle spielte, insbeson­ dere im Zusammenhang der kommunitaristischcn Kritik an John Rawls; der Streitpunkt betraf den sozialen Charakter des indivi­ duellen Selbst. Nun bin ich zwar mit Charles Taylor der Meinung, daß der kommunitaristische Hinweis auf den sozialen Charakter des individuellen Selbst nicht folgenlos bleiben kann für das Ver­ ständnis der liberalen Grund- und Freiheitsrechte - der »ontolo­ gische« Aspekt des Problems ist nicht unabhängig von seinem »advokatorischen«;8 gleichwohl meine ich, daß Walzers Auflö­ sung der Kontroverse zunächst einmal in die richtige Richtung weist. Das liberale Selbst, so sagte er, sei ein post-soziales, kein •uor-soziales Selbst; postsozial aber ist das liberale Selbst natürlich nicht im Sinne einer Unabhängigkeit von sozial geprägten Identi­ täten, Lebensformen und Traditionen, sondern im Sinne einer reflexiven Distanz zu allen partikularen Identitäten, Lebensfor­ men und Traditionen. Konstitutiv für diese reflexive Distanz ist freilich eine Tradition zweiter Ordnung, eben jene Tradition mo­ derner westlicher Gesellschaften, deren normative Substanz die liberalen Theoretiker zu reformulieren versuchen. Liberale und demokratische Grundrechte bilden den Kern dieser Tradition. Walzer zeigt nun, daß die kommunitaristische Kritik der liberalen Gesellschaft kohärent nur auf dem Wege einer kritischen An­ knüpfung an die liberale Tradition formuliert werden kann. Der richtig verstandene Kommunitarismus wäre der richtig verstan­ dene Liberalismus; denn

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»the language of individual rights - voluntary association, pluralism, toleration, Separation, privacy, free speech, the carecr open to talents, and so on- is simply inescapable. Who among us seriously attempts to escape? If

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7 Michael Walzer, »The Communitarian Critique of Liberalism«, a.a.O.; vgl. auch ders., »The Idea of Civii Society«, a.a.O. 8 Vgl. Charles Taylor, »Cross-Purposes: The Libcral-Communitarian Debate«, a.a.O., S. 161, 181.

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we rcally arc situated selvcs, as the second communitarian critique holds, then our Situation is largely captived by that vocabulary.«’ Walzers Argument hat eine doppelte Pointe: Auf der einen Seite weist er die Kommunitaristen darauf hin, daß in »unserer« - das heißt hier: in der amerikanischen - politischen Tradition die Spra­ che der Grundrechte eine zentrale Rolle spielt; deshalb macht zumindest hier die polemische Gegenüberstellung von situierten Individuen und abstrakt-individualistischen Grundrechten keinen Sinn. Auf der andern Seite möchte Walzer darauf hinweisen, daß kommunitärc im Sinne von demokratisch-partizipatorischen Praktiken ein wesentlicher Teil eben dieser selben Tradition sind. Walzers zentrales Argument wird daher sein, daß liberale und de­ mokratische Grundwerte wechselseitig aufeinander verweisen und das Recht der kommunitaristischen Kritik der liberalen Ge­ sellschaft vor allem darin liegt, daß sie den internen Zusammen­ hang zwischen liberalen Grundrechten und demokratischer Parti­ zipation einklagt. In die liberale Tradition selbst ist ein kommunitäres Korrektiv eingebaut; und zwar derart, daß die li­ beralen Grundwerte auf eine extensive demokratische Partizipa­ tion angewiesen sind, d. h. auf eine Form demokratischer Sittlich­ keit - wie ich es in vielleicht paradoxer Anknüpfung an Hegel nennen möchte. Aber so wie die liberalen Grundwerte auf demo­ kratische Partizipation angewiesen sind, so ist umgekehrt die moderne Demokratie auf liberale Grundrechte angewiesen. De­ mokratie ist ein zugleich liberales und kommunitäres Projekt; die moderne Idee der Demokratie bezeichnet eine Form kommunitärer Praxis, die sich gewissermaßen auf gleicher Augenhöhe befin­ det mit den liberalen Grundwerten: beide setzen in gleichem Maße den geschichtlichen Bruch mit substantiell fixierten Formen des Gemeinschaftslebens voraus. Und nur im Medium demokra­ tischer Partizipation lassen sich jene kommunikativen Bande zwi­ schen den Individuen zwanglos wiederhcrstellen und erneuern, die in einer Gesellschaft, wo »alles Stehende und Ständische ver­ dampft«, zu zerreißen drohen. Freilich lassen sich im Medium demokratischer Partizipation und einer nicht-blockierten öffent­ lichen Kommunikation keine substantiellen Gemeinsamkeiten mehr auf Dauer stellen. In einer liberalen und demokratischen 9 Michael Walzer, »The Communitarian Critique of Liberalism«, a.a.O., S. 14. 6o

:i Gesellschaft ist keine Idee des guten Lebens, sind keine substan­ tiellen Wertorientierungen oder kulturellen Identitäten vor Kritik und Revision sicher, nicht einmal die Interpretationen jenes libe­ ralen und demokratischen Konsenses, der die einzig mögliche Grundlage einer modernen Form demokratischer Sittlichkeit ist. In diesem Sinn ist die moderne Demokratie wesentlich transgressiv und ohne festen Boden. An dieser Stelle könnte der Verdacht eines schlechten Zirkels ent­ stehen: ich habe ja angedeutet, daß der demokratische Diskurs in liberalen Grundrechten verankert sein muß und daß zugleich nur im Medium des demokratischen Diskurses die Deutung und Insti­ tutionalisierung der Grundrechte fortgeschrieben werden kann. Indes glaube ich, daß es sich hier um einen unvermeidlichen praktischen und nicht um einen schlechten theoretischen Zirkel handelt. Dies möchte ich erläutern durch eine Gegenüberstellung und wechselseitige Relativierung von Rawls’ und Habermas’ Be­ gründungsstrategien.10 Für Rawls sind liberale Grundrechte, für

io Vgl. John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt 1975; Jür­ gen Habermas, »Ist der Herzschlag der Revolution zum Stillstand gekommen? Volkssouveränität als Verfahren. Ein normativer Begriff der Öffentlichkeit?«, in: Forum für Philosophie Bad Homburg (Hg.), Die Ideen von 1789, Frankfurt 1989. Meine Einwände gegen Haber­ mas haben sich durch seine neuen Überlegungen in seinem (nach der Abfassung dieses Artikels erschienenen) Buch Faktizität und Geltung, Frankfurt 1992, Kap. 111 (»Zur Rekonstruktion des Rechts: Das Sy­ stem der Rechte«), zum Teil erledigt, und zwar insofern Habermas jetzt die liberalen Grundrechte gleichsam in das Demokratieprinzip cinbaut (vgl. a.a.O., S. 154-157). Allerdings ändert sich hierdurch nichts an dem hier behaupteten praktischen Zirkel. Mein Einwand ge­ gen Habermas würde sich jetzt verschieben auf seine Ableitung der liberalen Grundrechte aus einer Anwendung des Diskursprinzips auf die Rechtsform. Im Diskursprinzip selbst steckt nämlich nach wie vor die problematische Prämisse, daß nur eine egalitäre Distribution von Grundrechten (konsens-) rational sein könne. Dies gilt sicherlich un­ ter Voraussetzungen einer liberalen Kultur; ich sehe aber keinen Grund dafür zu behaupten, daß es in irgendeinem prägnanten - und sei es formalpragmatischen - Sinne a priori gilt. Die hier implizit vertre­ tene Auffassung, daß es für die egalitären Grundrechtsprinzipicn moderner Demokratien gute Gründe gibt, ist daher keineswegs gleich­ bedeutend mit einer These der Art, daß sich solche guten Gründe schon aus der bloßen Anwendung eines formalen Diskursprinzips auf die Rechtsform ergeben könnten.

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Habermas demokratische Kommunikations- und Tcilhabcrcchte fundamental. Rawls sieht in den demokratischen Partizipations­ rechten einen besonderen Ausdruck der liberalen Grundrechte, die als letzter Maßstab jeder Form demokratischer Partizipation vorgeordnet bleiben; Habermas sieht demgegenüber in der gleich­ berechtigten Teilnahme aller am demokratischen Diskurs das fundamentale Legitimitäts- oder »Gerechtigkeits«-Prinzip mo­ derner Gesellschaften, das allen besonderen Ausformulierungen liberaler Grundrechte vorgeordnet bleibt.11 Erst im Medium des demokratischen Diskurses kann somit nach Habermas entschie­ den werden, was - über die gleichen Kommunikations- und Teilhaberechte hinaus - jeweils als liberales Grundrecht gelten soll. In einer subtileren Form werden hier noch einmal die Diffe­ renzen zwischen Locke und Rousseau ausgetragen; und in gewis­ sem Sinne bezeichnet die Differenz zwischen Rawls’ liberaler und Habermas’ demokratischer Theorie die interessanteste, weil fort­ geschrittenste Version des Streits zwischen Liberalen und Kommunitaristen. Nun glaube ich, daß Rawls und Habermas beide recht und unrecht haben: Rawls hat insoweit recht, als der demo­ kratische Diskurs nicht die Grundlage seiner eigenen Realität aus sich heraus erzeugen kann. Es gibt keinen prästabilierten Konsens aller vernünftigen Wesen; damit ein demokratischer Diskurs, der seinen Namen verdient, überhaupt in Gang kommen kann, müs­ sen liberale Grund- und Freiheitsrechte vorweg gewährleistet, d. h. zu einer sozialen und institutionellen Realität geworden sein. Diese Voraussetzung demokratischer Diskurse könnte man nur dann - theoretisch - vernachlässigen, wenn man von der - fal­ schen - Annahme ausginge, das demokratische Prinzip gleicher Kommunikations- und Teilhaberechte bezeichne so etwas wie den idealen Endpunkt eines vollkommen herrschaftsfreien Diskurses und hierin zugleich einen Bewertungsmaßstab für reale Gesell­ schaften. Wenn dies aber nicht so ist, dann kann, was »gleiche Kommunikations- und Teilhaberechte« jeweils bedeuten soll, nur im Kontext eines ganzen Systems von Rechten, Praktiken und Institutionen bestimmt werden. - Habermas hat aber auch recht gegen Rawls: Wenn jede Auslegung und jede Institutionalisierung von Grundrechten den Index einer geschichtlichen Situation, die Spuren vergangener Konflikte und eine bestimmte Interpretation 11 Vgl. Habermas, a.a.O., S. 16 ff. 62

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gesellschaftlicher Bedürfnisse und Möglichkeiten in sich enthält, dann kann der demokratische Diskurs auch vor seinen eigenen Grundlagen nicht haltmachcn. Es gibt ja keine Instanz außerhalb des demokratischen Diskurses - weder Philosophen noch Verfas­ sungsgerichte die hier unanfechtbare und der Kritik entzogene Entscheidungen treffen könnten. Also können nur im Medium des demokratischen Diskurses dessen eigene Grundlagen gesi­ chert und auf Dauer gestellt werden. Denken läßt sich dies nur dann, wenn man den demokratischen Diskurs nicht nur als ein Netzwerk von Institutionen und Assoziationen sicht, sondern zu­ gleich als ein Netzwerk von Öffentlichkeiten. Öffentlichkeit ist nämlich jenes Prinzip, durch welches zwei verschiedene und glei­ chermaßen wichtige Bedeutungen des Prinzips gleicher Kommu­ nikationsrechte in einen praktikablen Zusammenhang gebracht werden können. Nach der ersten Bedeutung geht es wirklich um Teilnahme- und RederecAte; für diese gilt, was ich oben über Grundrechte allgemein gesagt habe: sic werden immer nur im Kontext eines Systems von Rechten, Institutionen und Praktiken eine bestimmte, einklagbare Form haben können. Die zweite Be­ deutung des Prinzips ist eine unmittelbar moralische: hier geht es nämlich um das Recht eines jeden darauf, daß seine - oder ihre Stimme im demokratischen Diskurs angemessen zur Geltung kommt. Nur wenn die Stimme eines jeden - einer jeden - Betroffe­ nen im demokratischen Diskurs angemessen repräsentiert ist, kön­ nen demokratische Entscheidungen gerecht sein. Das Prinzip der Öffentlichkeit enthält nun eine Art Operationalisierung des Zu­ sammenhangs zwischen den beiden möglichen Bedeutungen des Prinzips gleicher Kommunikationsrechte, und zwar, wie mir scheint, die einzig mögliche, da das Prinzip in seiner zweiten Be­ deutung aus begrifflichen Gründen gar nicht institutionalisierbar ist. Freilich liegt auf der Hand, daß die beiden unterscheidbaren Bedeutungen des Prinzips zugleich begrifflich aufs engste mitein­ ander verknüpft sind. Denn daß die Stimme aller Betroffenen im demokratischen Diskurs zur Geltung kommen soll, heißt zugleich, daß die Betroffenen ihre Stimme, wo immer möglich, selbst und in eigener Entscheidung, d. h. in einem realen Diskurs sollen zur Gel­ tung bringen können. Genau hierin sind die dynamischen und transgressiven Potentiale der liberalen Demokratie begründet. Der transgressive Charakter der modernen Demokratie - der na­ türlich nicht unabhängig ist vom transgressiven Charakter der

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modernen Ökonomie, Wissenschaft und Kunst — ist somit be­ gründet in einer eigentümlich instabilen, auf kein letztes Funda­ ment zurückverweisenden Verknüpfung liberaler mit demokrati­ schen Prinzipien. In dieser Verknüpfung ist aber zugleich ein Spannnngsverhdltnis zwischen liberalen Grundrechten und de- 1 mokratischer Praxis angelegt. Im Schutz der liberalen Grund- r rechte konstituiert sich nämlich ein liberales Selbst, das transgressiv ist in einem für kommunitäre Lebensformen, auch solche demokratischer Art, potentiell bedrohlichen Sinne. Die liberalen 1 Freiheitsrechte sind, wie Walzer eindrücklich zeigt, zugleich > Rechte zur Trennung, zur Verweigerung, zum Rückzug, zum Neuanfang, zur Entzweiung.12 Als Individualrechte der Ent­ zweiung und der Transgression sind die liberalen Grundrechte einerseits die Bedingung der Möglichkeit einer posttraditionalen Form demokratischer Sittlichkeit, andererseits aber auch ein po­ tentieller Sprengsatz für kommunitäre Lebensformen. Sie sind die Grundlage für den transgressiven Charakter der modernen De­ mokratie und zugleich ein anti-kommunitäres Potential moderner Lebensformen. »Liberalism«, sagt Walzer, »is a self-subverting doctrine; for that reason, it really does require periodic communitarian correction.«13 Diese kommunitäre Korrektur kann aber nur den Sinn einer Wiederbelebung, Stärkung und Ausweitung jener demokratischen Partizipationsformen haben, deren Korrelat und Lebenselement eben die liberalen Grundwerte sind. »The communitarian correction of liberalism«, so Walzer, »cannot be anything other than a selective reinforcement of those same values or, to appropriate the well-known phrase of Michael Oakeshott, a pursuit of our intimations of community within them.«H Die »intimations of community« in den liberalen Grundwerten selbst finden ihre Realisierung in den dezentralen und pluralen Strukturen einer demokratischen »civil society« — einem Netz­ werk autonomer Assoziationen, Institutionen und Öffentlichkei­ ten unterhalb der Ebene des Staates. Und nur wo dies geschieht, wo also eine demokratische Sittlichkeit die vielstimmige Prosa des Alltagslebens durchdringt, können liberale Grundrechte und de­ mokratische Legitimitätsform sich zur politischen Einheit eines 12 Vgl. Walzer, »The Communitarian Critique of Liberalism«, a.a.O., S. 11 ff. 13 A.a.O., S. 15. 14 A.a.O.

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zugleich liberalen und demokratischen Gemeinwesens verbinden. Der demokratische Staat benötigt den Pluralismus und die politi­ sche Kultur einer demokratischen Bürgergesellschaft als sein Lebenselcment; umgekehrt kann nur im Rahmen eines demokrati­ schen Staates eine demokratische Bürgergcsellschaft sich entfalten:

»Only a democratic state can crcate a democratic civil society; only a dcmocratic civil society can sustain a democratic state. The civility that makes democratic politics possiblc can only be learned in the associational networks; the roughly equal and widely dispersed capabilities that sustain the networks have to bc fostered by the democratic state.«15

Man sollte das kritische Potential der Überlegungen von Walzer nicht unterschätzen. Es sind die Überlegungen eines demokrati­ schen Sozialisten, der die liberale Tradition radikalisierend beim Wort nimmt. Noch stärker als Rawls hat Walzer die kommunitären Implikationen des liberalen Dispositivs herausgearbeitet; hierin setzen beide die Tradition eines »kommunitären« Liberalis­ mus fort, wie er sich in Ansätzen schon bei John Stuart Mill und Tocqueville, in radikalerer Form bei John Dewey findet. Ihre Strategie ist aber auch der Strategie Hegels in seiner Rechtsphilo­ sophie verwandt: schon Hegel versuchte ja zu zeigen, daß die Verwirklichung der liberalen Grundrechte nur denkbar sei als die Verwirklichung einer modernen Form kommunitärer Sittlichkeit. Was Walzer und Rawls, zusammen mit den eben genannten libe­ ralen Theoretikern, unwiderruflich von Hegel trennt, ist ihre demokratietheoretische Ausformulierung des kommunitären Aspekts der modernen Freiheit. Ein anderer Grundgedanke He­ gels aber kehrt bei Walzer in veränderter Form wieder: Hegel hatte ja die bürgerliche Gesellschaft als »System der in ihre Ex­ treme verlorenen Sittlichkeit« beschrieben16 - eine Beschreibung übrigens, in der die kommunitaristische Kritik am Liberalismus gleichsam in nuce enthalten ist. Dem Moment der Entzweiung, das nach Hegels Analyse im latenten Atomismus der bürgerlichen Gesellschaft enthalten ist, entspricht bei Walzer das anti-kommunitäre Potential in den liberalen Grundrechten. Das Recht zur Entzweiung bezeichnet ein integrales Moment moderner Freiheit; es ist eng verknüpft mit dem, was man »negative« Freiheitsrechte 1$ Vgl. Michael Walzer, »The Idea of Civil Society«, a.a.O., S. 302. 16 G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: Werke, Bd. 7, Frankfurt 1970, § 184, S. 340. 65

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genannt hat. In dem berühmten Paragraphen 273 der Rechtsphi­ losophie hat Hegel nun die These vertreten, daß Demokratie im modernen Staat nicht möglich sei, weil sie - wie er im Anschluß an Montesquieu sagt - die Tugend der Bürger als ihre Grundlage voraussetze; sei aber das »Recht der Besonderheit« einmal aner­ kannt-wie es mit der Institutionalisierung liberaler Grundrechte in der modernen Gesellschaft geschieht -, so werde hierdurch auch die mögliche Grundlage demokratischer Regierungsformen zerstört. Dies Argument Hegels war schon zur Zeit seiner For­ mulierung im Grunde obsolet, d. h. durch die Wirklichkeit zu­ mindest der amerikanischen Demokratie überholt. Wenn man dies Argument aber nur ein wenig anders formuliert und dabei be­ rücksichtigt, daß Hegel ja vormoderne Formen einer demokrati­ schen Republik vor Augen hatte, dann entpuppt es sich als Vorwegnahme der vielleicht wichtigsten anti-kommunitaristisehen Argumente von Rawls und Walzer. Ich meine ihre Argu­ mente gegen den »civic republicanism« von Kommunitaristcn wie Taylor oder Bellah.17 Wenn ich diesen Argumenten eine besondere Bedeutung beimesse, dann deshalb, weil in ihnen - gleichsam jenseits aller Vorgefechte etwa über den sozialen Charakter des Selbst oder die Priorität des Guten oder Richtigen - die vielleicht entscheidende Differenz zwischen Liberalen und Kommunitaristen zum Vorschein kommt. Und zwar handelt es sich um zwei unterschiedliche Verständnisse dessen, was partizipatorische De­ mokratie und was »demokratische Sittlichkeit« in modernen Ge­ sellschaften bedeuten können. »Republicanism«, sagt Walzer und ganz ähnlich hätte es auch Hegel formulieren können -, »is an integrated and unitary doctrine in which cnergy and commitment are focused primarily on the political realm. It is a doctrine adapted (in both its classical and ncoclassical forms) to the needs of small, homogeneous communities, where civil society is radically undifferentiated.«18 Diese Form des Republikanismus verliert ihre Grundlage, wenn - wie es in der liberalen Gesellschaft ge­ schieht - die Konzepte des guten Lebens, die Wertorientierungen und Identitätsentwürfe sich vervielfältigen und privatisieren. Denn jetzt kann das gemeinsam geteilte öffentliche Gute - nämvj Vgl. Fußnote 5. 18 Michael Walzer, »The Communitarian Critique of Liberalism«, a.a.O., S. 20.

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lieh das in den liberalen und demokratischen Institutionen selbst verkörperte gemeinsame Gute - erstens nur noch als Kreuzungs­ punkt einer Vielfalt miteinander konkurrierender Ideen des guten Lebens verstanden werden, und es kann eben deshalb zweitens nicht mehr als der allein privilegierte Ort des guten Lebens ver­ standen werden. Ich denke, daß Rawls’ These von der Priorität des Richtigen gegenüber dem Guten letztlich nichts anderes zum Ausdruck bringt als diese Relativierung des gemeinsam geteilten, öffentlichen Guten gegenüber der Vielfalt individueller oder auch in freiwilligen Assoziationen verfolgter Sinn- und Lebensent­ würfe.19 Das gemeinsame Gute läßt sich nur bestimmen durch Angabe der normativen Bedingungen - d. h. der liberalen und de­ mokratischen Prinzipien unter denen die exzentrische Vielfalt der je individuellen oder besonderen Entwürfe des Guten egalitär sich entfalten kann. Solche Überlegungen müssen nun aber auch den Begriff einer »demokratischen Sittlichkeit« affizieren, wie ich ihn mehrfach gleichsam in naiv-paradoxer Anknüpfung an Hegel - gebraucht habe. Der Begriff meint eine Habitualisierung liberaler und demo­ kratischer Verhaltensweisen, wie sie nur durch den Gegenhalt in entsprechenden Institutionen, Traditionen und Praktiken Zustan­ dekommen und sich reproduzieren kann. Der Begriff meint im Grunde nichts anderes als die soziale Verkörperung liberaler und demokratischer Prinzipien in einer politischen Kultur. »Die Sitt­ lichkeit«, in Hegels unübertrefflicher Formulierung, »ist die Idee der Freiheit, als das lebendige Gute, das in dem Selbstbewußt­ sein sein Wissen, Wollen und durch dessen Handeln seine Wirklichkeit, so wie dieses an dem sittlichen Sein seine an und für sich seiende Grundlage und bewegenden Zweck hat, - der zur vorhandenen Welt und zur Natur des Selbstbewußtseins gewordene Begriff der Freiheit. «20 Was nun am Begriff einer demokratischen Sittlichkeit paradox scheint, ist, daß er nicht »substantiell«, sondern »formal« oder, in einem Terminus von Habermas, »prozedural« zu bestimmen wäre. Denn cs gibt keine sittliche Substanz jenseits des demokra­ tischen Diskurses, die sich in einer für alle verbindlichen Form, sei es philosophisch, sei es theologisch, begründen oder zementieren 19 So explizit in John Rawls, »The Priority of Right and Ideas of the Good«, a.a.O., S. 272 f. 20 Hegel, a.a.O., § 142, S. 292.

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lative Idee, die im Wahrheitsbegriff impliziert ist, wird so zur Idee eines letzten Konsenses in einer idealen Kommunikationsgemein­ schaft. Hier wird die Idee der vollständigen, der »absoluten« Wahrheit mit der einer moralisch vollkommenen Ordnung und der einer vollkommen transparenten Kommunikationssituation verknüpft. Diese Idee einer idealen Kommunikationsgemein­ schaft ist aber genau in Derridas Sinn metaphysisch, denn wenn man alle ihre Konsequenzen ausbuchstabiert, wird sie zur Idee einer Kommunikationsgemeinschaft, die »dem Spiel und der Ordnung des Zeichens«6 entkommen wäre; zur Idee eines Zu­ stands vollkommener Transparenz, absoluten Wissens und mora­ lischer Vollkommenheit - kurz: einer Kommunikationssituation, die die Zwänge, die Opazität, die Fragilität, die Temporalität und die Materialität endlicher menschlicher Kommunikationsformen hinter sich gelassen hätte. Derrida hat zu Recht darauf hingewie­ sen, daß in solchen Idealisierungen die Bedingungen der Möglich­ keit dessen, was idealisiert wird, negiert werden. Ideale Kommu­ nikation wäre Kommunikation jenseits der Bedingungen der »differance« - um mit Derrida zu sprechen -, und deshalb Kom­ munikation außerhalb und jenseits der Bedingungen der Möglich­ keit von Kommunikation. Insoweit die Idee der idealen Kommu­ nikationsgemeinschaft jedoch die Negation der Bedingungen endlicher menschlicher Kommunikation einschließt, impliziert sie die Negation der naturhaften und historischen Bedingungen menschlichen Lebens, der endlichen menschlichen Existenz. Ich denke, Nietzsche hat als erster darauf hingewiesen, daß solche Ideen am Ende ununterscheidbar werden von der des Nirwanas; ideale Kommunikation wäre der Tod der Kommunikation. Die Idee einer idealen Kommunikationsgemeinschaft bleibt selbst dann paradoxal, wenn sie nur als regulative Idee verstanden wird, der in der Welt nie etwas Wirkliches entsprechen kann; denn es gehört zum Sinn dieser Idee, daß sie uns darauf verpflichtet, auf ihre Realisierung hinzuarbeiten. Das Paradoxe daran ist, daß wir darauf verpflichtet wären, die Realisierung eines Ideals anzustre­ ben, dessen Realisierung das Ende der menschlichen Geschichte wäre. Das Ziel ist das Ende; diese paradoxale Struktur bringt zum 6 Derrida, Jacques: »Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen«, in: Die Schrift und die Differenz^ Frankfurt (Suhrkamp) 1976, S. 441. 162

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Ausdruck, daß Apcls Erklärung der Wahrheit immer noch metaphysisch ist. Nebenbei sei bemerkt, daß Dcrrida, soweit cs um die im Wahr­ heitsbegriff implizierten notwendigen Idealisierungen geht, durchaus mit Apel übercinstimmt. Im Unterschied zu Apcl be­ tont er jedoch den metaphysischen Charakter dieser Idealisierun­ gen. Wo Apel ein letztes Fundament unserer Verpflichtung auf (DIE) Wahrheit sieht, sieht Derrida eine (vorerst) unvermeidliche metaphysische, eine logozentrische Infizierung selbst unserer All­ tagssprache; dies war der Grund seiner Wendung von der Tran­ szendentalphilosophie zur Dekonstruktion. Auch diese Alterna­ tive finde ich nicht überzeugend. Deshalb werde ich eine andere Lektüre jener »notwendigen Idealisierungen« Vorschlägen, welche nach Putnam, Apcl und Habermas im Begriff der Wahrheit bzw. in der wahrheitsorientierten Kommunikation impliziert sind. Ich will wieder mit Putnam beginnen. Wenn die Idee erkenntnis­ mäßig idealer Bedingungen nicht in jenem totalisierendcn futuri­ schen Sinn verstanden werden kann, den ich oben nahegelegt habe, dann bleibt als einzig akzeptable Lesart die folgende: Immer wenn wir Wahrheitsansprüche auf der Grundlage guter Argu­ mente und überzeugender Evidenzen erheben, dann unterstellen wir die hier und jetzt gegebenen Erkenntnisbedingungen im fol­ genden Sinn als ideal: Wir unterstellen, daß in Zukunft keine neuen Argumente oder Evidenzen auftauchen werden, die unse­ ren Wahrheitsanspruch infrage stellen würden. Das heißt aber nichts anderes als zu sagen, daß wir unseren Wahrheitsanpruch für gut begründet, unsere Argumente für wirklich gut, unsere Evi­ denzen für zwingend halten. Wollte man dies eine Idealisierung nennen, so wäre es gleichsam eine »performative« Idealisierung; d. h. eine Idealisierung, die sich wesentlich darin zeigt, daß wir uns darauf verlassen, daß unsere Gründe und Evidenzen gut oder überzeugend sind. Und sich darauf verlassen, daß Gründe gut und Evidenzen überzeugend sind, heißt die Möglichkeit auszuschlie­ ßen, daß sie sich im Lauf der Zeit als problematisch herausstellcn könnten. Sobald wir aber auf unsere Praxis wahrheitsorientierter Kommunikation und Argumentation reflektieren, müssen wir na­ türlich einräumen, daß wir nie die Möglichkeit ausschließen kön­ nen, daß neue Argumente oder neue Erfahrunen uns zwingen könnten, Wahrheitsansprüche zu revidieren. Dieses reflexive Be­ wußtsein der Fallibilität unserer Wahrheitsansprüche könnte auch

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als Bewußtsein dessen verstanden werden, daß sich die Erkennt­ nisbedingungen, die wir jeweils für ideal halten, am Ende als nicht ideal herausstellen könnten. Wenn wir weiterhin auf die verschie­ denen Möglichkeiten reflektieren, hinsichtlich derer unsere Wahr­ heitsansprüche infrage gestellt werden können, dann können wir nun auch zwischen verschiedenen Aspekten der im Erheben von Wahrheitsansprüchen implizierten »Idealisierungen« unterschei­ den. Was wir sagen, kann z.B. als unklar, vage oder konfus kritisiert werden; die entsprechende »Idealisierung« besteht darin, daß wir uns darauf verlassen, daß unsere Sprache klar, ver­ ständlich, »transparent« ist. Oder es könnte unser ganzes Vokabu­ lar, eine Theorie, ein Sprachspiel, einige unserer grundlegenden begrifflichen Unterscheidungen in Frage gestellt werden: die dieser Kritik entsprechende »Idealisierung« bestünde in unserem Ver­ trauen darauf, daß die Sprache, die wir sprechen, »in Ordnung« ist, so wie sie ist. Wenn wir die »notwendigen Idealisierungen« in diesem performativen Sinn verstehen, dann implizieren sie durch­ aus keinen totalisierenden Vorgriff auf eine zukünftige Realisie­ rung oder Approximation idealer Wissens- oder Kommunika­ tionsbedingungen. Ich möchte vielmehr behaupten, daß die totalisierenden Vorstellungen einer idealen Grenze des Wissens oder der Kommunikation nur Resultat einer objektivistischen Fehldeutung von Idealisierungen ist, welche wesentlich performativ sind. Die Frage ist natürlich, ob man überhaupt von Idealisie­ rungen sprechen sollte. Denn eben dieser Begriff der Idealisierung scheint einen idealen Maßstab oder einen idealen Grenzwert na­ hezulegen, und genau an dieser Stelle entstehen die Verwirrungen, auf die ich oben hingewiesen habe. Ich möchte die gerade aufge­ worfene Frage diskutieren, indem ich auf die »pragmatischen« Idealisierungen eingehe, auf die sich Apel und Habermas konzen­ triert haben, d. h. Idealisierungen, die die intersubjektive Struktur der Kommunikation und/oder des argumentativen Diskurses be­ treffen. Ich konzentriere mich auf Habermas’ Begriff der idealen Sprech­ situation, den ich als bekannt voraussetze. Die Idee der Wahrheit kann nach Habermas nicht von der eines rationalen Konsenses getrennt werden, wobei ein Konsens rational wäre, wenn er unter Bedingungen einer idealen Sprechsituation zustandekäme.7 Nun 7 Vgl. jedoch oben Fußnote 164

habe ich bereits Apels These erwähnt, daß der rationale Konsens in Habermas’ Sinn keine hinreichende Bedingung für Wahrheit sein kann. Deshalb werde ich Habermas’ Idee nur im Sinne einer notwendigen Idealisierung diskutieren, die in jeder ernsthaften Argumentation involviert ist. Auf diese Idee läßt sich nun über­ tragen, was ich früher über Putnams Begriff erkenntnismäßig idealer Bedingungen gesagt habe: Wenn wir nämlich einen Kon­ sens erzielen, von dem wir glauben, daß er auf guten Gründen beruht, dann gehen wir natürlich davon aus, daß keine Argumente unterdrückt worden sind bzw. kein Diskursteilnehmer daran ge­ hindert wurde, relevante Gegenargumente vorzubringen. Auch hier handelt es sich um eine performative Idealisierung, die sich prinzipiell immer als falsch herausstellen kann, weil wir retro­ spektiv externe oder interne Zwänge entdecken können, die einige - oder alle - Sprecher daran hinderten zu sagen, was sie unter anderen Umständen hätten sagen können. Auch diese Idealisie­ rung würden wir mißverstehen, wenn wir sie als Antizipation einer idealen Kommunikationssituation (Apels falsche Lesart) oder wenn wir sie als ideale Norm rationaler Argumentation ver­ stünden, die als »Maßstab« verwendet werden könnte, um die Rationalität von Konsensen gleichsam von außen zu »messen«. Es gibt jedoch eine wichtige Differenz zwischen Putnams und Ha­ bermas’ Idealisierungsbegriff: In Diskurssituationen Argumente zu unterdrücken heißt Menschen zu unterdrücken. Daher stellt die Idealisierung, die nach Habermas in der Argumentationspra­ xis impliziert ist, eine Art Brücke zwischen Rationalitätsforderungen und moralischen Forderungen dar. Sie birgt ein normati­ ves Potential in sich, das sich im Zusammenhang zwischen der modernen Idee der Demokratie und der eines öffentlichen Raumes politischer und moralischer Diskurse zeigt. Auch wenn es - entgegen dem, was Habermas immer angenommen hat keinen direkten Zusammenhang zwischen universalpragmati­ schen Strukturen der Kommunikation und einer universalisti­ schen Idee von Demokratie und Menschenrechten gibt, sind die Ideen der Wahrheit und der rationalen Argumentation ersichtlich auf vielfältige Weise mit den demokratischen und liberalen Ideen der Moderne verknüpft. Wie dem auch sei, an genau dieser Stelle läßt sich zeigen, weshalb der Begriff der »Idealisierung« als sol­ cher irreführend ist: Wenn man diesen Begriff auf Strukturen der Kommunikation oder Argumentation bezieht, so wird er fast un-

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vermeidlich eine ideale Struktur bezeichnen, die wir als normati­ ven Maßstab zur Beurteilung realer Kommunikationsstrukturen verwenden und von der wir hoffen können, sie zu einem zukünf­ tigen Zeitpunkt der Geschichte - zumindest annähernd - in der Welt zu realisieren. Die Idee einer solchen idealen Struktur von Intersubjektivität macht jedoch keinen Sinn. Dies erst verleiht den Einwänden Nietzsches, Derridas und Rortys gegen die idealisie­ renden Konstruktionen der Philosophie wirkliches Gewicht. Wenn man aber die performativen Präsuppositionen des Redens und Argumentierens in terms von »notwendigen Idealisierungen« interpretiert, hat man den scheinbar unschuldigen Schritt in Rich­ tung einer Objektivierung jener Präsuppositionen schon getan. Auch Derrida noch macht jenen Schritt - freilich nur um zu zei­ gen, daß jene Idealisierungen ebenso notwendig wie unmöglich sind. Gegen Derrida, Apel, Putnam und Habermas möchte ich vielleicht etwas paradox - behaupten, daß jene Idealisierungen in der Tat notwendig, daß sie aber genau genommen keine Idealisie­ rungen sind.

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Im Lichte meiner schwachen Verteidigung dessen, was ich die »Strategie der Idealisierungen« nennen möchte, werde ich jetzt einige von Rortys »ethnozentrischen« Thesen diskutieren. Offen­ sichtlich bringt mich meine schwache und sozusagen kontextualistische Verteidigung der »Idealisierungsstrategien« zumindest in mancher Hinsicht in die Nähe von Rortys Ethnozentrismus. Ich glaube aber, daß Kontingenz etwas weniger Dramatisches ist, als Rorty uns glauben machen will. Ich möchte dies durch einige Überlegungen zu Rortys These über die »Kontingenz einer libe­ ralen Gesellschaft«8 und, allgemeiner gesprochen, durch Über­ legungen über den Zusammenhang von Kontingenz und Moderne zeigen. Ich habe oben unterschieden zwischen jenen performativen Prä­ suppositionen, die dem entsprechen, was manche Philosophen »notwendige Idealisierungen« genannt haben, einerseits und un8 Rorty, Richard: Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt (Suhr­ kamp) 1989, Kapitel 3: »Die Kontingenz des Gemeinwesens«, S. 84 ff.

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sercm reflexiven Bewußtsein der Fallibilität all unserer Geltungs­ ansprüche (einschließlich unserer Diskurspräsuppositionen) an­ dererseits. Ich vermute, daß Rorty mir darin zustimmen würde, daß dieses reflexive Bewußtsein der Fallibilität ein Moment dessen ist, was er als moderne liberale Kultur beschrieben hat. Dieses Fallibilitätsbcwußtsein ist eng mit der von Rorty beschriebenen »Anerkennung von Kontingenz« verbunden - der Kontingenz unserer Sprache, unserer Weltorientierung, unserer Kultur, unse­ rer Institutionen. Es scheint offensichtlich, daß eine solche Aner­ kennung von Kontingenz Folgen für unseren Umgang mit Geltungsansprüchcn aller Art hat. Insbesondere wird sie auf die performative Dimension des Redens und Argumentierens selbst zurückwirken. Wenn uns der Weg zur Letztbegründung ebenso versperrt ist wie die Hoffnung auf eine letzte Versöhnung ver­ wehrt - und hierin sieht Rorty zu Recht die Konsequenzen der »Anerkennung von Kontingenz« -, dann verlieren alle Formen von Dogmatismus und Fundamentalismus ihre Grundlage. Dar­ über hinaus werden wir in Kontroversen, in denen es keine intersubjektiv zwingenden Argumente oder Evidenzen gibt - man denke an bestimmte moralische Konflikte, an Gerichtsentschei­ dungen, den Golfkrieg, historische Erklärungen - nicht immer davon ausgehen können, daß es im jeweiligen Fall eine absolute Wahrheit gibt: irgendwo am Ende der Geschichte, aus der Sicht Gottes, im letzten Konsens. Wenn wir aber nicht länger davon ausgehen können, daß eine absolute Wahrheit in jedem Falle exi­ stiert - auch wenn wir uns ihrer vielleicht hier und jetzt noch nicht sicher sein können -, und zwar deshalb nicht, weil diese Unter­ stellung durch kritische Reflexion auf die Bedingungen der Mög­ lichkeit wahrheitsorientierten Redens und Argumentierens destruiert wurde (nämlich durch die Anerkennung von Kontin­ genz), dann muß dies Konsequenzen für unseren Umgang mit kontroversen Problemen der oben genannten Art haben: z. B. ein Mehr an Toleranz, die Bereitschaft, Überzeugungen zu revidie­ ren, die Bereitschaft, mit Pluralitäten zu leben, die Bereitschaft, nach neuen Beschreibungen oder Interpretationen alter Probleme zu suchen, oder die Bereitschaft, auf das zu hören, was andere zu sagen haben. Wenn die Anerkennung von Kontingenz schließlich die Anerkennung impliziert, daß »endliche, sterbliche, zufällig existierende menschliche Wesen« den Sinn ihres Lebens aus nichts anderem herleiten können als aus »anderen endlichen, sterblichen,

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zufällig existierenden menschlichen Wesen«,’ dann muß jeder Versuch, theologisch, metaphysisch oder szientifisch inspirierte Sinnentwürfe gesellschaftlich verbindlich zu machen, als zutiefst diskreditiert erscheinen. Wenn aber die Anerkennung von Kon­ tingenz, d. h. die Destruktion der Metaphysik — einschließlich der metaphysischen Residuen mancher moderner Verständnisse von Rationalität - die Destruktion der intellektuellen Grundlagen von Dogmatismus, Fundamentalismus, Intoleranz und Fanatismus impliziert, dann gibt es einen tiefen und interessanten Zusammen­ hang zwischen den Argumenten für Kontingenz und denen für eine liberale Kultur. Diesen Zusammenhang möchte ich im fol­ genden untersuchen. Zunächst einmal ist offensichtlich, daß die Kritik des Fundamen­ talismus und der Metaphysik, die zur Anerkennung von Kontin­ genz führt, sich auch auf unser Verständnis der demokratischen und liberalen Prinzipien der Moderne auswirken muß. Wir kön­ nen nämlich nicht länger davon ausgehen, daß es einen Archime­ dischen Punkt - beispielsweise die Idee der Vernunft — gibt, in dem jene Prinzipien fest verankert wären. Insofern könnte man Rorty zugestehen, daß die einzige Möglichkeit, die Prinzipien, Praktiken und Institutionen einer liberalen Gesellschaft zu »rechtfertigen«, darin besteht, unsere tiefsten Überzeugungen, moralischen Orientierungen und begrifflichen Unterscheidungen in möglichst kohärenter Weise zu rekonstruieren. Diese Art von Rekonstruktion wird immer in einem gewissen Sinne zirkulär sein, da sie nicht von einem Punkt aus durchgeführt werden kann, der jenseits der politischen und moralischen »Grammatik« unse­ rer eigenen Kultur läge; in diesem Sinne wird die Rechtfertigung »ethnozentrisch« bleiben. Das soll heißen - und dies ist, was Rorty betonen möchte -, daß die Sprache, die politische und mo­ ralische Grammatik, die Praktiken und Institutionen einer Kultur nicht als ganze (und gleichsam von außen) gerechtfertigt werden können, da das »Rechtfertigungsspiel« jeweils nur innerhalb eines bestimmten Sprachspiels einen klaren Sinn hat, nicht aber im Hin­ blick auf ein Sprachspiel als ganzes. Obwohl diese These in einem bestimmten Sinn offensichtlich zu­ trifft - wenn wir nämlich anerkennen, daß cs keinen Archime­ dischen Punkt außerhalb unserer eigenen Sprache oder Kultur • 9 Rorty, a.a.O., S. 86 (Übersetzung geändert).

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gibt ist durchaus nicht klar, was sic tatsächlich impliziert. Zu­ nächst scheint klar zu sein, daß wir ein Sprachspiel, ein Ensemble von Praktiken, Institutionen, Prinzipien oder begrifflichen Un­ terscheidungen nur dadurch »rechtfertigen« können, daß wir sie von innen her zu klären, zu rekonstruieren oder kohärent zu ma­ chen versuchen. Dies gilt selbst für die Mathematik, denn nie­ mand könnte den Witz der mathematischen Praxis, den Sinn mathematischer Begriffe oder die Kraft bestimmter Argumente oder Beweise verstehen, der nicht in diese Praxis einsozialisiert worden wäre. Analoges gilt offenbar dann, wenn es um die Recht­ fertigung eines Ensembles von politischen Prinzipien, Praktiken und Institutionen wie jener einer demokratischen und liberalen Tradition geht. In diesem Fall ist das Problem der »Sozialisation« sogar noch dramatischer als in dem der Mathematik, da das prak­ tische Wissen, das zum Verstehen der Prinzipien, Institutionen und Praktiken einer liberalen Kultur gehört, »habits of the hcart« einschlicßt, d. h. moralische Urteile, emotionale Reaktionen und eine Verflechtung von moralischen Urteilen mit emotionalen Re­ aktionen und Interpretationsmustern. Auch hier kann eine in­ terne Klärung oder Rekonstruktion der politischen »Grammatik« einer liberalen Kultur unmöglich eine Rechtfertigung der Prinzi­ pien und Praktiken jener Kultur für diejenigen sein, die nicht in einem gewissen Sinn in diese Praktiken schon einsozialisiert wor­ den sind. Die Frage ist, ob all dies heißt, daß demokratische und liberale Prinzipien nur ein mögliches politisch-moralisches »Sprachspicl« unter anderen festlegen, vielleicht mit der Besonderheit, daß un­ sere moralischen Prinzipien uns zur Respektierung der Andersheit anderer Kulturen nötigen, während dies umgekehrt nicht der Fall zu sein braucht. Diese Frage ist äußerst komplex, und ich denke, daß sie nicht mit einem einfachen »ja« oder »nein« beant­ wortet werden kann; ich glaube aber, daß ein qualifiziertes »nein« sich rechtfertigen läßt - und mit Rechtfertigung meine ich jetzt keine Rechtfertigung bloß für uns, sondern eben Rechtfertigung, Punkt. Ich möchte dies erläutern, indem ich nach und nach das Bild vervollständige, das ich eben skizziert habe. Zunächst einmal sollte klar sein, daß die internen »Rekonstruktio­ nen«, »Klärungen« und »Rechtfertigungen«, von denen ich ge­ sprochen habe, durchaus voneinander abweichen können. Interne Rekonstruktionen liberaler und demokratischer Prinzipien kön-

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nen konservativ oder radikal sein, und zwischen »radikalen« d. h. kritischen - Rekonstruktionen liberaler Prinzipien und der kommunitaristischen Kritik daran gibt es vielleicht keine klare Grenze. Hieran zeigt sich, daß die Art von Kultur, auf die wir uns hier beziehen, kein abgeschlossenes Sprachspicl ist, sondern eines, das sich auf der Grundlage seiner eigenen Prinzipien auf sich selbst kritisch und verändernd beziehen kann. Wenn ich im fol­ genden von liberalen und demokratischen Prinzipien spreche, dann denke ich immer auch an dieses kritische Potential, das den entsprechenden Institutionen und Praktiken als Spannung zwi­ schen dem, was ist, und dem, was sein sollte, immanent ist. Ich habe mein Verständnis liberaler und demokratischer Prinzipien an anderer Stelle erläutert.10 Hier sollte der Hinweis genügen, daß ich diese Prinzipien wesentlich als gegen soziale Ungerechtigkeit, Diskriminierung von Minderheiten, Sexismus, Kulturimperialis­ mus oder -»hegemonismus«, Manipulation der Öffentlichkeit oder soziale Gewalt (social violence) gerichtet verstehe; d. h. ich verstehe diese Prinzipien - wie wohl auch Rorty - nicht als Recht­ fertigung des Status quo in unseren Gesellschaften. Dabei gehe ich davon aus, daß es gute Argumente - d. h. unserer Kultur imma­ nente Argumente - gibt, diese Prinzipien in einem kritischen Sinn zu verstehen. Mein zweiter Argumentationsschritt - ein Schritt, den ich in mei­ ner kurzen Überlegung zu den verschiedenen Möglichkeiten, die politische Grammatik einer liberalen Kultur zu rekonstruieren, schon vorbereitet habe betrifft die Abstraktion, die der Unter­ scheidung zwischen unserer Sprache (oder Kultur) und ihrer Sprache (oder Kultur) zugrunde liegt. Diese Abstraktion besitzt eine suggestive Kraft, die sie zugleich äußerst irreführend macht. Es stimmt natürlich, daß ich meine Sprache - beziehungsweise die mit ihr verbundenen Praktiken - nicht jemandem gegenüber rechtfertigen kann, der ein völlig anderes Sprachspiel »spielt«: Es gibt keine Meta-Normen, keine Metasprache, in bezug auf die einer von uns den anderen überzeugen könnte. Das ist so ein­ leuchtend wie trivial. Die eigentlich interessanten Fälle sind je­ doch offensichtlich nicht diejenigen, in denen jemand ein Ensem­ ble von sprachlichen und außersprachlichen Praktiken gegenüber io Wellmer, Albrecht: »Freiheitsmodelle in der modernen Welt«, siehe S. 15 ff. in diesem Band. I7o

dem Angehörigen einer anderen Kultur zu rechtfertigen versucht (eine ziemlich künstliche, um nicht zu sagen absurde Idee), son­ dern jene Fälle, in denen verschiedene, sich teilweise überlap­ pende Vokabulare miteinander konfrontiert sind, und vor allem Fälle, in denen neue Vokabulare in der Auseinandersetzung mit alten Problemen entstehen (und mit der Sprache, in der diese Pro­ bleme bisher formuliert wurden). Nun würde ich aber behaupten, daß jede interessante Argumentationssituation Elemente einer solchen Konstellation enthält. Denn sogar in unserer eigenen Sprache können wir für gewöhnlich einzelne Argumente nicht isolieren, und je interessanter und bedeutsamer die Argumente sind, desto weniger entsprechen Argumentationen einem forma­ len Begriff von Rationalität, d. h. einem Modell deduktiver Ablei­ tung. In unsere gewöhnliche Argumentationspraxis sind immer schon holistische, innovative und »Differenz«-Momcnte eingelas­ sen: Wir müssen beim Argumentieren häufig erst den Kontext erzeugen, durch den Argumente die Kraft gewinnen, die sie haben können; Argumentationen schließen oft den Versuch ein, ein altes Problem oder eine vertraute Situation in einem neuen Licht er­ scheinen zu lassen. Demzufolge ist ein »holistisches« Element von Neubeschreibungen und Innovationen Bestandteil der interessan­ teren Formen unserer gewöhnlichen Argumentationspraxis. Es ist weiterhin so, daß das Sprechen einer »gemeinsamen Sprache« wenn damit nicht nur die elementarsten Formen linguistischer Übereinstimmung gemeint sind - oft nicht der Ausgangspunkt einer Argumentation ist, sondern - wenn alles gutgeht - deren Resultat. Man könnte dies das »Differcnz«-Moment unserer all­ täglichen Argumentationspraxis nennen. Deshalb würden wir die Pointe dieser Praxis verfehlen, wenn wir sie in terms eines gemein­ samen Systems von starren Regeln und Kriterien interpretierten, das semantisch abgeschlossen ist. Nur wenn wir die Reichweite rationaler Argumente im Sinne eines solchen starren Regelsy­ stems interpretierten, könnte die Unterscheidung zwischen Be­ gründungen »innerhalb« einer Sprache und der Begründung einer Sprache von außen gleichbedeutend werden mit der Unterschei­ dung zwischen einem Bereich möglicher Argumente und einem Bereich, in dem keine Argumente mehr möglich sind. Die interes­ santesten Fälle liegen jedoch gleichsam zwischen diesen Extre­ men. Daß diese interessanten Fälle überhaupt möglich sind, hängt natürlich damit zusammen, daß wir immer versuchen können, die

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Dinge aus der Perspektive anderer zu sehen, daß wir uns mit neuen Vokabularen oder Sichtweisen vertraut machen können, daß wir gelegentlich zwei Sprachen gleichzeitig sprechen und daß wir versuchen können herauszufinden, ob ein neues Vokabular oder eine neue Beschreibung alte Erfahrungen erhellen oder un­ sere alten Probleme lösen kann. Dieses »Ausprobieren« mag Zeit beanspruchen; Argumentationen beziehen sich immer auf einen Kontext von Erfahrung, Praxis und Reflexion zurück; neue Argu­ mente können zu neuen Erfahrungen führen, genauso wie neue Erfahrungen uns neuen Argumenten zugänglich machen oder un­ ser Verständnis bekannter Argumente verändern können. Wenn dies alles - annähernd - richtig ist, dann kann Rationalitätin einem relevanten Sinne des Wortes — nicht an der Grenze ge­ schlossener Sprachspiele enden (denn so etwas gibt es nicht); dann aber ist die »ethnozentrische« Kontextualität jeder Argumenta­ tion durchaus mit dem Erheben von kontexttranszendierenden Geltungsansprüchen zu vereinbaren, d. h. von Geltungsansprü­ chen, die den - lokalen oder kulturellen - Kontext transzendieren, in dem sie erhoben werden und in dem sie allein gerechtfertigt werden können. Es macht also durchaus Sinn zu sagen, daß die der Argumentation immanenten performativen Präsuppositionen sich nicht nur auf den lokalen Kontext beziehen, in welchem Wahrheitsansprüche jeweils erhoben werden, und daß Geltungs­ ansprüche jeden partikularen Kontext transzendieren. In genau diesem Sinn würde ich Habermas’ Beschreibung der Dialektik von Kontextimmanenz und Kontexttranszendenz zustimmen, einer Dialektik, die in der Praxis geltungsorientierten Sprechens und geltungsorientierter Argumentation wirksam ist.11 Es ist ge­ nau das richtige Verständnis dieser Dialektik, welches uns den Wahrheitsgehalt jener »Idealisierungsstrategien« zugänglich macht, die ich anfangs diskutiert habe. Wenn wir das Vorangehende auf Rortys These zur Kontingenz einer liberalen Gesellschaft beziehen, dann wird diese Kontingenz in einem neuen Licht erscheinen; und zwar wird sie weniger dra­ matisch erscheinen, als Rorty sie darstellt, da eine liberale Kultur - noch weniger als andere Kulturen - als ein geschlossenes Sprachii Vgl. Habermas, Jürgen: »Die Einheit der Vernunft in der Vielfalt ihrer Stimmen«, in: ders.: Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt (Suhr­ kamp) 1988. Siehe insbes. S. 174-179.



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spiel verstanden werden kann. Diese Kultur hat - in der zeitlichen Vertikale betrachtet - eine Geschichte und - in der zeitlichen Ho­ rizontale — ein Außen. In bezug auf beide Dimensionen der »Andersheit« - die uns beide in einem jeweils bestimmten Sinne zugänglich sind - gibt es eine ganze Reihe guter und interessanter Argumente für demokratische und liberale Prinzipien und Insti­ tutionen: man denke an die Geschichte der modernen Revolutio­ nen, die Arbeiten von Kant, Tocqueville, Mill oder Paine, die »Federalist Papers«, an die Erfahrungen von Totalitarismus, Na­ tionalismus, Rassismus, Antisemitismus oder von religiösem und politischem Fundamentalismus. Weitere Argumente lassen sich aus einer internen und kritischen Rekonstruktion der Werte, Prin­ zipien und Selbstintcrpretationen gegenwärtiger liberaler Gesell­ schaften gewinnen. Wenn wir nur die Idee einer Letztbegründung demokratischer und liberaler Prinzipien aufgeben, d. h. einer Be­ gründung, die nicht schon Gebrauch machen würde von der Grammatik einer demokratischen und liberalen Politik, und wenn wir— historische und andere - Erfahrungen in der Argumentation zulasscn, dann zeigt sich uns ein dichtes Netzwerk von Argumen­ ten zur Begründung und kritischen Weiterentwicklung demokra­ tisch-liberaler Prinzipien und Institutionen. Diese Argumente werden zwar kaum einen fanatischen Nationalisten oder religiö­ sen Fundamentalisten überzeugen; aber die Tatsache allein, daß meine Argumente nicht jeden überzeugen, muß nicht bedeuten, daß sie keine guten Argumente sind - diese Trivialität sollte man, wie ich meine, nicht vergessen, selbst wenn es einen enormen Un­ terschied macht, ob man sie selbstkritisch versteht oder nicht. Es ist ein Kennzeichen demokratisch-liberaler Gesellschaften solange es in ihnen noch eine irgend lebendige politische Kultur gibt -, daß eine öffentliche Diskussion über die Interpretation von Verfassungsprinzipien — z. B. über den Sinn von Grundrechten, über zivilen Ungehorsam oder über das richtige Verhältnis zwi­ schen individuellen Freiheiten und sozialer Gerechtigkeit - ein zentraler Bestandteil der politischen Kultur ist. Es scheint eine Eigentümlichkeit demokratischer und liberaler Prinzipien und In­ stitutionen zu sein, daß sie nur am Leben erhalten werden kön­ nen, wenn sie im Medium des öffentlichen Diskurses und der politischen Auseinandersetzung immer wieder neu interpretiert und definiert werden. D. h., eine liberale Kultur zeichnet sich da­ durch aus, daß der öffentliche Diskurs über die Grundprinzipien

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dieser Kultur eine konstitutive Rolle für den politischen Prozeß selbst gewinnt. Liberale Prinzipien sind gewissermaßen selbstreflexiv: Indem sie allen Bürgern gleiche Rechte und Freiheiten garantieren, garantieren sie ihnen zugleich gleiche Rechte und Freiheiten mit Bezug auf die Teilnahme an jenem öffentlichen Diskurs, in dem immer wieder ausgehandelt werden muß, was der Inhalt dieser gleichen Rechte und Freiheiten sein soll. Nun scheint es mir aber ziemlich offensichtlich, daß es einen nicht-kontingen­ ten Zusammenhang zwischen dieser Selbstreflexivität liberaler Prinzipien, d.h. der konstitutiven Rolle des öffentlichen Diskur­ ses für demokratisch-liberale Gesellschaften einerseits und der »Anerkennung von Kontingenz« in Rortys Sinn andererseits gibt. Rorty selbst macht auf diesen Zusammenhang mit der interessan­ ten - und, wie ich glaube, richtigen - Bemerkung aufmerksam, daß die »destruktiven« Konsequenzen der fortschreitenden Auf­ klärung, insbesondere jene, die zur »Anerkennung von Kontin­ genz« geführt haben, das Projekt einer demokratisch-liberalen Gesellschaft nicht etwa unterminieren, sondern es im Gegenteil auf eine tragfähigere Grundlage stellen.12 Insbesondere behaup­ tet Rorty, daß das Scheitern aller Versuche, Letztbegründungen zu finden - einschließlich der Letztbegründung einer liberalen Gesellschaft - für die liberalen Institutionen spricht und nicht gegen sie. Aus dieser These folgt aber, daß es Argumente für de­ mokratische und liberale Prinzipien und Institutionen gibt, die nicht in irgendeinem interessanten Sinn des Wortes ethnozentrisch sind. Denn offensichtlich kann die Kontingenzthese nicht so ver­ standen werden, als träfe sie nur auf eine moderne liberale Kultur zu; vielmehr handelt es sich um eine philosophische These, die die Bedingungen der Möglichkeit einer Begründung von Wahrheits­ ansprüchen überhaupt betrifft.13 Während die Anerkennung



12 Vgl. Rorty, Richard: a.a.O., S. 102 ff. 13 Diese Behauptung hat eine gewisse Affinität zu Apels These, wonach das Fallibilismusprinzip nicht als selbstbezüglich verstanden werden darf (»Fallibilismus, Konsenstheorie der Wahrheit und Letztbegrün­ dung«, a.a.O., S. 178—184). Ich glaube jedoch nicht, daß das Fallibilis­ musprinzip oder auch die »Anerkennung von Kontingenz« zu den notwendigen Präsuppositionen der Argumentation als solcher gehört. D. h., meine These ist weniger anspruchsvoll als diejenige Apels: Was ich sagen will, ist, daß die Kontingenzthese, wenn man sie ernst

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von Kontingenz jedoch zutiefst subversive Folgen für die Kultur haben muß, die religiös fundiert oder um eine mythologische oder auch »szientifische« Weitsicht zentriert ist, verwandeln sich ihre subversiven Folgen hinsichtlich aller Versuche einer Letztbegrün­ dung in zusätzliche Argumente für die demokratischen und libe­ ralen Prinzipien der Moderne. Vielleicht könnte man von einer negativen Rechtfertigung jener Prinzipien sprechen. Diese nega­ tive Rechtfertigung wird freilich keine Letzzbegründung sein. Eher wird sie eine negative Rechtfertigung in dem Sinne sein, daß sie die intellektuellen Grundlagen von Dogmatismus, Fundamen­ talismus, Autoritarismus sowie von moralischer und rechtlicher Ungleichheit zerstört; sowie dadurch, daß sie in eins damit demo­ kratische und liberale Institutionen als die einzigen auszeichnet, in denen die Anerkennung von Kontingenz mit einer zwanglosen öffentlichen Reproduktion von Legitimität vereinbar ist. Für diese These gibt es eine Reihe von Gründen, von denen ich im folgenden drei wichtige hervorheben möchte. (t) Jene Prinzipien sind - wenn man sie universalistisch versteht (und so sollte man sie verstehen, pace Rorty) - die einzigen, die mit der Anerkennung irreduzibler Andersheit - in Hinsicht auf Überzeugungen, Lebensformen, Formen der Identität - vereinbar

sind und die es - zumindest begrifflich - erlauben, gleiche Rechte mit der Respektierung von Andersheit und Differenz zusammen­ zudenken. In diesem Sinne setzt selbst eine »Politik der Diffe­ renz« (politics of difference) den moralischen Universalismus nimmt, nur so verstanden werden kann, daß sie für alle möglichen »Sprachspiele« gilt und deshalb nicht nur mit fundamentalistischen Sclbstinterprctationen unserer eigenen Kultur unvereinbar ist, sondern ebenso mit entsprechenden Selbstinterpretationen anderer Kulturen. Dann gibt es aber offenbar Argumente, die man nicht sinnvoll gebrau­ chen kann, ohne einen universalen Geltungsanspruch zu erheben, d. h. einen Geltungsanspruch, dessen Anwendungsbereich nicht nach Belie­ ben »ethnozentrisch« eingeschränkt werden kann. Wenn daher aus der »Anerkennung von Kontingenz« gute Argumente für eine liberale Kultur folgen, dann gibt es Argumente für eine liberale Kultur, die nicht ethnozentrisch in irgendeinem interessanten Sinne des Wortes sind - selbst wenn man zugesteht, daß bestimmte Argumente nur kontingenterweisc zu einem bestimmten Zeitpunkt verfügbar sein und verstanden werden können. Wenn dies aber zutrifft, werden liberale und demokratische Prinzipien viel weniger kontingent erscheinen, als Rorty annimmt.

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voraus, der den demokratischen und liberalen Prinzipien der Mo­ derne zugrundcliegt. (2) Da jene Prinzipien in dem oben genannten Sinn selbstreflexiv sind, verlangen sie die Institutionalisierung eines öffentlichen Raumes — oder eines Raums von öffentlichen Räumen —, in wel­ chem der genaue Gehalt jener Prinzipien, ihre Anwendung und Institutionalisierung immer wieder im Medium politischer und kultureller Diskurse bestimmt und neubestimmt werden muß, wodurch er zugleich eine Sache des öffentlichen Interesses werden kann. Ein solcher »kommunaler« Raum öffentlicher Freiheit scheint aber das einzig mögliche Substitut für jene Formen sub­ stantiell begründeter sozialer Solidarität zu sein, die das Charak­ teristikum traditionaler Gesellschaften waren; d.h. das einzig mögliche Substitut, wenn einmal die traditionalen Grundlagen so­ zialer Solidariät durch eine Aufklärung zerstört worden sind, die am Ende zur »Anerkennung von Kontingenz« geführt hat. (3) Die demokratischen und liberalen Prinzipien sind in einem gewissen Sinne rWeta-Prinzipien. Nach der Zerstörung der sub­ stantiellen Grundlagen von traditionalen Formen gesellschaft­ licher Solidarität definieren diese Prinzipien nicht einfach einen neuen substantiellen Konsens, der beispielsweise einen religiösen Konsens ersetzen würde. Sie bezeichnen vielmehr eine Möglich­ keit des gewaltfreien Umgangs mit unauflösbaren Dissensen in substantiellen Fragen und somit eine Möglichkeit, Konsens und Solidarität auf einer abstrakteren Ebene wiederherzustcllen, gleichsam einen »prozeduralen« anstelle eines »substantiellen« Konsenses. Ich gebe zu, daß diese Unterscheidung eine relative und irreführende ist, da z. B. die »Prozedur« des Dialogs keine Prozedur im eigentlichen Sinne des Wortes ist und da der »proze­ durale« Wert des Dialogs mit den substantiellen Werten der Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit zusammenhängt. Was mir vorschwebt, ist ein dynamisches Ineinandergreifen von formalen Prozeduren und Institutionen einerseits und informeller politi­ scher Diskurse und einer informellen politischen Praxis anderer­ seits; ein Incinandergreifen, durch welches jene substantiellen Werte ebenso öffentliche Angelegenheiten wie öffentliche Pro­ jekte werden können. In diesem Sinn ist das, was ich im Gegen­ satz zu einem »substantiellen« einen »prozeduralen« Konsens genannt habe, das Charakteristikum einer Gesellschaft, die ihre Legitimität nur reproduzieren kann, indem sie sich beständig im 176

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Medium politischer und kultureller Diskurse transformiert und verändert. Während die Anerkennung von Kontingenz - wie ich zu zeigen versucht habe — neue Argumente für demokratische und liberale Prinzipien und die um sie zentrierten Institutionen schafft, bleibt sie dennoch eine Anerkennung von Kontingenz. Die nicht elimi­ nierbare Kontingenz verweist jedoch nicht auf einen Mangel an guten Argumenten für liberale und demokratische Prinzipien, sie bezeichnet vielmehr das Moment der Kontingenz in allen Versu­ chen, diese Prinzipien erfolgreich zu institutionalisieren, am Le­ ben zu erhalten und in eine Form demokratischer »Sittlich­ keit«14 zu übersetzen. Im übrigen können demokratische und liberale Gesellschaften infolge sozialer Spannungen oder ökologi­ scher Zerstörungen, rassistischer oder ethnischer Konflikte, in­ folge der Zunahme von Gewalt, ökonomischer Krisen oder der Konsequenzen eines ökonomischen Imperialismus zusammen­ brechen oder sich auflösen. Wenn dies einträte, würde sich auch die moralische Substanz demokratischer und liberaler Praktiken und Institutionen auflösen. Hier endet die Kraft guter Argu­ mente: Argumente können nur zeigen, warum wir vernünftiger­ weise nicht wollen können, daß dies eintritt. Übersetzt von Ruth Sonderegger

14 Ich glaube, cs hat nichts Paradoxes an sich, wenn wir die formalen Prinzipien und prozeduralen Werte, die ich oben erwähnt habe (in dem Sinne, in dem ich sie erklärt habe), als die »Substanz« einer modernen Form »substantieller Sittlichkeit« verstehen. Obwohl spezifische Tra­ ditionen, Geschichten und Projekte immer eine wichtige Rolle für die Konstitution individueller und kollektiver Identität spielen werden, können diese besonderen Grundlagen von Identität nicht den substan­ tiellen Kern einer demokratischen und liberalen Form von Sittlichkeit bilden. Insoweit nämlich eine solche Form von Sittlichkeit die Respek­ tierung von Differenz und »Andersheit« fordert, verlangt sie zugleich eine reflexive Distanz zu jeder partikularen Tradition, Geschichte und zu jedem partikularen Projekt. D. h., sie fordert die Anerkennung von Kontingenz (vgl. auch: Wellmer, Albrecht: »Models of Freedom in the Modern World«, a.a.O.).

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6. Adorno, die Moderne und das Erhabene

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»Wahrheit hat Kunst als Schein des Scheinlosen«, resümiert Adorno in einer zentralen Passage der Ästhetischen Theorie.1 An anderer Stelle sagt er: »Im Aufgang eines Nicht-Seienden, als ob es wäre, hat die Frage nach der Wahrheit der Kunst ihren An­ stoß.«2 Und: »Weil aber der Kunst ihre Utopie, das noch nicht Seiende, schwarz verhängt ist, bleibt sie durch all ihre Vermittlung hindurch Erinnerung, die an das Mögliche gegen das Wirkliche, das jenes verdrängte, etwas wie die imaginäre Wiedergutmachung der Katastrophe Weltgeschichte, Freiheit, die im Bann der Necessität nicht geworden, und von der ungewiß ist, ob sie wird [...]. Die ästhetische Erfahrung ist die von etwas, was der Geist weder von der Welt noch von sich selbst schon hätte, Möglichkeit, ver­ hießen von ihrer Unmöglichkeit. Kunst ist das Versprechen des Glücks, das gebrochen wird.«3 Diese Sätze enthalten den Kern von Adornos versöhnungsphilo­ sophischer Interpretation des Kunstschönen. Das Kunstwerk hat seinen Wahrheitsgehalt darin, daß es zur »Spiegelschrift« eines schwarz verhüllten Absoluten, zur Spiegelschrift der Versöhnung wird.4 Hierin ist es zugleich Schein des Scheinlosen, eines Nichtseienden, Schein einer Epiphanie des Absoluten.5 Dieser Schein einer Epiphanie des Absoluten gehört zur Struktur der »genuinen ästhetischen Erfahrung den authentischen Kunstwer­ ken gegenüber«;6 der Wahrheitsgehalt der Kunst ist von ihrem Scheincharakter unabtrennbar. Der konstitutive Zusammenhang

1 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, in: Gesammelte Schriften, Bd. 7, Frankfurt a. M. 1970, S. 199 (im folgenden zitiert als ÄT). 2. ÄT, S. 128. j Ebd., S. 204 f. 4 Vgl. Theodor W. Adorno, Minima Moralia, in: Gesammelte Schriften, Bd.4, Frankfurt a. M. 1980, S. 281. 5 Vgl. ÄT, S. 159. 6 Ebd.

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1 zwischen Wahrheit und Schein der Kunstwerke bestimmt zwei aporctischc Konstellationen, die nach Adorno für die Kunst der Moderne charakteristisch sind. Die erste dieser aporctischen Kon­ stellationen betrifft das Verhältnis von Kunst und Philosophie, die zweite ist innerästhetischcr Art: sie betrifft die Möglichkeit einer authentischen Kunst in einen) Zustand vollendeter Negativität. Die aporetische Konstellation von Kunst und Philosophie meint Adorno, wenn er sagt: »Unverhüllt ist das Wahre der diskursiven Erkenntnis, aber dafür hat sic es nicht; die Erkenntnis, welche Kunst ist, hat es, aber als ein ihr Inkommensurables.«7 Das, was die im emphatischen Jetzt sich verlierende ästhetische Erfahrung »hat«, ist die Anschauung der Welt im Lichte der Erlösung; aber befangen im ästhetischen Schein, versteht die ästhetische Erfah­ rung nicht den verweisenden Bezug des Kunstwerks auf ein Nicht-Präsentes, noch nicht Seiendes, will heißen, sic versteht den Schein nicht, dem sie erliegt. Deshalb muß ihr die philosophische Reflexion zu Hilfe kommen; nur diese kann der ästhetischen Er­ fahrung sagen, was sie erfährt, kann im ästhetischen Schein die Spiegelschrift des Absoluten entziffern und hierdurch den Wahr­ heitsgehalt des Kunstwerks, als das der ästhetischen Erfahrung qua Erfahrung Inkommensurable, zur Sprache bringen. Indes kann die Philosophie der ästhetischen Erfahrung auch wieder nicht wirklich sagen, was sic ihr zu sagen versucht; ans Medium des identifizierenden Begriffs gebunden, kann sie das Absolute ein Nicht-Seiendes, das doch nicht Nichts sein soll - nur umkrei­ sen, auf es hindeuten, als den nicht sichtbaren und nicht denkba­ ren Fluchtpunkt alles Denk- und Sagbaren indirekt, ex negative, sichtbar zu machen versuchen. Anders als bei Kant ist für Adorno nicht nur die Darstellbarkeit, sondern auch die Denkbarkeit des Absoluten problematisch geworden. Deshalb bedarf die Philoso­ phie der Kunst ebensosehr, wie die Kunst der Philosophie bedarf. Beide verhalten sich zueinander wie Anschauung und Begriff in der Kantischen Philosophie, nur daß das Verhältnis zwischen An­ schauung und Begriff hier die Sphäre der Ideen, das Absolute betrifft, das sich der Anschauung ebenso entzieht wie dem Be­ griff. Nur im aporetischen Verweisungszusammenhang von ästhe­ tischer Erfahrung und philosophischem Begriff wird die schwache Spur eines scheinlos Absoluten sichtbar.

7 Ebd., S. 191. 179

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um die Naturvcrfallenhcit, die Hinfälligkeit des Geistes. Was bei Kant als intclligible Sphäre der Naturvcrfallenhcit der empiri­ schen Einzelwesen entzogen bleibt, enthüllt sich als selber natur­ verfallen. Nicht die intclligible Welt ist das Umgreifende eines an Sprache und Leib gebundenen endlichen Geistes, sondern eine sinnfremde Natur; gleichsam ein Abgrund, der sich inmitten der Welt sprachlich erschlossenen Sinns öffnet, ein Abgrund des Sinns. Adorno rehabilitiert die Kategorie des Erhabenen aus dem Geiste Becketts. Die Erfahrung der Hinfälligkeit des empirischen Subjekts, der Überforderung seiner Vermögen, wird jetzt zur Er­ fahrung der Hinfälligkeit des intelligiblcn Subjekts selbst. Auf den Prozeß, der diesem in Becketts »Endspiel mit der Subjektivi­ tät«14 gemacht wird, spielt Adorno an, wenn er auf die Konver­ genz von Tragödie und Komödie, von Erhabenem und Spiel in der avancierten Kunst verweist. Wie kann aber aus der Destruktion der Kantischcn Polarität von endlichem und inteliigiblem Ich, an der ja nach Kant allein das Gefühl des Erhabenen sich entzünden kann, ein neues Erhabenes, das Erhabene der modernen Kunst resultieren? Adorno gibt auf diese Frage zwei Antworten: eine Antwort aus dem Horizont eines versöhnungsphilosophischen Begriffs der Moderne, eine an­ dere aus dem Horizont eines postmetaphysischen Begriffs der Moderne. Beide Antworten berühren sich in der Idee des »Stand­ haltens«, in der das Pathos von Kants Begriff des Erhabenen nachhallt. Für Adorno bezeichnen im übrigen die beiden Antwor­ ten nur zwei verschiedene Aspekte einer einzigen Antwort; es bedarf einer stereoskopischen Lektüre, um in dieser einen Ant­ wort zwei verschiedene Antworten sichtbar zu machen. Der ersten, versöhnungsphilosophischen Antwort Adornos zu­ folge wäre der Ort des modernen Erhabenen die ins Unermeß­ liche gewachsene Spannung zwischen der Realität und einer schwarz verhüllten Ütopie, zwischen einem Zustand vollendeter Negativität und dem Zustand der Erlösung. Hier, so könnte man sagen, ist es das Kunstwerk, das, indem es die Negativität der Wirklichkeit ungemildert in sich hineinläßt, der Übermacht einer sinnlosen Realität im Namen eines noch nicht seienden Absolu­ ten, des versöhnten Geistes, standhält. In einer Formulierung 14 Gabriele Schwab, Samuel Becketts Endspiel mit der Subjektivität, Stuttgart 1981,

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Adornos: »Um inmitten des Äußersten und Finstersten der Rea­ lität zu bestehen, müssen die Kunstwerke, die nicht als Zuspruch sich verkaufen wollen, jenem sich gleichmachcn. Radikale Kunst heute heißt soviel wie finstere, von der Grundfarbe schwarz.«15 Daß es hier wirklich um das Erhabene der modernen Kunst geht, erhellt aus einer anderen Formulierung Adornos: »Erbe des Erha­ benen ist die ungemiiderte Negativität, nackt und scheinlos wie einmal der Schein des Erhabenen es verhieß.«16 Die zweite Antwort Adornos auf die oben gestellte Frage loka­ lisiert demgegenüber das Erhabene der modernen Kunst im Span­ nungsfeld zwischen der »Explosion metaphysischen Sinns«17 in der Moderne und der Emanzipation des Subjekts. Die beiden Pole dieses Spannungsfeldes bezeichnen zwei Seiten dessen, was Adorno auch als »Fortschritt des Bewußtseins« in der Moderne thematisiert. Hier geht es nicht um die Dialektik von Subjektivierung und Verdinglichung, um die Dialektik der Aufklärung also, und daher auch nicht um die Polarität von vollendeter Negativität und versöhntem Geist; es geht vielmehr um den Preis, den die von Tradition und Konvention sich emanzipierenden Subjekte für ihre Emanzipation zu zahlen haben: Es geht um den internen Zusam­ menhang zwischen dem Verlust objektiv verbürgten Sinns und der Emanzipation der Subjekte. Es ist diese zweite Antwort Adornos, an die ich anknüpfen möchte. Hierbei übergehe ich, daß Adorno selbst, und zwar über die These vom dialektischen Zusammenhang zwischen Subjektivierung und Verdinglichung, die »Explosion metaphysischen Sinns« mit der geschichtlichen Herbeiführung ei­ nes Zustands vollendeter Negativität begrifflich kurzgeschlossen hat. Ich habe diesen begrifflichen Kurzschluß, durch welchen Adornos Philosophieren gewissermaßen unter einen versöh­ nungsphilosophischen Systemzwang gerät, an anderer Stelle kriti­ siert.18 Adorno hat keinen angemessenen Begriff sprachlicher Intersubjektivität entwickelt, der es ihm erlaubt hätte, die Entzau­ berung der Welt - die »Explosion metaphysischen Sinns« — mit der Möglichkeit eines Gewinns an kommunikativer Rationalität zu verknüpfen. Sobald man aber die Möglichkeit einer solchen

15 ÄT, S. 65. 16 Ebd., S. 296. 17 Vgl. Theodor W. Adorno, Noten zur Literatur, in: Gesammelte Schrif­ ten, Bd. 11, Frankfurt a. M. 1974, S. 2S2. 18 Vgl. Wellmer, »Wahrheit, Schein, Versöhnung«, a.a.O. 184

! | Verknüpfung zuläßt - die Argumente dafür finden sich vor allem bei Habermas erweisen sich die beiden Antworten Adornos als durchaus verschieden. Die zweite Antwort, richtig verstanden, impliziert nicht die erste, versöhnungsphilosophische; vielmehr enthält sie Elemente eines postmetaphysischen Begriffs des Erha­ benen, durch welchen Adornos Ästhetische Theorie sich einer kommunikationstheorctischcn Deutung öffnet. Eine solche Deu­ tung wird freilich auch der ersten Antwort Adornos, der versöh­ nungsphilosophischen, einen neuen Sinn geben können: Der Zustand vollendeter Negativität, der einem schwarz verhüllten Absoluten korrespondiert, ist der Zustand der Welt nach der Ex­ plosion des metaphysischen Sinns, einer Welt, die von Versöhnung abgeschnitten ist; aber dies Abgeschnittensein von Versöhnung, richtig ins Auge gefaßt, ist nicht die Katastrophe des Geistes, als die Adorno es verstand. Es bezeichnet vielmehr den Aggregatzustand eines als endlich sich erfassenden Geistes, der, in seine Endlichkeit sich vertiefend, zugleich seine Potentiale als die einer kommunika­ tiven Vernunft neu entdecken und entfalten könnte. Retrospektiv ließe Adornos Kritik des identifizierenden Denkens sich lesen als das Exerzitium einer solchen Neuentdeckung und Neuentfaltung des endlichen Geistes als kommunikativer Vernunft.

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Adorno sprach von einer »Transplantation« des Erhabenen in die Kunst; einer Bewegung zur Moderne hin, die er am Ende des 18.Jahrhunderts cinsetzen läßt.” Das Eindringen des Erhabe­ nen in die Kunst bringt diese in »ansteigenden Konflikt mit dem Geschmack«, also mit dem Desiderat des »Schönen« im Sinne des Kantischen Gcschmacksurteils. Drei Bestimmungen des Kunster­ habenen, in denen es den Desideraten des Geschmacks zuwider­ läuft, tauchen bei Adorno immer wieder auf: eine energetische, eine strukturelle und eine cntwicklungslogische; alle drei Bestim­ mungen berühren sich in der Tat mit Merkmalen des Erhabenen im Sinne Kants. Unter energetischen Gesichtspunkten erscheint das Kunsterha­ bene als schockierend, ergreifend, erschütternd, überwältigend.

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rj Vgl. ÄT, S. 292.

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Versteht man den Augenblick der ästhetischen Erfahrung als den einer verdichteten Präsenz, durch welche das Zeitkontinuum der gewöhnlichen Erfahrung suspendiert wird, so tritt hier ein Stück Gewaltsamkeit hinzu, das in den Binnenraum der ästhetischen Distanz einbricht und das Subjekt, je nachdem, aus sich herausschleudcrt, in einen Schwindel oder in Unruhe oder in Er­ schütterung versetzt. Freilich geschieht dies unter Bedingungen ästhetischer Distanz: Ästhetisch ist die Erschütterung, das Aussich-Heraustreten des Ich nur, wo dieses zugleich in gespannte­ ster Konzentration bei sich bleibt. »Das Ich bedarf, damit es nur um ein Winziges über das Gefängnis hinausschaue, das es selbst ist, nicht der Zerstreuung, sondern der äußersten Anspannung; das bewahrt Erschütterung, übrigens ein unwillkürliches Verhal­ ten, vor der Regression. Kant hat in seiner Ästhetik des Erhabe­ nen die Kraft des Subjekts als dessen Bedingung getreu darge­ stellt.«20 Strukturell betrachtet ist das Kunsterhabene die Negation unge­ brochener ästhetischer Synthesis, das heißt der bruchloscn Durchdringung von Sinnlichem und Geistigem im Sinne des idea­ listischen Schönheitsbegriffs. Negation der schönen Form also, des Maßes, der Balance, der widerspruchslosen Einheit, der Har­ monie, letztlich: des schönen Scheins. »Die Male der Zerrüttung sind das Echtheitssiegel von Moderne«, sagt Adorno.21 In ihnen kommt im Kunstwerk eine Wirklichkeit zur Erscheinung, die sich Desideraten eines sinnvollen Zusammenhangs nicht mehr fügt. Das Kontingente, das Sinnfremde, das Absurde, das aus dem Uni­ versum sprachlichen Sinns Ausgeschlossene, weil Disparate, Nicht-Integrierbare, gleichsam der sinnferne Untergrund sprach­ lich erschlossenen Sinns - all dieses läßt die moderne Kunst in »ungemilderter Negativität«, wie Adorno sagt, in sich hinein und macht hierduch »Bruchstellen« sichtbar, »den Riß durch die Seele und durchs Ganze der Welt«, wie Monika Steinhäuser es am Bei­ spiel von Bildern Caspar David Friedrichs formuliert hat.22 Die Kunst öffnet sich einer Erfahrung der Welt, die sich nicht mehr auf einen letzten, übergreifenden Sinn hin auslegt, sondern den Einbruch des Sinnfremden in die Welt sprachlich erschlossenen 20 Ebd., S. 364. 21 Ebd., S. 41. 22 Monika Steinhäuser, »Im Bild des Erhabenen«, in: Merkur 487/88, Sept./Okt. 1989, S. 824. 186

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Sinns, den Abgrund des Sinnfernen inmitten der Welt des Sinns aushält. Nicht durch Versöhnung der Widersprüche, sondern da­ durch, daß sie diese zur Sprache bringt,23 durch die »Kommuni­ kation des Unkommunizierbaren«, lichtet die Kunst das Dunkel der Welt, wird sie als erhabene zur schönen, zur Quelle ästhe­ tischer Lust.

■Daß die finstersten Momente der Kunst etwas wie Lust bereiten sollen, ist nichts anderes, als daß Kunst und ein richtiges Bewußtsein von ihr Glück einzig noch in der Fähigkeit des Standhaltens finden. Dies Glück strahlt von innen her in die sinnliche Erscheinung. Wie in stimmigen Kunstwerken Geist noch dem sprödesten Phänomen sich mitteilt, es gleichsam sinnlich errettet, so lockt seit Baudelaire das Finstere als Anti­ these zum Betrug der sinnlichen Fassade von Kultur auch sinnlich. Mehr Lust ist bei der Dissonanz als bei der Konsonanz; das läßt dem Hedonis­ mus Maß für Maß widerfahren.«24 Unter entwicklungslogischen Gesichtspunkten schließlich be­ zeichnet das Eindringen des Erhabenen in die Kunst eine Tendenz zu fortschreitender Vergeistigung der modernen Kunst. Diese Tendenz zur Vergeistigung korrespondiert einem Eindringen sinnferner Matcrialschichten in die Kunst, gleichsam einer Ten­ denz zur Entgeistigung. Die Öffnung der Kunst gegenüber dem Geistfremden, gegenüber der sinnfernen Rückseite der Welt sprachlich erschlossenen Sinns, bedeutet zugleich ein Anwachsen ihrer konstruktiven und reflexiven Züge. In ihnen bekundet sich die Kraft eines emanzipierten Subjekts, das sich ungeschützt durch ästhetische Konventionen der Erfahrung des Nicht-Identi­ schen überläßt, um sie ästhetisch zu objektivieren. Vergeistigung bedeutet daher zugleich ein Anwachsen der Spannung zwischen geistigen und geistfernen, zwischen konstruktiven und mimeti­ schen, zwischen reflexiven und »elementarischen« Zügen in der modernen Kunst. Für Adorno ist die moderne Kunst, sowohl in ihren einzelnen Produktionen als auch im Spannungsfeld ihrer Produktionen insgesamt, der Prozeß, der sich zwischen diesen beiden Polen, dem Geistigen und dem Geistfernen, abspielt.

»Das Rimbaudsche Postulat des radikal Modernen ist eines von Kunst, die in der Spannung von spleen et ideal, von Vergeistigung und Obsession durchs Geistfernste sich bewegt. Der Primat des Geistes in der Kunst und 23 ÄT, S. 294. 24 Ebd., S. 66 f.

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das Eindringen des zuvor Tabuierten sind zwei Seiten des gleichen Sach­ verhalts [...] Vergeistigung vollzieht sich nicht durch Ideen, welche die Kunst bekundet, sondern durch die Kraft, mit der sie intcntionslose und ideenfeindlichc Schichten durchdringt. Nicht zuletzt darum lockt das Ver­ femte und Verbotene das künstlerische Ingenium. Die neue Kunst von Vergeistigung verhindert, wie die banausische Kultur es will, mit dem Wahren, Schönen und Guten weiter sich zu beflecken.«25

Adorno entwirft hier eine Perspektive, aus der die moderne Kunst als die ästhetische Realisierung dessen erscheint, was Kant im Be­ griff des Erhabenen meinte: »Kants Theorie des Erhabenen antezipiert am Naturschönen jene Vergeistigung, die Kunst erst leistet. Was an der Natur erhaben sei, ist bei ihm nichts anderes als eben die Autonomie des Geistes angesichts der Übermacht des sinn­ lichen Daseins, und sie setzt erst im vergeistigten Kunstwerk sich durch.«26 Wenn Adorno hier von der Autonomie des Geistes spricht, dann müssen wir freilich seine Kritik an Kants Begriff des Intelligiblen, und daher auch an Kants Begriff des Erhabenen, mit hinzudenken. Ich werde später auf die Frage zurückkommen, was diese Einschränkung bedeutet. Vorerst sei nur bemerkt, daß Adorno hier durchaus vom Geist als endlichem, von dem seiner Naturhaftigkeit bewußten Geiste spricht. In den offiziellen Lesar­ ten Adornos wird für gewöhnlich verdeckt, daß Adorno in seiner Theorie der ästhetischen Moderne - im Gegensatz zu zentralen Thesen der Dialektik der Aufklärung - einen internen Zusam­ menhang konstruiert zwischen der Emanzipation des modernen Subjekts, dem Zerfall verbindlicher ästhetischer Konventionen und Traditionen, und einem sich schärfenden Bewußtsein des Geistes von seiner Naturhaftigkeit. Der Fortschritt des Bewußt­ seins, in dem der Sturz der Metaphysik sich ankündigt, bedeutet einen Fortschritt des Geistes zum Bewußtsein der eigenen Natur­ haftigkeit. Die moderne Kunst ist das Eingedenken der Natur im Subjekt, gebunden an die Kraft eines Subjekts, das der Erfahrung der eigenen Naturhaftigkeit standzuhalten vermag.

»Die Entfesselung des Elementarischen war eins mit der Emanzipation des Subjekts und damit dem Selbstbewußtsein des Geistes. Es vergeistigt als Natur die Kunst. Ihr Geist ist Selbstbesinnung auf sein eigenes Naturhaftes. Je mehr Kunst ein Nichtidentisches, unmittelbar dem Geist Entgegen­ gesetztes in sich hineinnimmt, desto mehr muß sie sich vergeistigen. I

25 Ebd., S. 144. 26 Ebd., S. 143.

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Umgekehrt hat Vergeistigung ihrerseits der Kunst zugeführt, was, sinnlich nicht wohlgefällig und abstoßend, dieser zuvor tabu war; das sensuell nicht Angenehme hat Affinität zum Geist.«27

Ein eigentümlicher Zusammenhang zwischen dem Eindringen des Erhabenen in die moderne Kunst und den emanzipatorischen Im­ pulsen der Moderne wird an dieser Stelle sichtbar. Die »Entgren­ zung« der Kunst, die Adorno unter dem Titel ihrer »Vergeisti­ gung« analysiert, korrespondiert jener Entgrenzung der Diskurse, die Habermas in der kommunikativen Verflüssigung von Traditio­ nen, in der kommunikativen Rationalisierung der Lebenswelt konstatiert hat. Mehr noch: Beide Prozesse stehen unter einem Gesetz anwachsender Individuierung, durch welche allein jener Zerfall objektiv verbindlichen Sinns kompensiert werden kann, welcher die Bedingung der Emanzipation der Subjekte - in mora­ lischer und kognitiver nicht weniger als in ästhetischer Hinsicht ist. Unter dem Gesichtspunkt der Erzeugung von ästhetischem Sinn ist Vergeistigung der Kunst daher zugleich der Name für eine »ansteigende Individuierung« des je einzelnen Kunstwerks. Die experimentellen, konstruktiven und reflexiven Züge der moder­ nen Kunst sind das Medium solcher Individuierung bei Adorno, ganz ähnlich wie die experimentellen, diskursiven und reflexiven Züge einer rationalisierten Lebenswelt das Medium einer sozialen Individuierung bei Habermas sind. Im Subtext der Ästhetischen Theorie, und zwar genau an jenen Stellen, an denen Adorno das Eindringen des Erhabenen in die moderne Kunst analysiert, zeichnet sich eine Alternative zur These vom dialektischen Zu­ sammenhang zwischen Subjektivierung und Verdinglichung ab, also zur Grundthese der Dialektik der Aufklärung; wollte man die Umrisse dieser Alternative benennen, so könnte man sagen, daß an die Stelle eines dialektischen Zusammenhangs zwischen Subjektivierung und Verdinglichung ein interner Zusammenhang zwischen ästhetischer, kognitiver und moralisch-praktischer Auf­ klärung tritt. Moderne Kunst, moderne Wissenschaft und Philo­ sophie und die mit einer universalistischen Moral verknüpfte moderne Demokratie rücken in ein Verhältnis wechselseitiger Korrespondenzen und Ergänzungen: Ästhetische, kognitive und moralisch-praktische Aufklärung werden faßbar als die verschie­ denen Felder, in die sich der emanzipatorische Impuls der Mo-

27 Ebd., S. 292. 189

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derne verzweigt hat, ohne daß in dieser Verzweigung und der mit ihr einhergehenden Differenzierung der Wert- und Rationalitäts­ sphären schon ein Sieg der instrumentellen Vernunft gesehen werden dürfte. Rückt man aber die Vergeistigung der Kunst in einen solchen Zusammenhang, setzt man also die Emanzipation der Subjekte im Sinne Adornos in Relation zur Veränderung kom­ munikativer Beziehungen zwischen Subjekten in einer post-traditionalen Gesellschaft, so liegt es nahe, in der Assimilation geistferner Erfahrungs- und Realitätsschichten durch die moderne Kunst zugleich ein Potential der Öffnung von kommunikativen Beziehungen und des Selbstverhältnisses ästhetischer Rezipienten in Richtung auf die sinnfernen, tabuierten, ausgegrenzten und dis­ paraten Momente ihrer Erfahrung zu sehen. Die Emanzipation der Kunst stünde in Relation zu einer möglichen kommunikativen Verflüssigung der gesellschaftlichen Beziehungen und der Selbst­ verständnisse von Individuen: nicht als deren Vorschein, sondern als deren Korrelat, ebenso Medium wie auch Manifestation jenes Fortschritts des Bewußtseins, den Adorno immer wieder mit dem Eindringen des Erhabenen in die moderne Kunst verknüpft. Die drei Merkmale des modernen Erhabenen, so wie ich sie bei Adorno unterschieden finde, bezeichnen insgesamt eine Bewe­ gung der Selbsttranszendenz der Kunst unter Bedingungen ihrer Autonomie. In technischer Hinsicht bedeutet dies einen beständi­ gen Zwang zur Innovation, durch welchen die Bewegung der Kunst mit derjenigen der kapitalistischen Warenproduktion kom­ muniziert. »Explosion ist eine ihrer Invarianten«, sagt Adorno, »antitraditionalistische Energie wird zum verschlingenden Wir­ bel.«28 Im Zwang zur Innovation kommt aber zugleich die Nötigung zum Ausdruck, immer wieder die Grenze dessen zu überschreiten, was die Kunst jeweils geworden ist, das heißt aber: den existierenden Begriff der Kunst zu überschreiten, so wie er sich in ihren zum Kulturgut neutralisierten Produktionen abgela­ gert hat. Kunst war niemals bloß schöner Schein; aber unter Bedingungen ihrer Autonomie muß sie das Mehr, das sie immer schon war, in ihre eigene, das heißt ästhetische Regie nehmen. Sie muß an ihrem eigenen Begriff, sie muß an den Grenzen ihrer Autonomie rütteln, sofern sie jenem emphatischen Anspruch ge­ nügen will, den sie an sich selbst stellen muß, solange sie über-

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18 Ebd., S. 41.

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0 haupt ästhetischen Sinn erzeugen und nicht zur Reproduktion des Immergleichcn herunterkommen will. In den Avantgardebewe­ gungen der modernen Kunst ist diese Nötigung zur Selbstüber­ schreitung der Kunst vielfach mißverstanden worden als Forde­ rung nach einer Entkunstung der Kunst, nach Aufhebung der Kunst im Leben. Noch Adorno meinte - und genau an dieser Stelle wird seine Philosophie der Kunst zur Philosophie der Ver­ söhnung »die geschichtliche Perspektive eines Untergangs der Kunst« sei »die Idee eines jeden einzelnen« Kunstwerks.2’ Da Adorno aber wußte, daß ein von der Kunst selbst inszenierter »Untergang« der Kunst unter den gegebenen geschichtlichen Be­ dingungen keinesfalls jene letzte Aufhebung der Kunst = Versöh­ nung, sondern nur Anpassung ans Bestehende bedeuten könnte, insistierte er zugleich, rebus sic stantibus, auf der Autonomie der Kunst als Bedingung ihrer fortdauernden »Methexis an Versöh­ nung«. Indessen scheint die Alternative als solche falsch zu sein: So wenig wir die Nötigung zur Selbstüberschreitung der Kunst aus der Perspektive einer letzten Versöhnung deuten können, so wenig können wir sic überhaupt sinnvoll als Imperativ einer Sclbstaufhebung der Kunst im Leben deuten. Der entgrenzende Impuls der Kunst wäre vielmehr mit ihrer Autonomie zusammenzudenken; nicht als Impuls, der auf eine magische Verwandlung der Gesell­ schaft im Ganzen zielt, sondern als Impuls, durch den allein das der Kunst eigentümliche Potential zur immer erneuten magischen Ver­ wandlung der Welt am Leben erhalten werden kann. Kann sich die­ ser entgrenzende Impuls nicht auf ein absolutes Jenseits: die Welt im Stande der Erlösung, richten, so müssen Transzendenz und Immanenz, Negation und Affirmation in ihm zusammengedacht werden: Entgrenzung und Verwandlung der Welt als Selbst-Über­ schreitung und Selbst-Affirmation eines endlichen Geistes. Wenn man die Selbstüberschreitung der Kunst nicht auf eine letzte Selbstüberschreitung hin auslegt, so verliert auch Adornos These eines unversöhnlichen Gegensatzes zwischen authentischer Kunst und Massenkultur in der fortgeschrittenen Moderne ihre philosophische Grundlage. In Adornos Gleichungen »authenti­ sche Kunst = Negation = Wahrheit« und »Massenkukur = Affirmation = Lüge« steckt ein Stück philosophischer Präforma­ tion der ästhetischen Kritik, die einer vorbehaltlosen ästhetischen 29 Ebd., S. 199. 191

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Sinns« und der Emanzipation des Subjektes her rekonstruiert, dann läßt sich die These, die moderne Kunst sei erhaben, das heißt von der Grundfarbe schwarz, nicht länger aufrechterhalten. Ge­ wiß, die Kunst im Zeitalter einer nach-metaphysischen Moderne befindet sich unwiderruflich jenseits eines Begriffs von Schönheit, der das sinnliche Scheinen der Idee, der einen höheren Sinn, eine letzte Versöhnung der Widersprüche meint. In diesem Sinne mag das Erhabene zum Konstituens aller modernen - oder postmoder­ nen - Kunst geworden sein. Ein so verstandenes Erhabenes aber muß nicht von der Grundfarbe schwarz sein - sowenig wie der Verzicht auf eine letzte Versöhnung Verzweiflung bedeutet. Daß in der ästhetischen Konstruktion der Sinnlosigkeit »Erhabenes und Spiel konvergieren«, wie Adorno sagt, könnte auch in einem anderen Sinne verstanden werden als bei Adorno, der diesen Ge­ danken auf die schwarze Komik Becketts bezieht. Etwa so, daß die Kunst das Spiel der Welt zur Erscheinung bringt, den Ge­ schichtsraum in einen Naturraum zurückverwandelt und hierin die Abgründigkeit des sprachlichen Sinns nicht nur in ihrer Nega­ tivität, sondern zugleich in ihrer Produktivität erfahrbar macht. Die Erfahrung solcher Kunst könnte die ekstatische Erfahrung einer Überschreitung des Sinns sein: Kunst als Nachahmung des Naturschönen. Innerhalb der modernen Musik gibt es eine Tradi­ tionslinie, die Debussy mit Strawinsky, Messiaen und Ligeti verbindet; eine Traditionslinie, mit der Adorno, der präokkupiert war durch die deutsch-österreichische Tradition eines dynamisch­ expressiven Konstruktivismus, nie so recht etwas anzufangen wußte. Der tiefere Grund mag sein, daß Adorno an einer Hegel­ sehen Bestimmung der Musik festhielt, wonach die Wurzel der Musik der expressive menschliche Sprachlaut, die menschliche Lautgeste ist.34 Charakteristisch für die Musik jener anderen Traditionslinie ist aber, daß in ihr, um mit Hegel zu reden, nicht die »Sphäre der subjektiven Innerlichkeit« sich in Tönen entäu­ ßert, daß nicht das Subjekt, sondern daß die Dinge zum Tönen gebracht werden, die Welt als Klangraum ersteht. Gegenüber der Finalität einer subjektzentrierten Zeitlichkeit treten Farbe, rhyth­ mische Komplexität und Räumlichkeit der Musik hier in einer nicht mehr finalen Objekthaftigkeit in den Vordergrund; der Na-

34 Vgl. G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik m, in: Werke, Bd. 15, Frankfurt a.M. 1970, S. 144L, 149-I52202

turraum der Geschichte wird hörbar gemacht, Musik tendenziell zur Nachahmung des Naturschönen - und sei es eines mathema­ tisch-technisch erzeugten, d.h. bereits künstlichen »Naturschö­ nen« wie der Fraktale im Falle Ligetis.35 Und doch genügt auch diese Musik allen Desideraten des Modernen im Sinne Adornos: Sie ist hochgradig konstruktiv und individuiert in ihrer Sprache und ihren technischen Verfahren; und sie hat der Musik ganz neue Erfahrungs- und Materialschichten erschlossen, insbesondere sol­ che aus außereuropäischen Kulturen. Im übrigen sind die Grenz­ linien zwischen den beiden genannten Traditionen der modernen Musik längst unscharf geworden; ich habe sic vor allem deshalb unterschieden, weil Adorno dazu neigte, die eine der beiden aus dem Kanon der modernen Kunst auszugrenzen. An solchen Stel­ len zeigt sich, daß die Ästhetik der Negativität am Ende auch mit einer ästhetischen - und nicht nur mit einer philosophischen Blickverengung verknüpft ist. Das ließe sich auch an anderen Bei­ spielen zeigen; notorisch ist Adornos schiefes Verhältnis zum Jazz und zum Film. Freilich stammt die Idee einer Nachahmung des Naturschönen durch die Kunst von Adorno selbst. Man könnte versucht sein zu sagen, daß alle Elemente einer nachmetaphysischen Ästhetik der Moderne bei Adorno versammelt sind, nur in einer durch die Op­ tik der Versöhnungsphilosophie verzerrten Anordnung. Seine Ästhetik ist ein Zögern auf der Schwelle, populär gesagt, zur Post­ moderne, ernsthafter gesagt, zu einem nachmetaphysischen Be­ griff der Moderne. Den Ästhetiken der Postmoderne ist sie immer noch überlegen. Aber fruchtbar machen läßt sie sich heute nur noch, wenn man sie entschlossen verfremdet; oder anders gesagt, wenn man sie über jene Schwelle stößt, auf der sie zögert: die Schwelle zu einer nachmetaphysischen Moderne. Dies wäre eine Moderne, die im Sturz der Metaphysik nicht nur den Verlust, sondern auch die Befreiung erkennt: die Befreiung von der Illu­ sion und dem Terror eines irgend objektivierbaren letzten und umfassenden Sinns; eine Moderne, die der Metaphysik um so we­ niger bedürfte, je mehr sie die Wahrheit der Metaphysik in den Strukturen ihrer Weltlichkeit aufgehoben hätte.

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35 Vgl. Denys Bouliane, »Stilisierte Emotion. György Ligeti im Ge­ spräch«, in: Musik-Texte, 28/29, März 1989; Denys Bouliane, »Geron­ nene Zeit und Narration. György Ligeti im Gespräch«, in: Neue Zeitschrift für Musik, Mai 1988. 20}

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7. Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes i.

In seinen »Meditationen zur Metaphysik«, dem letzten Kapitel der Negativen Dialektik, hat Adorno den Begriff eines Denkens jenseits der Metaphysik zu entfalten versucht. Dieser Begriff bleibt bei ihm aporetisch. Was nämlich den Namen »Denken« verdient, muß nach Adorno am transzendierenden Impuls der Metaphysik partizipieren; dieser aber sperrt sich gegen die Form des begrifflichen Denkens. Wie fast immer bei Adorno resultiert die Aporie aus einer doppelbödigen Argumentation: Zum einen zeigt er, daß der »Sturz« der metaphysischen Ideen unwiderruf­ lich ist, zum anderen argumentiert er, daß die Wahrheit der Metaphysik erst im Augenblick ihres Sturzes faßbar wird. Der Augenblick dieses Sturzes ist, in einem weiteren Sinne verstanden, die letzte Etappe der europäischen Aufklärung seit Kant, in einem engeren Sinne verstanden, das Verbrechen von Auschwitz als der Augenblick der Vollendung und Selbstdurchstreichung dieser Aufklärung. Die »Meditationen zur Metaphysik« sind eine einzige Auseinan­ dersetzung mit Kants kritischer Rettung der Metaphysik. An ihr demonstriert Adorno, weshalb der Sturz der Metaphysik unwi­ derruflich ist, und an ihr bejaht er zugleich, und von ihr über­ nimmt er noch einmal den Gestus des kritischen Rettens. Ich möchte zunächst den destruktiven Aspekt seiner Argumentation erläutern. Adornos Kritik richtet sich gegen Kants Grenzziehung zwischen den Bereichen des Empirischen und des Intelligiblen, die Bedingung von Kants kritischer Rettung der Metaphysik. Und zwar weist Adorno auf eine Antinomie im Begriff des Intelligiblen hin, die, anders als die Kantischen Antinomien, nicht nur unver­ meidlich, sondern auch unauflösbar ist; eine Antinomie daher, die mit der Erkennbarkeit der intelligiblen Welt zugleich deren Denk­ barkeit in Frage stellt. Die Antinomie besteht darin, daß den transzendentalen Ideen objektive Realität nicht zukommen kann und daß ihnen, sollen sie Ausdruck eines sinnvollen Gedankens sein, Realität doch zukommen muß. Daß den transzendentalen Ideen keine objektive Realität zukommt, daß ihnen keine mög204

liehe Erfahrung korrespondiert, hat Kant selbst eindringlich ge­ zeigt. Adorno zeigt demgegenüber, daß sie als bloße Gedanken leer wären, wenn sie nicht von möglicher Erfahrung her, das heißt sub specie einer ihnen zumindest möglichen objektiven Realität, gedacht würden. Die Doppeldeutigkeit des Kantischcn Ideenbe­ griffs wird faßbar im Übergang von der Kritik der reinen Vernunft zur Kritik der praktischen Vernunft. Im Lichte der praktischen Vernunft nämlich erscheinen die Ideen von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit nicht mehr bloß als regulative Ideen, sie werden vielmehr zu konstitutiven Ideen, »indem sie Gründe der Möglich­ keit sind, das notwendige Objekt der reinen praktischen Vernunft (das höchste Gut) wirklich zu machen* (I. Kant, KrdprV, A244). Damit das »höchste Gut« als ein mögliches Wirkliches gedacht werden kann, müssen Gott, Freiheit und Unsterblichkeit als wirklich — wenngleich unerkennbar - gedacht werden. Als Namen von Wirklichem aber lassen sich diese Ideen nur deshalb denken, weil sie ihrem Sinne nach immer schon - in einer von Kant un­ durchschauten Weise - auf mögliche Erfahrung, oder auf die Bedingungen möglicher Erfahrung, bezogen sind. Sic setzen näm­ lich in je verschiedener Weise den Begriff eines individuierten geistigen Wesens bzw. den einer Welt individuierter geistiger We­ sen voraus; im Begriff eines geistigen Wesens aber, so wie wir allein ihn denken können, ist seine Leiblichkeit, sind also Raum und Zeit und mögliche Erfahrung immer schon impliziert. Diese Naturhaftigkcit, diese Leiblichkeit individuierter geistiger Wesen wird in den zentralen Begriffen, in denen Kant das Reich des Intelligiblen denkt, insgeheim vorausgesetzt und zugleich als eine notwendige Voraussetzung geleugnet. Die Doppeldeutigkeit der transzendentalen Ideen - zwischen einer »regulativen« und einer »konstitutiven« Bedeutung, zwischen Transzendenz und Imma­ nenz - erklärt sich daraus, daß der Begriff des Intclligiblen nicht nur ein Jenseits der erkennbaren Natur, sondern zugleich ein Jen­ seits der bösen Natur (und einer sinnlosen Geschichte) bezeich­ net. Als Jenseits der bösen Natur steht das Reich des Intelligiblen für eine unendliche Aufgabe, vor die endliche Vernunftwesen sich gestellt sehen - die Verwirklichung des höchsten Guts, die Über­ windung der Naturhaftigkeit des Willens -, sowie für die Mög­ lichkeit einer Lösung dieser Aufgabe, für die aus der geschicht­ lichen Erfahrung allein sich keine Anhaltspunkte gewinnen ließen. Da die Aufgabe unabweisbar ist, muß den Ideen von Gott, 20J

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Freiheit und Unsterblichkeit Wirklichkeit zukommen; denn nur wenn ihnen Wirklichkeit zukommt, kann die Aufgabe selbst sinn­ voll und kann sie zugleich Index eines Sinns der natürlichen und geschichtlichen Welt sein. Dieser Zirkel von Postulaten bringt nicht mehr eine erkenntniskritische, sondern eine praktisch-teleo­ logische Verknüpfung der intelligiblen mit der empirischen Welt zum Ausdruck. Das Intelligible bezeichnet Grund und Zielpunkt dieser Teleologie. Nur wenn der Grund - Gott, Freiheit, Unsterb­ lichkeit-wirklich ist, kann das Ziel eine Möglichkeit bezeichnen. Dieses Ziel wird bei Kant durch eine Reihe von Grenzbegriffen bezeichnet, wie diejenigen eines »vollkommen guten« oder »heili­ gen« Willens, eines Reichs der Zwecke, des höchsten Guts, des Reichs Gottes usw., in denen die empirische Welt sich gleichsam auf die intelligible hin übersteigt. Alle diese Grenzbegriffe sind paradox darin, daß sie einen für sinnliche Vernunftwesen unend­ lich approximierbaren Grenzwert nur dadurch bezeichnen kön­ nen, daß sie im Grenzwert der Vollkommenheit selbst die Bedingung der Natürlichkeit durchstreichen. An dieser Paradoxie hat auch der Begriff eines »reinen Vernunftwesens« teil: Er be­ zeichnet ein Telos endlicher Vernunftwesen, deren Unvernünftig­ keit er negiert; er bezeichnet somit ein Ideal der Vernünftigkeit. Aber in der Formulierung des Ideals sind zugleich alle jene Bedin­ gungen negiert, unter denen die endlichen Vernunftwesen allein individuierte, d. h. wirkliche Vernunftwesen sein können: Natürlickeit, Leiblichkeit, Sinnlichkeit, Wille. Auf verschiedenen Stufen wiederholt sich somit die Doppeldeutigkeit der Begriffe, in denen Kant das Reich des Intelligiblen denkt: Sie transzendieren die Grenzen möglicher Erfahrung und meinen doch mögliche Erfah­ rung. Dies gilt auch noch für die Idee der Unsterblichkeit der Seele. Adorno spottet über den »Spiritismus« einer Metaphysik auch noch der Kantischen -, die die Lehre der Unsterblichkeit nur um den Preis totaler Vergeistigung, eben nur für die Seele, zu retten weiß. »Hoffnung aber heftet sich, wie in Mignons Lied, an den verklärten Leib. Metaphysik will davon nichts hören, nicht mit Materiellem sich gemein machen... Die idealistische Kon­ struktion jedoch, die den Erdenrest auszuscheiden vorhat, wird wesenlos, sobald sie jene Egoität gänzlich ausmerzt, die Modell des Begriffs Geist war... Die christliche Dogmatik, welche die Erweckung der Seelen mit der Auferstehung des Fleisches zusam­ mendachte, war metaphysisch folgerechter, wenn man will: auf206

geklärter als die spekulative Metaphysik; so wie Hoffnung leibhafte Auferstehung meint und durch deren Vergeistigung ums Beste sich gebracht weiß.«1 Kants Versuch, die Wahrheit der Metaphysik, und mit ihr die der Theologie, kritisch zu retten, muß aus der Perspektive Adornos scheitern, weil die Grenzziehung zwischen dem, was erkennbar und dem, was bloß denkbar und denknotwendig, aber nicht er­ kennbar ist, weil also letztlich der Begriff des Intelligiblcn selbst aporetisch bleiben muß. Kants Philosophie erweist sich als ohn­ mächtig gegenüber dem Strudel fortschreitender Aufklärung, in den die metaphysischen Ideen hineingezogen sind. So gilt auch für die Kantische Form der Metaphysik noch einmal, was Kant der älteren vorwarf: Ihre Ideen sind »Luftspiegelungen des Denkens«; sie stehen nicht nur für Unerkennbares, sondern für Undenkbares; sie sind das Imaginäre des Denkens, ein Traum der Vernunft. Soweit gibt Adorno sogar der positivistischen Auf­ klärung recht. Indes ist der geschichtliche Augenblick, in dem die Metaphysik als Theorie von der Aufklärung unwiderruflich ins Unrecht gesetzt ist, für Adorno zugleich der Augenblick einer möglichen Rettung ihres Wahrheitsgehalts. Die Wahrheit der Me­ taphysik wird erst im Augenblick ihres Sturzes faßbar. Erst in dem Augenblick nämlich, in dem alle objektivistischen und apo­ logetischen Ansprüche der Metaphysik, in denen sie das Erbe der Theologie als Ideologie angetreten hatte, zuschanden geworden sind, wird das an ihr sichtbar, was sie unwiderruflich von falscher Aufklärung scheidet und worin sie sich dieser - auch wo sie sich ihr in der Form des philosophischen Systemdenkens anpaßte — immer schon entgegengesetzt hatte. Aber nicht nur wird erst im Augenblick ihres Zerfalls - dem geschichtlichen Augenblick der voll entwickelten Moderne - der Wahrheitsgehalt der Metaphysik sichtbar; vielmehr wird im gleichen Augenblick auch deutlich, weshalb das Bedürfnis nach Metaphysik unabweisbar ist für ein Bewußtsein, das sich als Bewußtsein nicht selbst durchstreichen will. In dieser paradoxen Zuspitzung des Problems steckt eine Bündelung von Motiven, durch welche Adornos Meditationen zur Metaphysik in eine vieldeutige Nähe sowohl zur Religionskri­ tik des jungen Marx, zur Metaphysik-Kritik des Poststrukturalis1 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, in: Ges. Schriften, Bd. 6, Frankfurt 1973, S.393. 207

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mus als auch zur Relativismus-Kritik der Transzendentalpragma­ tik rücken. Diesen Verwandtschaftsbeziehungen möchte ich im folgenden ein Stück weit nachgehen. Adorno sieht den Wahrheitsgehalt der Metaphysik in ihrem alles bloß Bestehende auf ein Absolutes hin transzendierenden Impuls. Dieser transzendierende Impuls ist nichts anderes als das »tran­ szendierende Moment« in allem Denken, ohne das nach Adorno die Idee der Wahrheit - die er, scheinbar un-kantisch, als die »oberste« unter den metaphysischen Ideen bezeichnet2 - nichtig wäre. Wenn ich sage: scheinbar un-kantisch, so will ich damit andcuten, daß Kants Versuch, den Wahrheitsbegriff gleichsam un­ terhalb der Ebene der Vernunftideen abzuhandeln, durchaus im­ manent sich in Frage stellen ließe. Adorno spielt auf diese Möglichkeit an, wenn er aus Kants Idcenlehre die These heraus­ liest, »ohne Metaphysik sei Theorie nicht möglich«? Wenn Adornos These zum metaphysischen Charakter des Wahrheits­ begriffs richtig ist, dann versteht sich von selbst, daß seine Vertei­ digung des Wahrheitsbegriffs - und darum geht es ihm aporetische Züge annehmen muß. Vielmehr: sie wird zur Entfaltung einer Aporie; und indem Adorno diese Aporie entfaltet, versucht er zugleich das Aporetische der Kantischen Metaphysik als Spur einer Einsicht zu lesen, durch welche Kant sich am Ende seinen idealistischen wie seinen positivistischen Überwindern als überlegen erweist. Für Adorno koinzidiert die Möglichkeit der Wahrheit mit der ei­ nes objektiven Sinns. Mit der Idee der Wahrheit ist daher Dauer in einem doppelten Sinne postuliert: zunächst die der Wahrheit selbst; »denn es ist ein Moment der Wahrheit, daß sie samt ihrem Zeitkern dauere; ohne alle Dauer wäre keine, noch deren letzte Spur verschlänge der absolute Tod«? Dann aber auch die der lebendigen Subjekte,/«? die die Wahrheit ist. Denn »der Gedanke, der Tod sei das schlechthin Letzte, (ist) unausdenkbar«? »Wäre der Tod jenes Absolute, das die Philosophie positiv vergebens be­ schwor, so ist alles überhaupt nichts, auch jeder Gedanke ins Leere gedacht, keiner läßt mit Wahrheit irgend sich denken«.6 2 3 4 5 6

A.a.O., S. 394. A.a.O., S. 377. A.a.O., S. 364. A.a.O. A.a.O.

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Der Gedanke, daß in der Idee der Wahrheit der Tod nicht nur metaphorisch - als der des Wahren sondern buchstäblich ne­ giert wird, bringt ein theologisches Motiv mit Kant und gegen Kant zur Geltung. Kantisch ist der von Adorno unterstellte Pri­ mat der praktischen über die theoretische Vernunft und der Anschluß an die Kantische Postulatenlehre, die Adorno, in einer charakteristischen Wendung, freilich nicht auf die Besserung der Täter, sondern auf das Leiden der Opfer bezieht: »Daß keine in­ nerweltliche Besserung ausreichte, den Toten Gerechtigkeit wi­ derfahren zu lassen; daß keine ans Unrecht des Todes rührte, bewegt die Kantische Vernunft dazu, gegen Vernunft zu hoffen. Das Geheimnis seiner Philosophie ist die Unausdenkbarkeit der Verzweiflung«.7 Un-kantisch dagegen, gegen Kant gedacht, ist es, wenn Adorno im theologischen Motiv ein materialistisches zur Geltung bringt, das auf die Verweltlichung des transzendierenden Impulses abzielt. Der Gang der Geschichte nötigt die Metaphysik zum Materialismus, gegen den sie einmal konzipiert war;8 nötigt sie, auf den »Schauplatz des Leidens« herabzusteigen, die »soma­ tische, sinnferne Schicht des Lebendigen«,5 nachdem in den Lagern »alles Beschwichtigende des Geistes ... ohne Trost ver­ brannte«.10 Der transzendierende Impuls meint nicht ein Jen­ seits der geschichtlichen Welt, sondern eine andere Verfassung der Welt. Der Fluchtpunkt der Entmythologisierung - erst der Theo­ logie, dann der Metaphysik - ist eine Konstellation von Imma­ nenz und Transzendenz, die ebenso denknotwendig wie undenk­ bar ist. »Was von Entmythologisierung nicht getroffen würde, wäre kein Argument... sondern die Erfahrung, daß der Gedanke, der sich nicht enthauptet, in Transzendenz mündet, bis zur Idee einer Verfassung der Welt, in der nicht nur bestehendes Leid ab­ geschafft, sondern noch das unwiderruflich vergangene widerru­ fen wäre.«11 Dies ist Adornos Version der Marxschen Religionskritik, dieser auch darin verwandt, daß die Entzauberung der Welt, daß der Zerfall aller religiösen und metaphysischen Sinngarantien im Pro­ zeß der kapitalistischen Modernisierung als Voraussetzung einer 7 8 9 10 11

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A.a.O., S. 378. A.a.O., S. 3 58. A.a.O. A.a.O. A.a.O., S. 395. 209

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Verweltlichung der Metaphysik erscheint. Im Lichte dieser reflektierteren Wiederholung der Marxschen Religionskritik nun er­ scheinen die Aporien Kants als Spuren einer Einsicht, die sich entgegen Kants Meinung anders als aporetisch gar nicht formulie­ ren läßt. Die Zweideutigkeiten der Kantischen Ideenlehre, auf die ich anfangs hingewiesen habe, haben nach Adorno ihr Recht darin, daß das Absolute weder als Seiendes - das wäre Metaphysik als Ideologie - noch als Nicht-Seiendes - das wäre Positivismus als Denkverbot — gedacht werden kann. In immer wieder neuen Wen­ dungen wiederholt Adorno diesen Gedanken im Schlußabschnitt der Negativen Dialektik. So sagt er über Kant: »Genötigt von der Konvergenz aller Gedanken in einem Absoluten, beließ er es nicht bei der absoluten Grenze zwischen dem Absoluten und dem Sei­ enden, die zu ziehen er nicht minder genötigt war. Er hielt an den metaphysischen Ideen fest und verbot dennoch, vom Gedanken des Absoluten, das einmal sich verwirklichen könne wie der ewige Friede, überzuspringen in den Satz, das Absolute sei darum.«12 Oder, prägnanter: »Der Begriff des in teil igiblen Bereichs wäre der von etwas, was nicht ist und doch nicht nur nicht ist«;13 und: »Der Begriff des Intelligiblen ist weder einer von Realem noch einer von Imaginärem. Vielmehr aporetisch.«14 Indes beläßt Adorno es am Ende doch nicht bei der Aporic. Für einen kurzen Augenblick läßt er vielmehr alle dialektische Vorsicht fahren und ergibt sich ungeschützt der Spekulation. Und zwar nutzt er einen Hegelschen Einwand gegen Kant, um ganz un-hegelisch die Denkbarkeit eines materialistisch gewendeten Begriffs der Tran­ szendenz, einer materialistisch gewendeten Versöhnungshoff­ nung, darzutun. Adorno kritisiert Kants Doktrin des »unzerstör­ baren Blocks«, d.h. seine Lehre von ein-für-allemal gegebenen Formen der Anschauung und der Erkenntnis, aus denen das menschliche Bewußtsein, gleichsam zu ewiger Haft in ihnen ver­ urteilt,15 prinzipiell nicht solle hinaustreten können. Hegels Kritik am Kantischen Dualismus von Form und Inhalt hat das Dogmatische an dieser Kantischen Konzeption aufgewiesen. »Die Formen«, so folgert Adorno, »sind nicht jenes Letzte, als das Kant sie beschrieb. Vermöge der Reziprozität zwischen ihnen und

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A.a.O., S. 378. A.a.O., S.385. A.a.O., S. 384. A.a.O., S. 378.

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dem seienden Inhalt entwickeln sie sich auch ihrerseits. Das ist jedoch unvereinbar mit der Konzeption des unzerstörbaren Blocks. Sind die Formen einmal, wie es in Wahrheit bereits der Auffassung vom Subjekt als ursprünglicher Apperzeption gemäß wäre, Momente einer Dynamik, so kann ihre positive Gestalt so wenig für alle künftige Erkenntnis stipuliert werden wie irgend­ einer der Inhalte, ohne die sic nicht sind und mit denen sie sich verändern.«'6 Es ist, als ob mit diesem Gedanken für Adorno sich ein schmaler Türspalt öffnete, durch welchen ein schwacher Lichtschein von der Erlösung her auf die verdunkelte Welt fiele, genug, um Kants metaphysischem Agnostizismus das Recht eines letzten Worts zu bestreiten. Statt »wir können es nicht wissen«: »wir wissen es noch nicht«. »Das naive Bewußtsein, dem wohl auch Goethe zuneigte: man wisse es noch nicht, aber vielleicht enträtsele es sich doch noch, ist an der metaphysischen Wahrheit näher als Kants Ignoramus.«17 Zwar hütet Adorno sich auch an dieser Stelle vor einem »Übergang zur Affirmation«,18 aber der Stellenwert seiner Überlegung ist dennoch eindeutig: der ge­ schichtliche Charakter der Erkenntnisformen dient ihm als Argu­ ment dafür, daß eine materialistisch verstandene Hoffnung auf Erlösung den Einspruch der aufgeklärten Vernunft nicht zu fürch­ ten braucht. Indes macht gerade Adornos Rückgriff auf ein Hegelsches Argu­ ment gegen Kant den Punkt sichtbar, an dem er Kant nicht kritisch über-, sondern vorkritisch «verbietet. Zwar kann der Hinweis auf die Möglichkeit einer zukünftigen Veränderung un­ serer Denk- und Anschauungsformen den Gedanken plausibel machen, daß das aporetische Verhältnis von Notwendigkeit und Unmöglichkeit der Metaphysik, so wie es sich für Adorno dar­ stellt, für die Philosophie nichts Letztes, nicht ihr letztes Wort sein muß: die Aporie könnte etwa zum Verschwinden kommen, indem die Philosophie über die Begriffe, Probleme oder Prämis­ sen hinauskommt, aus denen die Aporie mit scheinbarer Notwen­ digkeit resultierte, oder indem sie die Fragen neu formuliert, die scheinbar nur aporetische Antworten zuließen. Aber nur um den Preis philosophischer Naivität könnte man aus dem geschicht16 A.a.O., S. 378 f. 17 A.a.O., S. 279. 18 Vgl. a.a.O., S. 378. 21 I

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liehen Charakter unserer Denk- und Anschauungsformen schlie­ ßen, daß das Absolute als Versöhnung - oder daß die absolute Versöhnung - eine geschichtliche Wirklichkeit werden könnte. Wir können nämlich schon jetzt wissen, daß wir das, was wir als Wirkliches nicht einmal konsistent denken können, auch nicht als Wirkliches antizipieren können; daher könnte die Auflösung der Aporie, könnte die Enträtselung des Rätsels gerade das nicht be­ deuten, was Adorno als noch-nicht-seiendes Absolutes zu denken versucht: die Erfüllung einer messianischen Hoffnung durch Transfiguration der geschichtlichen Wirklichkeit. Würde sich die Hoffnung auf Erlösung in der Geschichte erfüllen, so wäre, was sich erfüllt hätte, nicht die Hoffnung auf Erlösung (sondern die auf ein erfülltes Leben). Wäre dagegen, was sich erfüllte, wirklich die Hoffnung auf Erlösung, so wäre hierdurch jedenfalls kein neuer Zustand der Geschichte bezeichnet. Es zeigt sich hier, daß Adornos Versuch, Marx’ Kritik der Reli­ gion durch eine materialistische Aneignung der Theologie zu überbieten, in einem unheilbaren Widerstreit zwischen materiali­ stischen und metaphysischen (sprich: theologischen) Motiven gefangen bleibt. Im Medium des Begriffs ließe sich dieser Wider­ streit nur auflösen durch den Rückgang zu einer vorkritischen Metaphysik. Aber alles, was Adorno je gedacht hat, ist gegen die Möglichkeit eines solchen Rückgangs gedacht. Deshalb konnte er den undenkbaren Gedanken der Versöhnung am Ende nur noch an die ästhetische Erfahrung überweisen. Da diese aber aus eige­ ner Kraft nicht beglaubigen kann, was der philosophischen Kritik nicht standhält, konnte Adorno andererseits doch nicht auf den Versuch verzichten, den ästhetisch verschlüsselten Versöhnungs­ gedanken auch philosophisch zu entschlüsseln. Negative Dialek­ tik und Ästhetische Theorie verweisen aporetisch aufeinander; in diesem aporetischen Verweisungszusammenhang aber zirkuliert in Wahrheit ein Stück - nicht kritisch geretteter, sondern - unauf­ gearbeiteter Metaphysik, das Adorno weder aufgeben noch offen einbekennen mochte.

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II.

Wenn, wie Adorno behauptet, der Wahrheitsbegriff unter den me­ taphysischen Begriffen der »oberste« ist, dann wird mit der Idee der Versöhnung auch der Wahrheitsbegriff unhaltbar, »Wahrheit« gleichsam ein Traum, den die Vernunft von sich selbst träumt. So hatte es schon Nietzsche gesehen, mit dem Adorno sich in den »Meditationen zur Metaphysik« insgeheim auseinandersetzt. Adornos Verteidigung des Wahrheitsbegriffs bedeutet im Hin­ blick auf Nietzsche den Versuch einer Umkehrung der Vorzei­ chen; man denke nur an Nietzsches bekannte Formulierung, »daß auch wir Erkennenden von heute, wir Gottlosen und Antimeta­ physiker, auch unser Feuer noch von dem Brande nehmen, den ein jahrtausendealter Glaube entzündet hat, jener ChristenGlaube, der auch der Glaube Platos war, daß Gott die Wahrheit ist, daß die Wahrheit göttlich ist...«19 Beiden, Nietzsche wie Adorno, geht es nicht um die gewöhnliche propositionale oder Tatsachenwahrheit; diese sollte nach Adorno vielmehr bloß »Richtigkeit« heißen, während Nietzsche sie, ganz analog, dem »Würfelspiel der Begriffe« zuordnet, innerhalb dessen »Wahrheit« heißt, »jeden Würfel so zu gebrauchen, wie er bezeichnet ist, ge­ nau seine Augen zu zählen, richtige Rubriken zu bilden und nie gegen die Kastenordnung und gegen die Reihenfolge der Rang­ klassen zu verstoßen«.20 Aber weshalb sollte, so möchte man aus der Sicht der modernen Sprachphilosophie fragen, ein solcher Wahrheitsbegriff nicht ausreichen? Ich werde auf diese Frage spä­ ter zurückkommen, möchte aber schon hier versuchen, eine vor­ läufige Antwort zu geben: »Wahrheit«, als eine dem »Würfelspiel der Begriffe« immanente Eigenschaft, ist pluralistisch; so viele Wahrheiten wie Sprachspiele, Paradigmen, Begriffssysteme oder Weltdeutungen. Wäre dies alles, wäre also jede Wahrheit »relativ« zu einem sprachlichen Bezugssystem, das als solches nicht noch einmal unter Gesichtspunkten der »Wahrheit« und »Unwahrheit« beurteilt werden könnte, so gäbe es nur Wahrheiten, aber nicht die Wahrheit. So leicht aber auch eine solche Schlußfolgerung einem modernen Relativisten von der Zunge gehen mag, so widersinnig

19 F. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, in: Werke, Bd.n (Hg. K. Schlechta), Darmstadt 1960, S. 208. 20 F. Nietzsche, »Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn«, in: Werke, Bd.ni, a.a.O., S. 315.

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muß sie erscheinen, wenn man ihre Konsequenzen bedenkt. Sie besagt ja, daß Wahrheit eine Frage der Perspektive ist, und jede Perspektive unter Gesichtspunkten der Wahrheit so gut wie jede andere. Dann aber kommt es »in Wahrheit« auf die Wahrheit nicht an; die Wahrheit, und mit ihr die Vernunft, wird radikal entwertet. Die Idee der Wahrheit wäre so etwas wie ein transzendentaler Schein, nämlich »die Art von Irrtum, ohne welche eine bestimmte Art von lebendigen Wesen nicht leben könnte«.21 Jeder Ge­ danke, auch jeder Gedanke Nietzsches, setzt diese Idee unver­ meidlich voraus, da es unmöglich ist, innerhalb eines sprachlichen Bezugssystems zu denken und zugleich, im Akt des Denkens, den Gedanken auf dieses sprachliche Bezugssystem zu relativieren. Gleichwohl wäre es das Denken selbst, das am Ende im Zeichen der Wahrheit die Idee der Wahrheit bestreiten müßte. Eine solche Kritik der Wahrheit im Namen der Wahrheit ließe sich zwar nicht ohne pragmatischen Selbstwiderspruch formulieren; aber dies al­ lein wäre noch kein Argument gegen sie, sofern die Kritik wirk­ lich eine unhaltbare Voraussetzung in der Idee der Wahrheit namhaft gemacht hätte. Wäre aber die Kritik richtig, so ließe sich auch der Verdacht, daß hinter dem Willen zur Wahrheit ein Wille zur Macht sich verberge, nicht mehr als unsinnig abtun. Nietzsche besaß Mut, Phantasie und Konsequenz genug, um die Folgepro­ bleme seiner Metaphysik-Kritik nicht zu verharmlosen; dies vor allem unterscheidet ihn von den meisten modernen Relativisten. Ich habe angedeutet, weshalb Adornos Versuch, mit der Idee der »Versöhnung« zugleich einen »starken« Wahrheitsbegriff gegen Nietzsche und den Positivismus zu retten, scheitern mußte. Die eigentlich interessante Frage ist aber, weshalb Adorno sich zu dem unmöglichen Versuch genötigt sah, ein marxistisches mit ei­ nem theologischen Motiv zusammenzuzwingen, um die Wahrheit zu retten. Ich glaube, die Antwort auf diese Frage ist, daß Adorno in seiner Kritik des »identifizierenden Denkens« sich so stark von Prämissen der Nietzscheschen Begriffskritik abhängig gemacht hatte, daß er deren Konsequenzen nur durch einen Gewaltstreich abwehren konnte. Die von Adorno postulierte Solidarität mit Me­ taphysik im Augenblick ihres Sturzes22 meint im Grunde Treue zur Idee der Wahrheit. Aber ist es wirklich so, daß wir der Meta-

21 F. Nietzsche, Werke, Bd.m, a.a.O., S. 844. 22 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, a.a.O., S. 400. 2I4

physik nicht entkommen können, solange wir an der Wahrheit fcsthalten? Und was hieße es genau, diese Frage mit >Ja< zu beant­ worten? Zwei Fragen, bei denen wir uns, wie es scheint, mit Adornos Antworten nicht zufrieden geben können. Ich möchte deshalb, um diese Fragen ein Stück weiter zu klären, kurz auf die Fortführung und Neuformulicrung von Adornos (und Nietz­ sches) Problematik in der neueren sprachphilosophischen Diskus­ sion, und zwar insbesondere bei Apel, Habermas und Derrida eingehen. Natürlich kann es sich bei den folgenden Verweisen nur um grobe Stilisierung handeln. Ich hoffe aber zumindest zu einer Präzisierung der beiden oben gestellten Fragen zu gelangen. Apel, Habermas und Derrida sind sich einig in der Kritik der Bewußtseinsphilosophie, der gegenüber sie die Sprachlichkeit der Vernunft und damit zugleich die sprachliche Konstitution des Be­ wußtseins zur Geltung bringen. Sie sind sich ferner einig darin, daß ein »starker« Wahrheitsbegriff in den Grundstrukturen der sprachlich verfaßten Vernunft angelegt ist. Während aber Apel und Habermas diesen Wahrheitsbegriff neu zu explizieren und hierdurch zugleich aus seiner Verschränkung mit der Tradition der Metaphysik herauszulösen versuchen, betrachtet Derrida den Wahrheitsbegriff als einen jener metaphysisch infizierten Grund­ begriffe — andere wären etwa »Bedeutung« und »Verstehen« —, die zwar, weil in die Grammatik unserer Sprachen eingebaut, unaus­ weichlich, die aber nichtsdestoweniger illusionär sind. Mich inter­ essiert hier vor allem der für unser Problem zentrale bedeutungs­ theoretische Aspekt von Derridas Philosophie, den er schon früh, in Auseinandersetzung mit der Husserlschen Phänomenologie und der strukturalistischen Sprachtheorie, ausgearbeitet hat. Un­ ter bedeutungstheoretischen Gesichtspunkten gibt es einige be­ merkenswerte Ähnlichkeiten zwischen Derridas Kritik an Hus­ serls Zeichentheorie in Die Stimme und das Phänomen und Wittgensteins Kritik an der Zeichentheorie des Tractatus in den Philosophischen Untersuchungen. In einem gewissen Sinne sind sogar die Schlußfolgerungen vergleichbar: Beide, Wittgenstein und Derrida, kritisieren die Vorstellung, daß sprachliche Zeichen gleichsam von einem Bewußtsein mit Bedeutung gefüllt und hier­ durch Träger von Bedeutungsmfentionen werden, und beide »ver­ orten« statt dessen sprachliche Bedeutungen (1) horizontal, im Verweisungszusammenhang einer Gesamtheit von sprachlichen Zeichen und (2) - vertikal - in einer prinzipiell unabschließbaren 215

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Iteration der 7.eichcnvertuendieng. Im Gegensatz zu Wittgenstein jedoch, der die Paradoxien der intentionalistischen Bedeutungs­ theorie auflöste, indem er den Begriff des Bedeutungsverstehens in terms eines praktischen Regelwissens erläuterte, hält Derrida am intentionalistischen Standard der »Präsenz« von Bedeutungen für ein Bewußtsein fest und gelangt, unter Benutzung dieses Stan­ dards, zu der Schlußfolgerung, daß die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke niemals einem Bewußtsein präsent sein kann, daß sie vielmehr »etwas« in der Kette der Iteration unendlich Aufgescho­ benes, von Kontext zu Kontext sich Entziehendes, konstitutiv von sich selbst Verschiedenes, kurz, daß sie nicht dasjenige »Et­ was« »ist«, als das sie in der Unterscheidung zwischen Zeichen und Bedeutung, zwischen Signifikant und Signifikat doch immer unterstellt werden muß; daß sie also, gemessen an dieser Unter­ stellung nicht(s) ist. Auf diese Weise werden die Begriffe der Bedeutung, des Sinns, des Verstehens, der Interpretation, der Kommunikation, des Zeichens usw., wird also das gesamte se­ mantische und hermeneutische Vokabular - von dem Derrida zu Recht unterstellt, daß es tief in der reflexiven Struktur unserer Sprachpraxis verankert ist - als Ort eines »transzendentalen Scheins« aufgewiesen, in dem Derrida den eigentlichen, den har­ ten Kern der Metaphysik sieht. Wieso der Metaphysik? Derridas Antwort bedeutet gewissermaßen eine Umkehrung der Wittgensteinschen Reflexion auf »Bedeutung«, »Sinn« und »Verstehen«. Derrida meint nämlich, daß in den Begriffen der Bedeutung, des Sinns, der Entzifferung eines Sinns, des Verstehens usw. die Ideen eines sich selbst transparenten Bewußtseins, eines vollständig prä­ senten Sinns, eines Endes der Entzifferungsarbeit, der Wahrheit als Unverborgenheit des Seins impliziert sind. Im scheinbar un­ schuldigen Begriff des Zeichens - der hier nur für ein ganzes Feld von Begriffen steht - sieht die Sprache selbst sich gleichsam immer schon sub specie acternitatis, träumt von einer Wahrheit, die »dem Spiel und der Ordnung des Zeichens entzogen« wäre, von einer Heimkehr aus dem »Exil« der Sprache.23 In der Unterscheidung zwischen (sinnlichem) Zeichen und (unsinnlicher) Bedeutung ist der Gegensatz zwischen sinnlicher und intelligibler Welt ange-

23 J. Derrida, »Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen«, in: ders., Die Schrift und die Diffe­ renz, Frankfurt 1972, S. 441. h

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legt24- im Gedanken einer dem Bewußtsein präsenten Bedeu­ tung und eines sich selbst in seinen Intentionen transparenten und »gegenwärtigen« Subjekts ist das Sein als »Präsenz« gedacht. Hierin aber entwirft sich das Denken als metaphysisches, fixiert auf die Ideen der Wahrheit, der Begründung, des Sinns, in denen die Sprache sich selbst auf ein invariantes Sein hin übersteigt. »Man könnte zeigen«, sagt Derrida, »daß alle Namen für Begrün­ dung, Prinzip oder Zentrum immer nur die Invariante einer Präsenz (eidos, arche, tclos, cnergeia, ousia (Essenz, Existenz, Substanz, Subjekt), aletheia, Transzendentalität, Bewußtsein, Gott, Mensch usw.) bezeichnet haben.«25 Dies aber, so Derrida, bedeutet zugleich, daß in der Grammatik unserer Sprache, insbe­ sondere der Sprache der Philosophie, »die metaphysische Einheit von Mensch und Gott, der Bezug des Menschen auf Gott, der Entwurf, wie Gott zu werden, als konstituierender Entwurf der menschlichen Wirklichkeit«26 immer schon vorausgesetzt ist. Aber diese Voraussetzung, diese in die Sprache eingesenkte »Onto-Theologie«, ist nichts als der transzendentale Schein, der von jenen Begriffen erzeugt wird, in denen die Sprache sich selbst denkt. Es versteht sich, daß eine Destruktion - oder »Dekonstruktion« der Metaphysik unter diesen Bedingungen nur möglich ist, wenn es dem Denken gelingt, die Metaphysik - und das ist die Sprache der Philosophie, die Sprache des Denkens - entgegen ihrer eige­ nen Schwerkraft in Bewegung zu versetzen. Dies ist der Sinn von Derridas Anstrengung, »durch den Begriff über den Begriff hin­ auszugelangen« — um Derridas Anti-Philosophie in Adornos Worten zu kennzeichnen. Anders als bei Adorno steht diese An­ strengung bei Derrida nicht im Zeichen der Solidarität mit einer stürzenden Metaphysik, sie zielt vielmehr, im Bewußtsein einer vorerst unvermeidlichen Komplizität mit der Metaphysik, auf de­ ren Sturz. Man könnte hier auch von einer Umkehrung der Vorzeichen sprechen; einer Umkehrung, die eigentlich eine Wieexistentialistische< Lesung der Gnosis« also das, was Jonas in seinem bahnbrechenden Werk über die Gnosis praktiziert hatte - »lädt«, so sagt er, »als zu ihrem natür­ lichen Gegenstück zum Versuch einer >gnostischen< Lesung des Existentialismus ein.«5 Nun erzählt Jonas diesen Mythos von der Erschaffung der Welt und vom - durch nichts garantierten - Werden Gottes im kriti1 H.Jonas, »Unsterblichkeit und heutige Existenz«, in: Zwischen Nichts und Ewigkeit. Drei Aufsätze zur Lehre vom Menschen, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1963. 2 A.a.O., S. 56. 3 H.Jonas, Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme, Frankfun am Main: Suhrkamp 1984, S. 47. 4 H.Jonas, »Gnosis, Existentialismus und Nihilismus«, in: Zwischen Nichts und Ewigkeit, a.a.O., S. 5 ff. j A.a.O., S. 6.

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sehen Geiste Kants: Diesem Mythos kann keine mögliche Er­ kenntnis entsprechen; es ist ein Mythos vom Ganzen der Welt jenseits aller möglichen Erkenntnis. Jonas geht sogar einen Schritt über Kant hinaus, der ja glaubte, die metaphysischen Ideen kri­ tisch, und das heißt auch: begrifflich rechtfertigen zu können. Da Jonas’ Mythos in gewissem Sinne den Platz besetzen soll, der in der Kantischen Philosophie durch den Zusammenhang zwischen der intelligiblen Welt und den Ideen von Gott, Freiheit und Un­ sterblichkeit bestimmt wird, besetzt dieser Mythos - »hypothe­ tisch«, wie Jonas sagt - zugleich den leergewordenen Platz der Metaphysik. In dieser Funktion aber läßt er sich nicht einmal mit derjenigen Art von Erkenntnisanspruch verbinden, den Kant für seine kritische Metaphysik immerhin noch erheben konnte: näm­ lich dem Anspruch auf eine kohärente begriffliche Explikation notwendiger metaphysischer Ideen. Was der Mythos sagen will, ist strictu sensu begrifflich unsagbar. »Solcherart«, sagt Jonas, »ist der hypothetische Mythus, von dem ich glauben möchte, er sei >wahr< - in dem Sinne, in dem durch gutes Glück ein Mythus eine Wahrheit schattenhaft andeuten mag, die notwendig unerkennbar und sogar, in direkten Begriffen, unsagbar ist, dennoch aber durch Selbstbckundungen in unserer tiefsten Erfahrung unsere Fähig­ keit in Anspruch nimmt, indirekt Rechenschaft von ihr zu geben in widerruflichen, anthropomorphen Bildern.«6 Das erkenntnis­ kritische Bewußtsein von der Transzendierung alles möglichen Wissens in dieser mythischen Erzählung ist somit bei Jonas ver­ knüpft mit einem sprachkritischen Bewußtsein von der - wört­ lichen - Unsagbarkeit dessen, was der Mythos zu sagen versucht. Nun sehe ich bei Jonas eine gewisse Spannung zwischen diesem sprachkritischen Bewußtsein von der Unsagbarkeit dessen, was der Mythos zu sagen versucht, und seinem Versuch, es gleichwohl philosophisch zu sagen. Was das erstere betrifft - das sprachkriti­ sche Bewußtsein von der Unsagbarkeit dessen, was der Mythos zu sagen versucht -, so repräsentiert es, wie ich glaube, eine nachKantische, radikalisierte Form der Metaphysik-Kritik, wie sie sich etwa durch die sprachkritischen Reflexionen Wittgensteins und Derridas exemplifizieren ließe; was das letztere betrifft-Jo­ nas’ tastenden Versuch, das begrifflich Unsagbare doch noch philosophisch einzuholen -, so verweist es auf die - vielleicht

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6 H.Jonas, »Unsterblichkeit und heutige Existenz«, a.a.O., S. $9. 251

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künftige - Möglichkeit einer Metaphysik, die die Kantische über­ bietend aufbewahren würde. Zwei Möglichkeiten einer Über­ schreitung Kants - und Hegels die einander, wie ich glaube, wechselseitig ausschließen. Diese Vermutung möchte ich ansatz­ weise begründen, und zwar in zwei Schritten: (1) Wenn der Mythos sagt, was »in direkten Begriffen unsagbar« ist, so heißt das zunächst: er ist ein Bild, ein Bild nicht des Men­ schen, sondern der Menschen-in-der-Welt. In solchen Bildern blitzt eine Wahrheit auf, aber wenn wir begrifflich zu sagen versu­ chen, was in ihnen aufblitzt, geraten wir notwendigerweise in Aporien und Widersprüche (das ist es ja, was gemeint ist, wenn wir sagen, daß das, was das Bild sagt, »begrifflich« unsagbar ist.) Daß das Bild anthropomorph ist, heißt hier ja nicht, daß es wie eine Metapher gebaut ist (die vielleicht Erkenntnis vermitteln kann), sondern daß es mit Worten operieren muß, die dem, was das Bild zum Ausdruck bringen soll, eo ipso unangemessen sind: Zwischen Gemeintem und Gesagtem besteht eine unüberbrück­ bare Kluft - nichts anderes meint das Wort »unsagbar«. Wir kennen freilich ein Paradigma, wo diese Kluft sich schließt, weil sie gleichsam ins Innere des Bildes verlegt wird und der Anspruch, mit dem Bild etwas sagen zu wollen, verschwindet: dies Para­ digma ist das ästhetische Bild. Ein Mythos wie der von Jonas, so meine Vermutung, ist nur als ein literarisches Bild möglich. Was soll das heißen? In seiner Korrespondenz mit Bultmann hat Jonas den Blick aufs Ganze der Welt, den sein Mythos entwirft, gegen den bei Bult­ mann angedeuteten metaphysik-kritischen Einwand verteidigt mit dem Argument, »daß die Ethik auf der Ontologie gegründet sein muß, das heißt: das Gesetz menschlichen Verhaltens aus der Natur des Ganzen abgeleitet werden muß«.7 Es geht ihm also letztlich um die Begründung der Ethik. Wenn nun sein Mythos bloß ein literarisches Bild wäre, so hieße das: Anders als beim Mythos mythologischer Zeiten kann von diesem, einem modernen Mythos, nicht erwartet werden, daß er zu einem für alle Menschen verbindlichen und unbefragten Verständnis- und Orientierungs­ horizont werden könnte. Gerade von diesem Schritt zur Moderne, durch welchen die ästhetischen Bilder die Orientierungskraft der mythologischen Bilder eingebüßt haben, ist schwer zu sehen, wie

7 H. Jonas, Zwischen Nichts und Ewigkeit^ a.a.O., Anhang, S. 71.

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er sich ohne Verrat an der Freiheit der Modernen sollte rückgängig machen lassen. Andererseits deutet sich im Bewußtsein der Unsagbarkeit dessen, was der Mythos sagen will, die Unmöglichkeit an, ihn in eine philosophische Theorie, in eine neue Metaphysik zu »übersetzen«. Dann wäre es aber eher der bildhafte Ausdruck eines ethischen Selbstverständnisses als dessen mögliche Begründung. Dies deutet Jonas selbst an, wenn er von der »Sicherheit wißbarer Normen« spricht, »die nach den Worten der Bibel unserem Herzen nicht fremd sind«.8 In der Tat scheint mir Jonas’ Mythos eine schöne bildhafte Erläuterung eines ethischen Selbstverständnisses zu sein, das seinen Grund nicht in diesem Bilde, sondern »in un­ serem Herzen«, d. h. in der Wirklichkeit und den Bedingungen un­ seres Zusammenlebens hat. Anders ausgedrückt: wo dies ethische Selbstvcrständnis nicht schon vorhanden und anderswie gegründet ist, wird es sich durch ontologische Argumente nicht herbeiführen lassen: warum, so könnte man ja fragen, sollte ich mich für das Schicksal der leidenden und werdenden Gottheit interessieren, wenn ich doch, wie Jonas meint, mit persönlicher Unsterblichkeit nicht rechnen darf? (2) In meinem zweiten Schritt möchte ich gewissermaßen die Ar­ gumentationsrichtung umkehren: Meine Vermutung ist jetzt, daß Jonas’ Mythos vom werdenden Gott, soweit er sich philoso­ phisch-begrifflich einholen läßt, ununterscheidbar wird von einer Position radikaler Endlichkeit. Was diesen Mythos vom werden­ den Gott, der sich in die Welt entäußert und hierbei sich selbst aufs Spiel setzt, gegenüber aller positiven Theologie so überzeu­ gend macht, ist, daß er mit der Endlichkeit der Menschen ernst macht und hierin ein Grundmotiv der modernen MetaphysikKritik seit Nietzsche in sich aufnimmt. Ich möchte insbesondere auf Jonas’ Antwort auf die Frage hinweisen, warum denn Gott »sich und sein Schicksal dem Treiben des ins Außen Explodieren­ den und damit den bloßen Chancen der darin beschlossenen Möglichkeiten unter den Bedingungen von Raum und Zeit«9 überließ. Jonas’ Antwort ist: »Eine erlaubte Vermutung ist, daß es geschah, weil nur im endlosen Spiel des Endlichen, in der Uner­ schöpflichkeit des Zufalls, in den Überraschungen des Ungeplan­ ten und in der Bedrängnis durch die Sterblichkeit, der Geist sich

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8 H. Jonas, »Unsterblichkeit und heutige Existenz«, a.a.O., S. 62. 9 H. Jonas, Materie, Geist und Schöpfung, Frankfurt am Main 1988, S. 56.

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selbst im Mannigfaltigen seiner Möglichkeiten erfahren kann, und daß die Gottheit dies wollte.«10 Diese Antwort nun läßt sich unschwer in ein Argument für eine radikale Endlichkeitsthese übersetzen: Zum Begriff des Geistes gehört, daß er an individuierte - endliche — Einzelwesen geknüpft ist; und zwar so, daß die Bedingungen der Natürlichkeit und Endlichkeit nicht nur eine Schranke des menschlichen Geistes und menschlicher Möglich­ keiten, sondern zugleich und in eins damit die Bedingungen der Möglichkeit all dessen bezeichnen, was wir »Geist«, »Erkennt­ nis«, »Wahrheit«, »guten Willen« oder auch »sprachlichen Sinn« nennen können. Wiederum finde ich einen ähnlichen Gedanken bei Jonas selbst; nämlich dort, wo er zu zeigen versucht, weshalb von den traditionellen Attributen der Gottheit das der Allmacht ihr nicht zugesprochen werden dürfe. »Absolute, totale Macht bedeutet Macht, die durch nichts begrenzt ist, nicht einmal durch die Existenz von etwas anderem überhaupt, etwas außer ihr selbst und von ihr Verschiedenem. Denn die bloße Existenz eines sol­ chen anderen würde schon eine Begrenzung darstellen, und die eine Macht müßte dies andere vernichten, um ihre Absolutheit zu bewahren. Absolute Macht hat dann in ihrer Einsamkeit keinen Gegenstand, auf den sie wirken könnte. Als gegenstandslose Macht aber ist sie machtlose Macht, die sich selbst aufhebt. >All« ist hier gleich >NullA11< ist hier gleich >Null

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rung eines bestehenden sozialen und territorialen Kontextes; deshalb ist es nie ein autonomes Bedeutungsuniversum; es hat sein Sein vielmehr in einem Verhältnis der Spannung, der Kommuni­ kation, des Konflikts oder der Korrespondenz mit einem natürli­ chen, sozialen und architektonischen Kontext. In einem bestimm­ ten Sinn sind die Grenzen der Werke der Architektur nicht klar definiert, weil ein Gebäude immer Teil eines Ensembles, einer Landschaft oder einer Stadtlandschaft ist. Gelungene Architektur ist Architektur, die in bezug auf ihren Kontext gelungen ist - eine beinahe triviale Wahrheit. Deshalb ist genaugenommen nie ein isoliertes Gebäude der Gegenstand ästhetischer Bewertung, Ob­ jekt der Bewertung ist vielmehr das Gebäude in seinem produkti­ ven Eingriff in einen natürlichen oder architektonischen Kontext, oder auch ein architektonisches Ensemble oder schließlich eine Stadtlandschaft. Im Gegensatz zu Bildern aber haben Werke der Architektur nicht nur keine klar bestimmten Grenzlinien, sie können auch nicht in derselben Weise wahrgenommen werden wie Bilder. Sinnliche Erfahrung eines Gebäudes bedeutet, um es und in ihm herumzugehen, eine Pluralität von Perspektiven ein­ zunehmen, sein Inneres mit seinem Äußeren in Beziehung zu setzen, ein Gefühl für das Material zu bekommen, die Bewegung des eigenen Körpers in einem artikulierten Raum zu erfahren; diese Erfahrung impliziert somit eine Aktivierung und Reaktion des ganzen Körpers sowie die Integration einer Pluralität von Per­ spektiven und Erfahrungen. Nicht nur das Objekt der Erfahrung ist ein räumliches und körperliches, auch die Erfahrung selbst wird zur räumlichen und körperlichen. Der Raum jedoch, der als artikulierter erfahren wird, ist immer ein sozialer Raum. Meine Wahrnehmungen, meine Selbsterfahrung sind nicht die meines na­ türlichen, sondern die meines sozialen Körpers. Die anderen sind mit mir in einem sozialen Raum präsent, der mit Bedeutungen aufgeladen oder bedeutungsarm sein kann, der Möglichkeiten oder Barrieren für intersubjektive Beziehungen in sich enthalten, unsere sozialen Erfahrungen komplexer oder ärmer machen, un­ sere Phantasie in Bewegung versetzen oder hemmen kann und der - last, but not least - unsere kollektive Erinnerung produktiv in sich aufheben und transformieren oder sie ignorieren und ab­ schneiden kann. Deshalb könnte man sagen, daß in den Werken der Architektur nicht nur Raum, sondern auch soziale und histo­ rische Zeit artikuliert wird. Die Artikulation des Raumes, der 266

immer ein sozialer Raum ist, in den Werken der Architektur bedeutet dann nicht nur, daß die Werke der Architektur eine bestimmte Lebensform ausdriieken, sondern auch, daß sic an der Konstitution und der Veränderung von Lebensformen parti­ zipieren; daß sie Welt nicht nur artikulieren, sondern auch er­ schließen. Nimmt man all diese Elemente zusammen - das Fehlen klarer Grenzen für die Werke der Architektur, den räumlichen und so­ zialen Charakter der sinnlichen Erfahrung von Gebäuden und Stadtlandschaftcn, die Verkörperung und Transformation von Le­ bensformen durch die Werke der Architektur -, dann kann es nicht überraschen, daß die moderne Revolution in der Architek­ tur schnell zu Visionen eines architektonischen »Gesamtkunst­ werks« der Zukunft geführt hat, das, van Doesburg zufolge, einzelne Formen autonomer Kunst überflüssig machen würde. Solche Visionen enthalten, wie es in Le Corbusiers utopischen Projekten manifest wird, ein Element technologischer Hybris. Denn die komplexe Interdependenz heterogener Elemente, die in den Prozeß des architektonischen Entwerfens und Planens einge­ hen, wird hier als kalkulierbarer Zusammenhang von Variablen in einem möglichen technologischen Projekt reinterpretiert; ästhe­ tischer Radikalismus wird in ein radikales Projekt ahistorischer Sozialtechnologie verkehrt. Wenn die Befreiung der modernen Architektur von den Fesseln traditioneller Technologie und tradi­ tioneller Ästhetik gelegentlich zu solchen selbstherrlichen Miß­ verständnissen der möglichen Rolle der Architekten in der modernen Welt geführt hat, dann ist dies meiner Meinung nach darauf zurückzuführen, daß die modernen Architekten sich selbst als zu zwei verschiedenen Produktionssphären zugehörig ent­ deckt haben: der der ästhetischen Avantgarde und der der moder­ nen Ingenieure. In beiden Rollen, der des Künstlers und der des Ingenieurs, konnten die Architekten sich als kreative Produzenten verstehen: als Schöpfer ästhetischer Objekte auf der einen Seite, als Produzenten gut konstruierter Maschinen auf der anderen. Und weil das Universum der Architektur zwischen diesen beiden Polen angesiedelt ist, und da dies Universum eines des sozialen Lebens selbst ist, muß es eine natürliche Versuchung gewesen sein, die beiden Rollen des Künstlers und des Ingenieurs mit dem Ziel, eine neue Lebensform zu kreieren, in sich zu vereinigen. Lebens­ formen können aber nicht gemacht werden, weder von Künstlern 267

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noch von Ingenieuren. Gleichwohl will ich versuchen, ein Wahr­ heitsmoment in dieser ästhetisch-technologischen Hybris der frü­ hen modernen Architekten zu verteidigen. Dieses Wahrheitsmo­ ment betrifft die Kombination von ästhetischem und technologi­ schem Modernismus in einer neuen Bestimmung der Architektur, die im vollen Bewußtsein des Eingriffs in bestehende soziale Räume interveniert. Natürlich war Architektur immer ein Ein­ griff in soziale und natürliche Räume; wie Bruno Reichlin betont hat, hielt Le Corbusier sogar die Architckturgeschichte von Paris für eine Abfolge von Katastrophen.6 In gewissem Sinne muß schon die Errichtung der ersten Hütte an einem norwegischen Fjord eine Art von Katastrophe gewesen sein. Dementsprechend könnte man sagen, daß jede architektonische Intervention in einen bestehenden natürlichen oder sozialen Raum Elemente des Bruchs und der Dekonstruktion einschließt. Um so wichtiger ist es, daß die Intervention im Bewußtsein der Folgen vollzogen wird. Dies bedeutet, daß eine wesentliche Verantwortung des Ar­ chitekten darin liegt, in der richtigen Weise einzugreifen, die Destruktion so konstruktiv wie möglich zu gestalten und eine produktive Richtung der Veränderung vorzugeben. Das Wahr­ heitsmoment, das sich, wie ich gesagt habe, in der ästhetisch­ technologischen Hybris einiger früher moderner Architekten ver­ birgt, betrifft dieses Bewußtsein der intervenierenden Rolle der Architektur, ein Bewußtsein von Möglichkeiten, den mensch­ lichen Lebensraum in der modernen Welt entweder zu humanisie­ ren oder zu zerstören. Denn eine bloße Bewahrung bestehender Lebensräume ist heute an keinem Ort der Welt eine realistische Alternative; und ich denke, es wäre nicht einmal eine attraktive Alternative, weil cs die Stillstellung unserer Zivilisation bedeuten würde, eine Blockierung der Phantasie und das Ende einer pro­ duktiven Auseinandersetzung mit der Welt. Bevor ich versuche, diese These mit dem Thema unseres Symposiums in Verbindung zu bringen, möchte ich noch einmal auf das Problem der »ästhe­ tischen Dimension« der Architektur zurückkommen.

6 Reichlin, Bruno: »L’esprit de Paris«, in: Arch+ 90/91, August 1987, S. $4.

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Ich habe dieses Problem an dem Punkt liegengclassen, wo klar wurde, daß die ästhetische Erfahrung von Werken der Architek­ tur, die sie als Kunstwerke wörtlich nähme wie Bilder oder Skulpturen, nicht nur eine Abstraktion von anderen Dimensionen unserer Erfahrung artikulierten und geformten Raums implizie­ ren würde, daß sic vielmehr eine verstümmelte ästhetische Erfah­ rung wäre. Gewiß, unsere Erfahrung der Welt ist immer eine »synästhetische« Erfahrung, und dieser synästhetischc Charakter der gewöhnlichen Erfahrung ist in der ästhetischen Erfahrung be­ wahrt und sogar gesteigert, selbst wenn der dominante Charakter eines Kunstwerks entweder visuell oder akustisch ist. In ästhe­ tischer Erfahrung sind alle unsere Sinne involviert und das ist der Grund, warum die Trennung zwischen Zeit- und Raumkünsten keine klargeschnittene ist, warum wir musikalische Metaphern zur Beschreibung von Bildern und visuelle Metaphern zur Be­ schreibung von Musikstücken verwenden. Ästhetische Erfahrung ist eine Erfahrung zweiter Ordnung: durch Kunstwerke erfahren wir unsere Erfahrung der Welt, sie sind Verdichtungen und Ob­ jektivierungen von Sinnkomplexen und eröffnen zugleich neue Weisen der Welterfahrung. Eine solche allgemeine Charakterisie­ rung der ästhetischen Erfahrung ist jedoch noch nicht ausreichend für die Charakterisierung der ästhetischen Erfahrung von Werken der Architektur. Denn Werke der Architektur sind nur insoweit Kunstwerke, als sie auch »wirkliche« Objekte sind, Objekte des Gebrauchs, Objekte, die als ästhetische zugleich einem bestimm­ ten sozialen, historischen und praktischen Kontext zugehören. Sie scheinen sich dem zu widersetzen, was Gadamer die »Abstraktion des ästhetischen Bewußtseins«7 genannt hat, d. h. genau demje­ nigen Begriff des »Ästhetischen«, wie er zum erstenmal klar von Kant artikuliert wurde und wie er in unserer Auffassung der Kunst als einer autonomen Wertsphäre wirksam ist. Nun hat schon Heidegger den griechischen Tempel als ein Paradigma für das We­ sen der Kunst gesehen, d. h. als Paradigma für eine Auffassung der Kunst, die das Kunstwerk nicht mehr als ein ästhetisches Objekt betrachtet, sondern als ein »Wahrheitsgeschehen«. Obwohl ich

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tional cases of indepcndcnce from prcfabricated opinions or of resistance against the indiffercncc of the many. That Arendt increasingly camc to considcr the faculty of judgement as an autonomous faculty, therefore does not merely rcflcct her indcbtedness to Kant’s philosophy, whose architectonics she was to rcly upon in her last work. It also reflects the fact that her thcory of autonomous judgement was, at the samc time, a theory of the corruption of judgement in our time, and was thus implicitly related to a pcssimistic theory of modemity. The autonomy of judgement manifests itself in those, who, in a world without gods, metaphysical certaintics, and ultimate values, resist the temptation to stop thinking and to succumb to the false consolations of ideology on the one hand, or to escapc into shcer conformism, on the other. It was in particular Arendt’s expcrience of Nazi-Germany which provided the negative background for her theory of judge­ ment. Not The Human Condition, but her book on totalitarianism and Eichmann in Jerusalem constitute the preparatory stages for her theory of judgement. This is true in a twofold sense: First, in both cases Arendt analyzes the condition of an utter corruption of judgement, where people, eithcr being in the grip of ideologies, or exchanging a discredited value System for a corrupt one, or out of sheer stupidity, become unable to perceive or to recognize what is going on. Arendt formulates the problem of personal responsibility under conditions of a collectively corrupted judgement- i.e. the problem of how the justice of the Nuremberg and the Eich­ mann trials were to be understood - in terms of the demand

»that human beings be capable of telling right from wrong even when all they have to guide them is their own judgement, which, moreover, hap­ pens to be completely at odds with what they must regard as the unanimous opinion of all those around them ... Those fcw who were still able to teil right from wrong went really on their own judgements, and they did so freely; there were no rules to be abided by, under which the particular cases with which they were confronted could be subsumed. They had to decide each instance as it arose, because no rules existed for the unprecedented.«2

The autonomy of judgement bccomes manifest in those, who without the support of socially accepted rules and values, nay, 2 H. Arendt, Eichmann in Jerusalem: A Report on the Banality of Evil. New York: Viking Press 1965, pp. 294-295; dt.: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. München: Piper 1964, S. 22f.

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against them are still able to teil right from wrong. Secondly, however, Arendt’s two books, besides providing the negative background for her theory of judgement, providc two powerful positive examples for the exercise of political judgement. Both books are paradigm cases of a non-conformist political Inter­ pretation of our time and both are written from the standpoint of a reflecting spectator. Therefore, one could say that Arendt’s theory of judgement is the attempt to give a philosophical account of the basic content of her two books as well as of her own way of Corning to grips with the problems discussed in these books. To be sure, both books are highly discursive. They try to argue for certain interpretations and only in this sense can be called exam­ ples of political judgement from a spectator’s point of view. Otherwise, they could not have become the topics of extended and sometimes heated public or scientific debate. Moreover, both books certainly do have implications as far as practical Orienta­ tions are concerned. Although they do not provide premises for a practical syllogism, one could not accept what they say as truc and yet act as a Neo-Nazi or a Stalinist. Therefore both books belong to a continuum of political discourse, occurring on many different levels. This discourse is not only concerned with the evaluation of past events, but affects future action as well. In the case of moral judgements it is even more obvious that there exists an unavoidable internal relationship to action, and not only past ones, as Arendt’s own examples show. That every actor is a potential spec­ tator, as Arendt admits, therefore not only means that he may become a judge after he acted; for certainly he may have been a moral judge before he acted. That judgement is possible only after the event, that the owl of Minerva begins to fly only after dusk, is therefore true only in the sense that the whole story can be told only after it is over. But is it ever over? It seems to me that Arendt’s own critique of a teleological conception of history implies that the spectator’s judgement is never final, that it is rather always woven back into the unfolding web of human action and is waiting for those, who will judge this judgement. But if this is indeed the case, would not an internal link between judgement, action and argumentation have been restored as a necessary consequence of Arendt’s attempt to rehabilitate the rational faculty of judgement? Although this might not be quite the recovery of an



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Aristotelian conccption of phronesis, it might well bc a modern, a post-Kantian equivalent of it. I think there arc several possiblc reasons why Arendt’s thought did not move in this direction. One, as Ronald Beiner has pointed out in his excellent Interpretation of Arendt’s theory of judgement, could have been that Arendt did not sce any prospccts for genuine action and for freedom in our world. Another could have been that Arendt’s own theory of action, as she developed it in The Human Condition, did not - contrary to appearances - allow for such a move. Arendt was never able to explain what thc Con­ tent of genuine political action could be, since for her everything related to the material reproduction of society - to the societal sphere of labour and to material interests - had to be conceivcd of as lying outside the sphere of political action proper. Since, however, even under conditions of a democratic polity political action and political debate can get their content, their theme, their »about« only from thc ongoing life process of society, it appears that no form of political praxis could ever correspond to Arendt’s model of action. Or rather, what Arendt called action could only be exemplified either by the revolutionary action of those who found a democratic polity, or by the quasi-actions of those disinterested spectators, who try to form and publicly express an impartial judgement about what has happened in the sphere of action in the ordinary sense of the word. Paradoxically, it is a consequence of Arendt’s own theory of action that the judging activity of the disintercsted spectator may in the end become the only genuine form of political action. There would therefore be no place for an internal relationship between political judgement, political discourse and political action in her theory of action. A third reason for Arendt’s reluctance to move in the direction I have indicated could finally be that the Kantian framework of concepts from which she borrowed the term judgement, and in terms of which she tried to articulate her own theory of judge­ ment, did not provide her with the conceptual »space« to weave the different thrcads of her theory together. This has been suggested by several of her critics like Bernstein, Habermas or Beiner. To be sure, I do not really believe that Arendt’s Kantianism gives us the explanation for the impasses of her theory; or rather, I think it could as well be argued that she chose Kant — and it was, as everybody knows, a free extrapolation from Kant - because it was 3'3

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I in Kant that she found what she needed for her theory of judge­ ment. Neverthelcss I believe that it might be Arendt’s Kantianism - her latent orthodox Kantianism, as it were - which defines the Ümits of her thcory. I want to explore this possibility in what follows. I will attempt to show that Arendt, in trying to overcome certain limitations of Kant’s practical philosophy, remained fixated on basic presuppositions underlying these limitations, presuppositions which concern a scientistic conception of truth and a formalistic notion of rationality. This is why Arendt, in her attempt to uncover Kant’s unwrittcn political philosophy, could not operate from within his practical philosophy, which she rathcr dismissed altogether. Instead she could only refer to the critiquc of aesthetic judgement as the place in the Kantian System that allows for judgements which are neithcr arbitrary nor compelling for every rational being, and where the idca of the validity of judgements is explicitly tied to the idea of an intersubjective agrecment among a plurality of sensuous and worldly beings. Given the contextual presuppositions of Kant’s notion of aesthetic judgement, however, there remains a gulf between »logical« and aesthetic judge­ ments: the former, the intersubjective validity of which springs from concepts, are susceptible to rational argument; the latter, which are not based on definite concepts, are not open to argu­ ment, but only to »contention«. Now it is this very distinction between conceptual or objective and non-conceptual or subjective general validity, and the corresponding distinction between judgements open to argument or dispute (which, according to Kant, allow for a »decision by means of proof«) and judgements which are only open to »contention«, which might be put into question. Since Arendt, however, did not herseif question these distinctions, her attempt to remove the problematic of political and moral judgement from the context of Kant’s practical philo­ sophy and assimilate it to the problematic of aesthetic judgement, was bound to result in what I would call a mythology of judge­ ment- a mythology of judgement, since the faculty of judgement now begins to emerge as the somewhat mysterious faculty to hit upon the truth when therc is no context of possible arguments by which truth claims could be redeemed. Of course, Arendt would not speak of »truth« here. However, the word does not matter as long as it is clear that what is at stäke is a claim to intersubjective

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both thinkers must have feit a desperate disproportion between their attempt to defend reason on the one hand, and the reality of a dc-humanized world on the other. I rather believe that in both cases an undissolved residue of the philosophical tradition, which they criticized, was operative in their thinking and forced them into paradoxical constructions. Let me, then, try to clarify some of those Kantian presuppositions which I think prevented Arendt from pursuing the internal relations between judgement and rational argument. Moreover, I wish to indicate how this relationship may be understood, once those presuppositions are questioned.

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Kant, as Arendt has pointed out, uses the term »reflective judge­ ment« in a rather broad sense. It can only somewhat deceptively be rendered by the usual definition, according to which reflective judgement allows us to find a universal or a universal rule under which a given particular can be subsumed. This definition has the advantage, though, that it points to the role of Imagination in reflective judgement. It therefore indicates the Creative dimension of language use which is always involved when we have to find appropriate descriptions, words, problem-formulations, explanations or rules to fit a given Situation and which do not lic ready at hand when we start to reflect on such situations. It seems, however, that Kant did not really pursue this line of thinking, which is suggested by his definition of reflective judgement, very far. And it might well be the case that to pursue it seriously would undermine the conceptual framework of a philosophy of consciousness. In the decisive passages of the Critique of Judgement reflective judgement in its broader sense is related to what Kant calls an »enlarged mind«; the »maxim« of judgement is »to think from the standpoint of everyone eise«, or, as he also puts it, to »reflect upon one’s own judgement from a universal standpoint«. Both quotations are from the § 40 of the Critique ofJudgement on »Taste as a kind of sensus communis«, which became central to Arendt’s reflections on political judgement. I want to quote one of the crucial passages at length:

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»However, by the name sensus communis is to bc undcrstood the idca of a public sense, i.e. a critical faculty which in its reflective act takcs account (a priori) of the mode of representation of everyone eise, in order, as it were, to weigh its judgement with the collective reason of mankind, and thereby avoid the illusion arising from subjective and personal conditions which would readily be taken for objective, an illusion that would exert a prejudicial influence upon its judgement. This is accomplished by weighing the judgement, not so much with actual, as rather with the merely possible, judgements of others, and by putting ourselves in the position of everyone eise, as the result of a mere abstraction from the limitations which contingently affect our own estimate.«4

That Kant does not only refer to aesthetic judgement here, becomes clear from other remarks in the same paragraph, but also from remarks he made in letters to Markus Herz, from which Arendt has quoted in her lectures on Kant’s political philosophy. I want to give one of these quotations, in which Kant even hints at something like a dialcctical progress in argumentation: »You know that I do not approach reasonable objcctions with the intention merely of refuting them, but that in thinking them over I always wcave them into my judgements, and afford them the opportunity of over-, turning all my most cherished beliefs. I entertain the hope that by thus viewing my judgements impartially from the standpoint of others some third view that will improve upon my previous insight may be obtainablc.«5

4 I. Kant, The Critique of Judgement (transl. J. C. Meredith), Oxford: Clarendon Press 1952, p. 151; dt.: Kritik der Urteilskraft, Werke, Bd. 5 (Hg. W. Weischedel), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1959, S. 389 (»Unter dem sensus communis aber muß man die Idee eines gemeinschaftlichen Sinnes, d.i. eines Beurteilungsvermögens verstehen, welches in seiner Reflexion auf die Vorstellungsart jedes andern in Ge­ danken (a priori) Rücksicht nimmt, um gleichsam an die gesamte Menschenvernunft sein Urteil zu halten, und dadurch der Illusion zu entgehen, die aus subjektiven Privatbedingungen, welche leicht für ob­ jektiv gehalten werden konnten, auf das Urteil nachteiligen Einfluß haben würde. Dieses geschieht nun dadurch, daß man sein Urteil an anderer, nicht sowohl wirkliche, als vielmehr bloß mögliche Urteile hält, und sich in die Stelle jedes andern versetzt, indem man bloß von den Beschränkungen, die unserer eigenen Beurteilung zufälliger Weise anhängen, abstrahiert.«) 5 Quoted from H. Arendt, Lectures on Kant's Political Philosophy, ed. by R. Beiner. Chicago: The University of Chicago Press 1982, p.42; dt.: Das Urteilen. Texte zu Kants Politischer Philosophie (Hg. R. Beiner), München: Piper 1985, S. 59. (Siehe Kant's Briefwechsel, Bd. 1, Kant's 3’7

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Here wc have thc germ of a notion of reflcctive judgement which would be intimately related to a conception of rational argumentation, potentially covering the whole field of possible intersubjectivc validity Claims. But Arendt did not draw this conclusion, and in this, as we shall see, she was faithful to Kant, even against his own explicit intentions. But let us first corne back to Arendt. The autonomy of judgement as she conceives it is articulated in terms of a sharp Opposition between thinking and judging, on the one side, and Cognition and truth, on the other. »Truth«, Arendt writes, »is what we are compelled to admit by the nature either of our senses or of our brain.«6 This Statement is amazingly in accord with modern mainstream epistemology, even if in naturalistic disguise. The »brain« Stands for logical deduction and demonstration, the »senses« for empirical evidcnce or sensual Intuition. This is the monological conception of Cognition and rationality, which runs through modern philosophy from early empiricism via Kant to Husserl, to the early Wittgenstein and twentieth Century empiricism. As everything of importance for her lies outside this sphere of Cognition and truth, Arendt does not even care aboüt sticking to a transcendental formulation of this position. What Arendt accepts above all from thc cpistemological tradition of modern philosophy, is the model of a singulär cognitive subject (or organism) confronting an external world which leaves its imprints in the internal representations of this subject, the corresponding primacy of Cognition over language, and the idea of rational compulsion or logical proof. The problem with this set of premises is that they are philosophically mistaken, because, to put it in a nutshell, they ignore the fact that even our senses and our brain are symbolically structured and thus part of an intersubjective world opened up by speech. Therefore not even Gesammelte Schriften, Bd. X (Hg. Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften), Berlin/Leipzig: de Gruyter 1922, S. n6f.: »Daß ver­ nünftige Einwürfe von mir nicht blos von der Seite angesehen werden wie sie zu wicderlegen seyn könten sondern daß ich sie jederzeit beym Nachdenken unter meine Urtheile webe und ihnen das Recht lasse alle vorgefaßte Meinungen die ich sonst beliebt hatte über den Haufen zu werfen, das wissen sie. Ich hoffe immer dadurch daß ich meine Urtheile aus dem Standpunkte anderer unpartheyisch ansehe etwas drittes her­ auszubekommen was besser ist als mein vorigtes.«) 6 H. Arendt, Thinking, loc. cit., p. 61; dt.: Das Denken, a.a.O., S. 70. 318

cognition in Arendt’s sense - i.e. scientific Cognition - can be understood in tcrms of the compelling force of unintcrpreted intuitions or the compelling force of a worldless, i.e. specchless logic. This much has certainly bccome clcar in the often puzzling debate about paradigm shifts in Science. Since Arendt accepts a questionable epistemological model of cognition from the philosophical tradition, she must locate the human world, i.e. the common world of men opened up by Speech, the world of politics and poetry, of thinking and judging, beyond or above the sphere of cognition. But this is again something like a world of action beyond or above a sphere of labour and work. More importantly, since the strategically crucial concepts of truth and rational compulsion have been handed over, as it were, to the extraworldly subjects of cognition, those rational activities, which for Arendt are the truly humane ones - thinking and judging -, can only be characterized by a series of negations: Thinking has no definite rcsults (as cognition has), it is destructive (rather than constructive); judgement is not compelling (as truth is) and is not arrived at by moving within a rule governed calculus (as logical conclusions are). What Arendt fails to see, however, is that with these negative characterizations of thinking and judging not only a legitimate boundary line has been drawn with respect to scientific and in­ strumental rationality, but that the whole field of conceptions, which we need to articulate an idea of discursive reason, has been ceded to Science and technology, which in fact had occupied this whole field of conceptions in modern times. The Opposition of »meaning« versus »truth«, on which Arendt relies to reclaim the idea of reason for the field of thinking and for the field of human affairs, is not sufficient to mark a distinction between poetry and discursive reason, between good and bad judgement, or between the merely excentric and the intersubjectively valid. Arendt accused Kant of using the notion of truth in the field of speculative reason, thereby assimilating thinking to truth. Some­ thing similar could have been said by the early Wittgenstein and, obviously, by Heidegger or Jaspers. And certainly Arendt was right in pointing to an inconsistency in Kant’s thought: given his conception of knowledge, his idea of a future System of metaphysics appears as a scientistic aberration. Criticizing Kant, Arendt remains faithful to his concept of cognition and to his formal conception of rationality. These Kantian conceptions of

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Cognition and of rationality, however, also affect his - and Arcndt’s - conccption of judgement. Since Kant conceives the subjcct of cognition as well as thc subject of moral reasoning in a monological way, therc is no real place for the cxcrcisc of judge­ ment - exccpt for a marginal or a transcendental one - within the spheres of cognition and morality in Kant’s philosophy. Judging as a cognitive or a moral subject for Kant is equivalent to »thinking from thc standpoint of everybody eise«. When we apply the categories of pure understanding to sensuous phenomena or judge our maxims in thc light of the Categorical Imperative, we eo ipso think from a »universal standpoint« — the universal standpoint being defined by the universal forms of cognition or the »form of lawfulncss« of our maxims. Kant continues the passage concerning the »sensus communis« which I have quoted above: »This (i.e. the weighing of our judgements with the possible judgements of others, A.W.)... is effectcd by so far as possible letting go the clement of matter, i.e. of Sensation, in our general state of representative activity, and confining attention to the formal peculiarities of our representation or general state of representative activity.«7 Although Kant already speaks here of aesthetic judge­ ment, the sentence indicates that thinking from a universal standpoint is intimately connected for him with the distinction between matter and form. The formal clement represents what is not merely subjective and what therefore belongs to a universal standpoint; in the case of empirieal cognition and of moral judge­ ment, however, the conformity to the universal form of thinkingto the form of lawfulness - is brought about essentially by the categories of pure understanding and the Categorical Imperative respectively. In both cases, therefore, the faculty of judgement could only play a subordinate or secondary role. Arendt accepted the first part of Kant’s solution but not the second. As far as moral judgement is concerned, she was too clearly aware that Kant’s formal-monological conception of moral judge­ ment cannot work as it Stands; and 1 think she had good reasons to 7 I. Kant, The Critique ofJudgement, loc. cit.; dt.: Kritik der Urteilskraft, a.a.O., S. 389 f. (»Welches (d.h., daß man sein Urteil an anderer mög­ liche Urteile hält, A.W.) [...] dadurch bewirkt wird, daß man das, was in dem Vorstellungszustande Materie, d.i. Empfindung ist, so viel mög­ lich wegläßt, und lediglich auf die formalen Eigentümlichkeiten seiner Vorstellung, oder seines Vorstellungszustandes, Acht hat.«)

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read Kant’s conception of reflcctive judgcmcnt back, as it were, into his moral philosophy. Howevcr, shc then stuck to Kant’s monological concept of cognition and his formal conception of rationality, i.c. to the conceptual presuppositions in terms of which Kant’s notion of rcflective judgement is articulated. Therefore Arendt could not use the notion of rcflective judgement to uncover a suppressed dialogical dimension of Kant’s conception of practical reason, but only to assimilate moral - and political judgement to aesthetic judgement. Arendt remains entrapped within an epistemological framework, from the perspective of which physical Science must appear as the paradigm of knowledge, physical facts as the paradigm of factuality and logical demonstration as the paradigm of rational argument; correlatively, the activities of thinking and judging must appear as lying outside the sphere of cognition, truth and rational argument prop­ er. If truth is, »what we are compelled to admit by the naturc eithcr of our senses or of our brain«, then truth is speechless, beyond or below Speech, while thinking and judging, the truly humane faculties, because they depend on speech, i.e. on a plurality of human beings, are beyond truth. Now Arendt, as is well known, always liked to start with sharp analytical distinctions, and her distinction between a sphere of cognition and truth, on the one hand, and the sphere of thinking and judging, on the other, might be considered as just being one of those analytical distinctions. Arendt hersclf wams us against hypostatizing this analytical distinction, when she points out that the sphere of cognition itself is shot through with elements of thinking and therefore, as one might conclude, cannot really correspond to the monological concept of cognition which she takes over from the epistemological tradition. On the other hand, one might argue that there does exist an internal relationship between the logic of modern natural Science, on the one hand, and a mono­ logical concept of cognition, on the other. The point, therefore, would not be to dismiss Arendt’s distinctions altogether, but only to look at them from a different perspective, which no longer forces us to oppose the domains of thinking and judging - i.e. the domain of human affairs and of critical thought - to the sphere of rational argument proper through a series of negations. We could takc the debate about paradigm shifts in Science as a starting point for indicating such a new perspective. What this debate has shown

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is, — not that rclativism is truc even for Science, but - that even physical Science does not correspond to that epistemological paradigm linking truth and Cognition with calculative rationality, which Arendt accepts - following a long tradition. However, if no formal account can be given of rational argument even with respect to physical Science, we may well turn the tables and try to understand the peculiar rationality of Science from the vantage point of a broader conception of rationality. Such a conception of rationality would allow us to recognize the internal relationship between different kinds of intersubjective validity claims - e.g., moral, aesthetic or scientific - and corresponding forms of argumentation, and the internal relationships, by which the different spheres of validity are also connected with each other. Rational argumentation - what we call argumentation - rarely corresponds in actuality to the model of deductive or inductive reasoning (where ultimate premises are either given by Intuition, empirical evidence, construction or mere fiat), which has been so widely accepted as a model of rationality in modern philosophy. Argu­ ments always operate in contexts, which are not organizcd in a linear, but in a holistic way. The compelling force of arguments is therefore always dependent on contextual presuppositions which themselves may be questioned as the argument goes on. This does not only mean that rational discourse cannot rest on ultimate pre­ mises which in principle could not be questioned, but also, and more specifically, that there are no universal and a priori criteria of what would count as a good argument in specific contexts. Moreover, arguments often have their own context of explication, through which thcy attain their specific meaning and their specific force, if they have any. This means, however, that an intersubjec­ tive System of fixed meanings, i.e. a common language, which for the formalist tradition always was an unquestioned presupposition and a condition of the possibility of rational argument, may be as much the result of rational discourse as it is its - always partially realized - starting point. What the debate about paradigm shifts in Science has shown is that the deductive or calcula­ tive model of reasoning collapses whenever the presupposition of a stable and transparent intersubjective meaning System is put into question. But this is precisely one of the points where argument becomes necessary. Rational discourse, understood in this way and I think it is the way in which we do understand it when we

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begin to argue -, would not least be an attempt to restore an intersubjective agreement which in the calculative model is always taken for granted (or taken as something to be brought about before we can begin to argue). Kuhn’s original distinction between the rationality of »normal Science« and the somehow irrational, rhetorical, or merely persuasive character of interparadigm debates, still presupposes this calculative model of rationality. The interesting parallel to Arendt is that again only negative characterizations - as far as rationality is concerned - are available for the description of a non-formalizable type of discourse. in. Once the presuppositions of the modern epistemological - empiricist-rationalist — tradition have been put into question, we can begin to redefine the role of the faculty of judgement, since now a broader conception of rationality will provide us with the missing link between the notion of judgement and the idea of intersubjective agreement. A philosophical strategy like this also underlies Habermas’ theory of discursive rationality. If the validity of judgements could be explained in the Habermasian sense as the possibility of a consensus brought about by arguments, then the faculty of judgement would just be the faculty to hit upon what also could be agreed upon in a rational consensus; and this faculty would certainly be inexplicable without some internal relation­ ship to an ability to argue and dcliberate well. So the Aristotelian Connection between phronesis and deliberation would have been restored in a post-Kantian philosophical framework. I shall not, however, follow Habermas directly. For I think it can be shown that a procedural conception of rationality like that of Habermas, linked to a consensus theory of truth, ultimately requires the reintroduction of an autonomous faculty of judgement to become intelligible: a consensus brought about under conditions of an ideal speech-situation can be a criterion of truth only, if a sufficiently devcloped faculty of judgement of all participants is presupposed. Of course, it might be suspected, then, that it is the very attempt to set up a formal Standard of intersubjective validity which gives rise to the postulate of an autonomous faculty of judgement - as it did already for Kant. If we want to prevent the whole problem from re-emerging, as it were, behind our back, we 323

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would therefore have to give up the attempt to ground the idea of rationality in some sort of formal-universal Standard of intersubjective validity. The same point could also be put in a positive way: we could now understand the faculty of judgement as a place-holder for a conception of rationality and of intersiibjective validity respectively, for which no Overall formal criterion and no overall formal explanation can be given. It seems to me that this would be in fact the only viable conception of rationality, indistinguishablc from that of discursive reason. This, to be sure, is an idea of discursive reason which can only be understood and prac­ ticed from within, from wherever we happen to be, with the Standards, criteria and arguments which are available to «s, while we know these Standards, criteria and arguments may be questioned - although we may have no reason to question them — as time goes on. The only criteria of validity we have are those we happen to have, inherited from an existing culture of reason. The next day may well show us that the only rational thing is to abandon or modify some of them; however, there can be no outside criterion of truth and we don’t need any. Needless to say, this has nothing to do with relativism, since the idea of intersubjective validity is still tied to that of a rational agreement. This idea of a rational agreement, however, no longer refers to a point outside history or at the end of history. Discursive reason only exists as »situated« reason, to use Benhabib’s expression, and this pertains to its uniting and reconciling as well as to its disruptive and subversive force. If, however, we conceive reason or rationality in the broad sense I have suggested and yet allow it to be »situated«, then the faculty of judgement loses its independent Status as well as some of its mysterious character; it would simply be a faculty to hit upon the truth in situations where it is not easy to do so, or where - depending on the Situation - experience, character, imagination, or courage is required. The goodness of judgement, however, could only prove itself by a judgement’s being confirmed through either experience, or arguments, or - connected with these two the independent judgement of others. Disregarding for a moment Kant’s distinction between reflective and determinant judgement - the latter being, I would claim, basically a matter of know-how in about the sense in which rule-following is for Wittgenstein -, the decisive point could be put as follows: If we say of somebody that he or she has good judgement - about the character of per-

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sons, in political matters, in mattcrs of art, with rcgard to moral or practical problems or as a legal or medical expert -, we are implying that his or her judgement has proven to be right either in a particular instance or in rnany cases. We say this, judging somebody’s judgement, after having convinced ourselves in quite ordinary ways that he or she has often been right, has often analyzed complex situations in the right way, has often seen at once what nobody eise could see, or has often come up with the right argument at the right time. This certainly is a faculty, the value of which cannot be overestimated, a faculty, moreover, which Arendt herseif seems to have had in an extraordinary degree with respect to political and moral matters. But we can call it an autonomous faculty in Arendt’s sense only if we dissociate it from its natural context of rational argumentation. Good judgements must have the internal capacity of revealing themselves as good and to convince »everybody eise«. This brings me back to my initial reflcctions on the Status of the faculty of judgement in Arendt’s thcory. How do we explain the functioning of judgement when a context of rational argumenta­ tion no longer exists? Or, to put it in more general terms: how do we account for the fact that the practical power of rational argument can sometimes be very limited indeed, so that valid judge­ ments may not convince anybody? Here, I think, the response must be the following: Why do we call these judgements valid? Is it not because they convinced «s? I think there is nothing mysterious in somebody’s hitting upon the truth or doing the right thing while others are unable to see that this is the truth or that this is the right thing - either because they lack courage, Imagination, or expericnce, or because their whole form of life has been corrupted. Stupidity, cowardice, self-deception and irrationality are as much elements of human life as the faculty of reason; we do not need to postulate an autonomous faculty of judgement to account for the fact that the formet do not always win over. What we do need, and here I agree with Beiner - as well as with Arendt and Kant are institutional conditions under which everybody has a chance to develop his or her political, moral, or aesthetic judge­ ment; for these are the only conditions under which a political, moral, or aesthetic culture can exist, and therefore the only soil, as it were, from which good judgement may still spring in those moments when the world is in shambles.

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As a conclusion, I want to illustrate my main argument by saying something about moral judgemcnt and moral discourse. I want to show how from a Kantian starting point in moral philosophy one could give an account of moral judgement, which might be considered as — if I may use this term - a »rational reconstruction« of Arendt’s attempt to read a conception of »moral taste« into Kant’s idea of the functioning of practical reason. Kant’s moral philoso­ phy may be summed up by the following Statement: »We must be able to will that a maxim of our action should become a universal law — this is the canon for all moral judgement of action.«8 Now I think that Kant’s principle of moral judgement makes sense only, if we understand it in a »negative« way: We ought not to act in a certain way if we cannot will the maxim of our action to become a universal law.9 Thus, we ought not to teil a lie to get out of a difficult Situation, because the corresponding maxim can­ not be universalized (i.e. I cannot will it to become a universal law). This is a very simple idea indeed, which Kant thought, with good reasons, every ordinary human being could grasp. Because of his tendency to give his moral philosophy a formalistic twist, however, Kant did not pay much attention to the fact that the right application of his formalprinciple of morality in more complex situations cannot be a matter of course. That is, Kant dismissed the problem of the possible intersubjective validity of our moral judgements, because here, as always, he took theformal criterion at the same time to be a criterion of intersubjective valid­ ity: Applying the Categorical Imperative, I am judging - as a noumenal Ego - from a universal standpoint. What may be called the rigid formalism of Kantian ethics, which comes to the fore, for example, in his discussion of an »alleged right to lie for phil8 I. Kant, Groundwork of the Metaphysics of Morals (transl. H.J. Paton), New York: Harper & Row 1964, p.91; dt.: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Werke, a.a.O., Bd. 4, S. 54 (»Man muß wollen können, daß eine Maxime unserer Handlung ein allgemeines Gesetz werde: dies ist der Kanon der moralischen Beurteilung derselben über­ haupt.«) 9 See A.Wellmer, Ethik und Dialog, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986, p. 21 ff. 326

anthropic reasons«,10 is the direct expression of this prcsupposition. Now if we takc the »negativistic« intcrpretation of the Categorical Imperative, which I have suggested, for grantcd, the problem of moral judgement as it has been left open by Kant could be stated in the following way: In complex situations, or in situations, in which our moral judgement is not unambiguously supportcd by an existing moral culture, it may not be obvious which maxims or which ways-of-acting-in-this-situation - are not universalizable in an intersubjective sense of the word. A maxim’s not being universalizable in an intersubjective sense of the word means that we cannot will it to become a universal law. Which ways of acting l cannot will to become a universal law, depends on how I describc a specific Situation and the alternatives of action open to me; for example, it makes a tremendous differcnce whether I describe a specific action as handing over a fugitive person to the legal authorities, who are searching for him, or whether I describe it as abandoning a helpless and innocent person to a band of terrorists, called police. Both descriptions can be the right ones, depending on the Situation. But in a specific Situation at most one of them can be the right one. Depending on the description I choose, the particular way of acting, which is at stäke, will be or will not be universalizable for me. This shows, however, that the problem of moral judgement is not so much a problem of universalization as such, >but rather a problem of getting the relevant facts of the Situation right; i.e. of interpreting the Situation as well as the available alternatives of action in the right way. The right way would be the way in which »everybody eise«, who tries to form an impartial judgement, would Interpret this Situation. I mention only in passing, that an Interpretation of a Situation of action can obviously be the right one only if it takes the different perspectives of the concrete actors involved into account. Pösing the problem of the intersubjective validity of moral judgement therefore also makes the suppressed dialogical dimension of Kantian ethics visible. However, what I want to point to mainly is: (1) that if we see a Situation of action in the right way, we usually have no choice, 10 I. Kant, »Über ein vermeintliches Recht, aus Menschenliebe zu lügen», in: Werke, a.a.O., Bd.4, pp. 637-643.

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morally spcaking; (2) that we can and do argue about whether the interpretation of specific situations is the right one; and (3) that moral discourse takes place to a large extent as discourse about the »facts« in the widest possible sense. Again we nced not be worried about the fact that there are no ultimatc criteria of what the right description of a Situation of action would be; as long as we are in situations (and not philosophizing), we usually know quite well how to go about arguing for or against certain interpretations, although there are also cases, where things are so complicated that we may be unable to make up our mind. Practically speaking, there are, of course, Ümits of rational argument; but, as Bciner has pointed out, we cannot consider these practical Ümits of rational argument as limits in principle as long as we distinguish between true and false and think that we do have arguments. I want, however, to point to one specific limit of rational argument which, I think, might have induced Arendt to postulate an autonomous faculty of judgement. I think that all of us, or at least most of us, sometimes close our eyes to the facts of a Situation, project our idiosyncratic conditions upon the other, are unable - for lack of Imagination or good will - to take the perspective of the other into account, or are unaware of our own motivations. What can prevent this from happening on a large scale or even collectively, is a moral culture which certainly also requires good institutions. Now in many of the cases I have mcntioned rational argument does not work because we do not want to recognize the truth. This not wanting to recognize the truth, however, goes well together with what I would call moral self-interest, i.e. the interest of having a good moral opinion of ourselves. The false generalities and social cliches, which Arendt was criticizing, may often act as a mediating link between this moral self-interest and interested selfdeception. But where this happens, we will consider ways of acting as universalizable, which we could not consider as such if we dared to acknowledge or if we seriously tried to find out the facts - the facts about the other, about ourselves, about the context of our action, etc. That rational argument may not work in such situations, is due to the fact, that rational argument always can only work under certain preconditions: experience and knowledge in the case of the physicist or physician, aesthetic education and experience in the case of art, and moral character or sincerity in the case of moral discourse. And, needless to say, these are

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preconditions which certainly cannot bc brought about by ratio­ nal argument alone: they are rather thc practical results of a scientific, aesthetic or moral cuiture. Such a culture might bc called a »culturc of rcason«11 inasmuch as discursive rationality becomes the dement in which it moves and develops. Now as far as moral character is concerned, it may often remain morc or less invisiblc undcr normal conditions of social Integration. It be­ comes visible only under extreme conditions. I think this is what Arendt really refers to when she Claims that thc faculty of judgement emerges as an autonomous faculty »when the stakes are on the table«.12 What really may become visible in such situations, then, is not a faculty of judgement as an autonomous mental fa­ culty, but what kind of person somebody really is; for it shows itself only, when good judgement has its price. This, then, is the way in which a formal principle of morality may coexist with an account of morality in terms of »moral taste«, i.e. in terms of reflective judgement: The formal principle - a prin­ ciple of generalization - defines the moral point of view, from which we look at situations of action. But whether the »I can will...« is also a »we can will...«, i.e. whether my moral judgements can claim intersubjective validity, depends on whether my interpretations of situations of action are the right ones. Only if they are the right ones, if they could be shared by »everybody eise«, can they lead to valid moral judgements. A well developed faculty of judgement is certainly of immense importancc in moral as well as political matters. But it is not an addition to, but rather an expression of what we might call the »faculty« of discursive reason.

11 See F. Kambartel, »Vernunft: Kriterium oder Kultur?«, in: F. Kambar­ tel, Philosophie der humanen Welt, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989. 12 H. Arendt, Thinking, loc. cit., p. 193; dt.: Das Denken, a.a.O., S. 192.

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Nachweise

1. »Freiheitsmodelle in der modernen Welt« ist die überarbeitete deut­ sche Fassung eines zuerst auf englisch veröffentlichten Aufsatzes, der unter dem Titel »Models of Freedom in the Modern World« in: The Philosophical Forum., Bd.xxi, Nr. 1-2, Herbst/Winter 1989-90, er­ schienen ist. Wiederabdruck der englischen Fassung in Michael Kelly (Hg.), Hermeneutic and Critical Theory in Ethics and Politics, Cambridge/Mass. und London: MIT Press 1990. 2. »Bedingungen einer demokratischen Kultur« ist die Druckfassung eines Vortrags, den ich im Mai 1992 beim Kongreß über »Gemein­ schaft und Gerechtigkeit« in Frankfurt am Main gehalten habe. Erst­ veröffentlichung in: Hauke Brunkhorst und Micha Brumlik (Hg.), Gemeinschaft und Gerechtigkeit, Frankfurt: Fischer 1993. Für den Wiederabdruck in diesem Band habe ich den Schlußteil des Aufsatzes revidiert. 3. »Bedeutet das Ende des »realen Sozialismus« auch das Ende des Marxschen Humanismus? Zwölf Thesen«. Beitrag zu der Podiumsdiskus­ sion: »Wissenschaft und Lebenswelt in der Krise. Ende des Marxschen Humanismus?« aus Anlaß des Husserl-Schütz-Symposions »Gelehr­ tenrepublik und Lebenswelt« vom 15.-17. November 1990 in Wien. Erschienen in: A. Bäumer/M. Benedikt (Hg.), Gelehrtenrepublik-Le ­ henswelt. Edmund Husserl und Alfred Schütz in der Krisis der phäno­ menologischen Bewegung, Wien: Passagen 1993. 4- »Naturrecht und praktische Vernunft. Zur aporetischen Entfaltung ei­ nes Problems bei Kant, Hegel und Marx«, bereits 1978 geschrieben, aber erst 1986 in: Emil Angehrn und Georg Lohmann (Hg.), Ethik und Marx, Königstein/Ts.: Athenäum, veröffentlicht, war ursprüng­ lich geplant als erster Teil einer Abhandlung über »Ethik und Kritische Theorie«; anstelle des zweiten Teils entstand dann eine eigenständige Abhandlung Ethik und Dialog (Frankfurt: Suhrkamp 1986). Vgl. im übrigen das Vorwort zu diesem Band sowie die Fußnote S. 95. 5. »Wahrheit, Kontingenz, Moderne« ist die deutsche Fassung eines Vor­ trags, den ich unter dem Titel »Truth, Contingency and Modernity« im Mai 1991 bei einem Symposium über »Universals/Essentials« an der Universität Chicago und im Dezember 1991 bei einem Symposium über »A new, very new Idea of »Aufklärung«?« in Utrecht gehalten habe. Die englische Fassung ist erschienen in: Modem Philology, May Supplement 1993, die deutsche Fassung in: H. Kunneman und H. de Vries (Hg.), Enlightenments. Encounters between Critical Theory and Recent French Thought, Kämpen: Kok/Pharos 1993. 6. »Adorno, die Moderne und das Erhabene« ist die Ausarbeitung eines

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1 Vortrags, den ich im Dezember 1989 bei einer Tagung über »Zeit der Ästhetik« an der Universität in Hamburg sowie im Mai 1990 bei einem Symposium »Moderne versus Postmoderne - Zur ästhetischen Theorie und Praxis in den Künsten« im Rahmen der 2. Münchner Biennale vorgetragen habe. Aus beiden Veranstaltungen gingen Veröffentlichun­ gen hervor, in denen der Vortrag abgedruckt wurde (Jahrbuch der Bayerischen Akademie der Künste, Bd.4, Schaftlach: Oreos 1990; Ch. Pries und W. Welsch (Hg.), Ästhetik im Widerstreit, Weinheim: VCH Acta Humaniora 1991). 7. »Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes« war mein Beitrag zum Stuttgarter Hegel-Kongreß vom 18.-21.Juni 1987. Erstveröffent­ lichung in: Dieter Henrich und Rolf-Peter Horstmann (Hg.), Stutt­ garter Hegelkongrcß 1987 »Metaphysik nach Kant?*, Stuttgart 1988. 8. »Die Bedeutung der Frankfurter Schule heute. Fünf Thesen« war mein Beitrag zu einer Podiumsdiskussion im Rahmen eines Symposiums der Alexander von Humboldt-Stiftung über »Die Frankfurter Schule und die Folgen« vom 10.-15. Dezember 1984 in Ludwigsburg. Erstveröf­ fentlichung in: Axel Honneth und Albrecht Wellmer (Hg.), Die Frankfurter Schule und die Folgen, Berlin/New York: de Gruyter 1986. 9. »Ludwig Wittgenstein - Über die Schwierigkeiten einer Rezeption sei­ ner Philosophie und ihre Stellung zur Philosophie Adornos« wurde für ein Symposium an der Universität Frankfurt anläßlich des hundert­ sten Geburtstags von Ludwig Wittgenstein (27.-29. April 1989) ge­ schrieben. Veröffentlicht in: Brian McGuinness u.a., »Der Löwe spricht... und wir können ihn nicht verstehen*, Frankfurt: Suhrkamp 1991. 10. »Der Mythos vom leidenden und werdenden Gott. Fragen an Hans Jonas« war mein Beitrag zu einem religionsphilosophischen Kollo­ quium an der Freien Universität Berlin, das am 12. Juni 1992 aus Anlaß der Verleihung der Würde eines Ehrendoktors an Hans Jonas stattfand. Der Beitrag erschien außerdem in: D. Böhler (Hg.), Verstehen und Verantworten. Im Dialog mit Hans Jonas, München: C. H. Beck 1994. 11. »Architektur und Territorium« ist die leicht revidierte deutsche Fas­ sung eines Vortrags, den ich im Juni 1988 unter dem Titel »Architecture and Territory« bei einem gleichnamigen Symposium von Archi­ tekten nördlich des Polarkreises in Tromso gehalten habe. Die englische Fassung erscheint demnächst in: N. Mjaaland (Hg.), Architecture and Territory, Tromso. 12. »Terrorismus und Gesellschaftskritik« ist die revidierte und erweiterte Fassung eines Vortrags, den ich im Mai 1978 bei einer vom Philosophi­ schen Seminar der Universität Heidelberg initiierten öffentlichen Dis­ kussionsveranstaltung über »Terrorismus und Gesellschaftskritik« gehalten habe. Erstveröffentlichung in: Jürgen Habermas (Hg.), Stich-

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worte zur »Geistigen Situation der Zeit