Geographien der Kolonialität: Geschichten globaler Ungleichheitsverhältnisse der Gegenwart 9783839456224

Kolonialismus ist ein historisches Thema, ein Gegenwartsthema und ein geographisches Thema. Die Beiträger*innen des Band

188 66 6MB

German Pages 464 [458] Year 2023

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Geographien der Kolonialität: Geschichten globaler Ungleichheitsverhältnisse der Gegenwart
 9783839456224

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Perspektiven auf Geographien der Kolonialität
Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion
Dekoloniale Geographien
Commons-Forschung dekolonisieren
Macht-/Wissensbeziehungen in der Wirtschaftsgeographie infrage stellen
Jenseits eurozentrischer Wirtschaftsgeographie
Momente kritischer Forschungspraxis in de/kolonialen Verhältnissen
Deep Empire
Postkoloniale Perspektiven in der Geographiedidaktik
Aneignung, Ausbeutung und emanzipatorische Praktiken
Kolonialität von Zuckerrohr
Klimakolonialismus
Von Territorium zu Territorio
Kolonialität von Essen und Bewegungen für Ernährungssouveränität
Kämpfe um Gesundheitsgerechtigkeit
Koloniale Ordnungen und dekoloniale Zukünfte
Plantagenzukünfte
Städtische Episteme dekolonisieren
Queere Geographien, koloniale Geographien
Stadtplanung als koloniale Praxis und alltägliche Praktiken der urbanen Transformation
Kolonialität des Alltags
Biographien

Citation preview

Sybille Bauriedl, Inken Carstensen-Egwuom (Hg.) Geographien der Kolonialität

Sozial- und Kulturgeographie Band 46

Sybille Bauriedl (Prof. Dr.), geb. 1967, ist Professorin für Integrative Geographie an der Europa-Universität Flensburg. Sie lehrt und forscht zu sozial-ökologischer Transformation, feministischer Geographie, solidarischer Stadtentwicklung, Plattformökonomien, kolonialen Hafenstädten und Landnutzungskonflikten. Sie ist in der Hamburger Recht-auf-Stadt-Bewegung und im Netzwerk Flensburg Postkolonial aktiv. Inken C arstensen-Egwuom (Dr.), geb. 1980, arbeitet als Postdoc an der EuropaUniversität Flensburg. Ihre Arbeit fokussiert Ansätze reparativer Gerechtigkeit. Sie setzt sich mit europäischen Hafenstädten und den mit ihnen verbundenen kolonialen Zuckerrohrökonomien auseinander. Sie lehrt u.a. im Bereich Globales Lernen und ist im Netzwerk Flensburg Postkolonial aktiv.

Sybille Bauriedl, Inken Carstensen-Egwuom (Hg.)

Geographien der Kolonialität Geschichten globaler Ungleichheitsverhältnisse der Gegenwart

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: //dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2023 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Einweihung des öffentlichen Kunstprojekts »I am Queen Mary« von Jeannette Ehlers und La Vaughn Belle am 31. März 2018 in Kopenhagen; Fotografin vorne: Sarah Giersing, Fotograf hinten: Thorsten AltmannKrüger Korrektorat: Fabian Fleßner Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar https://doi.org/10.14361/9783839456224 Print-ISBN: 978-3-8376-5622-0 PDF-ISBN: 978-3-8394-5622-4 Buchreihen-ISSN: 2703-1640 Buchreihen-eISSN: 2703-1659 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.

Inhalt

Vorwort Sybille Bauriedl & Inken Carstensen-Egwuom .........................................9 Perspektiven auf Geographien der Kolonialität Sybille Bauriedl & Inken Carstensen-Egwuom ........................................13

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion Dekoloniale Geographien Michelle Daigle & Margaret Marietta Ramírez ........................................ 57 Commons-Forschung dekolonisieren Ein Gespräch mit Sybille Bauriedl & Inken Carstensen-Egwuom Franklin Obeng-Odoom ............................................................. 69 Macht-/Wissensbeziehungen in der Wirtschaftsgeographie infrage stellen Von Lateinamerika und der Karibik lernen Marion Werner ..................................................................... 89 Jenseits eurozentrischer Wirtschaftsgeographie Ein Kommentar zu Marion Werner Stefan Ouma & Julian Stenmanns .................................................. 115 Momente kritischer Forschungspraxis in de/kolonialen Verhältnissen Katrin Singer, Martina Neuburger & Tobias Schmitt................................. 123

Deep Empire Kolonialgeschichte und Gegenwart der Dinosaurier Ulrike Bergermann ................................................................ 143 Postkoloniale Perspektiven in der Geographiedidaktik Philippe Kersting & Birte Schröder.................................................. 191

Aneignung, Ausbeutung und emanzipatorische Praktiken Kolonialität von Zuckerrohr Plantagenökonomien, racial capitalism und Erkundungen reparativer Gerechtigkeit Inken Carstensen-Egwuom ......................................................... 217 Klimakolonialismus Weiße Dominanz und Schwarzes Leben im Anthropozän Sybille Bauriedl ................................................................... 245 Von Territorium zu Territorio Land, Allmende und soziale Kämpfe in Mexiko-Stadt Anke Schwarz & Monika Streule ................................................... 273 Kolonialität von Essen und Bewegungen für Ernährungssouveränität Emanzipatorische Ernährungspraktiken in Kolumbien und Kenia Birgit Hoinle & Meike Brückner .................................................... 289 Kämpfe um Gesundheitsgerechtigkeit Selbstorganisierte Siedlungsentwicklung und postabyssale Wissensformen in Santiago de Chile Lisa Waegerle ......................................................................315

Koloniale Ordnungen und dekoloniale Zukünfte Plantagenzukünfte Katherine McKittrick .............................................................. 339

Städtische Episteme dekolonisieren Europa und die Europäische Stadt nach 1989 als koloniale Ordnung Noa K. Ha ......................................................................... 367 Queere Geographien, koloniale Geographien Urbane Gerechtigkeit in Toronto Jin Haritaworn .................................................................... 385 Stadtplanung als koloniale Praxis und alltägliche Praktiken der urbanen Transformation Antje Bruns & Toni Adscheid........................................................ 411 Kolonialität des Alltags Das Konzept der imperialen Lebensweise aus postkolonialer Perspektive Tobias Kalt, Jonas Lage & Anil Shah ............................................... 433 Biographien .......................................................................451

Vorwort Sybille Bauriedl & Inken Carstensen-Egwuom

Dieser Sammelband zu Geographien der Kolonialität hatte für uns als Herausgeberinnen mehrere Anlässe im politischen, gesellschaftlichen, persönlichen und akademischen Kontext. Die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit dem Nachwirken und den Kontinuitäten kolonialer Verhältnisse ist seit den Black Lives Matter-Protesten in Südafrika, den USA und in vielen europäischen Städten nicht mehr übersehbar und überhörbar. Das hat auch die Auseinandersetzung von weißen Wissenschaftler*innen mit Schwarzen Positionen, rassistischen Privilegien und (post-)kolonialen Erfahrungen verändert und die Notwendigkeit noch deutlicher gemacht, der Normalisierung und Naturalisierung rassistischer und kolonialer Verhältnisse entgegenzutreten. Während der Buchproduktion waren wir durch unseren Lebensalltag in Flensburg umgeben von kolonialen Infrastrukturen eines ehemaligen Zentrums des dänischen und später deutschen Kolonialismus und von der öffentlichen Romantisierung des »Westindienhandels«. Aktiv sind wir eingebunden in Gegenerzählungen, in denen wir versuchen, die Aufmerksamkeit auf karibische Plantagenökonomien, auf die Verschleppung und Versklavung von Afrikaner*innen und auf den Widerstand gegen Rassismus und Ausbeutung zu lenken. Das Netzwerk Flensburg Postkolonial, an dem wir beteiligt sind, eröffnet dabei eine Möglichkeit des Austausches und der gegenseitigen Unterstützung darin, diese Arbeit als gegenwartsbezogen, zukunftsgerichtet und antirassistisch zu verstehen. Als Lehrende an der Europa-Universität Flensburg kommt unsere Auseinandersetzung mit rassistischen Narrativen und kolonialen geographischen Imaginationen in Schulbüchern und anderen Lehrmaterialien der Geographie und Weltkunde hinzu. Mit diesen beschäftigen wir uns immer wieder im Rahmen der Lehrer*innenbildung und beteiligen uns an Überarbeitungen von Lehrmaterialien aus einer rassismus- und kolonialismuskritischen Perspektive. Im Mai 2019 erschien das Themenheft »Deutscher Kolonialismus«

10

Geographien der Kolonialität

der Geographischen Rundschau, moderiert von Sybille Bauriedl. Die sowohl konstruktiven wie rassistischen Rückmeldungen zu diesem Heft zeigten uns die Relevanz des Themas im Bildungsbereich. Unser Kernanliegen ist es dabei, gegenwärtige globale und lokale Strukturen, die nicht ohne Bezug zu europäischen Kolonialismen verstehbar sind, differenziert zu reflektieren. Im März 2019 haben wir einen zweitägigen Workshop »Kolonialität in deutschen Hafenstädten« mit Wissenschaftler*innen, Künstler*innen und Museumskurator*innen aus Flensburg, Bremen und Hamburg veranstaltet, in dessen Nachgang die Idee zu diesem Buch entstand und vom transcript Verlag sehr offen aufgenommen wurde. Ein Sammelband bietet die Möglichkeit, vielfältige Perspektiven und Positionalitäten zusammenzubringen. Wir haben Autor*innen eingeladen, die sich sowohl mit den Kontinuitäten als auch mit den geographischen Verflechtungen kolonialer Verhältnisse auseinandersetzen und dabei eine rassismuskritische Haltung einnehmen. Es sind Autor*innen mit einer akademischen Sozialisation in der Politikwissenschaft, Geographie, Stadtforschung, Soziologie, den Gender Studies sowie Literatur- und Medienwissenschaften vertreten, mit Forschungsexpertisen in verschieden Regionen der Amerikas, Afrikas, Asiens und Europas. Unser Dank geht an Noa K. Ha und Stefan Ouma für ihre Hinweise auf weitere relevante Autor*innen. Der Sammelband enthält 14 Originalbeiträge, für die die Autor*innen passende Formate selbst gewählt haben. Außerdem haben wir drei Aufsätze zu Geographien der Kolonialität von Autor*innen ausgewählt, die im nordamerikanischen Kontext aus Schwarzen, Indigenen, Chicana und of Colour-Perspektiven arbeiten. Außerdem haben wir ein Gespräch mit Franklin Obeng-Odoom über sein Buch »Decolonizing the Commons« geführt. Diese Texte wurden aus dem Englischen übersetzt. Deren teilweise poetische Sprache, in der Traumata benannt und alternative Verständnisse von Verflochtensein entworfen werden, fordert auch dazu auf, standardisierte Normen des akademischen Schreibens zu hinterfragen und zu überschreiten. Die Bedeutungskonstellationen der englischen Texte in deutsche Formulierungen zu übertragen war eine Herausforderung, die immer nur teilweise gelingen kann. Wir danken Boka En und Michael En für ihre sorgfältige Übersetzung und Julian Stenmanns und Stefan Ouma für die Auswahl und Übersetzung des Textes von Marion Werner. Die Buchproduktion wurde von einem mehrmonatigen Austausch zwischen den Autor*innen und den Herausgeberinnen insbesondere zu den Konzepten und Begriffen antirassistischer, postkolonialer, indigener Perspektiven begleitet. Die Autor*innen haben außerdem im Rahmen eines

Sybille Bauriedl & Inken Carstensen-Egwuom: Vorwort

Autor*innenworkshops im Mai 2021 gegenseitig ihre Beiträge kommentiert und die Beiträge danach auf dieser Grundlage überarbeitet. Dabei waren wir an gemeinsamen Fragen und der Vielfalt von Antworten interessiert und verstehen diesen Prozess als Schlüssel zur Gestaltung dekolonialer Arbeitsweisen der Wissensproduktion. Für den Umschlag dieses Buches durften wir eine Fotografie der Einweihung des Kunstprojektes I am Queen Mary vor dem Westindienspeicher in Kopenhagen verwenden. Den beiden Künstler*innen Jeanette Ehlers und La Vaughn Belle sind wir dafür und auch für den anhaltenden Austausch sehr dankbar. Ihre aktuellen Arbeiten zu kolonialen Verflechtungen, Gewaltverhältnissen und Widerstandsformen des dänischen Kolonialismus in der Karibik und Kopenhagen ermöglichen auch weiterhin inspirierende Auseinandersetzungen. Wir danken der Europa-Universität Flensburg für die Finanzierung der Übersetzungen und Bildrechte und dem transcript Verlag für die freundliche und produktive Zusammenarbeit. Unser besonderer Dank gilt Marie Marwege, Lea Pook, Lara Wörner und Nelo Schmalen für inhaltliche Anregungen und die Unterstützung beim Produktionsprozess, bei Übersetzungen und Textkorrekturen sowie Ulrike Bergermann für Austausch zu postkolonialen Theorien und editorische Hinweise. Allen Autor*innen danken wir für die inspirierende Zusammenarbeit und ihre Geduld bei der Umsetzung des Buches. Wir hoffen, für Leser*innen damit ein anregendes Ergebnis vorzulegen, das zu vielperspektivischen Diskussionen beiträgt, zu Kritik und Weiterdenken einlädt und neue Fragen ermöglicht. Flensburg im März 2023

11

Perspektiven auf Geographien der Kolonialität Sybille Bauriedl & Inken Carstensen-Egwuom History, as nearly no one seems to know, is not merely something to be read. And it does not refer merely, or even principally, to the past. On the contrary, the great force of history comes from the fact that we carry it within us, are unconsciously controlled by it in many ways, and history is literally present in all that we do. It could scarcely be otherwise, since it is to history that we owe our frames of reference, our identities, and our aspirations. (James Baldwin 1998: 722f.)

1. Kolonialismus als Thema der Gegenwart Mit dem europäischen Kolonialismus sind hierarchische Verhältnisse entstanden, die bis heute soziale und räumliche Infrastrukturen, politisches Handeln und soziale Erfahrungen von weißen und nicht-weißen Menschen1 sowohl an kolonisierten Orten als auch an Orten, von denen Kolonisierung ausging, prägen. Kolonialismus wirkt nach in Form von kolonialen Territorien (z.B. Reservaten für First Nation Communities, Grenzziehungen afrikanischer Nationalstaaten), durch einen privilegierten Anspruch auf Land und Natur für eine globale Minderheit (z.B. im Abbau von Rohstoffen für imperiale Lebensweisen), durch Praktiken rassistischer Gewalt (z.B. an den europäischen Außengrenzen), durch eurozentrische Rechts- und Handelssysteme und durch die intergenerationalen Traumata von Versklavung und Unterdrückung. 1

Der Begriff »weiß« benennt hier keine Hautfarbe, sondern ist als politischer Begriff zu verstehen, der eine dominante und privilegierte Position von Menschen innerhalb eines rassistischen Gesellschaftssystems markiert, die verbunden ist mit der Erfahrung als Maßstab und Norm zu gelten. Der Begriff »Schwarz« wird im Folgenden im Sinne einer ermächtigenden Selbstbezeichnung verwendet und daher großgeschrieben. Wir übernehmen für beide Begriffe die von afrodeutschen Wissenschaftlerinnen vorgeschlagene Schreibweise (bspw. Eggers et al. 2005).

14

Geographien der Kolonialität

Dieser Sammelband bricht mit einer Betrachtungsweise, die den Kolonialismus als historische Phase, als eine abgeschlossene Episode, als bloßes Erbe der Vergangenheit versteht. Er vereint eine historische und geographische Perspektive und betont damit sowohl das Nachwirken von Strukturen und Erfahrungen des europäischen Kolonialismus als auch das Nachwirken kolonialer Verflechtungen von Plantagenökonomien und Versklavungshandel (vgl. Conrad/Randeria 2002, McKittrick in diesem Band). Auf diese Weise werden die Nachwirkungen des Kolonialismus sichtbar und erklärbar, der bis heute den Infrastrukturen, Institutionen, Handelsbeziehungen und Erinnerungspraktiken in und zwischen Kolonialmächten und kolonisierten Gesellschaften implizit ist. Mit dem Begriff »Geographien der Kolonialität« wollen wir die zeitlichen Kontinuitäten kolonialer Strukturen mit den vielfältigen räumlichen Relationen des europäischen Kolonialismus in Bezug setzen. Als »Geographien« sprechen die Beiträge dieses Buches sowohl soziale Räume (politische Institutionen, Bildungsstätten, Museen etc.) und physischmaterielle Räume (Landschaften, Häfen, Bergbauregionen etc.) als auch sozial produzierte Räume (Territorien, Länder etc.) an. Diese Geographien der Kolonialität verbinden den Blick auf ein koloniales Erbe und eine sozialräumliche Analyse rassistischer Strukturen (post-)kolonialer Gegenwart. Kolonialismus und Rassismus sind nicht getrennt voneinander zu begreifen. Rassismus ist nicht als individuelles Problem (von Vorurteilen oder unbegründeten Ängsten) zu verstehen, sondern als strukturelles Problem (post-)kolonialer Erfahrung, das Menschen markiert, differenziert und hierarchisiert (Ha 2017: 77). Kolonialismus wiederum funktioniert(e) nicht ohne diese Markierung, Differenzierung und Hierarchisierung, auch wenn konkrete Strukturen, Praktiken und Diskurse der Rassifizierung vielfältig waren und sind. Mit dem Untertitel dieses Buches »Geschichten globaler Ungleichheitsverhältnisse der Gegenwart« wollen wir auf die Gegenwärtigkeit kolonialer Verhältnisse hinweisen und gleichzeitig im Sinne von Saidiya Hartman eine Diskussion in die Zukunft eröffnen: Warum und wozu sollen wir die Geister und Leiden der Vergangenheit aktiv herbeirufen, wenn nicht dafür, die Gegenwart zu transformieren? (Hartman 2007: 170) Die »Geister« der Vergangenheit sind beständig relevant, und das Verschweigen und Verdrängen dieser Relevanz ist auch ein Ausdruck von Kolonialität (Rivera Cusicanqui 2018). Aus dieser Perspektive bietet die Auseinandersetzung mit Kolonialismus und Versklavung (inklusive widerständiger Bewegungen und Solidaritäten) neue Denkbewegungen für eine gerechtigkeitsorientierte Zukunft. Gleichzeitig ist die Auseinandersetzung mit rassistischen Strukturen in Vergangenheit und Gegenwart – und

Sybille Bauriedl & Inken Carstensen-Egwuom: Perspektiven auf Geographien der Kolonialität

die Herausgabe eines Sammelbandes dazu – auch eine Aufgabe der Selbstreflexion: Welchen Stimmen gebe ich (in meinem eigenen Lesen, Hören, Denken, Schreiben) Raum? Katherine McKittrick (2011: 955) formuliert sehr eindringlich – wie viele andere postkoloniale Theoretiker*innen vor und nach ihr in ähnlicher Weise –, dass die ethische Re-Imagination unserer ökozidalen und genozidalen Welt vielfältige Perspektiven braucht. Kolonialität beeinflusst Kultur, Arbeitsverhältnisse, persönliche Beziehungen und alltägliche sowie akademische Wissensproduktion weit jenseits formaler kolonialer Verwaltungsstrukturen (Maldonado-Torres 2007: 243f.). Kolonialität steckt in Büchern, in den Kriterien für akademische Exzellenz, in kulturellen Normen, im Alltagsverständnis, in den Welt- und Selbstverhältnissen, in persönlichen Wünschen und Begehrensstrukturen, und in zahlreichen anderen Aspekten unserer modernen Erfahrung, inklusive der herrschenden Vorstellungen von Geschlechterordnungen (Oyěwùmí 2002; Haritaworn in diesem Band). »Auf eine gewisse Weise atmen wir als moderne Subjekte jederzeit und überall Kolonialität« (Maldonado-Torres 2007: 243). Bemerkenswert an dieser Aussage ist Nelson Maldonado-Torres Verwendung des Begriffs des Atmens als grundlegende Voraussetzung für das Leben. Wer atmet Kolonialität und wem wird das Atmen – gerade durch Kolonialität – potenziell verunmöglicht? (Thompson 2020) Der Aufschrei »I can’t breathe!« von Eric Garner und George Floyd ist in diesem größeren Kontext von Rassismus, Gewalt, Unterdrückung und Unfreiheit zu sehen. Auch tagtägliche Kämpfe ums Überleben sind Teil von globalen, postkolonialen Prozessen. Geraldine Pratt und Victoria Rosner plädieren mit ihrem feministisch-geographischen Konzept des »global-intimate« für die Beachtung der verschränkten Maßstabsebenen vom Intimen, Alltäglichen bis zum Globalen. Sie betonen damit die Bedeutung von rassistischer Gewalt, mit der globale Kräfte die Psyche und Körper in sehr komplexer Weise »durchbohren und verfolgen« (Pratt/ Rosner 2006: 18). Diese verschränkten Maßstabsebenen lassen sich ebenfalls in Verbindung mit (post-)kolonialen Verflechtungsgeographien verstehen. Unsere Auseinandersetzung mit (post-)kolonialen Verflechtungen, Erfahrungen, Spuren und Protest hat ihren Ausgangspunkt in unserer Forschungsarbeit zu globalen Ungleichheitsverhältnissen in Bezug auf transnationale Migration und Intersektionalität (Inken Carstensen-Egwuom) sowie Klimagerechtigkeit (Sybille Bauriedl). Unsere Perspektive auf Verflechtungsgeographien ist außerdem geprägt von unserem Lebens- und Arbeitsort Flensburg. In dieser deutschen Hafenstadt an der Ostsee, die bis 1864 zum dänischen Königreich gehörte und von karibischen Zuckerplantagen pro-

15

16

Geographien der Kolonialität

fitierte und später Marinestandort des Deutschen Reiches wurde, sind die Infrastrukturen globaler Verflechtungen zweier Kolonialreiche im Stadtbild und seit einigen Jahren auch in öffentlichen Debatten sehr präsent. Für die Perspektive aus der Karibik auf diese Verflechtungsgeschichte hat uns das Kunstprojekt I am Queen Mary vielfältig inspiriert, das wir im Folgenden ausführlich darstellen – und das auch auf dem Buchdeckel abgebildet ist. Diese verschiedenen Zugänge strukturieren unsere ausführliche Einleitung dieses Sammelbandes und bilden die Grundlage unserer Argumentation für die Relevanz einer raumbezogenen Sicht auf Kolonialität und die Aufmerksamkeit für Verflechtungsgeographien.

2. Kunstproduktion zu Kolonialität: I am Queen Mary als Denkmal kolonialer Verflechtungen zwischen Dänemark und der Karibik In welcher Form lassen sich vielschichtige koloniale Verflechtungen, Gewaltverhältnisse und Widerstandsformen im öffentlichen Raum sichtbar machen – und wie können kritische Auseinandersetzungen mit Kolonialität gefördert werden? Kunstprojekte und Denkmäler mit kolonialen Bezügen haben immer wieder Impulse für gesellschaftliche Auseinandersetzungen zu diesen Fragen geliefert. Das öffentliche Kunstprojekt I am Queen Mary ist hierfür exemplarisch und trägt in besonderer Weise zur Sichtbarkeit und Reflexion kolonialer Verflechtungen bei. Es hat bei seiner Eröffnung im März 2018 aus mehreren Gründen große internationale Medienaufmerksamkeit erregt: Es ist die erste Statue in Dänemark, die eine Schwarze Frau darstellt, es fordert die koloniale Amnesie einer europäischen Kolonialmacht heraus, und es nimmt die Perspektive derjenigen ein, die der kolonialen Unterdrückung widerstanden und sie überlebt haben. Die beiden kollaborativ arbeitenden Künstlerinnen La Vaughn Belle (multidisziplinäre, bildende Künstlerin, die auf den U.S. Virgin Islands lebt und arbeitet) und Jeanette Ehlers (Video-, Foto- und Performance-Künstlerin dänisch-trinidadischer Herkunft, die in Kopenhagen lebt und arbeitet) sagen über ihr Objekt, es repräsentiere »ein Bild einer starken historischen, gegenwärtigen und futuristischen Schwarzen Frau, es würdigt Schwarze und Braune Menschen« (Belle/Ehlers 2018, Übers. d. A.). Das Denkmal besteht aus der Figur und einem Sockel. Den Sockel zieren gewaschene Korallensteine aus St. Croix (von 1733 bis 1917 dänisches Kolonialgebiet) (Belle/Ehlers 2018). Die Skulptur ist aus digitalen 3D-Körperscans der beiden Künstlerinnen in sitzender Position zusammengefügt worden. Nach

Sybille Bauriedl & Inken Carstensen-Egwuom: Perspektiven auf Geographien der Kolonialität

diesem hybriden Modell wurde eine Figur aus schwarz beschichtetem, sehr festem Kunststoff erstellt. Diese hielt dem Wetter in Kopenhagen jedoch nicht dauerhaft stand – ein Sturm im Dezember 2020 beschädigte sie letztlich so schwer, dass sie nicht wieder aufgestellt wurde. Seit Mai 2021 gibt es die Möglichkeit, sich vor Ort mit Blick auf den Sockel eine Augmented Reality-Version der Figur auf ein Smartphone zu laden. Die Künstlerinnen haben inzwischen die Genehmigung erhalten, an Stelle des temporären Kunstprojekts eine permanente Bronze-Statue zu errichten (Belle/Ehlers 2018). Seitdem machen sie ihr Kunstwerk und das Vorhaben in vielen Veranstaltungen bekannt, um sowohl eine permanente Statue in Kopenhagen als auch eine Schwesterstatue im Hafenareal auf St. Croix mit einer Kombination öffentlicher und privater Finanzierung – u.a. durch Crowdfunding – realisieren zu können.2 Dass die I am Queen Mary-Statue bisher nur in Kopenhagen aufgestellt wurde und nicht auf St. Croix, kann durchaus kritisch und als Teil einer kolonialen Kontinuität betrachtet werden. Das Projekt hatte in seiner Entwicklung eine Doppelstatue auf St. Croix und in Kopenhagen zum Ziel (Belle 2018). Wie La Vaughn Belle über den TV-Dokumentarfilm zum Kunstprojekt I am Queen Mary3 schreibt, befinden sich die Personen, die aus Dänemark heraus agieren, im globalen Kontext in einem Raum der Macht, in dem sie Narrative prägen und dafür entsprechende Ressourcen und Institutionen nutzen können. Dies gilt auch, wenn die Akteure selbst Dän*innen of Colour sind. Auf St. Croix gab und gibt es die Sorge, dass Dän*innen ihre Geschichten nehmen und sich selbst wieder ins Zentrum rücken – diesmal, indem ihre Widerstandsheldin Queen Mary symbolisch nach Dänemark gebracht und dort ein Kunstprojekt nach ihr benannt wird. Daher ist die technisch unterstützte Hybridisierung der Körper der beiden Künstlerinnen ein wichtiger Aspekt des Kunstprojekts. Es soll so zu einer Brücke zwischen den beiden Räumen und zu einem Objekt werden, mit dem Themen von Differenz, Macht und Aneignung verhandelt werden können (Belle 2018). I am Queen Mary ausschließlich als Repräsentation einer Schwarzen Frau im öffentlichen Raum der Hauptstadt des dänischen Königreichs und damit als Empowerment für die afro-dänische Community zu sehen, ist zu kurz gedacht. Auch wenn dieser Aspekt eine nicht zu unterschätzende Bedeutung hat

2

3

I am Queen Mary Fundraising Campaign Video: https://www.youtube.com/watch?v=Y DYgkMHtiSo&t=53s sowie jeweils aktuelle Informationen auf der Seite https://www.i amqueenmary.com »Det Sorte Kapitel« (Das Schwarze Kapitel) von Maya Albana, Dänemark 2018, 59min.

17

18

Geographien der Kolonialität

und in Dänemark die Zentrierung Schwarzer dänischer Geschichten durchaus als radikale Bewegung verstanden werden kann, hat I am Queen Mary eine globalere Bedeutung. Das Kunstprojekt adressiert auch Personen und Narrative in (ehemals) kolonisierten Gebieten und auf die emanzipatorischen Kämpfe von Nachfahr*innen versklavter Menschen, die nicht physisch in Dänemark anwesend waren oder sind. Es bezieht sich damit auf den fundamentalen Beitrag von Schwarzen Menschen bei der Entstehung der europäischen Moderne und nimmt die Versklavungs-, Unterdrückungs- und Kolonialgeschichte der europäischen Moderne in den Blick (Belle/Ehlers 2018). Die historische Queen Mary Thomas, auf welche das Objekt referiert, ist neben Axeline (Agnes) Elizabeth Salomon, Matilde McBean und Susanna (Bottom Belly) Abrahamsson eine der vier Anführerinnen eines wochenlangen Arbeiter*innenaufstandes auf St. Croix, der am 1. Oktober 1878 begann und bei dem Schwarze Plantagenarbeiter*innen gegen die dort vorherrschenden furchtbaren Arbeitsbedingungen protestierten. Der Stuhl, auf dem die Figur sitzt, erinnert an eine ikonische Fotografie von Huey P. Newton, einem der Gründer der Black Panther Partei in den USA (Belle/Ehlers 2018). Damit nimmt die Figur das global verbreitete visuelle Gedächtnis eines Schwarzen Widerstands auf und sorgt damit auch für eine transnationale Lesbarkeit des Kunstprojekts. Der Stuhl und die Pose sind vielfach reinszeniert worden und jeweils als Symbolisierungen für den Widerstand und die Selbstverteidigung unterdrückter, rassifizierter und kolonisierter Personen verwendet worden – so auch auf dem Cover eines Buches zur Philosophie der Gewalt, mit dem Titel »Selbstverteidigung« (Dorlin 2020). Die Geschichte des Arbeiter*innenaufstandes, auf den I am Queen Mary verweist, zeigt: Auch nach dem formalen Ende der legalisierten Sklaverei in den dänischen Kolonien 1848 setzte der Labor Act von 1849 restriktive Regeln für Arbeitsverhältnisse ehemals versklavter Personen fest. Clifton E. Marsh (1981: 337) beschreibt dies als »andere Form der Sklaverei«. Die Löhne waren niedrig, es gab Abzüge für die Wohnung in der ehemaligen Sklavenunterkunft und die Verpflichtung, die Einkäufe im überteuerten Laden zu erledigen, dessen Gewinne den Eigentümer*innen der Plantagen zuflossen. Der Wechsel des Arbeitgebers war nur einmal im Jahr erlaubt. Besonders für die Plantagenarbeiter*innen, die auf St. Croix 90 Prozent der Arbeiter*innen ausmachten, waren die Arbeitsstunden lang und die Arbeit war weiterhin von körperlicher Gewalt geprägt. Die Erwartungen an eine Verbesserung der Lebenssituation nach der Emanzipation erfüllte sich nicht. Die dänischen Behörden machten ein Reisen zwischen den Inseln sehr schwierig (Marsh 1981: 341). Am 1. Oktober 1878 mehrten sich Gerüchte, dass Arbeiter*innen die Insel St. Croix gar nicht

Sybille Bauriedl & Inken Carstensen-Egwuom: Perspektiven auf Geographien der Kolonialität

mehr verlassen dürften. Dies waren die Verhältnisse, gegen die sich Queen Mary mit vielen anderen auflehnte und eine Revolte, so argumentiert Clifton E. Marsh (1981: 342), auch schon vor dem 1. Oktober 1878 geplant hatten. Bekannt ist die Revolte als »The Fireburn«, weil rund 50 Plantagen und ein Großteil der Hafenstadt Frederiksted niedergebrannt wurden. Queen Mary als eine der Anführer*innen wurde nach dem Aufstand verhaftet; etliche andere, v.a. männliche Anführer, wurden getötet. Mary Thomas verbrachte mit den drei anderen oben genannten Frauen einen Teil ihrer Gefängnisstrafe in Kopenhagen (Danish National Museum o.J.).4 Auf den ehemals dänisch kolonisierten Karibikinseln ist nach Queen Mary eine Fernstraße benannt, es gibt eine Statue der »Fireburn Queens« und eine lebhafte Tradition der Erinnerung an dieses Ereignis. In Dänemark ist Queen Mary bislang eher unbekannt (Belle/Ehlers 2018). Die Handlungen und die Haltung der historischen Queen Mary sowie die oben angesprochene Verbindung zu anderen Schwarzen Widerstandsbewegungen eröffnen Fragen nach Gewalt: Was bedeutet Gewalt gegen Gebäude und Plantagenfelder im Kontext struktureller und körperlicher Gewalt bei der Ausbeutung von migrantischen, Schwarzen Arbeitskräften? Welche Bedeutung hat Gewalt für Dekolonisierungsbewegungen, für Befreiungsbewegungen und für Selbstverteidigung? (Fanon 1981[1966]: 29ff.; Dorlin 2020) Auf der auf dem Sockel angebrachten Plakette des Kunstprojekts stehen lediglich die Worte »I am Queen Mary«. Mit diesem bewussten Verzicht auf eine ausführlich erklärende Plakette wird ein singuläres Narrativ vermieden – und die Betrachtenden in die Position versetzt, Fragen zu stellen. Die Auseinandersetzung mit dem Projekt soll vielgestaltig sein, sie regt an, unterschiedliche Perspektiven zu kombinieren und Reflexionen zu verbinden. I am Queen Mary bezieht sich auf unterschiedliche Wissenssysteme und nationale Kontexte. Die Künstlerinnen präsentieren das Kunstwerk in Dänemark, die begleitenden Debatten zum Projekt werden auf dänisch, englisch und deutsch geführt. Wissen zu kolonialer Gewalt und Widerstand aus der Karibik und den USA, in Dänemark und Deutschland wird kontextspezifisch relevant – und es entstehen Übersetzungs- und Vermittlungsprozesse. Die Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten, aber auch den Schwierigkeiten, die entstehen können, wenn verschiedene Wissensbestände, Sprachen und Realitäten miteinander ins Gespräch gebracht werden, ist ein wichtiger 4

Historische Dokumente und Informationen zum Gedenken an die Fireburn-Revolte macht Helle Stenum digital verfügbar: https://www.fireburnfiles.dk

19

20

Geographien der Kolonialität

Bestandteil wissenschaftlicher Arbeit. Dies haben wir während der Arbeit mit den Übersetzungen in diesem Band intensiv erfahren: Die übersetzten Ausdrücke, Konzepte und Forschungsrichtungen aus der Wissenschaftssprache Englisch haben oft keine Entsprechungen in der deutschen Sprache, da auch entsprechende semantische Konnotationen und Bezüge fehlen. Alle Übersetzungen bleiben Annäherungen und Übertragungsleistungen, in denen hoffentlich die Spezifität der ursprünglichen Texte und Arbeiten verständlich bleibt. Es bleiben ›Zwischenräume‹ mit unterschiedlichen oder ähnlichen Konnotationen, unterschiedlichen oder ähnlichen wissenschaftlichen Konzept- und Bedeutungsgeflechten sowie lebensweltlichen Hintergründen, mit denen die Texte im Deutschen gelesen werden.5 Was bedeutet Königin im Kontext eines Aufstandes von migrantischen Arbeiter*innen? Das Wort »Queen« in »I am Queen Mary« lässt sich nicht einfach als »Königin« übersetzen. Der Begriff der Königin irritiert – und lädt auch zu Verwechslungen ein. Wer lediglich die Worte »Queen Mary« im Internet recherchiert, findet Verweise auf englische Regentinnen aus mehreren Jahrhunderten. Der Begriff »Königin/Queen« in eurozentrischer Lesart bezeichnet eine Person, welche per Abstammung oder Eheschließung eine Position an der Spitze eines aristokratischen Gesellschaftssystems innehat. Damit verbunden sind königlich privilegierte Handelskompagnien und königlich geographische Gesellschaften (z.B. British Royal Geographical Society), die Wissensproduktion, Ressourcenausbeutung und koloniale Unterdrückungsstrukturen im Sinne der Königin kontrollieren. In Europa existieren bis heute zehn parlamentarische Monarchien, die die Standards von sogenannter Hochkultur definieren und über die europäischen Adelshäuser weiterhin miteinander verbunden sind.6 Im karibischen Kontext hat »Queen« und ganz spezifisch der Begriff »Rebel Queen« eine ganz andere Bedeutung. Wie La Vaughn Belle betont (Belle et al. 2019: 31, Übers. d. A.), lebten Queens nicht in Märchenschlössern und wurden nicht als Königinnen geboren, sondern zu Königinnen gemacht. Sie waren Königinnen, die allein schon durch ihre Existenz und Benennung fundamental

5 6

In einigen Fällen habe wir Begriffe im sprachlichen Original belassen, wenn es keine adäquate deutsche Übersetzung gibt (bspw. race, racial capitalism). Wir danken der jamaikanischen Kulturwissenschaftlerin Imani Tafari-Ama, die 2017 die Ausstellung »Rum, Schweiß und Tränen« in Flensburg kuratiert hat, für aufschlussreiche Diskussionen zu diesem Thema.

Sybille Bauriedl & Inken Carstensen-Egwuom: Perspektiven auf Geographien der Kolonialität

Kritik an aristokratischen, rassistischen, starren und ungleichen Herrschaftsverhältnissen übten. Sie betont weiter: »Ob als Queen von Wettbewerben, Karnevalsumzügen, Arbeiter*innenrevolten oder Aufständen von Versklavten, durch deine eigene Gestaltungskraft, deine Entschlossenheit, deine eigene Arbeit und deine Fantasie konntest du dich selbst in ein Reich führen und zu einer Queen werden, die nicht entthront werden konnte und die unangreifbar war. Unsere Queen bedeutet: Du bist dein eigenes Reich. Du beherrschst dich selbst, deinen Körper, dein Schicksal, und selbst wenn das aufgrund der Geschichte und der Umstände nicht ganz wahr ist, glaubst du, dass es wahr ist, du bewegst dich so, als ob es wahr wäre, weil du verstanden hast, dass das Leben sowieso das Reich der Fiktion ist.« (Belle et al. 2019: 31, Übers. d. A.) So müssen insbesondere Begriffe des Widerstands immer in ihren Kontexten verstanden werden. Ein aristokratischer Begriff wie »Queen« kann auch eine subversive Bedeutung erlangen, die das Leben, das Wirken und die Würde Schwarzer Ahninnen hervorhebt und den beständigen Bildern Schwarzen Leids entgegensetzt (Hudson/McKittrick 2014: 240). Dies zeigt das Virgin Islands Studies Collective, ein feministischer Zusammenschluss afrokaribischer Wissenschaftlerinnen und Künstlerinnen, in der oben zitierten Reflexion zu »Ancestral Queendom« eindrücklich. Der Sockel der Skulptur I am Queen Mary repräsentiert einen konkreten Bezug zu den kolonisierten Karibikinseln in die Zeit der Versklavung unter dänischer Gewaltherrschaft. Wie oben beschrieben, hat La Vaughn Belle Korallensteine aus den U.S. Virgin Islands nach Dänemark verschiffen lassen und damit den Sockel gestaltet. Sie nimmt Bezug darauf, dass auf den Karibikinseln versklavte Menschen das Fundament der Gebäude der Kolonialmacht aus Korallensteinen herstellen mussten, die sie vorher in harter Arbeit aus dem seichten Wasser »geerntet« hatten (Belle 2019: 39). Diese Arbeit von versklavten Menschen kann metaphorisch als Fundament der europäischen Moderne verstanden werden – europäische Identität, Kultur und Wohlstand ist untrennbar mit dieser Geschichte von Gewalt verbunden (Jain 2021: 26). Diese Gewalt bildet ein Fundament der europäischen Profite aus dem Export von Fertigwaren in die Kolonien sowie dem Import und der Weiterverarbeitung von zum Beispiel Zucker und Rum aus den Kolonien. In historischen Gebäuden aus der dänischen Kolonialzeit auf der Insel St. Croix bilden bis heute solche Korallensteine das unsichtbare Fundament der Häuser aus dänischen

21

22

Geographien der Kolonialität

Ziegelsteinen (Belle/Ehlers 2018). Der Sockel von I am Queen Mary aus solchen Korallensteinen betont dadurch die Bedeutung der Karibik und der alltäglichen, häufig unsichtbaren Strukturen der Kolonialzeit (Belle 2019: 43). Die Karibik ist seit der Kolonialzeit mit vier Kontinenten verbunden (Lowe 2015) und kann als konstitutiv für die Entstehung der »modernen Welt« verstanden werden (Mintz/Price 1976, zit.n. Kummels et al. 2014: 7). Ausgehend von den Plantagenökonomien der Karibik und den Amerikas beleuchtet George Beckford (siehe auch McKittrick in diesem Band), wie diese Plantagen mit der globalen Ökonomie der europäischen Kolonialmächte verbunden sind. So wird deutlich, wie die wirtschaftliche Prosperität und Überentwicklung Europas auf der Basis anhaltender Unterentwicklung und ökonomischer Armut von kolonialisierten und rassifizierten Bevölkerungsgruppen aufgebaut wird (siehe Ouma/ Stenmans sowie Warner in diesem Band). Häufig wird der Sockel des Kunstwerks bei Fotografien (wie auch auf dem Titelbild dieses Sammelbandes) wenig beachtet. Der Fokus liegt auf dem figürlichen oberen Teil, auf der Widerstandsgeschichte und dem Fireburn-Protest. Der Sockel hingegen zeigt die fundamentalen Strukturen von Kolonialität.7 La Vaughn Belle (2019: 44) schreibt dazu: »Wenn man den Blick senkt und das Werk zuerst von unten betrachtet, beginnt man, den Sockel als einen stillen Hinweis für die grundlegende Arbeit der Versklavten und andere oft unsichtbare koloniale Infrastrukturen zu sehen.« (Übers. d. A.) Das Kunstwerk dient als Intervention im öffentlichen Raum. Es wurde direkt vor dem Westindienspeicher in Kopenhagen aufgestellt, im zentralen Hafenareal des 18. Jahrhunderts und der heutigen Touristenmeile an der Uferpromenade, und befindet sich spiegelbildlich zur Replik einer David-Statue von Michelangelo am anderen Ende des Speichers. Der Standort des Kunstwerks kann als metropolitane Kontaktzone (Pratt 1991) kolonialer Verflechtungen bezeichnet werden: Er diente 250 Jahre lang dem Umschlag, der Lagerung sowie dem profitträchtigen Verkauf von karibischem Zucker und Rum aus den kolonialen Plantagen, und er beherbergte zum Zeitpunkt der Einweihung der Statue im Jahr 2018 schon seit einigen Jahrzehnten die königliche Skulpturensammlung. I am Queen Mary funktioniert an diesem Ort als Gegenerzählung zum dominanten Eurozentrismus (Højgaard 2020), der sich auch in der königlichen Sammlung mit über 2000 weißen Skulpturen der westlich-europäischen

7

Auf der hinteren Umschlagseite ist auch der Sockel des Kunstwerks zu sehen.

Sybille Bauriedl & Inken Carstensen-Egwuom: Perspektiven auf Geographien der Kolonialität

Kunstgeschichte im Kolonialspeicher8 ausdrückt. Die tiefer gehende Kolonialität dieses Areals lässt sich dabei jedoch ohne eine räumlich relationale Perspektive und ohne ein Verständnis der kolonialen Verhältnisse in der Entstehung dieses Ortes nicht verstehen. Globale Bezüge sind zentral, um diesen Ort zu begreifen. Das Kunstprojekt ist eine Aufforderung an Menschen, die sich in Kopenhagen an der Hafenkante entlang bewegen, sich mit der Kolonialität dieser Stadt zu befassen. Gleichzeitig ist die Statue eine Aufforderung an Dänemark, sich als »koloniale Nation« zu verstehen und sich von der idealisierten Erzählung einer »gütigen, zivilisierenden Nation« (Jensen 2015: 445, Übers. d. A.) zu trennen. Außerdem kann sie als Aufruf an andere Orte in Europa verstanden werden, ähnliche Prozesse der Auseinandersetzung mit Kolonialität zu beginnen und neue Repräsentationen dieser verflochtenen Geschichte im öffentlichen Raum möglich zu machen. Es geht dabei, so betonte Natasha Kelly (Roldão/Kelly/Casmiro 2021) bei einer Diskussion zur Dekolonisierung von Städten, um folgende Fragen: Welchen Narrativen wollen wir im öffentlichen Raum eine Sicht- und Hörbarkeit verschaffen? Welche Geschichten sollen in den Vordergrund gerückt werden? Wie viel und welchen Raum können sie einnehmen? Das I am Queen Mary Kunstprojekt ist ein Denkanstoß, genauer über die Prägung europäischer Städte, Gesellschaften und Nationen durch den Kolonialismus nachzudenken und dessen Dethematisierung in Europa herauszufordern (Jensen 2015: 440; Hanssen/Jonsson 2015; Ha/Picker 2022; Ha in diesem Band). Es macht die Ausgangsorte kolonisierender Länder und deren Verbindung zu ehemals kolonisierten Territorien sichtbar (King 2009). Und es zeigt exemplarisch für Kopenhagen, dass der Kolonialismus europäische Hafenstädte geprägt hat und nicht nur in weit entfernten Kolonien soziale und räumliche Strukturen geschaffen hat. I am Queen Mary lädt dazu ein, sich persönlich mit diesen Geschichten in Verbindung zu setzen. Jedes Mal, wenn der Name des Kunstwerks ausgesprochen wird (»I am«), wird eine persönliche Ich-Identifikation verwendet. Dies fordert die Sprechenden dazu auf, sich zu der historischen Queen Mary in Beziehung zu setzen und damit in Auseinandersetzungen mit Schwarzen Wider-

8

Seit 1984 ist die königliche Statuensammlung im Westindienspeicher angesiedelt. Sie ist derzeit nur nach Anmeldung zu sehen (https://www.smk.dk/en/article/the-royal-ca st-collection/). Es gibt Forderungen danach, im Speicher eine permanente Ausstellung mit Bezug zum Versklavungshandel und Kolonialismus einzurichten, vgl. https://slav etidenskobenhavn.dk

23

24

Geographien der Kolonialität

stands- und Wissenspraktiken zu gehen. Das kann ein Akt der Solidarisierung sein, der durchaus brüchig und unvollständig bleibt – und ist in jedem Fall eine Einladung zur Reflexion eigener Positionierungen. Selbstreflexion bedeutet die Auseinandersetzung mit vielerlei (Selbst- und Fremd-)Identifikationen und mit den eigenen gelebten Erfahrungen in Relation zu Anderen. Als Verbindung von Körpern, Nationen und Narrativen sind in der Statue verschiedene Referenzen vereint, die in dem persönlichen Zugang zum Kunstwerk eine Rolle spielen können. Das »I-Am«-Motiv wird weltweit in Widerstandsbewegungen als Motiv zur Solidarisierung mit Opfern von Polizeigewalt genutzt und erinnert an Humanität und Würde der Opfer – an die grundlegende Gleichheit der Opfer mit allen anderen Menschen. So werden die Betrachter*innen der Statue zur Identifikation mit Queen Mary herausfordert. Dieser Aufforderung zur Identifikation sind die Künstlerinnen nachgekommen, indem sie ihr eigenes Abbild zur Grundlage der Figur Queen Mary genommen haben, von der keine Fotografien existieren. Die Kombination der 3D-Scans der beiden Körper der Künstlerinnen und die Benennung als I Am Queen Mary lädt also zu einer Auseinandersetzung damit ein, was es bedeutet, eine antikoloniale, widerständige Heldin zu verkörpern und sich mit ihr zu identifizieren (Cramer 2018: 153–154). Hadyia Sewer vom Virgin Islands Studies Collective (Belle et al. 2019: 25) schreibt dazu, dass durch solche Re-Enactments der Heldin Mary Thomas auch gelernt werden kann, Freiheit, Sichtbarkeit und Humanität zu wählen – auch mit Blick auf mehrfach unterdrückerische Systeme (Hill Collins 2000[1990]). I am Queen Mary ist in diesem Sinne eine visuell monumentale Gegenerzählung zur Herrschaftsgeschichte der Kolonialmächte und ist eingebettet in Diskussionen um Erinnern, Verdrängen und Protest, die in unterschiedlichen räumlichen Kontexten verortet sind. Gleichzeitig ist das Aussprechen des Satzes »I am Queen Mary« eine performative Aufforderung zu einem praktischen Handeln, das intersektionale Unterdrückungssysteme kritisiert und überwindet. Dieses Handeln ist verbunden mit dem Streben nach einer menschenfreundlichen, gerechten Gesellschaft. Die Identifikation mit Queen Mary kann gleichzeitig – gerade aus weißer Perspektive – anmaßend wirken: Weiße Personen identifizieren sich mit einer unterdrückten und widerständigen Schwarzen Frau und sprechen aus ihrer Position (»I am«) als ob nicht grundlegende Ungleichheits- und Unterdrückungssysteme vorhanden wären, als ob es keine Kompliz*innenschaft weißer Frauen mit rassistischen, kolonialen Unterdrückungssystemen gäbe, als ob wir koloniale, strukturelle Arbeitsteilungen und Hierarchien ignorieren würden. Sich in diese Widersprüchlichkeiten hineinzubegeben und in ihnen

Sybille Bauriedl & Inken Carstensen-Egwuom: Perspektiven auf Geographien der Kolonialität

Wege zur Kooperation und zur gemeinsamen Arbeit an Gerechtigkeit zu suchen – das betrachten wir als eine der wichtigen Aufforderungen, die von I am Queen Mary ausgeht.

3. Kolonialität im Alltag: Erinnern, Verdrängen und Protest Francoise Vergès warnt davor, koloniale Gewaltverhältnisse als inzwischen überwunden und als »außerhalb dessen« zu verstehen, was europäische Gesellschaften ausmache (Vergès 2020: 24). Sie kritisiert die Vorstellung vom »Voranschreiten der Zeit«, in der »immer alles besser werde« oder es verschiedene »Wellen« der Verbesserung gäbe. Solche Vorstellungen, so Vergès, tragen dazu bei, die tagtäglichen Kämpfe rassifizierter Menschen, die grundlegende Arbeit der Vorfahr*innen (ebd.: 26) und die Notwendigkeit, den Kampf morgen fortzusetzen, zu vergessen (ebd.: 22). Dieser Band entstand, während weltweit große Demonstrationen gegen rassistische Gewaltstrukturen stattfanden, kolonialismusverherrlichende Denkmäler gestürzt wurden und (erneut) Restitutions- und Reparationsforderungen an die Regierungen und Institutionen gestellt wurden, die in der Kolonialzeit den Raub von Kulturgütern und Genozide veranlasst haben. Die wissenschaftliche und gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Nachwirken kolonialer Strukturen ist jedoch kein neues Phänomen. Wichtige Impulse setzen bis heute die Beiträge afroamerikanischer Intellektueller der sogenannten Harlem Renaissance im frühen 20. Jahrhundert (Langston Huges, W.E.B. Du Bois, Marcus Garvey u.a.), wie auch die antikolonialen Befreiungstheoretiker und -kämpfer (Frantz Fanon, Kwame Nkrumah, Amílcar Cabral u.a.) und Aktivist*innen Schwarzer Bürgerrechtsbewegungen seit den 1960/70er Jahren (Angela Davis, Martin Luther King, Malcom X, Combahee River Collective u.a.), die Kolonialismuskritik der antiimperialistischen Bewegungen der 1980er Jahre und Schwarze, afrikanische und afrodiasporische Emanzipationsbewegungen seit den 1990er Jahren bis zur Gründung dekolonialer Bildungsinstitutionen in den 2010er Jahren unter anderem in Deutschland (Each One Teach One u.a.). Diese wiederkehrenden und langwierigen Auseinandersetzungen mit der Kolonialgeschichte fordern von europäischen Kolonialakteuren – dazu gehören explizit europäische Monarchien, Parlamente, Kirchen, Bildungsinstitutionen und Handelsunternehmen –, ihre Verantwortung für Zerstörung, Traumata und rassistische Hierarchisierungen anzuerkennen, ihre reflexhafte Abwehr und Relativierung

25

26

Geographien der Kolonialität

kolonialer Verbrechen zu überwinden und in einen Prozess kolonialismuskritischer Transformation einzutreten. Paul Gilroy wendet sich in seinem Buch »After Empire« eindrücklich dagegen, Kolonialismus als abgeschlossenes Projekt zu beschreiben und damit auch das verschuldete Leiden zu relativieren. Er verbindet damit den Vorwurf, sich niemals ernsthaft mit dem Problem des Rassismus auseinandergesetzt zu haben. Dieses aktive Verdrängenwollen insbesondere der Versklavungsgeschichte führt nach Gilroy in eine »post-imperiale Melancholie« (Gilroy 2004), die sowohl eine Aufarbeitung des Leidens als auch die Annahme der daraus resultierenden Verantwortung verhindert. Auch wenn diese Auseinandersetzung unbequem ist und Unbehagen bereitet, eröffnet sie Möglichkeiten für eine andere Zukunft. Obwohl Gilroy sich explizit auf das britische Empire und dessen gegenwärtige Thematisierung bezieht, findet sich diese Praxis des Revidierens und Relativierens auch in anderen Ländern, die sich auf ihre Kolonial- und Versklavungsgeschichte beziehen. Die Fortsetzung einer rassistischen Einordnung von Menschenleben und Weltregionen zeigt sich aktuell besonders brutal in der europäischen Migrations- und Asylpolitik sowie der internationalen Klimapolitik. Menschen aus dem Globalen Süden, deren Lebensgrundlagen in Folge klimawandelbedingter Dürren, Starkregen oder Überflutungen bedroht sind, wird von den klimawandelverursachenden Industriestaaten das Recht auf Migration nach Europa verwehrt und ihre Bewegungsfreiheit an den EU-Außengrenzen mit entmenschlichender Gewalt blockiert. In zukunftsgerichteten Auseinandersetzungen um eine globale Klimagerechtigkeit wird die Verbindung zwischen kolonialen Strukturen und Fragen einer antirassistischen sozialökologischen Transformation besonders sichtbar (I.L.A. Kollektiv 2017; Ituen 2021; Moore 2016 sowie die Beiträge von Bauriedl und Kalt/Lage/Shah in diesem Band). Die Verantwortungsabwehr von Profiteuren kolonialer und postkolonialer Strukturen bezeichnet Gloria Wekker als Strategie der »weißen Unschuld« (white innocence), die sich in der Haltung zeigt, strukturelle rassistische Diskriminierung und koloniale Gewalt zu leugnen und gleichzeitig die Ausgrenzung von sogenannten »Fremden« zu legitimieren (Wekker 2016; siehe auch Ha in diesem Band). Diese Form der Verantwortungsabwehr – insbesondere von Menschen ohne Rassismuserfahrungen – drückt sich im Kontext der Auseinandersetzung mit Kolonialität durch verschiedene Kommunikationsmuster aus: die Reproduktion hegemonialer Geschichtsbilder (z.B. Entdeckung der Welt durch Europäer), die nostalgische Verklärung der Kolonialzeit (als heldenhafte, abenteuerliche Seefahrerzeit) und die Entinnerung kolonialer Ge-

Sybille Bauriedl & Inken Carstensen-Egwuom: Perspektiven auf Geographien der Kolonialität

waltherrschaft (explizit des Versklavungshandels, der Ermordung indigener Bevölkerung und der Zwangsarbeit auf Plantagen). Der Begriff »Entinnerung« weist auf die Praxis öffentlichen Erinnerns hin, die lokal relevante historische Ereignisse benennt und dabei die damit verbundenen Traumata der Opfer dieser Ereignisse verschweigt.9 Formen selektiven Erinnerns zeigen sich nicht nur im öffentlichen Raum, sondern im besonderen Maß in staatlichen Archiven, Museen, Bibliotheken und Universitäten, die Informationen aus einer eurozentrischen Perspektive bereitstellen, an eine weiße Mehrheitsgesellschaft adressieren und dabei beanspruchen, eine nationale Geschichte abzubilden und die Gesamtgesellschaft ansprechen zu wollen. Diese Praxis wird aus intersektional-dominanzkritischer, Schwarzer und feministischer Perspektive als performative Machterhaltung bezeichnet (vgl. Auma/Kinder/Piesche 2021). Nationalmuseen und -archive präsentieren eine lineare, fixierte Herrschaftsgeschichte. Geschichte ist jedoch nie fertig geschrieben und kann immer wieder neu gelesen werden. Sie ist in diesem Sinne eine »potentielle Geschichte« (potential history, Azoulay 2019). Geschichte anders zu denken, um imperiale Grundlagen des Wissens und gleichzeitig die daraus resultierenden Beschränkungen und Formen der Gewalt zu erkennen, ist die Aufgabe rassismuskritischer Wissenschaft. Das ist eine sehr große Aufgabe, solange hegemoniale Erzählungen des Kolonialismus sowohl von Massenmedien (u.a. in sogenannten Wildwestoder Piratenfilmen) als auch von Bildungsinstitutionen reproduziert werden. In vielen Schulbüchern des Geschichts- und Geographieunterrichts werden Ereignisse kolonialer Ausbeutung und Versklavung immer noch oft zu ausgeglichenen Machtverhältnissen umgedeutet als »Dreieckshandel« oder »Überseefahrt«. Heutige ökonomische Ungleichheiten sowie Hunger und Armut bspw. in Regionen Afrikas werden vielfach ahistorisch und ohne Einbindung von globalen Verflechtungen erklärt (siehe Kersting/Schröder in diesem Band). Diese Geschichtsschreibung materialisiert sich auch in postkolonialen Infrastrukturen. Insbesondere europäische Hafenstädte wie Amsterdam, Liverpool, Kopenhagen oder Hamburg wurden und werden als Aushängeschilder dieser Kolonialismuserzählung herausgeputzt: Historische Hafenanlagen, Speicherstädte, Kontorhausviertel, bürgerliche Museen und Landschaftsparks werden zu touristischen Anziehungspunkten gemacht. Straßen und 9

Deborah Feldman hat den Begriff »Entinnerung« in Bezug auf das Erinnern an ShoaOpfer in Berlin verwendet und ausführlich erläutert (Feldman 2018).

27

28

Geographien der Kolonialität

Plätze in den neuen Wohn-, Büro- und Geschäftsvierteln der historischen Hafenareale erhalten ganz selbstverständlich Namen sogenannter ›Entdecker‹ wie Vasco Da Gama und Amerigo Vespucci, neue Geschäftsviertel heißen Überseequartier und neue Wohngebäude Cinnamon Tower (Beispiele aus der HafenCity Hamburg). Diese Namen lösen offensichtlich bei den Quartiersentwickler*innen und verantwortlichen Kommunalpolitiker*innen eine positive Erinnerung an imperiale Macht aus, die privilegierte, weiße Bewohner*innen und Konsument*innen in das maritime Stadtquartier locken soll. Quartiere, die durch koloniale Infrastrukturen geprägt sind, werden in europäischen Städten zu neuen urbanen Zentren. Diese Praxis der Stadtentwicklung, die eine imperiale Ausbeutungsgeschichte als Erfolgsgeschichte festschreibt, findet sich in vielen Regierungs- und Hafenstädten der kolonialen Zentren Europas. Ehemalige Kolonialmächte feiern Ereignisse, die in der Kolonialzeit stattgefunden haben, ohne deren Kontext explizit zu benennen. Und sie trennen die Kolonialgeschichte von ihrer Nationalgeschichte. Die Kaiserzeit Deutschlands kann als glorreich beschrieben werden und erscheint zeitlich weniger fern als die Zeit kolonialer Ausbeutung. Ann Laura Stoler nennt diese Praxis selektiver Erinnerung koloniale Aphasie (colonial aphasia, Stoler 2011). Alle Verbindungen zu kolonialen Gewaltstrukturen werden darin von historischen Personen, Ereignissen und Orten nationaler Identität abgetrennt. Vieles kann somit nicht mehr gesagt und gedacht werden – auch wenn es gewusst wird. Das Erinnern an Gewaltverhältnisse der Kolonialgeschichte ist auf diese Weise nur noch selektiv verfügbar oder ganz außer Reichweite. Das reflexive und verbindende Erinnern ist jedoch wichtig. Die auf imperialen rassistischen Strukturen basierenden Erkenntnistheorien europäischer Wissenschaften der Aufklärung sind ansonsten nur schwer als Geschichte der Gegenwart erkennbar (Stoler 2011: 122). Entinnert werden auch gesellschaftliche Transformationen und revolutionäre Brüche durch soziale Praktiken versklavter Menschen in den Kolonien, wie die Haitianische Revolution ab 1791 (Trouillot 2002), der oben schon genannte Arbeiter*innenaufstand auf der Karibikinsel St. Croix 1878 oder der Aufstand der Herero und Nama gegen die deutschen Kolonialakteure im Jahr 1904 (Ofuatey-Alazard/Grange 2016). Boaventura de Sousa Santos spricht von einer »Ermordung des Wissens des Südens« und einem »Epistemizid« als extremste Form der systematischen Unsichtbarmachung nicht-westlicher Wissensbestände durch westlich-zentriertes Vorstellungsvermögen, welches »die Gesellschaften der Mutterländer von denen der Kolonien trennt und die sozia-

Sybille Bauriedl & Inken Carstensen-Egwuom: Perspektiven auf Geographien der Kolonialität

le Realität so tiefgründig spaltet, dass alles, was auf der anderen Seite der Linie geschieht, entweder unsichtbar oder gänzlich ohne Bedeutung bleibt« (Sousa Santos 2018: 110; siehe auch Waegerle in diesem Band). Das Vergessen bzw. aktive Entinnern von historischem Unrecht ist ein machtvolles Mittel zur Bewahrung von Vorherrschaft und der Fortschreibung dominanter Ungerechtigkeitsverhältnisse. Die Konfrontation mit kolonialer Ausbeutungsgeschichte führt bei vielen weißen Menschen zu reflexhaften Strategien der Abwehr. Diese haben auch in Deutschland verschiedene Formen: zeitliches Distanzieren (»Kolonialismus ist lange her«), räumliches Relationieren (»Die Kolonien waren weit weg« oder »Die Kolonien waren sehr klein im Vergleich zum britischen Kolonialreich«), generationales Verdrängen (»Ich bin nicht dabei gewesen«) und das Anzweifeln von Evidenz (»Kaufmänner unserer Stadt waren nicht am Versklavungshandel beteiligt«). Noa K. Ha (in diesem Band) zeigt, dass durch solche Distanzierungen der Widerspruch zwischen einem idealisierten europäischen Selbstbild und dem Wissen um die von Europa ausgehende koloniale Gewalt aufgelöst wird. Das Erinnertwerden an koloniale Gewalt schafft nicht nur Unbehagen bei kolonial rassifizierten Menschen, sondern auch bei den Erben der Profiteure kolonialer Ausbeutung, die mit Abwehr reagieren (Assmann 1999). Gilroy weist darauf hin, dass »als die Geschichte des Empires zu einer Quelle des Unbehagens, der Scham und der Verwirrung wurde, ihre Komplexität und Zweideutigkeit bereitwillig beiseitegelegt wurden« (Gilroy 2004: 98, Übers. d. A.). Protest gegen das Entinnern kolonialer Gewalt richtet sich häufig gegen Kolonialdenkmäler. Durch ihre Platzierung an zentralen Orten repräsentieren sie im besonderen Maße die hegemoniale Erinnerungskultur einer weißen postkolonialen Gesellschaft. Diese wurde in den letzten Jahren explizit zur Schau gestellt, wie mit der Rekonstruktion des Berliner Schlosses oder der Sanierung des Bismarck-Denkmals in Hamburg. Beide Beispiele zeigen auch die Praxis der Einhegung des antirassistischen und antikolonialen Protestes durch staatliche Institutionen etwa mittels der Integration afrikanischer Kulturgüter im Humboldt-Forum des Berliner Schlosses oder einer künstlerischen Kontextualisierung des Bismarck-Denkmals durch die Hamburger Kulturbehörde. Die nationale Heroisierung der personifizierten Kolonialmacht mit Königshaus und Reichskanzler sowie die materielle Kontinuität der Gedenkorte des Kolonialismus bleiben mit dieser Praxis im Grunde unberührt. Eine kritische Auseinandersetzung mit kolonialen Orten und Verflechtungen braucht nicht nur eine Ergänzung, sondern eine andere Erzählung, die vielfältige koloniale Erfahrungen und Wissensbestände

29

30

Geographien der Kolonialität

einschließt. Dekolonisierung des öffentlichen Raums bedeutet auch, dass Menschen dessen historische Gewordenheit erkennen können. Erinnern ist strukturell immer mehrstimmig und verflochten. Das Erinnern kann so ein Akt des Widerstands werden, der die Widerstände der Vergangenheit mit den Kämpfen der Gegenwart verbindet. Es ist wichtig, darauf zu achten, wie Ereignisse und Verhältnisse der Kolonialgeschichte in der Gegenwart erzählt und gedeutet werden. Es geht nicht nur um eine möglichst genaue Rekonstruktion kolonialer Ausbeutung und den Widerstand gegen Repressionen. Es geht auch um das kritische Infragestellen der Perspektiven des öffentlichen Erinnerns und dessen mediale, visuelle und sprachliche Repräsentation. Entinnerung und Erinnerung an kolonialrassistische Herrschaft, Verdrängung, Relativierung und Traumata kolonialer Ausbeutung sind permanent nebeneinander wirksam – für diejenigen, für die es bspw. aufgrund von rassifizierten Zuordnungen schon immer ein Thema war, sowie für diejenigen, die sich nicht oder erst jetzt damit beschäftigen wollen (siehe oben zur Platzierung des Kunstprojekts I am Queen Mary). Das Umgebensein von Kolonialität ist zugleich eine gesellschaftliche und individuelle Erfahrung, die sehr unterschiedlich ausgeprägt sein kann. Dies führt zu unterschiedlichen Bewertungen öffentlicher Debatten über Kolonialzeit und postkoloniale Strukturen sowie zu einem unterschiedlichen Erleben des kolonial geprägten öffentlichen Raums. In den Hafenstädten Hamburg, Flensburg, Liverpool oder Marseille und den europäischen Metropolen Amsterdam, London, Kopenhagen oder Berlin sind die kolonialen Monumente und Infrastrukturen für manche Menschen überall sichtbar, für andere scheinen sie unsichtbar. Eine rassismuskritische Auseinandersetzung mit (post-)kolonialen Verhältnissen setzt eine aktive Produktion von (mehr) Sichtbarkeit und die transparente Reflexion eines (post-)kolonialen Unbehagens voraus. Im Rahmen antiimperialistischer Solidarisierung in den 1980er Jahren (Hinz/Patemann/Meier 1986) und der Organisation afrodeutscher Initiativen in Deutschland (Oguntoye/Opitz/Schultz 1986) begann auch in vielen deutschen und anderen europäischen Städten eine Auseinandersetzung mit postkolonialen Ansätzen in Bezug auf koloniale Spuren und deren Ursprüngen in globalen Ausbeutungsverhältnissen. Die Sichtbarmachung kolonialer Spuren und die Kritik an kolonialen Verstrickungen brachte den europäischen Kolonialismus ins öffentliche Bewusstsein und forderte eine Aufarbeitung durch staatliche und kommunale Institutionen ein. Aktuell formieren sich immer mehr soziale Bewegungen für das Leben – für die Achtung Schwar-

Sybille Bauriedl & Inken Carstensen-Egwuom: Perspektiven auf Geographien der Kolonialität

zer Leben, für das Leben im Klimawandel, für bessere Lebensbedingungen für Sorgearbeitleistende – und fordern eine Auseinandersetzung mit der historischen Gewordenheit und der tiefgreifenden Normalisierung von globalen Ausbeutungsverhältnissen (von Redecker 2020; Kennedy-Asante 2019). Währenddessen setzt das Ausstellen und permanente Reproduzieren imperialer Visualisierungen an zentralen öffentlichen Orten und in Institutionen der Kulturvermittlung rassistische Hierarchisierung fort (vgl. Mirzoeff 2011, Odumosu 2020). In den letzten Jahren ist in vielen europäischen und nordamerikanischen Großstädten der Kampf um Erinnerung an antikolonialen Widerstand und der Protest gegen eine Verklärung kolonialer Verhältnisse als »Goldenes Zeitalter« sehr sichtbar geführt worden. Damit sind Europas ehemalige koloniale Zentren auch zu zentralen Orten der öffentlichen Auseinandersetzung mit Kolonialität geworden (vgl. Zwischenraum Kollektiv 2017 und siehe Ha in diesem Band). Besonders seit 2015 sind in immer mehr europäischen, insbesondere deutschen Städten postkoloniale Netzwerke gegründet worden, die Kolonialgeschichte vor ihrer Haustür sichtbar machen und kolonialismus- und rassismuskritische Stadterzählungen vermitteln u.a. durch interaktive Karten (vgl. Webmap Hamburg Global, München Mapping Postkolonial, Lern und Erinnerungsort Afrikanisches Viertel Berlin u.v.a.m.), Ausstellungen und begleitende Veranstaltungen (z.B. »Sankofa – Altona in der Karibik« 2017, »Rum, Schweiß und Tränen« Flensburg 2017, »Dekoloniale« Berlin 2020–2024, für eine Übersicht siehe Fechner/Schneider 2022) und Stadtführungen (z.B. Postcolonial Potsdam). Aus Anlass von Gedenkjahren der Kolonialgeschichte schafften kolonismuskritische Ausstellungen und öffentliche Performances in den letzten Jahren eine Gegensichtbarkeit (Countervisuality, Mirzoeff 2011), die von Forschungsarbeiten zu Protestbewegungen versklavter Menschen begleitet wurden.10 Schwarze und BIPoC-Kurator*innen und antirassistische Wissenschaftler*innen und Künstler*innen sensibilisieren bei solchen Projekten sowohl die Besucher*innen als auch die rahmengebenden Institutionen

10

Z.B. wurden 2007 im Museum of London Docklands die Dauerausstellung »Sugar and Slavery« und in Liverpool das International Slavery Museum zum Anlass des zweihundertjährigen formalen Endes des Versklavungshandels der britischen Kolonialmacht eröffnet; 2017 fanden in Kopenhagen und Flensburg temporäre Ausstellungen und Publikationen zur Sklavenarbeit auf dänischen Zuckerrohrplantagen zum Anlass des Verkaufs der karibischen Kolonien an die USA hundert Jahre zuvor statt.

31

32

Geographien der Kolonialität

der Veranstaltungen für rassistische Narrative und Repräsentationen der Nationalgeschichte und machen den historischen Widerstand versklavter Menschen sichtbar. So werden bspw. afrokaribische Stimmen, Erfahrungen und Deutungen des Kolonialismus den hegemonialen, eurozentrischen Perspektiven entgegengesetzt (vgl. Tafari Ama 2017). In diesem Zusammenhang hat auch eine intensivere kolonialismus- und rassismuskritische Auseinandersetzung mit kolonialen Zeugnissen (Gemälden, Fotografien, Karten), historischen Daten (Kolonialverwaltungsberichten und Transportlisten) und imperialen Konsumgütern im gesellschaftlichen wie wissenschaftlichen Rahmen neue Impulse erhalten. Dabei ist »Kolonialität« in den letzten zwanzig Jahren von einem phänomenbeschreibenden Begriff zu einem zentralen Analysebegriff in Studien geworden, die die Beharrungskräfte kolonialer Hierarchisierungen erklären wollen.

4. Kolonialität als analytischer Begriff Kolonialität ist ein zentraler Begriff der südamerikanischen Kritik an eurozentrischen, globalen Machtverhältnissen (vgl. »Kolonialität der Macht«, Quijano 2000). Inzwischen wird der Begriff auch in breiteren Diskussionen verwendet, um zu markieren, dass die historische Periode des Kolonialismus nicht nur vereinzelt nachwirkt, sondern die globale Ordnung der Gegenwart und die globalen Ungleichheiten in ihren politisch-ökonomischen und epistemischen Strukturen ohne den europäischen Kolonialismus nicht verstehbar sind (Bhambra 2020). Dieses Argument findet sich in postkolonialen und dekolonialen Ansätzen, den Black Geographies wie auch rassismuskritischen Arbeiten (Kelly 2021; Roig 2021). Zentral für eine Gegenwartsanalyse ist dabei der Übergang einer Betrachtung von Kolonialismus als historische Epoche hin zu Kolonialität als analytisches Konzept, so wie es Ramon Grosfoguel beschreibt: »Wir leben weiterhin unter der gleichen ›kolonialen Machtmatrix‹. Mit juristisch-politischer Dekolonisierung haben wir uns von einer Zeit des ›globalen Kolonialismus‹ zur aktuellen Zeit einer ›globalen Kolonialität‹ bewegt.« (Grosfoguel 2007: 219) Rohit Jains Konzept einer globalen condition postcoloniale sieht die Gegenwart als umkämpfte, ergebnisoffene »Epoche, nachdem viele ehemalige Kolonien formal unabhängig geworden sind«, und versteht dies als eine produktive, keine eindimensionale oder einschränkende Vorstellung: »Der Kapitalismus hat sich seither verändert, die politische Weltordnung, ebenso die Fragen der Schuld, der Gewalt, der Umverteilung,

Sybille Bauriedl & Inken Carstensen-Egwuom: Perspektiven auf Geographien der Kolonialität

der Reparation, und wir müssen uns diesen Kämpfen gemeinsam stellen. Mit diesen Kontinuitäten und Diskontinuitäten gilt es zu arbeiten.« (Jain/ Sternfeld/Reznikova 2021: 35) Der Begriff »Kolonialität« verweigert sich Vorstellungen von Zeitlichkeit, die bestimmten Räumen der Welt die Labels »zurückgeblieben« und »fortschrittlich« zuweisen (Ha 2014: 30; mit Bezug auf Anibal Quijano). Die Geographin Doreen Massey kritisiert solche Zuschreibungen als diskursive »Verwandlung von Raum in Zeit, Geographie in Geschichte« (2006: 90). Die Anerkennung der Gleichzeitigkeit und Verwobenheit aller sozialräumlichen Unterschiedlichkeiten der Welt ist Ausgangspunkt eines kritischen geographischen Denkens (ebd.; Massey 1991). Eurozentrische, koloniale Vorstellungen historisch-räumlicher Prozesse sind jedoch tief in Konzepten der Moderne verankert. Sie transportieren immer noch die Idee spezifisch moderner Gesellschaftsformen in Europa (genauer im nördlichen Europa des 17. Jahrhunderts und in urbanen Räumen), die sich zuerst entwickelt hätten, sich aus innereuropäischen Prozessen erklären ließen, sich von dort aus in die ganze Welt verbreitet hätten und immer weiter verbreiten würden (Escobar 2007). Dies spiegelt sich auch in entwicklungspolitischen Konzepten wider, in denen Entwicklung und Fortschritt von Europa ausgeht und globale Entwicklungs- und Nachhaltigkeitsziele sich an europäischen Lebensweisen und Wohlstandsansprüchen orientieren (vgl. Hickel 2020). Arturo Escobar (2007: 181) kritisiert die eurozentrische, hegemoniale Vorstellung von Entwicklung vehement. Mit der analytischen Kopplung von Modernität/Kolonialität betont er, dass beide Prozesse notwendigerweise und unabdingbar miteinander verbunden sind. Forschung zur europäischen Moderne kann und sollte die mit ihr verbundenen, weltweiten Prozesse von kolonialem Landraub und Versklavung nicht als Randerscheinung betrachten, sondern als deren zentrale Bestandteile erkennen. Auch Andreas Eckert und Shalini Randeria (2009) argumentieren, Kolonien sollten in den Debatten über metropolitane nationale Geschichte nicht als etwas angesehen werden, das marginal für die Entwicklung der Metropole war, sondern als Teil eines gemeinsamen analytischen Feldes (vgl. Cooper/Stoler 2009: 15; siehe auch Bruns/Adscheid in diesem Band). Die Imperien schafften mit einer hierarchischen, gewaltvollen Beziehung zwischen Kolonisierten und Kolonisierenden einen Rahmen, innerhalb dessen Aushandlungen über Rechte, Forderungen und Verpflichtungen stattfanden sowie Ideen und Institutionen ausgestaltet wurden (Eckert/Randeria 2009: 7). In den postkolonialen Studien ist der Anspruch formuliert worden, diese Dichotomie aufzulösen und von einem

33

34

Geographien der Kolonialität

komplexeren Wechselverhältnis zwischen Kolonisierenden und Kolonisierten auszugehen. Hierzu betont bspw. Joanne P. Sharp (2009) in ihrer Einführung zu Geographien des Postkolonialismus mit Rückgriff auf Homi Bhabha, dass die kolonialen Imaginationen zwar wirkmächtige Dichotomien konstruierten, in der alltäglichen Praxis jedoch immer auch Hybriditäten, Brüche und Herausforderungen für dieses dichotome Denken entstanden bzw. erkämpft wurden. Die komplexen Geographien europäisch-kolonialer Herrschaftssysteme, auf die sich der Begriff der Kolonialität im Sinne eines Nach- und Weiterwirkens bezieht, sind vielfältig. Verschiedene Phasen und Formen des europäischen Kolonialismus seit den ersten Zuckerrohrplantagen auf Madeira ab ca. 1470 (Moore 2016) und den darauffolgenden Prozessen von Landraub, Genoziden, Versklavung und Zwangsarbeit in den Amerikas ab 1492 wirken weiter und nach. Wichtig ist uns in diesem Sammelband die ausgedehnte raumzeitliche Periode, deren Nach- und Weiterwirken als Kolonialität verstanden wird. Die Verschleppung und Versklavung von Menschen vom afrikanischen Kontinent ist in diesem Verständnis ein integraler Teil des europäischen Siedlungs- und Beherrschungskolonialismus. Solche Verflechtungen werden in Publikationen, die sich mit Kolonialgeschichte aus deutscher Perspektive befassen, teilweise als »vorkolonial« verstanden und finden bislang wenig Beachtung (Zimmerer/Todzi 2021) – obwohl auch Städte wie Hamburg, Bremen, Flensburg oder die Herzogtümer Brandenburg und Oldenburg im heutigen Deutschland an Versklavung und den Profiten aus versklavter Arbeit schon vor dem formalen Kolonialismus des Deutschen Reiches beteiligt waren (Weber 2004; Raphael-Hernandez/Wiegmink 2017; Roth 2017). Durch solch ein weites raum-zeitliches Verständnis von Kolonialität wird (an-)erkennbar, dass sich zwischen vielen europäischen Regionen und den durch Landraub, Genozid, Versklavung und Plantagenwirtschaft geprägten Regionen in der Karibik und den Amerikas enge Verbindungen ziehen lassen. Diese koloniale Geographie basiert auf einer spezifischen Wirtschaftsweise globalisierter Arbeitsteilung. Cedric J. Robinson (1983) schlägt für die Prozesse kolonialer Ausbeutung entlang rassifizierter Machtverhältnisse und kapitalistischer Verwertungsinteressen den Begriff racial capitalism vor (siehe auch Carstensen-Egwuom in diesem Band). Mit diesem Begriff argumentiert er, dass die Konstruktion der Ungleichwertigkeit von Menschen dem Kapitalismus inherent sei: »Kapitalismus und Rassismus haben sich nicht von der alten Ordnung gelöst, sondern haben sich vielmehr zu einem modernen Weltsys-

Sybille Bauriedl & Inken Carstensen-Egwuom: Perspektiven auf Geographien der Kolonialität

tem des racial capitalism entwickelt, das auf Sklaverei, Gewalt, Imperialismus und Völkermord beruht.« (Kelley 2000: XIII, Übers. d. A.)

5. Forschung zu Kolonialität: Spannweite post- und dekolonialer Ansätze Mit Nelson Maldonado-Torres verstehen wir wissenschaftliche Bewegungen hin zu einem decolonial turn als spannungsreich und heterogen. Es gibt in dieser Bewegung keine einzelne, hervorragende theoretische Schule; vielmehr bezieht sich der turn auf ein heterogenes Feld von Arbeiten, die eines gemeinsam haben: Sie verstehen Kolonialität als grundlegendes Problem gegenwärtiger Verhältnisse und Realitäten und betrachten Prozesse der Dekolonisierung als unfertig und als notwendige Zukunftsaufgabe (Maldonado-Torres 2011: 2). Es gibt vielfältige wissenschaftliche Ansätze, die sich kritisch mit Kolonialismus und kolonialen Verhältnissen befassen. Einige Autor*innen, die sich in einem breiten Verständnis des Begriffs den Postcolonial Studies zuordnen lassen, haben in den letzten Jahrzehnten verschiedene Einführungen und systematisierende Überblicke solcher Ansätze vorgelegt.11 Dabei fällt zunächst die Unter-

11

Eine frühe englischsprachige historische Einführung, die geographisch spezifische Befreiungsbewegungen und deren theoretische Ansätze aufarbeitet und kontextualisiert, bietet Robert J.C. Young (2016[2001]). Cheryl McEwan (2019[2009]) reflektiert in ihrer Einführung post- und dekoloniale Ansätze aus einer entwicklungsgeographischen Perspektive. Die Soziologin Gurminder K. Bhambra (2014) befasst sich mit den eurozentrischen Prämissen klassischer soziologischer Theorien sowie den Möglichkeiten von global orientierten, post- und dekolonialen sozialtheoretischen Ansätzen (siehe auch die Homepage »Global Social Theory« und den Youtube-Kanal »Connected Sociologies«). Im deutschsprachigen Kontext bietet der Sammelband »Postkoloniale Theorie« von María do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan (2020[2005]) eine vielzitierte Einführung. Die beiden Autorinnen, die in Pädagogik und Politikwissenschaft verortet werden können, stellen in diesem Buch das Werk von Edward W. Said, Gayatri Chakravorty Spivak und Homi K. Bhaba als zentrale Referenzen des postcolonial turn vor. Die Politikwissenschaftlerin Ina Kerner (2021[2010]) hebt hingegen in ihrem Buch »Postkoloniale Theorien zur Einführung« die Vielstimmigkeit post- und dekolonialer Ansätze hervor und bezieht sich stärker auf lateinamerikanische sowie afrikanische Autor*innen. Joanne P. Sharp (2009) betont in ihrer Einführung in »Geographies of Postcolonialism« aus der Perspektive der angelsächsischen Geographie ebenfalls die geographisch sehr unterschiedlichen Formen von kolonialen Herrschaftsverhältnissen und postkolonialer Kritik.

35

36

Geographien der Kolonialität

scheidung zwischen post- und dekolonialen Ansätzen auf, welche Sebastian Garbe (2020: 152) so beschreibt: »Gerade in Gegenüberstellung zu postkolonialen Perspektiven sorgt »dekolonial« vor allem im deutschsprachigen Raum nach wie vor für Verwirrungen. Ein Hauptunterschied beider Präfixe kann dabei sein, dass während ›postkolonial‹ sowohl etwas ›nach‹ dem Kolonialismus als auch das ›darüber hinaus Gehende‹ benennt, strebt ›dekolonial‹ danach, sich vom Kolonialen loszulösen und ihm entgegenzutreten.« In seiner Reflexion zum Verhältnis dieser beiden Denkrichtungen (Garbe 2012: 122ff.) nennt er u.a. den Sprechort und die Verortung in der Geopolitik des Wissens als relevante Unterscheidungsmerkmale und geht damit der Frage nach den Geographien von Theoriebildung nach: Wie sind (kritische) Theorien eigentlich geographisch eingebettet? Welche Zeitlichkeiten werden fokussiert? Wessen Lebensrealitäten und alltägliche Erfahrungen werden in den unterschiedlichen Theorieansätzen und mit konkreten Begriffsbildungen beachtet? Aufbauend auf diesen Fragen möchten wir in dieser Einleitung zunächst – notwendigerweise kurz und eher grob strukturiert – unterschiedliche Strömungen und Varianten post- und dekolonialer Ansätze vorstellen. Wir schließen uns Rohit Jain an (2021: 16), der in Auseinandersetzungen um post- und dekoloniale Theorien etliche Ähnlichkeiten betont. Diese bestehen für ihn »vor allem in ihrer Kritik der europäischen Moderne, namentlich des Kapitalismus und der Aufklärung« und darin, neben ökonomischen Strukturen auch »kulturelle Formationen wie die Wissenschaft, Kunst oder Religion als Teil der kolonialen Herrschaft zu kritisieren«. Außerdem teilen die Ansätze das Ziel »koloniale Strukturen und Kulturen in Frage zu stellen und zu transformieren« (ebd.). Als »postkolonial« bezeichnete Theorien sind vorwiegend in einem englischsprachigen Kontext entstanden und von der Analyse des britischen Kolonialismus in Asien geprägt. Dieser Fokus zeigt sich bspw. In der Einführung in postkoloniale Theorien von María do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan.12 12

Weitere bekannte Autor*innen in englischsprachigen postkolonialen Diskussionen sind mit Stuart Hall, Paul Gilroy und Achille Mbembe solche Autoren, die in Deutschland häufig eher als Rassismustheoretiker rezipiert wurden. Sie beziehen sich auf unterschiedliche Perspektiven aus der karibischen Diaspora, aus den Bewegungen in transatlantischen Schwarzen Räumen und vom afrikanischen Kontinent. Weitere Autoren, die das kolonialismuskritische Denken seit dem Zweiten Weltkrieg entscheidend geprägt haben, wie z.B. Frantz Fanon, Albert Memmi, Aimé Césaire, Edouard Glis-

Sybille Bauriedl & Inken Carstensen-Egwuom: Perspektiven auf Geographien der Kolonialität

In den Ansätzen, die zumeist als »dekoloniale« Theorien zusammengefasst werden, liegt der Fokus auf südamerikanischen Erfahrungen des spanischen und portugiesischen (Siedlungs-)Kolonialismus und Bewegungen, die sich im Widerstand dazu positionieren. So bearbeiten diese Ansätze die fortgesetzten internen kolonialen Machtverhältnisse in rassistischen Siedlungskolonien nach der formalen Erreichung staatlicher Souveränität und erweitern weltsystemtheoretische, kapitalismuskritische Ansätze um wissenstheoretische Perspektiven. Neben einer Kritik der »kolonialen Moderne« (Lugones 2020) liegt ein Fokus auch auf der Sichtbarmachung nicht-eurozentrischer Formen des Wissens und Seins in der Welt (Asher 2013). Die Arbeiten von Autor*innen wie Anibal Quijano, Boaventura de Sousa Santos, Nelson Maldonado-Torres, María Lugones, Arturo Escobar, Walter Mignolo und Silvia Rivera Cusicanqui sind in den letzten Jahrzehnten durch englische und deutsche Übersetzungen ihrer Werke auch im deutschsprachigen Raum immer bekannter geworden und so haben sich die Perspektiven kolonialismuskritischen Denkens weiter pluralisiert. Doch auch hier gibt es Kritik an der Herstellung neuer Kanonisierungen innerhalb akademischer Strukturen. So werden dekoloniale Perspektiven häufig mit der Gruppe Modernidad/Decolonialidad rund um Walter Mignolo und Aníbal Quijano verbunden, jedoch wird von feministischer Seite aus den Amerikas kritisiert, dass diese Gruppe »ihre eigene, vorrangig männlich privilegierte, Rolle zu wenig reflektiert. Wichtige Wissensproduktionen, die außerhalb dieses Kreises entstanden sind, werden wenig rezipiert und Hierarchien, die sie u.a. kritisieren, damit re/produziert« (AKGGU 2019: 4, mit Bezug auf Naylor et al. 2018). Auch Kritiken einer fortgesetzten Enteignung der ursprünglichen Bewohner*innen auf dem nordamerikanischen Kontinent nehmen die Diskussionen aus diesen dekolonialen Ansätzen auf (Tuck/Yang 2012; Arvin/Tuck/Morill 2013). Sie zeigen einerseits die genozidale Gewalt siedlungskolonialistischer Strukturen und andererseits Möglichkeiten von kollektiven, widerständigen Konstellationen und alternativen Wissens- und Seinsweisen auf (siehe auch

sant, sind im französischsprachigen Kontext verortet – häufig mit Bezügen in die Karibik und nach Nordafrika, ohne dass in der deutschsprachigen Diskussion ein spezieller Überbegriff für diese Denktradition entstanden ist. Auch wenn die bekanntesten Autoren dieser frühen kolonialismuskritischen Diskussionen überwiegend männlich sind, haben feministische Denkerinnen aus unterschiedlichen Kontexten wie Chandra Talpate Mohanty, bell hooks und Gloria Anzaldùa den Raum für kolonialismuskritisches Arbeiten wesentlich geprägt.

37

38

Geographien der Kolonialität

Daigle/Ramírez in diesem Band, Org. 2018). Michelle Daigle und Margaret Marietta Ramírez beziehen ihr Konzept dekolonialer Geographien auf die aktuelle gesellschaftliche Situation in den USA. Die aktive Ablehnung von weißer Vorherrschaft und anti-Schwarzem Rassismus, von Siedlungskolonialismus sowie von rassistischen und gewaltsamen politischen Ökonomien bildet den Kern ihres Ansatzes. Die Black Geographies, die sich u.a. auf englischsprachige Diskussionen der Schwarz-atlantischen Diaspora stützen, weisen grundsätzlich auf die Verschränkung von kolonialem Landraub und der Versklavung Schwarzer Menschen hin. Sie fordern Geograph*innen zur intensiveren Auseinandersetzung mit Rassismus, Plantagenökonomien und rassifizierter Segregation in Städten sowie mit emanzipatorischen Schwarzen geographischen Imaginationen und Praktiken auf (siehe McKittrick in diesem Band; Bledsoe/Wright/ Eaves 2020; Hawthorne 2019). Die Auseinandersetzung mit Schwarzen feministischen Theorien (Kelly 2019) und der Black Radical Tradition, auf die sich auch Franklin Obeng-Odoom (in diesem Band) bezieht, ist hierbei zentral. Diese verschiedenen Ausrichtungen kolonialismuskritischen Denkens schließen somit an unterschiedliche politische, räumlich verortete Bewegungen an und beziehen sich auf unterschiedliche Zeitlichkeiten. Während postkoloniale Theorien meist das 18. Und 19. Jahrhundert als maßgeblich und prägend verstehen, setzen dekoloniale Ansätze sowie die Black Geographies wesentlich früher an und legen den zeitlichen Fokus auf die Kolonisierung der Karibik sowie der Amerikas seit Ende des 15. Jahrhunderts. Damit ist auch die Verschleppung und Versklavung afrikanischer Menschen in den Amerikas und in der Karibik Teil einer kolonial-modernen Kontrolle von Arbeitskraft und sozialräumlicher Arbeitsteilung (Quijano 2000: 535ff.). Wir unterstützen Cheryl McEwans (2019[2009]: 47) Aufforderung, geographisch heterogene, unterschiedlich eingebettete Kritik an rassistischen, kolonialen und neoimperialen Macht- und Wissensstrukturen in ihrer Diversität wahrzunehmen. Es ist problematisch, Theorien und Personen jeweils allzu räumlich fixierend, ganz bestimmten geographischen Räumen und historischen Perioden zuzuordnen oder diese als im Wettbewerb um kolonialismuskritische Theoriebildung zu verstehen. Das kann verbindende Gedanken dieser Ansätze verdecken. Kiran Asher und Priti Ramamurthy (2020: 5) geben zu bedenken, dass auch das essentialisierende Denken in Großregionen der Welt eine koloniale Konstruktion ist. Kiran Asher (2017) zeigt zum Beispiel in ihrer Reflexion der Ansätze von Silvia Rivera Cusicanqui (die meist den dekolonialen Theoretiker*innen zugeordnet wird) und Gayatri Spivak (als eine der prominentesten

Sybille Bauriedl & Inken Carstensen-Egwuom: Perspektiven auf Geographien der Kolonialität

Vertreter*innen postkolonialer Theorien), welche ähnlichen und (selbst-)kritischen Gedanken zum Thema Repräsentation die beiden feministischen Forscherinnen haben: »Beide üben auf jeweils unterschiedliche Weise eine beharrliche Kritik an Eurozentrismus, Imperialismus, Kapitalismus, Nationalismus und deren Repräsentationspraktiken. Dabei laden sie ihre Leser*innen dazu ein, dies ebenfalls zu tun. Beide setzen sich mit der schwierigen Aufgabe auseinander, Subalternität und Indigenität zu repräsentieren, und zwar nicht nur in der eurozentrischen Wissenschaft, sondern auch durch migrantische und diasporische Akademiker*innen und nationale Eliten.« (Asher 2017: 516, Übers. d. A.) Auch Francoise Vergès (2020: 34) betont, wie wichtig und notwendig »SüdSüd«-Verbindungen für antikoloniale Bewegungen waren und sind – und dies gilt auch für die kritische Forschung. Während wir unterschiedliche kolonialismuskritische Ansätze also als unterschiedlich situierte Wissensstrukturen verstehen, sollten wir auch auch das Reisen von Theorien und Kritiken mitdenken. In deutschsprachigen Diskussionen gibt es sehr unterschiedliche Schwerpunkte der Auseinandersetzung mit post- und dekolonialen Ansätzen. So fragen einige Sozialwissenschaftler*innen beispielsweise danach, wie mit postkolonialen Theorien Strukturen und Diskurse der Migrationsgesellschaft untersucht werden können (Gutierrez-Rodriguez/Steyerl 2003; Ha/Lauré al-Samarai/Mysorekar 2007). Bildungswissenschaftler*innen kritisieren mithilfe postkolonialer und intersektionaler Ansätze insbesondere essentialisierende Zu- und Festschreibungen sowie rassistische Hierarchisierungen (Castro Varela/Mecheril 2016; Mafaalani 2021) und entwickeln Konzepte für postmigrantische Perspektiven und rassismuskritische Bildung (Fereidooni/Hößl 2021; Foroutan/Karakayali/Spielhaus 2018; Yıldız 2018). Aber auch essentialistische geographische Imaginationen sowie koloniale Vorstellungen von Entwicklung werden mithilfe postkolonialer Ansätze in den Fächern Geographie und Politikwissenschaft kritisch betrachtet (Lossau 2002; Ziai 2006; Husseini de Araujo 2011). Aufbauend darauf wurden u.a. neue Wege der aktuellen wissenschaftlichen Praxis in der geographischen Forschung im Globalen Süden (Husseini de Araujo/Kersting 2012; Schurr/Segebart 2012; Singer 2020) und in der postkolonialen Stadtforschung (Ha 2016; Ha/Picker 2022; Schmidt 2017; Zwischenraum Kollektiv 2017) entwickelt. So hat zum Beispiel Boris

39

40

Geographien der Kolonialität

Michel (2019) die koloniale Disziplingeschichte der Geographie erforscht und das Kollektiv Orangotango+ (2018) alternative, machtkritische Formen des Kartierens entwickelt. In den feministischen Geographien werden u.a. Fragen nach transnationalen Solidaritäten, methodische Aspekte und Verantwortlichkeit in Feldforschung und theoretischer Arbeit diskutiert (AKGGU 2019). All diese Suchbewegungen nach (auch kartographischen) Ausdrucksformen für koloniale räumliche Muster, für Unterdrückungsstrukturen und Ungleichheitsverhältnisse, für das Benennen von kolonialen Kontinuitäten und die Auseinandersetzung mit kritischen Fragen an hegemoniale Wissensproduktion (Bendix/Müller/Ziai 2020; Ha 2016) betrachten wir als eine wichtige (und nicht nur geographische) Arbeit. Im vorliegenden Band wird diese Vielfalt post- und dekolonialer Ansätze durch die konzeptuelle und geographische Breite der versammelten Beiträge sichtbar. Jeweils mit unterschiedlichen Schwerpunkten versuchen die Autor*innen, nicht-imperiale geo-historische Kategorien (Coronil 1996) zu finden und mit ihnen zu arbeiten. Um dies zu erreichen, fordern Stefan Ouma und Julian Stenmans (in diesem Band) eine Aufmerksamkeit für das Alltagsleben der Mehrheit der Weltbevölkerung und für die Machtstrukturen, in denen dieser Alltag eingebettet ist. Daran anschließend ermutigen sie dazu, das reiche südliche Archiv von Wissens- und Praxisformen zu nutzen, um es auf bisher von eurozentrischen Kategorien dominierte Räume und Diskussionen anzuwenden (vgl. auch Chakrabarty 2009: 20) und damit epistemische Erschütterungen metropolitaner Weltentwürfe zu ermöglichen. Welche Weltanschauungen werden in solchen von den Lebensverhältnissen der Mehrheit der Weltbevölkerung ausgehenden Theorien und Konzepten sichtbar? Welche Möglichkeiten gibt es, Solidaritäten zu schmieden? Diese Fragen beschäftigten auch andere Autor*innen in diesem Sammelband: Marion Werner zeigt, wie durch die Verwendung von (wirtschaftsgeographischen) Konzepten, die in den wohlhabenden Regionen der Welt entstanden sind, die Mehrheitswelt deformiert erscheint. Nach Franklin Obeng-Odoom braucht es neue, andere Herangehensweisen, beispielsweise durch die Arbeit an der Überwindung von westlich-universalisierenden Vorstellungen, um dies zu überwinden. Mit ähnlichem Anspruch setzen sich Tobias Kalt, Jonas Lage und Anil Shah damit auseinander, wie imperiale Strukturen nicht nur das globale Wirtschaftssystem prägen, sondern die Welt auch kulturell durchdringen. Sie argumentieren für einen epistemischen Wandel als Voraussetzung für eine sozial-ökologische Transformation. Anke Schwarz und Monika Streule bieten für eine solche Entwicklung von dezentrierten

Sybille Bauriedl & Inken Carstensen-Egwuom: Perspektiven auf Geographien der Kolonialität

und vielfältigeren Wissenslandschaften einen Einblick in die vielstimmige lateinamerikanische Diskussion zum Begriff Territorio. Sie entwerfen dabei Vorschläge, wie sozioterritoriale Perspektiven in der Stadtforschung eingesetzt werden können. Birgit Hoinle und Meike Brückner zeichnen am Beispiel Ernährung die Hierarchisierung von der ›Kultur‹ über die ›Natur‹, von städtischen über ländlichen Lebensformen als zentrales Merkmal westlicher Moderne nach. Diese Hierarchisierungen zu kritisieren ist eine dekoloniale Bewegung – und die Anerkennung der Bedeutung von Wissen und Tätigkeiten rund um die Nahrungsmittelzubereitung bricht kolonial geprägte, vergeschlechtlichte Hierarchisierungen auf. Ulrike Bergermann erarbeitet eine feministische, postkoloniale Analyse von vermeintlich ideologiefreien Forschungen an versteinerten Objekten, indem sie zeigt, wie sehr in den Konzepten, Methoden und Affekten der modernen wissenschaftlichen Forschung zu Dinosauriern patriarchale Strukturen und koloniale Prozesse der Landnahme und des Genozids wirksam sind, wie sie verschwiegen und verdeckt werden. Antje Bruns und Toni Adscheid zeigen genauso wie Lisa Waegerle, wie westlich-normative Erwartungen durch widerständige Infrastrukturen oder von organisierten Stadtbewohner*innen immer wieder in Frage gestellt werden. Beide Texte zeigen Auseinandersetzungen mit Alltagspraxen der Selbstorganisierung, mit Fokus auf das tägliche Überleben und die Daseinssicherung. Jin Haritaworn arbeitet aus der Perspektive aktivistischer Wissenschaft an der Produktion von Gegenarchiven zur Sichtbarmachung der Präsenz von People of Colour am Beispiel von Toronto. Die Rolle von Queers of Colour in der geographischen Gestaltung der Stadt, ihren Transformationen und in der Produktion von Wissen über Gentrifizierung, Verdrängung und Gewalt, aber auch über gelebte Solidaritäten und gegenseitige Unterstützung steht dabei im Vordergrund. Diese Arbeiten zeigen vielfältige Formen von Überlebenskämpfen unter gegenwärtigen Bedingungen der Kolonialität. Die Diskussionen in diesem Band, die sich auch mit unterschiedlichen Sprachen und pluralen Wissenssystemen in einen produktiven Dialog setzen, können damit als Versuche gelesen werden, die eigene epistemisch-monolinguale Sozialisation und die eigenen Verstrickungen in koloniale Traditionen der Wissensproduktion zu reflektieren und das westlich-universalisierte Denken als ungenügend zu verstehen, wie Katrin Singer, Martina Neuburger und Tobias Schmitt es tun. So zeigen sie, wie auch Philippe Kersting und Birte Schröder, einige mögliche Schritte dahin, plurale Wissenssysteme anzuerkennen, multiepistemische Literalitäten zu entwickeln und solche Reflexionen

41

42

Geographien der Kolonialität

auch für die Praxis der geographischen Wissensvermittlung in der Schule aufzubereiten.

6. Raumordnungen der Kolonialität: (post-)koloniale geographische Verflechtungen »Raum« und »Territorium« sind Schlüsselbegriffe postkolonialer Studien. Kolonialrassistische Strukturen sind nicht nur durch soziale und rechtliche Ordnungssysteme geprägt, sondern auch durch räumliche Segregation sowie territoriale Ausschlüsse oder Zuweisungen. Die Geographin Kathryn Yusoff bezeichnet Weißsein als eine territoriale Macht oder auch Geomacht (geopower, Yusoff 2018) und hebt damit sowohl die Produktion als auch Konstitution von Raum und Raumstrukturen als zentrales Element von Rassismus hervor. Auch für den Historiker Achille Mbembe dreht sich die politische Frage der Moderne um das Recht auf Aneignung, das Recht auf Eroberung, Besetzung und Kolonisierung und damit um territoriale Macht. In seinem Essay »Edge of the World« argumentiert er, dass sich diese europäische Geomacht in der Globalisierung des 20. Jahrhunderts fortsetzt, die im globalen Maßstab zu einer materiellen Dekonstruktion bestehender territorialer Grenzen geführt und gleichzeitig Räume der Abgeschlossenheit geschaffen hat (Mbembe 2000: 284). Der Zugang zu Land ist in kolonialisierten Ländern bis heute geprägt durch historische Geomacht. Landrechte in Afrika und den Amerikas sind mit dem kolonialen System des individuellen Landbesitzes, der Einhegung und Grenzziehung an den postkolonialen Nationalstaat übergegangen. Das schließt das Recht ein, Menschen von der Nutzung und Betretung des Landes auszuschließen und den Landbesitz an (auch ausländische) Privatpersonen dauerhaft zu übertragen. Der Umgang mit (post-)kolonialen Landrechten und damit verbundene Fragen der Wiedergutmachung durch Umverteilung von Land wurde in dekolonisierten Staaten unterschiedlich praktiziert: durch Enteignung weißer Siedler*innen (z.B. Mosambik), freiwillige Übertragung von Landrechten der weißen Siedler*innen (z.B. Namibia) oder Gewährleistung der Landrechte an weiße Siedler*innen (z.B. Kenia) (vgl. Bhandar 2018; siehe auch ObengOdoom in diesem Band). Da diese Strategien am Prinzip des Eigentums festhalten, lehnen einige Vertreter*innen der First Nations in den USA und Kanada diese Strategien grundsätzlich ab (vgl. Gram-Hanssen/Schafenacker/Bentz 2022: 5).

Sybille Bauriedl & Inken Carstensen-Egwuom: Perspektiven auf Geographien der Kolonialität

Wie lassen sich in einer wissenschaftlichen und politischen Debatte diese gegensätzlichen Verständnisse von Landverhältnissen und postkolonialer Geomacht thematisieren, ohne dabei binäre Raumordnungen zu verallgemeinern und zu reproduzieren? Globale Verhältnisse und Abhängigkeitsverhältnisse lokaler Lebensbedingungen werden in der Regel mit räumlichen Zuschreibungen beschrieben, die Grenzen einer zweigeteilten Welt ziehen. Dependenztheoretisch und weltsystemtheoretisch argumentierende Studien zur Analyse globaler Disparitäten verwenden zum Beispiel seit den 1950er Jahren die Bezeichnungen »Zentrum« oder »Metropole« und »Peripherie« zur Beschreibung der postkolonialen Abhängigkeit zwischen rohstoffliefernden Ländern und Industrieländern. Seit den 1980er Jahren hat sich über entwicklungspolitische Debatten die Zuordnung von Ländern in einen Globalen Süden (Global South) und Globalen Norden (Global North) etabliert. Damit ist kein geographischer Norden oder Süden gemeint, sondern die Einteilung in eine Gruppe der sogenannten Entwicklungs- und Schwellenländer (Globaler Süden) und in eine Gruppe der Industrieländer (Globaler Norden). Die Einteilung in Globalen Norden und Süden dient als Gegenbegriff zur wertenden Bezeichnung der Länder des Globalen Südens als Entwicklungsund Schwellenländer. Das Begriffspaar des Globalen Nordens und Globalen Südens ersetzt mit Ende der Weltordnung des Kalten Krieges außerdem die Einteilung der Welt nach Ordnungszahlen in eine US-amerikanisch dominierte Erste Welt, die als entwicklungspolitisches Vorbild dienen sollte, einer sowjetisch dominierten Zweiten Welt und einer blockfreien Dritten Welt. Auch die Beiträge in diesem Band nutzen teilweise die Begriffe Globaler Süden und Globaler Norden und problematisieren gleichzeitig deren Prägung in postkolonialen, entwicklungspolitischen Debatten, die nur aus einer eurozentrischen Perspektive verständlich sind und mit einer Dichotomisierung von Differenzen einhergehen. Alternativ werden Regionalbezeichnungen verwendet, die bereits vor der Ankunft von Kolonisatoren für bestimmte Regionen verwendet wurden und auch heute von Aktivist*innen als Symbol der Identität und des Respekts für das Land verwendet werden (z.B. Abya Yala für den amerikanischen Kontinent; siehe Waegerle in diesem Band) oder es werden Begriffe wie Mehrheitswelt und Minderheitswelt vorgeschlagen, um Normalvorstellungen von Entwicklung aufzubrechen (siehe Ouma/Stenmans in diesem Band). Wenn man die vielfältigen Überlagerungen kolonialer Verhältnisse in den ehemaligen Kolonien (vgl. Rassismus in USA oder Brasilien) und den ehemaligen Kolonialländern (vgl. Migrationsgesellschaft in Mitteleuropa) und eine

43

44

Geographien der Kolonialität

zunehmend fragmentierte Entwicklung innerhalb von Städten und Regionen beschreiben will, ist eine binäre Weltbeschreibung ungeeignet und verdeckt intersektionale Machtverhältnisse. Sabelo Ndlovu-Gatsheni (2013: 4f.) verweist auf die Verwobenheit (entanglement) postkolonialer Verhältnisse und argumentiert, dass die »postkolonial neokolonisierte Welt« eine verwobene Situation darstellt, in der Afrika und Euro-Nordamerika unter höchst hierarchischen und ungleichen Bedingungen aufeinandertreffen und Fragen der Identitätsund Nationenbildung, der Wissensproduktion, der wirtschaftlichen Entwicklung und der Demokratisierung in der kolonialen Matrix globaler Macht gefangen sind. Es gibt keinen Ort ohne kolonialen Kontext. Weder kolonialisierende noch kolonisierte Regionen sind exklusive geographische Einheiten. Sie wurden geformt durch den Austausch, die Zirkulation, den Fluss von Wissen, Ideen, Institutionen, Praktiken und den Menschen, die diese mit sich tragen. Erfahrungen dieser Begegnungen werden von Gesellschaften und Kulturen geteilt, jedoch im kolonialen Kontext von konkurrierenden Nationalismen und rassifizierenden Kategorien als trennend erlebt (vgl. Conrad/Randeria/Sutterlüty 2002). Das Konzept der Verflechtungsgeschichte (entangled histories, Conrad/ Randeria 2002) baut auf kolonialhistorischen Arbeiten auf, welche die Beachtung von sowohl historischen Verbindungen als auch gemeinsamen, geteilten analytischen Perspektiven der betrachteten Regionen und Gruppen einfordern (vgl. Cooper/Stoler 2009). Nur so lässt sich die Multiperspektivität und Komplexität von ineinander verwobenen Geschichten erkennen. Für Manuela Bauche ist »nicht nur die Kolonie von Interventionen des ›Westens‹ geprägt […], sondern auch Europa von seinen kolonialen Projekten« (Bauche 2017: 17). Sie entwickelt ein empirisches Verständnis von Verflechtungsgeschichten und ergründet am Beispiel der Malariabekämpfung in Kamerun, Ostafrika und Ostfriesland während der deutschen Kaiserzeit Ende des 19. Jahrhunderts, wie historische Prozesse in geographisch entfernten Regionen miteinander in Verbindung stehen. Dies stellt auch essentialistische und dichotome großräumliche Einteilungen der Welt in Frage (Husseini de Araujo/Kersting 2012: 140) und legt einen Fokus auf koloniale Strukturen, die Prozesse kolonialer Herrschaft und die global-lokale (Re-)Produktion von Ungleichheiten. Wir nehmen aktuell eine neue Aufmerksamkeit für vielfältige geographische Relationalitäten und strukturelle Verflechtungen in wissenschaftlichen Debatten wahr, an die wir mit diesem Buch anschließen wollen. Der spatial turn in der Geschichtswissenschaft sowie der relational turn in der Geographie bringen aus unserer Sicht in ihrer Verbindung ein Erkenntnispotenzial für die

Sybille Bauriedl & Inken Carstensen-Egwuom: Perspektiven auf Geographien der Kolonialität

postkolonialen Studien, in dem sich aus einer gemeinsamen historischen und geographischen Perspektive (post-)koloniale Machtverhältnisse und die Konstitution von Raum untersuchen lassen, ohne eurozentrische Erzählungen der Weltgeschichte zu reproduzieren. Mit diesem relationalen Blick auf Räume und Ereignisse würde Kolonialgeschichte nicht mehr als Erfahrung einzelner Nationalstaaten innerhalb ihrer souveränen Grenzen betrachtet werden, sondern die vielfältigen kolonialen Verflechtungen von Orten und Menschen. Handelsbeziehungen, Schiffsladungen, Plantagenökonomie und Eigentumsverhältnisse waren in vielen Fällen von internationalen Verbindungen geprägt, die auch schon vor und nach den Zeiten formaler, staatlicher Kolonialherrschaft bestand. Erst der Blick auf den multidirektionalen Charakter globaler Verflechtungen macht die Dynamiken und Kontinuitäten dieser Geschichte von Ausbeutungs- und Gewaltverhältnissen sichtbar. Eine solche Betrachtung von Verflechtungsgeographien könnte sowohl den methodologischen Nationalismus in der Betrachtung der Welt als auch den eurozentrischen Standpunkt der Geschichtsschreibung in Frage stellen und auf diese Weise Raum für eine Multiplizität von Geschichten wie auch Geographien schaffen.

Literatur AKGGU – Arbeitsgruppe Kritische Geographien globaler Ungleichheiten (2019): Themenheft: Dekoloniale Geographien. Feministisches Geo-RundMail. Informationen rund um feministische Geographie, Nr. 80. Arvin, Maile; Tuck, Eve; Morrill, Angie (2013): »Decolonizing Feminism: Challenging Connections between Settler Colonialism and Heteropatriarchy«, in: Feminist Formations 25(1), S. 8–34. Asher, Kiran (2013): »Latin American Decolonial Thought, or Making the Subaltern Speak«, in: Geography Compass 7(12), S. 832–842, https://www.doi.or g.10.1111/gec3.12102. Asher, Kiran (2017): »Spivak and Rivera Cusicanqui on the Dilemmas of Representation in Postcolonial and Decolonial Feminisms«, in: Feminist Studies 43(3), S. 512–524, https://www.doi.org.10.15767/feministstudies.43.3.0512. Asher, Kiran; Ramamurthy, Priti (2020): »Rethinking Decolonial and Postcolonial Knowledges beyond Regions to Imagine Transnational Solidarity«, in: Hypatia 35(3), S. 542–547, https://www.doi.org.10.1017/hyp.2020.16. Assmann, Aleida (1999): Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München: C.H. Beck.

45

46

Geographien der Kolonialität

Auma, Maisha M.; Kinder, Katja; Piesche, Peggy (2021): »Kontrapunktische Studien zu Schwarzsein und Schwarzem Europa – Das Schwarze queer-feministische Magazin Afrekete als Wissensarchiv«, in: Femina Politica – Zeitschrift für feministische Politikwissenschaft 30(2), S. 106–119. Azoulay, Ariella Aisha (2019): Potential History. Unlearning Imperialism, London/ New York: Verso. Baldwin, James (1998): »The White Man’s Guilt«, in: Toni Morrison (Hg.): James Baldwin: Collected Essays, New York: Literary Classics of the United States, S. 722–727. Bauche, Manuela (2017): Medizin und Herrschaft. Malariabekämpfung in Kamerun, Ostafrika und Ostfriesland (1890–1919), Frankfurt a.M.: Campus. Belle, La Vaughn (2018): Writing out of the Margins: Selected Footnotes on Det Sorte Kapitel, St. Croix, U.S. Virgin Islands, http://lavaughnbelle.blogspot.com/201 8/, zuletzt geprüft am 09.12.2021. Belle, La Vaughn (2019): »Lowering the Gaze – The Acropodium in I Am Queen Mary«, in: Nordisk Tidskrift for Informationsvidenskab og Kulturformidling 8(2), S. 37–45. Belle, La Vaughn; Ehlers, Jeannette (2018): I am Queen Mary – Homepage, Kopenhagen, https://www.iamqueenmary.com, zuletzt geprüft am 01.05.2022. Belle, La Vaughn; Navarro, Tami; Sewer, Hadiya; Yanique, Tiphanie (2019): »Ancestral Queendom – Reflections on the Prison Records of the Rebel Queens of the 1878 Fireburn in St. Croix, USVI (formerly the Danish West Indies)«, in: Nordisk Tidskrift for Informationsvidenskab og Kulturformidling 8(2), S. 19–36. Bendix, Daniel; Müller, Franziska; Ziai, Aram (Hg.) (2020): Beyond the Master’s Tools? Decolonizing Knowledge Orders, Research Methods and Teaching, Lanham: Rowman & Littlefield. Bhambra, Gurminder K. (2014): Connected Sociologies, London: Bloomsbury. Bhambra, Gurminder K. (2020): »Introduction – Roots, Routes, and Reconstruction: Travelling Ideas/Theories«, in: The Sociological Review 68(3), S. 455–460. Bhandar, Brenna (2018): Colonial Lives of Property. Law, Land, and Racial Regimes of Ownership, Durham: Duke University Press. Bledsoe, Adam; Wright, Willie Jamaal; Eaves, Latoya E. (2020): »Black Geographies«, in: Audrey Kobayashi (Hg.): International Encyclopedia of Human Geography, Vol.1, Amsterdam: Elsevier, S. 347–350. Castro Varela, María do Mar; Dhawan, Nikita (2020[2005]): Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Bielefeld/Stuttgart: transcript/UTB.

Sybille Bauriedl & Inken Carstensen-Egwuom: Perspektiven auf Geographien der Kolonialität

Castro Varela, María do Mar; Mecheril, Paul (Hg.) (2016): Die Dämonisierung der Anderen. Rassismuskritik der Gegenwart, Bielefeld: transcript. Chakrabarty, Dipesh (2009): Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference, Princeton: Princeton University Press. Conrad, Sebastian; Randeria, Shalini (Hg.) (2002): »Geteilte Geschichten – Europa in einer postkolonialen Welt«, in: Sebastian Conrad, Shalini Randeria, Beate Sutterlüty (Hg.): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M./New York: Campus, S. 9–49. Conrad, Sebastian; Randeria, Shalini; Sutterlüty, Beate (Hg.) (2002): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M./New York: Campus. Cooper, Frederick; Stoler, Ann L. (2009): »Between Metropole and Colony«, in: Frederick Cooper, Ann L. Stoler (Hg.): Tensions of Empire. Colonial Cultures in a Bourgeois World, Berkeley, Calif.: University of California Press, S. 2–56. Coronil, Fernando (1996): »Beyond Occidentalism: Toward Nonimperial Geohistorical Categories«, in: Cultural Anthropology 11(1), S. 51–87. Cramer, Nina (2018): »I Am Queen Mary: An Avatar in the Making«, in: Peripeti – Tidsskrift for dramaturgiske studier 29/30, S. 147–155. Dorlin, Elsa (2020): Selbstverteidigung. Eine Philosophie der Gewalt, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Eckert, Andreas; Randeria, Shalini (2009): »Vom Imperialismus zum Empire? Globalisierung aus außereuropäischer Sicht«, in: Shalini Randeria, Andreas Eckert (Hg.): Vom Imperialismus zum Empire: Nicht-westliche Perspektiven auf Globalisierung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 1–25. Eggers, Maureen Maisha; Kilomba, Grada; Piesche, Peggy; Arndt, Susan (Hg.) (2005): Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, 1. Aufl., Münster: Unrast. Escobar, Arturo (2007): »Worlds and Knowledges Otherwise. The Latin American Modernity/Coloniality Research Program«, in: Cultural Studies 21(2/3), S. 179–210. Fanon, Frantz (1981[1966]): Die Verdammten dieser Erde, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Fechner, Fabian; Schneider, Barbara (Hg.) (2021): Fernes Hagen. Kolonialismus und wir, Hagen: FernUniversität Hagen. Feldman, Deborah (2018): Entinnerung, Berlin: Secession Verlag für Literatur. Fereidooni, Karim; Hößl, Stefan E. (Hg.) (2021): Rassismuskritische Bildungsarbeit, Frankfurt a.M.: Wochenschau-Verlag.

47

48

Geographien der Kolonialität

Foroutan, Naika; Karakayalı, Juliane; Spielhaus, Riem (Hg.) (2018): Postmigrantische Perspektiven. Ordnungssysteme, Repräsentationen, Kritik; Frankfurt a.M./ New York: Campus Verlag. Garbe, Sebastian (2012): Das Projekt Modernität/Kolonialität in Gegenüberstellung mit postkolonialer Theorie und als Herausforderung für die Kultur- und Sozialanthropologie – Eine theoretische Übersetzungsarbeit anhand interkultureller Teamarbeit in Argentinien, Wien: Diplomarbeit Universität Wien. Garbe, Sebastian (2020): »Dekolonial – Dekolonisierung«, in: PERIPHERIE – Politik • Ökonomie • Kultur 40(157/158), S. 151–154. Gilroy, Paul (2004): After Empire. Multiculture or Postcolonial Melancholia, London: Routledge. Gram-Hanssen, Irmenlin; Schafenacker, Nicole; Bentz, Julia (2022): »Decolonizing transformations through ›right relations‹«, in: Sustainability Science 17, S. 673–685. Grosfoguel, Ramón (2007): »The Epistemic Decolonial Turn. Beyond Politicaleconomy Paradigms«, in: Cultural Studies 21(2/3), S. 211–223. Gutierrez-Rodriguez, Encarnacion; Steyerl, Hito (Hg.) (2003): Spricht die Subalterne Deutsch? Migration und postkoloniale Kritik, Münster: Westfälisches Dampfboot. Ha, Kien Nghi; Lauré al-Samarai, Nicola; Mysorekar, Sheila (Hg.) (2007): Re/visionen. Postkoloniale Perspektiven von People of Color auf Rassismus, Kulturpolitik und Widerstand in Deutschland, Münster: Unrast. Ha, Noa K. (2014): »Perspektiven urbaner Dekolonisierung: Die europäische Stadt als ›Contact Zone‹«, in: sub\urban – zeitschrift für kritische stadtforschung 2(1), S. 27–47. Ha, Noa K. (2016): Strassenhandel in Berlin. Öffentlicher Raum, Informalität und Rassismus in der neoliberalen Stadt, Bielefeld: transcript. Ha, Noa K. (2017): »Zur Kolonialität des Städtischen«, in: Zwischenraum Kollektiv (Hg.): Decolonize the City! Zur Kolonialität der Stadt. Gespräche, Aushandlungen, Perspektiven, Münster: Unrast. S. 75–87. Ha, Noa K.; Picker, Giovanni (Hg.) (2022): European Cities. Modernity, Race and Colonialism, Manchester: Manchester University Press Hartman, Saidiya V. (2007): Lose your Mother. A Journey Along the Atlantic Slave Route, New York: Farrar Straus and Giroux. Hawthorne, Camilla (2019): »Black Matters are Spatial Matters: Black Geographies for the Twenty-first Century«, in: Geography Compass 13(11), S. 1–13.

Sybille Bauriedl & Inken Carstensen-Egwuom: Perspektiven auf Geographien der Kolonialität

Hickel, Jason (2020): »The Sustainable Development Index: Measuring the Ecological Efficiency of Human Development in the Anthropocene«, in: Ecological Economics 167, S. 106331. Hill Collins, Patricia (2000[1990]): Black Feminist Thought. Knowledge, Consciousness, and the Politics of Empowerment, New York: Routledge. Hinz, Manfred O.; Patemann, Helgart; Meier, Arnim (Hg.) (1986): Weiß auf schwarz. Kolonialismus, Apartheid und afrikanischer Widerstand, Berlin: Elefanten-Press. Højgaard, Ida (2020): The Subversive Potential of Visual Violence in Contemporary Art. Idoart.dk, Kopenhagen, https://www.idoart.dk/blog/the-subversi ve-potential-of-visual-violence-in-contemporary-art?rq=violence, zuletzt geprüft am 08.07.2021. Hudson, Peter James; McKittrick, Katherine (2014): »The Geographies of Blackness and Anti-Blackness: An Interview with Katherine McKittrick«, in: The CLR James Journal 20(1), S. 233–240. Husseini de Araujo, Shadia (2011): Jenseits vom »Kampf der Kulturen«. Imaginative Geographien des Eigenen und des Anderen in arabischen Printmedien, Bielefeld: transcript. Husseini de Araujo, Shadia; Kersting, Philippe (2012): »Welche Praxis nach der postkolonialen Kritik? Human- und physisch-geographische Feldforschung aus übersetzungstheoretischer Perspektive«, in: Geographica Helvetica 67(3), S. 139–145. I.L.A. Kollektiv (Hg.) (2017): Auf Kosten Anderer. Wie die imperiale Lebensweise ein gutes Leben für alle verhindert, München: oekom. Ituen, Imeh (2021): »Wir können keine eurozentrische Perspektive auf afrikanische Probleme einnehmen«. Interview mit Ayakha Melithafa, Heinrich Boell Stiftung, Berlin, https://www.boell.de/de/2021/02/19/wir-koennen-k eine-eurozentristische-perspektive-auf-afrikanische-probleme-einnehm en, zuletzt geprüft am 03.08.2022 Jain, Rohit (2021): »Beyond ›The West and the Rest‹«. Eine anthropologischpostkoloniale Suche nach einem bedingten Universalismus«, in: Julian Warner (Hg.): After Europe. Beiträge zur dekolonialen Kritik, Berlin: Verbrecher Verlag, S. 15–29. Jain, Rohit; Sternfeld, Nora; Reznikova, Olga (2021): »Diskussion zum Statement von Rohit Jain«, in: Julian Warner (Hg.): After Europe. Beiträge zur dekolonialen Kritik, Berlin: Verbrecher Verlag, S. 31–44. Jensen, Lars (2015): »Postcolonial Denmark: Beyond the Rot of Colonialism?«, in: Postcolonial Studies 18(4), S. 440–452.

49

50

Geographien der Kolonialität

Kelley, Robin D. G. (2000): »Foreword«, in: Robinson, Cedric: Black Marxism: the Making of the Black Radical Tradition, Chapel Hill/London: University of North Carolina Press, S. xi-xxvi. Kelly, Natasha A. (2021): Rassismus. Strukturelle Probleme brauchen strukturelle Lösungen! Zürich: Atrium Verlag. Kelly, Natasha A. (Hg.) (2019): Schwarzer Feminismus. Grundlagentexte, Münster: Unrast. Kennedy-Asante, Abena (2019): »Fridays for Past, Present and Future«, in: Analyse & Kritik. Zeitung für linke Debatte & Praxis 653. https://www.akwe b.de/bewegung/fridays-for-past-present-and-future, zuletzt geprüft am 22.02.2022. Kerner, Ina (2021[2010]): Postkoloniale Theorien zur Einführung, Hamburg: Junius. King, Anthony D. (2009): »Postcolonial Cities«, in: Nigel J. Thrift, Rob Kitchin (Hg.): International encyclopedia of human geography, Amsterdam/London/ Oxford: Elsevier, S. 1–6. Kollektiv Orangotango+ (Hg.) (2018): This is not an Atlas. A Global Collection of Counter-cartographies, Bielefeld: transcript. Kummels, Ingrid; Rauhut, Claudia; Rinke, Stefan; Timm, Birte (2014): »Introduction«, in: Ingrid Kummels, Claudia Rauhut, Stefan Rinke et al. (Hg.): Transatlantic Caribbean. Dialogues of people, practices, ideas, Bielefeld: transcript, S. 7–32. Lowe, Lisa (2015): The Intimacies of Four Continents, Durham: Duke University Press. Lugones, Marìa (2020[2010]): »Auf dem Weg zu einem dekolonialen Feminismus«, in: Polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren (43), S. 55–76. Mafaalani, Aladin el (2021): Wozu Rassismus? Von der Erfindung der Menschenrassen bis zum rassismuskritischen Widerstand, Köln: Kiepenheuer & Witsch (KiWi, 1796). Maldonado-Torres, Nelson (2007): »On the Coloniality of Being«, in: Cultural Studies 21(2), S. 240–270. Maldonado-Torres, Nelson (2011): »Thinking through the Decolonial Turn. Post-continental Interventions in Theory, Philosophy, and Critique. An Introduction«, in: Transmodernity: Journal of Peripheral Cultural Production of the Luso-Hispanic World 1(2), S. 1–15. Marsh, Clifton E. (1981): »A Socio-Historical Analysis of the Labor Revolt of 1878 in the Danish West Indies«, in: Phylon 42(4), S. 335–345. Massey, Doreen (1991): »A Global Sense of Place«, in: Marxism Today (June), S. 24–29.

Sybille Bauriedl & Inken Carstensen-Egwuom: Perspektiven auf Geographien der Kolonialität

Massey, Doreen (2006): »Space, Time and Political Responsibility in the Midst of Global Inequality«, in: Erdkunde 60(2), S. 89–95. Mbembe, Achille (2000): »At the Edge of the World: Boundaries, Territoriality, and Sovereignty in Africa«, in: Public Culture 2(1), S. 259–284. McEwan, Cheryl (2019[2009]): Postcolonialism, decoloniality and development, London: Routledge. McKittrick, Katherine (2011): »On Plantations, Prisons, and a Black Sense of Place«, in: Social & Cultural Geography 12(8), S. 947–963. Michel, Boris (2019): »Making Mount Kilimanjaro German: Nation Nuilding and Heroic Masculinity in the Colonial Geographies of Hans Meyer«, in: Transactions of the Institute of British Geographers 44(3), S. 493–508. Mirzoeff, Nicholas (2011): The Right to Look. A Counterhistory of Visuality, Durham: Duke University Press. Moore, Jason W. (2016): »Über die Ursprünge unserer ökologischen Krise«, in: PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft 46(185), S. 599–619. Ndlovu-Gatsheni, Sabelo J. (2013): Coloniality of Power in Postcolonial Africa: Myths of Decolonization, Dakar: Codesria. Odumosu, Temi (2020): »The Crying Child. On Colonial Archives, Digitization, and Ethics of Care and Cultural Commons«, in: Current Anthropology 61(22), S. 289–302. Ofuatey-Alazard, Nadja; Grange, Nicolas (2016): ReMIX. Africa in Translation: Namibia. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn, https://www.bpb.de/m ediathek/video/254149/remix-africa-in-translation-namibia/, zuletzt geprüft am 03.07.2022. Oguntoye, Katharina; Opitz, May; Schultz, Dagmar (Hg.) (1986): Farbe bekennen. Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte, Berlin: Orlanda-Frauenverlag. Oyěwùmí, Oyèrónkẹ (2002): »Conceptualizing Gender: The Eurocentric Foundations of Feminist Concepts and the Callenge of African Epistemologies«, in: Jenda – A Journal of Culture and African Women Studies 2(1), S. 1–7. Pratt, Geraldine; Rosner, Victoria (2006): »Introduction: The Global & the Intimate«, in: Women’s Studies Quarterly 34(1/2), S. 13–24. Pratt, Mary Louise (1991): »Arts of the Contact Zone«, in: Profession, S. 33–40. Quijano, Aníbal (2000): »Coloniality of Power, Eurocentrism and Latin America«, in: Nepantla: Views from South 1(3), S. 533–578. Raphael-Hernandez, Heike; Wiegmink, Pia (2017): »German Entanglements in Transatlantic Slavery: An Introduction«, in: Atlantic Studies 14(4), S. 419–435.

51

52

Geographien der Kolonialität

Rivera Cusicanqui, Silvia (2018): Chꞌixinakax utxiwa. Eine Reflexion über Praktiken und Diskurse der Dekolonisierung, Münster: Unrast. Robinson, Cedric (1983): Black Marxism. The Making of the Black Radical Tradition, Chapel Hill: University of North Carolina Press. Roig, Emilia (2021): Why We Matter. Das Ende der Unterdrückung, Berlin: Aufbau Verlag. Roldão, Cristina; Kelly, Natasha A.; Casmiro, Gisela (2021): Wie gestalten wir antikoloniale und antirassistische Städte der Zukunft? Goethe-Institut Lissabon, Lissabon, https://www.re-mapping.eu/de/veranstaltungen/wie-gest alten-wir-antikoloniale-und-antirassistische-stadte-der-zukunft, zuletzt geprüft am 20.11.2022. Roth, Julia (2017): »Sugar and Slaves. The Augsburg Welser as Conquerors of America and Colonial Foundational Myths«, in: Atlantic Studies 14(4), S. 436–456. Schmidt, Katharina (2017): Ordinary Homeless Cities? Geographien der Obdach- und Wohnungslosigkeit in Rio de Janeiro und Hamburg, Dissertation, Hamburg, online verfügbar unter https://ediss.sub.uni-hamburg.de/bitstream/ediss/7 788/1/Dissertation.pdf, zuletzt geprüft am 03.07.2023. Schurr, Carolin; Segebart, Dörte (2012): »Engaging with Feminist Postcolonial Concerns through Participatory Action Research and Intersectionality«, in: Geographica Helvetica 67(3), S. 147–154. Sharp, Joanne P. (2009): Geographies of Postcolonialism. Spaces of Power and Representation, Los Angeles/London: SAGE. Singer, Katrin (2020): Confluencing Worlds. Skizzen zur Kolonialität von Kindheit, Natur und Forschung im Callejón de Huaylas, Peru, Dissertation, Hamburg, online verfügbar unter: https://ediss.sub.uni-hamburg.de/bitstream/ediss/6 315/1/Dissertation.pdf, zuletzt geprüft am 03.07.2023. Sousa Santos, Boaventura de (2018): Epistemologien des Südens: Gegen die Hegemonie des westlichen Denkens, Münster: Unrast. Stoler, Ann L. (2011): »Colonial Aphasia: Race and Disabled Histories in France«, in: Public Culture 23(1), S. 121–156. Tafari Ama, Imani (2017): »Rum, Schweiß und Tränen. Flensburgs Kolonialgeschichte und -erbe«, in: Grenzfriedenshefte, S. 85–104. Thompson, Vanessa E. (2020): Die Verunmöglichung von Atmen, Heinrich Boell Stiftung, Berlin, https://heimatkunde.boell.de/de/2020/09/02/die-veru nmoeglichung-von-atmen, zuletzt geprüft am 19.07.2021. Tlostanova, Madina; Mignolo, Walter (2009): »Global Coloniality and the Decolonial Option«, in: Kult 6, S. 130–147.

Sybille Bauriedl & Inken Carstensen-Egwuom: Perspektiven auf Geographien der Kolonialität

Trouillot, Michel-Rolph (2002): »Undenkbare Geschichte: Zur Bagatellisierung der haitianischen Revolution«, in: Sebastian Conrad, Shalini Randeria, Beate Sutterlüty (Hg.): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, 1. Aufl. Frankfurt a.M./New York: Campus, S. 73–103. Tuck, Eve; Yang, K. Wayne (2012): »Decolonization is Not a Metaphor«, in: Decolonization: Indigeneity, Education & Society 1(1), S. 1–40. Vergès, Françoise (2020): Dekolonialer Feminismus, Wien: Passagen Verlag. von Redecker, Eva (2020): Revolution für das Leben, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Weber, Klaus (2004): Deutsche Kaufleute im Atlantikhandel 1680–1830. Unternehmen und Familien in Hamburg, Cádiz und Bordeaux, München: Beck. Wekker, Gloria (2016): White Innocence. Paradoxes of Colonialism and Race, Durham: Duke University Press. Yıldız, Erol (2018): »Vom methodologischen Nationalismus zu postmigrantischen Visionen«, in: Marc Hill und Erol Yıldız (Hg.): Postmigrantische Visionen. Erfahrungen – Ideen – Reflexionen, Bielefeld: transcript, S. 43–61. Young, Robert J. C. (2016[2001]): Postcolonialism. An Historical Introduction, Chichester, West Sussex, UK/Malden, MA: Wiley Blackwell. Yusoff, Kathryn (2018): A Billion Black Anthropocenes or None, Minneapolis: University of Minnesota Press. Ziai, Aram (2006): Zwischen Global Governance und Post-Development. Entwicklungspolitik aus diskursanalytischer Perspektive, Münster: Westfälisches Dampfboot. Zimmerer, Jürgen (2004): »Im Dienste des Imperiums. Die Geographen der Berliner Universität zwischen Kolonialwissenschaften und Ostforschung«, in: Jahrbuch für Universitätsforschung 7, S. 73–100. Zimmerer, Jürgen; Todzi, Kim Sebastian (Hg.) (2021): Hamburg. Tor zur kolonialen Welt. Erinnerungsorte der (post-)kolonialen Globalisierung, Göttingen: Wallstein-Verlag. Zwischenraum Kollektiv (Hg.) (2017): Decolonize the City! Zur Kolonialität der Stadt – Gespräche, Aushandlungen, Perspektiven, Münster: Unrast.

53

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

Dekoloniale Geographien Michelle Daigle & Margaret Marietta Ramírez Wenn ich gegen Kolonialismus im Speziellen bin, dann muss ich auch gegen Kolonialismus im Allgemeinen sein. (Maracle 1996:123) Ich ringe darum, die Sprache für diese Arbeit zu finden, die Form für diese Arbeit zu finden. Sprache und Form bekommen täglich mehr Risse. (Sharpe 2016:19) In den fünf Jahren, die wir nun zusammenarbeiten, haben wir daran gearbeitet, eine Sprache für dekoloniale Geographien zu entwickeln. Doch wie das Zitat von Christina Sharpe zeigt, liegt in der Definition dieser Arbeit eine gewisse Unmöglichkeit, denn es gibt keine klar festgelegte Struktur, die dekoloniale Geographien in sich bindet und sie fein säuberlich abgrenzt. Den Worten von Gloria Anzaldúa (Moraga/Anzaldúa 1981) folgend, bauen wir diese Brücke, während wir sie beschreiten; es geht um sich formierende Konstellationen (constellations in formation). Die Unmöglichkeit besteht zum Teil darin, dass dekoloniale Geographien und koloniale Wissensregime nicht miteinander kompatibel sind. Es wäre kontraintuitiv zu versuchen, Indigene, Schwarze und andere kulturelle Wissenssysteme in sauberen Umrissen zu klassifizieren oder zu systematisieren. Und zusätzlich erkennen wir an, dass wir – eine cis Mushkegowuk-(Cree-)Frau und eine cis Xicana-Siedlerin – nicht über die Autorität verfügen, eine Definition für dekoloniale Geographien zu verkünden, die unverändert in Zeit und Raum existieren soll. Wir beide arbeiten innerhalb des nordamerikanischen Kontexts; unser Nachdenken ist verwurzelt in und auf dem Weg (rooted and routed) in den Orten und Genealogien, in denen wir beheimatet sind: Michelle schreibt aus den Territorien der Küsten-Salish, wo sie in den letzten zehn Jahren als ungeladener Gast gelebt hat, fernab von ihrem Heimatgebiet

58

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

der Mushkegowuk-Nation, welches heute gemeinhin als nördliches Ontario (Kanada) bekannt ist, und Magie aus den Ohlone-Territorien – heute Oakland (Kalifornien) genannt –, einem Ort, der in den letzten siebzig Jahren maßgeblich durch sein Schwarzsein definiert wurde und dessen Schwarze Bewohner*innen zurzeit mit entfesselten Enteignungen konfrontiert sind. Wir verstehen dekoloniale Geographien als diverse und in sich verwobene Landschaft, die in den Eigenheiten jedes einzelnen Ortes begründet liegt – beginnend mit Indigenem Land/Gewässern/Gemeinschaften,1 aus welchen eine Geographie entsteht, und mit den Arten und Weisen, auf die diese Orte zugleich durch radikale Traditionen des Widerstands und der Befreiung geformt werden – verkörpert von Schwarzen, Latinx, asiatischen und anderen rassifizierten Gemeinschaften. Die Gestalt des Dekolonialen wandelt sich in Abhängigkeit von dem jeweiligen Land, auf dem wir stehen – einschließlich der unterschiedlichen Sehnsüchte nach Dekolonisierung, die in den vielen Schichten der Orte eingeschrieben und mit den jeweils anwesenden Menschen verbunden sind (Tuck/Yang 2012). Das sind der Schlüssel und der Ausgangspunkt dekolonialer Geographien, die unser Denken und unsere Praxis prägen. Im Folgenden entwerfen wir dekoloniale Geographien als eine sich formierende Konstellation. Sprachlich bewegen wir uns dabei auf den Spuren der Nishnaabeg-Denkerin, -Aktivistin und -Künstlerin Leanne Betasamosake Simpson (2017) und ihrer Arbeit zu Konstellationen des gemeinsamen Widerstands (constellations of co-resistance), während unsere räumliche Rahmung aus dem In-Austausch-Bringen von Indigenen Geographien mit den Genealogien Schwarzer Geographien stammt, wie es Katherine McKittrick und Clyde Woods (2007) vorschlagen. Wir verorten dekoloniale Geographien innerhalb verkörperter Theorien und Praxen der Befreiung, um das verbindende Gewebe (fabric) verschiedener dekolonialer Kämpfe zu beleuchten. Abschließend beschäftigen wir uns mit sich formierenden Konstellationen, die sich in der Gegenwart materialisieren und konkretisieren, um radikale räumliche Zukunftsperspektiven zu entwerfen.

1

Anm. d. Übers.: Wir haben »people« bzw. das im Text häufig verwendete »peoples« je nach Kontext unter anderem als »Bevölkerungsgruppen«, »Gemeinschaften«, »Gesellschaften« oder »Menschen« übersetzt, da die Begriffe »Volk« und »Völker« im Deutschen meist mit rassistischen Diskursen konnotiert sind.

Michelle Daigle & Margaret Marietta Ramírez: Dekoloniale Geographien

Räumliches Weben »Konstellationen existieren nur im Kontext von Beziehungen; ohne diese wären sie nichts als einzelne Sterne.« (L.B. Simpson 2017: 215) Basierend auf der Arbeit von Leanne Betasamosake Simpson entwerfen und verstehen wir dekoloniale Geographien als Konstellationen von gemeinsamem Widerstand und Befreiung (co-resistance and liberation). Simpson verankert ihre Gedanken über Konstellationen innerhalb der Kosmologien der Nishinaabeg. Um darüber nachzudenken, wie Konstellationen gemeinsamen Widerstands eine Fluchtmöglichkeit »aus siedler*innenkolonialen Realitäten hin zu Indigenität« (L.B. Simpson 2017: 217) bieten können, verwendet sie Konzepte des Cree-Medienschaffenden und -Schriftstellers Jarrett Martineau (2015) zu affirmativer Verweigerung (affirmative refusal) sowie von Stefano Harney und Fred Moten (2013) zum Phänomen der Flüchtigkeit (fugitivity). Indem sie den Beziehungsaufbau zwischen Indigenen, Schwarzen und anderen rassifizierten Gemeinschaften in den Mittelpunkt rückt, befragt sie Indigene Gemeinschaften, mit wem sie/wir uns in Konstellationen befinden sollten. Auf diese Weise warnt sie davor, dass Indigenes Wiederaufleben (resurgence) »ohne stabile, auf Gegenseitigkeit beruhende Beziehungen mit Schwarzen Visionär*innen, die ebenfalls Alternativen in Hinblick auf Abolition, Dekolonisierung und Antikapitalismus entwickeln (co-creating), Gefahr laufe, anti-Schwarzen Rassismus zu reproduzieren« (L.B. Simpson 2017: 228f.). Wir verstehen sich formierende Konstellationen als das verkörperte Wissen Indigener Gesellschaften, das sich in einen Austausch und in eine Beziehung mit dem Wissen von Schwarzen und anderen enteigneten Gemeinschaften begibt. Im Falle Indigener Gemeinschaften schließt dies ein Wissen über den Ort, über das Land und über die Gewässer mit ein, »in denen ihre Wurzeln liegen und für die sie seit Generationen Sorge getragen haben« (Coulthard/Simpson 2016; L.B. Simpson 2014). Dazu zählen auch städtische Räume, denn, wie wir immer wieder betonen, auch diese sind Teil Indigener Geographien – trotz unermüdlicher Umdeutungen mittels weißer proprietärer Logiken und Praktiken. Laut Simpson müssen sich dekoloniale Geographien »als ortsgebundene Konstellationen in Theorie und Praxis« formieren, um Indigene Weisheit in den Vordergrund zu rücken, die von Grund auf neu erschaffen wird (L. B. Simpson 2017: 231). Diese verankerten Praktiken bleiben ein wichtiger Bestandteil Indigener Geographien, da sie pädagogische Zugänge zu Verbindungen mit der menschlichen und nicht-menschlichen Welt bilden. Wie

59

60

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

Simpson es formuliert, speist sich das radikale Wiederaufleben aus Systemen verkörperter Weisheit und hat schon immer in verschiedenartigen, miteinander verbundenen Indigenen Landschaften existiert. Indigene Geographien sind räumlich verwoben mit denen anderer enteigneter Gemeinschaften, wobei unserem Nachdenken über dekoloniale Geographien insbesondere Schwarze Geographien zugrunde liegen. McKittrick und Woods arbeiteten an einer Sprache Schwarzer Geographien, indem sie ein umfassendes Repertoire an Raumtheorie zusammentrugen, das sowohl die Plantagenwirtschaft als zentralen Knotenpunkt des racial capitalism in den Amerikas verortet, als auch zeigt, wie »Schwarze Leben in dem von Schwarzen Subjekten vermittelten geographischen Wissen begründet sind« (2007: 6f.). Wie es McKittrick ausdrückt, strukturieren »die miteinander verknoteten diasporischen Grundlagen von Kolonialismus, Entmenschlichung und Widerstand« ein Schwarzes Raumbewusstsein (Black sense of place), »in dem sich die Gewalt der Vertreibung und Gefangenschaft, die innerhalb der Plantagenwirtschaft angewendet wurde, ausbreitet und eine geographische Fortsetzung erhält« (2011: 949). Wir orientieren das Nachdenken über dekoloniale Geographien, basierend auf McKittrick und Woods’ räumlicher Methode, an der Auffassung, dass Raum unterschiedlich wahrgenommen und produziert wird. Eine sich formierende Konstellation nimmt also die Gestalt zahlreicher Sterne, zahlreicher Wurzeln und Wege (roots and routes) an – verkörperte Konzeptualisierungen von Raum, die sich im Streben nach einer dekolonialen Vision formieren.2 Wir behaupten: Das Dekoloniale ist eine affirmative Verweigerung von weißer Vorherrschaft, anti-Schwarzem Rassismus, dem kolonialen Siedler*innenstaat und einer rassifizierten politischen Ökonomie von Einhegung, Vertreibung und Gewalt (Coulthard 2014; A. Simpson 2014a; L.B. Simpson 2017). Wie die Mohawk-Gelehrte Audra Simpson (2014a) darlegt, verurteilt eine Politik der Verweigerung (politic of refusal) die koloniale Enteignung und Gewalt gegen Indigenes Land und Indigene Körper grundsätzlich und bildet die Grundlage Indigener Einheit (Indigenous nationhood). Wie Indigene und

2

Es ist nicht unsere Absicht, die Reichweite, Mobilität und Komplexität Indigener Geographien oder das verkörperte und landbezogene Wissen Schwarzer und anderer rassifizierter Bevölkerungsgruppen einzuschränken. Vielmehr möchten wir die räumlichen Verwebungen dekolonialer Geographien ins Zentrum stellen, wie sie sich auf geraubtem und besetztem Indigenen Land und Gewässern darstellen [im Original Endnote 1, d. Übers.].

Michelle Daigle & Margaret Marietta Ramírez: Dekoloniale Geographien

Schwarze Befreiungsbewegungen über Zeit und Raum hinweg immer wieder gezeigt haben, erfordert diese Verweigerung die Zerstörung von Unterdrückungssystemen wie dem rassistisch-kapitalistischen Gefängnissystem, den staatlichen Streitkräften, den weißen Ansprüchen auf Landeigentum und Landrechten sowie der kolonial-kapitalistischen Ressourcenausbeutung (Fabris 2017; Gilmore 2007; Hunt 2015; Maynard 2017; Robinson 1983). Verweigerung ist außerdem eine umfassende Politik des Widerstands, die darauf achtet, wie miteinander verbundene Gewalttaten gegen rassifiziertes Land, Räume und Körper auf alltägliche und unmittelbare Weise reproduziert werden (Cowen 2017; Million 2013; A. Simpson 2016). Verweigerung ist Befreiung von den gewaltvollen Übergriffen des Siedler*innenkolonialismus und den Strukturen weißer Vorherrschaft. Zugleich basiert Befreiung auch auf Verweigerung durch eine kraftvolle Ausgestaltung und Verkörperung alternativer Beziehungsstrukturen (relationalities). Wir argumentieren, dass beim Weben dekolonialer Geographien in den Amerikas Dekolonisierung im Zusammenhang mit Abolitionismus verstanden werden muss – ein in der Black Radical Tradition verwurzelter Befreiungskampf (Anderson/Samudzi 2018; Johnson/Lubin 2017; Kelley 2002). Der Begriff Abolitionismus steht für den Kampf für eine Gesellschaft ohne Gefängnisse und Polizei, angetrieben durch Schwarze Geographien. Als Bewegung hat Abolitionismus zum Ziel, anti-Schwarzen Rassismus, der den Machtstrukturen weißer Vorherrschaft inhärent ist, zu beseitigen. Sie entwirft Beziehungsalternativen, die auf der Achtung Schwarzen Menschseins beruhen (Davis 2003; Harney/Moten 2013). Anderson und Samudzi stellen dazu fest: »Die Befreiung Schwarzer Menschen (Black liberation) stellt eine existenzielle Gefahr für weiße Vorherrschaft dar, weil die Existenz freier Schwarzer Menschen eine völlige Transformation und Zerstörung des Siedler*innenstaats erfordert.« (2018: 8) Gleichzeitig fordern Indigene Bewegungen für einen radikalen Neubeginn eine umfangreiche Transformation des gegenwärtigen Siedler*innenkolonialismus, angeführt von Indigenen Politik- und Rechtsverständnissen, die trotz kolonialer Enteignung und Gewalt überdauert haben und beständig erneuert wurden. Gemeinsam streben diese beiden Bewegungen eine Gesellschaft jenseits von Kriminalisierung, Raubbau, militarisierten Grenzen und Gewalt an, indem sie Strukturen und Beziehungen einfordern und verkörpern, die auf den Prinzipien einer Gerechtigkeit der Wiedergutmachung und Transformation sowie einer relationalen Verantwortung (relational accountability) beruhen (Berger 2014; Kaba 2012; Loyd et al. 2012).

61

62

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

Auf Grundlage der herausragenden Erkenntnisse Indigener und Schwarzer feministischer, queerer und Two-Spirit-Gelehrten verstehen wir Befreiung als Verweigerung von hetero-patriarchaler Gewalt sowie Überwachung und Kriminalisierung von Geschlechtervielfalt und -intimitäten in Indigenen und Schwarzen Communitys (Crenshaw/Ritchie 2015; Hunt 2015; Maynard 2017; Women’s Earth Alliance and Native Youth Sexual Health Network 2016; L.B. Simpson 2017). Trotz zahlreicher Unterschiede sind Indigene und Schwarze Frauen, Jugendliche sowie queere, trans* und Two-Spirit-Personen in Siedler*innenkolonialen Kontexten weiterhin verknüpften Formen vergeschlechtlichter kolonialer und anti-Schwarzer Gewalt ausgesetzt. Körperliche Souveränität ist daher für die Befreiung von wesentlicher Bedeutung, zumal sie ein entscheidender Faktor für Wissen und Selbstbestimmung ist (Simpson/ Maynard 2018). Audra Simpson (2014b) führt diesen Punkt mit Nachdruck aus: Die Körper Indigener Frauen sind politische Gebilde und stellen allein durch ihre Existenz eine Bedrohung für die koloniale Siedler*innenordnung dar. Aus ähnlichen Überlegungen heraus thematisiert der Latinx-Feminismus, wie Latinx-Menschen aus denselben kolonialen Gewalttätigkeiten, die ihr Land und ihre und Körper zerstören, dekoloniale Räume ersinnen und erschaffen (Anzaldua 1987; Perez 1999; Sandoval 2000). Der vernarbte Mestizx-Körper wurde durch den Kolonialismus hervorgebracht; Latinx-Migration über koloniale Grenzen hinweg verkompliziert die Beziehung von Latinx-Menschen zu Land und Orten. Texte von queeren und feministischen Latinx betonen zudem, wie sich der Latinx-Körper durch sein verkörpertes DazwischenSein (in-betweenness) der Gewalt der kolonialen Grenze verweigert und wie aus dem Dazwischen oder dem Grenzraum (borderland), den Latinx-Menschen bewohnen, dekoloniale Möglichkeiten entstehen. Wie es Alan Pelaez Lopez eindrücklich beschreibt, ist das X in »Latinx« eine sichtbare Wunde, die die Latinx-Diaspora zu einer Auseinandersetzung mit dem Erbe von Siedler*innenkolonialismus, anti-Schwarzem Rassismus, Femiziden an cis und trans* Frauen sowie kollektiver Sprachlosigkeit als Resultat der Geschichte kolonialer Auslöschung zwingt. Pelaez Lopez (2018) erklärt es wie folgt: »Das X ist ein Bemühen, die verschiedenen Formen von Gewalt deutlich zu machen, die von Kolonisierung und Versklavung ausgehen und sich gegen Frauen und Femmes richten. Es weist darauf hin, dass viele von uns solch intensive Vertreibung und solch ein Schweigen erfahren, dass uns keine Sprache zur Verfügung steht, in der wir ausdrücken könnten, wer wir sind.«

Michelle Daigle & Margaret Marietta Ramírez: Dekoloniale Geographien

So ruft sie Latinx-Gemeinschaften dazu auf, sich befreiende Zukünfte vorzustellen, in deren Mittelpunkt auch Indigene sowie Schwarze und trans* Gemeinschaften stehen. Beim Weben eines Geflechts dekolonialer Geographien im nordamerikanischen Kontext ist es notwendig, diese multiplen Geographien Schwarzer, Brauner sowie Indigener Gemeinschaften in Bezug zueinander zu betrachten, um sowohl die miteinander verbundenen Kämpfe um Land und Raum zu beleuchten, als auch um zu zeigen, wie diese zu Grundpfeilern von Selbstbestimmung und Freiheit werden. Im Folgenden betrachten wir, wie sich das verflochtene Feld dekolonialer Geographien als sich formierende Konstellationen manifestiert.

Sich formierende Konstellationen Als die Trump-Regierung 2017 ein antimuslimisches Einreiseverbot erließ, verkörperten Indigene Aktivist*innen wie Melanie Yazzie (Dine) und Nick Estes (Kul Wicasa, Lower Brule Sioux) auf kraftvolle Weise Indigene Rechtsansprüche, indem sie auf dem Los Angeles International Airport forderten: no bans on stolen land (keine Verbote auf geraubtem Land) (Monkman 2017). Angeführt durch die Tongva-Gemeinschaft, die ursprünglich und rechtmäßig Sorge für dieses Gebiet trägt, führten sie Willkommenszeremonien für Geflüchtete und muslimische Familien durch. Damit machten sie die miteinander verbundenen Kämpfe gegen xenophoben Rassismus, das Polizieren der Grenzen durch den kolonialen Siedler*innenstaat sowie fortwährende Enteignungen von Indigenem Land und Indigenen Körpern sichtbar. Diese Präsenz Indigener Aktivist*innen war auch deshalb von größter Wichtigkeit, weil landesweite anti-muslimische Proteste Indigene Autorität zu zerstören drohten. Estes führt dazu aus: »[E]s bedeutet, dass die Vereinigten Staaten als Siedler*innennation nicht das letzte Wort haben, bei der Frage wer oder was ins Land kommt, weil es überhaupt nicht das ihre ist […] Wenn wir uns als Indigene Gesellschaften so verhalten, bedeutet es eine Wiederaneignung unserer Souveränität, unserer Bürger*innenschaft (citizenship) und noch viel wichtiger, unserer Verwandtschaft und Verbundenheit (kinship).« (zitiert nach Monkman 2017)

63

64

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

Indem sie Willkommenszeremonien auf dem Los Angeles International Airport abhielten, formten Indigene Aktivist*innen Konstellationen des gemeinsamen Widerstands (constellations of co-resistance) durch eine Ethik der relationalen Verantwortung (ethic of relational accountability) gegenüber ihrem Land und ihren Gemeinschaften. Diese Ethik beruht auf Gegenseitigkeit, und in ihr sind Indigene Gemeinschaften angehalten, das zu praktizieren, was Wissenschaftler*innen wie Glen Coulthard (Dene) (2017) als »radikale Gastfreundschaft« (radical hospitality) bezeichnen: Auf diese Weise werden die neoliberale ökonomische Logik der kolonialen Siedler*innengrenze und das in den Worten von Iyko Day (2016: 172) »widersprüchliche Versprechen von Siedler*innen-Gastfreundschaft« abgelehnt. Radikale Gastfreundschaft verpflichtet Indigene Gemeinschaften dazu, andere enteignete Gruppen, die durch die Gewalt des racial capitalism vertrieben wurden, entsprechend ihren/unseren eigenen Gesetzen in ihrer/unserer Heimat willkommen zu heißen. Indessen muss sich, wie die südasiatische Aktivistin und Schriftstellerin Harsha Walia (2012) argumentiert, auch der Kampf für Gerechtigkeit von rassistisch vertriebenen (racially displaced) Migrant*innen mit Indigenem Widerstand gegen Siedler*innenkolonialismus solidarisieren und von einer gründlichen und umfassenden Verantwortlichkeit gegenüber Orten und ihren Menschen getragen werden. Coulthard (2017) erinnert uns daran, dass diese Konstellationen nichts Neues sind, genauso wenig wie das überlieferte Wissen der Ahn*innen (ancestral knowledge) und die politischen Traditionen, auf denen sie basieren. Indem Coulthard den globalen anti-imperialistischen Dialog nachzeichnet, der sich in den 1960er und 1970er Jahren zwischen Schwarzem und Indigenem politischen Denken entwickelte, verdeutlicht er die raum-zeitlichen Perspektiven (spatio-temporality) radikaler Kritiken des Kolonialismus sowie der Befreiungsideen, die durch Indigene und Schwarze Geographien entstanden sind. Jüngere Diskussionen zu Cedric Robinsons Theorie des racial capitalism bauen auf diesen Verständnissen auf, indem sie nicht nur das globale und verflochtene Feld radikalen Denkens und Widerstands über transatlantische Schwarze Geographien hinweg nachverfolgen (Kelley 2017), sondern auch – und dies ist entscheidend – indem sie den afrikanischen Kontinent wieder als Indigenen Raum geltend machen. Überall um uns herum formieren sich Konstellationen. Indem sie räumliche Praktiken des Widerstands, der Verweigerung und der Befreiung miteinander verweben, können sie immer neu eine Politik der Orte (politics of place) entwerfen und verkörpern. Diese historischen und stets aufs Neue entstehen-

Michelle Daigle & Margaret Marietta Ramírez: Dekoloniale Geographien

den Beziehungen zwischen dekolonialen Kämpfen überschreiten koloniale Grenzen, indem sie das verflochtene Feld von racial capitalism, Kolonialismus und weißer Vorherrschaft aufzeigen – von einem Raum zum nächsten. Mehr noch: Durch die Konstellation als räumliches Konzept erschaffen und erneuern Gemeinschaften an verschiedenen Orten Zukünfte, die immer schon in ihren/unseren Gesellschaften vorhanden waren. Diese räumlichen Formationen des Widerstands sowie des Erschaffens und Gestaltens schöpfen aus den Geschichten und Geographien Schwarzer, Brauner sowie Indigener Gesellschaften, um sich wieder zu verwurzeln und wieder Wege zu verantwortungsvolleren Beziehungen zu bahnen (re-root and re-route). Genau das ist es, was wir als das Herz dekolonialer Geographien betrachten: dass diese Sterne Konstellationen bilden, die uns auf dem Weg in dekoloniale Zukünfte leiten.

Übersetzung Übersetzt aus dem Englischen von Boka En und Michael En mit editorischer Überarbeitung und Austausch mit den Autorinnen zur Übersetzung zentraler Begriffe durch die Herausgeberinnen. Für ihre ausführlichen Erläuterungen danken wir Margaret Marietta Ramírez und Michelle Daigle sehr herzlich. Sofern nicht anders angegeben, wurden die im Text vorkommenden Zitate aus englischsprachigen Werken ebenfalls von Boka En und Michael En ins Deutsche übersetzt. Ursprünglich erschienen als »Decolonial Geographies« (2019) in: Antipode Editorial Collective (Hg.): Keywords in Radical Geography, Antipode at 50. Hoboken, NJ: Wiley-Blackwell, S. 78–84. (free access). Übersetzt und abgedruckt mit freundlicher Genehmigung von John Wiley and Sons. © Antipode Foundation Ltd.

Literatur Anderson, William C.; Samudzi, Zoé (2018): As Black as Resistance. Finding the Conditions for Liberation, Chico: AK Press. Anzaldúa, Gloria (1987): Borderlands. La Frontera, San Francisco: Aunt Lute. Berger, Dan (2014): Captive Nation. Black Prison Organizing in the Civil Rights Era, Chapel Hill, NC: University of North Carolina Press. Coulthard, Glen S. (2014): Red Skin, White Masks. Rejecting the Colonial Politics of Recognition, Minneapolis: University of Minnesota Press.

65

66

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

Coulthard, Glen S. (2017): Fanonian Antinomies, Vortrag in Vancouver, CA: Simon Fraser University, Datum: 25.9.2017. Coulthard, Glen S.; Simpson, Leanne Betasamosake (2016): »Grounded Normativity/Place-Based Solidarity«, in: American Quarterly 68(2), S. 249–255. Cowen, Deborah (2017): Infrastructures of Empire and Resistance, Verso Book Blog, https://www.versobooks.com/blogs/3067-infrastructures-of-empir e-and-resistance, zuletzt geprüft am 10.07.2021. Crenshaw, Kimberlé; Ritchie, Andrea (2015): Say Her Name. Resisting Police Brutality Against Black Women, New York: African American Policy Forum. Davis, Angela Y. (2003): Are Prisons Obsolete? New York: Seven Stories Press. Day, Iyko (2016): Alien Capital. Asian Racialization and the Logic of Settler Colonial Capitalism, Durham: Duke University Press. Fabris, Michael (2017): »Decolonizing Neoliberalism? First Nations Reserves, Private Property Rights, and the Legislation of Indigenous Dispossession in Canada«, in: Maja H. Bruun; Patrick J. L. Cockburn; Bjarke S. Risager; Mikkel Thorup (Hg.): Contested Property Claims. What Disagreement Tells Us About Ownership, Abingdon, Oxon/New York, NY: Routledge, S. 185–204. Gilmore, Ruth W. (2007): Golden Gulag. Prisons, Surplus, Crisis, and Opposition in Globalizing California, Berkeley: University of California Press. Harney, Stefano; Moten, Fred (2013): The Undercommons. Fugitive Planning and Black Study, New York: Minor Compositions. Hunt, Sarah (2015): Violence, Law, and the Everyday Politics of Recognition, Vortrag in Washington, DC, Datum: 06.06.2015. Johnson, Gaye T.; Lubin, Alex (Hg.) (2017): Futures of Black Radicalism, London/ New York: Verso. Kaba, Mariame (2012): Transformative Justice. Prison Culture Blog, https://ww w.usprisonculture.com/blog/transformative-justice/, zuletzt geprüft am 13.07.2021. Kelley, Robin D. G. (2002): Freedom Dreams. The Black Radical Imagination, Boston: Beacon Press. Kelley, Robin D. G. (2017): »What did Cedric Robinson Mean by Racial Capitalism?«, in: Boston Review, http://bostonreview.net/race/robin-d-g-kelle y-what-did-cedric-robinson-mean-racial-capitalism, zuletzt geprüft am 10.07.2021. Loyd, Jenna M.; Mitchelson, Matt; Burridge, Andrew (2012): Beyond Walls and Cages. Prisons, Borders, and Global Crisis, Athens: University of Georgia Press. Maracle, Lee (1996): I am Woman. A Native Perspective on Sociology and Feminism, Vancouver: Press Gang Publishers.

Michelle Daigle & Margaret Marietta Ramírez: Dekoloniale Geographien

Martineau, Jarrett (2015): Creative Combat. Indigenous Art, Resurgence, and Decolonization, Unveröffentlichte Dissertation, University of Victoria. Maynard, Robyn (2017): Policing Black Lives. State Violence in Canada from Slavery to the Present, Winnipeg: Fernwood. McKittrick, Katherine (2011): »On Plantations, Prisons, and a Black Sense of Place«, in: Social & Cultural Geography 12(8), S. 947–963. McKittrick, Katherine; Woods, Clyde A. (Hg.) (2007): Black Geographies and the Politics of Place, Toronto: Between the Lines. Million, Dian (2013): Therapeutic Nations. Healing in an Age of Indigenous Human Rights, Tucson: University of Arizona Press. Monkman, Lenard (2017): »›No Ban on Stolen Land‹, Say Indigenous Activists in U.S.«, CBC News, https://www.cbc.ca/news/indigenous/indigenous-ac tivists-immigration-ban-1.3960814, zuletzt geprüft am 13.07.2021. Moraga, Cherríe; Anzalduá, Gloria (Hg.) (1981): This Bridge Called my Back. Writings by Radical Women of Color, Watertown: Persephone. Pelaez Lopez, Alan (2018): The X In Latinx Is A Wound, Not A Trend, Color Bloq, htt ps://www.colorbloq.org/article/the-x-in-latinx-is-a-wound-not-a-trend, zuletzt geprüft am 13.07.2021. (Im Original inaktiver Link: http://efniks.c om/the-deep-dive-pages/2018/9/11/the-x-in-latinx-is-a-wound-not-a-tre nd) Pérez, Emma (1999): The Decolonial Imaginary. Writing Chicanas into History, Bloomington: Indiana University Press. Robinson, Cedric J. (1983): Black Marxism. The Making of the Black Radical Tradition, London: Zed Book. Sandoval, Chela (2000): Methodology of the Oppressed, Minneapolis: University of Minnesota Press. Sharpe, Christina E. (2016): In the Wake. On Blackness and Being, Durham/ London: Duke University Press. Simpson, Audra (2014a): Mohawk Interruptus. Political Life Across the Borders of Settler States, Durham: Duke University Press. Simpson, Audra (2014b): The Chief’s Two Bodies. Vortrag auf der Annual Critical Race and Anticolonial Studies Conference. University of Alberta, Athabasca University. Edmonton, Alberta, Canada. Oktober 2014. Online verfügbar unter: https://vimeo.com/110948627, zuletzt geprüft am 13.06.2023. Simpson, Audra (2016): Reconciliation and its Discontents. Settler Governance in an Age of Sorrow. Vortrag in Saskatoon, Saskatchewan, Canada: University of Saskatchewan. Datum: 15.03.2016. Online verfügbar unter https://www.y outube.com/watch?v=vGl9HkzQsGg, zuletzt geprüft am 13.07.2021.

67

68

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

Simpson, Leanne Betasamosake (2014): »Land as Pedagogy: Nishnaabeg Intelligence and Rebellious Transformation«, in: Decolonization: Indigeneity, Education, and Society 3(3), S. 1–25. Simpson, Leanne Betasamosake (2017): As We Have Always Done. Indigenous Freedom Through Radical Resistance, Minneapolis: University of Minnesota Press. Simpson, Leanne Betasamosake; Maynard, Robyn (2018): »Leanne Betasamosake Simpson in Conversation with Robyn Maynard«, CKUT 90.3FM, 23.04.2018, https://soundcloud.com/radiockut/leanne-betasamo sake-simpson-in-conversation-with-robyn-maynard, zuletzt geprüft am 13.07.2021. Tuck, Eve; Yang, K. W. (2012): »Decolonization is Not a Metaphor«, in: Decolonization: Indigeneity, Education & Society 1(1), S. 1–40. Walia, Harsha (2012): »Decolonizing Together. Moving beyond a Politics of Solidarity Toward a Practice of Decolonization«, Biar Patch Magazine, Regina, Canada, https://briarpatchmagazine.com/articles/view/decolonizing-tog ether, zuletzt geprüft am 13.07.2021. Women’s Earth Alliance and Native Youth Sexual Health Network (2016): Violence on the Land, Violence on our Bodies. Building an Indigenous Response to Environmental Violence, Berkeley, Toronto, http://landbodydefense.org/upload s/files/VLVBReportToolkit2016.pdf, zuletzt geprüft am 13.07.2021.

Commons-Forschung dekolonisieren Ein Gespräch mit Sybille Bauriedl & Inken Carstensen-Egwuom Franklin Obeng-Odoom

Dekolonisierung von Natur, Wirtschaft und Gesellschaft Inken Carstensen-Egwuom (ICE): Wir interessieren uns in unserem Buch für koloniale Kontinuitäten im Zusammenhang mit räumlichen Strukturen der Ungleichheit, Enteignung und Akkumulation. Unserer Auffassung nach ist die Untersuchung der kolonialen Hinterlassenschaften heutiger Eigentumsregime eine der relevantesten Fragen, um tief verwurzelte Strukturen von Ungleichheit zu verstehen. In Ihrer Forschung befassen Sie sich mit sozial-ökologischen Krisen im Globalen Süden und beleuchten auch Fragen der sozialen Stratifikation und der sozialen Gerechtigkeit – sowohl in städtischen als auch in ländlichen Gebieten. Besonders vor diesem Hintergrund bietet Ihr jüngstes Buch »The Commons in an Age of Uncertainty. Decolonizing Nature, Economy, and Society« (Obeng-Odoom 2021b) eine überzeugende und reichhaltige Perspektive auf intellektuelle Debatten und politische Praktiken rund um die Kritik privater, exkludierender und ungleicher Eigentumsregime. Dabei ist die Forschung rund um die Commons (Gemeingüter), die Fragen der Organisation kollektiven Eigentums sowie Fragen zu kooperativen Ansätzen der Regulierung des Zugangs zu Ressourcen thematisiert, sehr wichtig. Wir sind besonders an Ihrem dekolonialen Ansatz zu diesem Wissensgebiet interessiert. Könnten Sie Ihr spezifisches Verständnis von dem, was Sie die Commons nennen, und Ihre dekoloniale Perspektive darauf näher erläutern? Franklin Obeng-Odoom (FOO): Das Buch ist von mir als zweiter Teil einer dreiteiligen Analyse konzeptualisiert, und ich betrachte es als einen Beitrag

70

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

zur Black Radical Tradition (Robinson 1983). Also möchte ich Ihre Frage aus dieser Perspektive beantworten. Ich habe diese dreiteilige Analyse mit meinem Buch »Property, Institutions, and Social Stratification in Africa« (ObengOdoom 2020a) begonnen, in dem ich versucht habe, soziale Ungleichheit und Stratifikation in Afrika und zwischen Afrika und dem Rest der Welt mit neuen Perspektiven zu untersuchen. In »The Commons in an Age of Uncertainty«, dem Buch über die Commons, auf das Sie sich beziehen, habe ich versucht, die Black Radical Tradition mit Bezug zu sozial-ökologischen Themen weiterzuentwickeln. Im letzten Teil meiner dreiteiligen Analyse möchte ich die Kraft dieser Tradition für ein neues Nachdenken über globale Migration nutzen (Obeng-Odoom 2022). Für die Black Radical Tradition steht nicht nur der Mainstream der Forschung im Mittelpunkt der Kritik, wie in einigen dekolonialen Ansätzen, sondern auch die sogenannte progressive Wissenschaft. Ich unterscheide zwei wichtige Denkrichtungen innerhalb der ökonomischen Wissenschaften, die ich als koloniale Ansätze bezeichne: erstens, das herrschende Verständnis (conventional wisdom)1 und zweitens, den westlichen linken Konsens (western left consensus). Beide beziehen sich zentral auf Wachstum und das Kapital. Beide basieren außerdem auf der Priorisierung der Interessen des Globalen Nordens und universalisieren dessen Denk- und Lösungsansätze. Mein dekolonialer Ansatz ist die dritte Denkrichtung in der von mir entwickelten Taxonomie: der Ansatz der radikalen Alternative. Er betont globale Ungleichheiten und Stratifikation, global ungleiche Landverhältnisse und die Betroffenheit des Globalen Südens von den sozial-ökologischen Krisen in der Welt. Ich beziehe mich auf die Politische Ökonomie von Henry George, die sich von der marxistischen Politischen Ökonomie unterscheidet. Land ist zentral für alle Aspekte meiner Analyse. Viele Marxist*innen sagen: »Aber Marx hat auch über Land gesprochen«, und dann ist meine Antwort: »Ich habe nie gesagt, dass Karl Marx sich nicht mit Landfragen beschäftigt hat«. Wenn man sich den Kreislauf des Kapitals ansieht, dann sind bei Marx Land und Kapital aber dasselbe, es gibt keinen besonderen Platz für Land im Kreislauf des Kapitals, auch wenn die meisten kreativen Marxist*innen einen Weg finden, dieses

1

Die Übersetzenden haben sich gegen die wörtlich-exakte Übersetzung von »konventioneller Weisheit« entschieden, da es in der Argumentation eher um eine Abgrenzung von einem allgemeinen, herrschenden Verständnis geht und im Deutschen die »Weisheit« eine andere Konnotation hat als im Englischen.

Franklin Obeng-Odoom: Commons-Forschung dekolonisieren

Problem zu bearbeiten. Wenn zum Beispiel von Bodenrente2 die Rede ist, sagen sie: »Die Rente ist eines der Elemente des Mehrwerts«. In meinem eigenen Ansatz ist das Gegenteil der Fall: Land ist ausschlaggebend, alles andere ist sekundär. Die Art und Weise, wie ich über Land nachdenke und die Analyse von Arbeit und Kapital als begrenzt ansehe, das unterscheidet sich sehr von marxistischen Ansätzen. Diese Hervorhebung von Land zieht sich durch alle drei Projekte, über die ich gesprochen habe. Georgisten sind zwar nicht die Besten, wenn es um postkoloniale Analysen geht, aber das sind auch nicht die Anhänger des herrschenden Verständnisses oder des westlichen linken Konsenses. Mein dekolonialer Ansatz zu sozial-ökologischen Krisen bezieht Einsichten aus all diesen Ansätzen mit ein, will aber über sie hinausgehen. Ich versuche zum Beispiel, von Wissenschaftler*innen des Südens zu lernen – nicht nur von ihren empirischen Erkenntnissen, sondern auch von ihrer Theoriebildung. Ich nutze beides für ein kritisches Hinterfragen des kapital-, wachstums- und auf den Globalen Norden zentrierten Commons-Ansatzes. So unterscheidet sich mein Ansatz von dem allgemeinen Verständnis der Commons und auch deutlich von dem, was ich den westlichen linken Konsens nenne. ICE: Sie beziehen sich in ihrer Argumentation ausführlich auf Elinor Ostrom, die sich in ihrer Forschung zu Commons auf die Möglichkeiten der Kooperation und die Komplexität der Entscheidungsfindung bei der Verwaltung von gemeinschaftlich genutzten Ressourcen konzentriert hat. Sie argumentierte dabei gegen Garrett Hardins Position (Hardin 1968), die man als »herrschendes Verständnis« bezeichnen könnte, dass jede common-pool-Ressource schließlich übernutzt und zerstört würde. Sie kritisiert seine Lösungsvorschläge durch top-down-Regierungsinterventionen oder Privatisierungen. In verschiedenen Fallstudien, die Ostrom mit Kolleg*innen durchgeführt hat, konnte sie zeigen, dass Menschen sehr wohl die Fähigkeit besitzen, Ressourcen ohne massive staatliche Intervention kooperativ zu bewirtschaften und zu pflegen – wenn

2

Die Bodenrente ist bspw. im Kontext städtischer Geographien der lagebedingte Ertrag bzw. standortbedingte Zusatzprofit, der pro Flächeneinheit aus Vermietung oder Verkauf eines Grundstücks zu erzielen ist. Durch unterschiedliche Bodenrenten und die private Aneignung dieser Renten werden soziale Ungleichheiten produziert (Schneider-Sliwa/Eder 2001). Für eine Diskussion zum Begriff der Renten im Rahmen georgistischer Politischer Ökonomie siehe Obeng-Odoom 2015; 2021c; Haila 2016; Harrison 2021.

71

72

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

sie ein langfristiges Interesse daran haben, in das Monitoring der Ressourcennutzung zu investieren und in der Lage sind, ihre eigenen Regeln aufzustellen und Vertrauen zu entwickeln (Ostrom 1999; 2012a). Dieses Verständnis der Commons scheint uns ein recht hoffnungsvoller Ansatz für eine nachhaltige Entwicklung zu sein, und er ist auch für Bewegungen von großer Bedeutung, die sich für soziale Gerechtigkeit engagieren. Was ist Ihre Perspektive auf diesen Ansatz? FOO: Ostrom mag so wirken, als würde sie eine fundamentale Kritik am herrschenden Verständnis üben, aber man muss über das hinausgehen, was die Leute schreiben oder sagen, und sich anschauen, auf welchem Wege sie das erreichen wollen. Ich bezweifle sehr, dass Ostrom über eine Theorie der Gerechtigkeit verfügte. Wie ich in Kapitel 3 von »The Commons in an Age of Uncertainty« (Obeng-Odoom 2021b) erörtere, dreht sich Ostroms Ansatz zur Nachhaltigkeit um etwas, das sie polyzentrische Governance nennt, oder – noch stärker im Kontext sozial-ökologischer Fragen – »Grün von den Graswurzeln her« (Ostrom 2012b). Sie geht davon aus, dass alle einen Beitrag leisten sollten. So, als ob wir alle gleichermaßen an der Entstehung und an der Aufrechterhaltung der aktuellen Krisen beteiligt wären. Im Buch ordne ich Ostrom also in die Kategorie des herrschenden Verständnisses ein. Ich kann keinen strukturellen Unterschied zwischen den Ansätzen von Ostrom und von Hardin erkennen. Sie sind sich durchaus ähnlich, wie auch Hardin selbst in einem späteren Text betonte (Hardin 1998). Wenn man sich Ostroms Arbeit genau anschaut, dann sagt sie nicht, dass Hardin grundsätzlich falsch liegt, sondern, dass Hardins Ansatz nicht der einzig denkbare Weg ist. Sie schlägt also lediglich einen Ansatz zusätzlich zu Hardins vor, nicht konträr zu ihm. Um Ostroms alternative Herangehensweise wirklich zu verstehen, müssen wir für einen Moment ihre Arbeit als berühmte Politikwissenschaftlerin und spätere Nobelpreisträgerin für Wirtschaftswissenschaften beiseitelassen und uns ihre Doktorarbeit ansehen. Akademiker*innen neigen dazu, in ihrem Tun auf ihren vorherigen Arbeiten aufzubauen, und deshalb ist die Geschichte ihres Denkens und Schreibens wichtig für das Verständnis dessen, was sie uns heute präsentieren. Ostrom war eine Public-Choice-Theoretikerin3 3

Die Public-Choice-Theorie (Theorie der öffentlichen Wahl) geht davon aus, dass »politisch Verantwortliche zunächst ihren individuellen Nutzen und erst danach das Gemeinwohl im Sinn [haben]. Der persönliche Nutzen eines Politikers ist z.B. sein Anse-

Franklin Obeng-Odoom: Commons-Forschung dekolonisieren

und wie alle Public-Choice-Theoretiker*innen hegte sie einen Skeptizismus gegenüber dem Staat. Public-Choice-Theoretiker*innen versuchen, Alternativen zum Staat zu entwickeln, weil sie davon ausgehen, dass Politiker*innen rationale Individuen sind, die versuchen, ihren eigenen Nutzen zu maximieren. Auch Ostrom begann ihre Arbeit in dieser Denkrichtung und hat sie leider nie wirklich verlassen. Der Mantel des globalen Ruhms und Ansehens scheint die Aufmerksamkeit von ihrem Zynismus gegenüber dem Staat abgelenkt zu haben. Sie hat den Staat grundsätzlich als etwas Statisches betrachtet und in ihren Texten wenig oder keinen Raum für Evolution und Transformation gelassen – ganz ähnlich wie es in den Konzepten des herrschenden Verständnisses der Fall ist (Klimina 2018). In Kapitel 3 und 4 meines Buchs betrachte ich einen Großteil von Ostroms Arbeit und komme aufgrund vieler verschiedener Anhaltspunkte zu dem Schluss, dass sie in der Regel versucht, etwas über das Potenzial und die Kraft des Marktes zu sagen, etwas darüber, wie schwach und ineffizient der Staat ist, sowie darüber wie großartig Selbstorganisation sein kann. Sie preist zum Beispiel die Vorzüge von gated communities und informellen Ökonomien an. Diese beiden Phänomene stehen zwar im Kontrast zueinander, sind aber gleichzeitig miteinander verbundene Realitäten und repräsentieren extreme räumliche Ungleichheiten. Trotzdem hat Ostrom sie beide unter die homogenisierende Erzählung über die Vorzüge kollektiver Organisierung und das Versagen des Staates gefasst. Forschungen über die Erfahrungen von Menschen in den informellen Ökonomien können ihre Behauptungen jedoch nicht bestätigen. Ich möchte zeigen, dass Ostroms Arbeit ein Teil des herrschenden Verständnisses ist, Teil einer konventionellen Analyse sozial-ökologischer Krisen, konventioneller Lösungen und konventioneller Theoriebildung. Sie befindet sich nicht einmal in der Nähe des westlichen linken Konsenses, aber sobald sie berühmt wurde, versuchten progressive Denker*innen, eine Nähe zwischen ihren Schriften und den eigenen Denkschulen herzustellen. Ich denke, dass es dafür zwei Gründe geben könnte. Erstens: Sie setzen sich nicht systematisch mit Ostroms Arbeiten auseinander. Und zweitens: Es klingt bei der Lektüre

hen aus einem öffentlichen Amt. Daher wird er sein politisches Handeln dem Ziel einer Wiederwahl unterordnen und Interessengruppen bevorzugen, die ihm helfen können, das zu erreichen. Da nur gut organisierte Gruppen hilfreich sind, werden deren Interessen zuerst befriedigt.« (Bundeszentrale für politische Bildung 2016: o.S.)

73

74

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

ihrer Arbeit so, als würde sie sagen: »Die Commons müssen nicht in Krisen enden!« und deshalb denken Menschen, ihre Argumentation sei mit der eigenen verwandt. In meinem Werk vertrete ich zwar die Auffassung, dass es einen Unterschied zwischen dem herrschenden Verständnis der Commons und dem westlichen linken Konsens gibt, allerdings gibt es auch eine zunehmende Konvergenz zwischen den beiden. Um ein Beispiel zu nennen: Die Zeitschrift The Economist publizierte kürzlich eine Ausgabe mit dem Aufmacher »Making Coal History« (The Economist 2020). Nun, ich nehme an, dass viele, die den westlichen linken Konsens vertreten, diese Position begrüßen würden. Aus der Perspektive der radikalen Alternative, die ich zu entwickeln versuche, geht das jedoch nicht weit genug. Ich kritisiere den kapital- und arbeiterzentrierten westlichen linken Konsens in Bezug auf die Idee eines gerechten Übergangs (just transition; für eine weitere Ausarbeitung des Arguments siehe ObengOdoom 2021a). Aber viele Kolleg*innen werden zufrieden sein, denn es heißt, dass die Kohle im Boden bleibt, und dort endet die Geschichte für sie, obwohl es noch so viele offene Fragen gibt. Denn in diesem Ansatz wird nicht thematisiert, was der Schwarze sozial-ökologische Theoretiker Julian Agyeman just sustainabilities (gerechte Nachhaltigkeiten) nennt (Agyeman 2008; 2013). Aus meiner Sicht müssen insbesondere Fragen globaler ökologischer Reparationen dringend zum Thema gemacht werden (Obeng-Odoom 2021a). Doch für den westlichen linken Konsens genügt es, wenn der fossile Kapitalismus beendet wird. Das, so denke ich, stellt eine zunehmende Übereinstimmung zwischen dem herrschenden Verständnis und dem Konsens der westlichen Linken dar. Die radikale Alternative bedeutet natürlich etwas anderes: Sie basiert auf globalen just sustainabilities, der Forderung nach Umverteilung und dem Commoning von Land. Während sich das herrschende Verständnis, einschließlich Ostroms Arbeit, und der westliche linke Konsens in einem Tauziehen über Wachstum befinden – ob es kein Wachstum, mehr Wachstum oder Degrowth geben sollte, – konzentriert sich die radikale Alternative auf Ungleichheiten und globale Stratifikation – und stellt die zentrale Frage nach Land. Wir haben also eine sehr unterschiedliche Art, über das Problem nachzudenken, und demnach auch unterschiedliche Ansätze, wie die polit-ökonomischen und sozial-ökologischen Krisen unserer Zeit zu lösen sein könnten.

Franklin Obeng-Odoom: Commons-Forschung dekolonisieren

Landbesitz, Landrechte und Landnahme ICE: Ich habe den Eindruck, dass Ihr Fokus auf Land sich sehr im Einklang mit dem bahnbrechenden Text von Eve Tuck und K. Wayne Yang »Decolonization is not a metaphor« (Tuck/Yang 2012) befindet, der sich auf den amerikanischen Kontext konzentriert und in dem die beiden Autor*innen argumentieren, dass ein Großteil der akademischen Diskussionen über Dekolonisierung von vornherein belastet seien, wenn sie sich nicht ernsthaft mit Problemen der Landverteilung sowie der Entschädigung und Rückgabe von Land beschäftigen, das Indigenen durch die Kolonisierung in den Amerikas gewaltsam genommen wurde. In Ihrer Forschung verwenden Sie Beispiele aus vielen verschiedenen regionalen Kontexten, besonders aus Westafrika. Könnten Sie vielleicht näher erläutern, wie Sie die Zusammenhänge zwischen kolonialen Prozessen und der Regulierung und Verteilung von Landbesitz zum Beispiel im ghanaischen oder allgemeiner im (west-)afrikanischen Kontext sehen? FOO: Dekolonisierung ist tatsächlich eine konkrete Vision, es sollte nie bloße Rhetorik bleiben. Vage Vorstellungen von ›Fortschritt‹ klingen hohl und beruhen oft auf schwammigen Analysen. Ich verstehe meine eigene Herangehensweise an Land als sehr konkret, und ich verbringe in meinem Buch einige Zeit damit, zu erklären, welches Konzept von Land, welche Bodenpolitik (politics of land) und welche theoretischen Strömungen mein Denken über Land prägen (siehe z.B. Obeng-Odoom 2021b: 10–15). Manche sprechen von Landrückgaben, aber wie das Beispiel Simbabwe zeigt, kann eine solche Politik nur sehr begrenzt als Mittel gegen Ungleichheiten und soziale Stratifikation dienen. Abgesehen von Problemen der Umsetzung, für die Lösungen gefunden werden könnten, wie ich in »Property, Institutions, and Social Stratification in Africa« (Obeng-Odoom 2020a) argumentiere, gibt es grundlegende Probleme mit der physischen Umverteilung von Land oder Grundstücken. Es können leicht Probleme mit abwesenden Landeigentümern (absentee landownership) entstehen, ebenso wie Probleme der privaten Aneignung der gesellschaftlich hergestellten Rente4 nicht gelöst werden. In »The Commons

4

Rente steht hier für Pacht, Mieteinnahmen oder Einnahmen aus Landspekulationen, die eine spezifische Form des Eigentums darstellen und eines Einkommens, das nicht auf Arbeitsleistungen beruht. Dieses wird gesellschaftlich hergestellt, da der Wert ei-

75

76

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

in an Age of Uncertainty« (Obeng-Odoom 2021b, Kap. 3) schlage ich vor, Commons neu zu denken und stelle tatsächlich Elinor Ostroms und Henry Georges Konzeptionen der Commons Seite an Seite. Der Schwerpunkt meines Interesses an Land liegt dabei auf Fragen von Landeigentum, Eigentumsrechten und ökonomischen Renten.5 Ich denke nicht wirklich über die physische Umverteilung von Land im Marxschen Sinne nach, sondern ich spreche über die Vergesellschaftung der Bodenrente, über die Institutionalisierung gerechter Löhne und sozialer Sicherungssysteme, die durch die Bodenwertsteuer und insbesondere durch Reparationen finanziert werden. Das führt mich in eine durchaus andere Richtung als die im westlichen linken Konsens verbreitete. Die Art und Weise, wie ich in meinem Buch über Bodenrente nachdenke, besteht nicht darin, die Rente vollständig aus der Gesellschaft zu entfernen (wie es in einigen marxistischen Theoretisierungen innerhalb des westlichen linken Konsenses der Fall ist), sondern sie zu vergesellschaften – das ist nicht dasselbe. Mit anderen Worten: Marxist*innen streben nach Sozialismus oder Kommunismus, wenn sie versuchen, Land zu verstaatlichen; für mich liegt jedoch der Schwerpunkt auf der Vergesellschaftung und dem Teilen der Bodenrenten. Die Verbreitung von Wert, Fortschritt und Wohlstand ist auf diese Weise viel zuverlässiger und ökologischer. Sybille Bauriedl (SB): Ich denke, das führt uns perfekt zu unserer nächsten Frage. Sie haben Ihre Kritik an der westlichen linken Konsensperspektive zu den Commons deutlich gemacht. Und es gibt eine zweite Debatte unter linken Wissenschaftler*innen und in der kritischen Entwicklungsforschung, die unserer Meinung nach wichtig ist. Zahlreiche Studien wurden im letzten Jahrzehnt in West- und Ostafrika zum Phänomen des land grabbing durchgeführt. Nach Studien von Nancy Peluso und Christian Lund ist das Neue an der jüngsten Dynamik, dass sich Landnutzungswandel durch »neue Kulturen mit neuen Arbeitsprozessen und Zielen für die Bauern, neue Akteure und Subjekte und neue rechtliche und praktische Instrumente für den Besitz, die Enteignung

5

nes Grundstücks unter anderem von öffentlichen Infrastrukturen und sozialen Institutionen abhängt (Henry George Foundation o.J.) Als ökonomische Rente wird in der georgistischen Politischen Ökonomie generell ein ›unverdientes Einkommen‹ verstanden, das nicht auf Arbeitsleistungen beruht – klassischerweise speist sich dies aus Landeigentum. Das Konzept kann jedoch erweitert werden, indem es auf jegliches unverdiente Einkommen angewendet wird. Dazu ist es sinnvoll, das Konzept ›Land‹ breiter zu fassen und z.B. auch Elemente wie W-LANSignale an einem bestimmten Ort mit einzuschließen (Henry George Foundation o.J.)

Franklin Obeng-Odoom: Commons-Forschung dekolonisieren

oder die Anfechtung bisheriger Landrechte (land controls)« auszeichnet (2011: 668). Uns interessiert dazu Ihre Beobachtung: Was sind Ihrer Meinung nach die zentralen Aspekte dieser Dynamik im Landnutzungswandel? FOO: Interessant, dass Sie diese Arbeit erwähnen, die ich faszinierend finde. Ich habe eines der vielen Bücher von Christian Lund für das Geography Research Forum rezensiert (Obeng-Odoom 2017). Von dem, was Sie über die Literatur zu land grabbing beschreiben, sehe ich vieles genauso. Jedoch behaupten die meisten Arbeiten zum Thema land grabbing, es sei ›neu‹, ohne die Geschichte der Landaneignungen, spezifische historische Kontexte, sich verändernde Eigentumsrechte und -beziehungen über Raum und Zeit hinweg sowie Analysen zur Bodenrente zu berücksichtigen. Ich bin zum Beispiel der Meinung, dass die marxistische Arbeit zum Thema land grabbing die marxistische Rentenanalyse nicht ernst nimmt. Noch grundlegender ist, dass die georgistische politische Ökonomie – der umfassendste Zugang für die Analyse von Land – außer Acht gelassen wird. Deshalb konzentrierte ich mich in meiner Analyse auf die marxistische Rententheorie und die georgistische politische Ökonomie. Die beiden Denktraditionen führen zu ziemlich verschiedenen analytischen Leitlinien und ermöglichen unterschiedliche politische Handlungsoptionen. Die Studien zu land grabbing sind Teil einer reichhaltigen Forschungslandschaft, daran habe ich keinen Zweifel, aber ich denke, dass diese Forschung noch weiterentwickelt werden könnte. Ein Teil dieser analytischen Vertiefung wurde innerhalb der marxistischen Tradition von Kollegen wie Stefan Ouma geleistet (Ouma 2020). SB: Land grabbing ist ein Thema, für das sich viele Geographiestudent*innen und Absolvent*innen, die eine Dissertation beginnen wollen, interessieren. In meiner Erfahrung ist es für sie einfacher, Zugang zu Ungleichheit zu bekommen, wenn sie sich weniger auf das Land als auf die Menschen konzentrieren, die vertrieben wurden. Wir sind daher sehr an Ihrem Verständnis von Land interessiert. In Ihrer Arbeit zu Landfragen sprechen Sie verschiedene Elemente der Natur an: die Umwelt unter der Erdoberfläche (z.B. Mineralien) und die Natur, die auf der Erdoberfläche existiert (einschließlich Boden, Vegetation und Wasser). Denken Sie, dass land grabbing der richtige Begriff ist, um all diese Elemente und deren Interaktionen miteinzubeziehen? Und wie können wir Ihrer Meinung nach die Ausbeutung von und die Eigentumsrechte an diesen verschiedenen Elementen von Land zusammen berücksichtigen?

77

78

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

FOO: Ja, lassen Sie uns über Rechte und Renten sprechen, die mit diesen sozial-ökologischen Elementen verbunden sind. Aber zuerst eine kleine Klarstellung in Bezug darauf, ob land grabbing der richtige Begriff ist: Er kann gerne verwendet werden, es sind die konzeptuellen Fragen, um die es mir dabei geht. Wenn eine Studie zu land grabbing die Eigentumsrechte ausschließt, dann geht viel Erkenntnis verloren. Wenn eine andere Studie zu land grabbing die Bodenrente ausklammert, dann geht ebenfalls viel analytische Kraft verloren. Ein Zugang zu Landfragen, der ihre zentrale Bedeutung für Natur, Wirtschaft und Gesellschaft betont, führt eindeutig zu einem viel umfassenderen Analyserahmen. Wenn sich also junge Forscher*innen für die Ausbeutung von Arbeit und die Enteignung von Land interessieren, können sie in der Tat innerhalb der Black Radical Tradition arbeiten und dabei gleichzeitig auf die georgistische politische Ökonomie, die Institutionenökonomik und stratification economics6 zurückgreifen. Wenn die Landfrage ins Zentrum unseres Verständnisses der Welt gestellt wird, bedeutet das nicht, dass die Bedeutung von Kapital und Arbeit oder von Identitätsaspekten wie race verringert wird. Es ist möglich, den historischen Fokus auf Individuen, Kapital und Klasse mit einzubeziehen, aber auch, über ihn hinauszugehen. Doktorand*innen können – ja sollten – natürlich auch dem von mir beschriebenen Ansatz gegenüber kritisch sein. Nehmen wir beispielsweise die georgistische politische Ökonomie: Sie zieht die Frage der sozialen Stratifikation nicht direkt in Betracht und die Frage nach Reparationen nur sehr wenig. Ich selbst dagegen betone die dringende Notwendigkeit von Reparationen – einige georgistische politische Ökonom*innen schrecken schon bei der Erwähnung zurück. Denn sie denken, dass es zur Bewältigung sozial-ökologischer Krisen ausreicht, Menschen für ihre Arbeit angemessen zu entlohnen, ohne daran zu denken, die Löhne zu besteuern und außerdem die ökonomischen Renten zu vergesellschaften und die daraus resultierenden Einnahmen für soziale und ökologische Zwecke zu verwenden. Der ökonomische Irrsinn (economic insanity) einer wachstumsbasierten Entwicklung könnte auf diese Wei-

6

Zum Einstieg in die Diskussion zu stratification economics gibt es eine gut zugängliche englischsprachige Online-Ressource (Lewis/Asare/Fields 2021). Unter diesem Ansatz versammeln sich Ökonom*innen, die sich empirisch und systematisch mit ökonomischen Ungleichheiten zwischen unterschiedlichen Gruppen befassen, und sich auch auf soziologische und sozialpsychologische Forschungen beziehen.

Franklin Obeng-Odoom: Commons-Forschung dekolonisieren

se angegangen werden (für eine systematischere Betrachtung siehe ObengOdoom 2021d). Mein Blick richtet sich auf das historische Unrecht und auf die strukturelle Gewalt, die Schwarze und andere Menschen auf der ganzen Welt ertragen haben und die ihre Realitäten bis heute prägen. Meine Schlussfolgerung ist, dass es eine Diskussion über Reparationen geben muss – und dass diese in die jeweiligen Analyseansätze einbezogen werden sollte. In den USA wird beim Thema Reparationen meistens auf die historische Zusage von »Forty Acres and A Mule« für Schwarze Familien verwiesen (siehe Darity/Mullen 2020). Für den afrikanischen Kontext könnten sozial-ökologische Reparationen in die Analyse von sozialem Wandel integriert werden, beispielsweise bei der Betrachtung von Erdölstädten, wie ich es für Port Harcourt in Nigeria versuche (ObengOdoom 2021a).

Urbane Politische Ökonomie SB: Sie erwähnten, dass es entscheidend sei, die Aufmerksamkeit nicht nur auf die Größe, sondern auch auf den Wert von Land zu richten. Ich denke, es ist bemerkenswert, dass die postkoloniale Entwicklungsforschung auf Landenteignung und Vertreibung fokussiert ist und dabei meist ausschließlich ländliche Gebiete thematisiert. In Städten und Vorstädten sind Landrechte und Grundstücksgrenzen hingegen eindeutiger festgelegt und Landbesitz stärker personalisiert. Ist Ihrer Meinung nach deswegen eine konzeptionelle Unterscheidung zwischen städtischen und ländlichen Gebieten notwendig? FOO: Das ist genau der Grund, warum Bodenrenten im städtischen Umfeld so entscheidend sind. Das ist vielleicht die wichtigste Unterscheidung zwischen Stadt und Land: die städtische Bodenrente. Obwohl das Städtische und das Ländliche, genauso wie die Region und die Welt immer miteinander verbunden sind, können wir für Städte einige spezifische Besonderheiten feststellen. Städtisches Land ist bestimmten Prozessen unterworfen, die typischerweise nicht – oder zumindest nicht in dieser Intensität – in ländlichen Gebieten ablaufen: Agglomerationseffekte, wachsende städtische Armut, soziale Ungleichheiten und sozialräumliche Segregation sind wichtige ökonomische und wirtschaftsgeographische Themen, die ganz besonders Städte betreffen. Die Fragen danach, wie auf städtischem Grund eine Bodenrente akkumuliert wird, wer sich diese Rente wie aneignet, und auf welche Weise die dar-

79

80

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

aus resultierenden rentenbezogenen und anderen Ungleichheiten städtische Probleme (re-)produzieren, markieren zentrale Konfliktlinien einer politökonomischen Stadtforschung. Nicht nur sind Grundeigentümer*innen immer mächtiger geworden, sondern abwesende Grundeigentümer*innen gestalten Städte aus der Ferne. Es gibt eine neue neokoloniale Klasse an Grundeigentümer*innen (neocolonial landlord class), die große Teile von Städten besitzen und beeinflussen, jedoch wenig Interesse an Zugehörigkeit oder Rücksicht auf lokale Verhältnisse zeigen. Häufig werden dadurch Stimmen von Menschen, die in den Städten arbeiten und produzieren, marginalisiert. Daher ist es bei der Untersuchung von Commons als möglichem Lösungsweg für Ressourcenkonflikte von entscheidender Bedeutung, städtische Landverhältnisse in den Blick zu nehmen. Ich argumentiere vor diesem Hintergrund jedoch auch, dass eine zu scharfe und absolute Unterscheidung zwischen Stadt und Land nicht hilfreich ist. Oft kontrollieren städtische Grundeigentümer*innen auch Land in ruralen Gebieten, welche wiederum die Stadt mit Nahrungsmitteln versorgen und Einkommen generieren. Um beispielsweise die Situation von Erdölstädten in Afrika7 zu verstehen, müssen die verschiedenen räumliche Maßstabsebenen betrachtet werden: lokale Erdölvorkommen, transnationale Konzerne, Arbeit, Städte, Regionen, der Kontinent Afrika und die Welt (Obeng-Odoom 2014). Land spielt für all diese Maßstabsebenen eine spezifische Rolle. Die Größe der Landfläche ist relevant, aber vielleicht sind die Bodenrente, die Nutzungsrechte und der jeweilige ökonomische Wert noch wichtiger. All diese Aspekte können natürlich in ihrer Verbindung bedeutsam werden, wenn es darum geht, das Eigentum und die Kontrolle von Städten zu gestalten. SB: Und wenn wir über Land sprechen, müssen wir immer auch Wasserverfügbarkeit mitdenken, oder? FOO: Unbedingt, absolut! Und Mineralien – im Allgemeinen die Erde – zusammen mit den Rechten, die sich auf die Natur beziehen (Obeng-Odoom

7

Zu den Erdölstädten in Afrika werden u.a. Port Harcourt (Nigeria), Bentiu (Südsudan), Cabinda (Angola), Limbe (Kamerun), Benghasi und Marsa al-Brega (Libyen) gezählt, die größtenteils aus kolonialen Hafenstädten hervorgingen und deren Erdölvorkommen im Zuge der Kolonialzeit oder in post-kolonialen Kontexten von europäischen Erdölunternehmen erschlossen und exportiert werden.

Franklin Obeng-Odoom: Commons-Forschung dekolonisieren

2021b: 10–15). Mit anderen Worten: Land und die damit verbundenen vielfältigen, verwobenen Nutzungsrechte (intersection of rights) wird – vereinfacht ausgedrückt – weder durch Arbeit noch durch Kapital erschaffen. Ebenso beruhen das Recht auf Land und die Rechte an Land (the right to land and the rights in land) im Prinzip auf Zufälligkeiten, auch wenn diese Rechte stark durch sozio-ökologische und polit-ökonomische Verhältnisse geprägt wurden. Diese Denkweise kann sehr viel analytische und politische Kraft entfalten. Denn, sobald wir Land auf diese Weise betrachten, werden alle Vorstellungen in Frage gestellt, die behaupten, dass den Kolonisator*innen und denen, die Menschen versklavten (slavers), automatisch ein Recht auf Landbesitz und -kontrolle zustehe, sobald sie Kapital für die Landnutzung zur Verfügung stellen – so wie es John Locke, der britische Philosoph und Vordenker des heutigen Liberalismus, Ende des 17. Jahrhunderts behauptete. Und genauso ist Land, so wie ich es verstehe, kein Kapital im herkömmlichen Sinne. Es ist nicht ein ›Ding‹, sondern beruht auf einem Bündel an Rechten und Interessen. Für viele Menschen bedeutet es auch Identität – ein anderer Begriff für Natur oder Geist. Landbesitz hingegen bedeutet Macht.

Postkoloniale ›Partnerschaften‹ und Post-Development SB: Ich würde gerne auf eine Debatte eingehen, die in Deutschland seit ein paar Jahren auf nationaler Ebene sehr ausgeprägt geführt wird und Afrika als Kontinent der Chancen und der Möglichkeiten thematisiert. Im Sommer 2017, während der deutschen Präsidentschaft des G20-Gipfels, hat die deutsche Bundesregierung die sogenannten »Eckpunkte für einen Marshallplan mit Afrika« (BMZ 2017) veröffentlicht. Sie entwirft ein neues transkontinentales Verhältnis nicht »für Afrika«, sondern »mit Afrika« und zeichnet damit eine sehr positive Zukunft der Zusammenarbeit mit Afrika als reichem Kontinent mit riesigen Agrar- und Landressourcen. Das Ziel dieses Plans ist eine neue Partnerschaft für Entwicklung, Frieden und eine bessere Zukunft, die durch eine Beziehung auf Augenhöhe zwischen Europa und Afrika gekennzeichnet sein soll (ebd.: 4). Dabei bezieht sich der Plan auf die wachstumsorientierte Entwicklungsstrategie der Afrikanischen Union. Schaut man sich den Plan genauer an, wird sichtbar, dass der afrikanische Kontinent als Freihandelszone mit möglichst geringen Barrieren für europäische Investitionen etabliert werden soll. Gehen aus Ihrer Sicht von dieser Art neoliberaler Modernisierungsvorstellungen irgendwelche Chancen für eine radikale Transformation

81

82

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

aus? Brauchen wir – mit Bezug auf die aktuelle Debatte über dekoloniale Entwicklungsforschung (Ziai 2012; Escobar 2015) – eine alternative Idee von Entwicklung oder brauchen wir Entwicklung überhaupt noch als Zukunftsstrategie? FOO: Um auf die Taxonomie zurückzukommen, die ich in meinem Buch verwende – das herrschende Verständnis, der westliche linke Konsens, die radikale Alternative – scheint es mir bei dem Plan, so wie Sie ihn beschreiben, dass er sich direkt im Rahmen des herrschenden Verständnisses befindet. In diesem wird Afrika als in weiten Teilen unternutztes, allgemein verfügbares Land (open pasture) dargestellt. Um Afrika zu transformieren bzw. zu ›entwickeln‹, wird auf die Grundannahmen der sogenannten »Tragik der Allmende« (tragedy of the commons) von Hardin verwiesen. Von diesem Standpunkt aus ist es notwendig, dass transnationale Konzerne oder staatliche Konzerne, die wie transnationale Konzerne handeln, die nutzbare Fläche Afrikas parzellieren. Im Rahmen von Analysen, die den Ansatz von Hardin verwenden, werden typischerweise die Stadt oder die Nation als räumliche Einheiten verwendet. Aber in meinem Buch denke ich über die »Tragik der Allmende« auch im globalen Maßstab nach. Die Widersprüche in dem Plan, von dem Sie sprechen, liegen genau darin. Nach dem, was Sie sagen, scheint die Logik zu sein, dass in dieser neuen Frontier 8 die Zukunft liegt, dass es dieses neue Land mit neuen Möglichkeiten gibt, und dass es die Aufgabe und die Verantwortung von ›aufgeklärteren Europäer*innen‹ ist, eine Art von Partnerschaft herzustellen. Und hier möchte ich mich einmal auf unseren oben erwähnten Austausch zu Ostrom und Hardin beziehen, aber auch den Anspruch einer good governance.9 Wird die Praxis dieses Anspruchs systematisch untersucht (Obeng-Odoom 2013), bedeutet er Neoliberalismus oder Libertarismus von rechts – oder etwas dazwischen. Frühere Versuche, die Allmende zu kolonisieren, wurden ähnlich gerahmt: ›Schutzgebiete‹, ›Kooperationspartner‹ und ›Gemeinschaft‹ sind einige der wohlklingenden Ausdrücke, die als Deckmantel solcher Prozesse verwendet 8

9

Frontier wird als Schlüsselbegriff einer Siedlerkolonisierung und der wirtschaftlichen Erschließung von und Kontrolle über Land (Peluso/Lund 2011) und gleichzeitig als Metapher weißer Nordamerikaner für Freiheit, Individualismus und Unabhängigkeit in diesem Text nicht übersetzt. Good Governance bezeichnet den Anspruch einer guten Regierungsführung, die nicht nur eine effiziente öffentliche Verwaltung, sondern auch ethische Grundsätze verfolgt, auf eine Kooperation mit nicht-staatlichen Akteuren setzt und seit den 1990er Jahren insbesondere in der Entwicklungspolitik relevant ist.

Franklin Obeng-Odoom: Commons-Forschung dekolonisieren

werden. Es ist überraschend, wie sich diese Praxis immer wiederholt. Die Taxonomie, die ich entwickelt habe (Obeng-Odoom 2021b), bietet einen sehr nützlichen Rahmen dafür, diese Praxis zu entlarven. Der Plan »Eckpunkte für einen Marshallplan mit Afrika« (BMZ 2017) bewegt sich nicht einmal innerhalb des westlichen linken Konsenses, der solche Organisationsformen und Initiativen einer Transformation Afrikas zu hinterfragen versucht. Kurzum: Genau wie beim herrschenden Verständnis sehe ich keine Perspektiven für eine ernsthafte Transformation. Diese Denkweise könnte die sozial-ökologischen Krisen sogar noch verschlimmern, die auf extremer globaler Ungleichheit und transnationaler sozialer Stratifikation beruhen. In dem Maße also, in dem diese Art von Freihandelsregime Ungleichheit verstärkt oder reproduziert, sind wir wieder da, wo wir angefangen haben, vielleicht sogar in einer schlimmeren Situation. Das bedeutet natürlich nicht, dass die Alternative einer panafrikanischen Freihandelszone (African Continental Free Trade Area – AfCFTA) ein Allheilmittel ist. Wie ich kürzlich dargelegt habe (Obeng-Odoom 2020c), hat sie ihre Grenzen, obwohl sie eindeutig eine Verbesserung gegenüber klassischen, neoklassischen und marxistischen Handelsmodellen darstellt, da sie sich für einen Panafrikanismus als Gegenmittel zu den Problemen der Versklavung, des Kolonialismus und des Neokolonialismus einsetzt. Aber AfCFTA erstreckt sich nicht auf die Schwarze Welt außerhalb Afrikas. AfCFTA hat keine ernsthaften Mechanismen, um eine anspruchsvolle Umverteilung herzustellen und zu institutionalisieren. Vielmehr fördert AfCFTA die private Aneignung der gesellschaftlich geschaffenen Renten. Nur wenn der Handel Natur, Wirtschaft und Gesellschaft gemeinschaftlich betrachtet, indem er Renten vergemeinschaftet, die Arbeit befreit (liberating labour) und Reparationen umfasst, können wir Welthandel wirklich dekolonisieren.

Dekolonialität lehren SB: Vielen Dank für diese Einschätzung. Im Vorgespräch sagten Sie, dass Sie auch noch etwas zum Thema Lehre beitragen möchten. FOO: In der Tat. Das Ziel meiner dreiteiligen Analyse war es, die Kraft und die Alternativen aufzuzeigen, die die Black Radical Tradition bietet. Dabei möchte ich auch die zugrundeliegenden pädagogischen Fragen thematisieren und zeigen, wie ich mich ihnen genähert habe und wie ich sie in Zukunft ange-

83

84

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

hen will. Als Lehrer muss ich die drei Denktraditionen, die ich in meiner Taxonomie unterscheide, auch für meine eigene Pädagogik durchdenken. Das zu tun kann dazu beitragen, die konzeptionellen Grenzen des herrschenden Verständnisses und des westlichen linken Konsenses zu ergründen und die radikalen Alternativen von just sustainabilities zu stärken. Es ist deutlich erkennbar, dass die Degrowth-Forderung des westlichen linken Konsenses all diese anderen von mir angesprochenen Ebenen nicht systematisch berücksichtigt: die Intersektionen zwischen Geschlecht, race und Klasse. Ein gerechter Übergang (just transition) ist notwendig, aber wie Kollegen aus Südafrika gezeigt haben (Marais et al. 2021), geht es bei einer just transition für Afrika und allgemein für den Globalen Süden nicht nur um Entschädigungen für Arbeitnehmer*innen oder die Ökologisierung von Arbeit. »Der Arbeiter«10 , der in eurozentrischen just transition-Diskursen beständig aufgerufen wird, ist in vielen Städten und Regionen auf der Welt eine Ausnahme. Viele Menschen sind keine Arbeiter*innen im klassischen Sinne, sie sind nicht über ein formales Lohnarbeitsverhältnis definiert. Informelle Arbeit wird meiner Meinung nach nicht in vollem Umfang betrachtet, und genauso wenig Differenzlinien wie race, Kaste, Geschlecht und sexuelle Orientierung oder Behinderungen (oder andere Zugehörigkeiten und deren Intersektionen) – nicht in der Forschung und schon gar nicht in der Lehre. Seitdem Schwarze Wissenschaftler*innen diese verflochtenen Differenzkategorien thematisieren (Crenshaw 1989; Carbado et al. 2013), hat es Fortschritte gegeben oder sich zumindest ein Bewusstsein für die impliziten Herrschaftsordnungen entwickelt, aber die Vision einer Multiperspektivität ist weit davon entfernt, zur Realität zu werden. Einerseits werden diese Themen weder gelehrt noch gelernt (im Sinne des herrschenden Verständnisses); andererseits werden sie (im Sinne des westlichen linken Konsenses) bekehrend verbreitet und nicht wirklich didaktisch aufbereitet, oder sie werden nur als nebensächliches Thema gelehrt (weil das »Kapital« oder der »Kapitalismus« oder der »Widerstand« oder die »Revolution« wichtiger seien). Selbst wenn die behandelten Themen auch Kritik am herrschenden Verständnis üben, werden oft ausschließlich Texte von männlichen westlichen Autoren behandelt. Meiner Ansicht nach (Obeng-Odoom 2020d) geht es beim kritischen Unterrichten

10

Hier haben wir die Übersetzung bewusst in der männlichen Form belassen, da die Figur des Arbeiters in eurozentrischen Diskursen um just transition tatsächlich sehr männlich geprägt ist. Es geht im deutschsprachigen Kontext z.B. um die Bergbauarbeiter in den Braunkohleregionen.

Franklin Obeng-Odoom: Commons-Forschung dekolonisieren

weder darum zu predigen, noch geht es beim aktiven Lernen darum, Predigten einfach zu akzeptieren, seien es die des herrschenden Verständnisses oder die des westlichen linken Konsenses – genauso wenig wie meine eigenen Ansätze. Im Zentrum meiner Lehrtätigkeit stehen Gerechtigkeitsfragen. Und egal ob es dabei um soziale, räumliche, ökonomische oder ökologische Gerechtigkeit geht, ermutige ich aktiv zum kritischen Denken und Hinterfragen jeder Position, die im Klassenzimmer oder Seminarraum aufgeworfen und diskutiert wird. Wir müssen über den pädagogischen Monismus und auch über den pädagogischen Pluralismus hinausgehen. Um die Klassenzimmer und Universitäten zu dekolonisieren, müssen wir die globale pädagogische Bürger*innenschaft (global pedagogical citizenship)11 ernster nehmen (ObengOdoom 2020d). Wir brauchen einen gerechten Übergang (just transition), aber der Wandel kann nicht nur daraus bestehen. Wir brauchen einen umfassenden gerechten Wandel (just change), sowohl in der Forschung als auch in der Lehre. SB: Vielen Dank für Ihre Gedanken zu – wie wir sie nennen – Geographien der Kolonialität.

Übersetzung Das Gespräch wurde auf Englisch geführt, von Marie Marwege transkribiert und danach von Franklin Obeng-Odoom editiert und um Referenzen ergänzt. Anschließend wurde es von Lea Pook, Inken Carstensen-Egwuom und Sybille Bauriedl aus dem Englischen übersetzt, und in Rücksprache mit Franklin Obeng-Odoom wurden Übersetzungen zen-

11

Obeng-Odoom (2020d) betont im Rahmen einer Bildung für Nachhaltigkeit, dass es ihm nicht nur darum geht, plurale Perspektiven pädagogisch aufzubereiten, sondern eine gemeinsame Bürger*innenschaft in der Bildungspraxis zu leben – dies bedeutet, Verantwortung für das eigene Lernen sowie ein Bewusstsein für die eigene Positionierung zu entwickeln und praktisch umzusetzen. Dies kann durch partizipative, inklusive und multiperspektivische Formate umgesetzt werden, welche die üblichen Ausschlüsse bezüglich der Bildungsteilhabe reflektieren und zu bearbeiten versuchen. Bildung für nachhaltige Entwicklung sollte sich dadurch nicht nur mit »Grenzen des Wachstums«, sondern auch mit »Grenzen der Ungleichheit und sozial-ökologischen Stratifikation« befassen.

85

86

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

traler Begriffe in Fußnoten erläutert. Für seine ausführlichen Rückmeldungen danken wir Franklin Obeng-Odoom sehr herzlich. Eine (gekürzte) englische Fassung des Gesprächs wurde im September 2021 mit dem Titel »Decolonize the Commons-Debate! A Conversation with Franklin Obeng-Odoom« in Antipode Online in der Rubrik »Interventions« publiziert.

Literatur Agyeman, Julian (2008): »Toward a ›Just‹ Sustainability?«, in: Continuum 22(6), S. 751–756. Agyeman, Julian (2013): Introducing Just Sustainabilities. Policy, Planning, and Practice, London: Zed Books. Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) (2017): Afrika und Europa – Neue Partnerschaft für Entwicklung, Frieden und Zukunft. Eckpunkte für einen Marshallplan mit Afrika, Berlin, https://ww w.bmz.de/resource/blob/23392/d4a9a25994c0b817c1a78a55d0ea170d/mat erialie310-afrika-marshallplan-data.pdf, zuletzt geprüft am 17.08.2021. Bundeszentrale für politische Bildung (2016): Public-Choice-Theorie. Theorie der öffentlichen Wahl. Das Lexikon der Wirtschaft, Bonn, https://www.bpb.de/n achschlagen/lexika/lexikon-der-wirtschaft/20289/public-choice-theorie, zuletzt geprüft am 14.09.2021. Carbado, Devon W.; Crenshaw, Kimberlé; May, Vivian M.; Tomlinson, Barbara (2013): »Intersectionality. Mapping the Movements of a Theory«, in: Du Bois Review. Social Science Research on Race, Cambridge University Press, S. 303–312. Crenshaw, Kimberlé (1989): »Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Politics«, in: University of Chicago Legal Forum (Hg.): Feminism in the Law: Theory, Practice and Criticism, Chicago, S. 139–168. Darity, William A.; Mullen, Kirsten A. (2020): From Here to Equality. Reparations for Black Americans in the Twenty-First Century, Chapel Hill, NC: The University of North Carolina Press. Escobar, Arturo (2015): »Degrowth, Postdevelopment, and Transitions: A Preliminary Conversation«, in: Sustainability Science 10(3), S. 451–462. Haila, Anne (2016): Urban Land Rent. Singapore As a Property State, Chichester, West Sussex, UK: Wiley Blackwell.

Franklin Obeng-Odoom: Commons-Forschung dekolonisieren

Hardin, Garrett (1968): »The Tragedy of the Commons«, in: Science 162, S. 1243–1248. Deutsche Übersetzung in: Michael Lohmann (Hg.): Gefährdete Zukunft. (Die Tragik der Allmende), München 1970, S. 30–48. Hardin, Garrett (1998): »Extensions of ›The Tragedy of the Commons‹«, in: Science 280(5364), S. 682–683. Harrison, Fred (2021): #We Are Rent: Book 1. Capitalism, Cannibalism, and How We Must Outlaw Free Riding, London: Land Research Trust. Henry George Foundation (o.J.): Economic Rent, London, https://www.henry georgefoundation.org/the-science-of-economics/economic-rent.html, zuletzt geprüft am 19.08.2021. Klimina, Anna (2017): »Rethinking the Role of the State«, in: Tae-Hee Jo, Lynne Chester, Carlo D’Ippoliti (Hg.): The Routledge Handbook of Heterodox Economics. Theorizing, Analyzing, and Transforming Capitalism, London: Routledge, S. 458–470. Lewis, Tanita; Asare, Nyamekye; Fields, Benjamin (2021): Stratification Economics. Exploring Economics, https://www.exploring-economics.org/en/dis cover/stratifications-economics/, zuletzt geprüft am 14.09.2021. Marais, Lochner; Burger, Philippe; Campbell, Malene; Denoon-Stevens, Stuart Paul; van Rooyen, Deidré (Hg.) (2021): Coal and Energy in Emalahleni, South Africa. Considering a Just Transition, Edinburgh, UK: Edinburgh University Press. Obeng-Odoom, Franklin (2013): Governance for Pro-poor Urban Development. Lessons from Ghana, London: Routledge. Obeng-Odoom, Franklin (2014): Oiling the Urban Economy. Land, Labour, Capital and the State in Sekondi-Takoradi, Ghana, London: Routledge. Obeng-Odoom, Franklin (2015): »Understanding Land Grabs in Africa: Insights from Marxist and Georgist Political Economics«, in: The Review of Black Political Economy 42(4), S. 337–354. Obeng-Odoom, Franklin (2017): »Review of ›Local Politics and the Dynamics of Property in Africa‹«, in: Geography Research Forum 37, S. 172–174. Obeng-Odoom, Franklin (2020a): Property, Institutions, and Social Stratification in Africa, Cambridge, UK/New York, NY: Cambridge University Press. Obeng-Odoom, Franklin (2020b): »Land and Finance«, in: Society & Natural Resources 34(5), S. 681–683. Obeng-Odoom, Franklin (2020c): »The African Continental Free Trade Area«, in: American Journal of Economics and Sociology 79(1), S. 167–197.

87

88

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

Obeng-Odoom, Franklin (2020d): »Teaching Sustainability. From Monism and Pluralism to Citizenship«, in: Journal of Education for Sustainable Development 14(2), S. 235–252. Obeng-Odoom, Franklin (2021a): »Oil Cities in Africa: Beyond Just Transition«, in: American Journal of Economics and Sociology 80(2), S. 777–821. Obeng-Odoom, Franklin (2021b): The Commons in an Age of Uncertainty. Decolonizing Nature, Economy, and Society, Toronto: University of Toronto Press. Obeng-Odoom, Franklin (2021c): »Rethinking Development Economics: Problems and Prospects of Georgist Political Economy«, in: Review of Political Economy, https://www.doi.org.10.1080/09538259.2021.1928334. Obeng-Odoom, Franklin (2021d): »Economic Insanity«, in: American Journal of Economics and Sociology 80(2), S. 747–755. Obeng-Odoom, Franklin (2022): Global Migration Beyond Limits. Ecology, Economics, and Political Economy, Oxford: Oxford University Press. Ostrom, Elinor (1999): Die Verfassung der Allmende. Jenseits von Staat und Markt, Tübingen: Mohr Siebeck. Ostrom, Elinor (2012a): »Was mehr wird, wenn wir teilen. Vom gesellschaftlichen Wert der Gemeingüter«, in: Silke Helfrich (Hg.): Was mehr wird, wenn wir teilen. Vom gesellschaftlichen Wert der Gemeingüter, München: oekom. Ostrom, Elinor (2012b): Green From the Grassroots, https://www.project-syn dicate.org/commentary/green-from-the-grassroots, zuletzt geprüft am 17.08.2021. Ouma, Stefan (2020): Farming as Financial Asset. Global Finance and the Making of Institutional Landscapes, Newcastle Upon Tyne: Agenda Publishing. Peluso, Nancy Lee; Lund, Christian (2011): »New Frontiers of Land Control: Introduction«, in: Journal of Peasant Studies 38(4), S. 667–681. Robinson, Cedric J. (2000[1983]): Black Marxism. The Making of the Black Radical Tradition, Chapel Hill, N.C.: University of North Carolina Press. Schneider-Sliwa, Rita; Eder, Susanne (2001): »Bodenrente«, in: Ernst Brunotte, Hans Gebhardt, Manfred Meurer, Peter Meusburger, Josef Nipper, Christiane Martin (Hg.): Lexikon der Geographie, Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag. The Economist (2020): »Making Coal History«, in: The Economist vom 05. 12.2020, S. 20–22. Tuck, Eve; Yang, K. Wayne (2012): »Decolonization is Not a Metaphor«, in: Decolonization: Indigeneity, Education & Society 1(1), S. 1–40. Ziai, Aram (2012): »Post-Development. Fundamentalkritik der »Entwicklung«, in: Geographica Helvetica 67(3), S. 133–138.

Macht-/Wissensbeziehungen in der Wirtschaftsgeographie infrage stellen Von Lateinamerika und der Karibik lernen Marion Werner

Einleitung Seit geraumer Zeit steht auf der Agenda der Wirtschaftsgeographie die Aufgabe, die Disziplin mit Regionen außerhalb des Nordatlantiks zu verbinden. Viele Stimmen haben eine Erweiterung der Subdisziplin auf den Globalen Süden gefordert (Dicken 2004; Murphy 2008; vgl. Pollard et al. 2009; Yeung/Lin 2003) und die bisherige Ausrichtung der Wirtschaftsgeographie als ›provinziell‹ (Dicken 2004), als verengt auf kapitalistische Zentren (Smith 2002) und als anglo-zentrisch (Sheppard 2006) problematisiert.1 Diese kritische Forderung nach einer Verknüpfung der Wirtschaftsgeographie mit ›anderen‹ Orten lädt zur Reflektion darüber ein, wie unterschiedlich an dieses Dilemma herangetreten werden kann. Während die genannten und weitere Autor*innen zwar die erkenntnistheoretische Dominanz der angloamerikanischen Erfahrung innerhalb der Disziplin identifizieren und problematisieren, weist die

1

Ich verwende die Begriffe ›Globaler Süden‹ und ›Globaler Norden‹, um ein Machtverhältnis zu bezeichnen, das durch die Verknüpfung ökonomischer Ausbeutung mit geschlechtsspezifischen, rassifizierten und anderen Formen der Herrschaft (z.B. Kaste) charakterisiert ist. Die Geographie dieses Verhältnisses wird entlang bestehender und neuer räumlicher Muster kontinuierlich reproduziert. Weit komplexer als eine binäre hemisphärische Vorstellung von Süden und Norden, stellen die Begriffe dieses rassifizierte und vergeschlechtlichte Machtverhältnis in den Mittelpunkt meiner Analyse, ebenso wie die Möglichkeit von Solidaritäten zwischen denjenigen, die sich diesem Machtverhältnis sowohl im geographischen Norden als auch im Süden widersetzen (vgl. Mohanty 2003) [im Original Endnote 1, d. Übers.].

90

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

von ihnen durchgeführte, ebenso wie daran anschließende Forschung weiterhin universalistische Züge auf. Die Dezentrierung der Wirtschaftsgeographie wird nach wie vor weitgehend im Sinne einer Ausweitung ihres hegemonialen Rahmens auf andere Orte verstanden, anstatt das Feld selbst zu provinzialisieren (Chakrabarty 2010). In diesem Kapitel argumentiere ich, dass diese Universalisierung partikularer Erfahrungen und Expertise durch eine spezifische Beziehung zwischen Macht und Wissen in der Wirtschaftsgeographie aufrechterhalten wird. Diese Beziehung privilegiert Wissen in und über Zentren der kapitalistischen, industriellen Produktion und verschleiert die Spezifika dieses Wissens. Mein Argument ist nicht, dass das Feld der Wirtschaftsgeographie einfach an einer sektoralen oder geographischen Verzerrung leidet. Wäre dies der Fall, wäre die Lösung, für mehr Forschung an ›anderen‹ Orten und über ›andere‹ Sektoren einzutreten. Die Positionierung (post-)industrieller Orte als Zentren des Ökonomischen und als privilegierte Räume für wirtschaftsgeographisches Wissen könnte auch in einem pluraleren Feld noch leicht aufrechterhalten werden. Als ersten Schritt zur Transformation dieser Macht-/Wissensbeziehungen versuche ich daher, das konstitutive Schweigen und die Auslassungen und Leerstellen zu klären, die deren Produktion zugrunde liegen. Zu diesem Zweck untersuche ich zunächst die Auseinandersetzung der Wirtschaftsgeographie mit dem industriellen Strukturwandel (industrial restructuring), einem zentralen Themenfeld der Disziplin, das sowohl Macht-/ Wissensbeziehungen widerspiegelt als auch reproduziert. Inspiriert von Edward Said (1981) und der postkolonialen Theorie, lese ich diese Literatur, um die Praktiken zu beleuchten, die ›den Westen‹ als Gegenstand in der Wirtschaftsgeographie, und ebenso sein Gegenüber, den Globalen Süden, hervorbringen. Die Debatten um neue Geographien der Produktion, die Dynamik der De-/ Industrialisierung und den Postfordismus haben sich weitgehend auf Entwicklungen in den Ländern des Nordens konzentriert. Werden Regionen im Globalen Süden für diese Debatten als relevant erachtet, so werden sie in der Regel als Belege für Phänomene herangezogen, die konzeptionell innerhalb der Transformationen im Globalen Norden zu finden sind. Seit den späten 1990er Jahren haben sich Geograph*innen neuen Themenkomplexen zugewendet, darunter globalen Produktionsnetzwerken und institutionellen Veränderungen im Zusammenhang mit Neoliberalisierungsprozessen, während sich der Geltungsbereich des Feldes auf die aufstrebenden Wirtschaftsmächte in Ostasien ausgeweitet hat. Dennoch läuft die Wirtschaftsgeographie Gefahr, eine ähnliche Beziehung zwischen Macht und Wissen zu reproduzieren, in-

Marion Werner: Macht-/Wissensbeziehungen in der Wirtschaftsgeographie infrage stellen

dem sie die Zentren der kapitalistischen Industrieproduktion als privilegierte Orte für die Herstellung von wirtschaftsgeographischem Wissen behandelt. Nach meiner Darstellung der Funktionsweise von Macht und Wissen im Kern des Feldes untersuche ich die Möglichkeiten einer Wirtschaftsgeographie, die in der Lage ist, diese Beziehung zu transformieren. Eine solche Transformation kann nicht allein durch die Ausweitung von analytischen Perspektiven vom Norden auf den Süden erfolgen. Daher diskutiere ich im dritten Abschnitt des Kapitels Beispiele geographischen Denkens und geographischer Praxis im Kontext von Lateinamerika und der Karibik, um mögliche Wege vorzuschlagen, den beiden Zielen der Dezentrierung der Subdisziplin und der Anfechtung der Beziehung zwischen Macht und Wissen, die das Feld derzeit strukturiert, näher zu kommen. Verschiedene Theorien und politische Bewegungen in Lateinamerika und der Karibik versuchen seit langem, die kapitalistische Akkumulation zu dezentrieren, wenn nicht gar zu überwinden, indem sie die Positionen der Länder des Südens in Bezug auf die im Norden kontrollierten Zentren der kapitalistischen Akkumulation verändern und Bedingungen für eine autonome Entwicklung schaffen. Diese Bemühungen reichen vom Strukturalismus und den Dependenztheorien der 1950er, 1960er und 1970er Jahren bis hin zu autonomistischen sozialen Bewegungen und staatlichen Reformprogrammen der 1990er und 2000er Jahre. Mit diesen Projekten assoziierte lateinamerikanische und karibische Theoretiker*innen und Kollektive haben das polit-ökonomische Denken über ›die Peripherie‹ und allgemeiner über relationale Geographien in der Region und weit darüber hinaus stark bereichert. Ich zeichne die Entwicklung des gegenhegemonialen Denkens in Lateinamerika und der Karibik im Vorlauf und im Lichte der neoliberalen Reformen nach. Dabei zeige ich auch die politischen Möglichkeitsfelder, die von sozialen Bewegungen und in jüngerer Zeit von Staaten geschaffen wurden – Räume, die durch die ins Wanken geratene neoliberale Hegemonie entstanden sind. Angesichts dessen plädiere ich für eine Auseinandersetzung mit diesen gegenhegemonialen Praktiken als Formen der Wirtschaftsgeographie, die als Quelle für eine Transformation der Disziplin und ihrer konstitutiven Macht-/ Wissensbeziehungen dienen können.

Eurozentrische Geographien des industriellen Strukturwandels Die meistzitierten anglophonen Beiträge zum industriellen Strukturwandel der 1970er Jahre bauten aus marxistischer Perspektive auf empirischen Fallbei-

91

92

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

spielen aus den USA und Nordeuropa auf. Diese kritischen Arbeiten nahmen Abstand von akteurszentrierten Erklärungsmodellen für industrielle Standortentscheidungen, um sich stattdessen mit den tiefgreifenden sozialen und räumlichen Transformationen der damaligen Zeit auseinanderzusetzen. Dabei identifizierten sie eine neue internationale Arbeitsteilung (NIA) (Fröbel/ Heinrichs/Kreye 1983) zwischen den postindustriellen Räumen der kapitalistischen Akkumulation im Norden und ›neuen‹ oder ›aufstrebenden‹ Industriestandorten im Globalen Süden (Harvey 1989; Lipietz 1987; Sassen 1988). Länder des Südens, die zuvor durch die Ausbeutung ihrer natürlichen Ressourcen und Staatsinterventionismus (state-supported industries) in die Weltwirtschaft integriert waren, übernahmen zunehmend, vermittelt durch Outsourcing-Prozesse und ausländische Direktinvestitionen, die Rolle von Standorten arbeitsintensiver Produktion. Unternehmen aus dem Norden verlegten Produktionsstandorte in den Süden und reorganisierten damit ihre Wertschöpfungsprozesse (labor process) über große geographische Distanzen und soziale Unterschiede hinweg. Neue Technologien sowie geographisch unterschiedliche Geschlechter- und Klassenbeziehungen begünstigten diese Arbeitsteilung. Frühe Arbeiten aus dem Umfeld der NIA (Fröbel/Heinrichs/ Kreye 1983) interpretierten das Entstehen von ›Weltmarkt‹-Fabriken im Süden als Beweis für einen Nullsummentransfer von Arbeitsplätzen aus dem Norden, der zugleich das Ende der Vollbeschäftigung in Nordeuropa einläutete. Spätere Studien vertraten eine differenziertere Sichtweise. Sicherlich führte die Deindustrialisierung im Norden zum Verlust von Arbeitsplätzen und zum Niedergang von vormals prosperierenden Städten und Gemeinden (Bluestone/Harrison 1982; Massey/Meegan 1982), jedoch wurde ebenso deutlich, dass sich sowohl Unternehmen als auch geschlechtsspezifische Formen der Arbeit auf eine Weise veränderten, die bei einer engen Fokussierung auf Deindustrialisierungsprozesse unsichtbar blieb. Die Art der Arbeit veränderte sich – vom unbefristeten Vollzeitarbeitsverhältnis, verbunden mit dem männlichen Ernährermodell, hin zu prekäreren Formen; wohlgemerkt gab es dabei auf subnationaler regionaler Ebene beträchtliche Unterschiede (Massey 1995[1984]; McDowell 1991; Storper/Walker 1989; Vosko 2000). In den 1980er Jahren entstanden zwei breit angelegte und miteinander verknüpfte Ansätze, die sich mit den Beziehungen zwischen industriellem Strukturwandel und ungleichen Geographien auseinandersetzten: die Regulationstheorie und die Forschung zu Industriedistrikten. Die Regulationstheorie untersuchte die institutionellen und kulturellen Bedingungen, die die Reproduktion nationaler Akkumulationsregime, hauptsächlich denen

Marion Werner: Macht-/Wissensbeziehungen in der Wirtschaftsgeographie infrage stellen

des Fordismus in den Ländern des Nordens, ermöglichten (Aglietta 2000 [1979]; vgl. Tickell/Peck 1992). Wissenschaftler*innen kontextualisierten weitreichende Veränderungen in der Geographie der Produktion als eine Krise des Fordismus und verstanden neue Arrangements im Sinne eines sich verschiebenden Akkumulations-Regulations-Nexus, den sie mit Begriffen wie ›flexible Akkumulation‹ oder ›Post-Fordismus‹ beschrieben. Der Globale Süden fristete in diesen Darstellungen ein Schattendasein. Trotz Appellen, die internationale Arbeitsteilung nicht zu vergessen (Lipietz 1986) – d.h. Warnungen vor einer zu starren Verortung der Geographien der Produktion entlang klarer Zentrums-Peripherie-Linien – ordnete diese Literatur jeweils dem Norden und dem Süden klare Rollen in der impliziten Geographie des industriellen Strukturwandels zu. Harvey (1989) charakterisierte diese räumliche Ordnungsheuristik am deutlichsten: Im Norden wichen die fordistischen Arbeits- (und Geschlechter-)beziehungen neuen flexiblen Produktionsverhältnissen, um relativen Mehrwert aus der Arbeit abzuschöpfen. Die Suche nach absolutem Mehrwert führte zur starken Zunahme von ausgegliederten Fertigungswerken im Globalen Süden und zur Ausbeutung der Arbeit von Migrant*innen im Globalen Norden (vgl. auch Sassen 1988). Feministische Wissenschaftler*innen untersuchten detailliert die Vergeschlechtlichung von Arbeit, die zentral für diese neue Geographie der Extraktion des absoluten Mehrwerts war (z.B. Cravey 1998; Wright 1997). Dabei unterstrichen sie die analytischen Blindstellen der Mainstream-Literatur bezüglich der Artikulation von Geschlechterregimen mit neuen globalisierten Werkbänken. Jedoch gelang es weder der feministischen Forschung noch der MainstreamLiteratur, die Reduzierung des Südens als Ort flexibler – d.h. billiger und austauschbarer – Arbeitskraft einerseits und andererseits die Rahmung des Nordens als Ort komplexer Produktionsbeziehungen mit einem Fokus auf multiple Formen von Flexibilität in Frage zu stellen (vgl. Ong 1991: 285). Ich will damit nicht sagen, dass Studien zur Restrukturierung im Süden sich auf dynamischere Formen der Flexibilität hätten konzentrieren sollen. Allerdings rahmten diese Arbeiten, im Einklang mit den vorherrschenden Perspektiven auf die internationale Arbeitsteilung, den Aufbau von Produktionsstätten im Globalen Süden weitgehend als Beweis für eine Krise des Fordismus im Globalen Norden. Auch wenn die Ansätze der Regulationsschule stark variieren, betrachteten sie dennoch die Fabrikstandorte im Süden verallgemeinert entweder als Begleiterscheinung oder als externen, verstärkenden Faktor

93

94

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

des Wandels zum Post-Fordismus in den Ländern des Nordens.2 Darüber hinaus erhielten feministische Studien zu den Produktionsstandorten im Süden nicht nur innerhalb der Regulationstheorie, sondern auch im Rahmen anderer Metanarrative der ökonomischen Globalisierung wenig Aufmerksamkeit (Nagar et al. 2002). Es lässt sich zusammenfassend festhalten, dass die nordatlantisch-fordistischen Länder zwar nicht der alleinige Ursprung für die globalen Restrukturierungsprozesse waren, sie aber dennoch als treibende Kraft des globalen wirtschaftlichen Wandels verhandelt wurden. So war es möglich zu behaupten, ein Verständnis der Prozesse in der »advanced capitalist world« könne die Situation »on the periphery« erklären (Lipietz 1987: 29). Während sich die Regulationsschule auf die nationale Maßstabsebene und die gröberen (wenn auch eurozentrischen) Konturen der internationalen Arbeitsteilung konzentrierte, richteten die Institutionalisten ihre Aufmerksamkeit auf Regionen, die im Zuge der Krise des Fordismus neue industrielle Dynamiken aufwiesen. Die von Piore und Sabel (1984) entwickelte These der flexiblen Spezialisierung stützte sich auf die Erfahrungen des verarbeitenden Gewerbes und des Handwerks im Dritten Italien (den nordöstlichen und mittelitalienischen Industriedistrikten des Landes) und vertrat die Position, dass vernetzte und kooperierende Unternehmen das Rückgrat wettbewerbsfähiger Regionen im Zuge der sogenannten ›second industrial divide‹ (d.h. von der Massenfertigung zur flexiblen Produktion) seien. Von der Regulationstheorie und den Institutionalisten beeinflusste Geograph*innen beschritten eine Art Mittelweg und konzentrierten sich weitgehend auf aufstrebende Wirtschaftssektoren (z.B. Hightech, Design, Finanz- und Produktionsdienstleistungen) in den neuen Wachstumszentren der USA, insbesondere in Kalifornien (z.B. Saxenian 1994; Scott 1988; Storper 1995). Debatten um das Thema der Flexibilisierung waren freilich stark politisiert. Die Theoretiker*innen der flexiblen Spezialisierung und ihrer Varianten argumentierten, dass die neuen Industriedistrikte einen richtungsweisenden Entwicklungspfad boten, der auf einem positiven Kreislauf von Innovation, lokalen kulturellen Werten und Pfadabhängigkeiten sowie Kooperation basiere und gleichzeitig die Rechte der Arbeiter*innen wahre. Ihre Argumente stützten sie auf Forschungen zu einigen wenigen erfolgreichen Regionen wie dem Silicon Valley, Baden-

2

Für eine frühe Diskussion dieses Spannungsverhältnisses in Bezug auf regulationstheoretische Ansätze in Japan, siehe Peck und Miyamachi (1994) [im Original Endnote 2, d. Übers.].

Marion Werner: Macht-/Wissensbeziehungen in der Wirtschaftsgeographie infrage stellen

Württemberg und dem Dritten Italien. In Folge dessen wurden diese Regionen als Idealtypen breit diskutiert (Markusen 1996) und bildeten als Modelle die Grundlage sowohl für wissenschaftliche Arbeiten als auch für regionale Entwicklungspolitiken im Globalen Norden und im Süden. Kritiker*innen des Neuen Regionalismus problematisierten diese Modelle allerdings für ihre idealisierte Form, die von den spezifischen politischen und sozialen Beziehungen der beforschten ›Inseln der Produktion‹ unzulässig abstrahiere (Gertler 1992). Dabei stellten diese kritischen Arbeiten auch den weit verbreiteten Optimismus bezüglich der Effekte von flexiblen Industriedistrikten für Arbeiter*innen in Frage (Harvey 1989). Darüber hinaus privilegierte der Ansatz der Industriedistrikte implizit Erfolgsmodelle und ignorierte schlicht Regionen, die nicht oder nicht mehr florierten (Gertler 1992). Dennoch identifizierten nur wenige Wissenschaftler*innen den eurozentrischen Einschlag dieser Literatur als Problem (vgl. Chari 2004; Hart 1998). Während neomarxistische Arbeiten zum Fordismus den Süden weitgehend als Effekt der Strukturverschiebungen im Norden rahmten, blendete die Literatur zum Neuen Regionalismus die strukturelle Beziehung zwischen Nord und Süd aus. Vielmehr traten Studien in den Vordergrund, die die produktiven Kapazitäten von Regionen im Süden mit regionalen Modellen aus dem Norden verglichen. Indem also diese Wirtschaftsgeographien den Fokus auf etablierte und aufstrebende Regionen flexibler Produktion im Norden legten, reproduzierten sie spezifische Macht-/Wissens-Komplexe. Regionen im Globalen Süden konnten somit als abweichende, ›zurückgebliebene‹ oder ›rückständige‹ Sonderfälle dargestellt werden, die nur dann von Interesse waren, sofern die Lehren aus den nordamerikanischen und europäischen Regionalstudien auf sie Anwendung finden konnten (Scott 2000: 32). Im Hinblick auf die Betrachtung lateinamerikanischer Entwicklungen in der Literatur zum industriellen Strukturwandel im Allgemeinen überrascht es nicht, dass der mexikanische Soziologe Alfredo Hualde zu folgendem Schluss kam: »Seen through the mirror of concepts minted in Europe or the US, the picture of Latin American reality always appears deformed« (2003: 94, Übers. d. A. aus dem Spanischen). Das intellektuelle Erbe der Regulationstheorie und der neuen Industriedistrikte bleibt für die Wirtschaftsgeographie weiterhin relevant, auch wenn mittlerweile neue theoretische Perspektiven zum Verständnis globaler ökonomischer Transformationen eine zentralere Position einnehmen. Der Ansatz der Globalen Produktionsnetzwerke (GPN) stellt das wohl einflussreichste neuere Forschungsprogramm dar. Das GPN-Konzept untersucht räumliche Verflechtungen, die die traditionellen geographischen Foki der

95

96

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

Wirtschaftsgeographie hinter sich lassen. Vertreter*innen des GPN-Ansatzes stützen sich auf die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) und institutionalistische Ansätze, um eine Alternative zum wahrgenommenen Strukturalismus der von Weltsystemtheorie beeinflussten Forschung zu globalen Warenketten (Global Commodity Chains, GCC) zu schaffen (Dicken et al. 2001). Die schlichte Gegenüberstellung der Ansätze von Warenketten und Produktionsnetzwerken ist schwierig, da sie sich beständig weiterentwickeln und, wie ich vermute, in gewisser Weise zunehmend konvergieren. Während beispielsweise GPNWissenschaftler*innen einst behaupteten, dass Unternehmen, wie sie in der Warenketten-Literatur beschrieben werden, strukturellen Kräften unterworfen seien, die sich ihrer Kontrolle entzögen (Henderson et al. 2002), legen die Warenketten- (bzw. inzwischen Wertschöpfungsketten-)Forscher*innen durch den Begriff der industriellen Aufwertung (industrial upgrading) und ein überarbeitetes Verständnis von Steuerung (governance), das sich auf die Transaktionskostentheorie stützt, mehr Gewicht auf die Handlungsfähigkeit der Unternehmen (Gereffi/Humphrey/Sturgeon 2005). Beiden Ansätzen ist das Anliegen gemein, sich von einem strikten territorialen Verständnis industriellen Strukturwandels zu verabschieden, indem sie sich auf die vernetzten Beziehungen zwischen Unternehmen, Arbeiter*innen und Inputs (in GCCs) bzw. Unternehmen und institutionellen Vermögenswerten (in GPNs) konzentrieren. Insbesondere mit der Betonung der ANT werden GPNs als eine ›uncentered morphology‹3 angeboten, die die konzeptionelle Einbeziehung eines breiten Spektrums von Orten auf gleicher epistemologischer Grundlage ermöglicht. Befürworter*innen betonen das Potenzial des GPNAnsatzes, den geographischen Geltungsbereich der Wirtschaftsgeographie zu erweitern und dabei marginalisierte Regionen nicht nur als Orte von Produktionsprozessen, sondern auch als Quellen für unser Verständnis dieser Prozesse einzubeziehen (Kelly 2009; Yeung/Lin 2003). Ausgehend hiervon sind insbesondere Studien entstanden, die globale Produktionsnetzwerke

3

Anm. d. Übers.: Die ANT (Akteur-Netzwerk Theorie) gibt die Suche nach verhärteten hierarchischen Machtstrukturen zugunsten einer ›flacheren‹ (d.h. ›unzentrierteren‹), relationalen Ontologie (im Text als Morphologie bezeichnet) auf, in der Macht und andere soziale Kategorien wie z.B. Identität oder Kapital als relationale Effekte heterogener Netzwerke aus menschlichen und nichtmenschlichen Elementen gedacht werden. Frühe GPN-Ansätze, wie sie hier von Werner zitiert werden, bedienten sich z.T. dieser Ansätze.

Marion Werner: Macht-/Wissensbeziehungen in der Wirtschaftsgeographie infrage stellen

zwischen Ostasien und nordatlantischen Produktionsstandorten erforscht haben (siehe Yeung 2009). Der GPN-Ansatz eröffnet einen vielversprechenden Weg zur Dezentrierung der Wirtschaftsgeographie. Allerdings hebt die Einbeziehung des Südens in die Geographie globalisierter Produktion nicht notwendigerweise die bisher identifizierte Beziehung zwischen Macht und Wissen auf. Ansätze aus dem Umfeld der GPN und GCC stellen weiterhin die Standortentscheidungen des transnationalen Kapitals in den Mittelpunkt und privilegieren insbesondere industrielle und Hightech-Prozesse als verortete Gegenstände der Forschung und als Quellen der Wissensproduktion. Dabei neigen Wissenschaftler*innen dazu, den Wegen dieser Leitunternehmen (lead firms) zu folgen. Bis heute bleiben Regionen, die vor allem durch Desinvestitionen und Niedergang, Ressourcenabbau, Migration und Rücküberweisungen, unbezahlte Betreuungsarbeit und andere Formen der Nicht-Lohnarbeit oder einer Kombination aus all diesen Faktoren in breitere Netzwerkstrukturen eingebunden sind, für die Wirtschaftsgeographien, wie sie derzeit konzipiert werden, marginal (vgl. Kelly 2009; Bair/Werner 2011). Kapitalistische Landnahmen und Expansion sowie deren Verknüpfung mit industriellem Wachstum werden als privilegierte Themen behandelt. Demgegenüber verbleiben Arbeiten zur Dialektik von Akkumulation und Desinvestition innerhalb und jenseits industrieller Zyklen und entsprechenden politische Reaktionen und Bewegungen, die in Bezug auf die ungleichen Geographien und Zyklen entstehen, in der Minderheit. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass GPN-Wissenschaftler*innen zwar wichtige Beiträge leisten, um die Dominanz eurozentrischer Geographien abzuschwächen, dass sie aber die Privilegierung von Regionen und Unternehmen bzw. ›aufstrebenden‹ kapitalistischen Akteur*innen, die Beziehung zwischen Macht und Wissen, die das Feld der Wirtschaftsgeographie strukturiert, eher reproduzieren als in Frage stellen.

Wirtschaftsgeographien aus Lateinamerika und der Karibik: Neue Macht-/Wissensbeziehungen Auf den vorangegangenen Seiten habe ich argumentiert, dass die bisherigen wirtschaftsgeographischen Ansätze zum Globalen Süden nicht ausreichen, um die Funktionsweise von Macht-/Wissensbeziehungen zu hinterfragen und anzufechten. Obwohl es sicherlich wichtig ist, dass mehr Wissenschaftler*innen außerhalb des angloamerikanischen Raums forschen und in anderen

97

98

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

Sprachen als Englisch publizieren, möchte ich darauf hinweisen, dass das vorliegende Problem nicht dadurch gelöst werden kann, dass mehr empirische Forschung über den Süden an Universitäten im Norden und mit damit assoziierten Theoriebrillen betrieben wird. Ich möchte daher einen provokanteren Vorschlag machen: Geograph*innen, die an Institutionen im Norden angesiedelt sind, sollten von der Prämisse ausgehen, dass Wirtschaftsgeographien im Süden sowohl in akademischen als auch in nichtakademischen Kreisen bereits weit verbreitet praktiziert werden. Die Aufgabe besteht darin, sich mit diesen Praktiken auseinanderzusetzen und dabei das eigene Verständnis von Wirtschaftsgeographie neu zu definieren. Es geht also nicht um eine Ausweitung des Feldes von Nord nach Süd, sondern um andere Fragestellungen: Welche Weltanschauungen prägen die im Globalen Süden produzierten Wirtschaftsgeographien? Wie überschneiden sich diese geographischen Praktiken mit der eurozentrischen Teildisziplin, und wie könnten sie letztere umgestalten und dezentrieren? Können Wirtschaftsgeographien aus dem Globalen Süden die Privilegierung der Wissensproduktion in und über machtvolle kapitalistische Zentren und die Universalisierung dieses Wissens anfechten? Meine Überlegungen zu diesen Fragen sind ausnahmslos von meinen Forschungen und aktivistischen Erfahrungen im nordatlantischen Raum und in der Karibik geprägt. Seit langem beschäftige ich mich mit der Frage, wie die ökonomischen Verbindungen zwischen Nord und Süd zu verstehen sind und welche Möglichkeiten es gibt, politische Solidaritäten zu schmieden, die durch das entstehen, was Chandra Mohanty (2003) »cartographies of struggle« nennt. Angesichts meiner Forschung zum industriellen Strukturwandel in der Karibik bin ich von den Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit der Wirtschaftsgeographie von diesem epistemologischen Standort aus beeindruckt. Denn diese trägt das Potenzial, hegemonialen Vorstellungen des ›Westens‹ zu trotzen – den Westen mitzudenken, aber nicht alles vom Westen aus zu denken, wie CLR James es ausdrückte (Hall 2013[1996]) – und die universalistischen Pfade des kapitalistischen Wandels, die ›der Westen‹ als epistemische Kategorie geographischen Denkens impliziert, aufzuheben.4

4

Anm. d. Übers.: Aufgrund der sprachlichen Komplexität des englischen Textabschnitts zitieren wir hier im Original: »[…] I am struck by the possibilities of engagement with economic geography from this epistemological location, one that potentially defies hegemonic notions of ›the West‹ – being ›in‹ but not ›of‹ the West, as CLR James put it (Hall 1996) – and the universalist trajectories of capitalist change that ›the West‹ implies.«

Marion Werner: Macht-/Wissensbeziehungen in der Wirtschaftsgeographie infrage stellen

Natürlich gibt es dabei Grenzen. Meine eigene Position im angloamerikanischen Wissenschaftsbetrieb bestimmt unweigerlich die Autor*innen, die ich lese, das Publikum, für das ich schreibe, und die Sprache, in der ich kommuniziere. Wie kann ich mich an der Produktion von Wissen beteiligen, das aus gegenhegemonialen Positionen entsteht und selbige erweitert? Wie kann ich mich ernsthaft mit akademischen und nichtakademischen Denker*innen, Schriftsteller*innen und Aktivist*innen auseinandersetzen, die sich für soziale Gerechtigkeit im und ausgehend vom Globalen Süden einsetzen? Diese Fragen prägen meine Praxis, seit ich anfing, an einer US-amerikanischen Universität zu arbeiten. Bislang mache ich kleine Schritte, etwa das Übersetzen und Veröffentlichen von Arbeiten in der Dominikanischen Republik, wobei ich auf Beziehungen aufbaue, die ich dort während meiner Dissertationsforschung geknüpft habe, und das Schreiben von Aufsätzen wie diesem, um mich und meine Leser*innen zu zwingen, Raum für Kritik und Veränderungen der Macht-/Wissensbeziehung in der Wirtschaftsgeographie zu schaffen. Bei dem Projekt einer Wirtschaftsgeographie des Südens kann der relationale Süden – als Gegenstand von Herrschaft und Ausbeutung und als Ort unterschiedlichster Arten von Widerständen – nicht mit dem geographischen Süden gleichgesetzt werden. Betrachten wir zunächst das riesige und vielschichtige Territorium Lateinamerikas und der Karibik. Die Region stellt einen heterogenen Raum der Theorieproduktion dar, welche sowohl zu hegemonialen Projekten der kapitalistischen Entwicklung als auch zu gegenhegemonialen Projekten beiträgt. Lateinamerika und die Karibik können nicht als ein Raum des ›reinen Widerstands‹ essenzialisiert werden, der mit Wissensproduktionen einhergeht, die die Machtverhältnisse dezentrieren, so wie auch das im Globalen Norden produzierte Wissen nicht per se eurozentrische Positionen festigt. Doch wie David Slater uns erinnert, neigt die historische Erfahrung von Unterdrückung und unterschiedlichen Formen des Ausschlusses im Süden dazu, eine Subjektivität hervorzubringen, »that is […] more critically conscious than is generally the case within societies that have benefited, no matter how differentially, from initiating and controlling […] processes of expansion and incorporation« (Slater 1998: 666). Die untergeordneten Positionen Lateinamerikas und der Karibik sind untrennbar mit der Geopolitik der Ressourcenextraktion verbunden. Diese prägen nicht nur die Wirtschaftsgeographien und die politischen Möglichkeiten vieler Nationalstaaten des Globalen Südens, sondern haben auch eine reiche Tradition kritisch polit-ökonomischen Denkens hervorgebracht (Bebbington 2009). Dieses kritische Bewusstsein ist dabei untrennbar mit den historischen Erfah-

99

100

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

rungen der Region mit Zyklen des industriellen Wachstums und Niedergangs verbunden. Daraus resultierende vielschichtige und ungleichmäßige soziale und geographische Entwicklungen innerhalb des Kapitalismus werden durch die Tendenz, die Region mit historisierenden Begriffen wie ›aufstrebend‹ oder ›sich entwickelnd‹ zu betrachten, kurzerhand ausgelöscht. Die Analyse der Wirtschaftsgeographien des Südens kann daher wichtige Gegenperspektiven zu den in den Zentren der Macht produzierten Erkenntnissen bieten. Im Folgenden greife ich selektiv auf Beispiele zurück, die ein wirtschaftsgeographisches Denken illustrieren, das aus gegenhegemonialen Praktiken in Lateinamerika und der Karibik hervorgeht. Diese Beispiele stellen die Privilegierung eurozentrischer Erfahrungen und der Räume der industriellen Expansion als Orte der Wissensproduktion für die Wirtschaftsgeographie in Frage. Meine Auswahl ist untrennbar mit den Geographien des Publikationswesens und der Übersetzung sowie meiner eigenen institutionellen Position im Norden verbunden. Die Beispiele, die ich heranziehe – das Erbe des strukturalistischen und dependenztheoretischen Denkens und des Widerstands gegen den Neoliberalismus, gegenhegemoniale Projekte der regionalen Integration und die Übertragung von Doreen Masseys Konzept der Machtgeometrien – sind weder umfassend noch erschöpfend. Vielmehr illustrieren sie gegenwärtige wirtschaftsgeographische Praktiken, die von Orten und politischen Prozessen in der Region und darüber hinaus geprägt sind und diese gestalten.

Vom Süden aus den Süden positionieren5 In Lateinamerika und der Karibik haben die Auswirkungen von Kolonialismus und Neokolonialismus und die untergeordnete Position der Region gegenüber der kapitalistischen Akkumulation im Norden lange Zeit die strukturellen Beschränkungen des ökonomischen Wandels in den Vordergrund von Theorie und Politik gestellt. Die Arbeit von Raúl Prebisch und der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (UN Economic Commission for Latin America and the Caribbean – ECLAC) begründete eine Tradition der Wirtschaftstheorie aus einer Position der Unterordnung unter das globale Kapital, oder

5

Ich danke dem Ökonom Victor Ramiro Fernandez von der Universidad Nacional Litoral in Santa Fe, Argentinien, der mich auf neue Quellen hingewiesen und mir unschätzbare Einblicke in diese Literatur gewährt hat. Ebenso hat mich Beverley Mullings großzügig bei der anglo-karibischen Literaturarbeit unterstützt [im Original Endnote 3, d. Übers.]

Marion Werner: Macht-/Wissensbeziehungen in der Wirtschaftsgeographie infrage stellen

was Prebisch in den 1950er Jahren als Zentrum-Peripherie-System bezeichnete (vgl. Sunkel 2000). In den 1960er und 1970er Jahren beriefen sich Dependenztheorien auf ein breites Spektrum von Einflüssen – vom Strukturalismus der ECLAC-Tradition über den Marxismus bis hin zu Theorien des Imperialismus –, um die in Lateinamerika vorherrschende Strategie der teils von Prebisch inspirierten importsubstituierenden Industrialisierung (ISI) in Frage zu stellen. In Folge des Scheiterns der ISI entwickelten Vertreter*innen der Dependenzschule einen vielfältigen theoretischen Korpus, der die lateinamerikanische Positionalität in Bezug auf die kapitalistischen Machtzentren thematisierte und die universalistischen Annahmen kritisierte, die den Projekten der staatskapitalistischen Industrialisierung zugrunde lagen (Dos Santos 1998; Kay 1989). Zwischen der marxistischen und der reformistischen (auch als strukturalistisch bezeichneten) Dependenzschule bestanden scharfe Trennlinien. Erstere betonte die Abhängigkeit durch globale Beziehungen des ungleichen Austauschs, während letztere, die mit der Arbeit des Soziologen und ehemaligen brasilianischen Präsidenten Fernando Henrique Cardoso verbunden ist, sich auf heterogene Formen der nationalen Entwicklung in der Region konzentrierte (vgl. Grosfoguel 2000; Valencia 2005). Zu den Dependentistas gesellten sich in dieser Zeit Wissenschaftler*innen und öffentliche Intellektuelle in der gerade entkolonialisierten Anglo-Karibik, Mitglieder der Gruppe New World, die in ähnlicher Weise Theorien über den Kolonialismus, insbesondere das Erbe der Plantagenökonomie und die Entwicklungsperspektiven kleinerer Länder vertraten (vgl. Beckford 1972; Best 2005; Levitt 2005). Der Strukturalismus und die Dependenztheorie liefern überzeugende Beispiele für die Theoretisierung der politischen Ökonomie aus einer geographisch-strukturellen Position heraus. Meiner Auffassung nach liefern diese theoretischen Traditionen – die bis in die Gegenwart fortbestehen – wichtige Lehren für die Gestaltung einer Wirtschaftsgeographie des Südens. Bis heute dienen der lateinamerikanische Strukturalismus und die Dependenztheorien in wirtschaftsgeographischen Arbeiten als Ausgangspunkt für die Rahmung der komplexen und fragmentierten Geographien ungleicher Entwicklung. Der Aufstieg der ›Schwellenländer‹ hat eine Ablehnung des Zentrum-Peripherie-Modells gerechtfertigt und die Dependenzthese angeblich diskreditiert (z.B. Lipietz 1986). Sicherlich schränkte die Verknüpfung von Zentrums-Peripherie-Beziehungen mit einer starren internationalen Geographie sowie ein ökonomischer Reduktionismus die Nützlichkeit dieses Analyserahmens ein (Slater 2004). Dennoch sind die Kernanliegen von Strukturalismus und Dependenz – Klassenbeziehungen, globale Machtstrukturen, die Grenzen

101

102

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

nationalökonomischer Analysen und Handlungen – weiterhin von enormer Relevanz für zeitgenössische Analysen des Neoliberalismus. Darüber hinaus können Strukturalismus- und Dependenztheorien, wenn man sie im Lichte des vorherrschenden Verhältnisses von Macht und Wissen in der Wirtschaftsgeographie betrachtet, auch als ein Akt der Gegenrepräsentation verstanden werden (ebd.). Dependenzforscher*innen schufen das, was Mignolo (1995) einen »locus of enunciation« nennt, indem sie Räume autonomer Entwicklung unter den Bedingungen imperialer und nationaler Elitenherrschaft eröffneten. Es geht also darum, sich mit strukturalistischem und Dependenzdenken als historischem Erbe und als Inspiration für laufende politische Projekte zu befassen, um durch die Entwicklung von gegenhegemonialem Wissen, das auf den Erfahrungen des Südens beruht, alternative ökonomische Perspektiven zu erschaffen. Während der langen Jahrzehnte der neoliberalen Gegenreformen in der Region waren diese theoretischen Traditionen institutionell auf dem Rückzug und sahen sich starker Kritik von einer sich wandelnden Linken ausgesetzt. Aktivistische Wissenschaftler*innen und soziale Bewegungen forderten nicht nur den Neoliberalismus heraus, sondern auch den Developmentalismus, der das strukturalistische und Dependenzdenken durchdrang (Chavez/Garavito/ Barrett 2008; Escobar/Alvarez 1992; Slater 2004). Soziale Bewegungen, die im Gefolge der Marktreformen entstanden, reflektierten die ungleiche Territorialität von Staaten sowie die Kapitalakkumulation und das historische Vermächtnis des Rassismus und Kolonialismus, die diese Ungleichheit strukturierten (Quijano 2000). Diese Bewegungen schufen Räume der gegenhegemonialen Theoriebildung und erneuerten die Kritik an der lateinamerikanischen und karibischen Positionalität aus feministischen, indigenen, afrodiasporischen, urban-migrantischen und bäuerlichen Subjektpositionen und deren Kombinationen. Aus diesen hybriden Subjektpositionen heraus widersetzten sie sich Formen des neoliberalen Kapitalismus, wie sie beispielsweise in Freihandelsabkommen zum Ausdruck kommen, die die Marktordnungen des Nordens und jene Sektoren des Kapitals privilegieren, die von diesen Reformen im Süden profitieren können. Die Zapatisten in Südmexiko zum Beispiel schufen und verteidigten autonome, nicht-marktwirtschaftliche Räume, Vorstellungen von radikaler Demokratie und indigener Subjektivität als Gegenreaktion auf das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (NAFTA) und die verschärften Angriffe auf bereits gefährdete Formen kollektiven Landbesitzes und öffentlicher Güter. Die Bewegungen gegen die Privatisierung von Wasser in Bolivien, die Mobilisierung von Arbeitslosen oder von Piqueteros, die

Marion Werner: Macht-/Wissensbeziehungen in der Wirtschaftsgeographie infrage stellen

durch die Währungskrise in Argentinien verarmt sind, und die Bewegung der Landlosen in Brasilien signalisierten auf unterschiedliche Weise das Erstarken des Widerstands gegen die vom Neoliberalismus verursachten Enteignungen. Seit den späten 1990er Jahren haben umfassende Organisierungen und der Widerstand gegen den Neoliberalismus in Lateinamerika und der Karibik zum Wahlerfolg politischer Parteien mit einer starken reformistischen Agenda geführt. In Brasilien, Venezuela, Bolivien, Argentinien, Paraguay, Uruguay und Ecuador übernimmt nun zum Teil der Staat die Orte der Artikulation (locus of enunciation) gegenhegemonialen Denkens und Handelns. Viele Regierungen suchen nach Wegen, das neoliberale Paradigma entweder umzukehren oder zu überarbeiten, und, besonders in Venezuela, Bolivien und Ecuador (zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Artikels), sich mit den Hinterlassenschaften von Rassismus und Kolonialismus auseinanderzusetzen, die den Nationalstaat durch die Marginalisierung und den Ausschluss indigener und afrodiasporischer Bevölkerungsgruppen strukturiert haben. Die Abkehr von der Enteignung und der Wiederaufbau städtischer und ländlicher Lebensgrundlagen stehen auf der Agenda von politischen Möglichkeitsräumen, die manche als ›Postneoliberalismus‹ bezeichnen (Sader 2008). Staaten und soziale Bewegungen stehen vor der Aufgabe, wirtschaftliche und politische Geographien durch neue und erneuerte Paradigmen der Souveränität, autonomer Entwicklung, Solidarität und radikaler Demokratie neu zu gestalten. Programme des sozialen und ökonomischen Wandels unter dem Banner des Neostrukturalismus, des Amazonas-Anden-Kapitalismus oder des Sozialismus des 20. Jahrhunderts entstammen zum Teil der Tradition des gegenhegemonialen Denkens in der Region (Bielschowsky 2006; Romo 2007; Leiva 2008; Ferrer 2010). Die Widersprüche und die Komplexität dieser Projekte sind ein Grund mehr, sich mit diesen Transformationen zu beschäftigen und zu fragen, was man aus diesen Erfahrungen über die Dezentrierung der Wirtschaftsgeographie lernen kann.

Regionale Integration und territoriale Ordnung Als Beispiel möchte ich zwei sehr unterschiedliche staatlich getragene Bemühungen um eine Transformation der vorherrschenden Machtverhältnisse und die Umgestaltung der Wirtschaftsgeographien der Region kurz skizzieren. Beide sind mit dem gegenwärtigen politischen Prozess in Venezuela verbunden, der seit der Wahl von Hugo Chávez Frías zum Präsidenten im Jahr 1998 im Gange ist und untrennbar (aber nicht reduzierbar) mit der Po-

103

104

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

litik der Erdölförderung verbunden ist (vgl. Lander 2008). Ersteres ist ein regionales Integrationsprojekt mit dem Namen Bolivarianische Allianz für die Völker unseres Amerika – Handelsvertrag der Völker (Alianza Bolivariana para los Pueblos de Nuestra América-Tratado de Comercio de los Pueblos – ALBA-TCP). Präsident Chávez und der ehemalige kubanische Präsident Fidel Castro riefen ALBA im Jahr 2004 in Havanna ins Leben, um sich den neoliberalen Freihandelsabkommen zu widersetzen, die die regionalen Integrationsbemühungen seit den 1990er Jahren dominiert hatten, und um eine Alternative für Länder (insbesondere Kuba) und Produzent*innen zu bieten, die unter den negativen Auswirkungen der US-Handelspolitik leiden. Mit derzeit acht teilnehmenden Mitgliedsstaaten und auf der Grundlage von Solidaritätsprinzipien, die von sozialen Bewegungen entwickelt wurden, verfolgt ALBA das Anliegen, Räume für alternativen Handel mit direkter Regierungsbeteiligung zu schaffen. ALBA zielt ausdrücklich darauf ab, Handelsbeziehungen und infrastrukturelle Investitionen zu fördern. Damit sollen die ökonomischen Verwerfungen in den Amerikas und die Muster des ungleichen Austauschs – insbesondere volatile Preise und sinkende Exporterlöse (terms of trade) für Rohstoffe – aufgebrochen werden, die die untergeordnete Position der Region im gegenwärtigen Kapitalismus strukturieren (Altmann Borbón 2009). Der monetär wichtigste Handel findet bisher unter dem Dach von Süd-Süd-Energieabkommen statt. Das größte ist hier Petrocaribe. Es steht Mitgliedern und Nicht-Mitgliedern von ALBA offen und institutionalisiert Formen des internationalen Handels und zinsgünstige Kredite im Austausch gegen Treibstoffe zwischen dem ölreichen Venezuela und seinen 18 Mitgliedsländern im Karibikraum. Venezuela finanziert so Ölkäufe zu reduzierten Zinssätzen mit der Möglichkeit der Bezahlung in Gütern und/oder Dienstleistungen durch die Abnehmerländer.6 ALBA ist eine von mehreren Initiativen zur Süd-Süd-Integration und -Finanzierung (z.B. UNASUR, die ALBA-Bank, die geplante Banco del Sur und eine neue Regionalwährung namens Sucre), die in dem Bemühen entstanden sind, Räume für eine Politik zu schaffen, die von den in Washington ansässigen Institutionen unabhängig ist. Insbesondere ALBA fordert einen kooperativen Umgang mit indigenen Völkern und sozialen Bewegungen im weiteren Sinne,

6

Acuerdo de Cooperaci ón Energ ética Petrocaribe. Verfügbar unter https://www.mre. gov.ve, zuletzt geprüft am 23.02.2008. Zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Artikels befanden sich diese Abkommen im Prozess der Neuverhandlung [im Original Endnote 4, d. Übers.].

Marion Werner: Macht-/Wissensbeziehungen in der Wirtschaftsgeographie infrage stellen

der durch einen Rat der sozialen Bewegungen und deren Vertretung im politischen Rat innerhalb der Struktur der Organisation umgesetzt wird. Dass solche Initiativen Räume der Autonomie gegen neoliberale Politiken verteidigen und Alternativen schaffen können, die zu distributiveren Formen der Akkumulation und radikalen Formen der Demokratie führen, ist natürlich nicht garantiert. Nichtsdestotrotz ist dieser Prozess einer von vielen, die mit dem Ziel entstehen, die Wirtschaftsgeographie der Makroregion angesichts des Scheiterns des Neoliberalismus zu verändern. Ein weiteres Beispiel wirft wichtige Fragen zu (gegenhegemonialen) Macht-/Wissensbeziehungen im Kontext der Wirtschaftsgeographien aus dem Süden auf. Im Jahr 2007 forderte die venezolanische Regierung ›una nueva geometría del poder‹ (eine neue Geometrie der Macht, Übers. d. A.) als eine der fünf ›Motoren‹ des bolivarischen Prozesses, der im selben Jahr zum gescheiterten Referendum über die Verfassungsreform führte. Das Konzept, das in der Folge durch verschiedene Gesetzesreformen erweitert wurde, ist explizit der Arbeit von Doreen Massey und ihrem Begriff der Machtgeometrien (2008; 2009a; 2009b) entlehnt. Der venezolanische Geograph Ricardo Menéndez führte die Idee als Teil des Regierungsprogramms ein, um der territorialen Dimension der ungleichen Entwicklung, die die Beziehungen im Land strukturiert, Priorität einzuräumen. Konkret schlägt der Staat unter dem Motto einer neuen Geometrie der Macht die Bildung und die Einbindung von Gemeinderäten vor, die von Volksversammlungen geleitet werden, die wiederum von Gemeindemitgliedern mit einer gewissen Autonomie in der Entscheidungsfindung über die Planung und Politik gebildet werden (Riveros Quiróz 2007). Das Konzept bezieht sich auch auf ein System von Transferzahlungen zwischen den sehr ungleichen Regionen Venezuelas sowie die Priorisierung von produktiven Sektoren7 in jeder dieser Regionen (als Teil des Ley del Consejo Federal del Gobierno 2010 [Bundesratsgesetz, Übers. d. A.]). Ob das Konzept einer neuen Geometrie der Macht einen Versuch darstellt, eine Basisdemokratie über territorial basierte Formen der partizipativen Demokratie zu konstruieren, oder ein Gerüst zur Unterstützung von Top-DownMaßnahmen zur Zentralisierung der Macht in den Händen der Regierung, ist heute Gegenstand zahlreicher Debatten in Venezuela, nicht zuletzt unter Geograph*innen und Planer*innen in Zeitschriften und auf Websites wie

7

Anm. d. Übers.: Damit sind Wirtschaftsbereiche gemeint, die beschäftigungsintensiv sind und nicht alleine auf der unproduktiven Ausbeutung von Rohstoffen beruhen.

105

106

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

Scripta Nova, La Revista Geográfica Venezolana und Aporrea.org (z.B. Di Gimiani 2007; Estaba 2007). Am Beispiel der Übertragung des Konzepts der ›Machtgeometrien‹ vom Globalen Norden in die ›geometrías del poder‹ im Globalen Süden erhalten wir einen Einblick in die Widersprüche und Komplexitäten der gegenhegemonialen Wissensproduktion. Aus Gründen, die speziell für den politischen Prozess in Venezuela gelten, ist Masseys Begriff nützlich, um eine Reihe von Projekten und Programmen zu unterstützen, die die ungleiche Entwicklung des Landes in den Mittelpunkt ihrer politischen Reformen und der Förderung der partizipativen Demokratie stellen und um diese sozialräumlichen Ungleichheiten zu überwinden. Natürlich sind diese Übertragungen mehr als eine einfache Übersetzung oder eine Art Operationalisierung eines Konzepts, das ursprünglich durch anglo-amerikanische Erfahrungen gespeist war. Vielleicht können wir die Übertragung der Geometrías zwischen Nord und Süd am besten als eine kreative Aneignung verstehen, eine, die vermeintlich selbstverständliche, geographische Unterschiede politisiert und gleichzeitig das ›ursprüngliche‹ Konzept durch die politische Tradition der partizipativen Demokratie in Lateinamerika transformiert.

Fazit: Macht-/Wissensbeziehungen in der Wirtschaftsgeographie herausfordern (Post-)industrielle Aktivitäten und die Verortung dieser Prozesse im Globalen Norden bilden weiterhin einen zentralen Eckpfeiler der Wirtschaftsgeographie: Entweder als Forschungsgegenstände oder als selbstverständliche Bezugspunkte für die Gestaltung und Durchführung von Forschung anderswo. Dieser Fokus spiegelt die institutionellen Orte der Praktiker*innen des Feldes – Orte, die selbst Produkte der ungleichen Geographien des Kapitalismus sind. Die daraus resultierenden analytischen Perspektiven zum industriellen Strukturwandel sind zwar spezifisch, werden aber verallgemeinert, indem Wirtschaftsgeograph*innen Orte im Globalen Norden als unbestrittene Zentren und Motoren des globalen ökonomischen Wandels oder als Quellen universell anwendbarer Modelle konstruieren. Um kapitalistische Machtverhältnisse zu destabilisieren und Alternativen zu schaffen, bedarf es einer Dezentrierung der Disziplin, die die aktive Infragestellung des Verhältnisses von Macht und Wissen ermöglicht. Eine solche Dezentrierung wird nicht durch einen geographischen Pluralismus (mehr Orte, mehr Sekto-

Marion Werner: Macht-/Wissensbeziehungen in der Wirtschaftsgeographie infrage stellen

ren) gelingen, sondern eher durch eine kritische Auseinandersetzung mit und einer Infragestellung und Herausforderung bestehender Machtverhältnisse. Für ein solches Projekt in der Wirtschaftsgeographie bieten die hier diskutierten gegenhegemonialen Praktiken und Theorien aus Lateinamerika und der Karibik mindestens drei wichtige Lektionen. Erstens berufen sie sich auf die spezifische und besondere Erfahrung von Orten, die durch strukturell untergeordnete Positionen innerhalb des Kapitalismus produziert werden. Dabei nehmen sie Positionalität statt Universalität als grundlegende Prämisse an – eine Prämisse, die für die Wissensproduktion in der Wirtschaftsgeographie im Allgemeinen eine gute Grundlage wäre (vgl. Sheppard 2002). Zweitens verdeutlichen die gegenhegemonialen Praktiken und Theorien, die im Gefolge der Dependentistas geschaffen wurden, dass strukturelle Positionen und Fragen der Identität auf kontingente Weise miteinander verbunden sind. Gegenhegemoniale Positionen entstehen aus hybriden Erfahrungen, die zwar mit den bestehenden ökonomischen Verhältnissen zusammenhängen, aber nicht auf diese reduziert werden können. Das Feld der ›relationalen‹ Wirtschaftsgeographien könnte also durch die Auseinandersetzung mit Theorien und Erfahrungen aus Lateinamerika und der Karibik weiterentwickelt werden, die Identität und strukturelle Position bei der Hervorbringung gegenhegemonialer Politiken und Räumen autonomer Entwicklung zusammendenken. Schließlich stellen die von mir diskutierten ›postneoliberalen‹ Projekte die Beziehung zwischen Macht, Wissen und Geographie in den Mittelpunkt. Die Grenzen zwischen Hegemonie und Gegenhegemonie sowie zwischen Neoliberalismus und ›Postneoliberalismus‹ sind stetig umkämpft. Daher bieten diese und viele andere Projekte eine Möglichkeit zu lernen, wie Geographie ausgehend von diesen politischen Möglichkeitsräumen neu konzipiert wird und was solche Re-Perspektivierungen von Zentren und Peripherien sowohl für die Disziplin der Geographie als auch in Bezug auf existierende ökonomische Machtverhältnisse bieten können.

107

108

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

Übersetzung Übersetzt aus dem Englischen von Stefan Ouma und Julian Stenmanns.8 Sofern nicht anders angegeben, wurden die im Text vorkommenden Zitate aus englischsprachigen Werken ebenfalls von Stefan Ouma und Julian Stenmanns ins Deutsche übersetzt. Ursprünglich erschienen als: »Contesting Power/Knowledge in Economic Geography: Learning from Latin America and the Carribean« (2012) in: Trevor J. Barnes, Jamie Peck und Eric S. Sheppard (Hg.): The Wiley-Blackwell companion to economic geography. Chichester West Sussex/Malden MA: Wiley-Blackwell (Wiley-Blackwell companions to geography), S. 132–145. Übersetzt und abgedruckt mit freundlicher Genehmigung von John Wiley and Sons. © Blackwell Publishing Ltd.

Literatur Aglietta, Michel (2000[1979]): A theory of capitalist regulation: The US experience, London: Verso. Altmann Borbón, Josette (2009): »El ALBA, Petrocaribe y Centroamérica: ¿intereses comunes?«, in: Nueva Sociedad (219), S. 127–144. Bair, Jennifer; Werner, Marion (2011): »Commodity Chains and the Uneven Geographies of Global Capitalism: A Disarticulations Perspective«, in: Environment and Planning A: Economy and Space 43(5), S. 988–997. Bebbington, Anthony (2009): »Latin America: contesting extraction, producing geographies«, in: Singapore journal of tropical geography 30(1), S. 7–12. Beckford, George L. (1972): Persistent poverty: Underdevelopment in plantation economies of the Third World, New York: Zed Press. Best, Lloyd (2005): »A model of pure plantation economy«, in: Dennis Pantin (Hg.): The Caribbean economy. A reader, Kingston: Ian Randle Publishers, S. 44–57. Bielschowsky, Ricardo (2006): »Vigencia de los aportes de Celso Furtado al estructuralismo«, in: Revista de la CEPAL (88), S. 7–15.

8

Anm. d. Übers.: Wir danken Eva Isselstein und Mirjam Körner für wertvolle Kommentare und Unterstützung bei der Anfertigung dieser Übersetzung. Einige Stellen wurden in der Übersetzung sprachlich geglättet. Falls für zitierte Quellen deutsche Übersetzungen vorlagen, wurden diese verwendet. Wichtige Originalbegriffe aus Werners Text werden in der Übersetzung in Klammern erwähnt.

Marion Werner: Macht-/Wissensbeziehungen in der Wirtschaftsgeographie infrage stellen

Bluestone, Barry; Harrison, Bennett (1982): The Deindustrialization of America, New York: Basic Books. Chakrabarty, Dipesh (2010): Europa als Provinz. Perspektiven postkolonialer Geschichtsschreibung, Frankfurt a.M./New York: Campus. Chari, Sharad (2004): Fraternal Capital. Peasant-Workers, Self-Made Men, and Globalization in Provincial India, Stanford: Stanford University Press. Chavez, Daniel; Rodríguez Garavito, César A.; Barrett, Patrick S. (Hg.) (2008): La Nueva Izquierda en América Latina, Madrid: Catarata. Cravey, Altha J. (1998): Women and Work in Mexico’s Maquiladoras, Lanham: Rowman & Littlefield. Di Giminiani, Daniele (2007): »¿Que es la Nueva Geometría del Poder?«, in: Aporrea vom 24.08.2007, https://www.aporrea.org/actualidad/a40153.html, zuletzt geprüft am 30.03.2021. Dicken, Peter (2004): »Geographers and ›Globalization‹: (Yet) Another Missed Boat?«, in: Transactions of the Institute of British Geographers 29(1), S. 5–26. Dicken, Peter; Kelly, Philip F.; Olds, Kris; Yeung, Henry W. (2001): »Chains and networks, territories and scales: Towards a relational framework for analysing the global economy«, in: Global Networks 1(2), S. 89–112. Dos Santos, Theotônio; Randall, Laura (1998): »The Theoretical Foundations of the Cardoso Government«, in: Latin American Perspectives 25(1), S. 53–70. Escobar, Arturo; Alvarez, Sonia E. (1992): The Making of Social Movements in Latin America: Identity, Strategy, and Democracy, Boulder: Westview Press. Estaba, Rosa M. (2007): »Una invitación para discutir sobre la geografía desde mi experiencia profesional«, in: Revista geográfica venezolana 48(2), S. 273–297. Ferrer, Aldo (2010): »Raúl Prebisch y el dilema del desarrollo en el mundo global«, in: Revista de la CEPAL (101), S. 7–15. Fröbel, Folker; Heinrichs, Jürgen; Kreye, Otto (1983): Die neue internationale Arbeitsteilung. Strukturelle Arbeitslosigkeit in den Industrieländern und die Industrialisierung der Entwicklungsländer, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt-Taschenbuch-Verlag. Gereffi, Gary; Humphrey, John; Sturgeon, Timothy (2005): »The Governance of Global Value Chains«, in: Review of International Political Economy 12(1), S. 78–104. Gertler, Meric S. (1992): »Flexibility Revisited: Districts, Nation-States, and the Forces of Production«, in: Transactions of the Institute of British Geographers 17(3), S. 259–278.

109

110

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

Grosfoguel, Ramón (2000): »Developmentalism, Modernity, and Dependency Theory in Latin America«, in: Nepantla: Views from South 1(2), S. 347–374. Hall, Stuart (2013[1996]): »Wann gab es »das Postkoloniale«? Denken an der Grenze«, in: Sebastian Conrad, Shalini Randeria, Regina Römhild (Hg.): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M./New York: Campus, S. 219–246. Hart, Gillian (1998): »Multiple Trajectories: A Critique of Industrial Restructuring and the New Institutionalism«, in: Antipode 30(4), S. 333–356. Harvey, David (1989): The Condition of Postmodernity. An Enquiry into the Origins of Cultural Change, Cambridge/Oxford: Blackwell. Henderson, Jeffrey W.; Dicken, Peter; Hess, Martin; Coe, Neil M.; Yeung, Henry W. (2002): »Global Production Networks and the Analysis of Economic Development«, in: Review of International Political Economy 9(3), S. 436–464. Hualde Alfaro, Alfredo (2003): »¿Existe un modelo maquilador?«, in: Nueva Sociedad (184), S. 86–101. Kay, Cristobal (1989): Latin American Theories of Development and Underdevelopment, London: Routledge. Kelly, Philip F. (2009): »From Global Production Networks to Global Reproduction Networks. Households, Migration, and Regional Development in Cavite, the Philippines«, in: Regional Studies 43(3), S. 449–461. Lander, Edgardo (2008): »Venezuela. Izquierda y populismo: alternativas al neoliberalismo«, in: Daniel Chavez, César A. Rodríguez Garavito, Patrick S. Barrett (Hg.): La Nueva Izquierda en América Latina, Madrid: Catarata, S. 111–148. Leiva, Fernando I. (2008): Latin American Neostructuralism. The Contradictions of Post-Neoliberal Development, Minneapolis: University of Minnesota Press. Levitt, Kari (2005): Reclaiming Development. Independent Thought and Caribbean Community, Kingston: Ian Randle Publishers. Liepitz, Alain (1986): »New Tendencies in the International Division of Labor: Regimes of Accumulation and Modes of Regulation«, in: Allen J. Scott, Michael Storper (Hg.): Production, work, territory. The Geographical Anatomy of Industrial Capitalism, London: Allen & Unwin, S. 16–40. Liepitz, Alain (1987): Mirages and Miracles. The Crises of Global Fordism, London: Verso. Markusen, Ann (1996): »Sticky Places in Slippery Space: A Typology of Industrial Districts«, in: Economic Geography 72(3), S. 293–313. Massey, Doreen B. (1995[1984]): Spatial Divisions of Labour. Social Structures and the Geography of Production, New York: Routledge.

Marion Werner: Macht-/Wissensbeziehungen in der Wirtschaftsgeographie infrage stellen

Massey, Doreen B. (2008): Hacia una nueva geometría del poder, Caracas: El Perro y la Rana. Massey, Doreen B. (2009a): »Concepts of Space and Power in Theory and in Political Practice«, in: Documents d’anàlisi geogràfica (55), S. 15–26. Massey, Doreen B.(2009b): »The Possibilities of a Politics of Place Beyond Place? A Conversation with Doreen Massey«, in: Scottish Geographical Journal 125(34), S. 401–420. Massey, Doreen B., Meegan, Richard (1982): The Anatomy of JobL. The How, Why and Where of Employment Decline, London: Methuen. McDowell, Linda (1991): »Life without Father and Ford: The New Gender Order of Post-Fordism«, in: Transactions of the Institute of British Geographers 16(4), S. 400–419. Mignolo, Walter D. (1995): The Darker Side of the Renaissance. Literacy, Territoriality, and Colonization, Ann Arbor: University of Michigan Press. Mohanty, Chandra T. (2003): Feminism Without Borders. Decolonizing Theory, Practicing Solidarity, Durham: Duke University Press. Murphy, James T. (2008): »Economic Geographies of the Global South: Missed Opportunities and Promising Intersections with Development Studies«, in: Geography Compass 2(3), S. 851–873. Nagar, Richa, Lawson, Victoria A., McDowell, Linda, Hanson, Susan (2002): »Locating Globalization. Feminist (Re)Readings of the Subjects and Spaces of Globalization«, in: Economic Geography 78(3), S. 257–284. Ong, Aihwa (1991): »The Gender and Labor Politics of Postmodernity«, in: Annual Review of Anthropology (20), S. 279–309. Peck, Jamie, Miyamachi, Yoshihiro (1994): »Regulating Japan? Regulation Theory versus the Japanese Experience«, in: Environment and Planning D: Society and Space 12(6), S. 639–674. Piore, Michael J., Sabel, Charles F. (1984): The Second Industrial Divide. Possibilities for Prosperity, New York: Basic Books. Pollard, Jane, McEwan, Cheryl, Laurie, Nina, Stenning, Alison (2009): »Economic Geography under Postcolonial Scrutiny«, in: Transactions of the Institute of British Geographers 34(2), S. 137–142. Quijano, Aníbal (2000): »Coloniality of Power, Eurocentrism, and Latin America«, in: Nepantla: Views from South 1(3), S. 533–580. Riveros, Eduardo (2007): »Entrevista con el geógrafo Ricardo Menéndez«, in: Analítica vom 09.10.2007, https://www.analitica.com/opinion/opinioninternacional/entrevista-con-el-geografo-ricardo-menendez/, zuletzt geprüft am 30.03.2021.

111

112

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

Romo, Héctor G. (2007): »De la orden cepalina del desarrollo al neoestructuralismo en América Latina«, in: Comercio Exterior 57(4), S. 295–313. Sader, Emir (2008): »The Weakest Link? Neoliberalism in Latin America«, in: New Left Review (52), S. 5–31. Said, Edward W. (1981): Orientalismus, Frankfurt a.M./Berlin/Wien: Ullstein. Sassen, Saskia (1988): The Mobility of Labor and Capital. A Study in International Investment and Labor Flow, Cambridge: Cambridge University Press. Saxenian, AnnaLee (1994): Regional Networks: Industrial Adaptation in Silicon Valley and Route 128, Cambridge, MA: Harvard University Press. Scott, Allen J. (1988): New Industrial Spaces. Flexible Production Organization and Regional Development in North America and Western Europe, London: Pion. Scott, Allen J. (2003): »Economic Geography: The Great Half-Century«, in: Gordon L. Clark; Maryann P. Feldman; Meric S. Gertler (Hg.): The Oxford Handbook of Economic Geography, Oxford/New York: Oxford University Press, S. 18–44. Sheppard, Eric (2002): »The Spaces and Times of Globalization: Place, Scale, Networks, and Positionality«, in: Economic Geography 78(3), S. 307–330. Sheppard, Eric (2006): »Geography Past, Geography Future: Taking Stock«, in: Progress in Human Geography 30(1), S. 119–123. Slater, David (1998): »Post-colonial Questions for Global Times«, in: Review of International Political Economy 5(4), S. 647–678. Slater, David (2004): Geopolitics and the Post-colonial. Rethinking North-South Relations, Malden: Blackwell. Smith, Adrian (2002): »Trans-locals, Critical Area Studies and Geography’s Others, or Why ›Development‹ Should not be Geography’s Organizing Framework: A Response to Potter«, in: Area 34(2), S. 210–213. Storper, Michael (1995): »The Resurgence of Regional Economies, Ten Years Later. The Region as a Nexus of Untraded Interdependencies«, in: European Urban and Regional Studies 2(3), S. 191–221. Storper, Michael, Walker, Richard (1989): The Capitalist Imperative. Territory, Technology, and Industrial Growth, New York: Basil Blackwell. Sunkel, Osvaldo (2000): »La labor de la CEPAL en sus primeros dos decenios«, in: Naciones Unidas/CEPAL (Hg.): La CEPAL en sus 50 años: Notas de un Seminario Conmemorativo, Santiago de Chile: Publicación de las Naciones Unidas, S. 33–40. Tickell, Adam, Peck, Jamie A. (1992): »Accumulation, Regulation and the Geographies of Post-Fordism: Missing Links in Regulationist Research«, in: Progress in Human Geography 16(2), S. 190–218.

Marion Werner: Macht-/Wissensbeziehungen in der Wirtschaftsgeographie infrage stellen

Valencia, Adrián S. (2005): »Dependencia y sistema mundial: ¿Convergencia o divergencia? Contribución al debate sobre la teoría marxista de la dependencia en el siglo XXI«, in: Revista Da Sociedade Brasileira de Economia Politica 17, S. 72–91. Vosko, Leah F. (2000): Temporary Work. The Gendered Rise of a Precarious Employment Relationship, Toronto: University of Toronto Press. Wright, Melissa W. (1997): »Crossing the Factory Frontier: Gender, Place and Power in the Mexican Maquiladora«, in: Antipode 29(3), S. 278–302. Yeung, Henry W. (2009): »Regional Development and the Competitive Dynamics of Global Production Networks. An East Asian Perspective«, in: Regional Studies 43(3), S. 325–351. Yeung, Henry W., Lin, George C. S. (2003): »Theorizing Economic Geographies of Asia«, in: Economic Geography 79(2), S. 107–128.

113

Jenseits eurozentrischer Wirtschaftsgeographie Ein Kommentar zu Marion Werner Stefan Ouma & Julian Stenmanns

Marion Werner ist eine kanadische Wirtschaftsgeographin und lehrt und forscht an der State University of New York in Buffalo. In den vergangenen fünfzehn Jahren hat sie bedeutende Beiträge zu Diskussionen über Handel, Warenketten und die neoliberale Umstrukturierung von Industrie- und Agrarsektoren in der Karibik und Lateinamerika geleistet, wobei sie sich auf Ansätze der feministischen politischen Ökonomie, Foucaultsche Perspektiven sowie post- und dekoloniale Denker*innen stützt. Darüber hinaus war sie bis 2022 leitende Redakteurin der Zeitschrift Antipode, einer wichtigen Plattform für kritisch-geographische Debatten.1 Ihr Beitrag im 2012 erschienenen Sammelband »Wiley-Blackwell Companion to Economic Geography« stellt eine wichtige Intervention in die Debatte um geographische Macht-/Wissensbeziehungen und die damit verbundenen theoretischen, ontologischen und epistemologischen Fragen dar, die die Wirtschaftsgeographie prägen. Werner entwickelte ihren Einspruch zu einer Zeit, als mehrere Autor*innen eine Neupositionierung des Globalen Südens in der Wirtschaftsgeographie gefordert hatten. In diesem Zusammenhang plädierte eine Gruppe von Wirtschaftsgeograph*innen für ein reflexives »theorizing back«, ausgehend von den empirischen und epistemischen Rändern einer weitgehend euro-atlantisch zentrierten Disziplin (Murphy 2008; Pollard et al. 2009; Yeung/Lin 2003), die sich zudem stark auf einzelne Unternehmen und die Erfolgsgeschichten von Hightechindustrien und deren regionale Determinanten konzentrierte. Diese Forderungen bestehen nach wie vor und wurden um weitere geographisch unterschiedlich situierte Perspektiven ergänzt, z.B. 1

Zugang zur Zeitschrift Antipode: https://onlinelibrary.wiley.com/journal/14678330, zuletzt geprüft am 01.07.2021 und insbesondere auch deren Diskussionsplattform https://antipodeonline.org, zuletzt geprüft am 01.07.2021.

116

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

von Wissenschaftler*innen aus Australien und Aotearoa Neuseeland (Wray et al. 2013). Das International Journal of Urban Sciences widmete dieser Debatte 2019 sogar ein ganzes Themenheft (Sonn 2019). Nichtsdestotrotz kritisieren die meisten der seither veröffentlichten Beiträge vor allem die Hegemonie anglophoner Arbeiten und die damit einhergehenden Ausgrenzungen durch Sprache. Darüber hinaus wenden sich diese Texte weitestgehend den klassischeren Themen der Wirtschaftsgeographie zu: den Geographien der Unternehmensorganisation, der Standortwahl und regionalwirtschaftlichen Effekten. Unter den bisherigen Beiträgen sticht Werners Intervention daher aus mehreren Gründen deutlich hervor. Erstens baut sie auf ihrem langjährigen wissenschaftlichen und aktivistischen Engagement in der Karibik auf und entwickelte ihre Positionen in engem Dialog mit Kolleg*innen in der Region und in Lateinamerika insgesamt (vgl. The Public Archive 2020). Diese Arbeiten mündeten schließlich in ihrem Buch »Global Displacements: The Making of Uneven Development in the Caribbean« (Werner 2016). In Auseinandersetzung mit Prozessen des Strukturwandels in den Textilindustrien der Dominikanischen Republik und Haitis plädiert sie für »eine relationale Geographie ungleicher Entwicklung, die die Art und Weise in den Vordergrund stellt, wie Orte iterativ in Beziehung zueinander produziert werden« (The Public Archive 2020, Übers. d. A.). Werners Beschäftigung mit den global verwobenen Arbeitsverhältnissen in der Textilindustrie verlässt dabei den »aristokratischen Raum« (Santos 1974: 3, Übers. d. A.) einer firmenzentrierten Wirtschaftsgeographie und befördert vielmehr ein Verständnis einer »Weltgeographie, in der Reichtum und Armut nicht als getrennte Entitäten, sondern als komplementäre Teile einer singulären Realität behandelt werden« (ebd.: 4, Übers. d. A.). Zweitens synthetisiert Werners Beitrag eine ganze Reihe unterschiedlicher Arbeiten. Dazu gehören Arbeiten über den industriellen Strukturwandel, die feministische politische Ökonomie, klassische und neuere Versionen des weltsystem- und dependenztheoretischen Denkens, sowie post- und dekoloniale Beiträge. Sie nutzt dieses umfangreiche Archiv, um die Karibik und Lateinamerika als ›Orte der Erklärung‹ sowie als ›Orte der Theoretisierung‹ in den Mittelpunkt globaler Wirtschaftsgeographien zu rücken. Dies ermöglicht es Werner, eine Wirtschaftsgeographie zu skizzieren, die Perspektiven, Erfahrungen und Ansätze des Globalen Nordens nicht universalisiert und damit den Süden in letztere einverleibt. Im Geleit von weiteren Arbeiten jenseits des Feldes der Wirtschaftsgeographie (Manjapra 2018: 382; Wray et al. 2013: 192) zielt dieses Vorhaben darauf ab, unser historisches und räumliches Bewusstsein

Stefan Ouma & Julian Stenmanns: Jenseits eurozentrischer Wirtschaftsgeographie

neu zu gestalten. Werner nutzt hierfür die gelebten Erfahrungen in der Karibik und Lateinamerika sowie die damit verbundenen situierten intellektuellen Debatten, um Macht-/Wissens-Formationen in einer Disziplin anzufechten, die den Globalen Süden nicht als »majority world«2 , sondern als das nicht-signifikante Andere des Globalen Nordens thematisiert – wenn überhaupt. Doch ihr Aufruf sollte nicht auf eine Neujustierung des empirischen Fokus der Wirtschaftsgeographie reduziert werden (für ein Beispiel dieser Praxis siehe Murphy 2008). Mit ihrem Projekt ist fundamental der Aufruf nach einer epistemischen Erschütterung metropolitaner Weltentwürfe verbunden. Diese epistemische Praxis zielt darauf ab, den historisch gewachsenen Kern der Disziplin zu transformieren. Bereits Henry Yeung und George Lin (2003) haben mit Bezug auf aufstrebende asiatische Ökonomien einen ähnlichen Versuch der Pluralisierung wirtschaftsgeographischer Perspektiven unternommen. Allerdings baut deren Projekt auf einem viel engeren Spektrum von Literaturen auf. Zudem bieten Yeung und Lin weitaus weniger Ressourcen an als Werner, um die »dark side of economic geography« (Phelps et al. 2018: 237) sichtbar zu machen, da sich deren Intervention weiterhin vor allem mit der Erklärung von geographisch situierten Prozessen nachholender Entwicklung beschäftigt. Demgegenüber erlebt in jüngerer Zeit der kritische Blick auf

2

Im Rahmen der Suche nach »nonimperial geohistorical categories« (Coronil 1996: 80) schlagen Aktivist*innen und Wissenschaftler*innen vor, auch relativ progressive Begriffe wie Globaler Norden und Globaler Süden durch die von dem bengalischen Photographen Shahidul Alam (2008) geprägten Begriffspaare minority world und majority world zu ersetzen. Diese Termini seien weniger normativ und problematisierten zudem die Tatsache, dass eigentlich nur ein relativ kleiner Teil der Menschheit mit seinem Lebensstil für die globale Umwelt- und Klimakrise verantwortlich ist. Alams (2008: 89) Aufforderung im Detail lautet: »Wirtschaftlich arme Länder der Welt sind ausnahmslos Länder, die kolonisiert wurden und weiterhin durch globalisierte Formen der Kontrolle kolonisiert werden. Sie sind als ›Dritte Welt‹, ›Entwicklungsländer‹ oder sogar ›Least Developed Countries‹ kategorisiert worden. Diese Ausdrücke haben stark negative Konnotationen, die Stereotypen über arme Gemeinschaften enthalten und diese als Ikonen der Armut darstellen. Sie verbergen deren Geschichte der Unterdrückung und fortgesetzten Ausbeutung. […] In den frühen 1990er Jahren begann ich mich für einen neuen Ausdruck einzusetzen: ›Mehrheitswelt‹ [majority world] für das, was früher als ›Dritte Welt‹ bezeichnet wurde. Der Begriff hebt die Tatsache hervor, dass wir tatsächlich die Mehrheit der Menschheit sind. Er macht auch auf die Anomalie aufmerksam, dass die G8-Staaten – deren Entscheidungen die Mehrheit der Weltbevölkerung betreffen – nur einen winzigen Bruchteil der Menschheit repräsentieren.« (Übers. d. A.)

117

118

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

Asymmetrien und Desartikulationen (Bair/Werner 2011), die durch Geopolitik (Fernandez 2015) und die Kolonialität von Macht, Wissen und Sein (Quijano 2007) gestützt werden, nicht nur außerhalb der Wirtschaftsgeographie (Kvangraven 2021), sondern auch innerhalb der Disziplin, wie Werners Intervention es verdeutlicht, wachsende Aufmerksamkeit. Mittels der Zentrierung lateinamerikanischer und karibischer Episteme und Alltagserfahrungen im Kontext globalisierter Handels- und Produktionsbeziehungen ist es Werners Anliegen, das Feld der Wirtschaftsgeographie herauszufordern. Ähnliche Projekte könnten auch für die Politische Geographie (Sharp 2013), die Finanzgeographie (Hudson 2019), die Geographie ländlicher Entwicklung und Agrargeographie (Davis et al. 2019, Manjapra 2018, Wolford 2021) sowie für die Geographie als Gesamtdisziplin forciert werden (Craggs/ Neate 2019, Daley/Murrey 2020, Melcado, 2017; Ouma et al. 2020). Es war kein Zufall, dass Werner auf der Jahrestagung der American Association of Geographers 2018 in New Orleans eine author meets critics-Sitzung moderierte, in welcher der Historiker Peter James Hudson sein Buch »Bankers of the Empire: How Wall Street Colonized the Caribbean« (2018) vorstellte. Wie Werner arbeitet auch Hudson die Kolonialität von vermeintlich ›modernen‹ Wirtschaftsformationen heraus. Während Werner ihren Begriff der »globalen Fabrik« im Dialog mit anderen, kolonial durchdrungenen Formationen wie der Plantage und der Mine entwickelt (The Public Archive 2020), folgt Hudson der Kolonialität von Finanzmärkten. In ähnlicher Weise hat die Wirtschaftshistorikerin Caitlin Rosenthal (2018) ›moderne‹ Buchhaltungs- und Managementpraktiken in der Geschichte der Sklaverei und der Plantagenökonomien situiert. Indem sie die Geburt des ›modernen‹ Rechnungswesens nicht in den Fabriken des amerikanischen Nordens und Englands verankert, sondern auf den Plantagen der Karibik und der US-Südstaaten, stellt Rosenthal sowohl konventionelle als auch kritische Erklärungen des Aufstiegs des modernen Kapitalismus auf den Kopf. Diese epistemische Praxis – die minority world ausgehend von der majority world zu überdenken – bietet nicht nur wichtige Lektionen für die epistemologische Rekonfiguration der eigenen Disziplin, sondern auch für die Problematisierung von Schlüsselbegriffen und ökonomischen Formationen, mit denen sich selbst viele kritische Geograph*innen weitgehend abgefunden zu haben scheinen. Denn durch solche tiefgreifenden historischen Auseinandersetzungen wird der Kapitalismus zum »racial capitalism« (Al-Bulushi 2022), die globale Ökonomie zur »kolonialen globalen Ökonomie« (Bhambra 2021), und in der kritischen Wirtschaftsgeographie beliebte Stichwortgeber wie Karl Marx

Stefan Ouma & Julian Stenmanns: Jenseits eurozentrischer Wirtschaftsgeographie

(Agozino 2014) und Michel Foucault (Heiner 2007) stehen in der intellektuellen Schuld von Menschen afrikanischer Herkunft. Werners Aufsatz bietet zusammenfassend wichtige Einsichten und Lehren für die Rekonfiguration der Wirtschaftsgeographie an. Wir verstehen ihn auch als einen Aufruf an die deutschsprachige Wirtschaftsgeographie, ihren empirischen, aber vor allem epistemischen Blick zu erweitern. Bis auf wenige Ausnahmen (z.B. Hassink/Gong/Marques 2019) haben die meisten Wirtschaftsgeograph*innen im deutschsprachigen Raum eine Reflexion über die geographischen Macht-/Wissensbeziehungen, die unserer Disziplin zugrunde liegen, bislang vermieden. Auch setzen sie sich weitgehend nicht mit Autor*innen dekolonialer Tradition in und jenseits der majority world auseinander; wie etwa auch ein Blick in sämtliche auf dem Markt befindlichen deutschsprachigen Lehrbücher der Wirtschaftsgeographie offenbart. Für uns ist dies ein fortwährendes Zeugnis für die Notwendigkeit, die Wirtschaftsgeographie zu dezentrieren und sie zu einer kosmopolitischeren und inklusiveren Disziplin zu entwickeln, in der majority world-Perspektiven auf die und -Erfahrungen mit der sogenannten ›globalen Wirtschaft‹ relevant werden können. Wir möchten diesen Kommentar mit einer Anmerkung des brasilianischen Geographen Milton Santos schließen, der 1974 einen Beitrag über Geographie, Marxismus und Unterentwicklung in der Zeitschrift Antipode veröffentlichte. Damals war Santos für eine Dauer von 16 Monaten am geographischen Institut der Universität von Daressalam (Tansania) tätig, einem Zentrum für revolutionäre Theorieproduktion im Globalen Süden in den 1960er und 1970er Jahren (Neto 2020; Sharp 2013). Santos argumentierte, dass die Erfahrungen des Südens gesammelt und mobilisiert werden müssen, um eine tiefgreifende relationale Sicht auf die globalen Geographien ungleicher Entwicklung zu entwickeln: »Warum sollten wir dann nicht die Expertise aus den unterentwickelten Ländern3 selbst sammeln: um die Theorien zu entwickeln, die für sie sowohl als Geographen als auch als Bürger Sinn machen würden? Im Moment arbeitet 3

Der Begriff der Unterentwicklung mag rückblickend pejorativ erscheinen, wird aber situiert im Kontext des damaligen Sprachgebrauchs nachvollziehbar. Autor*innen aus dem Süden verwendeten den Begriff nicht als Marker für Rückständigkeit, sondern als Beschreibung eines Produkts und relationalen Effekts der Entwicklung des Nordens. Walter Rodneys (1972) Buch »How Europe Underdeveloped Africa« steht sinnbildlich dafür. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung lehrte dieser ebenfalls an der Universität Daressalam.

119

120

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

die ›offizielle‹ Geographie so, als ob der Westen ein Monopol auf Ideen hätte.« (Santos 1974: 4, Übers. d. A.) Dieses Projekt passt auch gut zu den jüngeren Forderungen heterodoxer Ökonom*innen, die Ökonomik zu dekolonisieren und diversifizieren (https://d-ec on.org). Fruchtbare neue Allianzen liegen vor uns. Glücklicherweise gibt es ein umfassendes südliches Archiv, mit dem wir in Dialog treten können.

Literatur Agozino, Biko (2014): »The Africana paradigm in Capital: the debts of Karl Marx to people of African descent«, in: Review of African Political Economy 41(140), S. 172–184. Alam, Shahidul (2008): »Majority World: Challenging the West’s Rhetoric of Democracy«, in: Amerasia Journal 34(1), S. 88–98. Al-Bulushi, Yousuf (2022): »Thinking Racial Capitalism and Black Radicalism from Africa: An Intellectual Geography of Cedric Robinson’s World-System«, in: Geoforum 132, S. 252–262. Bair Jennifer; Werner, Marion (2011): »The Place of Disarticulations: Global Commodity Production in La Laguna, Mexico«, in: Environment and Planning A 43(5), S. 998–1015. Bhambra, Gurminder K. (2021): »Colonial Global Economy: Towards a Theoretical Reorientation of Political Economy«, in: Review of International Political Economy 28(2), S. 307–322. Coronil, Fernando (1996): »Beyond Occidentalism: Toward Nonimperial Geohistorical Categories«, in: Cultural Anthropology 11(1), S. 51–87. Craggs, Ruth; Neate, Hannah (2020): »What Happens If We Start from Nigeria? Diversifying Histories of Geography«, in: Annals of the American Association of Geographers 110(3), S. 899–916. Daley, Patricia O.; Murrey, Amber (2022): Defiant Scholarship: Dismantling Coloniality in Contemporary African Geographies. In: Singapore Journal of Tropical Geography 43 (2), S. 159–176. Davis, Janae; Moulton, Alex A.; van Sant, Levi; Williams, Brian (2019): »Anthropocene, Capitalocene, … Plantationocene? A Manifesto for Ecological Justice in an Age of Global Crises«, in: Geography Compass 13(5), 1–15. Fernández, Victor R. (2015): »Global Value Chains in Global Political Networks«, in: Review of Radical Political Economics 47(2), S. 209–230.

Stefan Ouma & Julian Stenmanns: Jenseits eurozentrischer Wirtschaftsgeographie

Hassink, Robert; Gong, Huiwen/Marques, Pedro (2019): »Moving Beyond Anglo-American Economic Geography«, in: International Journal of Urban Sciences 23(2), S. 149–169. Heiner, Brady T. (2007): »Foucault and the Black Panthers«, in: City 11(3), S. 313–356. Hudson, Peter J. (2018): Bankers and Empire. How Wall Street Colonized the Caribbean, Chicago: The University of Chicago Press. Kvangraven, Ingrid H. (2021): »Beyond the Stereotype: Restating the Relevance of the Dependency Research Programme«, in: Development and Change 52(1), S. 76–112. Manjapra, Kris (2018): »Plantation Dispossessions: The Global Travel of Agricultural Racial Capitalism«, in: Sven Beckert, Christine Desan (Hg.): American Capitalism. New Histories, New York: Columbia University Press, S. 946–951. Melgaço, Lucas (2017): »Thinking Outside the Bubble of the Global North: Introducing Milton Santos and ›The Active Role of Geography‹«, in: Antipode 49(4), S. 946–951. Murphy, James T. (2008): »Economic Geographies of the Global South: Missed Opportunities and Promising Intersections with Development Studies«, in: Geography Compass 2(3), S. 851–873. Neto, Antonio G. d. J. (2020): »Vivenciando o sonho e o pesadelo: Milton Santos e a Tanzânia«, in: Terra Brasilis, S. 1–5. Ouma, Stefan; Hughes, Alex; Murphy, James T.; Opondo, Maggie (2020): »Envisioning African Futures: Perspectives from Economic Geography«, in: Geoforum 115, S. 146–147. Phelps, Nicholas A.; Atienza, Miguel; Arias, Martin (2018): »An Invitation to the Dark Side of Economic Geography«, in: Environment and Planning A: Economy and Space 50(1), S. 236–244. Pollard, Jane; Mcewan, Cheryl; Laurie, Nina; Stenning, Alison (2009): »Economic Geography under Postcolonial Scrutiny«, in: Transactions of the Institute of British Geographers 34(2), S. 137–142. Quijano, Aníbal (2007): »Coloniality and Modernity/Rationality«, in: Cultural Studies 21(2/3), S. 168–178. Rodney, Walter (1972): How Europe Underdeveloped Africa, London: Bogle-L’Ouverture Publ. Rosenthal, Caitlin (2018): Accounting for Slavery. Masters and Management, Cambridge: Harvard University Press.

121

122

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

Santos, Milton (1974): »Geography, Marxism and Underdevelopment«, in: Antipode 6(3), S. 1–9. Sharp, Joanne P. (2013): »Geopolitics at the Margins? Reconsidering Genealogies of Critical Geopolitics«, in: Political Geography 37(1), S. 20–29. Sonn, Jung W. (2019): »Dominance of English in Social Science: the Case of Economic Geography«, in: International Journal of Urban Sciences 23(2), S. i-ii. The Public Archive (2020): Caribbean Workers and Capitalist Geography: An Interview with Marion Werner, https://thepublicarchive.com/?p=5214, zuletzt geprüft am 26.05.2021. Werner, Marion (2016): Global Displacements. The Making of Uneven Development in the Dominican Republic and Haiti, Malden und Oxford: Wiley. Wolford, Wendy (2021): »The Plantationocene: A Lusotropical Contribution to the Theory«, in: Annals of the American Association of Geographers 111(6), S. 1622–1639. Wray, Felicity; Dufty-Jones, Rae; Gibson, Chris; Larner, Wendy; Beer, Andrew; Le Heron, Richard; O’Neill, Phillip (2013): »Neither Here nor There or Always Here and There? Antipodean Reflections on Economic Geography«, in: Dialogues in Human Geography 3(2), S. 179–199. Yeung, Henry W.; Lin, George C. S. (2003): »Theorizing Economic Geographies of Asia«, in: Economic Geography 79(2), S. 107–128.

Momente kritischer Forschungspraxis in de/kolonialen Verhältnissen Katrin Singer, Martina Neuburger & Tobias Schmitt

Dekolonialität und Postkolonialität sind zu Schlüsselbegriffen geworden, die darauf abzielen, die Kolonialität historischer und gegenwärtiger Wissensproduktion zu überdenken und herauszufordern. In den letzten zwei Jahrzehnten gab es vermehrt Workshops, Konferenzen, Vorträge und Publikationen, die sich mit der Frage beschäftigten, wie dekoloniale Ansätze und Methoden in der akademischen Wissensproduktion berücksichtigt werden können (Tuck/Yang 2012; Asher 2013; Naylor et al. 2018; Arbeitsgruppe Kritische Geographien Globaler Ungleichheiten (AG KGGU) 2019; Haesbaert 2021). Auch in der deutschsprachigen Geographie hat das Konzept der Dekolonialität in den letzten zehn Jahren immer mehr Aufmerksamkeit erhalten. Forderungen nach einer Dekolonisierung geographischen Wissens bestehen dabei nicht nur auf einer Auseinandersetzung mit Epistemologien aus dem Globalen Süden (Santos 2010; 2016; Connell 2011), sondern auch auf einer Hinterfragung der imperialen Geschichte der Disziplin und der Teleologie des intellektuellen Fortschritts (Jazeel 2017). Inspiriert von diesen Aufrufen und ausgehend von unseren Erfahrungen in der empirischen Forschung schreiben wir – die Autor/innen1 – im Folgenden über Momente des Zweifelns, Fühlens, Zum-Schweigen-Bringens, des Verweigerns, des Schweigens, des Begegnens und des Weißseins im Forschungsprozess. Dabei steht jeder dieser Momente für Praktiken, durch die die Kolonialen Modernitäten2 der akademischen Wissensproduktion hin-

1

2

Wenn wir nicht die Vielfalt der Geschlechter mit einem Gender-Stern hervorheben wollen, sondern – bspw. in Bezug auf uns – von cis-weiblichen und cis-männlichen Positionen sprechen, benutzen wir einen Schrägstrich. In dieser Arbeit unterscheiden wir in Anlehnung an María Lugones (2010) Koloniale Modernität im Singular, wenn wir von einer universalen und homogenisierenden Idee

124

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

terfragt und herausgefordert werden können (Quijano 2000; Lugones 2010). Die einzelnen Unterkapitel stehen in einem reflexiven Dialog zu Arbeiten aus dem Bereich der post- und dekolonialen Theorien. Sie stellen jedoch keine lineare oder abgeschlossene Abfolge dar, sondern können zirkulär, zufällig, durcheinander, lückenhaft und als unabschließbarer Prozess gelesen werden, aber immer im Sinne einer Unterwanderung weißer, kolonial gewachsener Wissen(schaft)sstrukturen. Dabei gehen wir den Fragen nach, • • •

inwieweit Kräfte einer »matrix of domination« (Hill Collins 2009: 299) allein durch unser Auftreten wirken, was dadurch sichtbar bzw. unsichtbar gemacht wird und welche Möglichkeiten des ›undoings‹ wir in unseren individuellen und kollektiven Forschungsaktivitäten finden können.

Wir3 schreiben dabei aus einer machtvollen Position westlich sozialisierter Wissenschaftler/innen, die die Matrix der Vorherrschaft, wie sie Patricia Hill Collins (2009) definiert, immer wieder auch reproduzieren (wie z.B. über das Schreiben dieses Artikels). Durch unsere Positionen wirken verschiedene »Differenz-, Macht- und Unterdrückungsachsen« (Vorbrugg/ Klosterkamp/Thompson 2021: 80), die eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit Prozessen um Rassifizierung, Be_hinderung, Geschlecht, Klassenund Alterszugehörigkeit, Nationalität, Identität, um Anstellungsverhältnisse und vieles weitere erfordern (Crenshaw 2019). Für diesen Beitrag ist es für uns von Relevanz zu markieren, dass wir aus einer westlich-weißen Position heraus schreiben, die limitiert ist und − so hoffen wir aufzeigen zu können − immer auch mit bestimmten Aufgaben und der Übernahme von Verantwortungen einhergeht (Harding 2004). Was uns eint, ist eine Ausbildung als Geograph*innen mit einem Fokus auf sogenannte Entwicklungsgeographien, durch die unser Blick zumeist auf die Länder des Globalen Südens und die Probleme der ›Anderen‹ gerichtet wurde. Die Auseinandersetzung mit postund dekolonialen Theorien hat uns dabei geholfen, nicht nur die historischen

3

ausgehen. Wenn wir uns auf Modernitäten im Plural beziehen, möchten wir auf die vielfältigen Zentren verweisen, von wo aus die Mächte der Kolonialität global wirken. Wir danken Emma Monama ganz herzlich für ihre vielen Ideen, konzeptionellen Überlegungen und kritischen Anmerkungen, die unseren Schreibprozess begleitet haben. Für die Endversion dieses Artikels, die blinden Flecken und Auslassungen tragen jedoch wir die alleinige Verantwortung.

Katrin Singer, Martina Neuburger & Tobias Schmitt: Momente kritischer Forschungspraxis

Bedingungen von Ungleichheitsverhältnissen sowohl im Globalen Süden als auch im Globalen Norden besser in den Blick nehmen zu können, sondern auch die Kolonialität des Wissens (Quijano 2000) und unsere eigene Rolle dabei besser verstehen und in Frage stellen zu können.

1. Momente des Zweifelns Wissenschaftliches Arbeiten ist − auch wenn dies nicht immer explizit gemacht wird − durchdrungen von Zweifeln und inhärenten Widersprüchen. Dabei ist die Befähigung zum Zweifeln an herrschenden Verhältnissen ein Vermächtnis der Aufklärung und eine Voraussetzung, um Widersprüchen zu begegnen, diese zu analysieren und zu artikulieren. So sieht etwa Gayatri Chakravorty Spivak (2012) im aufklärerischen Aufruf zum Zweifeln die Grundlage zur Hinterfragung von Hegemonie und Unterdrückung. Anstelle einer einfachen Ablehnung der Vermächtnisse der Aufklärung schlägt Gayatri Chakravorty Spivak jedoch eine »produktive Annullierung« (productive undoing, ebd., deutsche Übersetzung in Castro Varela/Dhawan 2015: 203) und eine »affirmative Sabotage« der Prinzipien der Aufklärung vor, »eine Strategie, die die Instrumente des Kolonialismus in Werkzeuge für dessen Überschreitung verwandelt und damit Gift zu Medizin macht« (Castro Varela/Dhawan 2015: 214). (Wissenschaftliches) kritisches Schreiben als widerständige, reflektierende und lernende Praxis verstehen wir als ein solches Werkzeug, ebenso das Zweifeln an herrschenden und als für alternativlos erklärten ökonomischen und politischen Strukturen, an bestehenden Forschungspraktiken und eben auch am eigenen (wissenschaftlichen) Tun. Dabei ist es unabdingbar zu hinterfragen, wie die bis heute dominante Vorstellungswelt der Aufklärung und das daran gebundene universalistische und gleichzeitig eurozentrische Vernunftdenken unterwandert werden kann, ohne es stetig zu reproduzieren (Singer 2019). Die Übertragung einer »affirmativen Sabotage« in die eigene Forschung und universitäre Lehre im Sinne eines dialogischen Zweifelns, (Ver)Lernens und Widerständig-Seins (vgl. dazu Literatur-Kritik, literary criticism von Spivak 2012: 110–118) bedeutet auch, sich eine verändernde Haltung des Hinterfragens des bisherigen fachwissenschaftlichen Kanons der Geographie (und auch darüber hinaus) anzueignen. Um eurozentrisch-verwurzelte Epistemologien provinzialisieren und ihren allgemeingültigen Wahrheits-

125

126

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

anspruch ablehnen zu können, kann es helfen, die eigenen Schreib- und Lesegewohnheiten zu erweitern und sich multiepistemisch zu alphabetisieren (multiepistemic literacy, Kuokkanen 2007: 57). Dies kann beispielsweise bedeuten, verschiedene Blicke und Erklärungen, die sozialer und ökologischer Gerechtigkeit verpflichtet sind, gleichzeitig als wahr und richtig anzuerkennen und sie in einer ›kulturübergreifenden dialogischen Lesestrategie‹ (crossculturally dialogic reading strategy, Rankin 2014) in Beziehung zueinander zu setzen. Dies kann jedoch nur gelingen, wenn unterschiedlich epistemisch begründete Erzählungen nicht additiv aneinandergereiht, sondern ihre – vielleicht sogar gegensätzlichen – Erklärungen von gesellschaftlichen oder/und ökologischen Dynamiken miteinander verknüpft und in ihrer dadurch entstehenden Komplexität neu gedacht werden. Durch unsere epistemischmonolinguale Sozialisation stellt das Denken jenseits des universalisierten und oft auch weißen Mainstreams eine Herausforderung dar. Es fordert uns dazu heraus, die eigene Komfortzone zu verlassen, Privilegien zu verlernen und das Eigene – Denken, Erklären, Forschen etc. – als defizitär zu markieren. Der Zweifel ist dabei ein guter Begleiter − einmal im Denken verankert, können herrschende ungleiche Verhältnisse schwer ignoriert werden. Mit der Idee eines dialogischen, multiepistemischen Lesens und Schreibens geht ebenfalls einher, ›andere‹ Wissenssysteme nicht als Opposition zur Moderne darzustellen, da dies letztendlich ein Denken in Dichotomien befördert, was nicht mit dem aufklärerischen Duktus bricht, sondern zu einem Kampf um Bedeutungshoheit führen kann (Viveiros de Castro 2002). Marginalisierte Epistemologien sind jedoch weder außerhalb der Kolonialen Modernitäten positioniert, noch gehen sie vollständig in ihnen auf (La Cadena 2015: 4). Sie stehen vielmehr in einem Differenzverhältnis, und genau in dieser Differenz entstehen Möglichkeiten, die Provinzialisierung des Denkens, Forschens, Fühlens und Lebens hervorzubringen (Chakrabarty 2000). Leanne Betasamosake Simpson fasst dies in der Aufgabe zusammen, gemeinsam »Konstellationen von gemeinsamem Widerstand zu kreieren« (creating constellations of co-resistance), in denen Differenz und Widersprüchlichkeit erhalten bleiben und doch gemeinsame Beziehungen möglich werden (ebd.: 28). Für unsere Forschungsarbeiten bedeutet die Praktik des Zweifelns, dass es nicht nur eine Perspektive innerhalb Kolonialer Modernitäten gibt, sondern dass an deren Rändern immer auch Wissen produziert wird, das andere Verknüpfungen und Deutungsmöglichkeiten eröffnet. Zudem ist es die Aufgabe jener im Zentrum Positionierten – also von uns – sich multiepistemisch zu

Katrin Singer, Martina Neuburger & Tobias Schmitt: Momente kritischer Forschungspraxis

alphabetisieren, um durch ein gemeinsames Zweifeln am hegemonial Herrschenden zu diverseren Antworten zu gelangen (Singer 2019).

2. Momente des Fühlens Ein Körper, der – in den Worten von Sara Ahmed (2017: 13) – nicht zu Hause ist auf dieser ›einen‹ Welt, zeigt spezifische Wissensproduktionen auf. Sara Ahmed nennt solche Produktionen »schwitzende Konzepte« (sweaty concepts, Ahmed 2017), da sie aus einer körperlichen Anstrengung, aus körperlichem und emotionalem Schmerz heraus entstehen. Es ist körperliches Wissen, das übersetzt in die Welt hinausgetragen wird. Es ist Wissen, das reich an unterschiedlichsten Erfahrungen ist. Es ist Wissen, das nicht nur rational funktioniert, sondern bewusst auch den körperlichen Ursprung betont. Indem Sara Ahmed die Körperebene betont, bringt sie eine weitere Ebene in ein multiepistemisches Verstehen hinein. Emotionales Wissen und damit verkörpertes Wissen als relevante Erkenntniskorpora anzuerkennen verlangt nach einer Erweiterung des klassischen Vernunftdenkens. In Verknüpfung der Ideen von Sara Ahmed mit dem Konzept einer »pluriversalen Welt« (pluriversal world) (Kothari et al. 2019) wird einem universellen ein plurales Verständnis von Wissenssystemen und deren Entstehungszusammenhänge entgegensetzt, indem Wissen über die Welt und somit Welt sowohl über die Ratio, als auch über den Körper und das Herz entsteht (Medina 2014). Hierauf verweist auch Magaret Marrietta Ramírez, wenn sie schreibt, dass die Auseinandersetzung mit dekolonialen Ansätzen immer auch eine körperliche Form des Verlernens mit beinhalten muss (Ramírez in: Naylor et al. 2018). Innere und äußere Konflikte (soziale, körperliche, politische) sind konstitutiver Bestandteil des Verlernens von kolonialen Strukturen. Den Körper als Territorium zu konzeptualisieren, in den patriarchale und kapitalistische Strukturen eingeschrieben sind, hilft, so Sofia Zaragocin, konkrete Machtbeziehungen zu markieren und Hierarchien zu denaturalisieren (Zaragocin in: Naylor et al. 2018: 203). Körper wird somit als politisches Territorium gelesen, über das das eigene Wissen mit hervorgebracht wird, das jedoch gleichzeitig dekolonisiert werden muss. Solche Perspektiven helfen ebenfalls, die binären Kategorien von Kultur/ Natur zu überwinden und dabei Körper und Emotionen als konstitutiven Teil von Wissen und Wissensproduktion zu verstehen (Singer 2019). Entsprechend fordern Sara Ahmed, Gloria Anzalduá (2012) oder Maria Figueroa (2014), Kör-

127

128

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

perwissen und Erfahrungswissen als legitimes Wissen anzuerkennen, ein Wissen, um dessen Sichtbarkeit auch in der Wissenschaft gekämpft werden muss. Es ist ein wichtiger Bestandteil im Widerstand gegen und in der Heilung von den diversen Ausprägungen der Kolonialität der Macht, wodurch deutlich wird, dass Wissen und Heilung niemals unidirektional entstehen, sondern sich mulitdirektional und schlangenförmig ihren Weg bahnen (Middleton 2010; Lara 2014; Ramírez 2017). Im Umgang mit emotionalem und körperlichem Wissen wird deutlich, dass Unsicherheiten und Ängste die Auseinandersetzung mit De/Kolonialität begleiten. Diese in wissenschaftlichen Arbeiten zu benennen, eröffnet eine Ebene für deren Sichtbarkeit und für weiterführende Auseinandersetzungen. Jedoch besteht eine zentrale Gefahr der Integration marginalisierter Wissensformen in wissenschaftliche Arbeiten darin, immer wieder dem neoliberalen, akademischen Versprechen von Erfolg und Anerkennung zu erliegen und die Forschungsarbeit in diesem Sinne als eine Art »dressing up« (Tuck/Yang 2012: 3) von marginalisiertem und Indigenem4 Wissen zu schreiben, die sich einer tiefgreifenden Auseinandersetzung verweigert.

3. Momente des Zum-Schweigen-Bringens (silencing) Die Lektüre von Marisol de la Cadenas ›Earth Beings‹ lehrt uns, die unseren Forschungsarbeiten oftmals zugrundeliegende Suche nach einem authentischen oder präkolonialen Wissen zur ›Rettung der Welt‹ als kolonialen Wunsch zu enttarnen (La Cadena 2015: xxvii). Gayatri Chakravorty Spivak weist darauf hin, dass es keinen umfassenden Zugang zu einem bestehenden, als originär wahrgenommenen Wissenssystem geben kann (Spivak 2012: 98). Die Suche

4

Wenn hier von Indigenen Gemeinschaften oder Indigenem Wissen die Rede ist, dann ist damit nicht eine spezifische Gruppe, eine bestimmte Lebensform oder Kosmologie gemeint. Vielmehr bezeichnet ›Indigen‹ eine bestimmte Position innerhalb postkolonialer Machtverhältnisse, die mit spezifischen historischen Erfahrungen und Marginalisierungen verbunden ist. Dabei bleibt der Begriff eine Selbstbezeichnung, die kontingent und umkämpft ist, in verschiedenen Kontexten ganz unterschiedlich konnotiert und verwendet und auch von vielen Gemeinschaften aufgrund von Zu- und Festschreibungen abgelehnt wird (Schmitt/Neuburger 2022). Analog zu dem Begriff ›Schwarz‹ schreiben wir den Begriff ›Indigen‹ als gesellschaftliche Position groß und orientieren uns hierbei an Leitlinien für Indigene Terminologie (vgl. indigenousfoundations 2009).

Katrin Singer, Martina Neuburger & Tobias Schmitt: Momente kritischer Forschungspraxis

nach einem Original muss somit zwangsläufig scheitern. Denn jegliches Interagieren (lesen, schreiben, sprechen, hören, fühlen etc.) wird über Erfahrungshorizonte, Sozialisierungen und Wissenssysteme oder – kurz gesagt – über epistemologische Verortungen in einem bestimmten Raum und zu einer bestimmten Zeit gefiltert. Daraus folgt auch, dass Interaktionen höchst individuelle Prozesse darstellen, die gleichzeitig kollektiv eingebettet sind. In diesem Sinne lassen sich auch unsere empirischen Arbeiten in Lateinamerika lesen, die wir in den letzten Jahren und Jahrzehnten durchgeführt haben. Wir haben uns − bewusst oder unbewusst − immer auch in kolonialen Kontinuitäten mit den Forschungen europäischer Wissenschaftler des frühen 19. Jahrhunderts, wie etwa Alexander von Humboldt, Alfred Russel Wallace, Antonio Raimondi oder auch weniger namhafter Geographen, befunden (Neuburger 2017). Das auch in uns vorhandene Humboldt’sche Verlangen, alles messen, beschreiben, systematisieren und verstehen zu wollen, folgt jedoch letztendlich einer kolonialen Logik. Die Begierde des Anhäufens von Wissen, der Wunsch nach vollständigem Verstehen (siehe dazu u.a. Battiste/Henderson 2000; Nxumalo 2014) und die Ordnung und Etikettierung von Welt war und ist immer eng mit Besitzansprüchen, Kontrolle und Ausbeutung verbunden. Das Bestreben, fremde Erfahrungswelten in ihrer Gesamtheit darstellen zu wollen, verkennt, dass Erkennen und Verstehen zwangsläufig immer unvollständig bleiben muss (Espinosa et al. 2013: 407), da die wissenschaftliche Form der Wissensproduktion und -aneignung einen Großteil von Wissen nicht anerkennt sondern unterdrückt, ignoriert oder ausschließt, sodass ein beachtlicher Teil sozialer Realitäten für Geschichtsschreibungen und kollektives Erinnern verloren geht (Santos 2010). Deshalb sensibilisieren und warnen postkoloniale Theoretiker*innen vor der Begierde, sich in subalternen und marginalisierten Räumen auf Entdeckungsreise nach einem ›authentischen‹ Wissen zu machen. So bleibt die Frage bestehen und muss weiter ausgehalten werden, wie Forschung entlang von Trennlinien zwischen sichtbarem und subaltern-unsichtbarem Wissen möglich ist. Dies gilt auch für die Theorien und Praktiken weißer feministischer Wissenschaftler*innen, die ihrerseits ebenfalls in koloniale Machtstrukturen verstrickt sind. Eine Auseinandersetzung damit ist Teil der »Hausaufgaben« (Kuokkanen 2005), die gemacht werden müssen, um überhaupt in Dialog treten zu können und damit Stimmen von den Rändern der Wissensproduktion nicht immer wieder zum Schweigen zu bringen (Pulido 2002; Faria/Mollett 2016; Eggers et al. 2017).

129

130

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

4. Momente des Verweigerns Wenn Forschungsteilnehmende sich weigern, ihre Geschichten und Erfahrungen zu teilen, entziehen sie dieses Wissen der (neoliberalen) wissenschaftlichen Verwertung (England 1994; Tuck/Yang 2014). Momente der Verweigerung nicht als Un- oder Missverständnis, als Scheitern oder individuelle Ablehnung, sondern als Bruch mit den strukturellen Bedingungen zu verstehen, eröffnet Raum für Begegnungen jenseits der zugewiesenen Rollenverständnisse. Die Anerkennung und Wertschätzung von Momenten, in denen sich Personen auf unterschiedliche Weise weigern, Fragen zu beantworten und den Wünschen von Forschenden zur Wissenspreisgabe zu entsprechen, kann ein Sprechen über die Forschung selbst, über Ziele, Interessen, Erfahrungen und Positionierungen möglich machen. Es kann ein Raum entstehen, in dem auch die privilegierte Position der Forschenden in Frage gestellt und dekonstruiert werden kann (Singer 2019). Die Position als Expert*in abzulehnen und sich als Lernende*r zu positionieren, hat deprivilegierende Folgen für die eigene Forschungsarbeit und hilft, die (Un-)Wichtigkeit des eigenen Forschens für den lokalen Kontext einzugestehen. Eine Praxis der Verweigerung basiert oftmals auch auf der Kritik an den zahlreichen (wissenschaftlichen) Narrativen, die das Leben marginalisierter Menschen als eine einzige Geschichte des Schmerzes und des Verlustes erzählen und Gemeinschaften hauptsächlich als entzweit oder zerstört darstellen (hooks 1989, siehe auch McKittrick in diesem Band, Org. 2013). Die interviewten Subjekte kommen in solchen ethnographischen Arbeiten nur dann vor, wenn sie in der Position der ewig passiven, schmerzerfahrenden, leidenden kolonisierten Subjekte angerufen werden können. Eine solche Vorgehensweise dient dabei letztendlich der Legitimierung der eigenen Forschung, indem argumentiert wird, marginalisierte Positionen sichtbar zu machen und ihnen gerade durch die Forschung eine Stimme zu verleihen. Doch diese Stimme bleibt oftmals in einer zugeschriebenen Opferrolle verhaftet. Einer solchen kolonialen Praktik eine Praxis der Verweigerung gegenüberzustellen, respektiert nach Tuck/Yang (2014) die Komplexität menschlichen Daseins nicht nur der Beforschten, sondern auch der Forscher*innen selbst, die sich weigern, solche Positionen zu re/produzieren. Eine Dekolonisierung der eigenen Wissensproduktion heißt somit auch, der Sehnsucht, alles Wissen für die Wissenschaft fruchtbar machen und verwerten zu wollen, zu widerstehen, und Momente der Verweigerung mit Respekt und Dankbarkeit gegenüber den Erzählenden zu thematisieren (Singer 2019).

Katrin Singer, Martina Neuburger & Tobias Schmitt: Momente kritischer Forschungspraxis

5. Momente des Schweigens Schweigen als grundlegenden Teil von Sprache zu begreifen, ist ein wichtiger, bisher selten analysierter Aspekt von Feldforschung (Spyrou 2016: 7). Schweigen ist, genauso wie Sprechen, eingebunden in einen kulturellen Kontext, ist abhängig von vielfältigen Einflussfaktoren und kann nicht auf eine einzige Ursache zurückgeführt werden. So wirken bspw. die Materialität von Räumen, die darin eingeschriebenen Regelwerke und Verhaltenskodizes auf das Wohlbefinden der Menschen, ihr Wissen und auf die Bedingungen der Meinungsäußerung. Jedoch birgt der Versuch Schweigen zu interpretieren die Gefahr, Stereotype und Vereinfachungen zu reproduzieren, da Schweigen auch eine Verweigerung gegenüber neo/kolonialen Strukturen sein kann. Von zentraler Bedeutung ist dabei das Verständnis des Schweigens als eine Ausprägung von Sprache, die hochkomplex und intersektional ist und die unterschiedlichsten Bedeutungen haben kann: »The challenge is to hear what ›silent speech‹ is saying despite its apparent nothingness.« (Spyrou 2016: 10) Im konkreten Forschungskontext stellt sich die Frage, welche Prozesse und welche Machtverhältnisse das Schweigen von Menschen produziert. So können Fragen, die beispielsweise kapitalistische Logiken reproduzieren – etwa Fragen nach Beruf, Zukunft oder Einkommen – oder Fragen, die soziale Realitäten nicht berücksichtigten, Schweigen hervorrufen. Im Schweigen treffen intersektionale Ungleichheits- und Machtstrukturen aufeinander, wenn beispielsweise eurozentrische oder rassistische Rollenvorstellungen in Interviewfragen durchscheinen und dazu gender- und altersbedingte Hierarchien in Interviewsituationen wirken. Koloniale Modernitäten werden in solchen Momenten immer wieder von neuem hergestellt. Wenn wir jedoch Momente des Schweigens durch ein ›Sprechen für‹ oder ein ›Sprechen über‹ ersetzen, reproduzieren wir dadurch Ungleichheiten, Hierarchien und Kolonialitäten. Allerdings kann Schweigen auch Leerstellen sichtbar und Forschung als kontinuierlichen Lernprozess für die Forschenden durch Begegnung, Sensibilisierung und Reflexion begreifbar machen, auch wenn hier wieder die Frage im Raum steht, auf wessen Kosten in diesem Fall gelernt wird. Dementsprechend bedarf es einer Sensibilisierung von Forschenden sowie eines multiepistemischen Lernens, sodass die Momente, in denen post/koloniale Verhältnisse re/produziert werden, künftig schneller erkannt und koloniale Vorannahmen verlernt werden können.

131

132

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

6. Momente des Begegnens Geographische Arbeiten beschäftigen sich aus einer postkolonialen Perspektive mit dem Phänomen der Begegnung (encounter) (Valentine 2008; Schmidt 2017; Wilson 2017). Das ›Feld‹ kann dabei als Ort der Begegnungen konzeptualisiert werden, wobei darunter nicht einfach ein Zusammentreffen von unterschiedlichen Körpern zu verstehen ist, sondern von Momenten des Begegnens, Austauschens, Überschneidens, Konfrontierens, in denen radikal unterschiedliche Geschichtsschreibungen, Positionierungen, gesellschaftliche (Macht-)Ordnungen und Epistemologien aufeinandertreffen (Schmidt 2017). In ihrem Artikel »On geography and encounter: Bodies, borders and difference« argumentiert Helen Wilson, dass es dabei um Begegnungen geht, die einen Unterschied herstellen und einen Unterschied machen (Wilson 2017: 464). Dabei werden Situationen, Subjekte und Objekte geformt und mit Bedeutung versehen (Wilson 2017). Doch sie können auch Ängste, Furcht, Ressentiments oder Gewalt erzeugen (Listerborn 2015; Hou 2016), Vorurteile verhärten, binäre Logiken bekräftigen und (re-)produzieren, bestehende Konflikte ent- oder verschärfen, Machtverhältnisse (re-)aktivieren oder auch untergraben (Allen 2004; Stouraiti 2012; Lobo 2013; Schmidt 2017). »Encounters are joyful, fearful, anxious, uncanny, enchanting and hopeful, and how they are named and experienced as such are of critical importance« (Wilson 2017: 459). Gleichzeitig ist dabei aber auch von Bedeutung, was in ihnen zum Tragen kommt, welche Machtverhältnisse dabei wie wirken und wie dies mit der eignen Biographie verwoben ist (Connolly 2007). So ist dabei zu berücksichtigen, »how these contemporary modes of proximity [encounter] reopen prior histories of encounter« (Ahmed 2000: 13). Denn Begegnungen bedeuten immer auch ein In-Beziehung-Treten und sind somit immer auch riskant und unvorhersehbar (Wilson 2017: 464). In Anbetracht der Bedeutung von Begegnungen für die empirische Arbeit haben Malisa Carla Pinto Passos und Rita Maria Ribes Pereira eine »Methodologie der Begegnung« (2012) konzeptualisiert. Diese ist nicht an der Aufdeckung anscheinend authentischen Wissens interessiert, sondern vielmehr an den Momenten der Begegnung, die den Dialog zwischen Subjekten in den Fokus nehmen. Durch das Zusammentreffen, das Teilen und gemeinsame Schaffen von Praktiken und Geschichten wird Wissen geschafften, das hybrid zwischen den beteiligten Epistemologien entsteht (Pinto Passos/Ribes Pereria 2012: 175). Darüber hinaus schlägt Helen Wilson eine »ethics of attunement« vor, bei der es nicht nur um eine Fokusverschiebung weg von den eigenen Vorstellungen und Bedürfnissen

Katrin Singer, Martina Neuburger & Tobias Schmitt: Momente kritischer Forschungspraxis

geht, sondern auch darum, »failure, unbecoming, ambiguity, ambivalence, rupture and the fleeting – which […] is where the creative potential and political possibility of encounter lies« zu beachten und anzunehmen (Wilson 2017: 465).

7. Momente des Weißseins Den zuvor beschriebenen Praktiken der Wissensproduktion liegt trotz aller Mühen um das Sichtbarmachen und Aufbrechen von post/kolonialen Machtstrukturen die Kolonialität des Seins zugrunde (Quijano 2000). Innerhalb der Kolonialität des Seins bedeutet Weißsein, eine privilegierte Position in einer Gesellschaft inne zu haben, eine Position der Macht und der Deutungshoheit, die eine durch Sozialisation internalisierte Position darstellt (Pulido 2002; Eggers et al. 2017). Es ist eine Position, der ohne große Interventionen erlaubt wird, an vielen Orten ›zu Hause‹ zu sein, sodass ihre Herkunft, Existenz und Zugehörigkeit nicht hinterfragt wird. Solche machtvollen Positionen können sowohl nach außen als auch nach innen toxische Formen annehmen, Menschen trennen, Beziehungen verunmöglichen und die Kolonialität des Seins aufrechterhalten. Sich als weiß positionierte Person selbst im privilegierten Mittelpunkt der Verflechtungen von kolonialen Strukturen, Rassismus und kapitalistischer Ausbeutung von Menschen und Land zu verstehen und diese Position als solche im Forschungsprozess zu benennen, macht es möglich, die Auswirkungen der Praktiken jener Gesellschaft aufzuzeigen, zu der sich die forschende Person bis zu diesem Zeitpunkt zugehörig gefühlt hat (Singer 2019). In feministischen geographischen Debatten5 verlangt die konzeptionelle Analyse von Feldforschung und Wissensproduktion zunehmend auch eine intersektionale Auseinandersetzung. Darin wird eine bloße Markierung der eigenen Position kritisiert, da sie die darin zugrundeliegenden Herrschaftskategorien zwar andeutet, aber ihre Mechanismen und Verwobenheiten nicht sichtbar macht. »Whitening the field« ist eine Aufforderung von Caroline Faria und Sharlene Mollett (2016), die Forscher*innen dazu anhält, erlebte und (re-)produzierte Ausbeutungsverhältnisse, Privilegien und Rassismen 5

Siehe dazu u.a. Bondi 2003, 2005; England 1994; Gaskell 2008; Humuza 2018; Kobayashi 1994; Laliberté/Schurr 2016; Katz 2013; Kohl/McCutcheon 2015; Mountz et al. 2015; Nast 1994; Pulido 2002; Schmidt 2017; Sundberg 2003; Staeheli/Lawson 1994.

133

134

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

während der Feldforschung als weiße Praktiken zu markieren und ihre Wirkungsweisen offen zu legen. Der Fokus verändert sich dadurch und wird auf die vielschichtigen Machtbeziehungen gelegt, die Wissensproduktionen situieren, bestimmen oder gar unterdrücken. In diesem Sinne kann Forschung als ein Akt der Aneignung von Deutungshoheit verstanden werden, der zu einem neokolonialen, gewaltsamen, sprich weißen Akt werden kann. Vor diesem Hintergrund stellt sich die grundlegende Frage, wie – und ob überhaupt – Wissensproduktion in einer Form gestaltet werden kann, die nicht diskriminierend und Kolonialität reproduzierend, sondern solidarisch, politisch und transformativ ist. Ist es in Forschungsprozessen möglich, Privilegien zu teilen und Räume zu eröffnen, anstatt weiße Räume stetig zu reproduzieren? Und können solche Praktiken überhaupt zu einer Dekolonisierung des Forschungsprozesses beitragen, solange sie in einem System der Kolonialität mit all seinen gewaltvollen Nebenschauplätzen verhaftet bleiben? Verkommt die Idee der Dekolonisierung nicht zu einem Label, einem Add-on und verliert dabei bspw. seinen Bezug zu Indigenen Befreiungskämpfen (Tuck/Yang 2012)? Solange das »Rektorat« (Titelauszug der Ausgabe 335 der Zeitschrift iz3w aus dem Jahr 2013) über Forschung über den Globalen Süden im Globalen Norden verbleibt – also die Definition von Forschungsthemen, die Finanzierungsquellen, die Wahl der Methoden, die Autor*innenschaft etc. – setzen sich weiße und koloniale Strukturen fort, auch wenn Fragen und Problemstellungen der Forschungspartner*innen im Globalen Süden zum Gegenstand der Forschung gemacht werden. Dekoloniale Forschung versucht, diese Strukturen zu brechen und Strukturen der Kolonialität zu unterwandern bzw. offensiv zu benennen und zu kritisieren. Die Fähigkeit des Erkennens von Machtverhältnissen während der Feldforschung verlangt demnach nach beständiger Selbstreflexion und der Hinterfragung der eigenen Situiertheit (Haraway 1991). Zu einer kritischen Reflexion der eigenen Positionalität gehört auch das Eingeständnis, dass unsere Forschungsarbeiten keine dekolonialen Arbeiten an sich sein können, sondern als Produkte weiß positionierter, privilegierter Personen gelesen und als Momentaufnahmen in einer dynamischen Welt verstanden werden müssen. Vor diesem Hintergrund ist es auch in der Forschungspraxis sinnvoll darüber zu schreiben, welche Spannungsverhältnisse und Erkenntnisse dekoloniale Theorien zur Kolonialität von Forschung und Sein und den damit verwobenen gesellschaftlichen Machtbeziehungen eröffnen.

Katrin Singer, Martina Neuburger & Tobias Schmitt: Momente kritischer Forschungspraxis

Fazit: Forschungspraxis dekolonisieren? Als wichtiges Werkzeug zum Anstoß individueller und transformativer Veränderungsprozesse in der Forschungspraxis benennen Yuderkys Espinosa et al. (2013) das Verlernen akademischer Gewohnheiten und Methodologien. Anzuerkennen, dass alle Menschen wissend sind und täglich neues Wissen produzieren, das zur Veränderung gegenwärtiger Strukturen führen kann, ist die hoffnungsvolle Aussage dieses Textes (Espinosa et al. 2013: 414). Momente des Ver/Lernens von gängigen Forschungsmethoden entstehen, wenn machtsensibel auf Gefühlswelten und Positionierungen der Forschungsbeteiligten eingegangen wird. Dies kann jedoch nur geschehen, wenn eine Offenheit zum grundlegenden Hinterfragen und Verlernen von internalisierten Rassismen und anderen wirkmächtigen Ungleichheitslogiken, von kolonialen Wahrnehmungs- und Handlungsmustern besteht. Durch die vielfachen Rufe nach der Dekolonisierung von Schulen, Universitäten, der Geographie und der Forschungspraxis besteht jedoch die Gefahr, dass die anstrengende, schmerzhafte, bisweilen auch wohltuende Forschungsarbeit mit vielfältigen Momenten des Zweifelns, Fühlens, Zum-Schweigen-Bringens, Verweigerns, Schweigens, Begegnens und des Weißseins zu wenig Beachtung finden und Dekolonisierung depolitisiert und delokalisiert wird, sodass die bestehenden materiellen Verhältnisse und Machtstrukturen letztendlich unangetastet bleiben und Dekolonisierung zu einer bedeutungsleeren Metapher wird (Tuck/ Yang 2012: 35). Eine solche Kritik spielt für die Debatte um eine Dekolonisierung von Forschung und Wissenschaft nicht etwa eine marginale Rolle, sondern ist zentral und grundlegend. So werden unsichtbare Mechanismen einer Matrix der Dominanz immer konkreter sichtbar und können im Lernen von marginalisierten Methodologien (bspw. Facio/Lara 2014; Simpson 2014; McKittrick 2021) weiter aufgebrochen werden.

Literatur Ahmed, Sara (2000): Strange Encounters. Embodied Others in Post-Coloniality, London: Routledge. Ahmed, Sara (2017): Living a feminist life, Durham/London: Duke University Press.

135

136

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

Allen, Chris (2004): »Merleau-Ponty’s Phenomenology and the Body-in-Space Encounters of Visually Impaired Children«, in: Environment and Planning D: Society and Space 22(5), S. 719–735. Anzalduá, Gloria (2012): Borderlands. La Frontera, San Francisco: Aunt Lute Books. Arbeitsgruppe Kritische Geographien Globaler Ungleichheiten (2019): Themenheft »Dekoloniale Geographien«, https://ak-feministische-geographien.org/r undmail, zuletzt geprüft am 14.08.2021. Asher, Kiran (2013): »Latin American Decolonial Thought, or Making the Subaltern Speak«, in: Geography Compass 7(12), S. 832–842. Battiste, Marie Ann; Henderson, James Youngblood (2000): Protecting Indigenous Knowledge and Heritage. A Global Challenge, Saskatoon: Purich. Bondi, Liz (2003): »Empathy and Identification: Conceptual Resources for Feminist Fieldwork«, in: ACME 2(1), S. 64–76. Bondi, Liz (2005): »Making Connections and Thinking through Emotions: Between Geography and Psychotherapy«, in: Transactions of the Institute of British Geographers 30(4), S. 433–448. Castro Varela, María do Mar; Dhawan, Nikita (2015): Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Bielefeld: transcript. Chakrabarty, Dipesh (2000): Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference, Princeton, N.J.: Princeton University Press. Connell, Raewyn (2011): Southern Theory. The Global Dynamics of Knowledge in Social Science, Cambridge: Polity Press. Connolly, William E. (2007): Neuropolitics. Thinking, Culture, Speed, Minneapolis: University of Minnesota Press. Crenshaw, Kimberlé (2019): »Das Zusammenrücken von Race und Gender ins Zentrum rücken. Eine Schwarze feministische Kritik des Antidiskriminierungsdogmas, der feministischen Theorie und antirassistischen Politiken (1989)«, in: Natasha A. Kelly (Hg.): Schwarzer Feminismus. Grundlagentexte, Münster: Unrast, S. 145–186. Eggers, Maureen Maisha; Kilomba, Grada; Piesche, Peggy; Arndt, Susan (Hg.) (2017): Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, Münster: Unrast. England, Kim V. L. (1994): »Getting Personal: Reflexivity, Positionality, and Feminist Research«, in: The Professional Geographer 46(1), S. 80–89. Espinosa, Yuderkys; Gómez, Diana; Lugones, María; Karina, Ochoa (2013): »Reflexiones pedagógicas en torno al feminismo descolonial. Una conversa

Katrin Singer, Martina Neuburger & Tobias Schmitt: Momente kritischer Forschungspraxis

en cuatro voces«, in: Catherine E. Walsh (Hg.): Pedagogías decoloniales. Prácticas insurgentes de resistir, (re)existir y (re)vivir, Quito: Abya Yala, S. 403–441. Facio, Elisa; Lara, Irene (Hg.) (2014): Fleshing the Spirit. Spirituality and Activism in Chicana, Latina, and Indigenous Women’s Lives, Tuscon: University of Arizona Press. Faria, Caroline; Mollett, Sharlene (2016): »Critical Feminist Reflexivity and the Politics of Whiteness in the ›Field‹«, in: Gender, Place & Culture 23(1), S. 79–93. Figueroa, Maria (2014): »Toward a Spiritual Pedagogy along the Borderlands«, in: Elisa Facio, Irene Lara (Hg.): Fleshing the Spirit. Spirituality and Activism in Chicana, Latina, and Indigenous Women’s Lives, Tuscon: University of Arizona Press, S. 34–42. Gaskell, Carolyn (2008): »›Isolation and Distress‹? (Re)thinking the Place of Emotions in Youth Research«, in: Children’s Geographies 6(2), S. 169–181. Haesbaert, Rogério (2021): Território e descolonialidade. sobre o giro (multi) territorial/de(s)colonial na América Latina, Buenos Aires: CLACSO. Haraway, Donna Jeanne (1991): Simians, Cyborgs, and Women. The Reinvention of Nature, London: Free Association Books. Harding, Sandra G. (Hg.) (2004): The Feminist Standpoint Theory Reader. Intellectual and Political Controversies, New York: Routledge. Hill Collins, Patricia (2009): Black Feminist Thought. Knowledge, Consciousness, and the Politics of Empowerment, New York: Routledge. hooks, bell (1989): »Choosing the Margin as a Space of Radical Openness«, in: Framework: The Journal of Cinema and Media (36), S. 15–23. Hou, Jeffrey (2016): »Deadly and Lively Encounters«, in: Jonathan Darling; Helen F. Wilson (Hg.): Encountering the City. Urban Encounters from Accra to New York, London: Routledge. Humuza, Corinna (2018): Alltagsgeographien jugendlicher muslimischer Mädchen und die Verräumlichung von Emotionalität aus intersektionaler Perspektive, Unveröffentlichte Masterarbeit, Hamburg. indigenousfoundations (2009): Terminology, https://indigenousfoundations.ar ts.ubc.ca/terminology, zuletzt geprüft am 26.07.2021. iz3w – Informationszentraum 3. Welt (2013): »Wissenschaft global. Das Rektorat bleibt im Norden«, in: Themenheft 335. Jazeel, Tariq (2017): »Mainstreaming Geography’s Decolonial Imperative«, in: Transactions of the Institute of British Geographers 42(3), S. 334–337. Katz, Cindi (2013): »Playing with Fieldwork«, in: Social & Cultural Geography 14(7), S. 762–772.

137

138

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

Kobayashi, Audrey (1994): »Coloring the Field: Gender, ›Race‹, and the Politics of Fieldwork«, in: The Professional Geographer 46(1), S. 73–80. Kohl, Ellen; McCutcheon, Priscilla (2015): »Kitchen Table Reflexivity: Negotiating Positionality through Everyday Talk«, in: Gender, Place & Culture 22(6), S. 747–763. Kothari, Ashish; Salleh, Ariel; Escobar, Arturo; Demaria, Federico; Acosta, Alberto (Hg.) (2019): Pluriverse: A Post-Development Dictionary, New Delhi: Tulika Books. Kuokkanen, Rauna Johanna (2005): The Responsibility of the Academy. A Call for Doing Homework, University of Western Ontario, London, https://www.cps a-acsp.ca/papers-2005/Kuokkanen.pdf, zuletzt geprüft am 26.07.2021. Kuokkanen, Rauna Johanna (2007): Reshaping the University. Responsibility, Indigenous Epistemes, and the Logic of the Gift, Vancouver/Toronto: UBC Press. La Cadena, Marisol de (2015): Earth Beings. Ecologies of Practice across Andean Worlds, Durham: Duke University Press. Laliberté, Nicole; Schurr, Carolin (2016): »Introduction«, in: Gender, Place & Culture 23(1), S. 72–78. Lara, Irene (2014): »Sensing the Serpent in the Mother, Dando a Luz la Madre Serpiente. Chicana Spirituality, Sexuality and Mamihood«, in: Elisa Facio, Irene Lara (Hg.): Fleshing the Spirit. Spirituality and Activism in Chicana, Latina, and Indigenous Women’s Lives, Tuscon: University of Arizona Press, S. 113–136. Listerborn, Carina (2015): »Geographies of the Veil: Violent Encounters in Urban Public Spaces in Malmö, Sweden«, in: Social & Cultural Geography 16(1), S. 95–115. Lobo, Michele (2013): »Racialised Bodies Encounter the City: ›Long Grassers‹ and Asylum Seekers in Darwin«, in: Journal of Intercultural Studies 34(4), S. 454–465. Lugones, Marìa (2010): »Toward a Decolonial Feminism«, in: Hypatia 25(4), S. 742–759. McKittrick, Katherine (2021): Dear Science and Other Stories, Duke: Duke University Press. Medina, Lara (2014): »Nepantla Spirituality. My Path to the Source(s) of Healing«, in: Elisa Facio, Irene Lara (Hg.): Fleshing the Spirit. Spirituality and Activism in Chicana, Latina, and Indigenous Women’s Lives, Tuscon: University of Arizona Press, S. 167–185. Middleton, Elisabeth (2010): »A Political Ecology of Healing«, in: Journal of Political Ecology 17(1), S. 1–28.

Katrin Singer, Martina Neuburger & Tobias Schmitt: Momente kritischer Forschungspraxis

Mountz, Alison; Bonds, Anne; Mansfield, Becky; Loyd, Jenna; Hyndman, Jennifer; Walton-Roberts, Margaret; Basu, Ranu; Whitson, Risa; Hawkins, Roberta; Hamilton, Trina; Winifred, Curran (2015): »For Slow Scholarship: A Feminist Politics of Resistance through Collective Action in the Neoliberal University«, in: ACME 14(2), S. 1235–1259. Nast, Heidi J. (1994): »Women in the Field: Critical Feminist Methodologies and Theoretical Perspectives«, in: The Professional Geographer 46(1), S. 54–66. Naylor, Lindsay; Daigle, Michelle; Zaragocin, Sofia; Ramírez, Margaret Marietta; Gilmartin, Mary (2018): »Interventions: Bringing the Decolonial to Political Geography«, in: Political Geography 66, S. 199–209. Neuburger, Martina (2017): »Geographical Approaches on Territorialities, Resources and Frontiers«, in: Anke K. Scholz, Martin Bartelheim, Roland Hardenberg, Jörn Staecker (Hg.): ResourceCultures. Sociocultural Dynamics and the Use of Resources – Theories, Methods, Perspectives, Tübingen: Universität Tübingen, S. 179–193. Nxumalo, Fikile (2014): Unsettling Encounters with ›Natural‹ Places in early ChildhoodEducation, Dissertation, Victoria. Pinto Passos, Maisla Carla; Ribes Pereria, Rita Marisa (2012): »Rassismus und Identität in Brasilien. Über Begegnungen und Freundschaften in der Forschung mit afro-brasilianischen Kindern«, in: Olaf Kaltmeier, Sarah Corona Berkin (Hg.): Methoden dekolonialisieren. Eine Werkzeugkiste zur Demokratisierung der Sozial- und Kulturwissenschaften, Münster: Westfälisches Dampfboot, S. 170–187. Pulido, Laura (2002): »Reflections on a White Discipline«, in: The Professional Geographer 54(1), S. 42–49. Quijano, Aníbal (2000): »Coloniality of Power, Eurocentrism, and Latin America«, in: Nepantla: Views from South 1(3), S. 553–580. Ramírez, Margaret Marietta (2017): Decolonial Ruptures of the City. Art-activism amid Racialized Dispossession in Oakland, Dissertation, Washington. Rankin, Stephen (2014): »Crossing into the Cultural Other: A Dialogic Reading Strategy«, in: Ariel: A Review of International English Literature 45(1/2), S. 79–102. Santos, Boaventura de Sousa (2010): Para descolonizar occidente. Más allá del pensamiento abismal, Buenos Aires: Consejo Latinoamericano de Ciencias Sociales. Santos, Boaventura de Sousa (2016): Epistemologies of the South. Justice Against Epistemicide, London/New York: Routledge.

139

140

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

Schmidt, Katharina (2017): Ordinary Homeless Cities? Geographien der Obdach- und Wohnungslosigkeit in Rio de Janeiro und Hamburg, Dissertation, Hamburg, online verfügbar unter https://ediss.sub.uni-hamburg.de/bitstream/ediss/7 788/1/Dissertation.pdf, zuletzt geprüft am 03.07.2023. Schmitt, Tobias; Neuburger, Martina (2022): »Indigenitäten und Naturen in politisch-ökologischen Debatten: Konzepte, Verwobenheiten, Fallstricke«, in: Jana Piňosová, Susanne Hose, Marcel Langer(Hg.): Minderheit – Macht – Natur. Verhandlungen im Zeitalter des Nationalstaats. Spisy Serbskeho instituta, Schriften des Sorbischen Instituts 69, Bautzen: Domowina Verlag. i.E. Simpson, Leanne Betasamosake (2014): »Land as Pedagogy: Nishnaabeg Intelligence and Rebellious Transformation«, in: Decolonization: Indigeneity, Education & Society 3(3), S. 1–25. Simpson, Leanne Betasamosake (2016): »Indigenous Resurgence and Co-resistance«, in: Critical Ethnic Studies 2(2), S. 19–34. Singer, Katrin (2019): Confluencing Worlds. Skizzen zur Kolonialität von Kindheit, Natur und Forschung im Callejón de Huaylas, Peru, Dissertation, Hamburg, online verfügbar unter: https://ediss.sub.uni-hamburg.de/bitstream/ediss/6 315/1/Dissertation.pdf, zuletzt geprüft am 03.07.2023. Spivak, Gayatri Chakravorty (2012): An Aesthetic Education in the Era of Globalization, Cambridge: Harvard University Press. Spyrou, Spyros (2016): »Researching Children’s Silences: Exploring the Fullness of Voice in Childhood Research«, in: Childhood 23(1), S. 7–21. Staeheli, Lynn A.; Lawson, Victoria A. (1994): »A Discussion of ›Women in the Field‹: The Politics of Feminist Fieldwork«, in: The Professional Geographer 46(1), S. 96–102. Stouraiti, Anastasia (2012): »Colonial Encounters, Local Knowledge and the Making of the Cartographic Archive in the Venetian Peloponnese«, in: European Review of History 19(4), S. 491–514. Sundberg, Juanita (2003): »Masculinist Epistemologies and the Politics of Fieldwork in Latin Americanist Geography«, in: The Professional Geographer 55(2), S. 180–190. Tuck, Eve; Yang, Wayne K. (2012): »Decolonization is not a Metaphor«, in: Decolonization: Indigeneity, Education & Society 1(1), S. 1–40. Tuck, Eve; Yang, Wayne K. (2014): »R-Words: Refusing Research«, in: Django Paris, Maisha T. Winn (Hg.): Humanizing Research. Decolonizing Qualitative Inquiry with Youth and Communities, Thousand Oaks, CA: SAGE Publications, S. 223–247.

Katrin Singer, Martina Neuburger & Tobias Schmitt: Momente kritischer Forschungspraxis

Valentine, Gill (2008): »Living with Difference: Reflections on Geographies of Encounter«, in: Progress in Human Geography 32(3), S. 323–337. Viveiros de Castro, Eduardo (2002): A inconstância da alma selvagem. E outros ensaios de antropologia, São Paulo: Cosac & Naify. Vorbrugg, Alexander; Klosterkamp, Sarah; Thompson, Vanessa E. (2021): »Feldforschung als soziale Praxis. Ansätze für ein verantwortungsvolles und feministisch inspiriertes Forschen«, in: Autor*innenkollektiv Geographie und Geschlecht (Hg.): Handbuch Feministische Geographien. Arbeitsweisen und Konzepte, Opladen/Berlin/Toronto: Verlag Barbara Budrich, S. 76–96. Wilson, Helen F. (2017): »On Geography and Encounter: Bodies, Borders, and Difference«, in: Progress in Human Geography 41(4), S. 451–471.

141

Abb. 1: Knochenbett am Howe-Steinbruch 1934. Oben Mitte: Barnum Brown.

Quelle: Dingus, Lowell; Norell, Mark A. (2010): Barnum Brown. The Man Who Discovered Tyrannosaurs Rex, Berkeley, Los Angeles, London: University of California Press, Abb. 37, S. 255.

Deep Empire Kolonialgeschichte und Gegenwart der Dinosaurier Ulrike Bergermann

Was in Stein vorliegt, fällt unter keinen Ideologieverdacht. Fossile Knochen aus Sedimenten freizulegen heißt Tatsachen ans Licht zu holen. Dinosaurier auszugraben müsste also eine Welt voller harter Fakten versammeln, auch wenn es eine Urwelt war. Aber diese Evidenzen waren ohne die Idee, es könnte einmal solch große Tiere gegeben haben und Aussterben sei eine Option, in einem Weltbild vor der Evolutionstheorie unlesbar. Es bedurfte einer Revolution der Wissenschaft, visueller und konzeptioneller Einbildungskraft, um aus Knochen Dinosaurier zu machen. Diese Umwälzung vollzieht sich in einem Europa, das sich in der Hochzeit seiner kolonialen Expansion befindet und sich in vielen Bereichen seiner ebenso expandierenden Wissensproduktion bemüht, die Widersprüche zwischen humanistischem, aufklärerischem Selbstverständnis und Landraub, Versklavung und Genoziden auszublenden oder zu legitimieren. Es gab immer Menschen, die von riesenhaften Knochen in der Erde wussten, aber erst in Verbindung mit einem europäischen wissenschaftlichen Gerüst, das den Knochen einen Platz zuweist,1 wurden Dinosaurierskelette ›entdeckt‹, systematisch gesucht, von dinosaur hunters gejagt und Ausgrabungsstätten regelrecht ›erobert‹ (Abb. 1). Indigenes Wissen zählte nicht oder wurde aus der Geschichte gestrichen, wie die Ausgrabungs- und Wissenschaftsgeschichte etwa der Siedlerkolonie USA und der Siedler- und Herrschaftskolonie ›Deutsch-Ostafrika‹ zeigt.2 Kolonialität und Rassismus

1

2

Den Namen Dinosaurier erfand der britische Anatom Richard Owen 1842 für die »schreckliche Echse« oder eher »überwältigende Echse« (Gould 1998, zit. in Dworsky 2011: 61). Dass diese Wissensproduktion auch eine Klassen- und Geschlechtergeschichte hat, zeigt z.B. die Rolle Mary Annings in England (Cadbury 2001; Mcgowan 2001).

144

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

sind keine Begleiterscheinungen dieser Geschichte, die sich aufklärerisch in weiteren Fortschrittsfiguren ablegen ließen, sondern zeigen sich als grundlegend: Sie durchziehen den Zugang zu Fundstätten, die Frage nach dem Besitz der Funde und den Transport ebenso wie die Wissenschaftskonzepte hinter ihrer Aufarbeitung, ihre Inszenierung und historischen Ausdeutungen, bis hin zu aktuellen Forderungen nach Rückgaben von Skeletten und einer Dekolonisierung der Paläontologie. Kritische Historiografie und Cultural Studies haben angefangen, sowohl die populären Narrative als auch die Aneignung der Dinosaurierskelette zu hinterfragen, und neuere Indigenous Studies verweisen nicht nur auf frühe Wissensformen zu den Riesenwesen, sondern grundsätzlicher auf andere Fassungen von Zeit und Geschichte. Die Evolutionstheorie in ihrem Hin und Her zwischen materiellen Funden, fehlenden theoretischen framings, dem allmählichen Entstehen von Sinnzusammenhängen aus versteinerten Fakten oder factishes3 und der Ablösung von biblischen oder anderen bereits eher naturhistorischen Fassungen von Natur hin zur neuen Erzählung der Scala naturae und der Evolution der Arten entfaltete sich parallel und auf der Grundlage von Knochenfunden nicht nur in England, sondern auch den Kolonien. Was Dinosaurier seit dem Ende des 19. Jahrhunderts repräsentieren, inwieweit sie »Totemtiere der Moderne« (Mitchell 1998: 76), Embleme des Kapitalismus, kollektive Projektionen des monströsen totalen Staates (Adorno in Mitchell 1998: 120) oder Fortschrittssymbole sind (Dworsky 2011: 69), hat insbesondere in Verbindung mit Malerei (Sommer 2011; Semonin 1997: 176ff.; Mitchell 1998: 141–144) und Film (Hanke 2010, 2011 u.v.a.) die Medien- und Kulturwissenschaften beschäftigt. Die ausgegrabenen und aufgebauten Skelette lassen sich nicht ohne die Brille populärer Mythen, Spektakel, Monsterbilder oder Spielzeugfantasien betrachten.4 Der Blick auf Dinosaurier ist geprägt von Bildern von Männlichkeit, dem Kampf ums Überleben und, wie in einem empire, von Ideen der Herrschaft über andere Spezies.

3

4

Brian Noble benutzt (genau wie Stengers und Haraway, nach Latours faitiches) für seine Fallstudie den Begriff factish: »by tracing the emergence and action of dinosaurs as beings that symmetrically preserve, act, and fuse both fact and fetish in their constitution« (Noble 2016: 22). Für Diskussionen über das Verhältnis von Wissenschaft und Spektakel danke ich Christine Hanke und dem interdisziplinären Beirat zur Ausstellung »Kinosaurier« des Landesmuseums Hannover 2020/2021.

Ulrike Bergermann: Deep Empire

Die Gleichzeitigkeit der Ausgrabungen weißer Siedler und Forscher5 in Nordamerika vom 19. bis in den Anfang des 20. Jahrhunderts mit der Vertreibung und Ermordung der nordamerikanischen Menschen kommt darin nicht vor und hat insofern gespensterhafte Züge.6 Die Vertreibung und Ermordung ist direkt in eine Wissensproduktion über Dinosaurier eingegangen, in der der Begriff des great dying sich nur auf die Vorzeit der Dinosaurier bezieht, aber nicht auf die jüngere Kolonialgeschichte. Und die Geschichte einer Ausgrabung am Tengaduru im sogenannten ›Deutsch-Ostafrika‹ (1909–1916)7 zeigt eine weitere Verbindung von Dinosaurierfunden und Kolonialität. Um beide soll es im Folgenden exemplarisch gehen. Hinter der komplexen Konstruktion eines Dinosauriers liegen materielle und erträumte Welten, koloniale afrikanische Szenen vom Mann in der frei-

5 6

7

Wo es sich historisch um Gruppen von Männern handelt, werden Bezeichnungen im Folgenden nicht gegendert. Ich verwende wechselnde Bezeichnungen für die englischen Formulierungen indigenous people, indians oder First Nations. Das deutsche ›Indianer‹, eine Sammelbezeichnung der Europäer*innen für die Menschen im Doppelkontinent Nord- und Südamerika, ist problematisch. Die tausenden von Lebensgemeinschaften, von Ethnolog*innen ›Stämme‹ oder ›Völker‹ genannt – was wiederum die Konnotation einer ›minderen Zivilisationsstufe‹ beinhaltet – bezeichneten sich selbst nie mit einem einheitlichen Namen. Zusätzlich ist die Benennung falsch in Folge der falschen Verortung von Christopher Kolumbus, der 1492 glaubte, in Indien angekommen zu sein und daher die Menschen des Kontinents ›indios/Indianer‹ nannte. Im Grunde ist auch der Begriff ›Amerikaner*innen‹ problematisch, weil er der Bezeichnung ›America‹ folgt, die ebenfalls von einem Europäer stammt, dem deutschen Kartographen Martin Waldseemüller, der den Kontinent 1507 nach dem Seefahrer Amerigo Vespucci benannte. Eine Bezeichnung wie ›Ureinwohner*innen Nordamerikas‹ folgt der Notwendigkeit, die Bewohner*innen vor Ankunft der Kolonisatoren eigens zu markieren, da man unter ›Amerikaner*innen‹ mittlerweile die Bürger*innen der Siedlernationen begreift. Vielen Dank an Nanna Heidenreich für den anhaltenden Austausch zu diesen Begrifflichkeiten. Carmen Kwasny von der Selbstorganisation »Native American Association of Germany« bringt es folgendermaßen auf den Punkt: »Das Problem ist auch, dass wir keinen deutschen Begriff haben, der [den Begriff Native Americans] passend übersetzt. Wir haben es [sic!] noch nicht mal in unserer Sprache.« (Kwasny 2021) Vielen Dank für den Hinweis an Inken Carstensen-Egwuom. Die folgende Darstellung verdankt sich der Abschlusstagung und Publikation des Verbundprojekts »Dinosaurier in Berlin. Brachiosaurus brancai – eine politische, wissenschaftliche und populäre Ikone«, einer Kooperation zwischen dem Museum für Naturkunde Berlin, der HU Berlin und der TU Berlin 2015–2018, v.a. getragen durch Ina Heumann, Holger Stoecker, Marco Tamborini und Mareike Vennen.

145

146

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

en Wildbahn, der dorthin geht, wo noch keiner war, mutig und risikobereit, körperlichen Anstrengungen gewachsen. Die ›Beziehung‹ zwischen Dinosaurier und Jäger ist allerdings imaginär, denn oft weiß der Jäger noch nicht, was er gerade ausgegraben hat und erfährt es erst Jahre später von den Präparatoren im Museum. Vor allem aber fehlen in dieser Beziehung hunderte Arbeiter*innen manchmal mehrerer Kontinente, die das Auffinden, das Präparieren und Aufstellen eines Skeletts sowie seine Deutung und wissenschaftliche Klassifizierung möglich machen – ihre Zusammensetzung ist gegendert und rassifiziert.8 Weitere Akteur*innen sind die neuesten Waffen, die Seereisen, die Eisenbahnen, die Bürokratien, die neuen Kameras, Finanzierungsformen für Expeditionen und andere Dinge ›im öffentlichen Interesse‹, populärwissenschaftliche Schriften, Emblematiken von Nationen, auch philanthropische Organisationen. Die Ausgrabungsgeschichte der Dinosaurier ist also nicht nur charakterisiert durch Heldengeschichten, Konkurrenzkämpfe, Prestigeobjekte und Spektakel für das Publikum, sie weist nicht nur ganze Drehbücher von Geniekulten, Abenteurertum und wissenschaftlichen Visionären auf und gibt zu sehen, wie die rekonstruierten Skelette für nationale Erzählungen und Symboliken von Macht und Herrschaft stehen konnten. Sondern sie lässt auch erahnen, wie weit Wissensproduktion und Kolonialität untrennbar miteinander verflochten sind.

8

Die Kolonialität der Narrative und ihrer Figuren werden besonders anschaulich in den späteren Romanen und Filmen, die westliche Expeditionen aus Gruppen weißer Männer mit je einer Frau zeigen. Sie bestehen meist aus einem Wissenschaftler, einem Geldgeber und vielleicht einem Journalisten oder einem Militärmann. Gruppen von ›wilden Eingeborenen‹ oder verschiedenen ›Mischwesen‹ illustrieren rassistische Stereotype und die Idee einer ›aufsteigenden Zivilisation‹. Vgl. »The Lost World« (USA 1925), nach dem Roman von Arthur Conan Doyle, »The Lost World« (GB 1912); »King Kong und die weiße Frau« (USA 1933); »Caprona – Das vergessene Land« (USA/GB 1975), nach dem Roman von Edgar Rice Burroughs, »The Land That Time Forgot« (USA 1918). Vgl. auch »Journey to the Center of the Earth« (USA 1959) oder in einer interessanten sowjetischen Variation mit einer eigenständigen Astronautin über einem fremden Planeten: »Voyage to the Prehistoric Planet« (USA/UdSSR 1965), nach dem sowjetischen Film »Planeta Blur« 1962 (nicht aber das Remake von 1968, Regie: Peter Bodanovich alias Derek Thomas).

Ulrike Bergermann: Deep Empire

1. Tiefenzeit und uralte Herrschaftsbilder Der Dinosaurier war nicht vorgesehen im System der Tiere, es wurde kein leerer Platz in einer Klassifikation identifiziert und langsam besetzt, sondern umgekehrt sollten unerklärliche Funde die Klassifikation verändern. Wie macht man sich ein Bild und einen Begriff von Funden, die in keine bekannte Erklärung passen? Die Forscher versuchten, Funde und Schöpfungsgeschichte in Einklang zu bringen. Im Zuge der entsprechenden Forschungen setzte sich um das Jahr 1800 in Europa der Gedanke durch, dass die Natur eine Geschichte hat, und im 19. Jahrhundert wurden Fossilien als Versteinerungen ausgestorbener Tiere gedeutet, nachdem sie vorher im biblischen Verständnis als ›Zeitzeugen der Sintflut‹ galten (diese wurde etwa von Buckland 1823 auf »vor 6000 Jahren« datiert9 ). Alles Gottgeschaffene habe Sinn und könne daher nicht aussterben bzw. nur in einer außerordentlichen Katastrophe, argumentierte etwa Georges Cuviers Gegenmodell zu Jean Baptiste de Lamarcks »Kette des Lebens« aus dem 18. Jahrhundert. Die antike Stufenfolge der Lebewesen (Scala naturae) war zwar kontinuierlich und sah alles vom Kleinsten bis ins Größte als von Gott sinnvoll gegliedert, aber keine Evolution der Lebewesen vor. Die naturkundlichen vergleichenden Sammlungen machten aus Kuriositätenkabinetten Klassifikationsorte (Yusoff 2019: 8, 94); kulturhistorische Methoden wurden auf die Naturgeschichte übertragen (inspiriert von der Ausgrabung in Pompeji Mitte des 18. Jahrhunderts), und diese Vergleichbarkeit von Zeiten und Räumen wurde durch neue Medien ermöglicht. Der Holzschnitt wurde im 17. Jahrhundert vom detailgenaueren Kupferstich abgelöst. Das erlaubte im Gelehrtennetzwerk das Vergleichen von Bildern anstelle der Objekte selbst; in der »Republik der Briefe« zirkulierten fortan international Reproduktionen (Dworsky 2011: 61; Rudwick 2005). Die Evolutionstheorie war angewiesen auf Mengen von Tieren und Pflanzen von allen Kontinenten, um in Serialitäten über Sprünge oder Abstammungslinien nachdenken zu können (Mcgowan 2001). Diejenigen, die reisten, um zu rauben, wurden von Forschern begleitet, die die Gelegenheit nutzten, um sich und Europa die Welt (der Tiere, der

9

»In 1650, [Irish] Archbishop James Ussher of Armagh joined the long-running theological debate on the age of the earth by famously announcing that creation had occurred on October 23, 4004 B.C.« (Rudwick 2005: 333) – Das Konzept der geologischen Tiefenzeit wird die Zeitalter von Mensch und Erde voneinander trennen, während indigene Philosophien beide miteinander verbinden (Rieppel 2022: o.S.).

147

148

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

Pflanzen und, koloniallogisch dazugerechnet, der indigenen Bevölkerungen) zu erklären.10 Die »Gelehrenrepublik« war in die rassistischen und ausbeuterischen Praktiken und Strukturen ihrer Zeit eingelassen. Charles Lyells »Principles of Geology« von 1845, das Charles Darwins Evolutionstheorie direkt beeinflusste, beschrieb die geologische Beschaffenheit nordamerikanischer Landschaften im Wechsel mit Anmerkungen zu Sozialstruktur und Sklaverei; seine Konzepte für race folgten den gleichen Kategorien wie denen für das Land: Er sah die weißen und die »N*-Rassen« durch Zeitensprünge voneinander getrennt wie historische Erdzeitalter (Yusoff 2018: 29). So wie die aufklärerischen Philosophen am Sklavenhandel und Kolonialismus verdienten und ihn teilweise in ihren Schriften rechtfertigten, so sehen sich die Naturforscher in keiner Weise von Fragen nach Genozid, Raub oder Vernichtung indigener Lebensräume betroffen; ihre Wissensproduktion hängt zwar stillschweigend oft von den Indigenen ab, grenzt deren Wissensformen aber aus und versteht sich als universell. Kathryn Yusoff hat daher die Geographie als »white geography« (2018: 15) und als Teil eines historischen Regimes gekennzeichnet, das sich in Verbindung mit Landnahme, Erschließung und Extraktion, mit Eroberung und Kolonisierung herausgebildet hat; insbesondere entnenne die Geographie ihre Geschichte der Ausschließung Schwarzer und brauner Körper, ihre Methodologien eines »God eye’s view« sowie der Rassifizierung auch im Zugriff auf Materialität, denn »racialization belongs to a material categorization of the division of matter (corporeal and mineralogical) into active and inert. Extractable matter must be both passive (awaiting extraction and possessing of properties) and able to be activated through the mastery of white men« (Yusoff 2018: 14) – was ebenso als Rassifizierung wie als Gendering lesbar ist. Diese Wissenschaft ist nicht nur weiß, weil die Akteure weiß waren, sondern weil sie die Objekte und Verfahren von Anfang an unter der Maßgabe von Trennungen entlang der color line (und gender line) definiert. Was Yusoff über Geologie und das Anthropozän sagt, trifft auch auf die Paläontologie und insbesondere die Dinosaurierforschung zu: Sie sind durchzogen von Fragen des Ursprungs,

10

Suman Seth pointiert: »Western scientific knowledge has been co-constituted with colonialism. […] One cannot imagine Charles Darwin’s work being possible without his access to plant and animal specimens derived from several European empires.« (Seth 2009: 374; Seth 2017) Zu den Beziehungen von Naturwissenschaft und Postkolonialismus vgl. Harding 1998; Harding 2011, insbesondere zu deren gegendertem und rassifizierten bias (Harding 2011: 16–20, 33–36 u.a.; Byrd 2011: xix).

Ulrike Bergermann: Deep Empire

bestimmt von der Idee des Fortschritts, und in der Idee der Herausbildung der Spezies sind rassistische Konzepte enthalten. Für beide sind »fossil narratives« zentral (Yusoff 2018: 16; zur narrativen Untrennbarkeit von Fakt und Fiktion vgl. Koschorke 2010: 98), und die Geschichte beider ist verwoben mit der der Eugenik (Mitchell 1998: 50). Rieppel (2022: o.S.) verweist darauf, dass der »epistemic imperialism of geology« bis heute die Autorität einer wahren Schöpfungsgeschichte mitsamt ihrem Universalismus beibehalten hat. Anthropologe Brian Noble hat an zwei prominenten US-amerikanischen Dinosaurierfunden gezeigt, wie deren Bedeutung entsteht und wie sie durch die Akteur*innen im Feld, im Museum, in den Universitäten, im Steinbruch ebenso wie in medialen Dispositiven »artikuliert« wird (Noble 2016: 12). Articulating dinosaurs beschreibt eine performative Hervorbringung und Produktion des Erdmittelalters, eine »mesozoic performativity« (Noble 2016: 7).11 Da es immer neue Funde, Wissenschaftler*innen, Techniken, neue Fiktionen und öffentliches Interesse gibt, die die Objekte umgeben und mit ihnen facts and fictions produzieren, sind Dinosaurier in gewisser Weise immer im Werden.12 Was für Noble »Praktische Anthropologie« heißt, gilt auch für kulturwissenschaftliche Arbeiten zum Dinosaurier, die in den Akteur-Netzwerken um die bones auch Technologien und Imaginationen, aber ebenso die politischen Dimensionen der institutionellen Gefüge sehen13 : Die entsprechenden Repräsentationen befinden sich immer im Wandel, auch in Institutionen wie dem Museum als einem »specimen-spectacle complex« (Noble 2016: 13). Hergeleitet aus der europäischen Geschichte von Monsterfiguren und ihren orientalistischen Traditionen des othering fügten sich monströse, wundersame, anormale Wesen zur Zeit der naturwissenschaftlichen Aufklärung in diese Ordnungen ein, um sie langsam umzubauen. Mit dem Entstehen von Geologie und Paläontologie im 18. und 19. Jahrhundert wurden Dinosaurier

11 12

13

Das Mesozikum, das Erdmittelalter, umfasst die Kreide, Jura und Trias genannten Zeitalter (Beginn etwa vor 250, Ende vor 66 Millionen Jahren). Friedrich Balke hat darauf hingewiesen, dass Medientheorien des Dokumentarischen etwa bei Suzanne Briet, Qu’est-ce que la documentation?/What is Documentation (Paris 1951/Scarecrow Press 2006) das Dokumentwerden mit Bezug auf das Tier denken. Vielen Dank an die Teilnehmenden der Tagung »Dokumentwerden« (Ruhr-Universität Bochum, 5.-7.5.2022), insbesondere Friedrich Balke, Philipp Hohmann, Vera Mader und Marion Biet für ihre Kommentare zum vorliegenden Text. Ich folge hier lose dem Ansatz von Noble (2016), allerdings nicht seiner Einschätzung, die Kulturanalyse William Mitchells sei nicht politisch oder materialistisch.

149

150

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

in »scenes from deep time« (Rudwick, zit. ebd.) platziert: als Hybride, Giganten, wissenschaftliche ebenso wie spektakuläre Wesen, prominent geworden mit den Dinosaurierfiguren vor der Weltausstellungsarchitektur des Crystal Palace südlich von London 1853.14 Fortschrittsnarrative von Technologie, wissenschaftlichem Fortschritt und von Entdeckungen überlagerten sich im 19. Jahrhundert dramatisch mit der neuen Konzeption von evolutionärem Fortschreiten in der Natur und der Entwicklung des Lebens auf der Erde. Die Begeisterung von Paläontologen und insbesondere Dinosaurierforschern zeigt sich von einer deep time inspiriert; ihre Rede von (Zeit-)Reise und Abenteuer, Exotik, Beutemachen und privilegiertem Wissen folgte romantisierten kolonialen Mustern, einem »blending of colonial, racializing, capitalist, and masculinist phantasies of continual, unidirectional expansion and the continuous search for completeness« (Noble 2016: 66). Sarah Franklin bezeichnete deren Verbindung als typisch für das moderne Wissenschaftsverständnis: »Scientific pursuit is often described in terms of masculinity and adventure – as a domain of seminal breakthroughs, trail-blazing pioneers and uncharted territories. Such descriptions emphasize and valorize the enterprising activities of scientists as they busy about their colonizing practices.« (zit. ebd.) Dass Wissen selbst einer ›Evolution‹ unterliegt und dass in der Akademie, im Labor, im Feld und der Öffentlichkeit jeweils historisch situierte Menschen aktiv sind, scheint selbstverständlich und ist doch schwer im un-learning des eigenen Denkens oder der Agenda decolonize the mind zu realisieren. Dinosaurierknochen bieten in ihrer Vieldimensionalität dafür einen anschaulichen Knotenpunkt.

2. Die imperialen Knochen der USA Der dritte US-Präsident Thomas Jefferson (1801 bis 1809, genannt »the Mammouth President«; Mitchell 1998: 117) war begeistert von der Paläontologie, unterstützte Ausgrabungen finanziell und ließ sich über 300 Knochen ins Weiße

14

Besondere Aufmerksamkeit kam für diese Doppelfunktion der Dinosaurierfigur die Ausstellung von riesigen Modellen im Crystal Palace Park zu, wo im Anschluss an die Weltausstellung – also die nationale technische Leistungsschau der Staaten – ein Gelände zur Unterhaltung und Volksbildung errichtet wurde, abgesegnet vom berühmtesten britischen Dinosaurierforscher Richard Owen (Noble 2016: 14; zum Crystal Palace und seinem Popularisierungskonzept 1853 vgl. Secord 2004, Mitchell 1998: 66–68).

Ulrike Bergermann: Deep Empire

Haus schicken, um ihnen dort einen eigenen Raum zu geben. Auf der Suche nach einer nationalen Identität und als Mitautor der »Notes on the State of Virginia« (1781) sowie der »Declaration of Independence« (1776) (welche keine Menschenrechte für versklavte Menschen und kein Ende der Versklavung vorsah; auch Jefferson ›besaß‹ mehr als 600 versklavte Personen)15 rief er die natural constitution an, eine naturgegebene Begründung der amerikanischen Nation. Die Naturgeschichte der USA wurde auch durch das öffentliche Ausstellen eines Mammuts heraufbeschworen, des damals größten bekannten Tieres, das damit zum politischen Tier wurde (dank derjenigen ausgegraben, deren Vernichtung mit der Verfassung fortgeschrieben wurde; Mitchell 1998: 112). Wer sich auf diese Natur beruft, scheint über bloße Politik hinauszugehen: »[A] natural constitution […] would be the basis for a great national destiny« (ebd.), »a monument to American national and imperial destiny« (ebd: 124). Die Siedlerkolonie versuchte, sich eine Vergangenheit zu erfinden. Als der Dinosaurier das Mammut ablöste, wuchs das Totemtier zum monströsen Monument des weltgrößten Imperiums und symbolisierte eine natürliche Überlegenheit der Größten und Stärksten. Der berühmteste Knochensucher, Ausgrabungsleiter und Paläontologe der USA war Barnum Brown (1873–1963). Er fand in den USA und weltweit im Auftrag des »American Museum of Natural History« (AMNH) eine riesige Zahl von Skeletten, darunter viele berühmte wie den ersten (später von Osborn so benannten) Tyrannosaurus Rex 1902; er war jahrzehntelang der Star der wachsenden Dinosaurier-Begeisterung (genannt Mr. Bones) und steht daher exemplarisch für die Frage nach Kolonialität und Dinosauriergeschichte. Seine Biographie, geschrieben von den Paläontologen und AMNH-Kuratoren Lowell Dingus und Mark Allen Norell, stützt sich auf umfangreiche Feldaufzeichnungen sowie eine unvollendete Autobiographie Browns und zeigt ihn als »child of the frontier« (Dingus/Norell 2010: 6, im Folgenden: DN), als Junge mit den Eltern im Trek westwärts auf dem Land der Ureinwohner*innen Nordamerikas, sozialisiert im Umfeld von sexualisierter Gewalt, patriarchalem Sexismus, Rassismus und konkurrenz- und vorteilsgetriebenen Handelns.

15

Jefferson sprach sich an mehreren Stellen gegen die Sklaverei aus und hielt die Ureinwohner*innen in Nordamerika für zivilisatorisch respektabel und assimilierbar; dennoch erlaubte seine Politik weiterhin die Ausbeutung bzw. Vertreibung von Schwarzen und indigenen Menschen. Die ab dem Alter von 14 Jahren durch den damals 44jährigen Jefferson sexuell versklavte Sally Hemings brachte mindestens sechs seiner Kinder zur Welt.

151

152

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

Brown sammelte Fossilien und Pfeilspitzen auf dem umgepflügten Acker des Vaters in Kansas, und er bewegte sich auch in den folgenden Jahren auf Land, das kurz vorher noch von den eigentlichen Einwohner*innen Amerikas genutzt worden war. Am Ende des 20. Jahrhunderts war ein anderer US-amerikanischer Paläontologe maßgeblich an einer ›Dino-Renaissance‹ beteiligt. Robert Bakker (*1945) ist einer der erfolgreichsten und bekanntesten Dinosaurierforscher und hat in mehreren Jahrzehnten ungezählte Skelette freigelegt. Bekannt ist er als Bestsellerautor von Büchern, in der er sich als ›Ketzer‹ gegenüber älteren Theorien präsentiert, da er Dinosaurier nicht als Kalt-, sondern als Warmblüter klassifizierte – mit erheblichem Einfluss auf das Bild des Dinosauriers. Hat man ein Jahrhundert zuvor die britischen (Amateur-)Naturforscher, deren empirische Arbeit beim Sammeln von Objekten und Daten die akademische Forschung und Theoriebildung wesentlich vorangebracht, wenn nicht ermöglicht hat, noch gentleman explorer genannt, so muss man bei den Dinosaurierjägern des 19. und 20. Jahrhunderts von cowboy explorern sprechen.

2.1 Boys and bones Barnum Browns Vater William Brown zog 1854 im Planwagen in Richtung Westen, Texas gehörte seit Kurzem zu den USA, und in Kalifornien wurde nach Gold gesucht. Auf dem Weg nach Kansas wollte er von der älteren Siedlergeneration lernen, auch von Charles Silver, der seine Farm militärisch gegen die Bewohner*innen »erkämpft« hatte.16 William Brown heiratete Silvers 15-jährige Tochter Clara und zog mit ihr auf seinem Ochsenwagen weiter. Nach vier Jahren hatten sie zwei Töchter und bauten ein Holzhaus in Kansas am Carbon Hill. Im Amerikanischen Bürgerkrieg (der um die – in der paläontologischen Wissenschaftsgeschichte ungenannte – Fortsetzung der Versklavungsökonomie ausgetragen wurde) belieferte William Brown ab 1860 die Armeen mit seinen Ochsenkarren, bis nach dem Krieg die Eisenbahn die Transporte übernahm und die Familie wieder auf der Farm lebte. Als Barnum Brown 1873

16

Seine Farm Green Country »erkämpfte er«, wie Dingus und Norell schrieben, in der Schlacht von Tippecanoe am 7. November 1811 während des Tecumseh-Krieges als Offizier der US Army (DN: 2) (Tecumseh hieß der Anführer der Stämme, die sich gegen die Vertreibung von ihrem Land zur Wehr setzten und besiegt wurden); 1832 kämpfte er als Kapitän gegen Black Hawk, den legendären Anführer der Sacsa and Foxes, bei der Schlacht von Bad Axe.

Ulrike Bergermann: Deep Empire

geboren wurde, war die »P.T. Barnum Show«, bei der Menschen und Tiere präsentiert wurden, gerade populär und gab ihm seinen Vornamen.17 Entsprechend zeitgenössischer Vorstellungen der Vererbung von Eigenschaften formulierte Barnum Brown in seinen Erinnerungen: »My parents both came from old pioneer stock«18 , und auch seine Biographen schreiben, das Ausgraben habe ihm als Farmerjunge quasi im Blut gelegen; die Farm hatte viele Angestellte, sodass Brown hier die Führung späterer Ausgrabungs-Crews gelernt habe, ebenso wie das Handeln, Organisieren und Transportieren auf Wagen. Zudem setzte der Vater die Ochsen im Kohleabbau ein, wo der fünfjährige Barnum versteinerte Muscheln einsammelte und in einem eigenen Raum Besucher*innen zeigte. Aber es war kein unschuldiger Ort. Brown sagt selbst: »This became my first museum, where I had my first experience as a showman regaling visitors with these treasures, together with Indian arrow points and scrapers I picked up while plowing our cornfields« (DN 11). Die Pfeilspitzen werden nur beiläufig erwähnt und sind doch zentrale Hinweise auf die Zeitlichkeit und Kolonialität dieses Settings. Was Barnum Brown noch im Boden fand, begegnete dem kleinen Robert Bakker in Medien. Er las 1955 im Haus seines Großvaters das LIFE Magazin und berichtete später: »I discovered an entire world… I made up my mind then and there that would devote my life to the dinosaurs« (Bakker 1986: 9).19 Als Robert Bakker neun Jahre alt war, sah er im AMNH »seinen ersten Dinosaurier«, aber dieser schien ihm »tamed by civilization, mounted as they were on steel and plaster, posed for the benefit of countless parades of schoolchildren and tourists« (Bakker 1986: 30). Bakker war zwar selbst noch ein Schulkind, aber er sah hinter Gerüst und Rahmen, er sah die Sache selbst,

17

18 19

P. T. Barnum (1810–1891) wurde berühmt als Schausteller, der mit spektakulären und teilweise kriminellen Methoden riesige Shows, Kuriositätenkabinette und Wanderzirkusse für Millionen von Besucher*innen veranstaltete. Brown: »There must be something in a name, for I have always been in the show business of running a fossil menagerie« (zit. in DN 6). Barnum Browns »name suggests that the aura around the dino-hunter may be derived not so much from the magic of the bones as from the mystique of mass publicity and the pseudoscientific hoax« (Mitchell 1998: 143). Browns Vater sei 1833 in Virgina geboren und keiner der Herumtreiber-Pioniere gewesen – »Father’s pioneering was purposeful« (zit. in DN: xi). Auch Scott D. Sampson ›gräbt‹ seinen ersten Dinosaurier mit sechs Jahren aus einer Müslipackung aus, geht ins Museum in Toronto und liest alle Bücher, die er bekommen kann, um mit elf Jahren zu beschließen, ein Dinosaurierjäger zu werden… es gibt unzählige Varianten dieser Geschichte (Sampson 2009: ix).

153

154

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

den Dinosaurier im Fels in Wyoming vor sich. Und er erzählte noch eine zweite ›Erweckungsszene‹, dieses Mal aus dem Peabody Museum in Yale: Es war dunkel, er war allein, irgendetwas war falsch, er spürte: Diese großen Tiere waren kein Fehlschlag der Evolution (ebd.: 15). Das Bild der Dinosaurier sei verfälscht von der Tatsache ihres Aussterbens. Aber sie seien nicht zu schwerfällig mit zu kleinen Köpfen und zu langsam gegen wendigere Säugetiere gewesen. Wenn man Erfolg durch Langlebigkeit messe, dann seien Dinosaurier die Nummer eins in der Erfolgsgeschichte des Lebens, denn sie hätten ihre Kommandoposition über 130 Millionen Jahre verteidigt (ebd.: 16). – Diese Erzählungen entwerfen eine ursprüngliche Begegnung, in der der Junge bereits eine Erkenntnis gehabt haben will, die er Jahrzehnte später beweisen wird. Und eins bleibt unangetastet: Das Beherrschen und Auslöschen von Lebewesen gehört zur Natur. Unter der Hand wird sich diese Auffassung auch im Blick auf Genozide naturgeschichtlich normalisieren. Ob der Mensch nicht zuerst kämpfend, sondern kollaborativ ist, ein ethisches Tier, das sich selbst Regeln gibt, oder auch eins, das altruistisch oder symbiontisch lebt, kann hier nicht gefragt werden, denn wenn alle Lebewesen als verbunden betrachtet würden, wäre die selbstgeschaffene Genealogie (Robert am Fuße des Brontosaurus, eine exklusive Beziehung) dahin. Brian Noble hat die Blicke des Jungen und des Mannes auf das Skelett mit jenen verglichen, die Donna Haraway in ihrer Analyse der inszenierten Blicke auf erbeutete und präparierte Tiere analysierte, von der Großwildjagd bis in die Dioramen des AMNH, ebenso wie die Begleiterzählung einer Jagd Auge in Auge und die Präsentation in Vitrinen in ›lebendiger‹ Pose (d.h. für Einzeltiere in wilder und kämpferischer Pose, oder für Gruppendioramen in ›familiären‹ Settings, in denen das männliche Tier dominant bleibt, wie Haraway am Beispiel von »Menschenaffen« ausführte [Haraway 1984/85: 20f.]). Diese Figuren aus dem Dschungel dienten den Männern als Doppelgänger und Spiegel für die weiße Männlichkeit in der Stadt und wurden, so Noble, im Aufbau der Dinosaurierskelette weitergeführt. Selbst wo die Jagd nicht mehr gefährlich war, bleibt die fast noch ›männlichere‹ Reise der Entdeckung und Eroberung in die verborgenen Orte der Erdgeschichte bestehen und präsentiert Dinosaurier als »ultimate alter-beings« (Noble 2016: 103). In seinen Erinnerungen schrieb Barnum Brown von seinem T. Rex-Fund 1902 und von dessen Zähnen, die alle anderen Lebewesen hätten töten und zerfleischen können: Der T. Rex diene als dominante Figur im Museum der Funk-

Ulrike Bergermann: Deep Empire

tion »to awe and inspire young boys«.20 Immer wieder sind es kleine Jungen, die sich emotional mit bestimmten Skeletten verbinden, nicht etwa mit lebenden Tieren, und ihnen ihr Leben widmen – und diese Passion an andere weiße junge Männer weitergeben.

2.2 Rape culture und Landnahme Bevor Barnum Brown 1889 auf eine weiterführende Schule ging, wollte sein Vater ihm zeigen, »what was left of the Old West before it faded away, to show me some of the places he had been in his pioneer days« (DN 12). Die beiden waren vier Monate unterwegs, durchstreiften die Reste des ›Wilden Westens‹ auf der Suche nach einem neuen Stück Land für eine Farm, und der Vater William Brown erzählte seine Geschichten vom »taming the frontier« (ebd.) – ein coming of age-Abenteuer in einer Vater-Sohn-Story. Die Biographien können auf Dokumente zurückgreifen, die im Archiv des AMNH liegen. Was nicht dort liegt, zitieren Dingus und Norell aus dem Archiv der Gerichtsakten von Osage County: William Brown stand vor Gericht. Seine Tochter Melissa hatte ihn wegen Vergewaltigung angezeigt.21 Er wurde gegen eine hohe Kaution aus der Untersuchungshaft freigelassen und erschien dann nicht zur Gerichtsverhandlung. Im Mai 1889 wurde er zur Zahlung einer Geldstrafe verurteilt (2000 Dollar entsprachen im Jahr 2010 einer Summe von 40.000 Dollar) (DN 14). Barnum Brown war zu diesem Zeitpunkt 15 Jahre alt; er erwähnte diese Geschichte in seinen Erinnerungen nicht und blieb bei der romantischen Erzählung des gemeinsamen Abenteuers unter Männern. Zwanzig Jahre später floh Barnum Brown selbst vor einem Gerichtsverfahren. 20

21

Memoirs of Barnum Brown: Discovery, Excavation, and Preparation of the Type Specimen Tyrannosaurus rex (AMNH No. 973), Discovered 1902, Completely Excavated 1905 (309–311) (zit. in DN 311). Auf der Webseite des Museums für Naturkunde Berlin ist es im Bereich »Saurierwelt« auch 2021 noch ein kleiner Junge, der einen Archeopteryx bestaunt (https://www.museumfuernaturkunde.berlin/de/museum/ausstellungen/saur ierwelt, letzter Abruf 25.8.2021). »On April 25, 1889, Melissa (Brown) Taylor filed a formal complaint warrant with a justice of the peace in Osage County, Kansas, J. M. Pleasant, against her father, William Brown, alleging an act of incest committed eight months earlier.« (DN 13) Nicht im AMNH-Archiv liegen: Complaint of Incest, filed by Melissa Brown Taylor in Osage County, and Document for Criminal Action, filed in Osage County, Legal Case No. 11, State of Kansas vs. William Brown, April 25, 1889; 9. Document for Forfeiture of Recognizance, filed in District Court, Osage County, Document No. 541, State of Kansas vs. William Brown, May 20, 1889. Graciously provided by Scott Williams (DN 315f.).

155

156

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

Eine Anzeige wegen eines ›gebrochenen Eheversprechens‹ im Jahr 1919 könnte darauf verweisen, dass die Anzeigende aufgrund falscher Versprechungen Browns ein intimes Verhältnis mit ihm eingegangen war. Dieser Vorfall war so schwerwiegend, dass Browns Vorgesetzter Osborn ihn damals dazu aufforderte, nicht zum Museum zurückzukehren, bis das Verfahren beendet sei. Brown behauptete, es handele sich um einen Fall von Erpressung, aber er werde lieber im Ausland bleiben, bevor die Arbeit des Museums dadurch Schaden erleide – und verbrachte die Jahre 1920–1924 mit afrikanischen und asiatischen Expeditionen sowie im Auftrag von Ölkonzernen auf den ägäischen Inseln (DN 158f., 298). Konspirativ raunen die Biographen Dingus und Nowell, er habe eben warten wollen, »bis der Staub sich gelegt habe« (DN 298), womit ohne genauere Kenntnis des Gerichtsverfahrens alles auf den Status eines ›Kavaliersdelikts‹ heruntergehandelt wäre.22 Hier werden nicht nur erwartbare Überlagerungen von diskriminierendem Verhalten gegenüber nichtweißen und nichtmännlichen Personen offensichtlich, sondern auch die Komplizenschaft von Folgegenerationen männlicher Wissenschaftler. Die Reise mit dem Vater sei die Vorbereitung für die spätere Dinosauriersuche gewesen, wird es immer wieder heißen. Deren Grundlage ist also nicht nur paläontologischer Spürsinn, sondern zuerst die Vertreibung der eigentlichen Landbesitzer*innen, geschicktes Verhandeln zwischen Parteien, die Anrecht auf das Land erheben, und sexuelle Gewalt. Diese ist nicht einfach vergessen oder weit weg, sondern in unmittelbarer Nähe und muss daher aktiv ausgeblendet werden. Barnum Brown interessiert sich nicht für seine Schwester, wenn er mit dem Vater reisen kann. Und die ›Dinojäger‹ interessieren sich nicht für die

22

Zur Homosozialität und den lonesome-wolf-Klischees gehört auch ein Element im Image des Dinosaurierjägers, das mit bekannten augenzwinkernden Verharmlosungen toxischer Männlichkeit in einer Form von rape culture daherkommt (DN 33f., 142, 177, 302 et passim). Eine weitere Rolle spielen Frauen als unbezahlte Arbeiterinnen. Dass seine beiden Ehefrauen ihn auf den Expeditionen begleiteten (Marion Raymond Brown hatte einen MA der Columbia Universität in Biologie und unterrichtete in Brooklyn; nach ihrer Heirat 1904 begleitete sie Brown bei vielen Ausgrabungen; sie starb 1910. Die abenteuerlustige 21jährige Autorin Lilian McLaughlin folgte Brown im Nahen Osten seit 1920, heiratete ihn 1922 in Indien und war viele Jahre mit ihm im Ausland) und dort unentgeltlich für das Museum arbeiteten, hielt Brown nicht nur für selbstverständlich, sondern er warb bei seinem Vorgesetzen Osborn sogar damit, dass sie elf bis 14 Stunden täglich kostenlos tätig waren, um weiterhin seine Grabungsaufträge zu erhalten (DN: 109).

Ulrike Bergermann: Deep Empire

vertriebenen und ermordeten Communities, wenn sie in den Überresten toter Lebewesen deren Urzeitleben imaginieren können. Die unmittelbare Gewaltgeschichte, die die raison d’être der amerikanischen Nation ist, muss übersehen werden, um im gleichen Boden die Urgeschichte zu lesen, die wiederum zur Identität der neuen Nation beitragen soll. Denn größer als in den ›Mutterländern‹ der Kolonisten in Nordamerika stehen Dinosaurierskelette bald zusammen mit Statuen der ersten US-amerikanischen Präsidenten und dem star spangled banner in den repräsentativen Eingangshallen der neuen naturhistorischen Museen: Als ›Beherrscher der Erde‹ über Millionen von Jahren sollen Dinosaurier den USA ihren Nimbus von Macht und Herrschaft verleihen. Auch Robert Bakker beschreibt nach seiner maskulinistischen Erweckungsgeschichte seinen Lebensweg als einen, bei dem die Knochenfunde unter den Cowboystiefeln knirschen, nachdem frühmorgens der Kaffee auf das Lagerfeuer gestellt wurde (Bakker 1986: 37, 30).23 Während er wortreich die Vorurteile der Forscher gegenüber seinem Identifikationstier beklagte, bestätigte er im gleichen Zuge den Modus der Zuschreibungen auf die großen Skelette, nur in einer neuen Variante: Warmblüter seien an die Erfordernisse der Evolution (und, wie Kulturwissenschaftler*innen folgern werden, des Kapitalismus) besser angepasst (Mitchell 1998: 143), sie seien schneller kampfbereit, wendiger, fitter. Auch Theorien, so Bakker, unterlägen der Evolution, sie müssten kämpfen, und man sollte mit alten Theorien nicht zimperlich sein. Sie würden allerdings oft nicht hart genug angefasst, als ob sie alte Familienmitglieder seien (»You don’t yell at old Aunt Cecilia.« Bakker 1986: 27 – wieder ein beiläufiger Sexismus des Cowboys). So kann ein heldenhafter Forscher auch verschollene Theorien ›wiederauferstehen‹ lassen (Bakker 1986: 189). Die Idee, dass Dinosaurier mächtige, andere Spezies beherrschende und miteinander kämpfende Lebewesen gewesen seien (wie nicht zuletzt in den Malereien von Charles R. Knight für das »American Museum of Natural History« sichtbar wurde, die ebenso ›wissenschaftlich fundiert‹ wie öffentlichkeitswirksam zu sein versprachen, vgl. Sommer 2011; Mitchell 1998: 104; Semonin 1997: 176ff.), geht Hand in Hand mit der sozialdarwinistischen Ideologie, dass

23

Zu Bakkers Selbstinszenierung, imperialer Rhetorik und »dinosaur chauvinism« vgl. Semonin 1997: 172; zur Figur des heroischen Forschers vgl. Terrall 2011. Auch das Sammeln folgt dieser Geste und zielt auf ein »masculinist collecting achievement«, so Noble (2016: 60).

157

158

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

nur die ›stärksten Rassen‹ sich durchsetzen, der weiße Mann also ein Recht habe, die ›nicht so weit entwickelten‹ zu vertreiben.

2.3 Bone rushes. Grabungsgeschichte und Wissenschaftsgeschichte Der Wohnsitz der Familie Brown in Kansas wurde im Hinblick auf die zukünftige Karriere interpretiert: Die Landschaft war voller Versteinerungen, der Umgang mit Vieh und Transport bereitete zukünftige Trecks vor, die Mutter kochte für alle Arbeiter, so wie zukünftige Ausgrabungstrupps versorgt werden mussten, und auch ein »Geschäftssinn« soll hier weitergegeben worden sein: »The business acumen that [Barnum Brown] absorbed from his father enabled him to carry out shrewd financial transactions during his expeditions for the museum and during reconnaissance for oil and mining companies.« (DN 18) Während Brown in einem fossiliensammelnden Lehrer einen Mentor fand, entstand die Wirbeltier-Paläontologie, und an der Ostküste der USA stritten Othniel Charles Marsh in Yale und Edward Drinker Cope an der »Academy of Natural Sciences« in Philadelphia um den Platz des wichtigsten Paläontologen. Beider Geschichten ebenso wie die von Henry Fairfield Osborn spiegeln die Geschichte der USA in ihrem Ineinander von wirtschaftlicher und geologischer Erschließung, wissenschaftlichem Einfluss aus Europa sowie der Idee von Unabhängigkeit von Europa, schnellem Reichtum durch Kohle, Öl oder Stahl und dem Mäzenatentum für Prachtbauten wie den neuen Museen (z.B. dem »Peabody Museum« in Yale mit der ersten Professur für Wirbeltierpaläontologie). Osborn unterstützte eine Politik der ›Rassenreinheit‹, veranstaltete Hygieneausstellungen im AMNH mit eugenischen Ideen und einer Anti-Immigrations-Agenda, war gegen die »Vermännlichung von Frauen« (Mitchell 1998: 152) und agierte in der Galton Society gegen Immigration, vor allem aus Asien und Europa, um die ›nordische Rasse‹ reinzuhalten, die die USA gegründet habe. Zudem unterstützte er Rassenhygiene-Programme von Adolf Hitler und Benito Mussolini in den 1930er Jahren. Die Idee, dass ›Rassenmischung‹ die ›höheren Rassen degeneriere‹, bezog er auch auf das Aussterben der Dinosaurier (Mitchell 1998: 149). In diese größeren Stränge der Wissenschafts- und Wirtschaftsgeschichte schrieben sich die noch kleinen Akteure Schritt für Schritt ein. Die Entdeckung des Tricaterops beispielsweise ging auf einen Cowboy zurück, der ein Horn von einem aus dem Schlamm ragenden Schädel mit dem Lasso erbeutete und zu Marsh nach Yale schickte. Marshs Assistent Samuel Wendell Williston hatte selbst Expeditionen unternommen, war aber, wie viele andere, frustriert da-

Ulrike Bergermann: Deep Empire

von, dass die Forschungsergebnisse immer nur unter dem Namen Marshs publiziert wurden, und ging nach Kansas, um selbst Dinosaurier für das AMNH oder das »Field Museum« in Chicago zu finden (DN 31). Brown verschaffte sich einen Platz auf seiner Expeditionsliste und wurde bald unentbehrlich, denn er konnte nicht nur Fossilien aus dem Stein holen, sondern vor allem zahlreiche praktische Dinge organisieren und raue Umgebungen ertragen. Der 22jährige Brown leitete die Planwagen in Wyoming auf der gleichen Route, die er sechs Jahre zuvor mit seinem Vater gefahren war, und holte die Zugreisenden Williston und sein Team ab; sie fanden einen großen Tricaterops-Schädel, und danach durfte Barnum in ein Zimmer in Willistons Haus ziehen. Als das AMNH in den Wettbewerb um Dinsoaurierskelette einstieg und neue Mitarbeiter suchte, empfahl Williston den Jungen aus Kansas als einen, der organisieren und 30 Meilen am Tag laufen könne, ohne müde zu werden; Brown wurde engagiert und ergriff die Gelegenheit, nach New York zu ziehen. Weitere Stationen der Karriere Browns umfassten Ausgrabungen im kanadischen dinosaur bone rush (Mitchell 1998: 26; oder dinosaur gold rush, Cadbury 2001: 400), in Mexiko, Texas, Mississippi, Florida und auf den karibischen Inseln. Auf Kuba und in Abyssinien begann er 1916 neben der Arbeit für das AMNH, im Auftrag von Ölkonzernen die Möglichkeiten des Petroleumabbaus zu untersuchen. Aus den Ausgrabungsstätten schickte er jeweils tonnenweise Knochenfunde, die zehntausende (in heutiger Rechnung hunderttausende) von Dollar wert waren, in mehreren Zugwaggons nach New York und verschaffte dem Museum die weltgrößte Dinosauriersammlung.24 Als das AMNH von den meisten Tieren genügend versteinerte Exemplare hatte, folgte es dem neuen Ausstellungsthema – den Frühformen des Menschen – und ließ Brown Hominiden suchen. Auch hier frappiert das Ausblenden der genozidalen Kolonialgeschichte, wenn Spuren nicht der Menschen der jüngeren Vergangenheit, sondern der Prähistorie im Zentrum stehen – wie bei dem Fund 10.000 Jahre alter Menschen neben Knochen von prähistorischen Bisons in den Rocky Mountains (DN 236).

24

In der Tyrannosaur hall des AMNH sind 36 nordamerikanische Dinosaurierskelette ausgestellt, davon hat Brown 27 gesammelt. Insgesamt hat er in den Jahren 1896–1942 über 1200 crates of fossils gesammelt, auf dutzenden von Expeditionen, die über 1,25 Mio. Dollar (im Kurswert von 2010) gekostet haben (DN 291).

159

160

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

2.4 Dino-Popkultur und Medien Barnum Brown und seine zweite Frau Lilian Brown besuchten auf der Weltausstellung in Chicago 1933 den Pavillon »The World a Million Years Ago« mit Dinosaurier-Robotern (DN 249). Die Sinclair Oil Company finanzierte einen riesigen animierten T. Rex, der den Malereien von Knight nachempfunden war, um den Ölkonzernriesen mit den Ikonen der Dominanz zu assoziieren (Semonin 1997: 178). Brown wusste Medien immer für sich zu nutzen, erlernte früh den Einsatz von Fotokameras (Vennen 2018d), war am Einsatz von Motorbooten interessiert, begeisterte sich für das Fliegen, nutzte Luftbilder für die geologische Arbeit, baute selbst Kameras für Aufnahmen aus dem Flugzeug und flog allein im Jahr 1934 wochenlang 20.000 Meilen kreuz und quer über die USA, um neue Ausgrabungsstellen zu entdecken (DN 259). Auch für die Popularisierung seiner Arbeit hatte er immer wieder Ideen, wollte Live-Radioübertragungen von den Ausgrabungsstellen machen und war 1940 nach mehrjährigen Briefwechseln maßgeblich an der Gestaltung der Dinosauriersequenz des Animationsfilms »Fantasia« beteiligt (DN 260 – wie später Bakker als Berater für Steven Spielbergs »Jurassic Park« 1993). In den 1930er Jahren war Browns Popularität so groß, dass die Ausgrabungsstellen von tausenden Besucher*innen überrannt wurden, die selbst Souvenirs ›jagen‹ wollten (DN 256). Auch in seinem letzten Lebensjahr schloss Brown noch einen Beratervertrag mit Sinclair Oil für deren Dinoland Pavillon bei der New York World Fair 1964 ab, in dem zehn lebensgroße Dinosauriermodelle aus Fiberglas gezeigt wurden – mit zehn Millionen Besucher*innen die beliebteste Messeattraktion. Nicht nur für die Nation, sondern auch für einen Ölkonzern scheint die Verbindung mit Riesenwesen erstrebenswert, die nicht etwa für Scheitern, Schwerfälligkeit und Aussterben stehen, sondern weiterhin mit Kraft und Herrschaft assoziiert werden. Es war Brown, fassen seine Biographen zusammen, der der Welt die Augen geöffnet habe »to the wonders of the imperial dinosaurian carnivores« (DN 301). Überflüssig zu fragen, warum hier nur die Fleischfresser Erwähnung finden, wo doch pflanzenfressende Dinosaurier ebenso zahlreich waren – um ›imperial‹ zu sein, müssen blutige Kämpfe und nicht etwa friedliches Pflanzenfressen suggeriert werden.

Ulrike Bergermann: Deep Empire

2.5 Auslöschungen: Die unsichtbaren Indigenen In diesem Empire ist der weiße Mensch die Krone der Schöpfung – oder sogar der einzige Mensch in eigentlich leeren Landschaften. Seine Ausgrabungsorte beschreibt Brown als »sparsely populated, broken prairie« etc. (DN 79); hier kommen keine Menschen mehr vor, und man sieht im Boden lieber 66 Millionen Jahre zurück als zehn oder zwanzig. Auch die Biographen folgen der kolonialen Erzählung vom ›waste land‹ oder ›untamed terrain‹, und wenn sie Einwohner*innen zählen, sind es nur die weißen (DN 87). Über eine Begegnung mit Sioux an einer Ausgrabungsstelle wird nur vom Rivalen Cope aus Montana berichtet, der kurz nach der Schlacht bei Little Bighorn verschiedenen Stämmen ausweichen musste: »In the immediate aftermath of the Sioux massacre of Custer’s regiment at Little Bighorn, Cope’s crew kept a wary eye out for the retreating bands of warriors. Although none were sighted during the actual prospecting, which produced the first specimens of the horned dinosaur Monoclonius, Cope’s entourage did have to dodge remnants of the dispersing tribes as the collectors returned from the outcrops to load their fossils on a steamer along the Missouri River.« (DN 86) In dieser Perspektive treffen Wissenschaftler auf Krieger, nicht Weiße auf Nichtweiße wie unmittelbar zuvor in den kolonialen Kämpfen. An einer anderen Stelle wird ein Sioux erwähnt, der ein Diorama mit ausgestopften Bisons in Hornadays Bronx Zoo sah und angeblich glaubte, die Bisons würden nur nachts umhergehen, weil ihre Spuren kaum sichtbar seien (DN 84) – ganz nach dem anthropologischen Klischee, das die Magie der westlichen Medien und Repräsentationstechniken in den Augen eines Unzivilisierten gespiegelt sehen will, nachdem der Westen selbst die Magie von der Rationalität getrennt hat, wie Michael Taussig in seiner Theorie zu Mimesis und Alterität konstatierte (Taussig 1997: 11 u.a.). Aber eigentlich bleiben die Indigenen unsichtbar, wo die unbebilderte Urzeit ans Tageslicht geholt werden soll. Es wäre ein eigenes Forschungsprojekt, die Geschichte der kolonialen Kriege Nordamerikas in ihrer zeitlichen Korrespondenz mit den paläontologischen Ausgrabungsorten zu verfolgen.25 Die Siedlungsgeschichte ist

25

Lawrence W. Bradley rekonstruiert in seiner Dissertation »Dinosaurs and Indians« (2014) an der University of Nebraska 2010 genau diese Geschichte für Funde auf den

161

162

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

nicht linear. Sie bewegt sich zwischen europäischen Siedlergruppen, verschiedenen, auch untereinander konkurrierenden First Nations, zwischen Kooperationsversuchen, Phasen der Ruhe, Verteidigungskämpfen, Siegen und Niederlagen auf beiden Seiten, Verträgen und falschen Verträgen. Nicht zu vergessen ist auch die teils ungewollte, teils bewusst geplante biologische Kriegsführung mittels der europäischen Krankheitserreger. Insgesamt starben etwa 90 Prozent der nordamerikanischen Bevölkerung.26 Von den hunderten Feldfotografien, die im Archiv des AMNH liegen, sei etwas beliebig eins exemplarisch herausgenommen (Abb. 2): Es sieht unspektakulär aus; noch ist kein freigelegtes Skelett zu sehen, keine Crew greift mit abgehobenen Gesteinsschichten oder Dynamit in die Landschaft ein. Die Bildunterschrift lautet: »Riggs and Brown collecting a specimen of Coryphodon in the Wasatch badlands of the Bighorn Basin in Wyoming during the AMNH expedition of 1896« (DN 46). Diese Region war ein Knotenpunkt vieler Passagen, ein unter mehreren indigenen Gemeinschaften umkämpftes Gebiet, den Europäer*innen seit der Fahrt des französischen Pelzhändlers François Antoine Larocque 1805 bekannt, in den 1860er Jahren von Tausenden auf der Suche nach Gold durchquert, in den 1870er Jahren vom Red-Cloud-Krieg dominiert und lange von den Crow kontrolliert, die wiederum einen Vertrag mit dem US-Militär schlossen. Um 1900 war die Gegend besiedelt von Ranchern wie William ›Buffalo Bill‹ Cody (der später als Show-Veranstalter bekannt wurde) und besaß eine eigene Eisenbahnstation. Auf einem Ausgrabungsfoto muss nicht unbedingt eine Spur dieser Geschichten erscheinen, und dennoch spiegelt die Leere der Umgebung um die Grabung herum exakt den Blickwinkel des Paläontologen

26

Territorien der Sioux im Verhältnis zu den jeweiligen treaties, den ›Verträgen‹ zwischen Siedlern und Vertriebenen. Zwischen 1600–1890 starben etwa 90 % der Ureinwohner*innen Nordamerikas. Die Anzahl der Bewohner*innen des Kontinents vor 1500 ist umstritten; die Forschung geht von 7 Millionen Menschen aus (Heideking 2008: 2f.; Perdue/Green 2013: 30 sprechen von 7–8 Millionen). 1900 wurden noch 250.000 überlebende Ureinwohner*innen für den ganzen Kontinent angegeben. Um 1600 gab es wenige zehntausend Kolonist*innen, 1900 waren es 17 Millionen. 1773 sollen mit Pockenviren vergiftete Decken vom britischen Militär gegen die Shawnee und Delaware eingesetzt worden sein, die das Fort Pitt belagerten. Durch Pocken, Masern, Grippe, Keuchhusten und verschiedene Arten der Pest, gegen die Europäer*innen immun waren, wurden ganze Bevölkerungsgruppen ausgelöscht. Die Epidemien ließen komplette Gesellschaftssysteme zusammenbrechen (in Wellen; geschätzt wird: alle vier Jahre) – ein undokumentiertes Sterben. Z.B. in ›Neuengland‹: Die Pestepidemie zu Anfang des 17. Jahrhunderts überlebten nur 20–50 % der Ureinwohner*innen (Perdue/Green 2013: 31).

Ulrike Bergermann: Deep Empire

wider, den kein Krieg interessiert, keine Massengräber der 300 im Jahr 1890 in Wyomings Wounded Knee ermordeten Sioux, keine Zeichen der Eroberung und Besiedelung der Territorien. Hier sind weiße Männer allein in einer Natur, die zeitlos erscheint.

Abb. 2: Riggs und Brown im Bighorn Basin. Ausgrabung eines Coryphodon in der Wasatch-Steppe des Bighorn Basin in Wyoming, AHMN-Expedition 1896.

Quelle: American Museum of History Library Nr. 17753.

Das Auffinden der Dinosaurier folgte der Erschließung des Kontinents, dem Vordringen der Weißen, der Eisenbahn, dem Abbau von Kohle und den Erzfunden.27 Die Dinosauriersuche folgte der Auslöschung der riesigen Bi27

Die Kolonisierung geschah nicht schnell, wie in einem großen Überfall, sondern vollzog sich in mehreren Jahrhunderten. Obwohl die Europäer*innen technisch überlegen waren und mit Gewehren sofort in militärischer Vorherrschaft standen, waren sie doch zuerst in der Unterzahl, orientierungslos und darauf angewiesen, dass die Ureinwohner*innen ihnen halfen – mit ihnen handelten, ihnen zu essen gaben bzw. etwas später verrieten, wie sie Ackerbau betreiben konnten, nachdem europäische Farmer Missernten einfuhren (Perdue/Green 2013: 29).

163

164

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

sonherden Amerikas (Krüger 2014: 80). Oft wurden Skelette und Fossilien beim Bau der Eisenbahn oder beim Ausheben von Kohleflözen gefunden, und Eisenbahnen brachten Wagenladungen von Knochen an die Ostküste. Paul Semonin formulierte sogar: »Robber barons discover the dinosaurs« (Semonin 1997: 175). 1877 fand ein Vorarbeiter der Union Pacific Railroad Knochen bei Como Bluff und erkannte in ihnen, worüber er in der Zeitung gelesen hatte. Seine und weitere Funde wurden ins »Peabody Museum« nach Yale geschickt oder an die Konkurrenz in Philadelphia zu Edward Drinker Cope. Die Industriellen waren familiär und ideologisch mit den Technologien, den Naturwissenschaften und ihrem Fortschrittsglauben verbunden.28 Lukas Rieppel (2019) sieht die fossil hunters and tycoons in einer eng verschlungenen Geschichte. Dampfboot, Panzer, Loks, Skyscraper waren ebenso neue Monster wie die gefundenen Dinos (Mitchell 1998: 144). Dass Barnum Brown in den letzten Jahrzehnten seiner Karriere geologische Erkundungen für Ölfirmen unternahm und außerdem für den US-Geheimdienst arbeitete, bringt nur einmal mehr an die Oberfläche, wie gut die Nation, der fossile Kapitalismus, der racial capitalism29 und die Dinomanie Hand in Hand gingen.

2.6 Extraktion und entitlement Nachdem die erste Phase der Dinosaurierausgrabungen mit der Geschichte der Eisenbahn und des Kohleabbaus verbunden war, wurden Öl und auch die Ware intelligence (Geheimdienstwissen, eine spezifische regierungs- und kriegsrelevante Form von Wissen) als Güter mit den Dinos verknüpft.30 Eine 28

29 30

Ein Sponsor der Dinomanie, Andrew Carnegie, wurde vom Immigranten zum Stahlmagnaten und folgte Spencers Sozialdarwinismus, um den eigenen laissez-faire-Kapitalismus zu rechtfertigen (Semonin 1997: 175). Ein zweiter Stahlmagnat war John Pierpoint Morgan, der 1901 Carnegie alles abkaufte, als der in den Ruhestand ging, und u.a. die paläontologische Sammlung Harvards kaufte und zu Osborn ans AMNH gab (dessen Vater Präsident der Illinois Central Railroad gewesen war). Der Maler des AMHN wiederum, Charles Knight, war familiär mit dem Londoner Bankhaus J. P. Morgan verbunden – auch hier eine Jungsgeschichte: Durch die Beziehungen des Vaters kann Knight als Fünfjähriger zum ersten Mal am Sonntagnachmittag in das geschlossene Museum hinein… (Semonin 1997: 176). Eine Einführung in den Begriff mit kommentiertem Literaturüberblick gibt Ashe (2021). Brown arbeitete u.a. für die Empire Oil Company (zur Ölsuche in Kuba). 1919 teilte er seine Zeit zwischen »oil consulting and fossil collecting in Oklahoma and Texas« (DN 158), im Jahr darauf verwendete er sie für die Anglo-American Oil Company, denn die

Ulrike Bergermann: Deep Empire

neue Figuration kolonialer Geographien tut sich in Abessinien im Jahr 1920 auf,31 1923 ging Brown im Auftrag des Museums auf die griechische Insel Samos – und anders als im eigenen Land, den USA, einerseits und afrikanischen und asiatischen Ländern andererseits hatte Brown es hier mit einem Staat zu tun, der bereits Erfahrungen mit der Ausplünderung von Kulturgütern gemacht hatte und auf einem Vertrag bestand, der nur diejenigen Funde außer Landes zu bringen gestattete, die noch nicht im griechischen Museum vorhanden waren. Brown war empört und versuchte mit allen Tricks, diese Bestimmungen zu umgehen und zu untergraben, und deklarierte schließlich seine Exporte falsch (DN 220f.).32 Der Junge aus dem ›Wilden Westen‹ war zu einem Weltreisenden geworden, der von Wirtschaft, Politik und Wissenschaft finanziert davon ausging, dass ihm alles zustehe. Die imperiale Geste, die Selbstverständlichkeit des Sich-am-Boden-Bedienens, der Aneignung von allem, was im Boden egal welchen Landes steckt, machte auch vor einem ›alten‹ europäischen Staat nicht mehr Halt, dem man eigentlich mit den gewohnten Rassismen nicht mehr begegnen konnte.

31

32

US-Regierung befürchtete, um 1930 sei das Öl aufgebraucht – daher wurde weltweit nach neuen Quellen gesucht. Die Anglo-American Oil Company war ein Ableger des John D. Rockefeller Standard Oil Trust, später aus kartellrechtlichen Gründen u.a. in Esso und Exxon aufgeteilt. Brown arbeitete für sie in Abessinien (ab 1974 die heutigen Staaten Äthiopien und Eritrea) (DN 160). Ohne weitere Kenntnis der jeweiligen Gegend, der Geschichte, Kultur oder Sprachen ihrer Bewohner*innen, dem Gefüge aus Muslim*innen, koptischen Christ*innen und Zugehörigen animistischer Religionen sowie einem komplizierten Herrschaftsgebilde aus politischen und religiösen Anführer*innen trat Brown mit drei weiteren Männern, einem Übersetzer, einem Koch und »38 boys« (lokalen Helfern) in Verhandlungen ein, nachdem die Anglo-American Oil Company bereits 50.000 Dollar für Explorationsrechte bezahlt hatte, der abessinische König aber einen Konkurrenten ebenfalls ins Land ließ. Die Reise wurde ebensowenig erfolgreich wie die folgenden in die Türkei (im Auftrag des AMNH, des State Departments und der Oil Company), nach Burma und Indien, die Brown unternahm, um sich seinem Gerichtsverfahren zu entziehen (DN 187). Brown wies die Mitarbeiter im AMNH auf seine falschen Bezeichnungen der zum Schutz eingegipsten Ausgrabungsfunde hin. Auch Lilian schmuggelte Fundstücke aus dem Land.

165

166

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

2.7 Imperiale Metaphern Dieser Nexus von Kolonialismus, Rassismus und Sexismus tut bis heute der Bewunderung für die großen dinosaur hunters keinen Abbruch. Obwohl Dinosaurier seit den 1990er Jahren eine popkulturelle Renaissance feiern und Spielbergs Blockbusterkino »Jurassic Park« in vielen Folgen die eigene Vermarktungsmaschinerie mit einer leichten Kritik der Kommerzialisierung von DinoUnterhaltungsspektakeln würzt, verbleiben etwa Dingus und Norell in tiefster Ergebenheit gegenüber den Männern mit dem »sense of adventure«, die die Aufgaben schon deswegen meistern, weil sie »hailed form the American West« (DN xiii), eine unstillbare »Wanderlust« und die Lust am Risiko teilen (DN 17f.). Von Ureinwohner*innen ist nur dann die Rede, wenn Brown die Pferde anbindet, damit sie nicht gestohlen werden (DN 15) oder wenn die Indigenen in rassistischer Weise mit Tieren verglichen werden, sei es in Bezug auf ihren Körper (Bakker 1986: 126) oder ihre Kulturtechniken (DN 285f.; Bakker 1986: 70). Genozid kommt so wenig vor wie Vergewaltigung. Von »Auslöschung« (extinction) ist nur mit Blick auf die Bisons die Rede.33 Als einmal der Begriff »mass murder« zu lesen ist, geht es um einen Berglöwen, der Dutzende von Schafen reißt (DN 74); »killings« und »killing mechanisms« bezeichnen das Aussterben der Dinosaurier durch Naturkatastrophen nach dem Meteoriteneinschlag (DN 116). Unter »ethics of bone digging« versteht man Absprachen zwischen den konkurrierenden Ausgrabungsteams über das Abstecken von Territorien (DN 197). Es gibt hier keinen vanishing Indian, nur einen vanishing American.34 Das Vokabular von Herrschaft, von empire, ›Dynastien‹ oder ›Befreiung‹ ist noch vorhanden, wird aber nur noch metaphorisch benutzt und auf das ur-

33

34

Bisons gab es, bis 1865 die Eisenbahn kam und die von den Eisenbahngesellschaften angeheuerten Jäger die Millionen von Bisons fast völlig ausrotten (1889 wurden noch 541 Tiere gezählt, DN 16). The vanishing native oder the vanishing Indian bezeichnet in der Ethnologie die Erforschung von Völkern, just wenn diese ›entdeckt‹, bedrängt, kolonisiert etc. werden, die also kurz vor dem Verschwinden ihrer Eigenarten, wenn nicht ihrer Existenz stehen. Die gleichen Nationen, die das vanishing verursachen, zeigen sich fasziniert von einer größtmöglichen ›Unberührtheit‹ in einer Zeit deren Verschwindens. Kollege Roy Chapman Andrews bezeichnete Barnum Brown im Vorwort zu Lillian Browns Buch »I married a Dinosaur« (1950) als einen »Vanishing American«, weil er mehrmals bei langen Expeditionen als verschollen galt, bis er mit spektakulären Funden wieder auftauchte (DN 302). Selbst die deskriptiv-kritischen Konzepte der kolonialen Wissenschaften können zum Spektakel des kolonialen Stars Brown beitragen.

Ulrike Bergermann: Deep Empire

zeitlich Versteinerte bezogen. Wenn Analogien und Metaphern immer über einen dritten Bezugspunkt funktionieren (das tertium comparationis), so bleibt die jüngere Gewaltgeschichte darin gesagt-ungesagt. Wo Bakker beispielsweise von der visionären Erkenntnis einer Schönheit erzählen will, die sein Auge erkennt, sieht er im Stein durch Millionen von Jahren: »This bone is a holy relic for me, as beautiful in its roughly hewn outside as Michelangelo’s bound slaves struggling to free themselves form the enveloping marble.« (Bakker 1986: 31) Er sieht Sklaven, aber nicht auf den Feldern der Südstaaten; Bakker muss die Dinosaurier erlösen, nicht die Versklavten und ihre Nachkommen. Das Gleiche gilt für Kolonisierung: »No corner of the Mesozoic world withstood colonization by dinosaurs.« (Bakker 1986: 33) Kolonisierung gibt es nur als naturalisierte Konkurrenz (die stärkere Art beherrscht Landstriche und Lebewesen). Dass das »Reich der Dinosaurier« immer wieder als »Empire« bezeichnet und ihre »Herrschaft« mit der von Alexander dem Großen oder Napoleon verglichen wird (Bakker 1986: 36), könnte als kleiner Scherz des plaudernden Cowboy-Forschers gelesen werden, blieben die Scherze nicht schnell im Halse stecken, wo man mit Bezug auf Dinosaurier von Mord/Tötung oder Auslöschung (killing, extinction etc.) sprechen, den Mord und die Auslöschung nordamerikanischer Menschen aber unausgesprochen lassen kann. Der Begriff Great Dying, das ›Große Sterben‹, ist ein paläontologischer Fachbegriff (für das Massenaussterben zwischen Perm und Trias, zur Zeit Pangeas vor 252 Millionen Jahren), den Bakker in Bezug auf das Aussterben der Dinosaurier verwendet, genauer: Er spricht von einem »ultimate Great Dying« als einem mehrerer »mass murders of species« (Bakker 1986: 44). Auf seinen Wanderungen durch Montana, dem Hell Creek oder Como sieht er sich durch diese mass murder sites gehen, nach 50 Millionen »erfolgreichen« Jahren des Dinosaurierlebens ein plötzlicher Massenmord – zu entziffern zwischen Steinformationen, Zeiten, Schichten, Dramen, Oberflächen, ökologischen Nischen der Dinosaurier und ihrem »Überlebenskampf« (Bakker 1986: 38). Bakker könnte stets argumentieren, das sei nicht wörtlich zu nehmen und im Dienst der Popularisierung der Forschung plakativ geschildert; dennoch ist die Blickrichtung klar und die ›Morde‹, wie buchstäblich auch immer gemeint, nie auf die Morde bezogen, die die Siedler an indigenen und versklavten Menschen begingen, sondern auf ein nichtintentionales naturhistorisches Ereignis.

167

168

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

2.8 Dem Land lauschen Die Absurdität, mit der Ausgrabungen dazu dienen, eine Geschichte der Menschheit, aber auch eine Symbolgeschichte der USA zu schreiben, ist in mehrfacher Hinsicht atemberaubend. Sich den Dinosaurier als Gegenüber, als menschliche (männliche) Projektionsfläche auszusuchen, ist merkwürdig genug. Nie haben Menschen in einer Zeit zusammen mit Dinosauriern auf der Erde gelebt; die emotionale Beziehung, die Fetischisierung, die Projektion auf die Tiere, deren Darstellung immer spekulativ sein wird, erscheint in dieser verfehlten Parallele (von Jagd bis Ausstellung) umso bizarrer in ihrer Fiktivität und ihrem Begehren. Atemberaubend ist aber auch die Weise, in der die Erdoberfläche gelesen wird, um eine lang vergangene Geschichte zu rekonstruieren, die dann dazu dienen wird, der jungen Nation USA eine Geschichte zu geben. Die sorgfältige Beschreibung davon, wie die Erdoberfläche betrachtet, untersucht und bereist wird, um bei dieser Schatzjagd im Wettbewerb mit anderen von Museen ausgesandten Beutezügen fündig zu werden, erscheint abgründig, wenn man darin auch liest, was gleichzeitig nicht gesucht wird. Die Vorstellungskraft wird in anderer Hinsicht aktiviert. Wer über Land geht, muss imaginieren können, wo Dinosaurier lebten: »For me, trackways and ripple marks have a special intimacy. Both can be so freshlooking that they seem to hold the sounds made by the Jurassic world, the sucking noise of viscous mud being pulled by the cushionlike foot pads of brontosaurs as they stepped through the Jurassic muck.« (Bakker 1986: 37) Was hört der Forscher? Hier brauche man keinen weißen Laborkittel, sondern die Fähigkeit zu träumen: »[S]cientists need reverie. We need long walks and quiet times at the quarry to let the whole pattern of fossil history sink into our consciousness.« (Bakker 1986: 32) Was sinkt alles nicht ins Bewusstsein? Die seitenlangen Schilderungen der Dinosaurier in ihren Habitaten und das Lob ihrer Vielfalt sind grotesk, wenn man etwa nach einer Vielfalt fragt, die die vor kürzerer Zeit verklungenen sounds von Little Bighorn speicherte. Aber es gab nicht nur in der ›Neuen Welt‹ »Mammal chauvinists« (Bakker 1986: 56). Auch London, Berlin, Wien oder St. Petersburg wollten Dinosaurier – und nachdem die Wünsche aus dem ›alten Europa‹ abgewiesen und in den USA jetzt eigene Institutionen, zunehmend unabhängig von den Kolonialzentren, errichtet wurden, bekamen sie Gipsabgüsse, »prefab diplodocus« (Bakker 1986: 203). Deutschland, um 1900 noch eine junge Nation und berühmt für seine naturwissenschaftlichen Labore und Forschungen, wollte mitreden.

Ulrike Bergermann: Deep Empire

3. Kaiser-Dinosaurier aus Deutsch-Ostafrika Auch wo Kolonisatoren nicht selbst auf dem angeeigneten Land bleiben und eine neue Nation bilden, sondern die Kolonie ausbeuten und die Ergebnisse nach Hause bringen wollen, können Dinosaurierskelette spektakuläre Projektionsflächen bieten. Anfang des 20. Jahrhunderts finden keine Aushandlungsprozesse in den Wissenschaften mehr statt, wie sie die Durchsetzung der Evolutionstheorie begleitet haben, und die Idee der Volksbildung wird eher indirekt durch das Anlocken des Publikums in die Museen durch Aufsehen erregende Skelette angestrebt.35 Aber das deutsche Kaiserreich hatte durchaus noch eine kurze Zeit die Idee, mit einem in ›Deutsch-Ostafrika‹ (Iliffe 1969, 1979; Seeberg 1989) ausgegrabenen Skelett Anschluss an internationale Naturkundemuseen in der Hauptstadt des Deutschen Reiches zu finden. Nach dem verlorenen 1. Weltkrieg und dem Rückzug aus den kolonisierten Gebieten sollten die Dinosaurierfiguren die kolonialrevisionistische Ideologie befeuern.36 Zwar waren keine ›Dinosaurierjäger‹ losgeschickt worden, und der Publikumsmagnet des Museums für Naturkunde Berlin verdankte sich dem Hinweis eines ostafrikanischen Arbeiters an einen Deutschen, der eigentlich auf der Suche nach Bodenschätzen war. Dennoch galt der im Süden des heutigen Tansanias ›gefundene‹ Brachiosaurus brancai37 als nationales Emblem: »Aus deutschostafrikanischer Erde geborgen, wird es dauernd ein Monument deutscher Kulturarbeit in deutschem Überseegebiet, ein stolzes Erinnerungszeichen des deutschen kolonialen Gedankens in der Welt sein«, so Expeditionsleiter Hans Reck 1924.38

35

36 37 38

Zum Zusammenhang von kolonialer Gewalt und Raubgut in Museen mit Blick auf ›Deutsch-Ostafrika‹ vgl. Humboldt Lab Tanzania 2018, insb. die Beiträge von Audax Z. P. Mabula (Leiter des Nationalmuseums Tansania, der als Ziel die Restitution benennt), Lili Reyels, Paola Ivanov, Kristin Weber-Sinn, Eilas Jengo, Oswald Masebo, Andreas Eckert (er spricht von »Remediation« statt von Restitution) u.a. Die folgende Darstellung verdankt sich im Wesentlichen Ina Heumann, Holger Stoecker, Marco Tamborini und Mareike Vennen (2018). Damals Brachiosaurus brancai genannt, ist der seit 2009 taxonomisch korrigierte Name Giraffatitan brancai. Zit. in: Heumann/Stoecker/Vennen (2018: 257). Sie beschreiben Dinosaurier als koloniale Trophäen und zitieren etwa den Expeditionsleiter Edwin Hennig 1925: Er habe »Knochen dem deutschen Kolonialboden entnommen, um aus Trümmern ein Ganzes vor dem Auge wieder entstehen zu lassen« (ebd.), oder Museumsleiter F. J. Pompeckji 1928: »[D]ie Dinosaurier sollen im Museum für Naturkunde den kolonialen Gedanken wachhalten« (ebd.: 258). Pompeckji schrieb außerdem 1922 an den deutschen Kultur-

169

170

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

Im Vergleich mit dem colonial dinosaur nexus der USA fallen Unterschiede dort auf, wo es eine sichtbarere Abhängigkeit von der lokalen Bevölkerung bei der Extraktion der Fossilien gibt, sowie eine vergleichsweise geringere Betonung eines singulären männlichen Heroismus. Die Rolle privater Sponsoren auch im Verhältnis zur staatlichen Förderung wäre differenzierter zu vergleichen, ebenso wie die Frage nach den Eigentumsverhältnissen für die Landrechte an den Ausgrabungsstellen. Diese Aspekte sollen mit der Grabungsgeschichte kurz dargestellt werden, um noch einmal den Blick auf den Konnex von entinnerten genozidalen Spuren und der Hinwendung zur deep time zu vertiefen. Volkswirtschaftlich gesehen war die deutsche Kolonie in Ostafrika (1885–1918) mehr oder weniger ein Fehlschlag – kaum eine Plantage arbeitete wirklich gewinnbringend.39 Der Versuch, die unterworfene Bevölkerung durch Kopfsteuern und Zwangsarbeit40 auszupressen, führte zu einem Aufstand, den die Deutschen im Maji-Maji-Krieg so blutig niederschlugen, dass danach ganze Landstriche entvölkert waren. Dass der Experte der LindiSchürfgesellschaft, der im Südosten des heutigen Tansania wenigstens Bodenschätze finden sollte, keine finden konnte, brachte die Befürworter*innen des deutschen Kolonialismus weiter unter Rechtfertigungsdruck. Der Arzt der ›Kaiserlichen Schutztruppe‹ Wilhelm Arning berichtete in seinen Erinnerungen, ein lokaler Mitarbeiter habe Mitleid mit dem erfolglosen Lindi-Mitarbeiter gehabt und ihn zu Knochenfunden geführt.41 Bernhard

39

40

41

minister, die Skelette seien »Zeugnis deutscher Tatkraft und deutschen Fleisses [sic!]« (ebd.). In ›Deutsch-Ostafrika‹ wurden Kautschuk, Baumwolle, Sisal und Kaffee zu den vier Hauptrohstoffen des kolonialen Anbaus (Tetzlaff 1970: 117). Tetzlaff listet die Erfolge und Misserfolge dieser Bemühungen detailreich auf. Vgl. ders. auch zur gesamten Inbesitznahme ›Deutsch-Ostafrikas‹ nach dem betrügerischen sogenannten ›Erwerb‹ von Schutzgebieten und entsprechenden ›Verträgen‹ durch Carl Peters und die DOAG (Deutsch-Ostafrikanische Gesellschaft, ab 1884). (Becker/Beetz 2005; Beez 2005; Iliffe 1979: 171f. e. p.; Bührer 2011; Seeberg 1989). Wie die Zwangsarbeiter genau rekrutiert wurden, schildert Tetzlaff (1970: 233–250). Bestechung, nächtliche Verschleppungen, das Anzünden von Hütten, falsche Uniformen, Prügel und Entführungen gehörten ebenso dazu wie falsche ›Verträge‹, die dann nicht eingehalten wurden, wobei Arbeiter*innen z.B. nach sechs Monaten nicht freigelassen wurden. Bei Flucht oder Kontraktbruch gab es Kettenhaft bis zu 14 Tagen, u.v.m. »Sattler war künstlerisch begabt und sandte mir eine Zeichnung von dem, was da vor ihm lag: es waren wie er selbst auch meinte, Knochen von Gliedmaßen urgewaltiger Tiere.« Wilhelm Arning Nachlass, n.d., zit. in Stoecker (2018a: 32).

Ulrike Bergermann: Deep Empire

Wilhelm Sattler war seit 1901 zur ›Erschließung‹ von Mineralien, Graphit und Edelsteinen in ›Deutsch-Ostafrika‹ unterwegs und gab an, die Fossilien auf der Suche nach Granat gefunden zu haben. Ein Jahr vorher hatte er noch gegen die lokale Bevölkerung gekämpft.

3.1 Verbrannte Erde bis 1907 – Gesteinsabbau ab 1908 Der Maji-Maji-Krieg erstreckte sich 1905–1907 auf ein Gebiet, das so groß war wie Deutschland. Zwanzig ostafrikanische Völker schlossen sich gegen die brutalen Besatzer, Zwangsarbeit und alltägliche Misshandlungen zusammen. 1898 war eine »Hüttensteuer« eingeführt worden – wer eine Hütte besaß, musste dafür 25 Kilo Reis, 20 Kilo Erdnüsse oder 15 Kilo Baumwolle liefern bzw. den Gegenwert in Geld.42 Das erbrachte dem Deutschen Reich etwa im Jahr 1912 eine Einnahme von 12 Millionen Reichsmark. Mit diesen und vielen weiteren Zwangsabgaben presste die deutsche Kolonialmacht die Arbeitskraft und Rohstoffe Ostafrikas aus. Für die Zwangsarbeit auf den Plantagen wurden Männer verpflichtet, die dadurch ihre eigenen Felder nicht mehr bestellen konnten. Somit waren die Frauen mit der Feldarbeit für die Familie überlastet; die Ernährungslage und der Gesundheitszustand wurden insgesamt schlechter; es wurden weniger Kinder geboren, und die Kindersterblichkeit stieg (Tetzlaff 1970: 252–259). Ein Jagdverbot 1903 führte zur Zerstörung von Feldern bzw. der Ernte durch Nilpferde, Elefanten und Wildschweine; die Ausbreitung der Wildtiere führte zur Rückkehr von Erregern der Schlafkrankheit.43 1905 wurde eine Kopfsteuer eingeführt, eine

42

43

(Tetzlaff 1979: 176). Die Bezahlung der Hüttensteuer wurde von den Schutztruppensoldaten, den Askaris, durch Waffengewalt, Auspeitschen, Zwangsarbeit, Einsperren, Konfiszierung des Viehs sowie Vergewaltigung durchgesetzt. Plantagenbesitzer benötigten Arbeiter, und die Steuern zwangen die Afrikaner*innen dazu, Geld zu verdienen; lange Arbeitstage, Prügel und Nahrungsentzug kennzeichneten die Plantagenarbeit. Um mehr Geld herauszupressen, zwang Gouverneur Adolf Graf von Götzen 1902 alle Dörfer zum Anlegen einer Plantage, einer Kommunalshamba (Swhalili shamba = Feld), auf der durch Zwangsarbeit Gewinne erwirtschaftet wurden, meist durch Baumwolle. Wer nicht auf einer europäischen Plantage arbeitete, musste auf dieser shamba 24 Tage im Jahr Zwangsarbeit leisten. Dorfvorsteher, die sogenannten Schamben, waren für die Abwicklung zuständig. Felicitas Becker (2005a) schildert weitere Folgen des Maji-Maji-Kriegs für die Lebenserwartung und Lebensqualität insbesondere in Südtansania.

171

172

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

Welle von Landenteignungen für Plantagen setzte ein, und Verschleppung zur Zwangsarbeit wurde jederzeit ›legal‹ möglich.44 Sowohl die extreme Brutalität, die Prügelexzesse und Misshandlungen als auch die kleinteilige Erfindung von Bürokratien und eigenen Gesetzen kennzeichnen die deutsche Kolonialherrschaft in Ostafrika (Klein-Arendt 2005). Dagegen predigte der Heiler Kinjikitele, sein geweihtes Wasser (auf Swahili: maji) mache Aufständische gegen Gewehrkugeln unverwundbar. Rituale der Weihe, das Weiterreichen des Wassers und weitere Praktiken des Kults verbanden Bevölkerungsgruppen miteinander, die sich ansonsten nicht verbündet hätten. Als klar wurde, dass die Kämpfer trotzdem im Maschinengewehrfeuer der Deutschen starben,45 änderten die Aufständischen ihre Taktik, nutzten ihre eigenen Waffen und ihre Ortskenntnis für den Guerillakrieg. Die Deutschen folgten der Politik der »verbrannten Erde«, brannten Dörfer ab und vernichteten Ernten. Bis zu 300.000 Menschen – ein Drittel der Bevölkerung – starben, verhungerten, fielen Krankheiten zum Opfer oder wurden nachts ohne ihre Hütten von den sich schnell vermehrenden Löwen getötet.46 Was ›daheim im Reich‹ ›Kriegstugend‹ hieß, muss mit dem Wort ›Vernichtungswahn‹ bezeichnet werden, so Felicitas Becker und Jigal Beez (Becker/Beez 2005: 12). Der Aufstand hatte an der Küste bei Kilwa begonnen und sich auf das spätere Dinosaurier-Grabungsgebiet (Umwera, das Siedlungsgebiet der Mwera, von denen sich viele am Maji-Maji-Krieg beteiligten) ausgedehnt – ab 1909 lag das Grabungsgebiet mitten im Kriegsgebiet (Stoecker 2018a: 28). Der Grabungsleiter Sattler kämpfte selbst, zusammen mit seinen Arbeitern und Askaris (afrikanischen Soldaten im Dienst der Kolonialherren) gegen die afrikanische Bevölkerung. Die Verwicklung von Ausgrabung und Eroberungskriegen

44

45

46

Die Kopfsteuer musste in Geld bezahlt werden. Das zwang wiederum zur Arbeit auf einer Plantage. Für den Bau von Straßen konnten willkürlich Menschen temporär versklavt werden. Die Landenteignung diente dem Anbau von Baumwolle, Sisal, Kaffee und Kautschuk. Gekämpft wurde mit Speeren und Pfeilen gegen Gewehre und Maschinengewehre. Die ›Schutztruppen‹ werden oft verharmlost, wie ihr Name schon andeutet; sie gingen allerdings äußerst brutal vor und bezahlten Hilfstruppen für die Drecksarbeit: Erpressung und Folter, das Erhängen von Herumschweifenden und Aufständischen (Becker 2005 b: 79 et passim). (Majura 2005: 202; siehe ebs. Wimmelbücker 2005). Es wurden auf der Gegenseite insgesamt an Toten gezählt: 15 Europäer, 73 Schwarze Askaris und 316 Angehörige der Hilfstruppen.

Ulrike Bergermann: Deep Empire

ist sowohl territorial als auch personell sehr eng, um nicht zu sagen: Beide sind eins. Die Ausgrabungen in den USA und in der deutschen Kolonie bewegten sich auf genozidalen Spuren voran, auf dem Gebiet der Native Americans Richtung Pazifikküste vorrückend und auf dem Gebiet der Maji-Maji-Kämpfe in Ostafrika. Der Maji-Maji-Krieg ist 2022 nicht als Verbrechen und der Mord an vermutlich über 300.000 Einwohner*innen verschiedener Ethnien nicht als Genozid anerkannt. Während sich die deutsche Regierung nach internationalem Druck und einer Klage von Nachfahr*innen der Ermordeten sehr langsam auf die Frage einer Anerkennung des deutschen Völkermords an den Herero und Nama in ›Deutsch-Südwestafrika‹, dem heutigen Namibia, mit geschätzt 60.000 Toten hinbewegt, steht das für die Verbrechen von Deutschen in Ostafrika noch aus.47 Eine Geschichte der Restitutionsforderungen der tansanischen Regierung von 1987 bis 2018 umfasst Anfragen nach Dauerleihgaben aus der DDR (die sich auch als sozialistisches Bruderland nicht dazu durchringen konnte und von einem »nationalen [gemeint ist: deutschen] Kulturerbe« sprach).48 Das wiedervereinigte Deutschland trug das Berliner Skelett 2011 in das Verzeichnis »National wertvollen Kulturguts« ein, was eine Ausfuhr ins Ausland praktisch

47

48

Ab 2015 trat die Bundesrepublik Deutschland in Gespräche mit der Regierung Namibias ein, die schon wegen der Nichtbeteiligung von Vertreter*innen der betroffenen Herero und Nama kritisiert werden. An Stelle von Reparationszahlungen sind Entwicklungshilfeprojekte in einem deutsch-namibianischen Abkommen festgehalten, welche das Produkt der nun (vorläufig?) zum Abschluss gekommenen Verhandlungen ist und die Anerkennung des Völkermords sowie eine Entschuldigung enthält. Im März 2017 verklagte Herero-Führer Vekuii Rukoro Deutschland vor einem New Yorker Bezirksgericht wegen des Völkermords an seinen Vorfahr*innen im heutigen Namibia im Jahr 1904. Das New Yorker Verfahren ist 2019 vom Gericht zurückgewiesen worden. Danach wurde die Klage beim zuständigen Berufungsgericht eingereicht. Diese wurde 2020 ebenfalls abgewiesen. Man geht von 40–60.000 ermordeten Herero und 10.000 ermordeten Nama aus. Sie wurden in den ersten deutschen Konzentrationslagern oder durch Hinaustreiben in die Wüste und Verdurstenlassen auf Befehl des Generals Lothar von Trotha umgebracht. Viele Nachkommen von Herero und Nama, denen eine Flucht gelang, leben heute in Botswana, Simbabwe und Südafrika. (Heumann/Stoecker/Vennen 2018: 267f. und 270). Eine gemeinsame Expedition von deutschen und tansanischen Wissenschaftler*innen zum Tengaduru grub 2000 Dinosaurierknochen für das National Museum in Dar es Salaam aus, hat sie jedoch noch nicht ausgestellt (ebd.).

173

174

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

unmöglich macht.49 Der deutsche Außenminister Heiko Maas sagte 2018 bei einem Besuch in Tansania, es gebe keine Grundlage gegen das damals angewandte Recht; der tansanische Außenminister Auguste Mahiga erklärte, man verzichte auf die Rückgabe und betrachte das Skelett als Weltkulturerbe (Stoecker 2018b: 55). Der Generaldirektor des Berliner Naturkundemuseums, Jakob Vogel, ärgerte sich 2020 über Rückgabeforderungen, denn schließlich sei »nie in Tansania ein Dinosaurier ausgegraben worden« (Noffke 2020). In einer pseudokonstruktivistischen Volte proklamierte er: »Sondern es sind Gesteinsfragmente mit Fossilien ausgegraben worden, aus denen man dann hier einen Dinosaurier zusammengebaut hat.« (Ebd.) Eine Rückgabe stehe nicht zur Debatte, und die Zahlenverhältnisse der Beteiligten – zwei Deutsche und 500 lokale Arbeiter – zeige, dass hier keine Unterdrückung stattgefunden haben könne. Charles Saanana, Professor für Archäologie in Daressalam, blieb verhalten: Die Originale könnten in Berlin bleiben, Tansania könnte Abdrücke bekommen. Flower Manase, Kuratorin am Nationalmuseum Tansanias, versteht dagegen nicht, wie man zwischen Rückgabeforderungen von kulturellen Objekten und Sammlungen in Naturkundemuseen unterscheiden könnte – »es war die gleiche Zeit, es waren die gleichen Motive« (ebd.). Weltweite Forderungen nach der Rückgabe von Human Remains und kolonialem Raubgut führten dazu, dass der tansanische Botschafter in Berlin, Abdallah Possi, 2020 von Plänen sprach, tansanische Human Remains und Dinosaurierfunde zurückzufordern (Häntzschel 2020).

3.2 Die Knochenextraktion Die Ausgangslage der Knochensuche war am Tengaduru wie im ›Wilden Westen‹: Es galt, mit einer Mischung aus paläontologischem Wissen und visueller Imaginationsfähigkeit eine Landschaft und dann auch eine reale Ausgrabungsstelle lesen zu können.50 Am Tengaduru wurde den Deutschen diese Ar49

50

(Heumann/Stoecker/Vennen 2018: 270). Genauer: Das Verzeichnis »National wertvollen Kulturguts« deklariert diese Kulturgüter zu einem »Teil des kulturellen Erbes Deutschlands«. Das Kulturschutzgesetz KGSG ist seit 2016 in Kraft. Der »Verbleib im Bundesgebiet (liegt) im herausragenden kulturellen öffentlichen Interesse« (KGSG §7). Vgl. Marco Taborini (2018b) über »Knochencollagen. Medien der Tiefenzeit« und die Notwendigkeit der visuellen Schulung, der Bedeutungszuweisung durch Vergleiche des gesehenen Objekts mit einer wissenschaftlichen Abbildung, der Herstellung der Abbildungen, die Zeichnungen der Knochen als Kooperationsleistung (u.a. mit den

Ulrike Bergermann: Deep Empire

beit zu einem guten Teil von Einheimischen mit sehr guten Kenntnissen der Fundstätten abgenommen. Die Zeichnungen, die Sattler von der Fundstelle anfertigte, reichten der Kolonialabteilung im Auswärtigen Amt und dem Reichskolonialamt in Berlin nicht aus, um eine Ausgrabung zu finanzieren. ›Kolonialveteran‹ Wilhelm Anring versuchte, Unterstützung der Grabung für eine Kolonial- und Marineausstellung zu organisieren, konnte aber erst 1907 als Abgeordneter im Reichstag die Budgetkommission der Kolonien zum Entsenden von Paläontologen bewegen. Paläontologe Fraas bestätigte den Dinosaurierfund und ließ Knochen ausgraben, manche mit dem Gewicht von 350 Kilo. Nach dem genozidalen Krieg beschwerte sich Sattler, die Gegend sei zu entvölkert, um Träger zu finden (Zahlen s. Tetzlaff 1970: 16); der Hafen lag vier Tagesmärsche vom Tengaduru entfernt. Fraas wertete die ersten Funde vor Ort aus, publizierte die Ergebnisse und konnte zwei neue Dinosaurierarten benennen. Der neue Direktor des Naturkundemuseums Berlin, Wilhelm von Branca, gründete ein »Tengaduru-Komitee« zum Spendensammeln und ließ 1908 eine Expedition ausrüsten (Stoecker 2018a: 33; 2018c: 83). Das deutsche Kolonialreich legte formal großen Wert darauf, Land und Bodenschätze nicht etwa unrechtmäßig geraubt zu haben. Eine koloniale Bürokratie erfand umständliche juristische Konzepte, Prozedere und Formulare, die belegen sollten, wie Land, Rohstoffe und Objekte in deutschen Besitz kamen. Auch für Ausgrabungsorte sollte zum Beispiel eine Kommission aus Kolonialbeamten und Einheimischen nach einer Geländebegehung amtlich attestieren, dass ein Gebiet unbewohnt (›herrenlos‹) und daher für die Deutschen annektierbar sei. Außerdem wurde die Frage, wem Fundstücke wie Fossilien gehörten, durch eine Bestimmung geregelt, die definierte, Fossilien seien im Prinzip auch Steine – sie gehörten also zum Boden, und wenn dieser rechtmäßig annektiert worden sei, könnte man als Eigentümer über die Fossilien verfügen (Stoecker 2018b: 46). Holger Stoecker hat das Vorgehen am Tengaduru von 1908 rekonstruiert und kommt zu dem Schluss, dass das Protokoll der Begehung mit Einheimischen gefälscht sein muss, da diese – die ohnehin als Jumben und Akiden im Dienst der Deutschen standen – teilweise zu alt waren (einer wird auf einem Foto sogar als blind identifiziert), um die angegebenen Tagesmärsche mitgemacht zu haben. Der Ausgrabungsleiter afrikanischen Ausgrabungsleitern), die Formate der Nummerierungen, Listen und Tabellen, die Bürokratisierung der Katalogisierung, Verschickung, sogar der Klassifizierung u.v.m.

175

176

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

Henning berichtete später, man habe einige Anwohner*innen vertreiben müssen – unbewohnt war das Gebiet also auch nicht gewesen. Es überrascht nicht, dass ein Kolonialregime sich mit Gewalt Güter von unterdrückten Menschen aneignet; überraschend ist eher die Umständlichkeit und das Verschleierungsbemühen zur Rechtfertigung des Raubs.

Abb. 3: Einheimische Arbeiter mit Oberschenkel-Knochen von Brachiosaurus brancai (= Giraffatitan brancai), Tendaguru-Expedition 1909–1913.

Quelle: Museum für Naturkunde Berlin, HBSB, Pal. Mus., B IV/4 1.

Zwischen April 1909 und Januar 1913 wurden über 225 Tonnen fossilen Materials nach Berlin verschifft. Jedes Jahr wurden neue Fundstellen auf dem bald 80 Quadratkilometer großen Grabungsgebiet entdeckt (ein Zehntel der Größe Berlins). Hunderte von Menschen aus der Region und aus ferneren Gebieten rodeten, gruben, verzeichneten, jagten und kochten, präparierten, verpackten und transportierten (Heumann/Vennen 2018); 1909 waren es 200, 1911 schon 500 Träger, die Kisten von bis zu 30 kg trugen – Lasttiere wären der Tsetsefliege zum Opfer gefallen. Täglich wurden 50–60 Pakete an die Küste abtransportiert (Vennen 2018a: 57f.). Die Arbeiter waren so wichtig, dass sie unge-

Ulrike Bergermann: Deep Empire

wöhnlicherweise auf vielen Ausgrabungsfotos gezeigt wurden (Abb. 3), die Trägerreihen wurden geradezu ikonisch (ebd.: 60).51 Die Berliner Paläontologen Werner Janensch und Edwin Henning hatten die Aufgabe, die neu zu klassifizierenden Dinosaurierarten zu benennen. Wenn auch nicht für die neuen abstrakten Gattungen, so doch für rund ein Dutzend konkrete Skelette ehrten die beiden afrikanische Grabungsmitarbeiter 1909/1910 durch ›Widmungsnamen‹ (z.B. den Salimosaurus nach dem Grabungsmitarbeiter und Präparator Salim [Vennen 2018d: 237]).52 Aus der afrikanischen Natur der Objekte transformieren die latinisierten Namen sie in die museale Kultur der europäischen Wissenschaft (ebd.: 240f.). Eine Ausstellung in Dar es Salaam kam wegen des Ersten Weltkriegs nicht mehr zustande, die Fossilienfunde wurden nach Berlin transportiert. Dubletten und Abgüsse befinden sich bis heute u.a. in London, Stuttgart, Frankfurt a.M., Hamburg und Kapstadt, aber nicht in Tansania (Heumann/Vennen 2018: 10). In Berlin gab es zu wenig Personal zum Präparieren der zahllosen und stark zersplitterten Knochen (und in den 1920er Jahren litt das ganze Museum an Geldmangel und baulichem Verfall, Vennen 2018c: 171). Die Unzahl von fast schon komisch wirkenden Fotografien, auf denen einzelne Männer schweigend neben einem Knochen stehend in die Kamera blicken, dokumentiert eine Art von fossil-phallischem Glanz, der auf die Museumsmänner übergeht. Im Museum werden Einzelknochen nicht liegend, sondern stets aufrecht montiert ausgestellt (Vennen 2018b: 138). Der eigene Körper wird zur Bezugsgröße der Betrachtung. Noch im Feld liegend zeigte ein Ausgrabungsassistent eine andere Art des Vergleichs (Abb. 4).

51

52

Auf die Forschung zur kolonialen Fotografie kann ich hier nur verweisen, vgl. zuletzt die Studie von Eilane Kurmann zur Aneignung kolonialer Fotografien nach der Unabhängigkeit in Tansania, mit einem Kapitel zum Maji-Maji-Krieg (2023). (Vennen 2018d: 237–239); weitere Benennungen: nach dem Schamben Mahammadi Keranje: Mohammadisaurus, nach Salim Tombali am Ort Mtapaia: Mtapaiasaurus, nach der Ethnie der Wangoni: Wangonisaurus. Der Selimanosaurus wurde 1909 vom Präparatoren Seliman Kawinga ausgegraben; der Salisisaurus wurde unter der Aufsicht von Salesi geborgen usw. Vennen interpretiert diese Praxis als ein Indiz für Anerkennung und Respekt und ein zeitweises Aufbrechen kolonialer Hierarchien, erinnert aber auch an die Benennung eines anderen Dinosauriers nach dem Kriegsverbrecher Lettow-Vorbeck (Vennen 2018d: 246f.). Vgl. dagegen die extrem rassistische Darstellung der Mitarbeiter und der Bevölkerung beim Geologen und Paläontologen Edwin Hennig von der Expedition 1934–37, »[a]uf Saurierjagd im ostafrikanischen Busch« (Hennig 1955).

177

178

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

Abb. 4: Elmer S. Riggs Assistent Menke neben Brachiosaurus altithorax humerus, Januar 1900. Foto von Elmer S. Riggs.

Abb. 5: Museum für Naturkunde Berlin, Skelett Giraffatitan brancai.

Quelle: Field Museum Chicago.

Foto: Axel Mauruszat 2008.

›Entdeckt‹ im Kaiserreich, wurde das später weltweit größte montierte Saurierskelett des Brachiosaurs/Giraffatitan brancai (mit 13,27m Höhe) in der Weimarer Republik präpariert und im NS-Deutschland eingeweiht (ebd.: 14). Knapp 26 Jahre nach Grabungsende wurde es 1937 vor Hakenkreuzfahnen im Lichthof des Naturkundemuseums enthüllt und zum Wahrzeichen des Museums (allerdings von den Nationalsozialisten nicht mehr als Nationalemblem genutzt, da die Interessen weg von Afrika und zur Kolonisierung des Ostens gingen, Heumann/Stoecker/Vennen 2018b: 259). Das als Einheit präsentierte Skelett besteht aus mehreren Teilen, manche sind nachgebildet, manche stammen von anderen Tieren – das ist nicht unüblich, wenn ein Fund aus mehreren geologischen Schichten stammt, wird allerdings in der Wahrnehmung des einen überwältigend großen Wesens ausgeblendet (Heumann/Vennen 2018: 9). Aus der Bombardierung im zweiten Weltkrieg gerettet, restaurierte das nun Ostberliner Museum das Skelett 1953 neu und änderte die Bezeichnung »aus Deutsch-Ostafrika« aus kolonialkritischer Motivation zu

Ulrike Bergermann: Deep Empire

»aus Ostafrika«, was Ina Heumann, Holger Stoecker und Mareike Vennen als Enthistorisierung bezeichnen (Heumann/Stoecker/Vennen 2018: 266). Eine weitere Enthistorisierung praktizierte das Museum im wiedervereinigten Deutschland, indem es 2007 die Dinosaurier in einer naturwissenschaftlichbiologischen Tiefenzeit der Erde vor 150 Millionen Jahren verortete. Ein Diorama zur »Tengaduru-Expedition« stellte daneben den Schauplatz einer Grabung dar – mit Kompass, Karte und Erste-Hilfe-Set als Utensilien einer abenteuerlichen »Dinosaurierjagd« und blendete die Kolonialgeschichte aus (ebd.). Diese Verharmlosungsstrategie besteht weiter neben der zweiten Präsentationsstrategie der Überwältigung (Abb. 5).

4. Verlernen »Jahrmillionen blicken schweigend auf uns nieder«, rief Museumsleiter Branca 1911 unter einem zwei Meter großen aufgestellten Dinosaurierknochen dem Publikum zu, das die Expedition finanzieren sollte. Laut Marco Tamborini wurde mit dieser Aussage die sogenannte Tiefenzeit, die geologische deep time, »vermarktet« (Tamborini 2018b: 130), nachdem diese gerade erst als deep time durch die gerade entstehenden Wissenschaften Geologie und Paläotologie anschaulich gemacht worden war (Noble 2016: 13). Die Zeitkonfigurationen rund um die Dinosaurier widersprechen sich: Der Dinosaurier versetzt den Betrachter in eine Zeitreise, und er holt die Urzeit in die Gegenwart. »[F]ossil hunting is a form of time travel. […]. I listen as this gargantuan animal takes deep draughts of the crisp morning air, and I inhale its musty odor. For a moment, I even become this dinosaur and feel its world. As the feeling subsides and I return to the present day, the experience invites a new, broader perspective of myself as part of the single, unbroken flow of life and energy through deep time.« (Sampson 2009: 6f.) Das sei eine »Reise ins Nichts«, meint Noble, die die räumliche Reise zu den Ausgrabungsstellen zu einer durch die Zeit mache – und in der phantasmatischen, exotisierenden Aneignungsgeste koloniale Einstellungen spiegele: »[T]o travel to this bounded space/time is to find the fossil, map its location, impart privileged knowing in order to place it in a rational order of things, and return home with the valued object. The parallel with colonial subjugation is easy enough to recognize.« (Noble 2016: 48) So wird ein Zeitsprung zwischen

179

180

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

›wilder Vorzeit‹ und ›zivilisierter Gegenwart‹ in einem Zuge heraufbeschworen und vermeintlich übersprungen. Das ist offensichtlich in den populären Romanen und Filmen seit »The Lost World« (1912), und es strukturiert die Formationen von Wissen. Kathryn Yusoff hatte nicht nur auf die Streichung der Kolonialgeschichte in der fossil knowledge hingewiesen, sondern ergänzt: »[T]he rapid accumulation of fossil knowledge emerged through colonial extraction regimes is not considered part of this ancestry« (Yusoff 2019: 8). Sie beschreibt die Funde auch als Objekte, die erst im Kontext von Wissenssystematiken und Spekulationen überhaupt Bedeutung erlangen: »[T]he existence of fossils-objects that have meaning relies on a whole speculative armature of world-making that conjures their presence through incomplete material residues. Fossils, then are understood as empirical knots of time that are without corresponding experience, which operate at the level of classification and speculative fabulation« (ebd.) Denn die Funde lassen sich immer nur ambivalent sehen, sie sind »Schizosaurier« (Mitchell 1998: 145) – sie zeugen für vergangenes Leben, und sie zeugen für den Tod, das Aussterben.53 Yusoff hält das Aussterben für etwas, das im Westen undenkbar ist. Und obwohl sie damit eher auf das Anthropozän und die Undenkbarkeit des Aussterbens der Menschheit anspielt, trifft diese Diagnose dennoch auf die seltsam zeitlosen, gleichzeitig uralten und unsterblichen Dinosaurierfunde zu: »These temporal objects both sediment extinction in realist terms, but also push us to the thought of extinction; a thought that can never quite be fully accommodated in the same realist terms within the contours of Western thought.« (Ebd.) Wer in seinem Fortschrittsnarrativ den Tod eigentlich nicht denken kann – den eigenen Tod jedenfalls –, spricht ihn doch im Ungesagten mit (den kolonialen Morden) und in der Faszination für das Alte an, das kaum datierbar und daher gefühlt ewig oder zeitlos ist. Jody A. Byrd dagegen fragt in »Indigenous Critiques of Colonialism«, ob eine andere Urzeit möglich ist, eine andere Rolle des Kolonialismus im Dinosaurierwissen. »[I]deas of Indians and Indianness have served as the ontological ground« der westlichen Wissenschaft, auch der postkolonialen Theorie, »as a necessary pre-conditional presence within theories of colonialisms and its

53

Heute ist es ironischerweise die Klimakrise, mit befeuert durch die Verbrennung fossiler Stoffe, die dazu führt, dass neue Dinosaurierfunde in ausgetrocktenen Flussbetten gefunden werden. Vgl. April Rubin: »The Latest Find as Water Levels Fall: Dinosaur Tracks in Texas«, in: The New York Times, 24.8.2022, https://www.nytimes.com/2022/0 8/24/science/dinosaur-tracks-texas-drought.html.

Ulrike Bergermann: Deep Empire

›post‹«, und so werden die Indigenen zum »ghost in the constituting machine of empire« (Byrd 2011: xix, xxxiv, xxii). Byrd gehört zur Chickasaw Nation Oklahomas und lehrt Englisch, Gender and Women’s Studies an der Universität Illinois. Sie sieht American Indian Studies/Indigenous Studies als Intervention in die Akademie. »Another mesozoic is possible«, argumentierte auch Noble (2016: 381), da wir unsere Urgeschichte ja selbst geschrieben haben. Wenn man mit Mitchell von den Sioux Nebraskas und Dakotas lernt, die die Dinosaurierknochen als Überbleibsel von Unktehi betrachteten, also von gigantischen Reptilien, die Menschen und Ochsen essen konnten, sieht man die Knochen als Spuren von feindlichen Lebewesen, deren Sterben das Leben der Menschen erst ermöglichte (Mitchell 1988: 131–133). Auch Rieppel (2022) und Mayor (2007) verweisen auf die Lakota-Erzählungen von Unktegila, dem großen Wassermonster, und die Lakota-Führer des berühmten Paläntologen Othniel Daniel Marsh aus Yale.54 Die Sioux wollten sich weder das Land oder die Knochen aneignen noch hatten sie etwas dagegen, die Knochen auszugraben – damit liegen sie quer zu den chronotopischen und heterotopischen Logiken der Europäer*innen (Noble 2016: 64), auch wenn die beschriebenen Knochen im Nachhinein als Anklosaurus identifiziert und damit der westlichen Systematik wieder einverleibt wurden. Adrienne Mayor hat »Fossil Legends of the First Americans« (2007) gesammelt; der von Sioux aufgezogene Lawrence W. Bradley hat die dispossession from Sioux lands nachgezeichnet (2014); und Lukas Rieppel bezog sich in seiner Studie über Ausgrabungen und Kapitalismus auch auf indigene Philosophen der Potawatomi (Kyle Whyte) oder der Lakota (Robin Wall Kimmerer, James LaPointe) (2019, 2022). Ihre Konzepte zyklischer Zeit, eines Verbundenseins von Menschen, Tieren und der Erde über Generationen und Genalogien hinweg sowie von Verantwortung und care liegen quer zu den konzeptuellen Trennungen im Namen der Tiefenzeit und weiterer Fortschrittsnarrative. Aber es geht nicht einmal mehr um eine Heilung der westlichen Moderne und ihrer Spaltungen mit Hilfe derer, die in ihrem Namen als minderwertig klassifiziert worden waren. Die Arbeit des Dekolonisierens geht nicht in eine Zeit ›vor‹ der Kolonisierung, sondern verändert das Jetzt, die Beziehung

54

Marsh gab zu, dass seine Funde sich Hinweisen von Lakota verdankten, und machte sich gleichzeitig lustig über ihren ›Aberglauben‹; Rieppel folgert: »Native American tribes were dispossessed of the deep past as well. To the extent that a scientific conception of prehistory has replaced indigenous cosmologies and earth histories, geology has perpetuated a kind of temporal dispossession as well.« Rieppel 2020: o.S. Vgl. Bradley 2014: 11 et passim.

181

182

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

zur Geschichte und zur Zukunft. Rieppel (2022) schlägt vor, die Forderung einer »Potential History« (Azoulay 2019) auf eine potential prehistory zu beziehen. Ein unlearning imperialism, so Azoulay, erfordert, die historischen Settings, die die aktuellen Ungleichheiten mitbegründet haben, neu zu sehen, ihre Zwangsläufigkeit und Naturalisierung durch andere Möglichkeiten der Geschichte zu verlernen, ihre Protagonist*innen zu Gesprächspartner*innen der Gegenwart zu machen und die linearen Logiken zwischen Vergangenheit und Zukunft anzuhalten. Was wurde unterdrückt, was hätte sein können, wie kann es werden? Die Gewaltförmigkeit in der Geschichte des Wissens und der Praktiken wäre anzuhalten, die Weiterarbeit mit ihr zu verweigern, zu bestreiken, und Wissenschaft müsste in eine Reihe von Übungen (rehearsals) übergehen.55 Diese Übungen erfordern einen neuen Blick auf die koloniale Wissenschaftsgeschichte der Dinosaurier: »Potential history is a form of being with others, both living and dead, across time, against the separation of the past from the present, colonized peoples from their worlds and possessions and history from politics. In this space wherein violence ought to be reversed, different options that were once eliminated are reactivated as a way of slowing the imperial movement of progress.« (Azoulay 2019: 43)

55

Das Anhalten fasst Azoulay in die Figur des shutters, des Auslöseres in der Fotokamera, der die Welt teilt in ein Vorher und Nachher, ein Vor und Hinter der Kamera, als gewaltsame Schnitte in der Welt, die in der Imagination und dann in neuen Praktiken aufzuheben wären. Das Folgende wäre also auch für die Wissens- und Ausgrabungsgeschichte der Dinosaurier zu lesen: »What does it take to attend to the recurrent moment of original violence? It involves rehersals of avoidance, abstention, nonaction, stepping back, and losing ground. One should learn how to withhold alternative interpretations, narratives, or histories to imperial data, how to refrain from relating to them as given objects from the position of a knowing subject. One should reject the rhythm of the shutter that generates endless separations and infinitely missed encounters, seemingly already and completely over. One should unlearn the authority of the shutter to define a chronological order (what and who came first, who was late to arrive) and the organization of social space (what is included and what is not, who can inhabit which position and engage in which role). One should engage with others, with people and objects across the shutter’s divides, as part of an encounter to be simultaneously resumed, regenerated, retrieved, and reinvented. […] It is therefore essential to undo the operation of the shutter in space, time, and the body politic, the three dimensions through which imperial violence operates.« (Azoulay 2019: 8f.)

Ulrike Bergermann: Deep Empire

Diese Bezugnahme auf vergangene Lebewesen unterscheidet sich von dem projizierend-identifikatorischen Blick der Entdecker auf die Skelette, weil sie keine exklusiven Beziehungen stiftet, die gerade die Kontexte der Bezugsfiguren auslöschen, sondern eine Gemeinschaft im Sinn hat, die auf Relationen achtet. Diese potential science hat imaginative Anteile und moralische Aufforderungen, die in der westlichen Wissenschaft noch keinen Ort haben. Sie sind allerdings auch verbunden mit sehr konkreten Forderungen (Aufrufe zum Streik der Fotograf*innen, Museumsarbeiter*innen u.v.a.). Und es wird auch sehr konkret darum gehen, die prähistorischen Funde nicht mehr im Globalen Norden zu horten, Forschungskooperationen einzugehen und für die Rückgabe und Verteilung von Materialien und Wissensressourcen zu sorgen, wie indigene Forscher*innen jetzt immer dezidierter fordern (Raja et al. 2022; Paleontologists Aganist Sytematic Racism u.a.).56 Was die Wangoni oder andere lokale Gemeinschaften am Tengaduru unter den Knochen verstanden, wäre ebenfalls zu fragen. Das gehört zu den Möglichkeitsbedingungen eines anderen Zeitdenkens, einer Tiefenzeit, die nicht mehr mit dem Blick auf die Dinosaurierknochen die der Ermordeten ausblendet. Eines ausgegrabenen, neu bestimmten und umzulernenden deep empire.

Literatur Ashe, Stephen D. (2021): »Racial Capitalism«, in: Global Social Theory, htt ps://globalsocialtheory.org/topics/racial-capitalism/, zuletzt geprüft am 13.04.2022.

56

Im Februar 2022 erschien eine Studie der Universität Erlangen in Kooperation mit Forscher*innen aus Südafrika, Brasilien, Indien und Cambridge mit dem Titel »Colonial history and global economics distort our understanding of deep-time biodiversity« (Raja et al. 2022) mit dem Ergebnis: 97 % aller Forschung zur Biodiversität der Tiefenzeit findet im Globalen Norden statt. Die Autor*innen sprechen von anhaltendem »scientific colonialism«. Schon Bradley (2014) hatte darauf verwiesen, dass die Disziplin der Paläontologie ohne den Raub von Fossilien gar nicht hätte entstehen können. Die internationale Gruppe »Palaeontologists against Systematic Racism« kritisierte in ihrem Online-Forum mit dem Titel »Bias, Discrimination and Decolonising Palaeontology« mit über 200 weltweit Teilnehmenden am 3. März 2022 ebenfalls die Konzentration der paläontologischen Forschungsobjekte im globalen Norden und forderte, dass nicht mehr nur weiße Forscher*innen ohne lokale Kooperationen weltweit forschen, ausgraben und die Funde mitnehmen.

183

184

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

Azoulay, Ariella Aisha (2019): Potential History. Unlearning Imperialism, London/ New York: Verso. Bakker, Robert T. (1986): The Dinosaur Heresies. New Theories Unlocking the Mystery of the Dinosaurs and Their Extinction, New York: William Morrow & Co. Becker, Felicitas (2005a): »Von der Feldschlacht zum Guerillakrieg. Der Verlauf des Krieges und seine Schauplätze«, in: Felicitas Becker, Jigal Beez (Hg.): Der Maji-Maji-Krieg in Deutsch-Ostafrika 1905 – 1907, Berlin: Christoph Links Verlag, S. 74–85. Becker, Felicitas (2005b): »Südost-Tansania nach dem Maji-Maji-Krieg. Unterentwicklung als Kriegsfolge?«, in: Felicitas Becker, Jigal Beez (Hg.): Der Maji-Maji-Krieg in Deutsch-Ostafrika 1905 – 1907, Berlin: Christoph Links Verlag, S. 184–195. Becker, Felicitas/Beez, Jigal (2005): »Ein nahezu vergessener Krieg. Vorwort«, in: Felicitas Becker, Jigal Beez (Hg.): Der Maji-Maji-Krieg in Deutsch-Ostafrika 1905 – 1907, Berlin: Christoph Links Verlag, S. 11–15. Becker, Felicitas; Beez, Jigal (Hg.) (2005): Der Maji-Maji-Krieg in Deutsch-Ostafrika 1905 – 1907, Berlin: Christoph Links Verlag. Beez, Jigal (2005): »Mit Wasser gegen Gewehre. Die Maji-Maji-Botschaft des Propheten Kinjikitile«, in: Felicitas Becker, Jigal Beez (Hg.): Der Maji-Maji-Krieg in Deutsch-Ostafrika 1905 – 1907, Berlin: Christoph Links Verlag, S. 61–73. Bradley, Lawrence W. (2014): Dinosaurs and Indians: Paleontology Resource Dispossession from Sioux Lands, Parker, Colorado: Outskirts Press. Bührer, Tanja (2011): Die Kaiserliche Schutztruppe für Deutsch-Ostafrika. Koloniale Sicherheitspolitik und transkulturelle Kriegsführung 1885 bis 1918, München: Oldenbourg Verlag. Burroughs, Edgar Rice (1918): The Land That Time Forgot, New York: Ace Books. Byrd, Jody A. (2011): The Transit of Empire: Indigenous Critiques of Colonialism, Minneapolis, MN: The University of Minnesota Press. Cadbury, Deborah (2011): Dinosaurierjäger. Der Wettlauf um die Erforschung der prähistorischen Welt, Reinbek: Rowohlt. Dingus, Lowell; Norell, Mark A. (2010): Barnum Brown. The Man Who Discovered Tyrannosaurs Rex, Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press. Doyle, Arthur Conan (1912): The Lost World, London: Hodder & Stoughton. Dworsky, Alexis (2011): Dinosaurier! Die Kulturgeschichte, München: Fink. Elbein, Asher (2021): »Decolonizing the Hunt for Dinosaurs and Other Fossils«, in: The New York Times vom 22.3.2021, https://www.nytimes.com/2

Ulrike Bergermann: Deep Empire

021/03/22/science/dinosaurs-fossils-colonialism.html, zuletzt geprüft am 13.04.2022. Hanke, Christine (2010): »Walking with Gertie. Eine Skizze zum spektakulären Bild«, in: Christine Hanke (Hg.): Texte – Zahlen – Bilder. Realitätseffekte und Spektakel, Bremen: thealit, S. 203–211. Hanke, Christine (2011): »Kino der Effekte – Überlegungen zum Status des spektakulären Bildes«, in: Jan Distelmeyer, Lisa Andergassen, Nora Johanna Werdich (Hg.): Raumdeutung. Zur Wiederkehr des 3D-Effekts im Film, Bielefeld: transcript, S. 96–115. Häntzschel, Jörg (2020): »Ein Saurier und die Folgen«, in: Süddeutsche Zeitung vom 5.2.2020, https://www.sueddeutsche.de/kultur/tansania-dinosaurie r-rueckgabe-1.4785538, zuletzt geprüft am 13.04.2022. Haraway, Donna (1984/85): »Teddy Bear Patriarchy. Taxidermy in the Garden of Eden, New York City, 1908–1936«, in: Social Text 5, S. 20–64. Harding, Sandra (Hg.) (2011): The Postcolonial Science and Technology Studies Reader, Durham/London: Duke University Press. Heideking, Jürgen; Mauch, Christof (2008): Geschichte der USA, Tübingen: UTB Francke. Hennig, Edwin (1955): Gewesene Welten. Auf Saurierjagd im ostafrikanischen Busch, Rüschlikon: Albert Müller Verlag. Heumann, Ina; Stoecker, Holger; Tamborini, Marco; Vennen, Mareike (Hg.) (2018): Dinosaurier Fragmente. Zur Geschichte der Tengaduru-Expedition und ihrer Objekte 1906–2018, Göttingen: Wallstein. Heumann, Ina; Stoecker, Holger; Vennen, Mareike (2018): »Dinosaurier und Provenienz. Konjunkturen des Kolonialen, 1909–2018«, in: Ina Heumann, Holger Stoecker; Marco Tamborini; Mareike Vennen (Hg.): Dinosaurier Fragmente. Zur Geschichte der Tengaduru-Expedition und ihrer Objekte 1906–2018, Göttingen: Wallstein, S. 254–274. Heumann, Ina; Vennen, Mareike (2018): »Fragmentieren. Dinosaurier und Geschichte«, in: Ina Heumann, Holger Stoecker, Marco Tamborini, Mareike Vennen (Hg.): Dinosaurier Fragmente. Zur Geschichte der Tengaduru-Expedition und ihrer Objekte 1906–2018, Göttingen: Wallstein, S. 6–21. Humboldt Lab Tanzania (2018): Objekte aus den Kolonialkriegen im Ethnologischen Museum Berlin, Berlin: Reimer. Iliffe, John (1969): Tanganyika under German Rule, 1905–1912, Cambridge: Cambridge University Press. Iliffe, John (1979): A Modern History of Tanganyika, Cambridge: Cambridge University Press.

185

186

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

Klein-Arendt, Reinhard (2005): »Ein Land wird gewaltsam in Besitz genommen. Die Kolonie Deutsch-Ostafrika«, in: Felicitas Becker, Jigal Beez (Hg.): Der Maji-Maji-Krieg in Deutsch-Ostafrika 1905 – 1907, Berlin: Christoph Links Verlag, S. 28–48. Kurmann, Eliane (2023): Fotogeschichten und Geschichtsbilder. Aneignung und Umdeutung historischer Fotografien in Tansania, Frankfurt a.M./New York: Campus. Kwasny, Carmen (2021): »›Ich wollte Indianerhäuptling werden. Die ›unreflektierten Kindheitserinnerungen‹ einer deutschen Politikerin«, https:/ /www.naaog.de/Deutsch-German/Indianer-Politische-Korrektheit/Dar f-man-noch-Indianerhaeuptling-sagen/index.php/, zuletzt geprüft am 13.04.2022. Lyell, Charles (1845): Principles of Geology, London: John Murray. Majura, Isaak (2005): »Die Schuldfrage. Das deutsch-tansanische Verhältnis 100 Jahre nach dem Maji-Maji-Krieg«, in: Felicitas Becker, Jigal Beez (Hg.): Der Maji-Maji-Krieg in Deutsch-Ostafrika 1905 – 1907, Berlin: Christoph Links Verlag, S. 201–205. Masebo, Oswald (2018): »Objekte des Widerstands gegen die deutsche Kolonialherrschaft im Südosten Tansanias, 1890–1907«, in: Humboldt Lab Tanzania: Objekte aus den Kolonialkriegen im Ethnologischen Museum Berlin, Berlin: Reimer, S. 222–265. Mayor, Adrienne (2007): Fossil Legends of the First Americans, Princeton: Princeton University Press. Mcgowan, Christopher (2001): The Dragon Seekers. How An Extraordinary Circle Of Fossilists Discovered The Dinosaurs and Paved The Way For Darwin, Cambridge, Mass.: Perseus. Mitchell, William (1998): The Last Dinosaur Book. The Life and Times of a Cultural Icon, Chicago/London: The University of Chicago Press. Noble, Brian (2016): Articulating Dinosaurs. A Political Anthropology, Toronto/ Buffalo/London: University of Toronto Press. Noffke, Oliver (2020): »Der Knochenberg«, in: rbb24 vom 16.02.2020, https ://www.rbb24.de/kultur/beitrag/2020/02/kolonialzeit-tendaguru-berli n-naturkundemuseum-dinosaurier-tansania.html, zuletzt geprüft am 13.04.2022. Perdue, Theda; Green, Michael D. (2013): Die Indianer Nordamerikas, Stuttgart/ Leipzig: Reclam. Raja, Nussaïbah B.; Dunne, Emma M.; Matiwane, Aviwe; Ming Khan, Tasnuva; Nätscher, Paulina S.; Ghilardi, Aline M.; Chattopadhyay, Devapriya (2022):

Ulrike Bergermann: Deep Empire

»Colonial history and global economics distort our understanding of deeptime biodiversity«, in: Nature Ecology & Evolution 6, S. 145–154. Rieppel, Lucas (2012): »Bringing Dinosaurs Back to Life. Exhibiting Prehistory at the American Museum of Natural History«, in: Isis 103(3), S. 460–490. Rieppel, Lukas (2019): Assembling the Dinosaur: Fossil Hunters, Tycoons, and the Making of a Spectacle, Harvard: Harvard University Press. Rieppel, Lukas (2022): »Potential Prehistory«, in: Verso Books vom 02.03.2022, https://www.versobooks.com/blogs/5266-potential-prehistory, zuletzt geprüft am 13.04.2022. Rudwick, Martin J. S. (2005): Bursting the Limits of Time. The Reconstruction of Geohistory in the Age of Revolution, Chicago/London: The University of Chicago Press. Sampson, Scott D. (2009): Dinosaur Odyssey. Fossil Threads in the Web of Life, Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press. Secord, James A. (2004): »Monsters at the Crystal Palace«, in: Soraya de Chadarevian, Nick Hopwod (Hg.): Models. The Third Dimension of Science, Stanford, CA: Stanford University Press, S. 138–169. Seeberg, Karl-Martin (1989): Der Maji-Maji-Krieg gegen die deutsche Kolonialherrschaft, Berlin: Reimer. Semonin, Paul (1997): »Empire and Extinction. The Dinosaur as a Metaphor for Dominance in Prehistoric Nature«, in: Leonardo 30(3), S. 171–182. Seth, Suman (2017): »Colonial History and Postcolonial Science Studies«, in: Radical History Review 127, S. 63–85. Seth, Suman (2017): »Putting Knowledge into Place. Science, Colonialism, and the Postcolonial«, in: Postcolonial Studies 12(4), S. 373–388. Sommer, Marianne (2011): »Serielle Inszenierung. Die Osborn-Knight Restaurationen der Evolutionsgeschichte«, in: Stefanie Samida (Hg.): Inszenierte Wissenschaft. Zur Popularisierung von Wissen im 19. Jahrhundert, Bielefeld: transcript, S. 129–156. Spencer, Larry T. (2020): »Digging Up the Dinosaurs«, in: Choice 58(1), o.S. Stoecker, Holger (2018a): »Maji-Maji-Krieg und Mineralien. Zur Vorgeschichte der Ausgrabung von Dinosaurier-Fossilien am Tengaduru in DeutschOstafrika«, in: Ina Heumann, Holger Stoecker, Marco Tamborini, Mareike Vennen (Hg.): Dinosaurier Fragmente. Zur Geschichte der Tengaduru-Expedition und ihrer Objekte 1906–2018, Göttingen: Wallstein, S. 25–37. Stoecker, Holger (2018b): »Koloniales Kronland und Ausfuhrverbot. Wie die Fossilienfunde für die deutsche Wissenschaft gesichert wurden«, in: Ina Heumann, Holger Stoecker, Marco Tamborini, Mareike Vennen (Hg.): Di-

187

188

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

nosaurier Fragmente. Zur Geschichte der Tengaduru-Expedition und ihrer Objekte 1906–2018, Göttingen: Wallstein, S. 38–55. Stoecker, Holger (2018c): »Über Spenden und Sponsoren. Zur Finanzierung der ›Deutschen Tengaduru-Expedition‹«, in: Ina Heumann, Holger Stoecker, Marco Tamborini, Mareike Vennen (Hg.): Dinosaurier Fragmente. Zur Geschichte der Tengaduru-Expedition und ihrer Objekte 1906–2018, Göttingen: Wallstein, S. 78–93. Tamborini, Marco (2018a): »Die Vermarktung der Tiefenzeit. Paläontologie im Umbruch«, in: Ina Heumann, Holger Stoecker, Marco Tamborini, Mareike Vennen (Hg.): Dinosaurier Fragmente. Zur Geschichte der Tengaduru-Expedition und ihrer Objekte 1906–2018, Göttingen: Wallstein, S. 125–135. Tamborini, Marco (2018b): »Knochencollagen. Medien der Tiefenzeit«, in: Ina Heumann, Holger Stoecker, Marco Tamborini, Mareike Vennen (Hg.): Dinosaurier Fragmente. Zur Geschichte der Tengaduru-Expedition und ihrer Objekte 1906–2018, Göttingen: Wallstein, S. 192–207. Taussig, Michael (1997): Mimesis und Alterität. Eine eigenwillige Geschichte der Sinne, Hamburg: EVA. Terrall, Mary (2011): »Heroic Narratives of Quest and Discovery«, in: Sandra Harding (Hg.): The Postcolonial Science and Technology Studies Reader, Durham/ London: Duke University Press, S. 84–101. Tetzlaff, Rainer (1970): Koloniale Entwicklung und Ausbeutung. Wirtschafts- und Sozialgeschichte Deutsch-Ostafrikas 1885–1914, Berlin: Duncker & Humblot. Vennen, Mareike (2018a): »Arbeitsbilder – Bilderarbeit. Die Herstellung und Zirkulation von Fotografien der Tengaduru-Expedition«, in: Ina Heumann, Holger Stoecker, Marco Tamborini, Mareike Vennen (Hg.): Dinosaurier Fragmente. Zur Geschichte der Tengaduru-Expedition und ihrer Objekte 1906–2018, Göttingen: Wallstein, S. 56–75. Vennen, Mareike (2018b): »Wer hat den Größten? Zur Verwertung und Verteilung der ersten Tengaduru-Exponate«, in: Ina Heumann, Holger Stoecker, Marco Tamborini, Mareike Vennen (Hg.): Dinosaurier Fragmente. Zur Geschichte der Tengaduru-Expedition und ihrer Objekte 1906–2018, Göttingen: Wallstein, S. 136–163. Vennen, Mareike (2018c): »Dinosaurier in Berlin. Transformationen im Berliner Museum für Naturkunde, 1909–1937«, in: Ina Heumann, Holger Stoecker, Marco Tamborini, Mareike Vennen (Hg.): Dinosaurier Fragmente. Zur Geschichte der Tengaduru-Expedition und ihrer Objekte 1906–2018, Göttingen: Wallstein, S. 166–190.

Ulrike Bergermann: Deep Empire

Vennen, Mareike (2018d): »Auf Dinosaurierjagd. Wissenschaft, Museum und Unterhaltungsindustrie«, in: Ina Heumann, Holger Stoecker, Marco Tamborini, Mareike Vennen (Hg.): Dinosaurier Fragmente. Zur Geschichte der Tengaduru-Expedition und ihrer Objekte 1906–2018, Göttingen: Wallstein, S. 208–229. Wimmelbücker, Ludger (2005): »Verbrannte Erde. Zu den Bevölkerungsverlusten als Folge des Maji-Maji-Krieges«, in: Felicitas Becker, Jigal Beez (Hg.): Der Maji-Maji-Krieg in Deutsch-Ostafrika 1905 – 1907, Berlin: Christoph Links Verlag, S. 87–99. Yusoff, Kathryn (2018): A Billion Black Anthropocenes or None, Minneapolis: University of Minnesota Press. Yusoff, Kathryn (2019): »Geologic Realism. On the Beach of Geologic Time«, in: Social Text 37(1), S. 1–26. Zimmerer, Jürgen (Hg.) (2013): Kein Platz an der Sonne. Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte, Frankfurt a.M./New York: Campus.

189

Postkoloniale Perspektiven in der Geographiedidaktik Philippe Kersting & Birte Schröder Peut-on ne pas être postcolonial?… surtout quand on est géographe.1 (Ripoll 2006)

1. Einleitung »Die postkoloniale Situation ist eine historische, politische, kulturelle und soziale Realität«2 (Smouts 2007: 28), die auch Schule und Unterricht in vielerlei Hinsicht prägt. Die kritische Analyse dieser Situation ist Gegenstand der postcolonial studies. Doch obwohl Michel Foucaults Hinweis auf einen Wissen-Macht-Nexus (Foucault 1976) einen zentralen Bestandteil postkolonialer Theorien darstellt, findet eine Auseinandersetzung mit den Themen der schulischen Bildung und speziell der Geographiedidaktik im weiten Feld der postcolonial studies bislang kaum statt. Nach einem einleitenden Überblick über Bedeutung und Potenziale postkolonialer Perspektiven in der Geographiedidaktik stellen wir einen Fragepool vor, der es ermöglichen soll, den Geographieunterricht aus postkolonialer Perspektive zu reflektieren und zu gestalten. Den postkolonialen Fragepool haben wir zusammen mit Inken Carstensen-Egwuom im Zuge einer Zusammenarbeit mit einem Schulbuchverlag entwickelt und seither mehrfach in unterschiedlichen Kontexten erprobt. Die Zusammenarbeit entstand, nachdem wir im Jahr 2017 gemeinsam mit

1 2

Kann man nicht postkolonial sein?… vor allem, wenn man Geograph*in ist. (Übers. d. A.) Originalzitat: »La situation postcoloniale est une réalité historique, politique, culturelle et sociale.«

192

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

verschiedenen Akteur*innen aus Zivilgesellschaft, Schule und Wissenschaft einen Brief an den Ernst Klett Verlag gerichtet hatten. Darin haben wir mit Bezug auf postkoloniale Perspektiven Kritik an dem Infoblatt »Kulturerdteil Schwarzafrika« geäußert. Der Schulbuchverlag entfernte daraufhin das betreffende Infoblatt von seiner Internetseite und überarbeitete die dort ebenfalls veröffentlichten generellen Informationen zum Konzept der »Kulturerdteile«. Zudem wurden wir eingeladen, gemeinsam mit Redakteur*innen aus den Bereichen Geographie und Gesellschaftswissenschaften einen Workshop zu Afrikabildern im Schulbuch durchzuführen. Hierfür haben wir den »postkolonialen Fragepool« entwickelt. Im Zuge der produktiven Zusammenarbeit mit dem Schulbuchverlag haben wir den Fragepool seither u.a. bei Lektoraten von Geographieschulbüchern eingesetzt, bei der Beratung von Teams bestehend aus Redakteur*innen und Autor*innen während des Prozesses der Schulbucherstellung sowie in der eigenen Tätigkeit als Schulbuchautor*innen. Im vorliegenden Beitrag wenden wir den Fragepool auf eine Schulbuchdoppelseite an, um beispielhaft Erkenntnismöglichkeiten und Grenzen der Arbeit mit diesen Fragen zu beleuchten.

2. Postkoloniale Theorien und Geographiedidaktik Während postkoloniale Theorien allmählich Eingang in die Humangeographie erhalten haben, kommen sie in der deutschsprachigen Geographiedidaktik kaum vor. In den Standardlehrwerken der Geographiedidaktik werden postkoloniale Theorien höchstens am Rande kurz namentlich erwähnt, wie beispielsweise im Rahmen der Darstellung des Kulturverständnisses konstruktivistischer Geographien (Rolfes/Uhlenwinkel 2013: 377). Auch in den fachdidaktischen Zeitschriften finden sich nur vereinzelt explizite Bezüge zu postkolonialen Theorien (z.B. bei Eberth 2020; Schröder 2016).3 Texte, 3

Explizite Referenzen auf Postkolonialität in der deutschsprachigen geographiedidaktischen Diskussion sind uns weiterhin außerhalb von geographiedidaktischen Fachzeitschriften in der Dissertation von Schwarze (2020), in einem Beitrag von Lippert/Mönter (2021) in der Zeitschrift für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften sowie in aktuellen Publikationen in (interdisziplinären) Sammelbänden bekannt (Vennemann/Eberth 2021; Dickel/Lehmann 2020). Daneben im Beitrag von Schröder/Carstensen-Egwuom (2020) im interdisziplinären Sammelband »Rassismuskritische Fachdidaktiken« oder im Beitrag von Schröder/Kübler (2023). Explizit im Titel referieren ein Aufsatz von Eberth/ Röll (2021) sowie ein Aufsatz von Vielhaber (2005) auf postkoloniale Theorien, die der

Philippe Kersting & Birte Schröder: Postkoloniale Perspektiven in der Geographiedidaktik

die typisch postkoloniale Themen wie Rassismus, Afrikabilder oder Migration/Integration behandeln (bspw. Mönter/Schiffer-Nasserie 2007; Schwarze 2020; Schrüfer/Obermaier/Schwarze 2016; Eberth 2019; Segbers/Eberth 2017; Golser et al. 2019; Hintermann 2010; Budke 2004), kommen häufiger vor, doch beziehen sich diese Texte nur in Ausnahmefällen explizit auf postkoloniale Theorien. Poststrukturalismus und Methoden der Dekonstruktion – beides wichtige Bezüge postkolonialer Theorien – werden zwar in geographiedidaktischen Texten stellenweise erwähnt (bspw. Reinfried/Haubrich 2015: 46; Mönter 2013: 94; Budke 2006), doch auch hier fehlt ein ausgearbeiteter Bezug zu postkolonialen Theorien weitgehend. Die Geographiedidaktik verfügt somit über so gut wie keine Werkzeuge, um die »postkoloniale Situation« (Smouts 2007) adäquat erfassen und reflektieren zu können. Dies steht auch in einem eklatanten Widerspruch zur Tatsache, dass zahlreiche Folgeerscheinungen des Kolonialismus im Laufe der letzten Jahre zu »epochaltypischen Schlüsselproblemen« (Klafki 1996) mit großer Gegenwarts- und Zukunftsbedeutung avanciert sind, tagtäglich medial vermittelt werden und die Alltagswelt der Lernenden prägen. Dabei deckt die Schulgeographie durchaus »in ihren Inhaltskatalogen eine Reihe von Klafkis Schlüsselproblemen ab: Nord-Süd-Konflikt, Teufelskreis der Armut, Zentrum-Peripheriestrukturen, Entwicklungsfragen und globale Disparitäten sind bereits seit Jahrzehnten fest in den schulgeographischen Vermittlungsüberlegungen verankert und praktisch in den Lehrplaninhalten fast aller Schulstufen des Sekundarstufenbereiches zu finden« (Vielhaber 2005: 73). Die problemlösungsorientierte Schulgeographie widmet sich also durchaus den relevanten Fragen und Problemstellungen der »postkolonialen Situation«. Bereits 2005 hat Vielhaber für den Schulunterricht in Österreich bemängelt, dass die Ausblendung postkolonialer Theorien in der Schulgeographie in einem bemerkenswerten Gegensatz dazu steht, dass seit Mitte der 1980er Jahre entwicklungspolitische Themen und postkoloniale Verhältnisse mit dem Ziel kritischer Reflexionsfähigkeit als Problemstellungen in den Lehrplänen fest verankert sind (ebd.). Im Anschluss an Vielhaber (2005: 82) lässt sich daher feststellen, dass der Geographiedidaktik das theoretische Fundament

ZEP – Zeitschrift für internationale Bildungsforschung und Entwicklungspädagogik und im Journal für Entwicklungspolitik erschienen sind.

193

194

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

fehlt, um postkoloniale Fragestellungen und Perspektiven zu entwickeln. Die Analyse Vielhabers ist leider bis heute gültig und kann auch auf den bundesdeutschen Kontext bezogen werden. Unser Text soll dazu beizutragen, diese Widersprüche abzubauen. Um dies zu erreichen, möchten wir mit dem Fragepool unterschiedliche Werkzeuge aus dem Werkzeugkasten der postkolonialen Theorien vorstellen, die auch für die geographiedidaktische Reflexion der »postkolonialen Situation« hilfreich sein können. Denn für die Thematisierung der epochaltypischen Schlüsselprobleme brauchen Lehrende und Schüler*innen adäquates theoretisches Handwerkszeug.

3. Potenziale und Anknüpfungsmöglichkeiten an reflexive geographiedidaktische Konzepte Postkoloniale Perspektiven können für den Geographieunterricht nicht nur notwendiges theoretisches Handwerkszeug anbieten. Sie lassen sich auch mit dem Anspruch einer reflexiven Geographiedidaktik gut verbinden. So gehört es »zu den Zielen einer reflexiven Geographiedidaktik […], Schüler*innen unterschiedliche Raumkonzepte zu vermitteln und dadurch zu einem reflektierten Blick auf die eigenen Wahrnehmungen von und Verflechtungen mit dem ›Anderen‹ zu kommen« (Schröder/Carstensen-Egwuom 2020: 351). Geographieunterricht prägt bei Schüler*innen konkrete Vorstellungen von der Welt (Carstensen-Egwuom 2019; Marmer 2013; Schrüfer 2012; Zimmermann 2017; Schwarze 2020). Diese Muster der Betrachtung von Welt werden in postkolonialen und poststrukturalistischen Ansätzen in der Geographie als imaginative Geographien bezeichnet. Imaginative Geographien verstehen wir im Anschluss an Husseini de Araújo (2011: 60) »als machtvolle diskursive Konstruktionen von Räumen […], die in sich heterogen, widersprüchlich und veränderbar sind«, da sie Gegenstand gesellschaftlicher Auseinandersetzungen sind. Imaginative Geographien von Afrika, die in der deutschen Gesellschaft zum Beispiel in den Medien, auf Spendenplakaten oder auch in Schulbüchern zirkulieren, funktionieren häufig entlang einer dichotomen Struktur, in der Afrika als »das Andere« in Abgrenzung zu Europa konstruiert und untergeordnet positioniert wird (Hoffmann/Kersting 2011: 48; Reuber 2012: 191–192). Werden diese einseitigen hegemonialen imaginativen Geographien im Geographieunterricht unhinterfragt reproduziert, dann aktualisiert, festigt und legitimiert der Unterricht diese Konstruktionen. Dies ist

Philippe Kersting & Birte Schröder: Postkoloniale Perspektiven in der Geographiedidaktik

nicht nur aus postkolonialer Perspektive problematisch, sondern steht auch dem Anspruch entgegen, im Unterricht Mehrperspektivität zu ermöglichen. Die geographiedidaktischen Raumkonzepte (Arbeitsgruppe Curriculum 2000+ der DGfG 2002: 8) ermöglichen es, die machtvolle (Re-)Produktion von Raumkonstruktionen zu thematisieren und zu reflektieren. Besonders die Thematisierung einer »Ordnung der Blicke« (Raum als Kategorie der Wahrnehmung und Raum als Konstrukt; s. Hoffmann 2011: 13) ermöglicht es, mit Schüler*innen über die eigene Perspektive, den Blick auf die Welt und die Herstellung von Bildern über die Welt zu reflektieren. Diesen können dann bewusst vielfältige und nicht-hegemoniale imaginative Geographien zur Seite gestellt werden (Schröder/Carstensen-Egwuom 2020: 352). Einen solchen Ansatz der relationalen Unterscheidung verfolgt auch der geographiedidaktische Ansatz der »Geographien der Unterscheidung« von Rhode-Jüchtern (2004: 63). Es geht dabei darum, dichotomisierende Unterscheidungen aufzubrechen, indem sie vervielfältigt werden. Dies kann beispielsweise dadurch geschehen, dass Differenzen innerhalb von Gesellschaften in den Blick gerückt werden, die durch die hegemonialen dichotomen Unterscheidungen verdeckt wurden. Rhode-Jüchtern (2004: 63) schreibt dazu: »Das Unterscheiden verschiedener Aspekte und Perspektiven gibt der Sache selbst und der Beobachtung der Sache ihre Würde«. Über den Aspekt der Reflexion und Vervielfältigung von Raumkonstruktionen hinaus lassen sich postkoloniale Perspektiven ebenso mit dem bildungstheoretischen und schulgeographischen Anspruch kritisch-emanzipatorischen Lernens verbinden. Denn geographische Schulbildung orientiert sich laut der Fachgesellschaft Deutsche Gesellschaft für Geographie (DGfG) an den normativen Leitbildern von globaler Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit (DGfG 2020). Schüler*innen sollen für globale Verflechtungen im kulturellen, sozialen, wirtschaftlichen und politischen Bereich sensibilisiert und in die Lage versetzt werden, entsprechend dieser Leitbilder zu handeln und gesellschaftliche Entwicklungen mitzugestalten. In den Bildungsstandards der Fachgesellschaft wird zudem der Anspruch formuliert, dass das Unterrichtsfach Geographie »zur Erreichung der Sustainable Development Goals (SDGs) der Agenda 2030« beiträgt (Deutsche Gesellschaft für Geographie (DGfG) 2020: 7). Dabei wird auf den neuen globalen UNESCO-Orientierungsrahmen zur Bildung für nachhaltige Entwicklung »ESD for 2030« (Umsetzungszeitraum 2020–2030) verwiesen, der darauf abzielt, eine gerechtere und nachhaltige Welt zu gestalten und u.a. das Empowerment von Jugendlichen in den Fokus stellt (UNESCO 2019). Gerade der Anspruch der Herstellung von

195

196

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

globaler Gerechtigkeit benötigt – im Sinne von kognitiver Gerechtigkeit – eine Herangehensweise, die eurozentrische Perspektiven dezentriert. Dies kann durch den Einbezug verschiedener postkolonialer Perspektiven ermöglicht werden.

4. Fragepool für eine postkoloniale Reflexion des Geographieunterrichts Im Zuge der Auseinandersetzung mit Konstruktionen von Afrika in Unterrichtsmaterialien für den schulischen Geographieunterricht haben wir einen postkolonialen Fragepool entwickelt, den wir im Folgenden vorstellen. Mit dem Fragepool gehen wir über ein Verständnis von Postkolonialität im Sinne der sogenannten holy trinity4 der zentralen drei Referenzautor*innen Gayatri Spivak, Edward Said und Homi Bhabha hinaus und beziehen uns auf ein breiteres Spektrum kolonialismuskritischer Ansätze. Wir haben uns an bestehenden Fragelisten orientiert (Autor*innenKollektiv Rassismuskritischer Leitfaden 2015; Berliner Entwicklungspolitischer Ratschlag e.V. (BER) 2013; Andreotti 2012; Danielzik/Kiesel/Bendix 2013). Diese haben wir für die Unterrichtsgegenstände des Geographieunterrichts – beispielsweise durch Heranziehen von Überlegungen aus der postkolonialen Politischen Ökologie (u.a. Bauriedl 2016) – angepasst, da es für diesen spezifischen Kontext bislang keinen Fragepool gab.5 Die in unterschiedlichen Kontexten erprobte Liste an Fragen soll (zukünftige) Lehrende dazu anregen, Lernmaterialien, Interaktionen und Unterrichtssettings aus postkolonialen Perspektiven zu

4

5

Gayatri Spivak, Edward Said und Homi Bhabha gelten weithin als die berühmtesten Vertreter*innen postkolonialer Theorien. Eines der deutschsprachigen Standardwerke zur Einführung in »Postkoloniale Theorie« (Castro Varela/Dhawan 2015) konzentriert sich beispielsweise auf diese drei Referenzautor*innen und unterstreicht die weit reichende Bedeutung der Beiträge von Spivak, Said und Bhabha zur Rekonzeptionalisierung der Beziehung von Nation, Kultur und Ethnizität (vgl. ebd.: 18). Inzwischen hat auch Delfs in ihrer unveröffentlichten Masterarbeit »Rassismuskritischer Geographieunterricht« (2020) eine Impulsliste für (Geographie-)Lehrer*innen auf der Grundlage rassismuskritischer Perspektiven vorgelegt. Diese enthält Reflexionsimpulse zum eigenen rassismustheoretischen Wissen, zu eigenen Denk- und Handlungsweisen sowie zu Didaktik, Material und Methoden. Den Fragepool, den wir in diesem Beitrag vorstellen, haben wir auch Delfs für ihre Masterarbeit zur Verfügung gestellt.

Philippe Kersting & Birte Schröder: Postkoloniale Perspektiven in der Geographiedidaktik

planen, durchzuführen und zu reflektieren. Zudem sollen Lehrende in die Lage versetzt werden zu überprüfen, inwiefern ihre Materialien geeignet sind, das Prinzip der postkolonialen Multiperspektivität einzulösen und einseitige, eurozentrische imaginative Geographien Afrikas zu vermeiden bzw. zu vervielfältigen (vgl. Adichie 2009). Aufgrund der Forschungsschwerpunkte der Autor*innen sind die Fragen afrikabezogen. Die Analysekategorien können aber auch aus diesem räumlichen Fokus gelöst werden, indem die einzelnen Fragen an den räumlichen und situativen Kontext angepasst werden. Uns ist wichtig, dass der Fragepool keineswegs als ein abhakbarer Standardkatalog gelesen und genutzt werden sollte. Der Fragepool soll nicht vorgeben, wie bzw. was zu denken ist, sondern selbstständiges Denken anregen.

Fragepool – Einige Kategorien zur postkolonialen Reflexion des Geographieunterrichts Unmarkierte weiße Norm • Werden weiße Europäer*innen mit »den Menschen« gleichgesetzt und als universelle Norm gedacht? • Liegt ein teleologisches Entwicklungsverständnis nach westlichem Vorbild vor (Sprachliche Marker: ›noch‹, ›bereits‹, ›bis heute‹, ›schon‹…)? Diskursmacht (Sprach- und Bildmacht) und asymmetrisches Wissen • Werden Quellen von afrikanischen oder afro-diasporischen Autor*innen, Künstler*innen oder Expert*innen verwendet? • Kommen Afrikaner*innen zu Wort? Werden ihre Namen genannt (z.B. bei der Beschriftung von Abbildungen)? • Werden auch konträre/komplexe Debatten und Diskurse innerhalb afrikanischer Länder oder Regionen dargestellt? Handlungsmacht: Rollenverteilung aktiv/passiv • Werden afrikanische Bürger*innen, Regierungen, zivilgesellschaftliche Gruppen und supranationale Zusammenschlüsse als aktive Gestalter*innen der Gesellschaften und ihrer Potenziale dargestellt? • Oder werden hauptsächlich Hilfsorganisationen, westliche Staaten und Konzerne als Akteure genannt?

197

198

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

Kulturalisierung, Ethnisierung, Tribalisierung • Wird der zugrundeliegende Kulturbegriff offengelegt? Wird der Begriff definiert? • Liegt ein essentialistisches Verständnis (›Kulturen sind …‹) oder ein konstruktivistisches Verständnis (›Kulturen werden gemacht …‹; doing culture) von Kultur vor? • Wird nach Innen die Gleichheit und nach Außen die Verschiedenheit von Kulturen/Ethnien betont (z.B. ›ethnische Konflikte‹, ›die europäische Kultur‹)? • Werden Gesellschaft und Politik auf Kultur/Ethnizität/indigene Tradition reduziert bzw. mit Kultur/Ethnizität erklärt? • Werden Kultur/Ethnizität als etwas Monolithisches oder als etwas Hybrides dargestellt (z.B. in Musik oder Mode)? Eurozentrische Dichotomien (Wir-Die): Differenzierung nach Außen und Homogenisierung nach Innen (Othering und Selfing) • Wird ›Afrika‹ tendenziell vereinheitlicht, werden durch unkonkrete Quantifizierungen (›viele‹, ›nicht selten‹) suggeriert, dass die Situation und Probleme überall in ›Afrika‹ gleich seien? • Wird Afrika tendenziell als Gegenbild zum Eigenen (aufgeklärt, rational, modern, …) dargestellt? Endogenisierung • Wird der betrachtete Raum ›aus sich heraus‹ oder in seiner Vernetzung mit anderen Räumen erklärt? • Werden bei Konflikten, Umweltproblemen, Hungersnöten u.ä. internationale Maßstabsebenen in die Ursachenanalyse mit eingebunden? • Oder werden lediglich Erklärungen auf der lokalen bzw. nationalen Ebene (natürliche Ressourcen, klimatische Bedingungen, Demographie etc.) herangezogen? Enthistorisierung • Werden historische Herrschaftsverhältnisse und Verflechtungen benannt und ausgeführt (Kolonialzeit, Versklavungshandel, vorkoloniale Reiche)? • Werden historische Aspekte konkret datiert und eingebettet (oder nur von ›früher‹ gesprochen)?

Philippe Kersting & Birte Schröder: Postkoloniale Perspektiven in der Geographiedidaktik

Viktimisierung, Pathologisierung (Kontinent der K’s) • Wird Afrika überwiegend mit Katastrophen (Kriegen, Konflikten, Krankheiten, Flucht, Dürren etc.) in Verbindung gebracht? Ausblendung von Postdevelopment- und globalisierungs-/kapitalismuskritischen Stimmen • Werden die Prozesse der Liberalisierung, Privatisierung und Internationalisierung kontrovers dargestellt? • Werden Direktinvestitionen aus dem Ausland unkritisch und jenseits von Profitinteressen als ›Hilfe‹ benannt?

5. Anwendung des Fragepools auf eine Doppelseite eines Geographie-Schulbuchs für die Oberstufe »Schulbücher sind […] ein Medium des Weltbildes und bilden darüber hinaus ein Archiv der Selbst- und Fremdbeschreibungen in der Logik der Unterscheidung Subjekt/Objekt bzw. Selbst/Anderes.« (Otto 2009: 7) Dies gilt besonders für das Fach Geographie, denn »Geography is an remarkably effective producer of otherness« (Staszak 2009). Schulbücher sind komplexe und dynamische Gebilde und können aufgrund ihrer Heterogenität keinesfalls als homogene Werke betrachtet werden. Aufgrund ihrer komplexen Entstehungsgeschichte, ihrer Lehrplanbezogenheit, der multiplen Autor*innenschaft (bei der ein Team aus mehreren Autor*innen – meist Lehrer*innen – in Zusammenarbeit mit der Redaktion (Text, Bild) eines Schulbuchverlags das Werk verfasst) und der ständigen Teilaktualisierungen sind Schulbücher immer widersprüchliche und vielstimmige Werke. Eine Doppelseite losgelöst vom Gesamtwerk zu analysieren und zu kritisieren, stellt daher nur einen sehr beschränkten Zugriff auf ein Schulbuch dar. Wenn wir dies hier dennoch tun, so liegt es daran, dass sich anhand dieser Doppelseite besonders gut die Arbeit mit dem postkolonialen Fragepool verdeutlichen lässt. Die Doppelseite ist daher keineswegs repräsentativ für das gesamte Schulbuch. Wir erheben zudem keinen Anspruch auf Vollständigkeit und analysieren nicht alle Materialien auf der Doppelseite. Eine ausführliche Schulbuchanalyse würde Überschriften, Texte, Materialien und Aufgaben zudem stärker in ihrem Zusammenspiel betrachten müssen.

199

200

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

Wir konzentrieren uns demgegenüber insbesondere auf den Textteil auf S. 25 sowie den Infokasten M2. Die hier analysierte Doppelseite stammt aus dem Oberstufenband »Afrika südlich der Sahara« aus der Geographielehrbuchreihe TERRA des Klett-Verlags (Haberlag et al. 2014; Haberlag/Wagener 2019), welchen wir auf Grundlage des Fragepools analysiert haben. Die Ergebnisse konnten dem Ernst Klett Verlag im Rahmen eines Redakteur*innenworkshops vorgestellt werden. Wir sind den Verlagsmitarbeiter*innen sehr dankbar für die Einladung und für die Tatsache, dass sie uns zu Beginn des Workshops einen ausführlichen und erhellenden Einblick in den Herstellungsprozess von Schulbüchern geboten haben. Dies ermöglichte, nicht nur das Endprodukt (Schulbuch), sondern den Produktionsprozess gemeinsam in den Blick zu nehmen. Durch diese follow the thing-Perspektive öffnet sich der Blickwinkel über eine endproduktbezogene Kritik hinaus. Sie ermöglicht es, an unterschiedlichen Stellen im Produktionsprozess konkrete Veränderungsmöglichkeiten zu identifizieren (Macgilchrist 2011). Im Folgenden möchten wir am Beispiel der Doppelseite zum Thema »Armut« (S. 24f.) vertiefend zeigen, welche postkolonialen Reflexionen der Fragepool ermöglicht. Die Kapitelüberschrift (»Geschundener Kontinent?«) sowie die Überschrift zweiter Ordnung »Das Armenhaus der Welt« reproduzieren pauschalisierende, pathologisierende und viktimisierende Afrikabilder. Dies gilt auch für weitere Kapitelüberschriften der ersten Ordnung im TERRA Oberstufenband aus dem Jahr 2014 wie zum Beispiel »In Problemen versinkend?«, »Abgehängter Kontinent?«, »Perspektivloser Kontinent?«. Im Unterschied zum Titel zweiter Ordnung, »Das Armenhaus der Welt«, wird die Überschrift der ersten Ordnung mit einem Fragezeichen versehen, was ein Hinterfragen dieser im deutschsprachigen Diskurs zirkulierenden hegemonialen geographischen Imaginationen von »Afrika« ermöglichen könnte. Formulierungen als Negation (»nicht«) und Interrogation (»?«) werden im Gedächtnis jedoch häufig zur Affirmation (»!«) verarbeitet. Es ist daher davon auszugehen, dass auch die als Frage formulierten Überschriften dazu beitragen, bestehende pathologisierende und viktimisierende Repräsentationen von Afrika eher zu verfestigen als aufzubrechen. Diese Annahme wird im Falle der Doppelseite 24/25 auch dadurch gestützt, dass sie von einem großflächigen Foto mit dem Titel »Dürre in Niger« begleitet wird, welches eher dazu geeignet ist, die Vorstellung von einem »geschundenen« Kontinent zu bestärken denn sie zu differenzieren oder rassistische Vorurteile zu irritieren. Im Bildausschnitt ist kaum Grün zu sehen und die in hockender Position

Philippe Kersting & Birte Schröder: Postkoloniale Perspektiven in der Geographiedidaktik

abgebildete namenlose Frau ist nicht aktiv handelnd. Durch Themenauswahl, Bildsprache und Betitelung werden Unwirtlichkeit, Trostlosigkeit und ein Unterworfensein unter widrige Naturgegebenheiten vermittelt. Im Text ist zwar die Rede davon, dass es »ausreichend fruchtbaren Boden, eine Fülle natürlicher Ressourcen, Wirtschaftswachstum und Arbeitskraft« (S. 24) gibt. Dies wird allerdings sogleich relativiert: »Doch eine Vielzahl von Faktoren […] hemmen die Entfaltung des vorhandenen Potenzials und schinden die Bevölkerung weiterhin«. Sowohl textlich als auch bildlich liegt der Fokus nicht auf der geographischen Imagination eines ressourcenreichen Kontinents mit Wachstum und fruchtbarem Boden sowie aktiven und gestaltenden Menschen, sondern auf der Imagination des »geschundenen Kontinents«. Im Textteil mit der Überschrift »Das Armenhaus der Welt« (S. 25) werden bei der Darstellung der Ursachen von Armut die ökonomischen Ursachen nicht benannt. Kolonialismus wird erwähnt, aber relativiert und verharmlost: »Dennoch bleibt umstritten, ob es sich um eine Hauptursache handelt«. Die Tatsache, dass die Überschrift »Ursachen der Armut« erst nach den Erläuterungen zum Kolonialismus kommt, verstärkt den Eindruck, der Kolonialismus habe nichts mit der heutigen Armut zu tun. Er wird außerhalb des Abschnittes verhandelt, in dem es explizit um »Ursachen der Armut« geht. Obwohl damit das Stichwort Kolonialismus auf der Doppelseite ausdrücklich genannt wird, kann daher von einer enthistorisierenden Verhandlung von Wirkfaktoren für Armut in Afrika gesprochen werden. Den Schüler*innen wird nicht das Angebot unterbreitet, den Zusammenhang zu ergründen. Vielmehr wird er aufgeworfen und sogleich relativiert. Unter der Überschrift »Ursachen der Armut« werden in der Folge dann vielmehr natürliche Ursachen und die Aids-Epidemie genannt. Auffällig ist das ungleiche Verhältnis zwischen den ausführlichen Erläuterungen der natürlichen Ursachen und einem nur sehr kurzen und selektiven Hinweis auf ökonomische Ursachen (geringes Arbeitsplatzangebot und niedrige Löhne in Betrieben unter westlicher Leitung, S. 25). Ohne Erwähnung bleiben Ursachen, die sich stärker auf globale Machtdifferenzen beziehen, wie die Schuldenfalle, erzwungene Handelsliberalisierung und ökonomische Globalisierung (Economic Partnership Agreement, EPA), Biopiraterie, Börsenspekulation auf Grundnahrungsmittel, EU- und US-Agrarsubventionen auf Exportlebensmittel und Landraub. Diese Ursachen werden jedoch in der Forschungsliteratur häufig genannt (u.a. Bauriedl 2016; Engels/Dietz 2011; Ouma 2014). Dieses Ungleichgewicht führt zu einer naturalisierenden Darstellung der Ursachen von Armut.

201

202

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

Abb. 1: Doppelseite zu Armut.

Quelle: Haberlag, B.; Korby, W.; Kreus, A.; von der Ruhren, N. und D. Wagener (2014): TERRA. Afrika südlich der Sahara. Themenband Oberstufe, Stuttgart/Leipzig: Ernst Klett Verlag, S. 24–25.

Philippe Kersting & Birte Schröder: Postkoloniale Perspektiven in der Geographiedidaktik

 

203

204

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

Die Aussagen über die »natürliche[n] Ursachen für die Armut« (Haberlag et al. 2014: 25) sind zudem nicht überzeugend. Der Zusammenhang zwischen der Lage »in den Tropen und Subtropen«, den »ansteckenden Krankheiten« oder den »klimatischen Bedingungen« mit Armut wird als Kausalität suggeriert, aber nicht konkret gemacht. Die »natürlichen Ursachen« werden auch im Schaubild »Kreislauf der Armut« (M2) nicht erwähnt, so dass Schüler*innen keine weiteren Informationen zu diesem Thema erhalten. Ihnen wird vielmehr ein diffuses, suggestives Halbwissen über komplexe Mensch-Umwelt-Zusammenhänge angeboten. Auch die Aussage, dass die Hilfe westlicher Staaten »oft gar nicht ankommt«, bleibt ohne weitere Erklärung und trägt eher dazu bei, ein diffuses Halb- bzw. Unwissen über humanitäre Hilfe und damit zusammenhängende Korruption zu festigen, als neue Erkenntnisprozesse bei den Lernenden anzuregen. Das »unfair gestaltete globale Handels- und Wirtschaftssystem« (S. 24) wird zwar kurz erwähnt, aber an keiner Stelle deren Aspekte von Ungerechtigkeit ausgeführt. Die Darstellung der Ursachen ist dadurch stark endogenisierend. Afrika wird »aus sich heraus« und nicht in seiner Verflechtung mit anderen Räumen erklärt. Auch die internationale Maßstabsebene wird nicht in die Ursachenanalyse miteinbezogen. Die endogenisierende Argumentation zeigt sich ebenso im Diagramm »Der Kreislauf der Armut« (M2), worauf wir noch genauer eingehen werden. Er steht im direkten Widerspruch zu der Darstellung auf S. 24, die »eine Vielzahl von Faktoren« ankündigt, »die nicht nur auf dem Kontinent selbst, sondern auch im unfair gestalteten globalen Handels- und Wirtschaftssystem zu finden sind«. Dadurch, dass der Text und M2 konkrete Postdevelopment- und globalisierungs- und/oder kapitalismuskritische Stimmen ausblenden, die Erklärungen für Wirkungsweisen der Einbettung in globale Handelsstrukturen bzw. die polit-ökonomischen Rahmenbedingungen des »Ressourcenexports« anbieten könnten (bspw. Borras 2010; Brand 2007; Collier 2008; Ziai 2017), löst die Doppelseite die didaktischen Prinzipien der Kontroversität und der Mehrperspektivität nicht ein. Mehrere Aussagen sind stark generalisierend und ohne präzisen räumlichen Bezug, wie zum Beispiel die Aussage »Krankheit und Tod tragen erheblich zur chronischen Wachstumsschwäche des Raums bei«. Hier bleibt unklar, von welchem Raum die Rede ist. Suggeriert wird, dass es um ganz »Subsahara-Afrika« geht, aber eine solche Aussage steht im Widerspruch zu anderen Stellen im Buch, wo das starke Wirtschaftswachstum bestimmter Regionen auf dem Kontinent hervorgehoben wird (z.B. S. 74–75). Auch die Aussage, dass

Philippe Kersting & Birte Schröder: Postkoloniale Perspektiven in der Geographiedidaktik

Aids »die Lebenserwartung um fast 20 Jahre sinken lassen« habe, bleibt ohne Verweis auf einen konkreten Raum. Bezogen auf ganz »Subsahara-Afrika« – wie es hier aufgrund des mangelnden Raumbezugs suggeriert wird – ist diese Aussage falsch. Die Generalisierungen reproduzieren ein nach innen homogenisierendes Afrikabild, welches den Schüler*innen kaum Anknüpfungsmöglichkeiten dafür anbietet, Gemeinsamkeiten zum »Eigenen« zu sehen. Stattdessen wird Afrika tendenziell als Gegenbild zum Eigenen dargestellt. Die Abbildung »Der Kreislauf der Armut« (M2) individualisiert und endogenisiert das Phänomen Armut. Die Betrachtung fokussiert sehr stark auf individuelle und nationale Ursachen. Strukturelle und internationale Ursachen kommen kaum vor. So reduziert der Kreislauf »Wirtschaft« die Betrachtung auf mikroökonomische Parameter. Makroökonomische Ursachen für Armut (wie z.B. Liberalisierung, Privatisierung und Ökonomisierung von Saatgut, Subventionen, Finanzialisierung von Nahrung) werden nicht berücksichtigt. Der Kreislauf »Einkommen« ist zweifach problematisch. Erstens reduziert er Steuereinnahmen auf Einkommenssteuer und lässt somit viele andere wichtige Steuerarten aus, die ebenfalls an der Finanzierung öffentlicher Dienste wie dem Bildungssystem beteiligt sind (z.B. Importzölle). Und zweitens vermengt er Einkommen und Bildung und reduziert somit Bildung auf einen ökonomischen Parameter (employability, human capital) und klammert die Bedeutung von Bildung für Demokratisierungsprozesse aus. Armut wird rein ökonomisch betrachtet. Der Kreis »Gesundheit« wird auf »Leistungsfähigkeit« und der Kreis »Einkommen« (bzw. Bildung) wird auf »geringe Produktivität« reduziert. Die Bedeutung von Politik (good governance) im Kampf gegen Armut geht aus der Abbildung nicht hervor. Aspekte wie ökonomische Teilhabe, politische Partizipation, Rechtssicherheit und Verteilungsgerechtigkeit werden nicht erwähnt. In einer neueren Version des Oberstufenbandes (Haberlag/Wagener 2019) ist diese Doppelseite auf Grundlage des Lektorats und des Workshops überarbeitet worden. Der Text zu den Ursachen von Armut sowie die Abbildung zum »Kreislauf der Armut« wurden grundlegend überarbeitet (s. Abb. 2). Hierbei wurde insbesondere der Kritik in Bezug auf die Endogenisierung und die Ausblendung von Postdevelopment- und globalisierungs-/kapitalismuskritischen Stimmen Rechnung getragen. Im »Kreislauf der Armut« (in der Version von 2019 in M4 auf S. 31) wurde der Aspekt Wirtschaft differenziert in die zwei Kreise »Nationale Wirtschaft« und »Internationale Wirtschaft«.

205

206

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

Abb. 2: Überarbeitete Doppelseite zu Armut.

Quelle: Haberlag, B. und D. Wagener (2019): TERRA. Afrika südlich der Sahara. Themenband Oberstufe, Stuttgart/Leipzig: Ernst Klett Verlag, S. 30–31.

Philippe Kersting & Birte Schröder: Postkoloniale Perspektiven in der Geographiedidaktik

 

207

208

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

Diese stellen die Zusammenhänge zwischen Armut, internationaler Abhängigkeit, Deregulierung, Privatisierung, Subventions- und Zollabbau, mangelndem Schutz vor Asymmetrien auf dem Weltmarkt und der Zerstörung der nationalen und lokalen Wirtschaft her, die wiederum Armut begünstigen. Die eingeschränkte, ökonomistische Perspektive auf Gesundheit und Bildung wurde erweitert. So wurde im Kreis Gesundheit der Punkt »kaum Arbeit« ersetzt durch »eingeschränkte ökonomische, politische und soziale Teilhabe«. Der Kreis »Einkommen« wurde in »Bildung« umbenannt und der Punkt »geringe Produktivität« ersetzt durch »geringe ökonomische, politische und soziale Teilhabe«. Zudem wurde die Abbildung um einen fünften Kreis »Politik« ergänzt, der Armut in Zusammenhang mit bad governance, mangelnder demokratischer Teilhabe, mangelnder politischer Kontrolle und Zunahme der sozialen Ungleichheiten setzt. Der Text mit der Überschrift »Das Armenhaus der Welt?« (Haberlag/ Wagener 2019: 31) wurde ebenfalls grundlegend überarbeitet. Er wird nun durch zwei Teile strukturiert, die interne und externe Ursachen von Armut unterscheiden und explizit benennen und so der Kritik an der Endogenisierung begegnen. Indem als externe Ursachen Kolonialismus, Strukturanpassungsmaßnahmen des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank, die Schuldenfalle, die erzwungene Liberalisierung und Globalisierung (Economic Partnership Agreement), die EU- und US-Agrarsubventionen, Biopiraterie und Landraub genannt werden, wird der Blick geöffnet für Ursachenkomplexe, die aus Postdevelopment- sowie aus globalisierungs- und kapitalismuskritischen Perspektiven eine zentrale Rolle einnehmen. Zudem wurde die Fotografie in M1 durch eine Karikatur ersetzt, die eine weitergehende kritische Beschäftigung mit Liberalisierungsprozessen und der Rolle ausländischer Investoren ermöglicht. Auch der am Vorgängerband kritisierten Enthistorisierung wurde Rechnung getragen, indem Kolonialismus als eine Ursache explizit benannt wurde, ohne dies sogleich zu relativieren. Ausgeführt werden die Zusammenhänge zu Kolonialismus allerdings nicht, was ebenso für die weiteren angeführten und in sich komplexen Ursachenkomplexe wie Strukturanpassungsmaßnahmen und Biopiraterie gilt. Dies ist allerdings nicht auf einer Doppelseite und auch nur schwerlich im Rahmen eines gesamten Schulbuchs zu bewerkstelligen – nicht zuletzt auch wegen der notwendigen Orientierung der Inhalte am Lehrplan. Die Doppelseite verdeutlicht, dass es komplexe Zusammenhänge gibt und erwähnt verschiedene Aspekte, zu denen weiter recherchiert werden kann. In der neueren Version wird zudem explizit auf die naturräumliche, historische,

Philippe Kersting & Birte Schröder: Postkoloniale Perspektiven in der Geographiedidaktik

gesellschaftliche und politische Vielfalt auf dem Kontinent sowie die regional unterschiedlichen Ursachen für Armut eingegangen, aus der die Notwendigkeit resultiert, Armut immer kontextualisiert zu betrachten. Auf diese Weise kann einer vereinheitlichenden Dichotomisierung entgegengewirkt werden, die »Afrika« als Gegenbild des »Eigenen« erscheinen lässt. Die Textüberschrift »Das Armenhaus der Welt?« allerdings wurde lediglich mit einem Fragezeichen versehen, so dass die pathologisierende Repräsentation von Afrika als »Armenhaus der Welt« auch hier erneut aufgerufen und aktualisiert wird. Gegenüber dem Vorgängerband ist die pathologisierende Gesamtwirkung deutlich schwächer, da die Überschrift erster Ordnung durch eine sachliche Betitelung als »Historische und soziale Entwicklungen« ersetzt wurde, auf die Begrifflichkeiten des »Schindens« in Überschrift und Text verzichtet wird und die Fotografie M1 ersetzt wurde. Auch wenn sich an der überarbeiteten Doppelseite weitere Aspekte verändern ließen, zeigt das Beispiel sehr anschaulich, wie der Fragepool helfen kann, rassistische Aspekte zu erkennen und zu verändern. Aus unserer Sicht handelt es sich um ein ermutigendes Beispiel dafür, wie sich Unterrichtsmaterialien weiterentwickeln können.

6. Ziele, Anwendungsmöglichkeiten und Grenzen des Fragepools Ziel des Fragepools ist es, ein niedrigschwelliges Angebot zu sein, welches den Unterrichtsalltag begleiten und dabei helfen kann, eurozentrische Bias in Unterrichtsmaterial und darüber hinaus in Unterrichtsinteraktionen sowie -reihen, -sequenzen oder -projekten zu erkennen, zu reflektieren und diese zu vermeiden und/oder produktiv mit ihnen umzugehen. Übergeordnetes Ziel soll dabei sein, den Lernenden Unterstützung anzubieten, »sich aus dominanten Wissensstrukturen heraus zu bewegen« (Danielzik 2013: 32). Der Fragepool versteht sich als eine erweiter- und veränderbare Grundlage, die auch für Unterrichtsgegenstände ohne Afrikabezug angepasst werden kann. Gleichzeitig ist es wichtig, sich bewusst zu machen, dass auch, wenn alle Fragen zur postkolonialen Reflexion beantwortet wurden, der Fragepool eine eurozentrische Sicht nicht aufheben kann. Wohl aber kann er dabei helfen, eurozentrische Sichtweisen immer wieder reflexiv einzuholen. Um eine solche rassismuskritisch-reflexive Haltung als Lehrer*in einzuüben, gibt es zusätzliche Fragepools, die ohne Bezug zu geographischen Inhalten stärker auf die Reflexion eigener Sichtweisen, Haltungen und Handlungen ausgerichtet sind

209

210

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

und diese (oftmals schwierigen und anstrengenden) Selbstreflexionsprozesse begleiten können (z.B. Ogette 2017).

Literatur Adichie, Chimamanda Ngozi (2009): The Danger of a Single Story. TEDGlobal Talk, https://www.ted.com/talks/chimamanda_adichie_the_danger_of_a _single_story, zuletzt geprüft am 17.04.2014. Andreotti, Vanessa (2012): »Editor’s Preface ›HEADS UP‹«, in: Critical Literacy – Theories and Practice 6(1). Arbeitsgruppe Curriculum 2000+ der DGfG (2002): Grundsätze und Empfehlungen für die Lehrplanarbeit im Schulfach Geographie, Bonn, http://geographiedi daktik.org/wp-content/uploads/2014/05/curriculum2000.pdf, zuletzt geprüft am 30.07.2021. Autor*innenKollektiv Rassismuskritischer Leitfaden (2015): Rassismuskritischer Leitfaden zur Reflexion bestehender und Erstellung neuer didaktischer Lehrund Lernmaterialien für die schulische und außerschulische Bildungsarbeit zu Schwarzsein, Afrika und afrikanischer Diaspora, Hamburg, Berlin, https://w ww.elina-marmer.com/wp-content/uploads/2015/03/IMAFREDU-Rassis muskritischer-Leiftaden_Web_barrierefrei-NEU.pdf, zuletzt geprüft am 04.05.2015. Bauriedl, Sybille (2016): »Politische Ökologie: nicht-deterministische, globale und materielle Dimensionen von Natur/Gesellschaft-Verhältnissen«, in: Geographica Helvetica 71(4), S. 341–351. Berliner Entwicklungspolitischer Ratschlag e.V. (Hg.) (2013): Develop-mental Turn. Neue Beiträge zu einer rassismuskritischen entwicklungspolitischen Bildungs- und Projektarbeit, Berlin: BER. Borras, Saturnino M. Jr. (2010): »The Politics of Transnational Agrarian Movements«, in: Development and Change, 41(5), S. 771–803. Brand, Ulrich (2007): »Zwischen Normativität, Analyse und Kritik. Die jüngere Diskusionen um Global Governance«, in: Journal für Entwicklungspolitik, 23(1), S. 26–50. Budke, Alexandra (2004): »Selbst- und Fremdbilder im Geographieunterricht«, in: geographische revue. Zeitschrift für Literatur und Diskussion 6(2), S. 27–41. Budke, Alexandra (2006): »Nationale Stereotypen als soziale Konstruktionen im Erdkundeunterricht«, in: Mirka Dickel, Detlef Kanwischer (Hg.): Tat-

Philippe Kersting & Birte Schröder: Postkoloniale Perspektiven in der Geographiedidaktik

Orte: Neue Raumkonzepte didaktisch inszeniert, Berlin/Münster: Lit Verlag, S. 139–153. Carstensen-Egwuom, Inken (2019): »Afrikabilder im Geographieunterricht«, in: Geographische Rundschau 71(5), S. 44–45. Castro Varela, María do Mar; Dhawan, Nikita (2015): Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Bielefeld: transcript. Collier, Paul (2008): »The Politics of Hunger: How Illusion and Greed Fan the Food Crisis«, in: Foreign Affairs, 87(6), S. 67–79. Danielzik, Chandra-Milena (2013): »Überlegenheitsdenken fällt nicht vom Himmel. Postkoloniale Perspektiven auf Globales Lernen und Bildung für nachhaltige Entwicklung«, in: ZEP – Zeitschrift für internationale Bildungsforschung und Entwicklungspädagogik 36(1), S. 26–33. Danielzik, Chandra-Milena; Kiesel, Timo; Bendix, Daniel (2013): Bildung für nachhaltige Ungleichheit? Eine postkoloniale Analyse von Materialien der entwicklungspolitischen Bildungsarbeit in Deutschland, Berlin, https://www.g lokal.org/wp-content/uploads/2018/03/Glokal-e-V_Bildung-fuer-nachha ltige-Ungleichheit_Barrierefrei-Illustrationen-26-03-2013-2.pdf, zuletzt geprüft am 21.07.2021. Delfs, Ronja Mytree (2020): Rassismuskritischer Geographieunterricht. Entwicklung einer Methode zur rassismuskritischen Selbstreflexion für Lehrer*innen, Kiel. Deutsche Gesellschaft für Geographie (2020): Bildungsstandards im Fach Geographie für den Mittleren Schulabschluss mit Aufgabenbeispielen, Bonn, http://d gfg.geography-in-germany.de/wp-content/uploads/geographie_bildung sstandards.pdf, zuletzt geprüft am 16.09.2020. Dickel, Mirka; Lehmann, Johanna (2020): »Wahrheit als pädagogische Herausforderung. Annäherungen über das »Operndorf Afrika« von Christoph Schlingensief«, in: Ralf Koerrenz (Hg.): Globales lehren, Postkoloniales lehren. Perspektiven für Schule im Horizont der Gegenwart, Weinheim/Basel: Beltz, S. 128–149. Eberth, Andreas (2019): Alltagskulturen in den Slums von Nairobi, Bielefeld: transcript. Eberth, Andreas; Röll, Verena (2021): »Eurozentrismus dekonstruieren. Zur Bedeutung postkolonialer Perspektiven auf schulische und außerschulische Bildungsangebote«, in: ZEP – Zeitschrift für internationale Bildungsforschung und Entwicklungspädagogik 44 (02), S. 27–34. Engels, Bettina; Dietz, Kristina (2011): »Land Grabbing analysieren: Ansatzpunkte für eine politisch-ökologische Perspektive am Beispiel Äthiopiens«, in: PERIPHERIE – Politik • Ökonomie • Kultur, 31(124), S.  399–420.

211

212

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

Foucault, Michel (1976): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Golser, Karin; Hintermann, Christiane; Marso, Katja; Uhlenwinkel, Anke (2019): »›Flüchtling‹, ›Migrant/in‹ und Co.: Sprachbewusstheit im Migrationsdiskurs mittels Wertequadraten«, in: GW-Unterricht 1, S. 41–53. Haberlag, Bernd; Korby, Wilfried; Kreus, Arno; Ruhren, Norbert von der; Wagener, Dietmar (2014): TERRA Afrika südlich der Sahara. Themenband Oberstufe, Stuttgart: Ernst Klett Verlag. Haberlag, Bernd; Wagener, Dietmar (2019): TERRA Afrika südlich der Sahara, Stuttgart: Ernst Klett Verlag. Hintermann, Christiane (2010): »Schulbücher als Erinnerungsorte der österreichischen Migrationsgeschichte – eine Analyse der Konstruktion von Migrationen und Migrant/innen in GW-Schulbüchern«, in: GW-Unterricht 119, S. 3–18. Hoffmann, Karl Walter; Kersting, Philippe (2011): «Zeigt das wahre Afrika!« – Aber welches? Die unsichtbare Norm des Eigenen«, in: Geographie und Schule 33(192), S. 48–49. Husseini de Araujo, Shadia (2011): Jenseits vom »Kampf der Kulturen«. Imaginative Geographien des Eigenen und des Anderen in arabischen Printmedien, Bielefeld: transcript. Klafki, Wolfgang (1996): »Grundzüge eines neuen Allgemeinbildungskonzepts. Im Zentrum: Epochaltypische Schlüsselprobleme«, in: Wolfgang Klafki (Hg.): Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik – Zeitgemäße Allgemeinbildung und kritisch-konstruktive Didaktik, Weinheim/Basel: Beltz-Verlag, S. 43–81. Lippert, Sabine; Mönter, Leif (2021): »Building the nation or building society? Analyse zur Darstellung raumbezogener Identität in Schulbüchern gesellschaftswissenschaftlicher Integrationsfächer«, in: Zeitschrift für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften (1), S. 55–78. Macgilchrist, Felicitas (2011): »Schulbuchverlage als Organisationen der Diskursproduktion: Eine ethnographische Perspektive«, in: Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation 31(3), S. 248–263. Marmer, Elina (2013): »Rassismus in deutschen Schulbüchern am Beispiel von Afrikabildern«, in: Zeitschrift für internationale Bildungsforschung und Entwicklungspädagogik (2), S. 25–31. Mönter, Leif (2013): »Interkulturelles Lernen«, in: Manfred Rolfes, Anke Uhlenwinkel (Hg.): Metzler-Handbuch 2.0 Geographieunterricht. Ein Leitfaden für Praxis und Ausbildung, Braunschweig: Westermann, S. 87–95.

Philippe Kersting & Birte Schröder: Postkoloniale Perspektiven in der Geographiedidaktik

Mönter, Leif; Schiffer-Nasserie, Arian (2007): Antirassismus als Herausforderung für die Schule: von der Theoriebildung zur praktischen Umsetzung im geographischen Schulbuch, Frankfurt a.M.: Peter Lang. Ogette, Tupoka (2017): exit RACISM. Rassismuskritisch denken lernen, Münster: Unrast. Otto, Marcus (2009): »Dekolonisierung des Wissens? Schulbücher zwischen kolonialem Weltbild und postkolonialer Heterotopie«, in: Eckert. Das Bulletin (6), S. 6–8. Ouma, S. (2014): »Situating Global Finance in the Land Rush Debate: A Critical Review«, in: Geoforum 57, S. 162–166. Reinfried, Sibylle; Haubrich, Hartwig (Hg.) (2015): Geographie unterrichten lernen. Die Didaktik der Geographie, Berlin: Cornelsen Schulverlage GmbH. Reuber, Paul (2012): Politische Geographie, Stuttgart: UTB. Rhode-Jüchtern, Tilman (2004): Derselbe Himmel, verschiedene Horizonte. Zehn Werkstücke zu einer Geographiedidaktik der Unterscheidung, Wien: Institut für Geographie. Ripoll, Fabrice (2006): »Peut-on ne pas être postcolonial?… surtout quand on est geographe«, in: EspacesTemps.net. Revue indisciplinaire de scienes sociales. Rolfes, Manfred; Uhlenwinkel, Anke (Hg.) (2013): Metzler-Handbuch 2.0 Geographieunterricht. Ein Leitfaden für Praxis und Ausbildung, Braunschweig: Westermann. Schröder, Birte (2016): »Machtsensible geographiedidaktische Konzepte des interkulturellen Lernens – Potenziale einer postkolonialen Perspektive«, in: GW-Unterricht (144), S. 15–28. Schröder, Birte; Carstensen-Egwuom, Inken (2020): »›More than a single story‹: Analysen und Vorschläge zum Einstieg in den Geographieunterricht«, in: Karim Fereidooni; Nina Simon (Hg.): Rassismuskritische Fachdidaktiken. Theoretische Reflexionen und fachdidaktische Entwürfe rassismuskritischer Unterrichtsplanung, Wiesbaden: Springer VS, S. 349–375. Schröder, Birte; Kübler, Felicitas (2023): »Machtsensible geographische Bildung: Ein Mystery zur Klimagerechtigkeit«, in: Inga Gryl, Michael Lehner, Tom Fleischhauer, Karl-Walter Hoffmann (Hg.): Geographiedidaktik. Fachwissenschaftliche Grundlagen, fachdidaktische Bezüge, unterrichtspraktische Beispiele. Band 1. Wiesbaden: Springer VS, S. 289–299. Schrüfer, Gabriele (2012): »Afrika im Geographieunterricht«, in: Klett-Magazin Geographie, S. 3–7. Schrüfer, Gabriele, Obermaier, Gabriele, Schwarze, Sonja (2016): »Raumwahrnehmung aus unterschiedlichen Perspektiven am Beispiel Tansania – Em-

213

214

Wissensproduktion und postkoloniale Reflexion

pirische Untersuchungen und Konsequenzen für den Geographieunterricht«, in: GW-Unterricht 1, S. 91–101. Schwarze, Sonja (2020): Die Konstruktion des subsaharischen Afrikas im Geographieunterricht der Sekundarstufe I., Münster. Segbers, Teresa, Eberth, Andreas (2017): »Von der Irritation zur Reflexivität – Zum Potenzial fachdidaktischer Exkursionen für die Professionalisierung angehender Geographielehrkräfte«, in: GW-Unterricht 1, S. 5–17. Smouts, Marie-Claude (2007): »Le postcolonial. Pour quoi faire?«, in: MarieClaude Smouts (Hg.): La situation postcoloniale. Les postcolonial studies dans le débat français, Paris: Presses de la Fondation nationale des Sciences politiques, S. 25–66. Staszak, Jean-François (2009): »Other/Otherness«, in: Rob Kitchin; Nigel J. Thrift (Hg.): International Encyclopedia of Human Geography, Amsterdam: Elsevier. UNESCO (2019): UNESCO 40th General Conference Adopts a New Global Framework for Education for Sustainable Development for 2020–2030, https://en.unesco.or g/news/unesco-40th-general-conference-adopts-new-global-framework -education-sustainable-development, zuletzt geprüft am 17.09.2020. Vennemann, Johanna, Eberth, Aandreas (2021): »Postkoloniale Perspektiven im Geographieunterricht am Beispiel des Themas Entwicklungszusammenarbeit in Kenia«, in: Andreas Eberth, Christiane Meyer (Hg.): SDG Education – Didaktische Ansätze und Bildungsangebote zu den Sustainable Development Goals, Hannover: Hannoversche Materialien zur Didaktik der Geographie 11, S. 121–133. Vielhaber, Christian (2005): »Wie (un)kritisch darf Schulgeographie sein? Zur Frage des Umgangs mit sensiblen Themen am Beispiel postkolonialer Problemstellungen«, in: Journal für Entwicklungspolitik 21(1), S. 67–86. Ziai, Aram (2017): ›Willkommen in Zhengistan, ÄthioperInnen!‹ Postkoloniale Perspektiven auf Entwicklungspolitik. Antrittsvorlesung zur Heisenberg-Professur Entwicklungspolitik und Postkoloniale Studien an der Universität Kassel, Datum: 18.4.2017. Zimmermann, Lukas (2017): Räumliche Repräsentationen Subsahara-Afrikas in Geographie-Schulbüchern – Eine Diskursanalyse aktueller Lehrwerke, Münster: Münstersche Arbeiten zur Geographiedidaktik.

Aneignung, Ausbeutung und emanzipatorische Praktiken

Kolonialität von Zuckerrohr Plantagenökonomien, racial capitalism und Erkundungen reparativer Gerechtigkeit Inken Carstensen-Egwuom

Rum, Schweiß und Tränen Im Juni 2016 begann die jamaikanische Kulturwissenschaftlerin Imani TafariAma in Flensburg ihre Arbeit an der Vorbereitung der Sonderausstellung »Rum, Schweiß und Tränen«, die vom 11. Juni 2017 bis 4. März 2018 im Flensburger Schifffahrtsmuseum stattfand. Sie entwickelte diese Ausstellung über ein ganzes Jahr hinweg in einem partizipativen Prozess über drei Kontinente. Imani Tafari-Ama führte über hundert Interviews mit Personen von den US Virgin Islands, aus Ghana und aus Flensburg. Als die Ausstellung bereits eröffnet war, setzte sie die Interviews weiter fort und sammelte zusätzlich zu den Reaktionen der Besucher*innen weitere Einblicke in unterschiedliche Perspektiven und veröffentlichte ihre Gedanken zu partizipativen Ansätzen in der Museumsarbeit in verschiedenen Publikationen (Tafari-Ama 2017; 2018a; 2019). Lokale wie überregionale Medien berichteten während der gesamten Zeit über ihre Arbeit, die Ausstellung und die Hintergründe (Kulms 2016; Adams/Tafari-Ama 2016; Walther 2017; Tversed/Zähringer 2017; Joram/TafariAma 2017; Tafari-Ama/Flensburger Schifffahrtsmuseum 2018). So wurde in einer größeren Öffentlichkeit deutlich: Die Rolle Flensburgs als Ort der Zuckerverarbeitung und Rumproduktion und das touristisch vermarktete Label als »Rumstadt« sind nicht ohne die Verbindungen zu den Zuckerrohrplantagen in der Karibik, zur Verschleppung und Versklavung von Afrikaner*innen und zum Widerstand Schwarzer Menschen gegen Ausbeutung und Entmenschlichung zu denken. Im Zentrum der Ausstellung standen afro-karibische Perspektiven auf die kolonialen Verbindungen Flensburgs in die Karibik und nach Westafri-

218

Aneignung, Ausbeutung und emanzipatorische Praktiken

ka. Diese wurden den romantisierend-rassistischen Repräsentationen der Plantagen (bspw. auf Rum-Etiketten) entgegenstellt und bildeten eine kritische Intervention in verharmlosende Diskurse über den Kolonialismus. Die Ausstellung wurde für mich – wie für viele andere Menschen – zu einem wichtigen Impuls, aus der Perspektive meines Wohnorts in Flensburg weiter über koloniale Ausbeutungsverhältnisse und deren Nach- und Weiterwirken in heutigen lokal-globalen Verhältnissen nachzudenken. Aus diesem Nachdenken ergeben sich viele mögliche Anknüpfungspunkte. Dazu gehören Fragen nach einer angemessenen Erinnerungskultur bezüglich der historischen Ereignisse und gleichzeitig die Aufforderung, sich mit globalen Ungleichheiten, mit aktuellen strukturellen Rassismen und nicht zuletzt mit karibischen Forderungen nach reparativer Gerechtigkeit auseinanderzusetzen. Diesen Impulsen möchte ich hier nachgehen und die mit Flensburg als Ort der Zucker- und Rumverarbeitung verbundene globale Geschichte des Zuckerrohrs mithilfe kritisch-geographischer Ansätze reflektieren. Diese Reflexionen zeigen einerseits, dass die kolonialen Verflechtungen Flensburgs mit ihren Verankerungen im dänischen, deutschen und britischen Kolonialismus noch etliche weitere Fragen offenlegen. Andererseits zeigt der vorliegende Beitrag, dass die Flensburger Zucker- und Rumproduktion als Teil von transnationalen kolonialen, rassistischen Geographien im atlantischen Raum zu verstehen ist, und in einen größeren Kontext der Entstehung des Kapitalismus eingebettet ist. Dies ermöglicht eine Betrachtung von Prozessen, die jenseits eines methodologischen Nationalismus unterschiedliche koloniale Verflechtungen deutlich machen. Flensburgs koloniale Verbindungen sind hier also zwar ein Ausgangspunkt und eine wiederkehrende Referenz, aber Flensburg wird keinesfalls als Sonderfall in der Diskussion um europäische (Hafen-)Städte verstanden. In vielen europäischen Städten (und auch ländlichen Regionen) jenseits der großen und bekannten Metropolen wie Hamburg oder Berlin, können entsprechende historische Verbindungen zu historischen kolonialen Machtverhältnissen gezogen werden, und damit zu rassifizierenden Prozessen in der Entstehung des Kapitalismus. Um diese übergreifenden Prozesse nachzuvollziehen, arbeite ich mit dem Begriff des racial capitalism, den ich im Folgenden ausführlich einführe. Der Begriff ermöglicht es, Rassismus und Kapitalismus in ihren strukturellen Verbindungen zu konzeptualisieren. Eine Zusammenstellung und Systematisierung der Kerngedanken des Begriffs racial capitalism bildet damit den theoretischen Rahmen dieses Textes. Ein Fokus auf Zuckerrohr als Materialität führt zu räumlichen Verflechtungen in die Karibik und nach Westafrika. Außerdem bil-

Inken Carstensen-Egwuom: Kolonialität von Zuckerrohr

det dieser Fokus eine Verbindung zwischen ökologischen Problemen der Plantagen mit Rassismus- und Kapitalismuskritik. Ich verfolge damit eine Spur, welche das Zentrum des Nachdenkens über die Flensburger Stadtentwicklung und die dortige Verarbeitung von Zuckerrohrprodukten verschiebt: Weg von einem eurozentrischen Fokus auf prächtige Kaufmannshäuser, tüchtige Kapitäne und kluge Investoren – hin zu den auf Landraub und Versklavung aufgebauten Plantagenökonomien in der Karibik, und zur Arbeit mit theoretischen Konzepten und Werkzeugen, die aus der Black Radical Tradition heraus entwickelt wurden. Damit versuche ich, einige erste Schritte in die von Camilla Hawthorne und Kaily Heitz vorgeschlagene Richtung zu gehen: »Was würde es bedeuten, wenn Geograph*innen neben Marx’ Texten über die Fabrik auch W.E.B. Du Bois und C.L.R. James’ Texte über die Plantage lesen würden? Oder Texte von Jamaica Kincaid neben Doreen Masseys Texten über ein relationales Raumverständnis?« (Hawthorne/Heitz 2018: 150, Übers. d. A.)

Das Konzept des racial capitalism als Grundlage zum Verständnis der Kolonialität von Rohrzucker »Kapitalismus und Rassismus haben sich nicht von der früheren Ordnung gelöst, sondern sich aus ihr entwickelt, um ein modernes Weltsystem des racial capitalism zu schaffen, das auf Sklaverei, Gewalt, Kolonialismus und Völkermord beruht. Der Kapitalismus ist in seiner Entstehung rassifiziert (racial), nicht weil es eine Verschwörung zur Spaltung der Arbeiter oder zur Rechtfertigung von Sklaverei und Enteignung gegeben hätte, sondern weil rassifizierendes Denken (racialism) die westliche Feudalgesellschaft bereits durchdrungen hatte.« (Kelley 2017, Übers. d. A.) Racial capitalism ist ein theoretisches Konzept, dass in der transnational vernetzten Black Radical Tradition entwickelt wurde, aus der wichtige rassismuskritische und transformative Impulse entstanden sind und weiterhin entstehen (s. auch Obeng-Odoom in diesem Band). Cedric J. Robinson hat den Begriff in seinem Buch »Black Marxism. The Making of the Black Radical Tradition« (2000[1983]: 9–28) ausgearbeitet. In dem Buch diskutiert er ausführlich die Beiträge verschiedener Autor*innen der Black Radical Tradition, bspw. von W. E .B. Du Bois, C. L. R. James, Oliver Cromwell Cox und Olivia Jones, die bereits früh über die Verbindungen von Rassismus und Kapitalismus nachgedacht haben. Die aktuelle geographische Diskussion um racial capitalism, die

219

220

Aneignung, Ausbeutung und emanzipatorische Praktiken

bislang hauptsächlich in anglophonen Kontexten stattfindet, umfasst zwei unterschiedliche Aspekte der Bedeutung des Begriffs: Erstens ein Aspekt, der sich auf die historische Entwicklung des Kapitalismus konzentriert und Cedric J. Robinsons Argumente nachvollzieht. Der zweite Aspekt bezieht sich stärker auf die Gegenwart und gegenwärtige Ungleichheiten. Dabei referiert der Begriff auf variable Formen und Funktionen von rassifizierenden Trennungen, die kapitalistische ökonomische Prozesse lokal und regional ganz unterschiedlich – und dabei trotzdem global vernetzt – nutzen und formen. Gleichzeitig prägt die Deutung der Geschichte des Kapitalismus auch das Verständnis gegenwärtiger Ungleichheitsdynamiken und dadurch sind die beiden Aspekte eng miteinander verbunden. Zunächst zur Begriffsbedeutung im Rahmen der historischen Entstehung des modernen Kapitalismus. Cedric J. Robinson (2000[1983]: 2) sieht den modernen Kapitalismus nicht als scharfen Bruch mit vorherigen gesellschaftlichen Strukturen wie dem Feudalismus. Vielmehr argumentiert er, dass der sich immer differenzierter herausbildende Kapitalismus auf in Europa bestehende Hierarchisierungen und ethnisch basierte Ausbeutungssysteme (z.B. gegenüber Iren oder Slaven) aufbaute. Diese Systeme der Hierarchisierung und Ausbeutung bezeichnet er als racialism. Dabei betont er, dass Rassismus sowohl auf einer materiellen Dimension als auch in epistemischer Dimension die Entwicklung, Organisation und Expansion kapitalistischer Gesellschaften prägte. Um dies zu betonen, nennt er die soziale Struktur, die durch die Expansion des Kapitalismus historisch wirksam wurde, racial capitalism. Systeme der Versklavung können nach Cedric J. Robinson (2000[1983]: 4) demnach nicht als präkapitalistische Stadien verstanden werden, sondern existierten während der Entwicklung moderner kapitalistischer Systeme in Kombination mit anderen Systemen der Zwangsarbeit wie Strafknechtschaft oder Vertragsarbeit sowie neben der bezahlten Erwerbsarbeit. Wenn eine emanzipatorische und kritische Interpretation der Geschichte also nur von der Situation der Lohnarbeiter*innen in den industriellen Zentren Europas ausgeht, bleibt sie eurozentrisch. Cedric J. Robinson hat den Begriff racial capitalism, so vermutet Arun Kundnani, durch eine Publikation der südafrikanischen Anti-ApartheidAktivisten Martin Legassik und David Hemson kennengelernt (Kundnani 2020). Die beiden, schreibt Arun Kundnani, seien Teil einer marxistischen Gruppe mit Harold Wolpe und Neville Alexander gewesen, und plädierten für einen internationalen Boykott der südafrikanischen Wirtschaft. Sie hatten den Begriff in dem 1976 in London veröffentlichten Text »Foreign Investment

Inken Carstensen-Egwuom: Kolonialität von Zuckerrohr

and the Reproduction of Racial Capitalism in South Africa« (zitiert nach Kundnani 2020). verwendet. In diesem zeigten sie, wie das südafrikanische Apartheid-System institutionalisierten Rassismus mit kapitalistischem, industriellem Wachstum verband. Sie argumentierten, dass ein weiteres kapitalistisches Wachstum und ausländische Direktinvestitionen in Südafrika den dortigen Rassismus nicht schwächen würden, wie von Gegnern des Boykotts angenommen, sondern dass im südafrikanischen Kapitalismus parallel zum industriellen Wachstum rassistische Strukturen genutzt, geschaffen und durch Apartheidgesetzgebung noch verfestigt wurden (ebd.). Cedric J. Robinson argumentierte im Jahr 1983 nun geographisch mit Bezug auf Europa und die Amerikas und thematisierte historisch die Entstehung des Kapitalismus über mehrere Jahrhunderte. So machte er den Begriff zu einem umfassenderen Konzept (Al-Bulushi 2022: 260). Er argumentierte dabei, dass der Kapitalismus sowohl in seiner Entstehungsgeschichte als auch in seinen aktuellen Ausformungen in immer wieder unterschiedlicher Formation ein racial capitalism sei. Dieses Argument verweigert sich sowohl der Vorstellung, dass Südafrika eine Ausnahme eines ansonsten nicht-rassistischen allgemeinem Kapitalismus sei, als auch der Idee, dass es (irgendwo in einem imaginierten ethnisch homogenen und in sich geschlossenen Nationalstaat) einen Kapitalismus in Reinform gäbe, der unbeeinflusst von rassifizierenden Mechanismen sei (Lowe 2015: 149). Gurminder Bhambra (2021: 14) argumentiert in ihrer Studie zur kolonialen globalen Ökonomie, dass Rassismus mit dem Kapitalismus eng verquickt ist. Dies ist eine Konsequenz der zentralen Bedeutung von kolonialen Prozessen für die Entstehung und Entwicklung des Kapitalismus. Die Vorstellung, dass die kapitalistische Moderne aus den Besonderheiten und Anstrengungen abgeschlossener (europäischer/westlicher) Nationalstaaten entstanden sei, ist in eurozentrischen und methodologisch nationalistischen Analysen entstanden, welche die globalen und kolonialen Prozesse der Entwicklung des Kapitalismus nicht beachteten. Das Konzept des racial capitalism weist so auf zentrale Leerstellen (auch marxistischer) Konzeptualisierungen zur Entstehung des Kapitalismus hin (Ashe 2021; Hamade/Sorg 2023: 262). Marx hat sich – trotz seiner durchaus vorhandenen Referenzen auf die Ausbeutung versklavter Menschen – vorwiegend mit der Situation der englischen Arbeiter*innen in den Baumwollspinnereien auseinandergesetzt, weniger mit der Frage, wer diese Baumwolle wo und unter welchen Bedingungen anbaute (Tilley 2021). An dieser Fokussierung wird unter anderem deutlich, wie stark der geographische und geopolitische Ausgangspunkt die eigene Theoriearbeit prägt. Kendra

221

222

Aneignung, Ausbeutung und emanzipatorische Praktiken

Strauss (2020: 1219) zeigt, wie die Arbeit mit dem Konzept des racial capitalism dagegen die Subjektposition der Kolonisierten gegenüber kolonialer Enteignung ins Zentrum rückt und immer wieder daran erinnert, wie kapitalistische Entwicklungen im atlantischen Raum nur durch staatliche bzw. staatlich legitimierte Gewalt der Enteignung von indigenen Territorien möglich waren. Die materiellen Bedingungen für die Entstehung des Kapitalismus wurden von europäischen Akteuren durch Landraub und Versklavung außerhalb Europas geschaffen. Caitlin Rosenthal (2022) argumentiert in ihrer Analyse konkreter wirtschaftlicher Praktiken, dass Sklaverei kein Widerspruch zum aufkommenden Kapitalismus gewesen sei, sondern in den Plantagenökonomien moderne, abstrahierende Formen des Rechnungswesens entwickelt wurden. Die Bedingungen von Kolonialismus und Sklaverei waren, so Houssam Hamade und Christoph Sorg (2023: 261) zusammenfassend, notwendig für die Entstehung des Kapitalismus, wenn auch nicht für sich allein schon hinreichend. Diese räumlichen Verschränkungen wahrzunehmen – europäische kapitalistische Gesellschaften also während der Entstehung von Kapitalismus und Industrialisierung niemals als »geschlossene Systeme« (Robinson 2000[1983]: 4, Übers. d. A.) gesellschaftlicher Entwicklung zu verstehen –, ist ein geographischer Kern des Konzepts racial capitalism. Auf diese Weise stärkt Cedric J. Robinson außerdem die Bedeutung der transnationalen Schwarzen und afrikanischen Diaspora für antikapitalistische Bewegungen (Ashe 2021). So entsteht eine Aufforderung zum Denken in Geographien der Verflechtung jenseits nationaler oder kontinentaler Containerräume. An diese Gedanken schließen auch aktuelle Diskussionen um Reparationen an. Das Potenzial von Diskussionen um Reparationen liegt laut Catherine Hall (2020: 1) und David Scott (2014: 1ff.) darin, dass sie ein solches verflochtenes Denken über raumzeitliche Relationen ermöglichen. Dies werde ich im Abschlusskapitel näher ausführen. Zusätzlich zu dieser Fokussierung auf die Deutung historischer Prozesse fordert das Konzept des racial capitalism dazu auf, heutige Formen des Rassismus mit materiellen, diskursiven und historischen Entwicklungen zu verknüpfen (Pulido 2017: 526f.). Dies führt zum zweiten Aspekt von racial capitalism: zum Zusammenhang kapitalistischer Wertschöpfung und der Produktion von rassifizierenden Differenzen in aktuellen kapitalistischen Strukturen. Die Geographie hat als Disziplin eine lange Tradition der Analyse räumlicher und sozialer Ungleichmäßigkeit (unevenness) der Verteilung von Kosten und Gewinnen kapitalistischer Wertschöpfung (Strauss 2020: 1215). An diese Traditionen knüpft eine geographische Auseinandersetzung mit racial capitalism

Inken Carstensen-Egwuom: Kolonialität von Zuckerrohr

an und baut dabei zentral auf der Arbeit von Ruth Wilson Gilmore (2007) auf. Insbesondere in Forschungen zur politischen Ökologie (Pulido 2017) wurde das Konzept produktiv aufgenommen. Jodi Melamed (2015: 78–79) argumentiert, dass racial capitalism als Instrument der Anti-Relationalität verstanden werden kann. Die rassifizierenden Trennungen und Differenzproduktionen im Rahmen kapitalistischer Wertschöpfung wirken als »Technologien, die die sozialen Beziehungen des kollektiven Lebens auf diejenigen reduzieren, die für den neoliberalen Kapitalismus nützlich sind« (ebd.: 78, Übers. d. A.). Dieses Argument basiert auf Ruth Wilson Gilmores Begriffsbestimmung von Rassismus als »staatlich genehmigte und/oder außerhalb eines legalen Rahmens ablaufende Produktion und Ausbeutung von gruppenspezifisch differenzierten Vulnerabilitäten für vorzeitigen Tod – in klar abgegrenzten, und gleichzeitig miteinander verbundenen politischen Geographien« (Gilmore 2002: 261, Übers. d. A.). Der zweite Teil der Begriffsbestimmung wird häufig nicht zitiert, schreibt Jodi Melamed (2015: 78). Dies hängt wahrscheinlich auch damit zusammen, dass er aus einem weniger bekannten Text von 2002 stammt und nicht aus dem vielbesprochenen Buch »Golden Gulag« von 2007. Menschen werden also gleichzeitig rassifiziert und rassistisch getrennt – und wiederum in einer solchen Art und Weise miteinander in Verbindung gebracht, die für die kapitalistische Akkumulation und Warenproduktion nützlich ist (ebd.). Durch Rassifizierungen werden Ungleichheiten legitimiert, auf die der Kapitalismus einerseits baut, und die er andererseits selbst hervorbringt (Gilmore 2020; Kundnani 2020). Mit Lisa Lowe (2015: 149) lässt sich dies folgendermaßen ausdrücken: Racial capitalism bedeutet, dass die Expansion des Kapitalismus (auch heute) nicht dadurch funktioniert, dass die Arbeitskraft, die Ressourcen und Märkte über die ganze Welt hinweg vereinheitlicht werden, sondern immer auch koloniale Trennungen, Hierarchisierung und entmenschlichende Praktiken für die Expansion kapitalistischer Ökonomien genutzt werden. Dabei entstehen geographisch sehr ungleiche Bedingungen: Einige Regionen werden für die Produktion genutzt, andere vernachlässigt, andere für Extraktionen gebraucht. Einige Bevölkerungsgruppen werden als Arbeitskräfte ausgebeutet und andere überflüssig gemacht. Ruth Wilson Gilmore fasst treffend zusammen: »Racial capitalism ist die Gesamtheit des Kapitalismus« (2020: Minute 2:18)1 . Dabei ist es wichtig, 1

Eleonora Roldán Mendívil und Bafta Sarbo (2022: 28ff.) nehmen u.a. das Argument, dass der Kapitalismus auf unterschiedlichen Vermittlungsformen von Ausbeutung und Überausbeutung basiert (die rassistisch, vergeschlechtlicht etc. sein können) zum

223

224

Aneignung, Ausbeutung und emanzipatorische Praktiken

wie Gargi Bhattacharyya in ihrer ersten von zehn Thesen zu racial capitalism hervorhebt, nicht von einer gegenseitigen Über- oder Unterordnung von Rassismus und Kapitalismus oder von einer konkret an Personengruppen festzumachenden Intentionalität auszugehen. Wenn also analysiert wird, wie der Kapitalismus die Trennungen nutzt, die Rassismus hervorbringt, ist das kein Hinweis auf personalisierte Intentionalität oder auf zentral geplante Prozesse (Bhattacharyya 2018: ix). Vielmehr geht es um unterschiedliche, komplexe Funktionsweisen kapitalistischer Akkumulation und Beziehungen, die innerhalb von kapitalistischer Wertschöpfung genutzt oder geprägt werden. Rassifizierung funktioniert dabei auf unterschiedliche Weise, aber der Effekt ist jeweils ein System sozialer Kategorisierung und Differenzierung – zwischen denen, die beispielsweise Land besitzen können, und denen, die gezwungen sind, es für den Profit anderer Menschen zu bearbeiten. Ein Verständnis für sich intersektional verschränkende Unterdrückungssysteme verlangt dabei auch eine Auseinandersetzung mit Schwarzen feministischen Ansätzen und Fragen nach der Produktion von Prekarität, Trennungen und Gewalt im Bereich der sozialen Reproduktion (Strauss 2020: 1217; Bhattacharyya 2018: ix). Verbunden damit sind Fragen der epistemischen Gewalt, der Durchsetzung von Weltsichten, die eine Situation als legitim oder selbstverständlich ansehen – also der Macht, andere zu definieren und Geschichtsnarrative zu dominieren (Martinot 1996) oder Bilder eines erstrebenswerten, erfolgreichen Lebens zu produzieren. So können mit dem Konzept des racial capitalism sowohl materielle Prozesse der Ausbeutung, Enteignung und Verschleppung sowie Zwangsarbeit, Ausschlüsse und Hierarchisierungen im Zuge kapitalistischer Entwicklungen als auch rassifizierende Denk- und Seinsweisen und hegemoniale Vorstellungen von Schönheit, Erfolg und einem gelingenden Leben betrachtet werden. Gargi Bhattacharyya (2018: 37) betont die Bedeutung der machtvollen Verknüpfung von Rassismus und Kapitalismus durch die Normalisierung negativer Affekte, wie zum Beispiel fehlende Empathie oder gar Ekel und Abscheu gegenüber rassifizierten Personen. Emilia Roig (2021: 142) verwendet den Begriff der »Empathielücke«, um zu benennen, wie das Leiden und Sterben rassifizierter Menschen in Deutschland gesellschaftlich erschreckend wenig skandalisiert wird bzw. auch potenziell tödliches Handeln hemmungslos als MögAnlass, den Begriff des racial capitalism nicht zu verwenden, sondern allgemein vom Kapitalismus zu schreiben, ähnlich wie Ruth Wilson Gilmore »die Gesamtheit des Kapitalismus« betont.

Inken Carstensen-Egwuom: Kolonialität von Zuckerrohr

lichkeit verhandelt wird.2 All diese politischen, ökonomischen, epistemischen und affektiven Aspekte werden mit dem Begriff des racial capitalism als Teil einer räumlich und gesellschaftlich unterschiedlich ausgeprägten, aber gleichzeitig global vernetzten Struktur benennbar. Im neoliberalisierten Kapitalismus haben sich adaptierte Formen von Rassifizierungen gebildet, welche ein differenzierbares Risiko für den vorzeitigen Tod innerhalb von verschiedenen Bevölkerungsgruppen produzieren – lokal, national und global. So sind es beispielsweise rassistische Grenzregime, die einerseits an konkreten territorialen Grenzen potenziell tödlich sind, und andererseits für die auf einem Staatsgebiet anwesenden Migrant*innen oder Personen of Color eine besondere Ausbeutbarkeit und Vulnerabilität herstellen – ob als migrantische Arbeitskräfte oder bspw. als Betroffene von polizeilichen Kontroll- und Gewaltpraktiken (Bhattacharyya 2018: 125ff.; Kundnani 2020). Die Strukturen des racial capitalism sind zudem eng verbunden mit der Entstehung von gegenwärtigen lokalen und globalen ökologischen Krisen. Für Gargi Bhattacharyya ist der Mythos der »Entbehrlichkeit« (Bhattacharyya 2018: x), der Entwertung und Dehumanisierung von bestimmten Menschen und bestimmten Regionen der Welt ein Fundament sozial-ökologischer Krisen und gleichzeitig ein Motor und eine Grundbedingung kapitalistischer Wertschöpfung. Daraus zieht sie den Schluss, dass »der Kapitalismus nicht funktioniert, wenn allen erlaubt wird, ihre volle Menschlichkeit zu leben« (ebd.: x). Mit einem Fokus auf die historischen globalen Verflechtungen und Machtverhältnisse in Verbindung mit Zuckerrohr stelle ich im Folgenden einige Bezüge zum Konzept des racial capitalism her. So wird die Kolonialität von Zuckerrohr deutlich: Im Zuckerrohranbau und Rohrzuckerproduktion wurden (und werden) rassistische Klassifikationssysteme genutzt und (re-)produziert, die Arbeit wurde rassifiziert (Lugones 2010: 756). Außerdem entstand ein koloniales, zerstörerisches Verhältnis zur Natur, das sich für den Profit weniger Menschen immer wieder neue Territorien aneignet, sowie andere Menschen versklavt und ausbeutet, was Malcom Ferdinand (2021) als koloniale Art der Weltbewohnung (colonial inhabitation) bezeichnet.

2

Beispielhaft sei der Artikel in der Wochenzeitung DIE ZEIT »Seenotrettung: Oder soll man es lassen?« genannt (Lobenstein/Lau 2018).

225

226

Aneignung, Ausbeutung und emanzipatorische Praktiken

Zuckerrohr und Flensburg: Plantagenökonomien, globale Verflechtungen und racial capitalism »In einem einzigen Zuckerkorn ist der Handel mit Menschen und die lange Geschichte der Globalisierung eingeschlossen. Die Karibik und ihre Diaspora werden für immer mit dem bittersüßen Erbe des Zuckers leben.« (Goffe 2019: 34) Die Spurensuche in der Hafenstadt Flensburg, die in ihrer Entwicklung sehr stark vom Handel und der Weiterverarbeitung von Zuckerrohrprodukten geprägt ist, führt zu den Plantagen der Karibik. Flensburg ist Teil von globalen wirtschaftlichen Entwicklungen der transatlantischen Versklavungsund Kolonialökonomie, die von Zucker als eine der zentralen Waren mitgeprägt wurde. Die Plantagenökonomien in der Karibik und den Amerikas waren ein räumlicher Ausgangspunkt von dehumanisierenden Formen von Rassismus, von (proto-)industrieller Produktion mit Zwangsarbeit und kapitalistischer Globalisierung (Mintz 2007[1986]). Der Historiker Sidney Wilfred Mintz (2007[1986]: 12) konstatiert in seiner umfassenden Studie zur Kulturgeschichte des Zuckers, dass es aus karibischer Perspektive gar nicht anders möglich ist, als die globalen Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnisse wahrzunehmen, also den Blick über das lokale Geschehen hinaus nach außen zu richten – in die Regionen der Welt, aus denen Arbeitskräfte kommen, sowie in diejenigen Gesellschaften, in denen der aus dem dort angebauten Zuckerrohr produzierte Zucker konsumiert wird (ebd.: 13). Die Aufforderung, über nationale Grenzen hinweg und in verflochtenen Geographien zu denken, innerhalb derer rassistische Trennungen produziert werden, ist damit auch für eine Spurensuche in Flensburg relevant. Dafür braucht es zunächst ein wenig Kontextwissen zu Zucker und Zuckerrohr in seiner Materialität und seiner global verflochtenen Geschichte. Zucker lässt sich aus verschiedenen pflanzlichen Quellen gewinnen. Was als reiner, weißer Zucker bekannt ist, Sucrose, ist ein organisches chemisches Produkt und ein Kohlehydrat. Zuckerrohr ist bereits seit über tausend Jahren eine wichtige Quelle für die Produktion von Zucker. Das Zuckerrohr lässt sich durch die Pflanzung von Ablegern aus Stängeln vermehren, die mindestens einen Knoten haben. In einem feucht-warmen Klima wächst die Pflanze sehr schnell. Die Möglichkeit, die Mengen der gepflanzten Stecklinge proportional zur bepflanzten Fläche zu erhöhen, macht die Pflanze zu einer für Massenproduktion geeigneten, skalierbaren Feldfrucht (Mintz 2007[1986]: 47ff.).

Inken Carstensen-Egwuom: Kolonialität von Zuckerrohr

Nach der Ernte des reifen Zuckerrohrs muss das geschnittene Zuckerrohr innerhalb von 48 Stunden ausgepresst und der Saft erhitzt werden, andernfalls verdirbt das geschnittene Zuckerrohr. Das Sieden muss mehrmals wiederholt werden, bevor die Lösung, in der Zucker in flüssiger Form enthalten ist, gesättigt ist und abgekühlt wird. Bei der Abkühlung und Kristallisation entsteht einerseits »Rohzucker«, der transportiert und gehandelt werden kann. Andererseits entsteht Melasse und Sirup als Rückstand (ebd.: 50). Aus der Melasse kann Rum gebrannt werden, der ebenfalls als Zuckerrohrprodukt verkauft und über große Strecken hinweg transportiert werden kann (ebd: 63). Entsprechend der Notwendigkeit, das reife Zuckerrohr schnell zu verarbeiten, ist die Arbeit rund um die Produktion von Zuckerprodukten stark rationalisiert und zeitlich eng getaktet (Moore 2000: 415). Sidney Wilfred Mintz (2007[1986]: 76ff.) hat deshalb die Zuckerrohrplantagen in der Karibik als agro-industrielles System mit organisierter Disziplin und koordinierter Arbeitsteilung bezeichnet und damit gezeigt, dass hoch rationalisierte Arbeitsverhältnisse mit ausbeuterischen, trennenden und entmenschlichen Rassifizierungen einhergehen können. Weitere Aspekte der ökologischen Dimension des Anbaus von Zuckerrohr und seiner Verarbeitung analysiert Jason Moore (2000: 420ff.): Für den Anbau von Zuckerrohr wurden häufig Wälder gerodet, zudem ist beständig Brennholz für das Kochen des geernteten Zuckerrohrs notwendig – so geht mit der Produktion von Zuckerrohr eine Entwaldung großer Landstriche mit verschiedenen Folgen für das lokale Mikroklima (weniger Nebel, niedrigerer Grundwasserspiegel) einher. Diese Waldzerstörung hat einen negativen Effekt für die gesamte Biodiversität, und die reproduktiven Kapazitäten des lokalen Ökosystems sind dadurch eingeschränkt. Generell führt der Anbau von Zuckerrohr in großen, monokulturell angelegten Plantagenwirtschaften zu einer rapiden Verminderung der Bodenfruchtbarkeit, zu Erosion und entsprechend der Verschlammung von angrenzenden Flüssen (ebd.: 413). Weiterhin bedrohen spezialisierte Schädlinge die Ernte in monokulturell angelegten Plantagen. Donna Haraway und Anna Tsing nennen Plantagen deshalb auch »Epidemie-freundlich« (2019: 5). Die »radikale Vereinfachung der Natur« (Worster 1990: 1101, zitiert nach Moore 2000: 427f.), die mit einer solchen Plantagenökonomie einhergeht, ist laut Jason Moore nur 50 bis maximal 75 Jahre lang produktiv an einem Ort möglich. Nach Eric Eustace Williams (1994[1943]: 7) wurden Plantagenwirtschaften im Süden der USA daher auch als »land-killer« bezeichnet. Die großräumige geographische Ausbreitung der Zuckerproduktion ist also mit dieser schnellen Auslaugung der Böden verbunden, aber auch

227

228

Aneignung, Ausbeutung und emanzipatorische Praktiken

mit der beständig steigenden Nachfrage nach Zucker ab dem 16. Jahrhundert (Moore 2000: 418). Die Geschichte des Zuckerrohrs ist historisch und geographisch verzweigter, doch ich beginne hier im Mittelmeerraum im 15. Jahrhundert, weil sich dort bereits direkte Verbindungen zur Entwicklung der kapitalistischen Warenproduktion sowie von rassifizierenden Regimen der Arbeitsausbeutung ziehen lassen. Aus dem Mittelmeerraum heraus begannen portugiesische und spanische Kaufleute, mithilfe von Finanzierungen durch Investoren aus Genua, Zuckerrohr im 15. Jahrhundert auf Madeira, Sao Tome und den Kanarischen Inseln anzubauen. Sie schufen hier bereits ein System, in dem Afrikaner*innen versklavt und zur Arbeit gezwungen wurden, das später ein Prototyp für die Zuckerrohr-Plantagenökonomien in den Amerikas und der Karibik wurde (Moore 2000; Robinson 2000[1983]: 106ff.; Walvin 2017: 15). Im 16. Jahrhundert kam es zu einer Verschiebung der Zuckerproduktion in küstennahe Orte in Brasilien (Eichen 2020) und in der Mitte des 17. Jahrhunderts war die Karibik, insbesondere Barbados als britische Kolonie, zum Zentrum der Zuckerrohrproduktion geworden (Moore 2000: 414). Die Ausweitung der Zuckerrohr-Plantagenökonomie und der Anstieg des Konsums von Zucker in Europa gingen mit einem Anstieg der Versklavung von Menschen aus Afrika einher, die für die harte und zermürbende Arbeit auf den Plantagen verschleppt wurden, nachdem und während die ersten Bewohner*innen der Karibik und den Amerikas trotz erbittertem Widerstand zu einem großen Teil durch Zwangsarbeit, Kriege und eingeschleppte Krankheiten getötet wurden (zum Widerstand der Kalinago s. bspw. Beckles 1992). Ca. 75 Prozent der Menschen, die zwischen Anfang des 17. Jahrhunderts und Anfang des 19. Jahrhunderts auf die karibischen Inseln verschleppt wurden, wurden zumindest zunächst zur Arbeit auf Zuckerrohrplantagen gezwungen, schätzt James Walvin (2017: 18). Die Ausweitung der Zuckerproduktion basierte dabei nicht auf Produktivitätssteigerungen, sondern auf der Ausweitung der mit Zuckerrohr bepflanzten, kolonisierten Fläche und der Erhöhung der Anzahl ausgebeuteter und versklavter Menschen (ebd.: 19). James Moore (2000: 425) betont zudem, dass in Phasen sinkender Produktivität aufgrund abnehmender Bodenfruchtbarkeit die Anzahl der versklavten Arbeiter*innen noch erhöht wurde, weil immer mehr Arbeitseinsatz pro Fläche nötig war, um die gleiche Menge Zucker zu produzieren. Und auch von den versklavten Menschen wurde mehr Arbeitseinsatz durch noch härtere und grausamere Maßnahmen erzwungen. Um eine Spur nach Flensburg zu knüpfen, muss an dieser Stelle der dänische Anteil an der Verschleppung und Versklavung von Menschen aus West-

Inken Carstensen-Egwuom: Kolonialität von Zuckerrohr

afrika genannt werden. Flensburg war seit dem 15. Jahrhundert Teil des dänischen Königreichs. Dänemark nahm ab Mitte des 17. Jahrhunderts an der europäischen Praxis der Versklavung von Afrikaner*innen teil (ohne bis dahin Territorien in der Karibik erobert zu haben) und gründete sogenannte »Guinea«- oder »Afrikanische« Kompagnien in Glückstadt (Schleswig-Holstein an der Elbe) und in Kopenhagen, die zeitweilig auch Forts in Westafrika erbauten und kontrollierten (Gøbel 2018: 118f.). Ab 1665 begann das dänische Königreich, sich Territorien in der Karibik anzueignen, beginnend mit den Inseln St. Thomas, St. Jan (die schon zuvor von Kolonisatoren diese Namen erhalten hatten) und abschließend 1733 mit dem Kauf von St. Croix von Frankreich (Jensen 2018: 187). Ab 1685 für ca. 30 Jahre wurde die transatlantische Versklavung von Menschen unter dänischer Flagge auch in Kooperation mit der Brandenburgisch-Afrikanischen Compagnie v.a. am Hafen von St. Thomas organisiert (Petersen 2018: 45). Auf den von Dänemark besetzten karibischen Inseln wurden Zuckerrohrplantagen errichtet, Rohzucker und Rum wurden nach Dänemark verschifft, um dort weiterverarbeitet und verkauft zu werden. Diese Verschiffung von Energie und Nährstoffen aus der Karibik in die europäischen Zentren nennt Jason Moore (2000: 413) einen »ungleichen ökologischen Austausch«, bei dem lediglich die Zentren profitierten. Die sogenannten Zuckerinseln waren für Dänemark von überragendem ökonomischen Wert, da sie für die Händler, Reeder und Kaufleute hohe Profite ermöglichten (Flensburger Schifffahrtsmuseum 2009: 14; Nwanaga 1999). Rohzucker war zu dieser Zeit eine der kostbarsten Handelswaren weltweit. Unternehmer aus Flensburg hatten ab 1755 bis 1864 vom dänischen König ein Zugangsrecht zu den karibischen Kolonien bekommen und durften eigene Schiffe für die Fahrt auf die nun sogenannten »Dänisch-Westindischen Inseln« ausrüsten. Königliche »Privilegien« für den Versklavungshandel wurden dagegen an Kompagnien vergeben, die zunächst u.a. aus Glücksstadt und dann von Kopenhagen aus operierten (Degn 1974: 122ff.). Über einen Zeitraum von 109 Jahren konzentrierten sich die Flensburger Kaufleute u.a. auf den Handel und die Verarbeitung von Produkten aus den dänischen Kolonien in der Karibik. Die Profite aus dieser Zeit transformierten die Siedlungsstruktur, die bis heute die Altstadt prägt: Speicher für Kolonialwaren, Wohn- und Geschäftshäuser und später auch die Landschaftsgärten der Kaufleute entstanden zu dieser Zeit (Petersen 2018; Flensburger Schifffahrtsmuseum 2009). Von Flensburg aus betrachtet, beginnt die Verflechtungsgeschichte des Zuckerrohrs häufig mit dem Zugang zu den Plantagenökonomien auf den dänisch kolonisierten Inseln in der Karibik – die bereits früher ein-

229

230

Aneignung, Ausbeutung und emanzipatorische Praktiken

setzende Beteiligung Dänemarks an der Verschleppung und Versklavung von Menschen, der Dehumanisierung von Afrikaner*innen sowie die erzwungene und unbezahlte, grausame und zermürbende Arbeit versklavter Menschen bleibt bei der Rede von der »Westindienfahrt« tendenziell ausgeblendet (Tafari-Ama 2017). Bereits in den 1990er Jahren hat Christopher Nwanaga (1999: 15) dieses Narrativ in Frage gestellt und darauf hingewiesen, dass auch schleswig-holsteinische Kapitäne, Seeleute und Kaufleute Zeitzeugen und Mittäter der Versklavung von Afrikaner*innen waren. Ihm begegnete jedoch viel Abwehr und erst sehr viel später wurden die Weichen für eine öffentlichere Auseinandersetzung durch die Ausstellung »Rum, Schweiß und Tränen« gestellt – wobei auch die Ausstellung in der Vorbereitung durchaus skeptisch gesehen wurde (Overdick 2019). Mit dem Konzept des racial capitalism ist es möglich, hier auf die verschiedenen rassistischen Vorstellungen und Systeme einzugehen, welche die historische Realität der Ausbreitung der Plantagenökonomien, aber auch unser heutiges Nachdenken über diese Zeit prägen. Ein Beispiel für rassistische Vorstellungen, welche die Versklavung von Schwarzen Menschen auf Zuckerrohrplantagen legitimieren sollten und dabei Trennungen produzierten und Ausbeutung ermöglichten, sind Behauptungen der biologisch bedingten unterschiedlichen Eignung von weißen und Schwarzen Menschen zu harter Arbeit unter tropischen Klimabedingungen. Diese werden teils heute noch in rassistischer Weise wiederholt. So schreibt Imani Tafari-Ama (2018b: 18): »Die typische koloniale Legitimierung der Entmenschlichung von Afrikaner*innen war die Behauptung, dass Afrikaner*innen besser geeignet für die Plantagenarbeit waren, weil sie aus einem ähnlich warm-heißen Klima auf dem afrikanischen Kontinent stammten.« (Übers. d. A.) Dies sei dann der Grund gewesen, warum Afrikaner*innen auf den »killing fields« (Tafari Ama 2018b: 18) der Karibik als Versklavte zur Arbeit gezwungen wurden. Mit dem Begriff der »killing fields« zeigt Imani Tafari-Ama, was die Zuckerrohrplantagen waren: Orte mörderischer Zwangsarbeit. Eric Eustace Williams ging diesem Mythos der besonderen Eignung zur Plantagenarbeit bereits 1943 in seiner Studie »Capitalism and Slavery« (Williams 1994[1943]) nach. Er rekonstruiert, wie Plantagenbesitzer*innen in der Karibik und den Amerikas v.a. im 17. Jahrhundert neben Schwarzen Versklavten auch europäische Arbeiter*innen einsetzten, die als (teils gekidnappte und verschleppte) Schuldknechte oder Gefangene in die Karibik geschifft wurden. Die Plantagenbesitzer*innen hatten jedoch nur zeitlich befristet Anspruch auf die Arbeit der Schuldknechte, und nach der Ableistung einer vorher bestimm-

Inken Carstensen-Egwuom: Kolonialität von Zuckerrohr

ten Zeit konnten diese möglicherweise ein eigenes kleines Stück Land erhalten (was regional unterschiedlich umgesetzt wurde). Des Weiteren konnten sie aufgrund der rassistischen Gesellschaftsstruktur leichter entfliehen, weil sie als weiße freie Menschen nicht als grundsätzlich verdächtig betrachtet wurden (Williams 1994[1943]: 17ff.). Diese Geschichte der weißen Schuldknechte wird jedoch wenig thematisiert – und für Cedric J. Robinson (2000[1983]: 120) funktioniert die Produktion der Idee einer Solidarität, Homogenität bzw. Einigkeit unter weißen Menschen, also die ideologische Produktion von Weißsein, unter anderem durch die Ausblendung dieser Ausbeutungsverhältnisse. Eric Eustace Williams betont damit die ökonomischen Rationalitäten hinter der Verschleppung und Versklavung von Afrikaner*innen und entlarvt die rassistischen Bilder und Mythen angeborener Unterschiedlichkeit Schwarzer und weißer Menschen als Legitimierungen für die ökonomischen Interessen der Plantagenbesitzer*innen: »Die Klimatheorie der Plantage ist nichts als ein Versuch der Rechtfertigung […] Die Versklavung von Schwarzen Menschen hatte nichts mit dem Klima zu tun. Der Ursprung kann in drei Worten ausgedrückt werden: In der Karibik Zucker, auf dem amerikanischen Festland Tabak und Baumwolle.« (Williams 1994[1943]: 22f., Übers. d. A.) Außerdem zeigt Eric Eustace Williams in seiner komplexen und detailreichen historischen Untersuchung zu Kapitalismus und Sklaverei, welch breite Wirkungen die Plantagenökonomie und die Profite aus der unbezahlten Arbeit versklavter Menschen auf die europäische wirtschaftliche Entwicklung hatten. Er fokussiert dabei auf England und zeigt, dass Schifffahrt und Schiffsbau in den angefahrenen Hafenstädten (Williams 1994[1943]: 57ff.), die Produktion von Wolle und Baumwolle sowie die Zuckerverarbeitung, Rumproduktion und Metallverarbeitung von den kolonialen Verhältnissen profitierten (ebd.: 65ff.). So zeigt er Verbindungen breiterer kapitalistischer Wertschöpfung zum Versklavungshandel: Auch das Banken- und Versicherungswesen profitierte wesentlich von Investitionen aus den Profiten der Plantagen, aber ebenso durch die Neuentwicklung von Finanzprodukten für die Versklavung und Verschleppung von Menschen (ebd.: 85ff.). Seine Untersuchung wird in deutschsprachigen historischen Diskussionen zur Verbindung von Zucker und kapitalistischer Wirtschaftsentwicklung allerdings teilweise auf eine einzige These zusammengeschrumpft, »die da besagt, es bestehe ein Zusammenhang zwischen Industrialisierung und den Gewinnen aus Überseehandel, Sklaverei und Plantagenökonomie« (Wendt 2013: 53). Diese These findet nach Wendt in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft nur wenige Befürworter*innen. In den englisch-

231

232

Aneignung, Ausbeutung und emanzipatorische Praktiken

sprachigen Geschichts- und Kulturwissenschaften hat Eric Eustace Williams’ Studie dagegen vielfältige weitere Forschungen angeregt (Hall et al. 2014; Beckles 2013; Robinson 2000[1983]). Reinhardt Wendt (2013: 53) erläutert, dass in der südlichen Hemisphäre durch das auf Europa als Zentrum fokussierte Handelssystem strukturelle Defizite verursacht worden seien. Diese Aussage wendet den Fokus der Betrachtung von den europäischen Metropolen auf die ehemals kolonisierten Länder. So wird einseitig der Fokus auf Defizite an bestimmten Orten innerhalb kolonialer Verflechtungen gelegt. Aus der Perspektive eines global vernetzten racial capitalism ist dies eine Verkürzung, denn die Entwicklung kapitalistischer Warenproduktion geschah in einer bemerkenswerten Gleichzeitigkeit ungleicher Entwicklungen. In einem späteren Text zeichnet Reinhardt Wendt (2021: 29ff.) dann auch detailliert die Profite der »Verzuckerung der Welt« für Europa nach. Er konzentriert sich dabei unter anderem auf die Region Köln/Solingen und thematisiert sowohl die Impulse aus der Zuckerraffinerie (ohne dass Köln ein Hauptstandort der Zuckerproduktion war) als auch die Herstellung von Versorgungsgütern für südamerikanische Plantagenwirtschaften im 18. Jahrhundert. Aus Solingen kamen zum Beispiel Haumesser zum Schlagen des Zuckerrohrs, während Köln ein wichtiger Umschlagplatz für importierten Rohrzucker sowie ein Standort der Zuckerraffinerie mit entsprechenden Wachstumsimpulsen für andere Branchen war. Außerdem thematisiert Reinhardt Wendt (ebd.: 52) einen für Dänemark, Schleswig-Holstein und Hamburg wichtigen historischen Akteur: Heinrich Carl Schimmelmann. Dabei betont Reinhardt Wendt die globalen Verflechtungen von dessenökonomischen und politischen Aktivitäten, mit Bezügen nach Asien, Afrika und in die Amerikas. Als eines der zentralen Güter der Epoche war Zucker für diese Aktivitäten extrem wichtig. Heinrich Carl Schimmelmann, der gleichzeitig Schatzmeister des dänischen Königs war, besaß eigene Zuckerrohrplantagen auf den dänischen Inseln in der Karibik sowie eine Zuckerraffinerie in Kopenhagen. Außerdem hatte er Anteile an der dänischen Guinea-Kompagnie, welche Menschen aus Afrika verschleppte, besaß Betriebe in Holstein, in denen Haumesser und Werkzeuge für die Plantagen hergestellt wurden, sowie Rum-, Branntwein- und Gewehrfabriken in Holstein und war an der dänischen Ostindien-Kompagnie, über die er Baumwolle bezog, beteiligt. Als Schiffseigner verdiente er weiterhin an der Logistik und den Transporten. Neben den verschiedenen ökonomischen Impulsen wurde der aus diesen Unternehmungen erwachsene Reichtum auch in repräsentative Gebäude, Kunst und Kultur investiert und später in

Inken Carstensen-Egwuom: Kolonialität von Zuckerrohr

Familienstiftungen weitergetragen (Degn 1974: 90ff.). Klaus Weber (2009) und Julia Roth (2017) erforschen ebenfalls die bisher viel zu selten thematisierten Profite deutscher Kaufleute und Finanziers aus dem globalen Geschäft der Plantagenökonomien in der Karibik sowie aus dem Versklavungshandel. So ermöglicht eine Nachzeichnung von Profiten aus dem Zuckerhandel auch, einer der geographischen Aufforderungen des Konzepts des racial capitalism zu folgen und jenseits von nationalen Containern in Verflechtungsgeographien zu denken. Im Folgenden zeige ich daher, wie auch in kolonialismuskritischer Wissensproduktion beständig Leerstellen oder Auslassungen reflektiert werden können. Denn das Konzept des racial capitalism fordert dazu auf, die Komplexitäten und unterschiedlichen Formen von Rassismus in ihren Verbindungen zu verstehen (Gilmore 2020).

Leerstellen der kolonialismuskritischen Wissensproduktion Die Begriffe Sklaverei und Versklavung werden teilweise metaphorisch für geographische Räume verwendet. Jason Moore (2000: 426, Übers. d. A.) schreibt zum Beispiel: »So wie der Zucker-Komplex Arbeiter*innen versklavte und das Land degradierte, versklavte er auch (periphere) Regionen durch die Vertiefung ihrer Abhängigkeit vom Zentrum«. Hier wird Versklavung in einer Weise verwendet, die jenseits der konkreten Dehumanisierung von Menschen auch ganze Regionen betreffen kann. Auch Anna Tsing und Donna Haraway verwenden den Begriff der Sklaverei in ihrem wichtigen, methodisch und theoretisch anregenden Nachdenken über das Zeitalter der Plantagen (das plantationocene) in einer Weise, die eine Tendenz zur Ausblendung von rassismuskritischen Perspektiven zeigt. Sie sprechen über die Versklavung von Pflanzen (Haraway, et al. 2016: 22f.), die Versklavung von Maschinen und die Zwangsarbeit von Mikroben, Pflanzen und Tieren (Haraway/Tsing 2019: 5). Janae Davis, Alex Mouton, Levi van Sant und Brian Williams (2019: 5) kritisieren hier aus der Perspektive der Black Geographies eine Tendenz der Verflachung der Diskussion um Multispezies-Geographien. Sie erläutern, dass Konzepte von Plantagen, in denen »Sklaverei« für etliche unterschiedliche Ausbeutungsverhältnisse stehen kann, die konkreten Rassifizierungen von Macht verschleiern und die Geschichte Schwarzer Kämpfe und Schwarzen Lebens herabwürdigen. Gleichzeitig könnte eine Analyse des Schwarzen Überlebens auf der Plantage die rassistisch-ökologischen Systeme des Plantagenlebens zeigen, aber auch die revolutionäre Praxis der Schaffung von Verwandtschaf-

233

234

Aneignung, Ausbeutung und emanzipatorische Praktiken

ten verdeutlichen (Davis et al. 2019: 6, s. auch McKittrick in diesem Band, Org. 2013). Ein weiterer Aspekt, in dem sich Rassismus und die Narrative über die Entwicklung und Ausweitung von Zuckerrohr-Plantagen überschneiden, ist die Darstellung von indigenen Bevölkerungsgruppen und ihren Beziehungen zum Land. Lisa Lowe (2015: 200) merkt für die bahnbrechende Studie von Sydney Wilfred Mintz an, dass er die indigene Bevölkerung der Karibik nicht thematisiert bzw. sie als bereits verdrängt oder ausgestorben darstellt. Auch in Jason Moores (2000) Darstellung der Entwicklung kapitalistischer Strukturen mit Bezug auf Zuckerrohr-Anbau kommen indigene Bevölkerungen kaum vor. Landraub erscheint als ökologisches Desaster, nicht so sehr als Teil einer rassistischen Struktur. Lisa Lowe (2015: 200, Fußnote 63) argumentiert, dass diese Abwesenheit von indigenen Menschen erstens nicht der historischen Realität entspricht: Zwar waren viele indigene Menschen in der Karibik bereits in den Jahrhunderten nach 1492 ermordet worden, auf andere Inseln vertrieben bzw. geflüchtet oder durch Krankheiten gestorben, aber auch noch im 17. Jahrhundert wird von dem Widerstand der einheimischen Bevölkerung (der in britischen Quellen sogenannten »Caribs«) gegen den Raub ihrer Territorien berichtet (bspw. Beckles 1992). Zweitens, so Lisa Lowe, ist diese Auslassung ein Kennzeichen rassistischer Haltungen gegenüber indigenen Bevölkerungen, die einen (fortgesetzten) Landraub legitimieren bzw. naturalisieren: Ihr Sterben und Verschwinden wird zu etwas Selbstverständlichem, sie werden als Menschen dargestellt, die nur in der Vergangenheit existier(t)en. Das Konzept des racial capitalism, das beständig nach den rassistischen Trennungen, Entmenschlichungen und Hierarchisierungen fragt, auf denen kapitalistische Entwicklung aufbaut, kann für solche Rassifizierungen sensibilisieren. Eine wenig thematisierte Form erzwungener Arbeit in der Karibik, welche für die Plantagenökonomien und damit für die Produktion von Zuckerrohr historisch wichtig war, ist die Schuldknechtschaft indischer und chinesischer Vertragsarbeiter*innen. Lisa Lowe (2015: 97–98) zeichnet nach, dass von britischen Kolonialisten bereits Pläne für diese Praxis geschmiedet wurden, nachdem Rebellionen und Selbstbefreiungen versklavter Menschen und besonders die Haitianische Revolution die Angst vor Schwarzer Befreiung geschürt hatten. Cedric J. Robinson (2000[1983]: 284ff.) fokussiert die Situation in Trinidad und zeigt, dass nach der formalen Abschaffung der Sklaverei im britischen Empire 1833 Kontraktarbeiter*innen aus Indien zwischen 1845 und 1917 das Rückgrat der Zuckerrohrökonomie bildeten. Lisa Lowe (2015: 35) nennt ebenfalls u.a. die britischen Kolonien Jamaika und Trinidad als Regionen, in denen

Inken Carstensen-Egwuom: Kolonialität von Zuckerrohr

eine große Anzahl an indischen und chinesischen Kontraktarbeiter*innen ankamen; schon zeitgenössische Stimmen haben die Rechtlosigkeit dieser Personen beklagt. So werden an Zeitpunkten der Überwindung von rassistischen Strukturen wiederum neue Trennungen und Ausbeutungsmechanismen geschaffen – und bspw. Arbeiter*innen durch die Schaffung von Konkurrenzsituationen diszipliniert.3 Aus einer Flensburger Perspektive ist hier ebenso eine Auslassung zu konstatieren. Zwar war der britische Kolonialismus – inklusive der Praxis der Kontraktarbeit – für Flensburg von zentraler Bedeutung, aber dies wird selten als koloniale Verflechtungsgeschichte thematisiert. Nachdem Flensburg im Jahr 1864 preußisch und dann Teil des Deutschen Reichs geworden war, bezogen Flensburger Kaufleute ihren Rum für den Flensburger RumVerschnitt über koloniale Verbindungen des Britischen Empires, insbesondere aus Jamaika (Petersen/Zeller 2018: 323). Eine langandauernde profitable Phase der Rumproduktion und -vermarktung in ganz Deutschland wurde für Flensburgs Selbstbeschreibung als »Rumstadt« zentral. Dabei ließ die Firma PottRum nach dem zweiten Weltkrieg rassistische Darstellungen von Schwarzen Menschen für ihr Marketing entwerfen und verwendete sie bis in die 1960er Jahre (Petersen/Zeller 2018). Auch eine solche rassistische Bildproduktion im Marketing kann als Teil von rassistisch-kapitalistischen Strukturen verstanden werden. Diese Reflexion der globalen Verflechtungen der Zuckerproduktion zeigt die Notwendigkeit von Konzepten, die ungleiche, verbundene ökologische und soziale Entwicklungen miteinander in Bezug setzen können. Die Karibik, Südamerika, Afrika und Asien spielten und spielen in der Entwicklung des europäischen Kapitalismus eine zentrale Rolle. Stuart Hall (2007: 48f.) fasst für England eine emanzipatorische Vision der Zugehörigkeit von Migrant*innen aus dem britischen Empire zusammen, die auch für Menschen aus (ehemals) kolonisierten Ländern, die in Flensburg oder anderen europäischen Orten leben, anwendbar ist: »Menschen wie ich, die in den 1950ern

3

Selbstverständlich sind diese Trennungen und Konkurrenzverhältnisse ebenso durch Kooperationen, Koalitionen und gemeinsame Widerständigkeiten aufgebrochen worden. Ein Benennen rassistischer Strukturen (auch in kritischer Absicht) trägt immer auch die Gefahr der Reproduktion oder Normalisierung solcher Trennungen in sich. Wie Tao-Leigh Goffe (2019: 33f.) betont, sind die Erfahrungen von Afrikaner*innen und Asiat*innen in der Karibik durch Zucker eng verbunden, werden jedoch häufig separat voneinander verhandelt.

235

236

Aneignung, Ausbeutung und emanzipatorische Praktiken

nach England kamen, waren bereits seit Jahrhunderten hier gewesen, symbolisch. Ich kam nach Hause. Ich bin der Zucker am Boden der englischen Tasse Tee.« In Flensburg hat Felisha Maria Carenage4 im Jahr 2022 als artistic researcher eine Installation von vier großformatigen Malereien mit dem Titel »Luisa löst sich auf« in der Hauptkirche St. Nikolai am Südermarkt in Flensburg gestaltet. Diese Installation ermöglichte vielfältige Reflexionen zu Verflechtungsgeographien. Die Ausstellung zeichnete Leid, Pathos und Identität in einem dekolonialen Kontext nach. Die Malereien thematisierten die Geschichte von Luisa Calderóns Leben als gefolterte 14-jährige Jugendliche of Color in Trinidad. Die Bilder ihrer Folter wurden von der abolitionistischen Bewegung in Großbritannien genutzt und von Felisha Maria Carenage künstlerisch interpretiert. Aus Luisa Calderóns eigener Perspektive sind bislang keine weiteren Aufzeichnungen über ihre weitere Lebensgeschichte bekannt (weitere Informationen zu Luisa Calderón und zu den Kunstwerken s. Carenage/Carstensen-Egwuom 2022). Diese Geschichte des frühen 19. Jahrhunderts gehört auch nach Flensburg: Die Stadt ist u.a. durch den Import, die Weiterverarbeitung und Vermarktung von Rum aus Jamaika konkret mit dem britischen Kolonialismus verbunden, und koloniale Verflechtungen müssen als europäische und globale Prozesse verstanden werden. Eine Auseinandersetzung mit Luisa Calderóns Geschichte stellt dabei eine Möglichkeit dar, die Einbindung Flensburgs in globale Verflechtungen des racial capitalism zu erkunden. Im Folgenden ermöglichen Reflexionen von Ansätzen zu Reparationen und reparativer Gerechtigkeit einige Fragen nach Möglichkeiten der Überwindung von Strukturen des racial capitalism. Dabei werden einzelne Forderungen aufgegriffen und ihre geographischen und transformativen Ansatzpunkte verdeutlicht.

Reparationsforderungen und Denkräume reparativer Gerechtigkeit Wenn in der Auseinandersetzung mit Sklaverei Reparationen thematisiert werden, geht es häufig um die USA. Ta-Nehisi Coates (2016) wurde mit seinem Buch »Zwischen mir und der Welt«, das auch ein Plädoyer für Reparationen 4

Zur Zeit der Installation im Jahr 2022 war ihr Name Felisha Maria Bahadur. Mehr Informationen über ihre Arbeit im Internet unter https://www.felishamaria.de und bei Instagram unter @badgyal.felisha

Inken Carstensen-Egwuom: Kolonialität von Zuckerrohr

enthält, in Deutschland bekannt. Die Engführung von Diskussionen zu Sklaverei und Reparationen auf einen nationalen Container der USA ist jedoch unzureichend. Dies wurde in den letzten Jahrzehnten besonders von Wissenschaftler*innen aus der Karibik betont (Beckles 2013; Rauhut 2018), und auch die vorherigen Kapitel zu einem global verflochtenen racial capitalism und zur Kolonialität von Zuckerrohr zeigen dies deutlich. Bei Fragen von Reparationen in globalen Verflechtungsgeographien rücken laut David Scott (2014: x) Fragen wie diese in den Vordergrund: Auf welche Weise sind heutige Staatsschulden oder Situationen anhaltender Armut zum Beispiel in karibischen Staaten mit europäischer, unrechtmäßig erworbener (Über-)Entwicklung verbunden?5 So sind diese Staatsschulden und der europäische Diebstahl im Rahmen des Kolonialismus nicht zufällig miteinander verbunden, sondern diese Verbindung ist integraler Bestandteil der Entstehung der modernen Welt (ebd., s. auch: Rauhut 2018: 152). Auch die Forderungen nach reparativer Gerechtigkeit von der internationalen Organisation karibischer Staaten, CARICOM, sind ein Teil dieser Verflechtungsgeographien. Die CARICOM Reparations Commission (2014) hat in intensiven Diskussionen ein zukunftsgerichtetes politisches Projekt entwickelt, das klare Forderungen stellt und damit transformative Forderungen anstoßen kann. Punkt Fünf des Zehn-Punkte Plans (ebd.) bringt die Entstehung sowie die Arbeit an der Überwindung der sehr hohen Inzidenzen von chronischen Krankheiten wie Bluthochdruck und Diabetes bei der Schwarzen Bevölkerung in der Karibik mit vergangenen und aktuellen rassifizierten Ausbeutungsstrukturen in Verbindung, unter anderem mit versklavter Arbeit und Mangelernährung auf Zuckerrohrplantagen. Auch in den USA gibt es Forschungen dazu, wie insbesondere Schwarze Menschen durch rassistische Ernährungssysteme diejenigen sind, bei denen überschüssiger Zucker abgeladen wird – mit entsprechenden gesundheitlichen Konsequenzen (Hatch/Sternlieb/ Gordon 2019: 9). In dem Text der karibischen Reparationsforderungen werden die Regierungen europäischer Länder adressiert und in Punkt Fünf konkret aufgefordert, das Gesundheitssystem in der Karibik zu unterstützen (CARICOM Reparations Commission 2014). Dieser Appell an die »überfällige historische und politische Verantwortung europäischer Regierungen und

5

Siehe für ein Lehrprojekt in diesem Rahmen den »Caribbean Debt Syllabus« der Columbia University: Unpayable Debt: Capital, Violence and the New Global Economy (2019): https://ilas.columbia.edu/news/caribbean-syllabus-life-and-debt-caribbe an (letzter Abruf 21.2.2023).

237

238

Aneignung, Ausbeutung und emanzipatorische Praktiken

Gesellschaften, das historische Unrecht von Sklaverei und Kolonialherrschaft anzuerkennen, aufzuarbeiten und in einen Dialog über Wiedergutmachung zu treten« (Boatcă/Rauhut 2019: 104), wird bisher kaum politisch bearbeitet. Doch in wissenschaftlichen Publikationen gibt es vermehrt Ansätze, die reparative Gerechtigkeit mit anderen aktuellen Gerechtigkeitsbewegungen zusammendenken. Aus einer verflechtungsgeographischen Perspektive ist ein Nachdenken über reparative Gerechtigkeit auch auf der Ebene von Stadtgesellschaften und auf anderen geographischen Ebenen möglich und notwendig. Hier ist zum Beispiel zu fragen, wie bspw. in Flensburg stadtgesellschaftliche Auseinandersetzungen mit reparativer Gerechtigkeit (sowohl vor Ort als auch in internationalen Verflechtungen) aussehen können? Dabei ist es wichtig, wie Saidiya Hartman (2007: 165ff.) betont, dass innerhalb von solchen Diskussionen historisches und aktuelles Unrecht nicht immer wieder (von denen, die es erlebt haben) zu beweisen bzw. zu präsentieren ist. Denn daraus entsteht eine Dynamik, in der ausschließlich Schwarzes Leid thematisierbar ist und reproduziert wird, während Schwarzes Leben keinen Raum bekommt (s. dazu ebenfalls McKittrick in diesem Band, Org. 2013). Außerdem führt ein Nachdenken über Reparationen auch zur Notwendigkeit der Herausforderung aktueller Normalitäten, welche auf tief verankerten, kolonial-rassistischen Strukturen basieren, und die mit Bezug auf globale Ungleichheiten und ökologische Zerstörungen eine Katastrophe sind (Massey 2006: 94; McKittrick 2013: 7). So entstehen Forderungen, die eine tiefgreifende »Rekonstruktion der Gesellschaft« bedeuten und die Überwindung entmenschlichender Gesellschaftsstrukturen zum Ziel haben (Hartman 2007: 170; Inwood/Livia Brand/Quinn 2021: 5). In Diskussionen um die Zukunftsorientierung von reparativer Gerechtigkeit entsteht dabei eine Spannung zwischen unterschiedlichen Polen der Argumentation. Auf der Seite der »Gerechtigkeit als Versöhnung« steht eine Sprache der Zukunftsorientierung im Sinne einer versöhnenden Emanzipation (Scott 2018:x). Auf der anderen Seite steht ein Ansatz, der die Größenordnungen historischer Schuld in Diskussionen um gesellschaftliche Transformation immer wieder thematisiert und sich weigert, Gerechtigkeit nur in der Zukunft zu verorten (ebd.). Dabei ist ein zukunftsorientierter gemeinsamer Kampf gegen rassistisch-kapitalistische Strukturen an sich reparativ, weil er darauf zielt, die »gesellschaftlichen Verhältnisse, Produktions- und Beziehungsweisen abzuschaffen, die Gewalt und Armut generell hervorbringen« (Thompson 2022: o.S.). Andererseits bleiben dabei jedoch auch potenzielle Fragen nach historischer Schuld ungeklärt. Forderungen nach Reparationen sind aktuell, sie sind dringlich, und sie wer-

Inken Carstensen-Egwuom: Kolonialität von Zuckerrohr

den (auch) innerhalb des bestehenden kapitalistischen Systems geäußert. David Scott (2018: x, Übers. d. A.) betont: »Reparative Politik ist eine aktuelle Forderung. Eine Forderung nach dem, was genommen wurde, moralisch, materiell, symbolisch und spirituell. […] Diese Forderung muss notwendigerweise gewürdigt werden, bevor eine gemeinsame Zukunft der Freiheit beginnen kann.« Es besteht somit – neben der Kritik an einer oberflächlichen Idee von Versöhnung und Zukunftsorientierung – auch ein Spannungsfeld zwischen Reparationsforderungen und Forderungen nach tiefgreifenderer, radikaler Transformation. Dieses Spannungsfeld produktiv zu bearbeiten ist eine wichtige Herausforderung. In diesem Text habe ich am Beispiel des Zuckerrohrs und mit Bezug zum Konzept des racial capitalism gezeigt, dass die gegenwärtigen globalen Ungleichheiten nicht einfach gegeben sind. Vielmehr basieren sie auf der historischen Produktion von kolonialen Ungleichheiten, die in komplexer Weise miteinander in Verbindung stehen (Lowe 2015: 136). Die Bezüge zu Flensburg haben deutlich gemacht, wie die Stadtentwicklung (auch) in einer kleinen europäischen Hafenstadt mit globalen rassistischen und kapitalistischen Dynamiken verbunden ist.

Literatur Al-Bulushi, Yousuf (2022): »Thinking Racial Capitalism and Black Radicalism from Africa. An Intellectual Geography of Cedric Robinson’s World-system«, in: Geoforum (132), S. 152–262. Ashe, Stephen D. (2021): Racial Capitalism, https://globalsocialtheory.org/topic s/racial-capitalism/, zuletzt geprüft am 15.04.2021. Beckles, Hilary M. (1992): »Kalinago (Carib) Resistance to European Colonisation of the Caribbean«, in: Caribbean Quarterly 38(2/3), S. 1–124. Beckles, Hilary M. (2013): Britain’s Black Debt. Reparations for Caribbean Slavery and Native Genocide, Kingtson, Jamaica: University of the West Indies Press. Bhambra, Gurminder K. (2021): »Colonial Global Economy: Towards a Theoretical Reorientation of Political Economy«, in: Review of International Political Economy 28(2), S. 1–16. Bhattacharyya, Gargi (2018): Rethinking Racial Capitalism. Questions of Reproduction and Survival, London/New York: Rowman und Littlefield International. Boatcă, Manuela; Rauhut, Claudia (2019): »Globale Ungleichheiten in der longue durée: Kolonialismus, Sklaverei und Forderungen nach Wiedergut-

239

240

Aneignung, Ausbeutung und emanzipatorische Praktiken

machung«, in: Karin Fischer; Margarete Grandner (Hg.): Globale Ungleichheit. Über Zusammenhänge von Kolonialismus, Arbeitsverhältnissen und Naturverbrauch, S. 91–107. Carenage, Felisha; Carstensen-Egwuom, Inken (2022): Luisa. Felisha Maria. Artist Talk Flyer, Flensburg, https://felishamaria.de/ux-portfolio/luisa/, zuletzt geprüft am 12.12.2022. CARICOM Reparations Commission (2014): Ten Point Reparation Plan, Turkeyen, Greater Georgetown, Guyana, https://caricomreparations.org/carico m/caricoms-10-point-reparation-plan/, zuletzt geprüft am 22.01.2021. Coates, Ta-Nehisi (2016): Zwischen mir und der Welt, München: Hanser Berlin. Davis, Janae; Moulton, Alex A.; van Sant, Levi; Williams, Brian (2019): »Anthropocene, Capitalocene, … Plantationocene? A Manifesto for Ecological Justice in an Age of Global Crises«, in: Geography Compass 13(5). Degn, Christian (1974): Die Schimmelmanns im atlantischen Dreieckshandel. Gewinn und Gewissen, Neumünster: Wachholtz. Eichen, Joshua R. (2020): »Cheapness and (Labor-)Power: The Role of Early Modern Brazilian Sugar Plantations in the Racializing Capitalocene«, in: Environment and Planning D: Society and Space 38(1), S. 35–52. Ferdinand, Malcom (2021): A Decolonial Ecology. Thinking from the Caribbean World, Cambridge: Policy Pess. Flensburger Schifffahrtsmuseum (Hg.) (2009): Die Rum & Zucker Meile. Ein Rundgang durch die Flensburger Altstadt. Rom & Sukker Ruten. En vandring gennem det gamle Flensborg, Flensburg: Druckhaus Leupelt. Gilmore, Ruth Wilson (2002): »Race and Globalization«, in: Ron Johnston, Peter J. Taylor, Michael Watts (Hg.): Geographies of Global Change. Remapping the world, Malden, Mass.: Blackwell Publ. Gilmore, Ruth Wilson (2020): Geographies of Racial Capitalism with Ruth Wilson Gilmore – An Antipode Foundation film, Boston, online verfügbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=2CS627aKrJI, zuletzt geprüft am 03.07.2023. Gøbel, Erik (2018): »The Danish West Indies, 1660s-1750s: Formative Years«, in: Louis H. Roper (Hg.): The Torrid Zone. Caribbean Colonization and Cultural Interaction in the Long Seventeenth Century, Columbia, South Carolina: The University of South Carolina Press, S. 118–131. Goffe, Tao Leigh (2019): »Sugarwork: The Gastropoetics of Afro-Asia After the Plantation«, in: Asian Diasporic Visual Cultures and the Americas 5(1-2), S. 31–56.

Inken Carstensen-Egwuom: Kolonialität von Zuckerrohr

Hall, Catherine (2020): »The Slavery Business and the Making of ›Race‹ in Britain and the Caribbean«, in: Current Anthropology 61(S22), 172–182. Hall, Catherine; Draper, Nicholas; McClelland, Keith; Donington, Katie; Lang, Rachel (Hg.) (2014): Legacies of British Slave-ownership. Colonial Slavery and the Formation of Victorian Britain, Cambridge: Cambridge University Press. Hall, Stuart (2007): »Old and New Identities, Old and New Ethnicities«, in: Anthony D. King (Hg.): Culture, Globalization, and the World-system. Contemporary Conditions for the Representation of Identity, Minneapolis, Minn.: University of Minnesota Press, S. 41–68. Hamade, Houssam; Sorg, Christoph (2023): »Rassismus und Kapitalismus«, in: Nationaler Diskriminierungs- und Rassismusmonitor (Hg.): Rassismusforschung I. Theoretische und interdisziplinäre Perspektiven, Bielefeld: transcript, S. 251–290. Haraway, Donna; Ishikawa, Noboru; Gilbert, Scott F.; Olwig, Kenneth; Tsing, Anna L.; Bubandt, Nils (2016): »Anthropologists Are Talking – About the Anthropocene«, in: Ethnos 81(3), S. 535–564. Haraway, Donna; Tsing, Anna (2019): »Reflections on the Plantationocene. A Conversation with Donna Haraway and Anna Tsing, Moderated by Gregg Mitman«, in: Edge Effects Magazine. Hartman, Saidiya V. (2007): Lose your Mother. A Journey along the Atlantic Slave Route, New York: Farrar Straus and Giroux. Hawthorne, Camilla; Heitz, Kaily (2018): »A Seat at the Table? Reflections on Black geographies and the Limits of Dialogue«, in: Dialogues in Human Geography 8(2), S. 148–151. Inwood, Joshua F.J.; Livia Brand, Anna; Quinn, Elise Andrea (2021): »Racial Capital, Abolition, and a Geographic Argument for Reparations«, in: Antipode 53(4), S. 1083–1103. Jensen, Lars (2018): Postcolonial Denmark. Nation Narration in a Crisis Ridden Europe, London/New York: Routledge. Kelley, Robin D. G. (2017): »What did Cedric Robinson Mean by Racial Capitalism?«, in: Boston Review, http://bostonreview.net/race/robin-d-g-kell ey-what-did-cedric-robinson-mean-racial-capitalism, zuletzt geprüft am 12.04.2021. Kundnani, Arun (2020): What is Racial Capitalism?, Vortrag am Havens Wright Center for Social Justice, https://www.kundnani.org/what-is-racial-capit alism/, zuletzt geprüft am 14.05.2021. Lobenstein, Catarina; Lau, Mariam (2018): »Seenotrettung: Oder soll man es lassen?«, in: Die Zeit vom 11.07.2018, https://www.zeit.de/2018/29/seeno

241

242

Aneignung, Ausbeutung und emanzipatorische Praktiken

trettung-fluechtlinge-privat-mittelmeer-pro-contra, zuletzt geprüft am 09.09.2021. Lowe, Lisa (2015): The Intimacies of Four Continents, Durham: Duke University Press. Lugones, María (2010): »Toward a Decolonial Feminism«, in: Hypatia: A Journal of Feminist Philosophy 25(4), S. 742–759. Martinot, Steve (1996): Racialized Whiteness: its History, Politics, and Meaning, https://www.ocf.berkeley.edu/~marto/semiohst.htm, zuletzt geprüft am 08.01.2023. Massey, Doreen (2006): »Space, Time and Political Responsibility in the Midst of Global Inequality«, in: Erdkunde 60(2), S. 89–95. McKittrick, Katherine (2013): »Plantation Futures«, in: Small Axe: A Caribbean Journal of Criticism 17(3), S. 1–15. Melamed, Jodi (2015): »Racial Capitalism«, in: Critical Ethnic Studies 1(1), S. 76–85. Mintz, Sidney Wilfred (2007[1986]): Die süße Macht. Kulturgeschichte des Zuckers, Frankfurt a.M.: Campus Verl. Moore, Jason W. (2000): »Sugar and the Expansion of the Early Modern WorldEconomy. Commodity Frontiers, Ecological Transformation and Industrialisation«, in: Review (Fernand Braudel Center) 23(3), S. 409–433. Nwanaga, Christopher (1999): »Flensburg im Transatlantischen Dreieckshandel«, in: Heiko Möhle (Hg.): Branntwein, Bibeln und Bananen. Der deutsche Kolonialismus in Afrika. Eine Spurensuche, Hamburg: Assoziation A, S. 15–17. Overdick, Thomas: »Kontaktzonen, Dritte Räume und empathische Orte. Zur gesellschaftlichen Verantwortung von Museen«, in: Hamburger Journal für Kulturanthropologie 10, S. 51–65. Petersen, Marco L. (2018): »Das (post-)koloniale Sønderjylland-Schleswig. Einleitung«, in: Marco L. Petersen (Hg.): Sonderjylland – Schleswig Kolonial. Kolonialismus kulturelle arv i regionen mellem Kongeanen og Ejderen. Das kulturelle Erbe des Kolonialismus in der Region zwischen Eider und Königsau, Odense: Syddansk Universitetsforlag, S. 29–46. Petersen, Marco L.; Zeller, Joachim (2018): »Rum, Reklame und Rassismus: ›Wildgewordene‹ Werbefeldzüge und die Geschichte vom Flensburger ›POTT-Negerlein‹«, in: Marco L. Petersen (Hg.): Sonderjylland – Schleswig Kolonial. Kolonialismus kulturelle arv i regionen mellem Kongeanen og Ejderen. Das kulturelle Erbe des Kolonialismus in der Region zwischen Eider und Königsau, Odense: Syddansk Universitetsforlag, S. 323–344.

Inken Carstensen-Egwuom: Kolonialität von Zuckerrohr

Pulido, Laura (2017): »Geographies of Race and Ethnicity II: Environmental Racism, Racial Capitalism and State-sanctioned Violence«, in: Progress in Human Geography 41(4), S. 524–533. Rauhut, Claudia (2018): »Mobilizing Transnational Agency for Slavery Reparations: The Case of Jamaica«, in: The Journal of African American History 103(12), S. 133–162. Robinson, Cedric J. (2000[1983]): Black Marxism. The Making of the Black Radical Tradition, Chapel Hill, N.C.: University of North Carolina Press. Roig, Emilia (2021): Why We Matter. Das Ende der Unterdrückung, Berlin: Aufbau Verlag. Roldán Mendívil, Eleonora/Sarbo, Bafta (2022): »Warum Marxismus?«, in: Eleonora Roldán Mendívil, Bafta Sarbo (Hg.): Die Diversität der Ausbeutung. Zur Kritik des herrschenden Antirassismus, Berlin: Dietz, S. 17–36. Rosenthal, Caitlin (2022): Sklaverei bilanzieren. Herrschaft und Management, Berlin: Matthes und Seitz. Roth, Julia (2017): »Sugar and Slaves. The Augsburg Welser as Conquerors of America and Colonial Foundational Myths«, in: Atlantic Studies 14(4), S. 436–456. Scott, David (2014): »Preface: Debt, Redress«, in: Small Axe: A Caribbean Journal of Criticism 18(1), S. vii-x. Scott, David (2018): »Preface: Evil Beyond Repair«, in: Small Axe: A Caribbean Journal of Criticism 22(1), S. vii-x. Strauss, Kendra (2020): »Labour Geography III: Precarity, Racial Capitalisms and Infrastructure«, in: Progress in Human Geography 44(6), S. 1212–1224. Tafari-Ama, Imani (2017): »Rum, Schweiß und Tränen. Flensburgs Kolonialgeschichte und -erbe«, in: Grenzfriedenshefte, S. 85–104. Tafari-Ama, Imani (2018a): »Rom, sved og tårer. Danmarks kolonihistorie og koloniale arv i Flensburg, Ghana og på De Amerikanske Jomfruøer. Et essay«, in: Marco L. Petersen (Hg.): Sonderjylland – Schleswig Kolonial. Kolonialismus kulturelle arv i regionen mellem Kongeanen og Ejderen. Das kulturelle Erbe des Kolonialismus in der Region zwischen Eider und Königsau, Odense: Syddansk Universitetsforlag, 431–463. Tafari-Ama, Imani (2018b): Rum, Sweat and Tears. Denmarks Colonial History and Legacy in Flensburg, Ghana and the Virgin Islands of the United States, Unpubliziertes Manuskript. Flensburg. Tafari-Ama, Imani (2019): »Rum, Schweiß und Tränen. Eine kritische Reflexion über Flensburgs koloniale Vergangenheit und sein Kolonialerbe«, in: Susanne Gesser, Nina Gorgus, Angela Jannelli (Hg.): Das subjektive Museum.

243

244

Aneignung, Ausbeutung und emanzipatorische Praktiken

Partizipative Museumsarbeit zwischen Individualismus und gesellschaftlicher Relevanz, Bielefeld: transcript, S. 167–175. Thompson, Vanessa E. (2022): »Von Black Lives Matter zu Abolitionismus. In der Debatte um Polizeigewalt muss das Verhältnis zwischen Kapitalismus und Rassismus in den Mittelpunkt rücken«, in: ak – analyse & kritik – zeitung für linke Debatte und Praxis vom 25.05.2022, https://www.akweb.de/beweg ung/black-lives-matter-abolitionismus-schwarze-bewegung-protest-ma rxismus-george-floyd/, zuletzt geprüft am 07.03.2023. Tilley, Lisa (2021): Racial Capitalism, London. https://www.youtube.com/watch ?v=2QMKAYBIZJk, zuletzt geprüft 20.11.2022. Unpayable Debt: Capital, Violence and the New Global Economy (2019): #NoMoreDebt. Caribbean Syllabus, Second Edition, Columbia University, Centre for the Study of Social Difference, https://caribbeansyllabus.word press.com/caribbean-syllabus/, zuletzt geprüft am 13.01.2021. Walvin, James (2017): Slavery in Small Things. Slavery and Modern Cultural Habits, Malden, MA/Oxford, UK: Wiley-Blackwell. Weber, Klaus (2009): »Deutschland, der atlantische Sklavenhandel und die Plantagenwirtschaft der Neuen Welt«, in: Journal of Modern European History 7(1), S. 37–67. Wendt, Reinhardt (2013): »Zucker – zentrales Leitprodukt der europäischen Expansion«, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 61(2), S. 43–58. Wendt, Reinhardt (2021): »Die Verzuckerung der Welt«, in: Zeitschrift für Ideengeschichte XV(1), S. 26–35. Williams, Eric Eustace (1994[1943]): Capitalism & Slavery, Chapel Hill: University of North Carolina Press.

Klimakolonialismus Weiße Dominanz und Schwarzes Leben im Anthropozän Sybille Bauriedl Whiteness is the ownership of the Earth forever and ever. (W. E. B. Du Bois 1920: 29) Aus weißer Perspektive kann der Klimawandel als langsam voranschreitende Krise betrachtet werden. Mit Blick auf Schwarzes1 Leben ist der Klimawandel mit seinen immer extremeren Dürren, Stürmen und Überflutungen schon längst eine gegenwärtige Katastrophe, die eine lange Phase von Umweltzerstörungen fortsetzt. Es besteht ein Zusammenhang zwischen Umweltzerstörung, Beeinträchtigung von Lebensgrundlagen und globaler Ungleichheit, der sich am ausgeprägtesten in (ehemals) kolonisierten Regionen zeigt. Für die am meisten von Klimawandelfolgen betroffenen Menschen und Gebiete (most affected people and areas, MAPAs) ist der Klimawandel keine Frage der Zukunft, sondern seit Jahrzehnten Gegenwart und Teil kontinuierlicher, menschengemachter Umweltkatastrophen. Trotz dieser Erfahrungen Schwarzer Menschen konzentriert sich die europäische Klimapolitik auf die Bilanzierung von Treibhausgasemissionen und die Diskussion möglicher Zukunftstechnologien zur Emissionsreduktion. In diesem Beitrag versuche ich mit Zugängen

1

Schwarz und weiß werden hier weder als Hautfarben noch als biologische oder ethnische Kategorie verstanden, sondern als soziale und politische Konstruktionen in einem asymmetrischen Machtgefüge. Die Begriffe signalisieren jeweils die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die von Rassismus betroffen ist, bzw. von der struktureller Rassismus ausgeht. Da viele Menschen »Schwarz« als Selbstbezeichnung und Selbstermächtigung nutzen, wird der Begriff in diesem Text großgeschrieben. »Weiß« wird zur Kennzeichnung einer (globalen) Machtposition und zur Kritik des Begriffs als Herrschaftskategorie kursiv geschrieben (vgl. Sow 2008).

246

Aneignung, Ausbeutung und emanzipatorische Praktiken

einer postkolonialen politischen Ökologie die gewaltvollen, rassistischen Narrative einer eurozentrischen Klimaforschung und einer von Industriestaaten dominierten Klimapolitik zu rekonstruieren.

Klimakrise: Schleichende Gewalt rassistischer Ignoranz In den tropischen Regionen sind die Folgen des Klimawandels aus physikalischen Gründen sowohl in einem stärkeren Meeresspiegelanstieg als in Regionen des globalen Nordens als auch einer größeren Häufigkeit und Intensität von Extremereignissen besonders ausgeprägt. Menschen, die von landwirtschaftlichen Erträgen abhängig sind, erleben schon jetzt gewaltige Umweltveränderungen. Insbesondere die am dichtesten bevölkerten Regionen der Welt, wie die Flussebenen südlich des Himalayas und die Küstenzonen des gesamten Pazifikraums, sind seit Jahrzehnten sowohl klimawandelbedingten Extremereignissen als auch veränderter Wasserversorgung durch unregelmäßige Niederschläge und Gletscherschmelze ausgesetzt. Die klimawandelbedingte Katastrophe in Pakistan im Spätsommer 2022 mit heftigen Monsun-Regenfällen, die zu Überschwemmungen, Erdrutschen und Sturzfluten führte, von denen 33 Millionen Menschen betroffen waren und bei denen über 1.700 Menschen ums Leben kamen, erreichte kurzfristig internationale Aufmerksamkeit. Die langfristig zerstörte Infrastruktur in Folge solcher wiederkehrenden Katastrophen und die kontinuierlich zunehmenden Ernteverluste in Folge von ausbleibenden oder verlagerten Niederschlägen und sinkenden Grundwasserspiegeln werden jedoch in der internationalen Politik nicht als menschengemachte Klimawandelfolgen betrachtet und entsprechende Verantwortung der Verursacher*innen nicht eingefordert. Die Klimapolitik der Industriestaaten ist gekennzeichnet von einer Apathie gegenüber den Klimakatastrophen, die aktuell an vielen Orten des Globalen Südens stattfinden und gleichzeitig einer selektiven Entinnerung der strukturellen Ursachen deren besonderer Verwundbarkeit durch Klimawandelfolgen. Die geographisch ungleich verteilten klimawandelinduzierten Naturereignisse treffen mit einer Welt ökonomischer Ungleichheit zusammen. Bestimmte Menschen und Regionen sind nicht nur aufgrund der geographischen Lage besonders betroffen von Klimawandelfolgen. Ihre Vulnerabilität hängt auch von wirtschaftlichen, politischen und sozialen Faktoren ab, die das Ausmaß der Anfälligkeit, die Bewältigungs- und Anpassungskapazitäten beeinflussen. Der Globale Klimarat führt seine Klimafolgenbewertung auf Ba-

Sybille Bauriedl: Klimakolonialismus

sis des Zusammenwirkens dieser physikalischen, sozialen und ökonomischen Faktoren durch (IPCC 2022). Wer genug Kapital und Durchsetzungsmacht hat, sein zerstörtes Haus in einer Flutregion wieder aufzubauen oder mit dem eigenen Fahrzeug vor einem Orkan zu fliehen, hat eine geringere Klimavulnerabilität. Diese Bedingungen führen zu einem geographischen Muster der Weltrisikokarten, das sich mit der Geographie globaler Ungleichheit deckt. Die extrem viel höhere Verwundbarkeit durch Klimawandelfolgen, die hohe Zahl der Todesfälle und Verwüstungen trifft Regionen ehemals kolonisierter Länder. Die hohen Schäden und Verluste für Menschen, die nicht am Wohlstand der Industriegesellschaften teilhaben und die gleichzeitig mit Erfahrungen kolonialer Ausbeutung leben, ist ein auffälliges Merkmal globaler Klimaungerechtigkeit. Dennoch haben Schwarze Leben in der internationalen Klimapolitik weniger Gewicht. Ihre gefährdete Lebenssituation wird als Klimawandelschicksal betrachtet und löst kein wirksames Krisenhandeln aus. Die Todesopfer von klimawandelverursachten Extremwetterereignisse in Südasien, in der Karibik und Ostafrika nehmen zu, und dennoch wurden auf den seit 1995 durchgeführten Klimagipfeln der Vereinten Nationen keine wirksamen Mechanismen zum Schutz oder zur Entschädigung der betroffenen Menschen und Regionen geschaffen. Vielmehr werden die steigenden sozialen und ökologischen Kosten eines auf fossilen Rohstoffen basierenden kapitalistischen Systems weiterhin in die peripheren Regionen des Weltmarktes ausgelagert und diese auch noch dazu aufgefordert, einen Beitrag zum globalen Klimaschutz zu leisten. Diese Praxis internationaler Klimapolitik reproduziert und verlängert die geopolitische Struktur des europäischen Kolonialismus. Lebenseinschränkungen, die über Jahre oder Jahrzehnte durch Umweltschäden und -verluste entstehen, bezeichnet Rob Nixon als eine Form der schleichenden Gewalt (slow violence, Nixon 2011).2 Die Verursacher*innen dieser Gewalt sind nicht leicht zu identifizieren, die Opfer hingegen schon. Wie bei direkter Gewalt leiden oder sterben auch hier Menschen, aber konkrete Protagonisten dieser Form von Gewalt liegen oft außerhalb der Reichweite einer Strafverfolgung. Und auch die Ausprägung dieser Form von Gewalt ist schwer als solche zu identifizieren, wenn sie sich (nur) als soziale oder

2

Rob Nixons wissenschaftlicher Klassiker »Slow Violence and the Environmentalism of the Poor« von 2011 beschreibt die Folgen industrieller Umweltverschmutzung in einkommensschwachen Gemeinden sowohl im Globalen Norden wie im Süden.

247

248

Aneignung, Ausbeutung und emanzipatorische Praktiken

gesundheitliche Diskriminierung, Rassismus, Sexismus oder andere systemische Gewalt zeigt. Rob Nixon definiert »schleichende Gewalt« als »eine Gewalt, die allmählich und unbemerkt auftritt, eine Gewalt der verzögerten Zerstörung, die über Zeit und Raum verteilt ist, eine zermürbende Gewalt, die normalerweise überhaupt nicht als Gewalt angesehen wird« (Nixon 2011: 2, Übers. d. A.). Diese Gewalt ist mit struktureller Ungleichheit verknüpft und trifft nicht alle Menschen und Gemeinschaften, da diejenigen mit mehr Privilegien ihr entkommen können. Sie drückt sich in Folge der dominanten internationalen Klimapolitik als Umwelt- und Klimarassismus (Pulido 2015; Cole/Foster 2001) aus – im globalen Maßstab und mit intergenerationeller Wirkung. Im Folgenden werde ich die Beobachtungen der Klimakrise als Form schleichender Gewalt in Verbindung mit kolonialismuskritischen Diagnosen eines carbon colonialism (Bachram 2004; Bumpus/Liverman 2011) und eines racial capitalism (Vergès 2017) diskutieren, die die Kolonialität der Klimaschutzpolitik erkennbar und angreifbar machen. Mit der Analyse dominanter Wissensformationen zum Klimawandel schließe ich mich dem Bemühen einer kolonialismuskritischen Klimagerechtigkeitsforschung an, die die Normalisierung und Universalisierung einer zerstörerischen Idee von Moderne, Fortschritt und Wachstum angreifbar machen will. Dadurch würde ein alternatives, alle betroffenen Menschen wertschätzendes Verständnis von planetarischen Krisen ermöglicht. Geographien der Kolonialität zeigen sich auch in der Debatte um das menschenverursachte Erdzeitalter »Anthropozän«, das im Kolonialismus seinen Ursprung hat und gerade diejenigen trifft, die permanent gegen eine weiße Vorherrschaft kämpfen müssen. Das Anthropozän als kolonial zu betrachten, kann eine Destabilisierung der Art und Weise bewirken, wie das Wissen über die ökologische Krise zeitlich und räumlich eingegrenzt und in ein Regime eingebunden ist. Das bezeichnet Aníbal Quijano (2000) als Kolonialität der Macht. Gerade Wissenschaftler*innen, die sich mit der Geschichte von Rassismus, Kolonialismus und Enteignung beschäftigen und sich dabei auf Erkenntnisse über den Umwelt- und Klimawandel beziehen, werfen Fragen zu sozialökologischen Transformationen in der Vergangenheit und Gegenwart und den gewalttätigen Spuren darin neu auf. Die zentrale Frage lautet: Führt die Erkenntnis, im Anthropzän zu leben, zu einem Bruch mit den Grundlagen der westlichen Moderne und eines extraktivstischen Kapitalismus, oder prägen Kontinuitäten globaler Ungleichheit den Umgang mit der planetarischen Umwelt- und Klimakatastrophe? Die Beantwortung setzt die Frage voraus, ob

Sybille Bauriedl: Klimakolonialismus

das Anthropozän als analytischer Begriff überhaupt verwendet werden kann, ohne koloniale Logiken zu reproduzieren.

Anthropozän: Zeitalter der Erdzerstörung Der Begriff »Anthropozän« als Bezeichnung eines neuen Erdzeitalters wurde durch den niederländischen Atmosphärenchemiker Paul Crutzen zusammen mit den US-amerikanischen Ökologen Eugene Stoermer3 geprägt und zur Jahrtausendwende im Global Change Newsletter des International Geosphere–Biosphere Programme publiziert (Crutzen/Stroemer 2000). Der Begriff bezeichnet eine neue geologische Epoche, die so stark und dauerhaft vom Menschen (altgriechisch anthropos) geprägt ist, dass sie eine eigene stratigraphische Signatur in der Geologie der Erde hinterlässt, die sich aktuell in einem schnellen Klimawandel, Artensterben und in Plastikstrudeln ausdrückt. Oder anders ausgedrückt: Dem Menschen wird die Gestaltungskraft zur Erdveränderung bescheinigt. Die vorherigen Erdzeitalter wurden noch von physikalischen Kräften geprägt (Tektonik, Meteoriteneinschlag etc.). Die ebenso starke Gestaltungsmacht des Menschen erkennen Geologen in den Spuren, die der Eintrag chemischer Stoffe sowie die radioaktive Kontaminierung im Boden, Gewässern, der Luft und der Atmosphäre hinterlassen haben. Sie beschreiben diese irreversible Aktivität als Menschheitsproblem: »Considering these and many other major and still growing impacts of human activities on earth and atmosphere, and at all, including global, scales, it seems to us more than appropriate to emphasize the central role of mankind in geology and ecology by proposing to use the term ›anthropocene‹ for the current geological epoch« (Crutzen/Stroemer 2000: 17). Aus naturwissenschaftlicher Perspektive ist das Erdzeitalter des Anthropozän eine Zeitdiagnose, die keine soziale Differenz oder globale Ungleichheit im3

Der US-Amerikaner Eugene Stoermer verwendet den Begriff Anthropozän schon in den 1980er Jahren für die Auswirkungen menschlicher Aktivitäten auf der Erde. Der Begriff erlangte jedoch erst Aufmerksamkeit, nachdem Paul Crutzen den Begriff übernahm. Der Niederländer Crutzen war 1995 Chemienobelpreisträger (für seine Forschung zum Ozonloch) und von 1980 bis 2000 als Direktor des Max-Planck-Instituts für Chemie in Mainz tätig.

249

250

Aneignung, Ausbeutung und emanzipatorische Praktiken

pliziert. Aber daraus folgen zwei fundamentale rassistische Leugnungen: Die nicht wieder rückgängig zu machende Veränderung der Erde ist nur von einem Teil der Menschheit verursacht worden, der mit Gewalt Privilegien beansprucht hat, und es gab keine Gestaltungskraft »des« Menschen, von der alle Beteiligten und Betroffenen in gleicher Weise profitiert hätten. Die Pauschalisierung dieses ungleichen Verhältnisses und der ungleichen Beteiligung an der Zerstörung von Lebensräumen in einer undifferenzierten Bezeichnung »Anthropozän« verschleiert und entpolitisiert die spezifische Rolle kolonialer Ausbeutung und Zerstörung. Crutzen, Stroemer und andere Klimawissenschaftler*innen reproduzieren außerdem problematische Denkstrukturen, indem sie eine Etappenerzählung präsentieren, in der sich bestimmte Ereignisse in der Menschheitsgeschichte, die mit technologischen Entwicklungen in Europa zusammenhängen, territorial ausbreiten und die Menschheit in eine geologische Epoche führen, die durch eine neu gestaltete Beziehung zur Natur gekennzeichnet ist (Simpson 2020: 64). Paul Crutzen popularisierte die Diagnose eines Anthropozän im Jahr 2002 mit einem Artikel in der Zeitschrift Nature, der weltweit medial aufgegriffen wurde (Bonneuil/Fressoz 2016). So verbreitete sich der Begriff sehr schnell über disziplinäre Grenzen der Geologie hinaus und wurde im öffentlichen Diskurs als Synonym für eine globale Umweltkrise verwendet. Die Benennung eines Erdzeitalters, das sich unumkehrbar und dauerhaft nachweisbar von den vorherigen unterscheidet, müsste auch einen radikalen Bruch mit dem alltäglichen Verständnis der menschlichen Beziehungen zum Nicht-Menschlichen und dem Denken der westlichen Moderne zur Folge haben. Sozial- und Geisteswissenschaftler*innen wie Bruno Latour oder Dipesh Charkrabarty betrachteten daher die Ausrufung des Anthropozän nicht nur als einen geologischen Moment von weltgeschichtlicher Bedeutung, sondern auch als ein philosophisches Ereignis, das eine ethische Neuorientierung erfordert (Simpson 2020: 53). In der interdisziplinären Umweltforschung sowie den öffentlichen Debatten dominierte jedoch sehr schnell ein Narrativ, das technologische Lösungen der menschengemachten Krise nach westlichem Vorbild propagierte und eine optimistische Wendung in die Krisenwahrnehmung brachte. Die Zeitschrift The Economist titelte 2011 »Welcome to the Anthropocene« und erklärte, dass die Menschen den Lauf der Welt verändert hätten und dies auch in Zukunft in nachhaltiger Weise tun könnten. Das Deutsche Museum zeigte 2014–16 eine Ausstellung mit dem Titel »Welcome to the Anthropocene. The Earth in Our Hands«, in der sie den menschenverursachten Wandel der Erde illus-

Sybille Bauriedl: Klimakolonialismus

trierten. Das Anthropozän wurde sehr schnell als positiver Treiber der großen Fortschritts- und Zivilisationserzählungen gewendet. Das Anthropozän produziert in der öffentlichen Debatte zur Klimakrise die Vorstellung, dass die Kraft der Menschheit nicht nur fähig ist, Spuren in der Stratigraphie der Erde zu hinterlassen, sondern auch – mit den Mitteln weißer Eliten, die über Know-how für technologische Innovationen, über zivilisatorischen Fortschritt und über kapitalistische Steuerungsinstrumente verfügen – dazu, eine nachhaltige Zukunft für die gesamte Erde zu gestalten. »Anthropozän« mag eine ansprechende Beschreibung für eine Ära der sich beschleunigenden und zunehmenden Umweltkrisen sein, diese wirft aber einen Blick von außen auf die gesamte Erde – und nimmt damit einen scheinbar apolitischen Standpunkt ein. Diese Perspektive ist nicht geeignet, um die differenzierte Geschichte der Zerstörung zu verstehen und ein Umweltgerechtigkeitshandeln zu initiieren. Dabei ist das Anthropozän eindeutig nicht das Produkt der »menschlichen Natur« oder der Menschheit als Ganzes, sondern der Effekt eines globalhistorischen Prozesses, der von einer kleinen Minderheit der Menschheit in Gang gesetzt wurde. Einige Sozial- und Humanwissenschaftler*innen haben darauf hingewiesen, dass das Anthropozän ein unpassendes Konzept ist, weil es das ungerechte Paradoxon des umgekehrten Verhältnisses von Ursache und Wirkung der Klimakrise unsichtbar macht. Farhana Sultana verwendet dafür auch den Begriff »Anthropo-Obzön« (»Anthropo-obscene«, Sultana 2022: 3). Wenn das Anthropozän als eine Universalisierung des westlichen Konsumlebens verstanden wird, ist dies offensichtlich eine verzerrte und ungerechte Darstellung der Menschheit. Die unterschiedlichen Perspektiven auf die Verursachung des Anthropozän führt auch zu verschiedenen Datierungen von dessen Beginn. Mit Blick auf die plötzliche Veränderung der geophysikalischen Bedingungen der Erde betrachten Geologen das Anthropozän als ein junges Phänomen, das durch einen exponentiellen Anstieg aller Indikatoren für eine Umweltkrise ab 1850 mit Beginn der exzessiven Verbrennung von Kohle zur Industrialisierung gekennzeichnet ist. Hingegen ist mit Blick auf die Ursachen und Treiber dieser Veränderungen der Beginn des Anthropozän dreihundert Jahre früher, am Beginn der globalisierten extraktivistischen Ökonomie und eines radical capitalism, zu sehen. Die Datierung des Anthropozän zeigt, welche Verursachungen der Umweltkrise anerkannt werden. Begann die Erdzerstörung 1492 (mit dem europäischen Kolonialismus nach der Ankunft von Columbus in der Karibik), 1784 (mit der industriellen Revolution in England nach Optimierung der

251

252

Aneignung, Ausbeutung und emanzipatorische Praktiken

Dampfmaschine durch James Watt) oder nach 1945 (mit der beschleunigten Industrialisierung und Globalisierung in der Nachkriegsphase)? Crutzen und Stroemer legen den Startpunkt des Anthropozän auf das Jahr 1850. Die Evidenz dieser Epochenterminierung basiert auf quantitativen Datenreihen ökologischer und ökonomischer Parameter seit 1750. Für die beiden Naturwissenschaftler war eine technologische Innovation der entscheidenden Treiber: der Einsatz der kohlebetriebenen Dampfmaschine im Transport (Eisenbahnen, Schifffahrt) und der Produktion (Textilfabriken), der zur Veränderung der Erdoberfläche (Bergbau, Expansion des Rohstoff- und Warentransports) und der Atmosphäre (Emissionen) führte. »We choose this date because, during the past two centuries, the global effects of human activities have become clearly noticeable.« (Crutzen/Stroemer 2000: 17) Andere Klimawissenschaftler*innen sehen den irreversiblen Eingriff auf die Erdoberfläche erst mit der beschleunigten, globalen Industrialisierung ab 1950 (Erdölverbrennung und Atomkraftnutzung) gegeben (Malm/Hornberg 2014). Auch wenn die zerstörerische Qualität der Transformation unterschiedlichen Zeitpunkten zugewiesen wird, verorten alle Geschichtsdeutungen des Anthropozän – implizit oder explizit – den Auslöser in der expansiven, extraktivistischen Wirtschaftsweise Europas.

Plantagenozän: Zeitalter rassistischer Gewaltherrschaft Die zunehmende kolonialismuskritische Auseinandersetzung mit dem Anthropozän-Begriff ist der critical race theory und der dekolonialen Forschung zu verdanken, die die erkenntnistheoretische Beschränktheit von Klimawissenschaft, Umweltbewegung und Umweltgeschichte hervorheben (siehe McKittrick in diesem Band, Org. 2013; Yusoff 2018). Aus dieser Perspektive haben sich die Industrieländer durch die Umsetzung eines Wirtschaftsmodells entwickelt, das die Ressourcen der Erde unverhältnismäßig stark und mit Gewalt ausgebeutet und die sozioökonomische Ungleichheit auf allen Maßstabsebenen verschärft hat (Jafry/Mikulewicz/Helwig 2019: 2). Andrew Baldwin und Bruce Erickson bezeichnen das Anthropozän als »eine rassifizierte Erzählung über den Besitz der weißen Erde.« (Baldwin/Erickson 2020: 3, Übers. d. A.) Der strukturierende Effekt des Weißseins wird in diesem Zusammenhang offensichtlich, wenn Weißsein nicht als Identität, sondern als Privilegierungsattribut, als epistemische Struktur, die Ontologien und

Sybille Bauriedl: Klimakolonialismus

Materialitäten der Welt begrenzt, verstanden wird (Baldwin/Erickson 2020: 4; Yusoff 2018). Vertreter*innen der Postcolonial Studies und Black Geography (Yussoff 2018) datieren den Beginn des Anthropozän sehr viel früher: mit dem Beginn der imperialen Ausbeutung 1492. Sie argumentieren, dass das Anthropozän nicht das Ergebnis einer technologischen Innovation ist, sondern die Folge von Landenteignung und Völkermord durch europäische Kolonisatoren (Davis/Todd 2017). Eine deutliche geologische Spur lässt sich für die erste Phase des europäischen Kolonialismus in Folge von Umweltzerstörung nachweisen. Das sprunghafte Absinken des atmosphärischen Kohlenstoffs um das Jahr 1610 wird als direkte Folge einer Periode der Dekultivierung und Wiederbewaldung von Agrarland nach dem Genozid an rund 50 Millionen Einwohner*innen (90 Prozent der damaligen Bevölkerung) seit der Kolonisierung der Amerikas im Jahre 1492 durch Mord, Verhungernlassen und eingeschleppte Krankheiten interpretiert (Lewis/Maslin 2015). Dieser Tiefpunkt des globalen CO2 -Gehalts ist durch Bohrkerne in der Antarktis nachweisbar. Der nächste Anstieg der Kohlenstoffemissionen ist ab dem frühen 18. Jahrhundert erkennbar in Folge der amerikanischen Plantagenwirtschaft, der Rohstoffverarbeitung mit fossilen Energien und des Siedlerkolonialismus. Kathryn Yusoff nennt diese Periode »Sklave-Zucker-Kohle-Nexus« (Yusoff 2018: 43, Übers. d. A.) und bezeichnet damit die globale Verflechtungsgeographie mit dem großflächigen Zuckerrohranbau in Brasilien und der Karibik und dem sich verbreitendem Zuckerkonsum in Europa. Der Anbau und die Verarbeitung von Zuckerrohr durch versklavte Menschen auf Plantagen in den Amerikas, die zuvor von ihnen für eine Monokulturlandwirtschaft gerodet und trockengelegt werden mussten, produzierte Zucker zuerst als Luxusgut des Adels und später als energiehaltige Nahrung der Fabrik- und Bergarbeiter*innen im industrialisierten Europa. Die natur- und menschenausbeutende Industrialisierung in England und danach in Mitteleuropa und Nordamerika ist eng verknüpft mit der Entmenschlichung und dem Sterbenlassen von Menschen in den Amerikas durch Plantagenarbeit. Posthumanistische Wissenschaftler*innen wie Anna Tsing und Donna Haraway haben dem Anthropozän den Begriff Plantagenozän als alternatives Narrativ gegenübergestellt, um Herrschaftsverhältnisse in einer extraktivistischen und imperialistischen Ausbeutung von Natur und Arbeitskraft als Ursache globaler Klima- und Umweltkrisen zu kennzeichnen (Haraway 2015; Tsing 2015). Sie argumentieren, dass die aktuelle ökologische Krise auf Logiken ökologischer Modernisierung, Homogenisierung industriali-

253

254

Aneignung, Ausbeutung und emanzipatorische Praktiken

sierter Lebensweisen und Ressourcenkontrolle beruht, die auf historischen Plantagen entwickelt wurden. Der Begriff Plantagenozän verweist auf die Kontinuität der Plantagenpraxis und die anhaltenden sozial-ökologischen Folgen der Plantagenlandwirtschaft (Davis et al. 2019); er betont die Analyse der Geographie und Geschichte der Plantage für das Verständnis der planetaren Umweltkrise der Gegenwart. Dabei sind die Umweltfolgen nicht von der Geschichte der Versklavung zu trennen. Wer Umweltkrisen im Anthropozän als neues globales Phänomen betrachtet, löscht den historischen Widerstand indigener Völker und versklavter Menschen gegen den Siedlerkolonialismus und die Plantagenökonomie aus (Whyte 2018: 226). Die geologischen Signaturen des Anthropozän können auch als Zeugen des Kolonialrassismus sowie geopolitischer und nekropolitischer Ausbeutungsstrukturen verstanden werden (Baldwin/Erickson 2020: 5), anstatt sie vom europäischen Imperialismus sowie der Geschichte des Rassismus und Kapitalismus abgekoppelt zu betrachten (Yusoff 2018). Vom Anthropozän zu sprechen bedeutet also auch, darüber zu sprechen, wie sich die Kolonialgeschichte von »Mord, Versklavung, Hunger und Krankheit« (Yusoff 2018: 31, Übers. d. A.) in den globalen Umweltwandel einschreibt. Als Kennzeichnung einer europäischen historischen Verantwortung für die globale Umweltkrise der Gegenwart hat Jairus Victor Grove den Begriff des Eurozän im Rahmen seiner Analyse der Geopolitik der Umweltzerstörung eingeführt (Grove 2017). Diese Diagnose lässt sich aus meiner Sicht sinnvoll mit der Diagnose eines rassifizierten Kapitalismus (racial capitalism) von Cedric J. Robinson (1983) und eines rassifizierten Kapitalozän (racial capitalocene) von Françoise Vergès (2017) verbinden, um Verflechtungsgeographien der Umweltkrise erkennen zu können.

Eurozän: Zeitalter des racial capitalism Die europäische Form der Industrialisierung und des Siedlerkolonialismus hat, gestützt von (neo-)liberalen Institutionen, über die Jahrhunderte zu einem destruktiven, rassistischen, ökozidalen und imperialen Lebensstil geführt. Die politische Ordnung maß ihren Erfolg daran, wie viel Reichtum durch die Ausbeutung von Völkern und Ressourcen generiert werden konnte. Nach Grove geht die Entstehung des Eurozän weder auf eine einzelne Klasse oder Nation zurück, noch auf eine klar definierte Agenda, sondern auf eine Gesellschaft, die Natur als etwas Äußerliches, Passives versteht und ein

Sybille Bauriedl: Klimakolonialismus

Wirtschaftssystem entwickelt hat, das eine territoriale Expansion verfolgt und dabei Menschen und Natur ausbeutet (Grove 2017). Das Eurozän wurde von einer Minderheit erschaffen, die ihre Interessen der Reichtumsanhäufung und eigennützigen politischen Ordnung durchgesetzt hat. Die Industrialisierung Europas basierte auf dem Raubbau von Naturstoffen in kolonisierten Regionen für die Kapitalinteressen von Unternehmern und Aktiengesellschaften in Amsterdam, Manchester, Kopenhagen und Hamburg durch die Arbeitskraft versklavter Menschen und dem Transport in die Zentren der Kolonialmächte. Schon seit dem Ende des 19. Jahrhunderts haben Schwarze Wissenschaftler und Theoretiker wie W. E. B. Du Bois (vgl. »The Suppression of the African Slave-Trade to the United States of America«, 1896), C. L. R. James (vgl. »The Black Jacobins: Toussaint L’Ouverture and the San Domingo Revolution«, 1938) und Eric Eustace Williams (vgl. »Capitalism and Slavery«, 1944) ausführlich und fundiert die Gründung des europäischen Industriekapitalismus und dessen Verwobenheit mit Kolonialismus und Sklaverei dokumentiert. Der Reichtum in Europa basiert einerseits auf der Privatisierung sowie rechtlichen und militärischen Absicherung von Landbesitz in den Kolonien und der damit verbundenen Vertreibung der bäuerlichen Bevölkerung und andererseits auf der Arbeit versklavter, verschleppter und auf Plantagen ausgebeuteter Schwarzer Menschen und der Arbeitskraft enteigneter Bauernfamilien in den Zentren der Industrialisierung, die zur Fabrikarbeit gezwungen waren. Kathrine McKittrick und Sylvia Wynter fordern deshalb eine kritische Analyse der Bedeutung Europas für globale Transfomationen: »Wir müssen jetzt kollektiv das Wissen, wie wir es kennen, neu schreiben […], denn der Westen hat die Welt völlig verändert.« (McKittrick/Wynter 2015: 18, Übers. d. A., Herv. i. O.) Auch der globale Fußabdruck durch die Überbeanspruchung der endlichen natürlichen Ressourcen der Erde ist vor allem ein europäischer Fußabdruck. Die Ressourcenbeanspruchung Europas berührt weitreichende Landfragen. Brenna Bhandar setzt sich mit der Entwicklung des Eigentumsbegriffs im Kolonialismus auseinander (Bhandar 2018) und beschreibt die Verrechtlichung von Landzuschreibung und Landbeanspruchung durch Besitztitel als europäische Idee, mit der privates Vernutzungsrecht mit rassistischen Methoden der Enteignung umgesetzte wurde. Dieses Eigentumsverständnis und der damit verbundene Nutzungsanspruch für europäische Interessen setzt sich bis heute fort und legitimiert im Rahmen internationaler Klimapolitik die Landnutzung für europäische Klimaschutzprojekte im Globalen Süden (Beispiele dazu im nächsten Abschnitt). Die Nutzung und Kontrolle

255

256

Aneignung, Ausbeutung und emanzipatorische Praktiken

über Land, die soziale Beziehungen, lokale Ökonomien und kulturelle Praktiken der Landnutzung indigener Bevölkerung unterbinden, hat sich seit dem Kolonialismus nicht grundsätzlich geändert. Die rechtliche Regulation durch Landregister und die Privatisierung von Land, das traditionell gemeinschaftlich genutzt wird, lässt bis heute einen warenförmigen Grundbesitz und rassifizierte Zugangsrechte durchsetzen. Ob Land als genutztes oder ungenutztes Land und damit als verfügbar betrachtet wird, folgt immer noch europäischen Aneignungs- und Verwertungsinteressen. Cedric J. Robinson erklärte die Kontinuität kolonialer Aneignungs- und Ausbeutungsverhältnisse mit Blick auf die im europäischen Kolonialismus etablierte Wirtschaftsweise, die auf nicht-reziprokem Tausch basiert. Er hat dafür den Begriff des rassialisierten Kapitalismus (racial capitalism) eingeführt (Robinson 1983, siehe auch den Beitrag von Carstensen-Egwuom in diesem Band), der den Prozess der sozialen und wirtschaftlichen Ausbeutung einer Person oder Gruppe bezeichnet, welcher eine rassialisierte Identität zugeschrieben wird, wobei diese Form der Ausbeutung vor allem von Menschen mit weißer Identität ausgeht und People of Colour trifft. Diese Verschmelzung von race und Kapitalismus kam in seiner radikalsten Form mit der transatlantischen Versklavung und der karibischen Plantagenökonomie durch europäische Gewaltherrschaft im späten 17. Jahrhundert zum Tragen. Theoretiker*innen des racial capitalism verweisen auf die Zentralität von Rassismus für kapitalistische Akkumulation und eine Gesellschaftsordnung der Ungleichheit (Gilmore 2019). Der Kapitalismus und dessen Institutionen sind während des transatlantischen Versklavungshandels und globalisierter kolonialer Ressourcenströme entstanden und haben diese befeuert. Die Produktion von race und rassifizierten Subjekten diente der Legitimation der Entmenschlichung und Versklavung und ist insofern dem Kapitalismus immanent. Die Ideen einer freien Marktwirtschaft, die der schottische Ökonom und Moralphilosoph Adam Smith Ende des 18. Jahrhunderts entwickelte (vgl. »Wohlstand der Nationen«, 1776), haben nicht nur den wirtschaftlichen Fortschritt beschleunigt und ein neues Unternehmertum ermöglicht, sondern auch der Plantagenökonomie zu noch größeren Profiten verholfen. Der Kapitalismus war nicht für alle Menschen eine radikal befreiende Wirtschaftsweise, und er hat die grundlegenden diskriminierenden Prinzipien des europäischen Feudalismus, nämlich das starre Kastensystem und die Mehrgenerationen-Leibeigenschaft, nicht automatisch aufgehoben. In jüngerer Literatur zum racial capitalism wird der Begriff auch zur Erklärung der Kontinuität der Naturaneignung in peripheren Regionen im Globalen

Sybille Bauriedl: Klimakolonialismus

Süden und der entmenschlichenden Ausbeutung der Arbeitskraft Schwarzer Menschen für europäische Profit- und Wohlstandsinteressen verwendet. Laura Pulido und Juan De Lara verstehen Umweltrassismus als Produkt eines racial capitalism. Aus dieser Perspektive halten sie eine Neuausrichtung (reframing) der Umweltgerechtigkeitsbewegung für notwendig, die folgende Aspekte einer eines racial capitalism grundsätzlich berücksichtigen sollte: die zentrale Bedeutung der Produktion sozialer Differenz bei der Wertschöpfung, die Entwertung nicht-weißer Körper in ökonomischen Prozessen und die rassistische Gewalt in Form von Sterbenlassen in klimawandelinduzierten Umweltkatastrophen (Pulido/de Lara 2018). Kapitalismuskritische Wissenschaftler*innen übersehen oft die rassistische Dimension des Kapitalismus. Der marxistische Soziologe und Gründer des World-Ecology Research Network, Jason Moore, hat als Kritik am universalistischen Anthropozän-Konzept den Begriff Kapitalozän (capitalocene, Moore 2016) geprägt, um die kapitalismusimmanente Naturzerstörung zu betonen. Françoise Vergès erkennt auch in diesem Begriff eine Auslassung. Sie verbindet das Argument eines capitalocene und eines racial capitalism zum Begriff racial capitalocene (Vergès 2017). Damit bezeichnet sie die Praxis kapitalistischer Ausbeutung als ein System, in dem Kolonialismus, Sklaverei und rassialisierte Hierarchisierungen zur Abwertung von Schwarzen Menschen und ihren Lebensräumen geführt haben (Vergès 2017). Vergès argumentiert mit Bezug auf Cedric J. Robinson, dass eine Umweltgeschichte nur erzählt und verstanden werden kann, wenn sie die Geschichte des racial capitalism berücksichtigt. Sie betont, dass das Anthropozän-Narrativ die Bedeutung von Rassismus und Imperialismus für die ungleiche Verteilung der Klimakatastrophe übersieht.

Klimakolonialität: Eine Welt gesicherter und geopferter Zonen Die internationale Klimapolitik, die von Interessen der Industriestaaten und fossilen Industrien dominiert wird, setzt die koloniale Struktur des Anthropozän in die Zukunft fort. Die in Europa präferierten Klimaschutzmaßnahmen dienen primär der Versorgungssicherheit und der Resilienz gebauter Infrastrukturen der europäischen Länder selbst und sollen dort im Idealfall auch noch zur ökonomischen Wertschöpfung beitragen (Murphy/Gouldson 2000). Falls die umgesetzten politischen und technologischen Klimaschutzmaßnahmen ökologische, soziale und ökonomische Lasten und Risiken im Globalen Süden verursachen, ist das kein Hinderungsgrund, sondern der

257

258

Aneignung, Ausbeutung und emanzipatorische Praktiken

Normalfall. Eine Klimapolitik, die in der Logik eines racial capitalism verharrt, setzt koloniale Ausbeutungsverhältnisse in dreifacher Weise fort: Erstens findet in den Industrieländern kein effektiver Ausstieg (phasing out) aus der Nutzung fossiler Energien statt; eine extraktivistische Ökonomie inklusive ihrer Umweltschäden setzt sich im Globalen Süden fort. Zweitens werden vereinbarte Ziele der Vereinten Nationen zur schnellen Reduktion von Treibhausgasemissionen (z.B. Paris Agreement von 2015) von Unternehmen und Regierungen der Industrieländer nicht umgesetzt, und in der Konsequenz verschärfen sich die Folgen klimawandelinduzierter Umweltveränderungen und Katastrophen in vielen dichtbesiedelten Regionen der tropischen Breiten. Drittens beanspruchen Industrieländer Ressourcen, billige Arbeitskraft und Land in Regionen des Globalen Südens, um ihre nicht geleisteten Treibhausgasreduktionen kompensieren zu können (sogenannte Klimaneutralität4 ). Kolonialität bezieht sich hier auf Formen des Wissens und der Praxis, die von der europäischen Kolonialordnung übernommen wurden und auf einer Privilegierung materieller und territorialer Ansprüche basieren, die mit Weißsein verbunden sind. Beim 26. UN-Klimagipfel, der im November 2022 in Ägypten stattfand, wurde das Ziel globaler Nettonullemissionen bis zum Jahr 2050 beschlossen. »Nettonull« steht für eine globale Bilanzierung, in der Treibhausgasemissionen mit Treibhausgasreduktionen gegeneinander aufgerechnet werden. Diese Vereinbarung schafft insbesondere für energieintensive Unternehmen5 in Industriestaaten die Möglichkeit, die verursachten Emissionen an anderen Orten durch Ausgleichszahlungen für Klimaschutzmaßnahmen auf null zu rechnen. Wenn Emissionsreduktionen an die Orte verlagert werden, wo sie am kostengünstigsten umzusetzen sind, ist der Weg für Praktiken des racial

4

5

Beim UN-Klimagipfel im Jahre 2015 in Paris (COP 21) wurde beschlossen, bis 2050 die Quellen und Senken von Treibhausgasen auf »netto null« zu bringen, d.h. die Menge der klimaschädlichen Emissionen müssen ausgeglichen werden durch die gleiche Menge eingesparter oder in Pflanzen gebundener Treibhausgasemissionen. Da die Rechnung im globalen Maßstab gemacht wird, können die Orte der Quellen (z.B. Braunkohlekraftwerke) und Senken (z.B. Aufforstung im Amazonasregenwald) weit auseinanderliegen. Ein Viertel des Energiebedarfs in Deutschland fällt in der Industrie an für chemische Erzeugnissen, Metallerzeugung und -bearbeitung, Mineralölverarbeitung sowie Herstellung von Glas, Glaswaren, Keramik, Papier und Pappe (Statistisches Bundesamt 2022).

Sybille Bauriedl: Klimakolonialismus

capitalism geebnet, solange Arbeitskosten, Ressourcenzugriff und Lebensbedingungen immer noch von rassialisierter Wertschätzung bestimmt sind. Die präferierten Maßnahmen und das Umsetzungstempo der internationalen Klimapolitik sind das Ergebnis einer kolonialen Kontinuität, die sich mit Blick auf die Orte der Emissionsquellen im Globalen Norden als Kohlenstoffkolonialismus (carbon colonialism) benennen lässt (Bachram 2004; Bumpus/Liverman 2011) und mit Blick auf die Orte der Emissionssenken im Globalen Süden als Umweltrassismus (environmental racism, vgl. Bullard 1993). Industriestaaten halten es für legitim, weiterhin hohe Emissionen zu verursachen und erwarten von der Mehrheitsgesellschaft im Globalen Süden, diese Emissionen durch Verzicht auf fossile Industrien und Waldschutz auszugleichen. Es scheint selbstverständlich, dass Industriestaaten zur Erreichung dieser Ziele Regionen in Anspruch nehmen, in denen noch das Trauma des Kolonialismus nachwirkt. Da die territoriale Externalisierung der Klimaschutzmaßnahmen eine globale Dimension hat, sind die Verursacher*innen dieser Form von Umweltrassismus am Ort der Zerstörung von Ökosystemen und Lebensgrundlagen schwer zur Rechenschaft zu ziehen. Deutsche Energiekonzerne wie RWE, die zu den größten Treibhausgasverursachern der Welt gehören, sehen sich nicht in direkter Verantwortung für den Gletscherrückgang in Peru.6 Die große Transformation zur Bewältigung des Klimawandels folgt der Logik einer ökologischen Modernisierung, die eine Energiewende und eine Mobilitätswende ohne Einschränkung von Wachstum und Konsum ermöglichen soll. Bei G7-Gipfeln und Klimagipfeln seit 2015 haben Regierungsvertreter*innen der Industriestaaten immer wieder eine Dekarbonisierung der Wirtschaft, der Wärmeversorgung und der Mobilität mindestens bis zum Ende des Jahrhunderts angekündigt. Die soll unter anderem gewährleistet werden durch den Anbau von Biomasse in Ostafrika für Agrartreibstoffe, die Produktion von Flüssiggas mithilfe großflächiger Solar- und Windparks in Marokko und Namibia zur Substitution von Erdgas sowie Lithiumabbau in

6

2015 hat der peruanische Bauer Saúl Luciano Lliuya aus der Andenstadt Huaraz eine Klage gegen RWE, als Unternehmen mit den höchsten Treibhausgasemissionen in Europa, beim Landgericht Essen eingereicht. Er fordert die Finanzierung von Schutzmaßnahmen gegen einen Gletscherabbruch in der anteiligen Höhe der globalen Emissionen des Energiekonzerns. Die Klage wurde 2016 als unbegründet abgewiesen. Nach Berufung läuft seit sechs Jahren die Beweisaufnahme des Oberlandesgerichts Hamm (Stand 12. März 2023).

259

260

Aneignung, Ausbeutung und emanzipatorische Praktiken

Chile für Stromspeicher in E-Autos. Eine europäische Unterstützung beim Aufbau eines Hightech-Sektors ist in den ehemals kolonisierten Regionen nicht geplant. In der europäischen Dekarbonisierungsstrategie bleiben die Länder des Globalen Südens Rohstofflieferanten. Ressourcenextraktivismus im Globalen Süden ist ein koloniales Phänomen und hat das Anthropozän befeuert. Die im Anthropozän entstandenen asymmetrischen Ressourcenströme sind besonders deutlich in den sogenannten geopferten Zonen7 (sacrifice zones, Lerner 2010). Dabei handelt es sich um degradierte Gebiete, die durch stark umweltverschmutzende Aktivitäten entstanden sind. Im globalen Maßstab befinden sich diese Zonen an Orten, die eine koloniale Vergangenheit haben oder Siedlerkolonien sind. Geopferte Zonen sind Gebiete, in denen Umweltungerechtigkeit über lange Zeit fortbesteht. Schon seit den 1970er Jahren wird in Berichten zu Umweltgerechtigkeitskämpfen in den USA der Begriff »Geopferte Zone« für Lebensräume und Landschaften verwendet, die durch Ölförderung, Chemiefabriken, Schwerindustrie und Bergbauprojekte beeinträchtigt wurden, insbesondere durch Bodenvergiftung und Trinkwasserentzug (Lerner 2010; Endres 2012). Im Anthropozän sind geopferte Zonen zu globalen Orten geworden, in denen hohe Umweltbelastungen aus dem Zusammenspiel internationaler, nationaler und lokaler sozioökonomischer Prozesse resultieren. Die ökologischen und Gesundheitskosten der Industrialisierung treffen insbesondere Gemeinschaften mit niedrigem Einkommen und eingeschränkter politischer Teilhabe. Die Bewohner*innen von geopferten Zonen verfügen nicht über die Mittel, um eine solche intensive Umweltbelastung zu verhindern oder in sauberere und gesündere Gebiete umzuziehen. Sie sind gefangen in einem zerstörten Lebensraum (Gayo et al. 2022). Fragen zur ungleichen Verteilung der Lasten der Transformation werden innerhalb des nationalen Rahmens der Industrieländer heftig diskutiert – insbesondere mit Blick auf den Abbau von Arbeitsplätzen in treibhausgasintensiven Industrien. Eine globale Ungleichverteilung der Kosten zu Lasten des Globalen Südens bleibt meist unbehandelt (Scott/Smith 2017). Christos Zografos

7

Für die deutsche Übersetzung ist die Bezeichnung »Opferzone« in der wissenschaftlichen und umweltpolitischen Debatte gebräuchlicher. Englisch »sacrifice zone«, spanisch »zona de sacrifio« sollte aus meiner Sicht treffender als »geopferte Zone« übersetzt werden, um die Beanspruchung des Lebensraums der Menschen in dieser Zone für externe Interessen deutlich zu machen und sie nicht als passive Opfer zu stigmatisieren.

Sybille Bauriedl: Klimakolonialismus

und Paul Robbins wenden den Begriff der geopferten Zone spezifisch für Gebiete an, die für die externalisierten Kosten der Maßnahmen kohlenstoffreduzierender Transformationstechnologien der Industrieländer geopfert werden; sie bezeichnen diese als »grüne geopferte Zonen« (green sacrifice zone, Zografos/ Robbins 2020; Zografos 2022). Das betrifft sowohl die beanspruchten Territorien für den Abbau notwendiger Ressourcen, deren Transport, den Betrieb von Anlagen zur Dekarbonisierung, sowie die Entsorgung von Anlagen am Ende ihres Lebenszyklus. »Grün« sind diese geopferten Zonen, da sie das Ergebnis eines sogenannten Green New Deals sind, den viele Staaten des Globalen Nordens seit 2019 verfolgen – allen voran die USA und die EU. Dieser Green New Deal zielt auf eine wohlstandsbewahrende Energiewende, die eingebettet ist in eine globale Ungerechtigkeit, die koloniale Verhältnisse sowie rassialisierte und soziale Differenz reproduziert (Zografos 2022: 38). Mit einem Green New Deal (bzw. dem European Green Deal der EU) wollen Industriestaaten die Transformationen ihrer Ökonomien im großen Maßstab durch Investitionen in erneuerbare und kohlenstoffarme Energien umsetzen, die gleichzeitig zu schnellem Klimaschutz und einer neuen Wachstumsstrategie führen sollen. Die Maßnahmen der Green New Deals benötigen im großen Umfang »Transitionsmineralien« (transition minerals), die eine »neue Welle der Transitionsmineralienausbeutung« (Zografos 2022, Übers. d. A.) im Globalen Süden zur Folge hat. Die fossile Industrialisierung basierte auf Kohle und Erdöl, die postfossile Industrialisierung basiert auf Lithium und Kobalt für Stromspeicher und Kupfer für Stromleitungen. Der großflächige Lithiumabbau in Chile, Argentinien und Bolivien (dem sogenannten Lithiumdreieck in der Atacama-Wüste) hat u.a. Wassermangel in einer sehr trockenen Landwirtschaftszone zur Folge. Die Hälfte der globalen Kobaltreserven lagern in der Demokratischen Republik Kongo, einem Land, das schon heute durch extreme Umweltzerstörung, deregulierte Landaneignung und sehr schlechte Arbeitsbedingungen inklusive Kinderarbeit im Bergbau geprägt ist. Ein weiteres Transitionsmineral ist Nickel, das sehr energieintensiv und gesundheitsschädlich abgebaut werden muss und vor allem in Indonesien und den Philippinen lagert. Länder, in denen im großen Maßstab Transitionsmineralien abgebaut werden, sind seit dem Kolonialismus von gewaltsamer Landnahme und Ressourcenausbeutung betroffen. Es sind auch die Länder, in denen die lokale Bevölkerung Widerstand gegen die Zerstörung von Natur- und Lebensräumen leistet und in denen die Androhung des Getötetwerdens zur Alltagsrealität gehört. Achille Mbembe nennt diese Form der Unterdrückung Nekropolitik

261

262

Aneignung, Ausbeutung und emanzipatorische Praktiken

(necropolitics, Mbembe 2003). Allein im Jahr 2021 wurden 200 Umweltaktivist*innen ermordet, die für Land- und Menschenrechte gegen Bergbau- und Agrarkonzerne protestierten. Die meisten Morde gab es wie auch in den Jahren zuvor in Mexiko, Kolumbien, Brasilien und auf den Philippinen, und in fast der Hälfte der Fälle waren die Opfer Mitglieder indigener Gemeinschaften; ein Viertel waren Kleinbauern (Global Witness 2022). Farhana Sultana hat für diese ungebrochene Anspruchshaltung der kolonialen Zentren den Begriff »Klimakolonialität« (climate coloniality, Sultana 2022) geprägt: »Der Klimawandel entlarvt nicht nur den Kolonialismus der Vergangenheit, sondern auch eine andauernde Kolonialität, die unser Leben bestimmt und strukturiert und die mit den Prozessen des Kapitalismus, des Imperialismus und der internationalen Entwicklung einhergeht.« (Sultana ebd: 4, Übers. d. A.) Sultana knüpft an Frantz Fanons Blick und seine verkörperte Erfahrung des Kolonialismus an und verbindet diese mit Erfahrungen des Klimawandels (Sultana 2022: 4). Sie bezeichnet die UN-Klimagipfel als eine Form von Nekropolitik: »Während einige das Problem mit dem Versagen der Klimagerechtigkeit in Verbindung brachten, waren andere direkter, indem sie koloniale und rassistische Taktiken der Kontrolle und Vertreibung marginalisierter Gemeinschaften im Globalen Süden und anderswo anprangerten.« (ebd: 3) Für sie sind Klimagipfel ein Theater des Klimakolonialismus geleitet von globalen Konzernen, Eliten und machtvollen Regierungen, aber auch als Orte dekolonialer, antikolonialer, antirassistischer und feministischer Politik angeführt von Klimaaktivist*innen, Vertreter*innen indigener Gemeinschaften und herrschaftskritischen Wissenschaftler*innen (ebd.). Eine Klimapolitik, die globale Klimagerechtigkeit zum Ziel hat, kann es nur geben, wenn es keine geopferten Zonen mehr gibt, in denen die Kosten der europäischen Energiewende abgeladen werden.

Klimaschutzpolitik: Greenwashing und Green Grabbing Die energetische und stoffliche Nutzung von Biomasse ist eine Klimaschutzstrategie für eine postfossile Wirtschaftsweise und Mobilität, die von vielen Industriestaaten verfolgt wird. Es entstehen Nutzungskonkurrenzen um Agrarflächen für einen postfossilen Lebensstil anstatt für Lebensmittelproduktion, die schon seit einigen Jahren unter dem Stichwort »Tank oder Teller« diskutiert werden. In diese Konkurrenz um Biomassenutzung reiht sich die zusätzliche

Sybille Bauriedl: Klimakolonialismus

Nutzung für Plastik und andere Produkte ein, die bisher aus fossilen Rohstoffen hergestellt wurden. »Wir lieben Mais«. So wirbt Ikea im Mai 2021 für seine Plastikbecher »Heroisk«, die aus nachwachsenden Rohstoffen hergestellt werden. Fossile Rohstoffe werden durch Mais ersetzt, der in Brasilien angebaut wird. Bis 2030 will der Möbelkonzern »klimapositiv« sein. Die Coca-Cola Company hat die PlantBottle™ entwickelt, eine Plastikflasche, die zu einem Drittel aus Zuckerrohr hergestellt wird, das in Brasilien angebaut wird. Das deutsche Biokraftstoffquotengesetz von 2006 schreibt einen Mindestanteil von Agrartreibstoffen am gesamten Kraftstoffabsatz in Deutschland vor. Dieser wird ebenfalls u.a. auf Basis von Zuckerrohr aus Brasilien hergestellt. Die Transformation der Industriegesellschaften zu postfossilen Gesellschaften soll stattfinden, ohne dass Konsument*innen ihre Konsumgewohnheiten ändern müssen. Die Ikea-Schüssel auf Maisbasis sieht genauso aus wie die Plastikschüssel der fossilen Ära plus gutem Gewissen. Die Biobeimischung im Tank erfordert kein verändertes Mobilitätsverhalten (Bauriedl 2015). In den Anbaugebieten der Rohstoffe findet derweil ein fundamentaler ökologischer und sozialer Wandel statt. Der Begriff »imperiale Lebensweise« benennt diese Struktur und ihre Kontinuität treffend. Konsument*innen in Wohlstandsgesellschaften nehmen Produkte in Anspruch, die auf Kosten anderer Menschen produziert werden. Und dieser Anspruch weitet sich mit dem Konsum erdölfreier Produkte noch aus. Die gegenwärtige Lebensweise in Industriestaaten ist insofern imperial, »als sie einen prinzipiell unbegrenzten – politisch, rechtlich und/oder gewaltförmig abgesicherten – Zugriff auf Ressourcen, Raum, Arbeitsvermögen und Senken andernorts voraussetzt« (Brand/Wissen 2011: 83f.). Die ressourcenintensive imperiale Lebensweise ist aufgrund planetarischer Grenzen nicht verallgemeinerbar und mit den Zielen eines guten Lebens für alle Menschen nicht vereinbar (siehe Kalt/Lage/Shah in diesem Band). Der schnell wachsende Bedarf an nachwachsenden Rohstoffen kann mit Raps und Zuckerrüben von Anbauflächen in Deutschland nicht gedeckt werden. Die Substitution von fossilen Rohstoffen durch Biomaterial benötigt ein enormes Maß an Agrarflächen, und die Akzeptanzgrenze für die Nutzung von Agrarflächen und Naturlandschaft für eine Biomasseproduktion ist in Mitteleuropa schon jetzt erreicht (Stichwort »Vermaisung«). Die EU-Kommission hat schon 2002 eine Strategie zur Auslagerung des flächenintensiven Biomasseanbaus in tropische Regionen Amerikas, Afrikas und Asiens unter dem Begriff »Bioökonomie« entwickelt (Lambin/Meyfroidt 2011). Die sogenannte

263

264

Aneignung, Ausbeutung und emanzipatorische Praktiken

Bioökonomie ist kein simples technowissenschaftliches oder ökonomisches Projekt, sondern in erster Linie ein politisches Projekt, das Parameter für zukünftige Handlungsspielräume festlegt (Goven/Pavone 2015). Es geht um neue Märkte insbesondere für die großen Agrarkonzerne und gleichzeitig um die Reform von Agrarstrukturen, von denen Millionen von Bäuer*innen betroffen sein werden (Bauriedl 2019). Eine vollständige Dekarbonisierung auf Basis von Biokraftstoffen und Bioenergie würde zwischen 0,4 und 1,2 Milliarden Hektar Landfläche erfordern. Aktuell werden auf 1,3 Milliarden Hektar Landfläche der Erde Nahrungs- und Futtermittel angebaut (UBA 2012: 12). Der Flächenanspruch für energetisch genutzte Biomasse ist nicht umsetzbar, wenn es nicht zu Hungerkatastrophen kommen soll und gleichzeitig die weltweite Nachfrage nach Nahrungsmitteln im Jahr 2050 um 30–50 Prozent gestiegen sein wird – vor allem in Ländern mit Bevölkerungswachstum und zunehmend westlichen Ernährungsstandards wie in Nigeria, Indonesien und Indien (Nair 2021). Die Konkurrenz um Anbauflächen für Biomasse wird absehbar zu Preissteigerungen von Lebensmitteln und Ernährungskrisen im Globalen Süden führen. Der Zugriff europäischer Agrarkonzerne auf Agrarflächen für die Lebensbedürfnisse europäischer Wohlstandsgesellschaften folgt den kolonialen Mustern der Ausbeutung von Natur und Arbeitskraft. Aktuell liefern kleinbäuerliche Landwirt*innen 70 Prozent der Nahrung für die Weltbevölkerung und sie wirtschaften dabei auf einem Viertel der weltweit verfügbaren landwirtschaftlichen Flächen (Mooney 2015). Ihr Beitrag zur globalen Ernährungssicherung ist durch die europäische Dekarbonisierungsstrategie bedroht, die ohne eine absolute Reduktion des Rohstoffverbrauchs und Konsums in Industriestaaten auskommen will. Denn die ressourcenintensive Lebensweise in Industrieländern benötigt einen äußeren Raum, in den die unerwünschten Nebeneffekte ausgelagert werden können und ist daher nicht verallgemeinerbar für alle Menschen. In den letzten Jahren ist der Prozess der Landnahme (landgrabbing) und Verdrängung verstärkt in Ostafrika zu beobachten.8 Dort haben insbesondere Kleinbäuer*innen in der Regel keine formalen Rechtstitel für das Land, das sie bewirtschaften. Diese Praxis der Landnahme bezeichnet David Harvey als »Akkumulation durch Enteignung« (2004), da nicht nur die Nutzungsrechte, sondern auch die Kontrolle über Land und natürliche Ressourcen in die Hände

8

Lokale Konflikte im Zusammenhang mit Landnahme und Vertreibung dokumentiert weltweit die Internetplattform landmatrix.org.

Sybille Bauriedl: Klimakolonialismus

von mächtigen Akteuren (in der Regel internationale Agrarkonzerne) übertragen werden. James Fairhead, Melissa Leach und Ian Scoones nennen die Aneignung von Agrarland für den neuen internationalen Markt der Biomasse zur Substitution von fossilen Rohstoffen treffend »Grüne Landnahme« (green grabbing, Fairhead/Leach/Scoones 2012). Eine Grüne Landnahme zur Umsetzung der europäischen Klimaschutzpolitik schließt an die Raumpolitik des Kolonialismus an. Für die Beanspruchung des Bodens und seiner Ressourcen wird ein europäisches Rechtsverständnis in den kolonisierten Ländern angewendet, das den Menschen, die auf dem Land leben, es bearbeiten, sich davon ernähren und zu ihm eine kulturelle Bindung haben, das Nutzungsrecht abspricht, wenn sie keinen Eigentumstitel für das Land nachweisen können (Davis/Todd 2017: 770). Die europäische Bioökonomiepolitik entwirft ein Bild von Afrika, das durch ökonomische Rückständigkeit und Versorgungsunsicherheit gekennzeichnet ist. In den »Afrikapolitischen Leitlinien« der deutschen Bundesregierung von 2014 wird modernisierungstheoretisch argumentiert und afrikanischen Ländern ein Entwicklungsbedarf zugeschrieben: »Überbeanspruchung und mangelnder Schutz von natürlichen Ressourcen und Ökosystemleistungen, Energiearmut und Wassermangel, Verlust an biologischer Vielfalt und massive Umweltschäden durch einen wachsenden Bevölkerungsdruck, unklare Landrechte, Mangel an Wissen und geeigneter Technik, Raubbau und unzureichende staatliche Kontrolle« kennzeichneten die Regionen (Bundesregierung 2014: 2). Afrika wird auf diese Weise als defizitär und als Kontinent der »Unterentwicklung« und »Überbevölkerung« erklärt. Diese Sichtweise soll Bioökonomie als Modernisierungsoption legitimieren und Afrika als Expansionsraum europäischer Wirtschaftsinteressen ausweisen.

Dekolonialisierung der Wissensproduktion im Anthropozän Die imperiale Perspektive der Klimaschutzpolitik wird auch durch eine angloeuropäisch dominierte Klimaforschung und damit eine weiße Wissensproduktion ermöglicht. Obwohl der Klimawandel ein planetarisches Ausmaß hat, die Mehrheitsgesellschaft der Erde aus People of Colour besteht und die von Klimawandelfolgen betroffenen Menschen überproportional Schwarz sind, wa-

265

266

Aneignung, Ausbeutung und emanzipatorische Praktiken

ren am aktuellen Bericht des Weltklimarats9 weniger als 1 Prozent afrikanische Autor*innen beteiligt (IPCC 2022; Abdullah 2022). Für eine dekoloniale, nichteurozentrische Klimapolitik wäre eine Dezentrierung der Klimawissensproduktion (an Universitäten, in staatlichen Institutionen und Entwicklungsorganisationen) die Voraussetzung. Solange das Konzept des Anthropozän eurozentrisches wissenschaftliches Wissen privilegiert, das in den Erkenntniskategorien westlicher Philosophie verwurzelt ist, wird es auch weiterhin Wissensformen ausschließen und zum Schweigen bringen, die außerhalb europäischer Wissenstraditionen stehen (Brunner 2020). Eine Klimawissenschaft, die sich allein auf Erzählungen der europäischen Moderne und technologischen Fortschritt stützt, verlängert die koloniale Ideologie der Naturbeherrschung und die Dehumanisierung Schwarzen Lebens. Gerade außereuropäische Erfahrungen und Wissenskonzepte bieten aufgrund des Lebens mit Umweltdegradierungen im (Post-)Kolonialismus eine Expertise in der Bewältigung von Krisen und Anpassung an extreme Umweltsituationen. Das Anthropozän zu dekolonisieren, erfordert das Weißsein des Anthropozän zu dekonstruieren und damit Räume für andere Geschichten – und Zukünfte – der menschlichen und nicht-menschlichen Entwicklung zu ermöglichen (Baldwin/Erickson 2020: 7). Die erdgeschichtliche Abgrenzung eines Anthropozän ist brauchbar als geophysikalische Diagnose, aber die Argumentation dieses Beitrags zeigt, dass der Begriff in interdisziplinären, populärwissenschaftlichen und politischen Debatten zu entpolitisierten Perspektiven auf die Ursachen und die Verantwortungen der planetarischen Krisen führt. Ein erster Schritt, um die impliziten Ungleichheitsstrukturen der globalen Klimakrise explizit zu machen, wäre das konsequente Benennen der kolonialen Verhältnisse im Anthropozän.

9

In den Berichten des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) werden alle vier bis fünf Jahre Erkenntnisse der Klimawandelforschung zusammengefasst. Dabei werden nur Publikationen in anerkannten, internationalen Wissenschaftszeitschriften berücksichtigt. Das führt automatisch zu einer Bevorteilung englischsprachiger Wissenschaftler*innen mit hohen Forschungs- und Publikationsbudgets.

Sybille Bauriedl: Klimakolonialismus

Literatur Abdullah, Zade (2022): »Kolonialismus. »No justice in a racist climate!«, in: Ende Gelände (Hg.): We shut shit down, Hamburg: Edition Nautilus, S. 151–170. Bachram, Heidi (2004): »Climate Fraud and Carbon Colonialism: The New Trade in Greenhouse Gases, Capitalism«, in: Capitalism, Nature, Socialism 15(4), S. 1–16. Baldwin, Andrew; Erickson, Bruce (2020): »Introduction. Whiteness, Coloniality, and the Anthropocene«, in: Society and Space 38(1), S. 3–11. Bauriedl, Sybille (2015): »Klimapolitik. Fortsetzung globaler und sozialer Ungleichheiten«, in: Prokla 45(181), S. 629–636. Bauriedl, Sybille (2019): »Politische Ökologie der Bioökonomie: Modernisierungsversprechen einer industrialisierten Landwirtschaft«, in: Michael Mießner, Matthias Naumann (Hg.): Kritische Geographien ländlicher Entwicklung. Globale Transformationen und lokale Herausforderungen, Münster: Westfälisches Dampfboot, S. 194–208. Bhandar, Brenna (2018): Colonial Lives of Property, Durham, N.C.: Duke University Press. Bonneuil, Christophe; Fressoz, Jean-Baptiste (2016): The Shock of the Anthropocene. The Earth, History and Us, London: Verso. Brand, Ulrich; Wissen, Markus (2011): »Sozial-ökologische Krise und imperiale Lebensweise. Zu Krise und Kontinuität kapitalistischer Naturverhältnisse«, in: Alex Demirovic; Julia Dück; Florian Becker; Pauline Bader (Hg.): VielfachKrise im finanzdominierten Kapitalismus, Hamburg: VSA, S. 78–93. Brunner, Claudia (2020): Epistemische Gewalt. Wissen und Herrschaft in der kolonialen Moderne, Bielefeld: transcript. Bullard, Robert D. (1993): Confronting Environmental Racism: Voices from the Grassroots, Boston, MA: South End Press. Bumpus, Adam G.; Liverman, Diane M. (2011): »Carbon Colonialism? Offsets, Greenhouse Gas Reductions and, Sustainable Development«, in: Paul Robbins, Richard Peet, Michael Watts (Hg.): Global Political Ecology, London: Routledge, S. 203–224. Bundesregierung (2014): Afrikapolitische Leitlinien der Bundesregierung, https://w ww.bmvg.de/resource/blob/12808/227e3ae06ed32cb4d81d61a1bbc8b206/a frikapolitische-leitlinien-der-bundesregierung-data.pdf, zuletzt geprüft am 20.10.2022.

267

268

Aneignung, Ausbeutung und emanzipatorische Praktiken

Cole, Luke W.; Foster, Sheila (2001): From the Ground up. Environmental Racism and the Rise of the Environmental Justice Movement, New York: New York University Press. Crutzen, Paul; Stoermer, Eugene (2000): »The ›Anthropocene‹«, in: International Geosphere-Biosphere Programme Newsletter 41, S. 17–18. Davis, Heather; Todd, Zoe (2017): »On the Importance of a Date, or Decolonizing the Anthropocene«, in: ACME: An International E-Journal for Critical Geographies 16(4), S. 761–780. Davis, Janae; Moulton, Alex A.; Van Sant, Levi; Williams, Brian (2019): »Anthropocene, Capitalocene,… Plantationocene? A Manifesto for Ecological Justice in an Age of Global Crises«, in: Geography Compass 13(5), S. 1–15. Du Bois, W. E. B. (1920): Darkwater. Voices from Behind the Veil, New York: Harcourt, Brace and Howe. Endres, Danielle (2012): »Sacred Land or National Sacrifice Zone: The role of values in the Yucca Mountain participation process«, in: Environmental Communication 6(3), S. 328–345. Fairhead, James; Leach, Melissa; Scoones, Ian (2012): »Green Grabbing: A New Appropriation of Nature?«, in: Journal of Peasant Studies 39(2), S. 237–261. Gayo, Eugenia M. und zwölf Ko-Autor*innen (2022): »A Cross-cutting Approach for Relating Anthropocene, Environmental Injustice and Sacrifice Zones«, in: Earth’s Future 10(4), S. 1–21. Gilmore, Ruth W. (2019): »Foreword«, in: H. L. T. Quan (Hg.): Cedric J. Robinson. On Racial Capitalism, Black Internationalism, and Cultures of Resistance, London: Pluto Press, S. 12–13. Global Witness (2022): Decade of Defiance. Ten Years of Reporting Land and Environmental Activism Worldwide, https://www.globalwitness.org, zuletzt geprüft am 10.03.2023. Goven, Joanna; Pavone, Vincenzo (2015): »The Bioeconomy as Political Project: A Polanyian Analysis«, in: Science, Technology & Human Values 40(3), S. 302–337. Grove, Jairus Victor (2017): »The Geopolitics of Extinction«, in: Daniel R. McCarthy (Hg.): Technology and World Politics, London: Routledge. S. 204–223. Haraway, Donna (2015): »Anthropocene, Capitalocene, Plantationocene, Chthulucene: Making Kin«, in: Environmental Humanities 6(1), S. 159–165. Harvey, David (2004): »Die Geographie des »neuen« Imperialismus. Akkumulation durch Enteignung«, in: Christian Zeller (Hg.) (2004): Die globale Enteignungsökonomie, Münster: Westfälisches Dampfboot, S. 183–216.

Sybille Bauriedl: Klimakolonialismus

IPCC – Intergovernmental Panel on Climate Change (2022): Climate Change 2022. Impacts, Adaptation and Vulnerability, https://www.ipcc.ch/report/ar6 /wg2/, zuletzt geprüft am 10.02.2023. Jafry, Tahseen; Mikulewicz, Michael; Helwig, Karin (2019): »Justice in the Era of Climate Change«, in: Tahseen Jafry; Michael Mikulewicz; Karin Helwig (Hg.): Routledge Handbook of Climate Justice, London, New York: Routledge, 1–9. Lambin, Eric F.; Meyfroidt, Patrick (2011): »Global Land Use Change, Economic Globalization, and the Looming Land Scarcity«, in: PNAS 108(9), S. 3465–3472. Lerner, Steve (2010): Sacrifice Zones. The Front Lines of Toxic Chemical Exposure in the United States, Cambridge MA.: MIT Press. Lewis, Simon L.; Maslin, Mark A. (2015): »Defining the Anthropocene«, in: Nature 519, S. 171–180. Malm, Andreas; Hornberg, Alf (2014): »The Geology of Mankind? A Critique of the Anthropocene Narrative«, in: The Anthropocene Review 1(1), S. 62–69. Mbembe, Achille (2003): »Necropolitics«, in: Public Culture 15(1), S. 11–40. McKittrick, Kathrine (2013): »Plantation Futures«, in: Small Axe: A Caribbean Journal of Criticism 17(3), S. 1–15. McKittrick, Kathrine; Wynter, Sylvia (2015): »Unparalleled Catastrophe for Our Species? Or, to Give Humanness a Different Future: Conversations«, in: Kathrine McKittrick (Hg.): Sylvia Wynter. On being human as praxis, Durham NC: Duke Press. S. 9–89. Mooney, Pat (2015): »The Changing Agribusiness Climate: Corporate Concentration, Agricultural Inputs, Innovation and Climate Change«, in: Canadian Food Studies 2(2), S. 117–125. Moore, Jason (Hg.) (2016): Anthropocene or Capitalocene? Nature, History, and the Crisis of Capitalism, Oakland: PM Press. Murphy, Joseph; Gouldson, Andrew (2000): »Integrating Environment and Economy through Ecological Modernisation? An Assessment of the Impact of Environmental Policy on Industrial Innovation«, in: Geoforum 31(1), S. 33–44. Nair, Chandran (2021): Net Zero and Carbon Neutrality: Unscientific Myths for an US and THEM World, https://www.clubofrome.org/blog-post/nair-carbon-ne utrality, zuletzt geprüft am 08.03.2023. Nixon, Rob (2011): Slow Violence and the Environmentalism of the Poor, Cambridge MA: Harvard University Press.

269

270

Aneignung, Ausbeutung und emanzipatorische Praktiken

Pulido, Laura (2015): »Geographies of Race and Ethnicity I: White Supremacy vs White Privilege in Environmental Racism Research«, in: Progress in Human Geography 39(6), S. 1–9. Pulido, Laura; de Lara, Juan (2018): »Reimagining the ›Justice‹in Environment Justice: Radical Ecologies, Decolonial Thought, and the BlackRadical Tradition«, in: Environment and Planning E: Nature and Space 1(1/2), S. 76–98. Quijano, Aníbal (2000): »Coloniality of Power, Eurocentrism and Latin America«, in: Nepantla: Views from South 1(3), S. 533–578. Robinson, Cedric J. (1983): Black Marxism. The Making of the Black Radical Tradition, London: Zed Press. Scott, Dayna Nadine; Smith, Adrian (2017): »›Sacrifice Zones‹ in the Green Energy Economy: Toward an Environmental Justice Framework«, in: McGill Law Journal 62(3), S. 861–898. Simpson, Michael (2020): »The Anthropocene as Colonial Discourse«, in: Society and Space 38(1), S. 53–71. Sow, Noah (2008): Deutschland Schwarz Weiß. Der alltägliche Rassismus, München: C. Bertelsmann Verlag. Statistisches Bundesamt (2022): Energieverbrauch Deutschland, https://www.de statis.de/DE/Themen/Branchen-Unternehmen/Energie/Verwendung/_i nhalt.html, zuletzt geprüft am 01.03.2023. Sultana, Farhana (2022): »The Unbearable Heaviness of Climate Coloniality«, in: Political Geography 99: https://www.doi.org.10.1016/j.polgeo.2022.10263 8. Tsing, Anna L. (2015): The Mushroom at the End of the World: On the Possibility of Life in Capitalist Ruins, Princeton: Princeton University Press. UBA – Umweltbundesamt (2012): Globale Landflächen und Biomasse nachhaltig und ressourcenschonend nutzen, Dessau: Umweltbundesamt. Vergès, Françoise (2017): »Racial Capitalocene«, in: Gaye Theresa Johnson, Alex Lubin (Hg.): Futures of Black Radicalism, London: Verso, S. 72–82. Whyte, Kyle P. (2018): »Indigenous Science (Fiction) for the Anthropocene: Ancestral Dystopias and Fantasies of Climate Change Crises«, in: Environment and Planning E: Nature and Space 1(1/2), S. 224–242. Yusoff, Kathryn (2018): A Billion Black Anthropocenes or None, Minneapolis: Minnesota UP. Zografos, Christos (2022): »The Contradictions of Green New Deals: Green Sacrifice and Colonialism«, in: Soundings 80, S. 37–50.

Sybille Bauriedl: Klimakolonialismus

Zografos, Christos; Robbins, Paul F. (2020): »Green Sacrifice Zones, or why a Green New Deal Cannot Ignore the Cost Shifts of Just Transition«, in: One Earth 3(5), S. 543–546.

271

Von Territorium zu Territorio Land, Allmende und soziale Kämpfe in Mexiko-Stadt Anke Schwarz & Monika Streule Das Land steht nicht zum Verkauf. Nein, unsere Maxime lautet: Es wird geliebt und verteidigt. Ja, aber auf welche Weise? Warum sagen wir, dass wir es lieben? Weil wir es kennen, weil wir dort aufgewachsen sind, weil wir dort Freude und auch viel Traurigkeit erlebt haben. Wir kennen es und deshalb verteidigen wir es […] indem wir es bestellen, bewirtschaften – und es gibt noch eine andere Art, es zu verteidigen, die nicht nur das Territorium, das Ackerland betrifft: das Land ist alles, was es impliziert.1 (María Trinidad Ramírez, Mexiko-Stadt, 19.11.2013)

Geographien der Kolonialität in Mexiko-Stadt Sucht man Anfang 2021 bei Google Maps nach dem Stichwort ›Nuevo Aeropuerto Internacional de la Ciudad de México – NAIM‹, so wird ein Satellitenbild angezeigt, auf dem Erdtöne dominieren. Abgesehen von einem seltsam organisch geformten Gebilde mit dem Label ›NAIM structure. Abandoned airport‹ weist auf den ersten Blick nichts auf einen Flughafen hin. Ein näheres Heranzoomen zeigt einige Bauruinen inmitten von Brachland, das von Autobahnen und Stadtteilen, die im Selbstbau entstanden sind, gerahmt wird. Was

1

Eigene Übersetzung einer von den Autorinnen geführten Interviewpassage. Im spanischen Original: »No, la tierra no se vende. No, nuestra consigna es: se ama y se defiende. ¿Si pero cómo? ¿Por qué dices amarla? Porque la conocemos, porque ahí crecimos, porque ahí hemos pasado alegrías y también muchas tristezas. La conocemos y por lo tanto la defendemos. ¿Como la defendemos? Sembrándola, cultivándola, también hay otra forma de defenderla que no solo es el territorio, la tierra de cultivo: Es todo lo que implica«.

274

Aneignung, Ausbeutung und emanzipatorische Praktiken

geht hier in der Peripherie von Mexiko-Stadt vor sich? Wo ist der angekündigte Flughafen und warum erscheint die riesige Fläche, anders als die südlich, westlich und nördlich angrenzenden Wohngebiete weitgehend unbebaut? Das deutsche Magazin Wirtschaftswoche ist sich im Februar 2020 sicher: »Wäre die Sache gelaufen wie geplant, würden die rund 1500 täglichen Flüge der gut 50 Airlines ab dem Herbst auf dem Texcoco genannten Gelände enden. Für die derzeit gut 50 Millionen Passagiere im Jahr würde der Besuch in Mexico City in einem eindrucksvollen Glaspalast mit einer freischwebenden Decke von zu bis 170 Meter Spannweite beginnen« (Kiani-Kreß 2020). Dass dem nicht so ist, hat handfeste Gründe, die eng mit historischen und gegenwärtigen räumlichen und sozialen Machtverhältnissen wie auch mit der Kolonialgeschichte der Städte und Seen im Hochtal von Mexiko verwoben sind. Wie schreibt sich Kolonialität in Geographien ein? Sowohl die Kolonialisierung Mexikos im frühen 16. Jahrhundert durch das spanische Imperium wie auch die Erklärung der politischen Unabhängigkeit im Jahr 1810 scheinen im Vergleich zur Kolonialgeschichte westafrikanischer oder südostasiatischer Staaten zeitlich entfernter zu liegen. Die Kolonialgeschichte im lateinamerikanischen Kontext ist demnach spezifisch, koloniale Kontinuitäten sind jedoch nicht weniger deutlich aufzeigbar als anderswo. Um dies zu veranschaulichen beleuchten wir im vorliegenden Beitrag drei ausgewählte Momente, an denen sich exemplarisch erkennen lässt, wie sich Kolonialität in den urbanen Raum des ehemaligen Texcoco-Seebeckens in Mexiko-Stadt eingeschrieben hat – und bis zum aktuellen Konflikt um den Bau eines internationalen Flughafens weiter einschreibt.

Land: Trockenlegung eines Sees als imperiales Projekt Wir konzentrieren uns besonders auf das bereits erwähnte Gebiet nordöstlich des Stadtzentrums: das umkämpfte Areal des ehemaligen Texcoco-Sees. Dieses Beispiel erscheint uns besonders aufschlussreich, da das Gebiet oft als eine angebliche Leerstelle dargestellt wird. Die meisten Karten von Mexiko-Stadt zeigen beispielsweise den heute vollständig trockengelegten Texcoco-See als eine auffallend große, weiße Fläche, die ein ansonsten dicht urbanisiertes Gebiet unterbricht. Die Abwesenheit des Sees ist jedoch keineswegs eine räumlich-zeitliche Leerstelle, wie eine solche Darstellung nahelegt, sondern letzt-

Anke Schwarz & Monika Streule: Von Territorium zu Territorio

lich ein Produkt kolonialer territorialer Praktiken. Territoriale Praktiken im Bereich des Texcoco-Sees lassen sich bis in die Zeit der frühen Kolonialisierung zurückverfolgen, in der das imperiale Spanien nach der Niederlage der Aztek:innen in Tenochtitlan im Jahr 1521 einen gewaltsamen Prozess der Neudefinition des Territoriums begann. Nach der Kolonialisierung wurde die aztekische Hauptstadt, die auf einer künstlichen Insel im Texcoco-See lag und durch ein ausgeklügeltes Dammsystem mit anderen Siedlungen verbunden war, flächendeckend zerstört, und mit der sukzessiven Trockenlegung der verschiedenen Salz- und Süßwasserseen im Hochtal von Mexiko begonnen. Das heutige Seebecken, welches bis auf den Speichersee Narbor Carillo nur noch nach starken Regenfällen geflutet ist und den Rest des Jahres trockenliegt, ist das Produkt enormer ingenieurstechnischer Anstrengungen. Erste Pläne für Kanalund Tunnelsysteme zur Entwässerung des Hochtals wurden bereits kurz nach der Conquista entworfen (Legorreta 2006) und bilden letztlich das Fundament zur späteren Errichtung eines modernen Infrastrukturideals (Graham/Marvin 2001). Demnach zeugen diese Versuche einer infrastrukturellen Beherrschung von Territorien und hydrologischer Situation trotz aller Unterschiede von einer gewissen kolonialen Kontinuität in Mexiko-Stadt.

Allmende: Landreform im Zuge der Nationalstaatenbildung In der Gemeinde San Salvador Atenco, dem Wohnort der eingangs zitierten Aktivistin María Trinidad Ramírez, ist der Boden in der kollektiven Form des Ejido organisiert. Diese Form der kollektiven Bodennutzung wurde in Mexiko nach der Revolution (1910–1917) eingeführt und ist vergleichbar mit Allmenden oder Commons (siehe Obeng-Odoom in diesem Band). Die Schaffung der Ejidos sollte den Forderungen nach Landreform durch weite Teile der revolutionären Bewegungen nachkommen. Durch die Enteignung großer Landgüter, die als Haciendas bekannt sind, wurden während der Regierungszeit von Lázaro Cardenas Ende der 1930er Jahre rund 28.000 Ejidos etabliert, wobei sich auf präkolumbianische Formen der kollektiven Landnutzung als historische Referenz bezogen wurde (Streule 2018). Ejidos sind in der mexikanischen Verfassung verankert und gehören zum einen zu den letzten Überresten des unvollendeten Projekts der mexikanischen Revolution (Gilly 1994). Zugleich waren sie von Relevanz für die Herausbildung und Festigung des mexikanischen Nationalstaates, da Bezüge zu vorkolonialen landwirtschaftlichen Kollektiven hergestellt wurden. Hauptmerkmal der Ejidos ist, dass der Boden sich in öffentlichem Besitz befindet und die einzelnen Grundstücke durch

275

276

Aneignung, Ausbeutung und emanzipatorische Praktiken

Mitglieder des Ejidos im Nießbrauch bestellt werden. Die Landnutzung war vorerst auf landwirtschaftliche Zwecke beschränkt, und Ejidalland konnte nicht auf legale Weise weiterverkauft werden. In den Urbanisierungsprozessen von Mexiko-Stadt spielten Ejidos eine ambivalente Rolle. Einerseits wurde Ejidalland, insbesondere in der Peripherie der mexikanischen Hauptstadt, im Rahmen einer Wirtschaftspolitik der importsubstituierenden Industrialisierung ab den 1950er Jahren zu einer vergleichsweise leicht mobilisierbaren Baulandreserve, die sowohl der Urbanisierung als auch der Industrialisierung diente (Cymet 1992). Die Konzentration staatlicher Wirtschaftspolitik und Infrastrukturinvestitionen auf bestehende urbane Zentren, gerade in MexikoStadt, bei gleichzeitiger Peripherialisierung rural geprägter Regionen wirkte dabei als Verstärker innermexikanischer Ungleichheiten – auch gefasst als »interner Kolonialismus« (González Casanova 1965; Stavenhagen 1965). In Folge von Landflucht und Industrialisierung wuchs der Flächenbedarf für Industrie und Wohnbevölkerung in Mexiko-Stadt massiv an (Parnreiter 2007). Ejidalland diente als Basis zur Wohnraumversorgung durch Selbstbau für viele, die keinen Zugang zur staatlichen Wohnungspolitik hatten (Streule 2017; Streule et al. 2020). Andererseits war dieses Land aufgrund der kollektiven Besitz- und Nutzungsform kaum über den regulären Bodenmarkt zu verwerten. Selbst nachdem eine Verfassungsreform im Jahr 1992 einschneidende Änderung der Bodennutzungsgesetze etablierte, die erstmalig eine reguläre Vermarktung des Gemeindelandes ermöglichten (Jones/Ward 1998), hängt der Verkauf einzelner Parzellen immer noch von der Zustimmung einer Mehrheit der Mitglieder des jeweiligen Ejidal-Komitees ab (Varley/Salazar 2021). Diese einzigartige Form der territorialen Regulation stellt somit ein bedeutendes Hindernis für eine Änderung der Landnutzung und damit für die Urbanisierung landwirtschaftlich genutzter Flächen dar.

Soziale Kämpfe: Neokoloniale Infrastruktur-Megaprojekte Pläne für einen neuen internationalen Flughafen in Mexiko-Stadt stehen im Mittelpunkt des Widerstands der Bewohner:innen San Salvador Atencos, deren Ejidalland seit nunmehr 20 Jahren von Enteignung bedroht ist (Davis/Rosan 2004). Seit damals mobilisiert die Frente de Pueblos en Defensa de la Tierra – FPDT in San Salvador Atenco und umliegenden Orten erfolgreich gegen das Großprojekt des Flughafens. In unseren Interviews skizzierte die Anwohnerin und Aktivistin María Trinidad Ramírez von der FPDT die spezifischen materiellen Eigenschaften, die dieses städtische Territorium für die

Anke Schwarz & Monika Streule: Von Territorium zu Territorio

lokale Bevölkerung hat. Erste Neubaupläne an diesem Ort wurden bereits 2001 im Kontext des Plan Puebla Panama formuliert, der auch den Ausbau der Luftverkehrsinfrastruktur zum erklärten Ziel hatte (Wilson 2014). Ein lokaler Konflikt um verschiedene Versuche der Landnahme schwelte über mehrere Jahre, wobei die FPDT sich als soziale Bewegung formierte. Brutale Polizeirepressionen, in deren Zuge von der Polizei sexualisierte Gewalt gegen Demonstrant:innen eingesetzt und ein Jugendlicher erschossen wurde, folgten 2006 und wurden international verurteilt (Giordano 2006). Waren die Flughafenpläne vorerst gestoppt, so wurden sie 2012 neuaufgelegt, als der für den Polizeieinsatz verantwortliche Gouverneur Enrique Peña Nieto mexikanischer Präsident wurde. An selber Stelle auf dem Grund des ehemaligen Texcoco-Sees sollte nun »Lateinamerikas größter Flughafen« entstehen, der laut des Infrastrukturkonzerns Parsons Corporation (o.J.) nicht nur ein »Investment in Mexikos Zukunft« darstellen, sondern auch Superlative liefern sollte. Es sind solche Infrastruktur-Megaprojekte, die als neokoloniale Strategien ungleiche Machtverhältnisse in ein Terrain einschreiben (Lesutis 2021). Nach Jahren der Konflikte, Repressionen und Konfrontationen wurde schließlich begonnen, erste Bauabschnitte des NAIM-Projektes zu realisieren. Ende 2018 verfügte die neu angetretene linkspopulistische Regierung von Andrés Manuel López Obrador einen im Wahlkampf versprochenen Baustopp und das Ende des Projekts, mit dem Plan, den neuen Flughafen nun an anderer Stelle zu errichten.2 Jüngste Satellitenbilder des Gebiets zeigen, dass von der Architektur des von Norman Foster entworfenen Flughafenterminals nur wenig realisiert wurde. Neben Fundamenten wurde allerdings ein Netz von Zufahrtsstraßen und Autobahnen gebaut, das einen starken Anreiz für die weitere Verstädterung der Gegend darstellt und diese antreibt. Alternative Visionen für die Region werden im Rahmen der Kampagne #YoPrefieroElLago (»Ich bevorzuge den See«) und #ManosALaCuenca (»Hände übers Seebecken«) 2

Hintergrund der seit den späten 1980er Jahren laufenden Debatten um den Bau eines neuen Hauptstadtflughafens für die 21-Millionen-Metropole Mexiko-Stadt ist die starke Auslastung des bestehenden Aeropuerto Internacional de La Ciudad de México Benito Juárez (AICM). Dieser liegt im Stadtgebiet nordöstlich der Innenstadtbezirke, damit deutlich zentraler als das für den neuen Flughafen NAIM ursprünglich anvisierte Gebiet im Bereich Texcoco. Alternative Standorte für den Neubau wurden immer wieder diskutiert; die aktuelle Bundesregierung hat sich für einen Um- und Ausbau eines ehemaligen Militärflughafens in Santa Lucía im angrenzenden Bundesstaat Estado de México entschieden, der Ende März 2022 den Betrieb als Aeropuerto Internacional Felipe Ángeles aufnahm.

277

278

Aneignung, Ausbeutung und emanzipatorische Praktiken

unter Beteiligung der FPDT formuliert, die vergangene, gegenwärtige und zukünftige menschliche und nichtmenschliche Bewohner:innen des Seeufers durch einen »Brief an den See« anspricht (Hackear el Aeropuerto 2018; Rivera 2020; für eine vertiefte Diskussion vgl. Navarro 2015).

Dekoloniale Ansätze zum Aufzeigen von räumlichen und sozialen Machtverhältnissen Mit welchen theoretischen Ansätzen lassen sich solche kolonialen Kontinuitäten in Mexiko-Stadt fassen? Wir rücken an dieser Stelle insbesondere dekoloniale Ansätze in den Fokus, da sie analytische Perspektiven bieten, um sich auf die spezifische koloniale Erfahrung Lateinamerikas und deren Einbindung in historisch-strukturelle globale Abhängigkeiten zu beziehen. Zentral sind hier Fragen der Macht. In seinem Schlüsseltext »Kolonialität der Macht, Eurozentrismus und Lateinamerika« von 1997 entwirft der peruanische Soziologe Aníbal Quijano eine materialistische Theorie der Dekolonisierung, die über die Klassenfrage hinausgeht. Die rassifizierende Arbeitsteilung in den spanischen Kolonien des 16. bis 18. Jahrhunderts etwa, die Menschen unter der Kategorie der raza als Indigene und versklavte Schwarze, Mestizes und Weiße markierte und sozial differenzierte, legt er als ein wesentliches Element der Etablierung eines modernen kapitalistischen Weltsystems dar (Quijano 2016: 26ff.). Während die Weltsystemtheorie von Immanuel Wallerstein den Ursprung der Moderne und des Kapitalismus in Europa festmacht, kritisiert Quijano diesen Eurozentrismus und streicht die zentrale Rolle Lateinamerikas für die Herausbildung des Weltsystems heraus, oder wie er es in einem Interview auf den Punkt bringt: »Die Moderne, das Kapital und Amerika sind am gleichen Tag geboren« (Velarde 1991). Obwohl Quijano Kolonialität als einen globalen Prozess betrachtet, verdeutlicht er besonders den spezifischen historischen Kontext und die verschiedenen Geographien dieses Prozesses. Als Kolonialität der Macht konzeptualisiert Quijano somit nicht nur ökonomische (materielle), sondern auch soziale (intersubjektive) globale Machtverhältnisse in ihrer historischen Gewordenheit (Pacheco Chávez 2016). In dieser doppelten Perspektive dekolonialer Ansätze auf das moderne Weltsystem bildet sich zum einen der Einfluss der Dependenztheorie ab. Dadurch hebt sich mit Blick auf mexikanisches Regierungshandeln die ›importsubstituierende Industrialisierung‹ als zentrale wirtschaftspolitische Prämisse des Entwicklungsmodells der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Anke Schwarz & Monika Streule: Von Territorium zu Territorio

hervor. Deren Relevanz für Urbanisierungsdynamiken gerade in MexikoStadt und anderen mexikanischen Industriestädten ist eindrücklich belegt (u.a. Garza 2003; Parnreiter 2007). Zum anderen beziehen sich dekoloniale Ansätze – und hier greifen sie weit über materialistische Analysen globaler Arbeitsteilung hinaus – auf befreiungstheologische und post-strukturalistische Positionen, gerade in Fragen der Subjektivierung und der intersubjektiven Beziehungen (für eine Diskussion intersektionaler Ansätze vgl. Lugones 2008). Beide Blickrichtungen auf eine Kolonialität der Macht informieren unsere Beschäftigung mit sozioterritorialen Perspektiven im weiteren Verlauf des Kapitels. Darüber hinaus werfen dekoloniale Ansätze ein Schlaglicht auf epistemologische Fragen der Stadtforschung, besonders die Bedingungen und Situiertheit von Wissensproduktion betreffend. Quijano fasst dies als Kolonialität des Wissens, die es als Verschränkung kolonialistischer, eurozentrischer und kapitalistischer Denk- und Wirtschaftsweisen zu dekonstruieren gelte. Der brasilianische Geograph Carlos W. Porto-Gonçalves (2009: 123) nimmt solche dekolonialen Ansätze auf, um über Ungleichheiten in der historischen Gewordenheit von Raum sowie über ungleiche Geographien der Wissensproduktion (Episteme) nachzudenken. Territorio sei dabei ein Schlüsselbegriff: »Es gibt einen Kampf um die Dekolonialisierung des Denkens, zu dem die Wiederaneignung des Konzepts Territorio möglicherweise etwas beitragen kann« (Porto-Gonçalves 2006: 161, Übers. d. A.).

Territorio als zentrales Konzept lateinamerikanischer Debatten und darüber hinaus Die deutsch- und englischsprachige Politische Geographie versteht unter Territorium üblicherweise »eine räumliche Einheit, die eine bestimmte Ausdehnung hat, zu benachbarten Territorien abgegrenzt wird und häufig durch spezifische Formen des Regierens gekennzeichnet ist« (Reuber 2012: 55). Das Konzept Territorium bildet dabei eine der Grundlagen des modernen Staatsverständnisses und bringt den Nationalstaat als eine territoriale Organisationsform der Gesellschaft hervor, welche einen Hegemonieanspruch erhebt und auf der Idee politischer Souveränität beruht (Elden 2010). Im Kontext des westlichen Kolonialismus kann dabei der Nationalstaat sowohl als koloniales als auch post-koloniales Projekt gelten. Der Maßstab des Nationalstaats ist im Zuge der Globalisierung nicht das einzige Untersuchungsfeld von staatlicher Macht und Raum geblieben; Territorium wird vermehrt in Studien

279

280

Aneignung, Ausbeutung und emanzipatorische Praktiken

vom Bundesstaat bis zum Stadtbezirk als analytisches Konzept herangezogen (Painter 2010). Was bei allen Maßstabsebenen bleibt, ist die Annahme eines umgrenzten Gebiets, das durch eine spezifische Akteurskonstellation dominiert wird (für eine kritische Diskussion vgl. Schwarz/Streule 2022). Mit Blick auf aktuelle Debatten in Lateinamerika schlagen wir vor, dieses Begriffsverständnis zu erweitern, um im Sinne einer dezentrierten und vielfältigeren Wissenslandschaft andere mögliche konzeptuelle Zugänge in der Stadtforschung sichtbar zu machen und zur Anwendung zu bringen. Wichtig vorauszuschicken ist hierbei die Vielstimmigkeit der lateinamerikanischen Territorio-Debatte: Wie María F. López Sandoval, Andrea Robertsdotter und Myriam Paredes (2017: 44) in ihrem Artikel über den gegenwärtigen Gebrauch von Territorio in der lateinamerikanischen Humangeographie betonen, lässt sich keineswegs von einer einheitlichen Begriffsdefinition sprechen, so dass wir uns in diesem Beitrag vielmehr einem situierten und fluiden Verständnis von Territorio annähern.

In welchen Zusammenhängen wird der Begriff Territorio verwendet? Soziale Bewegungen, akademische Debatten und Planung als Regierungstechnik sind Rogério Haesbaert (2020) zu Folge drei der wichtigsten gesellschaftlichen Bereiche in denen aktive Bezüge zu Territorio präsent sind (vgl. auch López Sandoval/Robertsdotter/Paredes 2017). Über die letzten Jahrzehnte entstanden in ganz Lateinamerika zahlreiche soziale Bewegungen mit territorialem Bezug (Zibechi 2011; Cúneo/Gascó 2013). Eine Hauptrolle spielen dabei indigene, afro-lateinamerikanische und feministische Gruppen, die sich gegen Enteignung und Vertreibung – ausgelöst durch kapitalistische Stadtentwicklungsprojekte, den Bau städtischer Infrastruktur oder extraktiver Megaprojekte – organisieren (Anthias 2018; Svampa 2020; Streule 2023) und ein ›Recht auf Territorio‹ einfordern (Escobar 2015; Bartra 2015). Territorio als Begriff der politischen Praxis ist zusammen mit weiteren horizontalen Konzepten, die aus kritischen Analysen, Sprachen und Praxen sozialer Bewegungen in Lateinamerika entstanden sind, zentral geworden – darunter Buen Vivir (»Gutes Leben«), die Rechte der Natur, Gemeinschaftsgüter oder die Ethik der Sorge – und hat neue Formen der Beziehung des Menschen zur Natur und zu den Mitmenschen in den Mittelpunkt gestellt. Weiter wird Territorio als analytischer Begriff gerade in den Sozial- und Kulturwissenschaften diskutiert und herangezogen um aktuelle Transformationsprozesse und sozialräumliche Konflikte zu verstehen (u.a. Becker

Anke Schwarz & Monika Streule: Von Territorium zu Territorio

1985; Santos 1996; 2000; Porto-Gonçalves 2001; 2006; Fernandes 2009; Saquet/ Sposito 2009). Insbesondere in der Humangeographie greifen Wissenschaftler:innen zunehmend auf eine situierte relationale Konzeptualisierung von Territorio zurück, welches klar im politischen, sozialen und historischen Kontext Lateinamerikas eingebettet und durch die anhaltenden sozialen Kämpfe inspiriert ist (Schwarz/Streule 2014; 2016; Clare/Habermehl/MasonDeese 2018; Lombard/Hernández-García/Salgado-Ramírez 2021). Boden in gesellschaftlichen Konflikten und städtischen Aneignungsprozessen aus einer sozioterritorialen Perspektive zu denken, bedeutet, wie Porto-Gonçalves (2006: 168) schreibt, kulturelle Identitäten auf politische Weise zu denken und nicht zu essentialisieren. Politische Kämpfe sind für ihn demnach, wie wir im vorangehenden Abschnitt in Verbindung mit dekolonialen Ansätzen gezeigt haben, auch Auseinandersetzungen um andere Episteme – und dies erstreckt sich, um mit Stuart Hall (1994) zu sprechen, auch unmittelbar auf plurale kulturelle Identitäten und ihre Artikulation mit Differenz. Ein weiteres eng verwandtes Feld sind feministische dekoloniale Studien, die den Körper selbst als umkämpftes Territorium verstehen, das ständigen hegemonialen Ansprüchen wie Patriarchat und weißer Vorherrschaft ausgesetzt ist und zu einem Ort des Widerstands wird (Ulloa 2016; Colectivo Miradas Críticas del Territorio desde el Feminismo 2017; Zaragocín/Caretta 2020). Schließlich ist in der lateinamerikanischen Regionalentwicklung und -planung Territorio als normativer Begriff insbesondere seit der Dezentralisierung der Verwaltung in den 1990er Jahren zum Schlüsselbegriff geworden (für eine kritische Diskussion vgl. Stienen 2020; Davis 2020). In diesem Anwendungsbereich beschreibt Territorio ein durch eine spezifische politische Institution abgegrenztes Gebiet mit eigenen Kräfteverhältnissen – es liegt somit nahe am eingangs erläuterten Begriffsverständnis der deutschsprachigen Politischen Geographie.

Arbeitsdefinition von Territorio für die Stadtforschung Tatsächlich erscheint die Produktion von Territorien in den Auseinandersetzungen um Landnutzung in der Peripherie von Mexiko-Stadt als besonders dynamisch: Eine Vielzahl an Subjekten, von Landwirt:innen und Aktivist:innen über Architekt:innen und Stadtplaner:innen bis zu Investor:innen und verschiedenen Regierungsstellen sind Teil fortlaufender und teilweise konfliktiver territorialer Aushandlungen. Alle diese Protagonist:innen ringen um eine Implementierung ihrer Visionen für und Imaginationen von historischer,

281

282

Aneignung, Ausbeutung und emanzipatorische Praktiken

gegenwärtiger und zukünftiger Landnutzung und Urbanisierung im Nordosten von Mexiko-Stadt. Machtasymmetrien sind dabei evident. Der Versuch der Regierung das Land um San Salvador Atenco, auf dem der Flughafen gebaut werden sollte, direkt zu enteignen, scheiterte am starken Widerstand der lokalen Bevölkerung mit solidarischer Unterstützung anderer. Das gewählte Fallbeispiel verdeutlicht somit eine historische und soziale Gewordenheit von Geographien: Territorios werden gemacht, sie sind ein soziales Produkt. Ein Territorio geht somit stets aus sozialen Prozessen der Territorialisierung hervor. Mittels eines sozioterritorialen Zugangs lassen sich dabei drei Dimensionen territorialer Praxis in ihrer Gleichzeitigkeit und Verwobenheit in den Blick nehmen und eine Arbeitsdefinition des Begriffs aufstellen: Das Urbane als Territorio lässt sich zugleich in seiner Materialität, als städtische Alltagserfahrung, und als Ausdruck von Techniken der räumlichen Regulation und Repräsentation fassen, wobei ungleiche Machtverhältnisse ausdrücklich im Fokus der Untersuchung stehen (Schwarz/Streule 2020: 13). Territorio-Machen ist also mit Quijano ein machtvoller Prozess, eine fortlaufende, dynamische, vielschichtige, vielstimmige Aushandlung, und damit auch ein Widerstreit mit offenem Ausgang, zur Etablierung und Stabilisierung von Machtpositionen über Raum (Haesbaert 2013). Dies wird in der Politischen Geographie üblicherweise als De- und Reterritorialisierung gefasst: Das Definieren und Redefinieren von Territorien. Im Territorio als Begriff politischer Praxis sind hier keineswegs allein staatliche Akteure am Werk – auch wenn diese unter Umständen besonders machtvoll sind. Territorio operiert mit einem relationalen Machtbegriff – es geht somit um ein Einschreiben asymmetrischer, sich verschiebender, nicht-binärer Machtpositionen in und durch das, was Milton Santos (2000) als banale Räume des Alltags bezeichnet. Dabei stellt sich ganz zentral die Frage nach der Subjektposition, also danach, wer aus welcher sozialen Position heraus territorialisiert. Auch hier ist ein Fokus auf nichtstaatliche, nicht-institutionalisierte Protagonist:innen im breitesten Sinne – beispielsweise Individuum und Kollektiv, soziale Bewegung – besonders aussagekräftig um territoriale Produktion als ermächtigende und machtvolle Praxis der Raumproduktion zu verstehen.

Sozioterritoriale Perspektiven in der Stadtforschung einsetzen Den Ausgangspunkt für sozioterritoriale Perspektiven in der Stadtforschung bildet aus unserer Sicht eine Übertragung (Transposition) von Territorio als Be-

Anke Schwarz & Monika Streule: Von Territorium zu Territorio

griff politischer Praxis ins Urbane, mithin seine Anwendung auf Fragen der Urbanisierung (Schwarz/Streule 2016). Wir schlagen an dieser Stelle ganz bewusst sozioterritoriale Perspektiven bzw. Zugänge als Arbeitsbegriff vor. Dies dient annähernd als Synonym für Territorio, als Begriff politischer Praxis, wie in diesem Beitrag eingeführt, und verweist so auf einen relationalen Begriff von Macht und Raum. Es erscheint relevant, diese Spezifität zu betonen und so eine unmittelbare Gleichsetzung mit dem vorherrschenden (national-)staatlich gerahmten Territoriums-Begriff der deutsch- und englischsprachig orientierten Politischen Geographie zu vermeiden. In diesem Beitrag haben wir uns mit Geographien der Kolonialität im dreifachen Sinne befasst: (1) Wir stellten das empirische Fallbeispiel der Gemeinde San Salvador Atenco in Mexiko-Stadt in den Kontext einer fortschreitenden Urbanisierung des Texcoco-Seebeckens und zeigten in der zentralen Figur des nun gestoppten Flughafenbaus als neokoloniales Infrastrukturprojekt koloniale Kontinuitäten auf. (2) Weiter führten wir Territorio als Begriff politischer Praxis aus der einschlägigen Literatur ein. Festzuhalten ist, dass es sich um ein spezifisches, historisch und geographisch in Lateinamerika verortetes Überdenken und Rekonzeptualisieren eines modernistisch-kolonialen Begriffes der Territorialisierung handelt – wobei sich territorial einschreibende Widerstände stets mitgedacht werden. (3) Schließlich diskutierten wir sozioterritoriale Perspektiven als Plattform und Verstärker für multiple Begriffe von Territorio. Dies verstehen wir als einen (von vielen möglichen und nötigen) Beiträgen zu einer weiteren Dezentrierung geographischer Wissensproduktion im Sinne eines Umgangs mit der Kolonialität des Wissens. Für die Stadtgeographie ist ein solcher Zugang aus unserer Sicht mit Blick auf mindestens drei große Forschungsfelder fruchtbar: Konflikte um Bodennutzung und andere Aushandlungen von territorialen Verhältnissen, städtische soziale Bewegungen, sowie räumliche Fragen der Subjektivierung. Davon unbenommen steht weitere Reflexionsarbeit hinsichtlich des historischen ›Gepäcks‹ territorialer Begrifflichkeiten in kolonialer und imperialer Geschichte und Gegenwart an. Anders gesagt: Als travelling concept reist Territorio nicht unbeschwert, sondern mit kolonialem wie nationalistischem Sperrgepäck. Natur- und Geodeterminismen im Kontext von Begriffen wie ›Territorialität‹ und ›Lebensraum‹ lassen sich gerade im deutschsprachigen Raum kaum ohne den disziplinhistorischen Hintergrund der ›klassischen‹ Geopolitik, etwa der geographischen Schriften Friedrich Ratzels, Karl Haushofers und Walter Christallers verstehen (Weber 2022). Zweifellos besteht Bedarf an weiterer Reflexion zu den Implikationen sozioterritorialer Forschungsperspektiven jenseits ei-

283

284

Aneignung, Ausbeutung und emanzipatorische Praktiken

ner Essentialisierung von Territorien (Schwarz/Streule 2022). Hier sehen wir weiter zu vertiefende, produktive Verbindungslinien zu Forschungen bezüglich Geographien der Differenz, post- und dekolonialen, queerfeministischen und rassismuskritischen Zugängen (zu den Implikationen vgl. u.a. Husseini de Aráujo/Kersting 2012). Gerade eine subjektorientierte sozioterritoriale Forschungsagenda, die sich aus einem Begriff der politischen Praxis speist, kann aus unserer Sicht eine Weitung und Dezentrierung des Begriffs Territorium, auch in der deutschsprachigen Politischen Geographie, ermöglichen (Schwarz/Streule 2023). Insbesondere post- und dekoloniale sowie feministische und intersektionale Perspektiven auf Urbanisierung und urbane Räume, die sich mit Subjektpositionen, historischer Differenz und Fragen von Raum und Macht beschäftigen, haben hier großes Potenzial. Sozioterritoriale Perspektiven eröffnen somit, ausgehend vom hier dargelegten Begriffsverständnis, einen zentralen Zugang zur weiteren Reflexion über und Dekonstruktion von Geographien der Kolonialität.

Literatur Anthias, Penelope (2018): Limits to Decolonization. Indigeneity, Territory, and Hydrocarbon Politics in the Bolivian Chaco, Ithaca: Cornell University Press. Bartra, Armando (2015): Se hace terruño al andar. Las luchas en defensa del territorio, México: UNAM-X: Itaca. Becker, Berta (1985): »El uso político del territorio. Consideraciones a partir de una visión del Tercer Mundo.«, in: Revista Geográfica de América Central 2(17/18), S. 13–26. Clare, Nick; Habermehl, Victoria; Mason-Deese, Liz (2018): »Territories in Contestation: Relational Power in Latin America.«, in: Territory, Politics, Governance 6(3), S. 302–321. Colectivo Miradas Críticas del Territorio desde el Feminismo (2017): Mapeando el cuerpo-territorio. Guía metodológica para mujeres que defienden sus territorios, Quito: CLACSO. Cúneo, Martín; Gascó, Emma (2013): Crónicas el estadillo: Viaje a los movimientos sociales que cambiaron América Latina, Barcelona: Icaria. Cymet, David (1992): From Ejido to Metropolis, Another Path. An Evaluation on Ejido Property Rights and Informal Land Development in Mexico City, New York/San Francisco/Bern: Peter Lang.

Anke Schwarz & Monika Streule: Von Territorium zu Territorio

Davis, Diane (2020): »City, Nation, Network: Shifting Territorialities of Sovereignty and Urban Violence in Latin America«, in: Urban Planning 5(3), S. 206–216. Davis, Diane; Rosan, Christina (2004): »Social Movements in the Mexico City Airport Controversy. Globalization, Democracy, and the Power of Distance«, in: Mobilization: An International Quarterly 9(3), S. 279–293. Elden, Stuart (2010): »Land, Terrain, Territory«, in: Progress in Human Geography 34(6), S. 799–817. Escobar, Arturo (2015): »Territorios de diferencia. La ontología política de los ›derechos al territorio‹«, in: Cuadernos de Antropología Social 41, S. 25–38. Fernandes, Bernardo (2009): »Sobre a tipologia de territórios«, in: Marcos Aurélio Saquet, Eliseu Savério Sposito (Hg.): Territórios e territorialidades. Teorias, processos e conflitos, São Paulo: Expressão Popular. Garza, Gustavo (2003): La urbanización de México en el siglo XX, Mexiko-Stadt: El Colegio de México. Gilly, Adolfo (1994): La revolución interrumpida, Mexiko-Stadt: Ediciones Era. Giordano, Al (2006): »Mexico’s Presidential Swindle«, in: New Left Review 41, S. 5–26. González Casanova, Pablo (1965): »Internal Colonialism and National Development«, in: Studies in Comparative International Development 1, S. 27–37. Graham, Stephen/Marvin, Simon (2001): Splintering Urbanism. Networked Infrastructures, Technological Mobilities and the Urban Condition, London: Routledge. Hackear el Aeropuerto (2018): Carta del Lago de Texcoco, http://yoprefieroellago. org/carta, zuletzt geprüft am 17.02.2021. Haesbaert, Rogério (2013): »A Global Sense of Place and Multi-territoriality: Notes for Dialogue from a »Peripheral« Point of View«, in: David Featherstone, Joe Painter (Hg.): Spatial Politics. Essays for Doreen Massey, Malden: Wiley-Blackwell, S. 146–57. Haesbaert, Rogério (2020): »Territory/ies from a Latin American Perspective«, in: Journal of Latin American Geography 19(1), S. 258–268. Hall, Stuart (1994): Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2, Hamburg: Argument. Husseini de Araújo, Shadia; Kersting, Philipp (2012): »Welche Praxis nach der postkolonialen Kritik? Human- und physisch-geographische Feldforschung aus übersetzungstheoretischer Perspektive«, in: Geographica Helvetica 67(3), S. 139–145.

285

286

Aneignung, Ausbeutung und emanzipatorische Praktiken

Jones, Gareth A.; Ward, Peter M. (1998): »Privatizing the Commons. Reforming the Ejido and Urban Development in Mexico«, in: International Journal of Urban and Regional Research 22(1), S. 76–93. Kiani-Kreß, Rüdiger (2020): »Noch chaotischer als beim BER? Das geht!, Wirtschaft von oben #35 – Flughafen Mexico City«, in: Wirtschaftswoche vom 05.02.2020, https://www.wiwo.de/technologie/wirtschaft-von-oben /wirtschaft-von-oben-35-flughafen-mexico-city-noch-chaotischer-als-be im-ber-das-geht/25510486.html, zuletzt geprüft am 03.05.2020. Legorreta, Jorge (2006): El Agua y la Ciudad de México. De Tenochtitlán a la megalópolis del siglo XXI, Mexiko-Stadt: Universidad Autónoma Metropolitana. Lesutis, Gediminas (2021): »Infrastructural Territorializations: Mega-infrastructures and the (Re)making of Kenya«, in: Political Geography 90, https: //www.doi.org.10.1016/J.POLGEO.2021.102459. Lombard, Melanie; Hernández-García, Jaime; Salgado-Ramírez, Isaac (2021): »Beyond Displacement: Territorialization in the Port City of Buenaventura, Colombia«, in: Territory, Politics, Governance 9, https://www.doi.org.10.1080 /21622671.2021.1908160. López Sandoval, María F.; Robertsdotter, Andrea; Paredes, Myriam (2017): »Space, Power and Locality: the Contemporary use of Territorio in Latin American Geography«, in: Journal of Latin American Geography 16(1), S. 43–67. Lugones, María (2008): »Colonialidad y género«, in: Tábula Rasa 9, S. 73–101. Navarro, Mina (2015): Luchas por lo común: Antagonismo social contra el despojo capitalista de los bienes naturales en México, Puebla: Tierra Ediciones. Pacheco Chávez, Víctor Hugo (2016): »Colonialidad del poder. Impronta, reformulación y construcción de un concepto«, in: José Guadalupe Gandarilla Salgado (Hg.): La crítica en el margen: hacia una cartografía conceptual para rediscutir la modernidad, Mexiko-Stadt: Akal, S. 337–360. Painter, Joe (2010): »Rethinking Territory«, in: Antipode 42, S. 1090–1118. Parnreiter, Christof (2007): Historische Geographien, verräumlichte Geschichte. Mexico City und das mexikanische Städtenetz von der Industrialisierung bis zur Globalisierung, Stuttgart: Franz Steiner Verlag. Parsons Corporation (o.J.): NAIM: A Critical Investment in Mexico’s Future – Mexico City, https://www.parsons.com/project/naicm-english/, zuletzt geprüft am 03.05.2021. Porto-Gonçalves, Carlos Walter (2001): Geo-grafías: Movimientos sociales, nuevas territorialidades y sustentabilidad, Mexiko-Stadt: Siglo XXI. Porto-Gonçalves, Carlos Walter (2006): »A reinvenção dos territórios: a experiência latino-americana e caribenha«, in: Ana Esther Ceceña (Hg.): Los

Anke Schwarz & Monika Streule: Von Territorium zu Territorio

desafíos de las emancipaciones en un contexto militarizado, Buenos Aires: CLACSO, S. 151–197. Porto-Gonçalves, Carlos Walter (2009): »De Saberes y de Territorios – diversidad y emancipación a partir de la experiencia latino-americana«, in: POLIS 22, S. 121–136. Quijano, Aníbal (2000): »Coloniality of Power and Eurocentrism in Latin America«, in: International Sociology 15(2), S. 215–232. Quijano, Aníbal (2016): Kolonialität der Macht, Eurozentrismus und Lateinamerika, Wien/Berlin: Turia + Kant. Quintero, Pablo; Garbe, Sebastian (Hg.) (2013): Kolonialität der Macht. De/ Koloniale Konflikte: zwischen Theorie und Praxis, Münster: Unrast. Reuber, Paul (2012): Politische Geographie, Stuttgart: UTB. Rivera, Saúl (2020): »Atenco y los imaginarios en resistencia frente al ›aeropuerto simbólico‹«, in: Carlos Mendoza Álvarez, Raquel Rafael de la Cruz, Victor Manuel Chima Ortiz, Al-Dabi Olvera Castillo (Hg.): El corazón de la tierra: Pueblos en resistencia, Cuaderno Narrativas de Resistencia 2, S. 16–26. Santos, Milton (1996): Metamorfosis del espacio habitado, Barcelona: Oikos-Tau. Santos, Milton (2000): »El Territorio. Un agregado de espacios banales«, in: Boletín de Estudios Geográficos 96, S. 87–96. Saquet, Marcos Aurelio; Sposito, Eliseu Savério (Hg.) (2009): Territórios e territorialidades. Teorias, processos e conflitos, São Paulo: Expressão Popular. Schwarz, Anke; Streule, Monika (2014): »Territorio es más que terreno«, in: La Jornada de Oriente vom 13.8.2014. Schwarz, Anke; Streule, Monika (2016): »A Transposition of Territory: Decolonized Perspectives in Current Urban Research«, in: International Journal of Urban and Regional Research 40(5), S. 1000–1016. Schwarz, Anke; Streule, Monika (2020): »Introduction to the Special Issue »Contested Urban Territories: Decolonized Perspectives«, in: Geographica Helvetica 75(1), S. 11–18. Schwarz, Anke; Streule, Monika (2022): »Rendering Territory (In)Visible. Approaching Urban Struggles through a Socio-territorial Lens«, in: Andrea Brighenti, Mattias Kärrholm (Hg.): Territories, Environments, Politics: Explorations in Territoriology, New York: Routledge, S. 136–152. Schwarz, Anke; Streule, Monika (2023): »Territorial Subjectivities: Towards a Non-essentialist Politics of Space and Subjects«, Working paper, London/ Dresden: LSE Department of Geography and Environment/TU Dresden Humangeographie.

287

288

Aneignung, Ausbeutung und emanzipatorische Praktiken

Stavenhagen, Rodolfo (1965): »Classes, Colonialism, and Acculturation. Essay on a System of Inter-ethnic Relations in Mesoamerica«, in: Studies in Comparative International Development 1, S. 53–77. Stienen, Angela (2020): »(Re)claiming Territory: Colombia’s ›Territorial-peace‹ Approach and the City«, in: Geographica Helvetica 75(1), S. 285–306. Streule, Monika (2017): »Post- und dekoloniale Perspektiven der Stadtforschung. Eine andere Lesart der Urbanización Popular von Mexiko-Stadt«, in: Rebecca Steger, Marie Ludwig, Julia Brychcy, Elisabeth Pütz, Kyra Sell (Hg.): subalternativen. Postkoloniale Kritik und dekolonialer Widerstand in Lateinamerika, Münster: edition assemblage, S. 79–104. Streule, Monika (2018): Ethnografie urbaner Territorien. Metropolitane Urbanisierungsprozesse von Mexiko-Stadt, Münster: Westfälisches Dampfboot. Streule, Monika (2023) »Urban Extractivism. Contesting Megaprojects in Mexico City, Rethinking Urban Values«, in: Urban Geography 44(1), S. 262–271. Streule, Monika; Karaman, Ozan; Sawyer, Lindsay; Schmid, Christian (2020): »Popular Urbanization: Conceptualizing Urbanization Processes beyond Informality«, in: International Journal of Urban and Regional Research 44(4), S. 652–672. Svampa, Maristella (2020): Die Grenzen der Rohstoffausbeutung. Umweltkonflikte und ökoterritoriale Wende in Lateinamerika, Bielefeld: Bielefeld University Press. Ulloa, Astrid (2016): »Feminismos territoriales en América Latina: defensas de la vida frente a los extractivismos«, in: Nómadas 45, S. 123–139. Varley, Ann; Salazar, Clara E. (2021): »The Impact of Mexico’s Land Reform on Periurban Housing Production: Neoliberal or Neocorporatist?«, in: International Journal of Urban and Regional Research 45(6), S. 964–984. Velarde, Nora (1991): Aníbal Quijano: »La modernidad, el capital y América Latina nacieron en el mismo día«, in: ILLA 10, Interview von Nora Velarde, S. 42–57. Werber, Niels (2014): Geopolitik zur Einführung, Hamburg: Junius. Wilson, Japhy (2014): »The Violence of Abstract Space: Contested Regional Developments in Southern Mexico«, in: International Journal of Urban and Regional Research 38(2), S. 516–538. Zaragocín, Sofia/Caretta, Martina Angela (2020): »Cuerpo-Territorio: A Decolonial Feminist Geographical Method for the Study of Embodiment«, in: Annals of the American Association of Geographers 111(5), S. 1503–1518. Zibechi, Raúl (2011): Territorien des Widerstands. Eine politische Kartografie der urbanen Peripherien Lateinamerikas, Berlin: Assoziation A.

Kolonialität von Essen und Bewegungen für Ernährungssouveränität Emanzipatorische Ernährungspraktiken in Kolumbien und Kenia Birgit Hoinle & Meike Brückner

1. Einleitung Essen ist politisch. Die Speisen, die auf unsere Teller kommen, sind eng verknüpft mit historisch gewordenen, vergeschlechtlichten und klassenbasierten Machtbeziehungen. Das wirft Fragen auf, wie: Wer leistet die Arbeit im Anbau? Wer entscheidet über den Weg der Vermarktung? Wer verdient wie viel in der Wertschöpfungskette? Wer hat das Wissen über die Sorten und ihre Eigenschaften? Wer kümmert sich um die Zubereitung und Versorgung? In diesem Kapitel möchten wir diesen Fragen nachgehen und zeigen, auf welche Weise sich postkoloniale Machtverhältnisse im Essen niederschlagen und wo Formen des Widerstands zu finden sind. Als Ausgangspunkt nutzen wir das Konzept der Kolonialität von Natur und von Macht (Alimonda 2011; Quijano 2000) sowie Beiträge der Feministischen Politischen Ökologie für die Analyse der Kontinuität kolonialer Machtbeziehungen in Ernährungssystemen. Daran anknüpfend entwickeln wir ein Verständnis für ein Konzept der Kolonialität von Essen. Als Antwort auf die erfahrenen Ausschlüsse und Ausbeutungen im globalen Ernährungssystem haben soziale Bewegungen im Globalen Süden das Konzept der Ernährungssouveränität, als Recht aller Völker auf gesunde und kulturell angepasste Nahrung und Landwirtschaft, in der internationalen Agrar- und Ernährungspolitik lanciert. Es wurde von der kleinbäuerlichen Bewegung La Vía Campesina 1996 in den globalen Diskurs eingebracht. Anhand von zwei Fallbeispielen aus Kolumbien und Kenia zeigen wir, was Ernährungssouveränität in der Praxis bedeutet und gehen dabei insbesondere auf die Dimensionen von Wissen und Care-Arbeit

290

Aneignung, Ausbeutung und emanzipatorische Praktiken

ein. Vergleichend erörtern wir, wie in den Alltagspraxen der Saatgewinnung sowie des Anbaus und der Zubereitung von indigenem Blattgemüse1 Selbstbestimmung zum Tragen kommt, Geschlechterdualismen transformiert und kollektive Versorgungsstrukturen gebildet werden. Wir ziehen beide Fallbeispiele heran, um aufzuzeigen, wie sich in unterschiedlichen geographischen Regionen auf ähnliche Art und Weise koloniale Verhältnisse entlang der Wertschöpfungskette, also in Produktions- und Konsummuster, einschreiben und alle Bereiche im Feld der Landwirtschaft bzw. Ernährung machtvoll prägen. Die Frage, inwiefern darin auch Ansatzpunkte für eine Dekolonialisierung von Ernährungssystemen entwickelt werden, greifen wir im Ausblick auf. Unser Beitrag basiert auf empirischen Arbeiten in Kolumbien und Kenia. In Kolumbien wurden im Rahmen der Promotion von Birgit Hoinle in einer anderthalbjährigen Feldforschung insgesamt 25 narrative Interviews mit Stadtgärtner*innen, 17 semi-strukturierte Interviews mit Vertreter*innen aus Verwaltung und NGOs, 13 Gruppeninterviews sowie fünf Workshops mit kollektivem Kartieren durchgeführt. Bei den Stadtgärtner*innen handelt es sich vornehmlich um Frauen, die durch Vertreibungen während des kolumbianischen Bürgerkriegs oder durch Land-Stadt-Migration in die urbanen Peripheriegebiete gekommen sind. Viele haben ihr (Praxis-)Wissen aus der Landwirtschaft in die Stadt mitgebracht und sich in agrarökologischen Initiativen, Stadteilzentren oder Saatgutnetzwerken organisiert. Die Daten in Kenia wurden von einem Forscherinnenteam aus Deutschland und Kenia, an dem Meike Brückner beteiligt war, im urbanen (Nairobi), peri-urbanen (Nakuru) und im ländlichen Raum (Kakamega) zwischen 2013 und 2017 erhoben. Es wurden 32 cook along-Interviews, also Küchengespräche während der Mahlzeitenzubereitung, 15 Gruppendiskussionen, 17 leitfadengestützte Interviews mit Haushalten und sechs mit Vertreter*innen aus Politik und NGOs geführt. Zusätzlich wurden mit 17 Haushalten Mahlzeitenkartographien erstellt, um die räumlich-zeitliche Einbettung von Ernährungsfürsorge zu erheben. Die Küchengespräche fanden hauptsächlich mit Frauen statt, da die Essenszubereitung fast ausschließlich von ihnen praktiziert wird. Um jedoch Geschlechterverhältnisse zu beleuchten, wurden Diskussionsrunden mit gemischtgeschlechtlichen Gruppen und zusätzlich Interviews mit Männern geführt. Bei der Auswahl der Personen wurden unterschiedliche Ethnizitäten berücksichtigt.

1

Eine Begriffsklärung wird in Abschnitt 3 vorgenommen.

Birgit Hoinle & Meike Brückner: Kolonialität von Essen und Bewegungen

Als weiße, europäische Forscherinnen hatten wir vor Ort Privilegien, die uns u.a. einen leichten Zugang ins Forschungsfeld und Kontaktaufnahme mit lokalen Gruppen ermöglichten. Gleichzeitig erzeugte dies ein Spannungsverhältnis und erforderte die Auseinandersetzung mit Fragen zu unserer Positionalität, v.a. wie wir mit Machtverhältnissen im Forschungskontext umgehen und was wir von den gewonnenen Erkenntnissen an die Akteure zurückgeben können. Einen Ansatzpunkt, um mit diesen Spannungsfeldern umzugehen (ohne sie aufzulösen oder aus ihnen herauszutreten), fanden wir in der Partizipativen Aktionsforschung (participative action research, vgl. Fals Borda 2000) und dem Konzept einer »situierten Solidarität« (Schurr/Segebart 2017: 151). Der eingeschlagene Weg verhalf uns auch, Verbindungen zu knüpfen zwischen unseren politischen Visionen und den Kämpfen und Zielen unserer Forschungspartner*innen.

2. Von der Kolonialität der Natur zur Kolonialität von Essen Die Politische Ökologie (PÖ) ist ein Forschungsstrang, bei dem die ›Vermachtung‹ der Natur, d.h. der politische Charakter der Natur, im Fokus steht. Dabei wird argumentiert, dass Natur und Gesellschaft in einem permanenten Stoffwechselprozess – einem sozialökologischen Metabolismus – stehen (Reina Rozo 2015). In diesem Sinne schlagen sich soziale Machtverhältnisse in der Ausgestaltung von Naturräumen und damit der gesellschaftlichen Naturverhältnisse (Wissen 2011) nieder. Aus dem lateinamerikanischen Diskursraum sind vielseitige Impulse für die Konzeptentwicklung der PÖ und ebenso der Feministischen PÖ (Ojeda 2011; Ulloa 2016) beigetragen worden, die wir auf das Themenfeld Ernährung übertragen möchten. Eine besondere Rolle in der PÖ Lateinamerikas spielen dekoloniale Perspektiven. Mit dem Begriff der Kolonialität wird auf das Fortwirken globaler Machtstrukturen nach Ende des formellen Kolonialismus hingewiesen und nach Perspektiven für einen ›decolonial turn‹ gefragt (Castro-Gómez/Grosfoguel 2007). Davon ausgehend stellen wir die Frage, was für eine Dekolonialisierung von Essen erforderlich wäre.

Kolonialität von Natur und Macht Ausgangspunkt der PÖ Lateinamerikas ist eine Kritik an der Separation von Natur und Kultur als »ontologisches und metaphysisches Fundament der Moderne« (2003: 18), so Enrique Leff, Mitbegründer des kolonialismuskritischen

291

292

Aneignung, Ausbeutung und emanzipatorische Praktiken

Forschungsnetzwerks ›modernidad-colonialidad‹. Mit dieser Separation ist jedoch mehr als die Vorstellung von zwei getrennten Sphären gemeint, sondern vielmehr eine Hierarchisierung: Mit dem Ausbreiten der westlichen Moderne wurde ›Kultur‹ höher bewertet als ›Natur‹. Diese Höherbewertung überträgt Walter Porto-Gonçalves (2009) auf den Gegensatz von ›Stadt‹ und ›Land‹. So werden das ›Rurale‹ und ländliche Praktiken wie eine kleinbäuerliche Landwirtschaft aus einer Perspektive der Moderne meist mit negativ konnotierten Vorstellungen von ›unterentwickelt‹ und ›rückständig‹ verbunden, während in den postkolonial geprägten Gesellschaften Lateinamerikas (und nicht nur dort) Stadt als Inbegriff europäischer Zivilisation (ebd.: 8) aufgefasst wird. Die PÖ hinterfragt daher das Denken in dominanten Dichotomien (Natur vs. Kultur/Stadt vs. Land) und zugehörigen Raumproduktionen und weist auf die Dialektik und Verwobenheit sozialer und ökologischer Prozesse hin. Im Kontext der Arbeiten der Gruppe ›modernidad/colonialidad‹ hat Hector Alimonda (2011) in seinem Werk »La naturaleza colonizada« (die kolonialisierte Natur) das Konzept der Kolonialität von Natur entwickelt. Alimonda skizziert, dass als Effekt von Kolonialismus und Kapitalismus nicht nur Territorien und deren ober- und unterirdische Rohstoffe in Besitz genommen wurden, sondern auch das Wissen indigener Gruppen, die in diesen Territorien leben und deren Rohstoffe nutzen. Damit haben sich koloniale Machtverhältnisse in die Landschaft und das Wissen um Natur eingeschrieben. Dies zeigt sich etwa in der Errichtung von Bergwerken zur Extraktion von Edelmetallen (u.a. Gold, Kupfer) oder in der Etablierung von Monokulturen für die Hochertragslandwirtschaft, die auf den Export in die kolonialen Zentren ausgerichtet wurde. Dies führte zur Verdrängung des kleinbäuerlichen, an den lokalen Kontext angepassten Ackerbaus. Einen wesentlichen Effekt der Kolonialisierung von Natur sieht Alimonda in epistemischer Hinsicht: Mit dem Kolonialismus wurde das Wissen indigener Gruppen über Natur (z.B. über bestimmte Heilpflanzen) unsichtbar gemacht und machtvoll angeeignet. Indem die Kolonisatoren zudem Einfluss auf die Ausbreitung und Verwendung bestimmter Pflanzensorten nahmen, kam es zu einer Selektierung und Neubewertung von Wissensbeständen. Auf das Fortschreiben rassistisch organisierter Arbeitsverhältnisse nach dem formalen Ende des Kolonialismus geht Aníbal Quijano (2000) mit dem Konzept der Kolonialität von Macht ein. Inwiefern race als Kategorie für die internationale Arbeitsteilung weiterhin eine Rolle spielt, lässt sich beispielsweise am globalisierten Kakaohandel nachvollziehen. Die ursprünglich aus dem Amazonasgebiet stammende Kakaofrucht wurde von den Azteken erst-

Birgit Hoinle & Meike Brückner: Kolonialität von Essen und Bewegungen

mals zu einem Getränk verarbeitet, das dort als ›Göttertrank‹ galt. Später gelangte Kakao mit dem Kolonialismus an die europäischen Königshöfe. Ab dem 18. Jahrhundert begannen Kolonialwarenhändler mit der Einführung von Kakao in den Kolonien Westafrikas, um Schokolade in größerem Maßstab für den europäischen Markt herzustellen. Schokolade sollte damit auch für bürgerliche Schichten erschwinglich werden. Auch nach der Unabhängigkeitserklärung der westafrikanischen Staaten sind die Anbauformen, Verarbeitungsstrukturen und Handelsbeziehungen im Kakaomarkt bis heute von kolonialen Strukturen geprägt. Dies zeigt sich insbesondere bei der Frage, wer wie viel an der Schokolade verdient. So verdienen die Kakaobäuer*innen etwa sechs Prozent an einer Tafel Schokolade, während rund 80 Prozent des Verkaufspreises im Globalen Norden verbleiben. Insbesondere Konzerne wie Nestlé (Schweiz), Mondelez International (USA) und Mars Incorporated (USA) haben den Handel nahezu unter sich aufgeteilt (Fountain/Huetz-Adams 2020). Dahinter steht die ungleiche Teilhabe an der Wertschöpfungskette: Seit Beginn der kolonialen Ausbeutung bis heute werden Rohstoffe aus den Ländern des Globalen Südens unverarbeitet in den Globalen Norden exportiert, wo die Verarbeitung und damit die eigentliche Mehrwertgenerierung stattfindet. Es gibt nur wenige Beispiele für Nischen, in denen es Kooperativen im Globalen Süden gelingt, die Herstellung von Schokolade vor Ort zu organisieren (u.a. Kooperative Kallari in Ecuador, Fairafric in Ghana). Das Beispiel Kakao zeigt deutlich die koloniale Kontinuität ungleicher Strukturen im Ernährungsbereich, indem vor allem Schwarze Menschen und People of Color (BPoC) in den Plantagenökonomien für den Weltmarkt ihre Arbeitskraft zur Verfügung stellen müssen (Perrey 2013; siehe auch Carstensen-Egwuom zum Thema Zucker in diesem Band).

Geschlecht und koloniale Macht: Körper, Care und Wissen Die Geschlechterdimensionen der Kolonialität von Natur und Macht werden in den Arbeiten der Gruppe ›modernidad/colonialidad‹ nur wenig beleuchtet (vgl. AG KGGU 2019: 4). Auf die Aneignung subalterner Körper und reproduktiver Arbeit (Care) sowie die Bedeutung von vergeschlechtlichtem Wissen haben insbesondere Vertreter*innen der Feministischen Politischen Ökonomie und Ökologie (u.a. Quiroga/Gágo 2014; Elmhirst 2015; Bauriedl/Hoinle 2021) hingewiesen. Sie kritisieren ebenfalls den eingangs erwähnten Natur-KulturDualismus (Bauhardt 2011). Dabei zeigen sie auf, wie bestimmte Vorstellungen von Natur, wie etwa das Bild der Natur als zu bezähmende Wildnis oder

293

294

Aneignung, Ausbeutung und emanzipatorische Praktiken

als Rohstoff für Konsumprodukte, hinter den Dynamiken der Naturaneignung stehen. Gabriela Nouzeilles (2002) verdeutlicht, wie in (post-)kolonialen Gesellschaften sowohl Naturräume als auch die Körper der kolonisierten Frau erotisierend dargestellt und damit als zu erobernde Territorien markiert wurden, deren Kontrolle sinnbildlich für den Ausdruck weißer Männlichkeit steht. Mit solchen bewertenden und gewaltlegitimierenden Darstellungsformen haben Natur und Frauen einen Othering-Prozess erfahren, d.h. sie wurden ausgehend von der Perspektive der Kolonisatoren als ›das Andere‹ markiert. Damit wurde die Begründung gegeben, Natur als »proveedora de materia prima« (Rohstofflieferant) und die Arbeitskraft von Frauen als »reproductora de la vida« (Wiederherstellerin von Leben) hegemonial anzueignen (Nogales 2017: 12). Nicht zuletzt war die doppelte Aneignung der weiblichen Arbeitskraft und des Frauenkörpers ein wesentliches Merkmal der Sklavenökonomien im Kolonialismus. Zentrale Themen in der Theoriebildung der Feministischen PÖ sind die zu leistende Care-Arbeit (Jarosz 2011; Bauhardt/Harcourt 2019) und Vorschläge für Care-Ökonomien (u.a. Flórez Flórez/Ramón/Gómez 2018; Llanque et al. 2018). Ausgangspunkt ist die Kritik daran, dass (ernährungsbezogene) CareArbeit stark vergeschlechtlicht ist und zumeist von Frauen unbezahlt im privaten Raum verrichtet wird und dadurch unsichtbar verbleibt. Zudem wird sie in einem hegemonialen Verständnis als unendliche und natürliche Ressource gesehen. Somit wird sie auch auf ähnliche Weise ausgenutzt und ausgebeutet wie natürliche Ressourcen. Kernargument der Debatte ist die gesellschaftspolitische Relevanz von Care-Arbeit, da sie lebens- und gesellschaftserhaltend und zudem essenziell für die Ökonomie und das kapitalistische System ist. Feminist*innen argumentieren des Weiteren, dass Ökonomien der Sorge wissensintensiv, erfahrungsbasiert und voraussetzungsvoll sind. In diesem Zusammenhang wird das Produktive von Care-Arbeit aufgezeigt und die Trennung von produktiver/reproduktiver Arbeit ausgehebelt. Mit der Care-Arbeit werden Wissensbestände weitergegeben sowie Fähigkeiten und Kompetenzen erlernt. Überträgt man diesen Zusammenhang auf den Bereich Ernährung, wird deutlich, dass Ernährungswissen, welches zumeist Frauen erlernen und weitergeben, Voraussetzung und Grundlage von Care-Arbeit und damit für das Funktionieren von Gesellschaften und Ökonomien ist (Brückner 2020a). Wie die hier beleuchteten theoretischen Ansätze und Beispiele zeigen, ist die Kolonialität von Natur gekennzeichnet von rassistischen, klassistischen und vergeschlechtlichten Machtverhältnissen, die sich in Landschaften, Körpern und

Birgit Hoinle & Meike Brückner: Kolonialität von Essen und Bewegungen

Alltagspraxen niederschlagen. Doch was bedeutet dies für die Kolonialität von Essen?

Kolonialität von Essen »Die Kolonialität konstruierte ihre eigene Welt, die bis heute für die Art und Weise verantwortlich ist, wie die westliche Welt ernährt wird, und die ihre Ernährungsinstitutionen und deren Beziehungen definiert: Erzeuger, Verarbeiter und Verteiler (von Waren, einschließlich Arbeit) und schließlich Händler und Verbraucher.« (Ujuaje/Chang 2020: 18, Übers. d. A.) Wie das Zitat zeigt, prägen koloniale Machtverhältnisse Ernährungsweisen und -beziehungen bis heute. In diesem Beitrag arbeiten wir in Bezug auf Kolonialität explizit mit dem Begriff des Essens (in Abgrenzung zu Nahrungsmitteln oder Ernährung). Der Begriff benennt »Essen« sowohl als natürliche Ressource als auch als Praktik und lässt so ein holistisches Verständnis zu. Essen steht sinnbildlich für den sozialökologischen Metabolismus zwischen Mensch und Natur (Reina Rozo 2015), denn nur durch die Gaben der Natur und die menschliche Arbeit des Anbaus sowie die Zubereitung wird Nahrung hergestellt, sozusagen ko-produziert. Für Juana Camacho ist Essen »ein komplexes kulturelles Phänomen, verbunden mit der Geschichte, dem Wissen, der Identität, der Erinnerung und der Umwelt« (Camacho 2014: 176). D.h., im Essen spiegeln sich sowohl kulturelle Deutungs- und Aneignungsformen von Natur als auch der umliegende gesellschaftliche Kontext im Sinne von Machtverhältnissen wider. Ebenso spielen auch die natürlichen Voraussetzungen einer geographischen Region und die Materialität eine Rolle, d.h. welche Zutaten bei bestimmten klimatischen Bedingungen und Bodeneigenschaften hergestellt werden können. Entscheidend für eine kolonialismuskritische Analyse ist, wie Essen in unterschiedlichen Kontexten bewertet wird, d.h. welchen Wert einzelnen Speisen gesellschaftlich zugeschrieben wird. Camacho bezeichnet die kolonialen Bewertungsmuster und Deutungskämpfe um Essen als gastro-politisch (»gastro-político«) (ebd.: 191). Damit sind Klassifizierungen und Hierarchisierungen gemeint, mit denen historisch betrachtet das von spanischen Eroberern in den Kolonien vorgefundene Essen auf Basis ihrer eigenen Erfahrungen einsortiert und bewertet wurde. So wurden manche Feldfrüchte und Speisen als »dreckig, hässlich, minderwertig und unterentwickelt« (ebd.: 191, Übers. d. A.) betrachtet. Die differentielle Bewertung bestimmter Lebensmittel war gleichzeitig ein effektives Mittel, um soziale

295

296

Aneignung, Ausbeutung und emanzipatorische Praktiken

Unterschiede zu markieren, indem besondere Speisen (z.B. hochwertiges Fleisch) einer bestimmten Klasse vorbehalten wurden. Damit wurde Essen zur Klassenfrage – und ist es bis heute (Hiath 2013). Ein prägnantes Beispiel für die hierarchisierende Bewertung von Essen ist das Maisbier Chicha. Chicha wird traditionell von indigenen Gemeinschaften im Andenraum in einem mehrtägigen Gärungsprozess handwerklich zubereitet. Auch in den urbanen Kontexten Bogotás war es vor allem in den Unterschichtsvierteln (z.B. La Perseverancia) sehr beliebt. Gerade Frauen (las chicheras) beherrschten die Kunst des Brauens und gaben ihr Wissen weiter. Bürgerliche Eliten und Wissenschaftler*innen begannen im 19. Jahrhundert Chicha als ›unhygienisch‹ und ›unzivilisiert‹ zu diffamieren, später wurde Chicha offiziell verboten (Camacho 2014: 192). Hinter dem Verbot der Chicha steht eine Orientierung der lokalen Eliten an industriell verarbeiteten Produkten und einem Konsumstil, der am Bild europäischer urbaner Moderne ausgerichtet ist. Wie das Beispiel Chicha zeigt, ist die Herstellung von Speisen und Getränken von geopolitischen und politökonomischen, aber auch von geschlechtlichen Machtbeziehungen geprägt; gleichzeitig spielt vergeschlechtlichtes Wissen eine wesentliche Rolle für die Zubereitung. Daran anknüpfend stellt sich die Frage, wer die (Care-)Arbeit der Zubereitung von Essen leistet: »In vielen Kontexten wird die tägliche Küche kaum sozial und ökonomisch wertgeschätzt, da sie als feminine Praktik gilt, als mondän und häuslich. Dieses Vorurteil verschärft sich mit einem akzentuierten Klassismus, denn oftmals ist die Köchin oder Hausangestellte von ländlicher Herkunft oder aus einer Unterschicht.« (Ebd.: 196, Übers. d. A.) Hierin zeigt sich wiederum die mit Porto-Gonçalves zu Beginn dieses Textes eingeführte hierarchisierende Bewertung des städtischen und ländlichen Raums. So stellt sich in vielen (postkolonialen) Gesellschaften heraus, dass Gerichte ländlichen Ursprungs lange verschmäht werden, bis sie in manchen Fällen zu beliebten, als ›typisch‹ für eine Region geltenden Speisen werden. Beispielsweise galt der brasilianische Bohnentopf Feijoada als ›Sklavengericht‹, in dem Versklavte Reste in den Bohnen verkochten; heute ist es ein brasilianisches Nationalgericht und wird in noblen Restaurants serviert. Zu fragen ist daher, wer eigentlich definiert, was als ›traditionelles‹ oder ›nationales‹ Essen gilt, was sichtbar gemacht wird, was verkannt verbleibt und wer die Repräsentationsmacht innehat, dies festzulegen.

Birgit Hoinle & Meike Brückner: Kolonialität von Essen und Bewegungen

Die Kolonialität des Essens äußert sich somit in der ungleichen Konfigurierung von global und lokal miteinander verbundenen Ernährungssystemen (siehe das Beispiel Schokolade). Die Analyse der Kolonialität des Essens zielt darauf ab, die dahinterstehenden Machtbeziehungen aufzudecken, die auf Geschlecht, Klasse, ruraler Herkunft und rassifizierten Kategorien basieren. Analog zur Idee des sozialökologischen Metabolismus gilt es, materielle Bedingungen, politökonomische Strukturen und symbolisch-epistemische Deutungsformen zu analysieren, die dem Zusammenspiel von natürlichen und gesellschaftlichen Prozessen zugrunde liegen, die bei der Herstellung von Essen im Kontext postkolonialer Machtverhältnisse einfließen. Kernelemente für die Analyse sind die Form und das Muster der Aneignung von Naturstoffen, Arbeitskraft und Wissen für die Herstellung und Zubereitung von Speisen – Aspekte, die im Besonderen die Feministische PÖ hervorhebt. Daraus abgeleitet stellt sich die zentrale Frage unseres Beitrags: Was würde eine Dekolonialisierung des Essens implizieren? Es würde bedeuten, all jene global und lokal vernetzten Komponenten sichtbar zu machen, die zur Herstellung und Zubereitung von Nahrung erforderlich sind: die Gaben der Natur, die Arbeit entlang der Wertschöpfungskette und das Wissen über die Herstellung und Zubereitung der Zutaten. Es bedeutet eine Wiederaneignung der kulturellen Deutungsmacht und Anerkennung derjenigen, die mit ihren Kenntnissen und ihrem Improvisationsgeist zur Kreation von ›traditionellen‹ Rezepten beitragen. Nicht zuletzt würde eine Dekolonialisierung auf eine Wertschätzung des Wissens, der Care-Arbeit und Naturbeiträge für unsere tägliche Ernährung abzielen – sowohl politökonomisch als auch symbolisch-epistemisch. Doch, was bedeutet eine Dekolonialisierung von Essen in der Praxis? Hierfür bietet das Konzept der Ernährungssouveränität Antworten, das wir im Folgenden vorstellen und anschließend mit empirischen Beispielen verbinden.

Was ist Ernährungssouveränität? Ernährungssouveränität ist ein Konzept, das von sozialen Bewegungen im Globalen Süden entwickelt und in den globalen Diskurs eingebracht wurde. Es geht zurück auf soziale Kämpfe von BIPoC, Kleinbäuer*innen, Indigenen Landlosen und Quilombolas in Brasilien, die für ihr Recht auf Land und eigenständige Nahrungsversorgung eintreten. Ausgehend von den sozialen Bewegungen Brasiliens, insbesondere der Landlosenbewegung MST (Movimento dos Trabalhadores Rurais sem Terra) gründete sich die inzwischen weltweit vernetzte Kleinbäuer*innenorganisation La Vía Campesina (Perrey 2013: 15f.).

297

298

Aneignung, Ausbeutung und emanzipatorische Praktiken

Diese definierte Ernährungssouveränität erstmals auf dem Welternährungsgipfel der UN Food and Agriculture Organisation, FAO (Landwirtschaftsund Ernährungsorganisation der Vereinten Nationen) 1996 in Rom als Recht der Völker und Nationen, ihre Ernährungspolitik selbst zu bestimmen. Es entstand aus der Kritik an der ungleichen Teilhabe und Marginalisierung von Kleinbäuer*innen im Landwirtschaftssektor und hat eine demokratische Mitgestaltung von Ernährungspolitik zum Ziel. Das Verständnis von Ernährungssouveränität hat sich im Kontext der folgenden Vernetzungstreffen weiterentwickelt und dabei noch mehr die lokale Handlungsebene einbezogen. Auf dem weltweiten Vernetzungstreffen Nyéléni Forum 2007 in Mali wurde Ernährungssouveränität folgendermaßen definiert: »Recht der Völker auf gesunde und kulturell angemessene Nahrung, die mit ökologisch vertretbaren und nachhaltigen Methoden produziert wird, und ihr Recht, ihre eigenen Ernährungs- und Landwirtschaftssysteme zu definieren« (Nyéléni 2007, Übers. d. A.). Im Kern verweist das Konzept auf die Wiedererlangung der Entscheidungsmacht über Produktion und Konsum von Lebensmitteln. Dazu gehört die lokale Kontrolle über wesentliche Produktionsmittel (Saatgut, Boden, Wasser) sowie über Vermarktungswege, indem Produzent*innen enger mit Konsument*innen vernetzt und nicht von globalisierten Märkten ausgeschlossen werden. Ernährungssouveränität ist als Antwort auf das Konzept der Ernährungssicherheit zu verstehen, das erstmals von der FAO auf der World Food Conference 1975 eingeführt wurde. Später wurde Ernährungssicherheit in Policy Papers der Weltbank als Zugang aller Menschen zu genügend Essen für ein gesundes und aktives Leben definiert (World Bank 1986). Gemessen wird Ernährungssicherheit anhand des Pro-Kopf-Einkommens, d.h. die individuelle Kaufkraft und deren Anhebung steht im Fokus. Damit lieferte Ernährungssicherheit die legitimatorische Vorlage für weitreichende wirtschaftspolitische Maßnahmen der Handelsliberalisierung sowie Strategien der Marktöffnung und Freihandelsabkommen (Jarosz 2014: 171). Die Politik der Ernährungssicherheit ist zudem mit einer Erhöhung der Produktivität in der Landwirtschaft durch den Einsatz von Hochertragssorten, genmanipuliertem Saatgut, Kunstdünger und Pestiziden verbunden. Der Einsatz von genmanipuliertem Saatgut ist eines der zentralen Divergenzen der beiden Konzepte. So fordern Vertreter*innen von Ernährungssouveränität den Zugang zu sa-

Birgit Hoinle & Meike Brückner: Kolonialität von Essen und Bewegungen

menfestem Saatgut (d.h. Saatgut, das sich nachziehen lässt) und arbeiten mit dem Konzept der Saatgutsouveränität. Damit ist das Recht gemeint, selbst darüber zu entscheiden, welches Saatgut entsprechend kultureller Normen aufbewahrt und kultiviert wird, wer Zugang zu und Rechte über Saatgut hat (Gutiérrez-Escobar 2015: 16). Auch hier steht die Autonomie über die lokale Ausgestaltung von Saatgut- und Ernährungsnetzwerken im Fokus.

3. Kolonialität von Essen und Ernährungssouveränität in der Praxis – Erfahrungen aus Kolumbien und Kenia Wie schlägt sich die Kolonialität des Essens im Globalen Süden nieder? Welche Alltagspraktiken entwickeln Akteur*innen, die sich dem widersetzen und mit ihrem Handeln dekoloniale Perspektiven eröffnen? Anhand der Analyseelemente Care-Arbeit und vergeschlechtlichtes Wissen möchten wir im Folgenden an Beispielen unserer Feldforschung skizzieren, was Ernährungssouveränität in der Praxis bedeutet und wie sich diese mit einer Dekolonialisierung von Essen verbindet. Dabei schreiten wir entlang der Verarbeitungsprozesse vom Garten zum Kochtopf – von der Aussaat bis zur Essenszubereitung – und untersuchen unterschiedliche Handlungsebenen.

Austausch von Saatgut und zugehörigem Wissen als dekoloniale Praxis in Kolumbien Kolumbien zählt weltweit zu den Ländern mit der höchsten Biodiversität. Dies äußert sich unter anderem in einer hohen Sortenvielfalt von Wurzelgemüse und Hülsen- und Ackerfrüchten (s. Abb. 1) sowie andinen und tropischen Obstsorten. Gleichzeitig sind die Städte Kolumbiens aufgrund der Geschichte von Bürgerkrieg und Vertreibungen von u.a. indigenen und afrokolumbianischen Gruppen aus den ländlichen Räumen durch eine hohe ethnische Vielfalt gekennzeichnet. Mit den Menschen sind zudem ihr Saatgut, ihre Praktiken und ihr Wissensschatz aus den ländlichen Räumen mit in die Städte gereist. Saatgut kann als Kristallisationspunkt gesellschaftlicher Naturverhältnisse betrachtet werden. Nur durch die Eigenkraft der Natur und menschliche Zuarbeit kann aus kleinen Saatkörnern eine neue Pflanze an einem spezifischen Ort erwachsen. Es handelt sich somit um eine Ko-Kreation von Mensch und Natur. Dabei verwischen die Grenzen der Produktion und Reproduktion: Die Nachzucht von Saatgut erfordert eine sorgende Arbeit der Pflege und Auf-

299

300

Aneignung, Ausbeutung und emanzipatorische Praktiken

bewahrung, damit daraus etwas Produktives im benötigten Umfang wachsen kann. Für die Saatgutnachzucht ist Erfahrungswissen über die Eigenschaften bestimmter Sorten und ihre Anforderungen an die Verwahrung und Wiederaussaat erforderlich. In vielen kleinbäuerlichen Kontexten weltweit wird dieses ›alte Wissen‹ von einer Generation an die nächste weitergegeben, oftmals sind Frauen mit dieser Aufgabe betraut. Saatgut ist jedoch auch ein prägnantes Beispiel für die Kolonialität von Natur und von Wissen (Lander 2000). In (post-)kolonialen Kontexten wurde dieses kleinbäuerliche Erfahrungswissen machtvoll angeeignet und in Biotechnologie-Zentren verarbeitet. Die dabei entstehenden Hochzüchtungen und genmanipulierten Sorten werden patentiert und von transnationalen Konzernen auf den Markt gebracht. Saatgut wurde dabei zum messbaren Objekt von Expert*innenwissen. Das dahinterstehende lokale Wissen wird damit unsichtbar gemacht. Entscheidend ist aus kolonialismuskritischer Sicht der Ort, von wo aus dieses Wissen verlautbart und verbreitet wird – ob aus Thinktanks oder vom kleinbäuerlichen Acker. In politökonomischer Hinsicht wird Saatgut durch die Patentierung und Einbindung in kommerzielle Handelsnetzwerke zur Ware – ein prägnantes Beispiel für die Vermachtung von Natur. Die Dynamiken der kolonialen Aneignung und Kommerzialisierung von Saatgut bezeichnet Laura Gutiérrez als »Seed-Grabbing« (2015: 12). In Kolumbien wird genmanipuliertes Saatgut vor allem im Monokulturanbau von Mais, Reis und Baumwolle eingesetzt (Vélez 2014a). Die Dynamiken des Seed-Grabbing und sozialer Kämpfe um Saatgutsouveränität zeigen sich in Kolumbien auf besonders eindrückliche Weise. Im Kontext der Freihandelsabkommen, die Kolumbien 2012 mit den USA und 2013 mit der Europäischen Union abgeschlossen hat, wurden weitreichende gesetzliche Regulierungen verankert, die zu Restriktionen und einer Kriminalisierung der kleinbäuerlichen Praktiken der Nachzucht und des Saatguttauschs führten. Im Jahr 2012 ist Kolumbien dem internationalen Sortenschutzabkommen UPOV (International Union for the Protection of New Varieties of Plants) beigetreten. Damit darf nur noch zertifiziertes Saatgut in Umlauf gebracht werden, das den Kriterien der Homogenität, Stabilität und Unterscheidbarkeit entspricht (Vélez 2014b: 155ff). Mit der aktualisierten Verordnung 3168 aus dem Jahr 2015 wurden die Sanktionen zusätzlich verschärft (Red de Semillas Libres Colombia 2015). Aufgrund dieser Maßnahmen kam es zu massiven Protesten und Straßensperrungen im ganzen Land – dem sogenannten Paro Agrario. Da die Regierung den Forderungen der kleinbäuerlichen und indigenen Verbände nicht nachkommt, werden diese Proteste jedes Jahr im Mai wiederholt.

Birgit Hoinle & Meike Brückner: Kolonialität von Essen und Bewegungen

Abb. 1: Sortenvielfalt von Mais

Foto: B. Hoinle

Die Saatgutnetzwerke in Kolumbien setzen sich auf verschiedenen Handlungsebenen für Saatgutsouveränität, d.h. für einen freien Zugang zu einheimischem, samenfestem Saatgut, ein. Auf nationaler Ebene engagiert sich das Netzwerk Red Semillas Libres de Colombia (Netzwerk für freies Saatgut in Kolumbien) für Gesetzesänderungen. Bereits acht indigene Gebiete haben sich als ›territorios libres de transgénicos‹ (frei von genmanipuliertem Saatgut) deklariert. Auf lokaler Handlungsebene engagieren sich insbesondere die guardianes de semillas (Saatguthüter*innen) für den Erhalt der Sortenvielfalt. Auch in der Hauptstadt Bogotá sind viele Saatguthüter*innen aktiv, ein Großteil von ihnen sind Frauen. Auf lokalen Märkten, wie etwa dem Carnaval de Maíz, und in Workshops in Stadtgärten geben sie ihr Wissen zur Saatgutnachzucht und -verarbeitung weiter (vgl. Hoinle 2020: 211f). Das Beispiel einer Stadtgärtnerin im Stadtbezirk Engativá zeigt, wie sie dieses Wissen vom Land, einer kleinbäuerlichen Gemeinde im Cauca, mit in die Stadt gebracht hat: »Meine Eltern sind Kleinbauern, ich bin dort mit dieser Bildung aufgewachsen. […] Von jeder Ernte wurde Saatgut beiseite genommen, um es wieder

301

302

Aneignung, Ausbeutung und emanzipatorische Praktiken

auszusäen. Wir haben uns nie daran gewöhnt, die technologischen Pakete zu kaufen; es musste immer Saatgut im Haus geben, um es wieder auszusäen.« (Interview im Jahr 2014, Übers. d. A.) Im urbanen Kontext wurde dieses kleinbäuerliche Wissen zunächst verschmäht und sie wurde auch von ihrer eigenen Familie dazu angehalten, Essen zu kaufen, statt anzupflanzen. Für die Stadtgärtnerin waren längere Aushandlungsprozesse auf häuslicher Handlungsebene erforderlich, um auf dem Flachdach ihres Hauses Gemüse, Quinoa, Habas und Küchenkräuter auszusäen. Dabei hat sie im Laufe der Zeit ein Reservoir aus verschiedenem Mais- und Bohnensaatgut aufgebaut. In diesen sorgenden Arbeiten zu Saatguterhalt und -vermehrung vermischt sich die produktive und reproduktive Dimension von Saatgut. Inzwischen ist die Stadtgärtnerin als guardian de semillas sehr bekannt und wird regelmäßig zu Workshops und Veranstaltungen, auch an Universitäten, eingeladen. Gerade bei Studierenden und jüngeren Menschen wächst das Interesse am Thema Stadtgärtnern und der einheimischen Sortenvielfalt. Dabei ließ sich in der Feldforschung beobachten, dass es in Stadtgärten zu einem »diálogo de saberes« (Castro-Gómez/Grosfoguel 2007) – einem Dialog von akademischem, agrartechnischem Wissen und kleinbäuerlichem Erfahrungswissen kommt. Mit dem Saatgut wird gleichzeitig das Wissen getauscht und weiter in Umlauf gebracht; somit wird es entgegen dem Trend der Kommerzialisierung als Common – als gemeinsam geteiltes Kulturgut weitergegeben, was wiederum zur Saatgutsouveränität beiträgt. Die dekoloniale Dimension äußert sich in diesen Kontexten darin, dass kleinbäuerliches Wissen in der Stadt neue Sichtbarkeit und Anerkennung erfährt. Gerade für Frauen aus ruralen Regionen ergibt sich eine Empowerment-Perspektive, wenn sie im öffentlichen Raum auftreten und ihr Wissen präsentieren. Damit erschließen sie sich neue Handlungsräume (Hoinle 2020). Der Austausch von Saatgut und dem zugehörigen Wissen trägt somit zum Erhalt der Sortenvielfalt und Agrobiodiversität bei, aber auch zur epistemischen Diversität und Perspektivenvielfalt – entgegen einer Kolonialität von Wissen. Nichtsdestotrotz ist dieses Wissen und auch das Saatgut nach wie vor umkämpft. Im Hinblick auf eine Dekolonialisierung von Essen zeigt sich im Saatgut insbesondere die Bedeutung von kleinbäuerlichem Erfahrungswissen und der produktiv-sorgenden Arbeit zum Saatguterhalt, wodurch dominante Dichotomien der Moderne (Kultur vs. Natur; Produktion vs. Reproduktion) in Frage gestellt werden.

Birgit Hoinle & Meike Brückner: Kolonialität von Essen und Bewegungen

Kochen für den Erhalt der Sortenvielfalt in Kenia: Wissensvermittlung und Care als dekoloniale Praxis Während indigene Blattgemüsesorten (s. Abb. 2) wie Spider Plant, African Nightshade oder Cowpeas vor der Kolonialisierung Kenias eine große Rolle in den täglichen Anbau- und Ernährungspraktiken spielten, veränderte die Kolonialzeit deren Image und Stellung: Sie wurden als rückständiges ›Arme-LeuteEssen‹, als rurale Kost angesehen. Das Gemüse, welches an lokale Anbau- und Umweltbedingungen bestens angepasst ist und sich durch hohe Nährwerte auszeichnet (Musotsi u.a. 2019), wurde schrittweise verkannt und abgewertet. Ebenso trat es in Konkurrenz mit ›exotischen‹, d.h. neu eingeführten und zum Export bestimmten Sorten (Maundu u.a. 1999). Obwohl die Sachlage komplex ist, kann davon ausgegangen werden, dass die Kolonialisierung zu einer Verdrängung von (Agro-)Biodiversität und indigenen Sorten geführt hat (Raschke/Cheema 2008; Brückner/Çağlar 2022) und Ernährungssouveränität unterbunden wurde.

Abb. 2: Indigenes Blattgemüse

Foto: M. Brückner

Die veränderte Bedeutung des Blattgemüses erwuchs jedoch auch daraus, dass vermehrt Rohstoffe für den Export und mit Ertragsdruck produziert wurden, allen voran Tee, Kaffee oder Tabak. Zudem änderten sich die Eigentums- und Bodenverhältnisse: Land, welches vor der Kolonialisierung oft kollektiv verwaltet und bewirtschaftet wurde, ging in Privatbesitz über

303

304

Aneignung, Ausbeutung und emanzipatorische Praktiken

(Whitehead/Tsikata 2003). Durch diese Umbrüche der Privatisierung und Marktöffnung wandelte sich nicht nur das Mensch-Natur- sondern auch das Geschlechterverhältnis. Während Männer zunehmend für die marktbezogene Arbeit auf den Plantagen der Kolonialisten angestellt wurden, gingen Frauen der Subsistenzlandwirtschaft für den Haushaltsbedarf nach (ebd.). Auch nach der Unabhängigkeit 1963 setzten sich durch die Beibehaltung von Großfarmen Abhängigkeitsverhältnisse fort, wurden jedoch auch durch zivilgesellschaftliche Proteste kritisiert und bekämpft. In den 1980ern organisierten sich Frauen und entwurzelten Kaffeepflanzen, zuerst in der Maragua-Region und später im ganzen Land, die sie als Feuerholz nutzten; ungeachtet der hohen Gefängnisstrafe, die für die Beschädigung von Kaffeepflanzen drohte. Obwohl Mischkulturen auf den Plantagen verboten waren, widersetzten sich Frauen und pflanzten zwischen den Kaffeebüschen Bohnen, um diese für den Eigenbedarf zu nutzen und um die Bodenqualität zu verbessern, die stark unter dem Einsatz von chemischen Mitteln litt (Brownhill/Kaara/Turner 1997). Diese Formen des Protests in den Küchen und auf den Feldern können als ›gelebte Erfahrung‹ (lived experience) von Ernährungssouveränität (Ngcoya/ Kumarakulasingam 2017) und als Protest gegen die koloniale Aneignung von Boden und natürlichen Ressourcen gelesen werden. Nach diesem Blick auf die Veränderungen durch die Kolonialisierung muss gefragt werden: Wie steht es heute um das Blattgemüse? Und wie gestaltet sich Widerstand? Auch gegenwärtig findet das traditionelle Gemüse nicht hinreichend Berücksichtigung in lokaler Agrar- und Ernährungspolitik. Im zentralen Instrument der kenianischen Ernährungspolitik, der ›National Food and Nutrition Security Policy‹ (FNSP) und dessen Implementierung in den Jahren 2017–2022 werden traditionelle Sorten zwar adressiert, da die Nutzung von »traditional high value food crops« bis 2022 um zehn Prozent gesteigert werden soll. Hinweise, wie dies konkret umgesetzt werden soll, sind jedoch kaum zu finden – es wird nur auf die Nutzung in Gemüsemehlen (»blending of flours«) für eine ausgewogene Ernährung verwiesen (Republic of Kenya 2017). Im Crops Act von 2013 werden Sorten wie Cowpeas, Amaranth, Black Nightshade und Spiderplant (Section 7) gelistet. Übergreifend verfolgt dieses Instrument jedoch das Ziel des nationalen Wirtschaftswachstums und der Internationalisierung von Wertschöpfungsketten: Erzeuger*innen sollen mehr Einkommen erzielen und der Ernteertrag in den internationalen Handel fließen (CROPS ACT 2013, C45A-5). Zugleich wird dem Blattgemüse in der Forschung und Entwicklungszusammenarbeit großes Potenzial zugesprochen. So wurde es in der Zeitschrift Nature zum Beispiel als ›the next superfood‹ (Cernansky

Birgit Hoinle & Meike Brückner: Kolonialität von Essen und Bewegungen

2015) betitelt. Internationale NGOs und Forschungsprojekte promoten das Blattgemüse seit vielen Jahren. In ihren Strategien findet sich neben Ansätzen der Stärkung lokal verankerter und gemeinwohlorientierter Strukturen auch das Ziel, die Attraktivität für den internationalen Markt zu erhöhen sowie den Verkauf in Supermärkten in Kenia voranzutreiben. Eine Wachstumsund Exportorientierung durch machtvolle Akteure, die schon während der Kolonialisierung beobachtet werden konnte, setzt sich also weitgehend fort. Diese Orientierung steht den während der Feldforschung dokumentierten Alltagspraktiken geradezu konträr gegenüber. Die empirische Arbeit hat gezeigt, dass aus dieser problematischen Beziehung vielfältige Widerstandspraktiken erwachsen, die soziale und ökologische Prozesse verbinden und sich vom Haushalt bis zur Gemeinschaft erstrecken. So kristallisierten sich individuelle, haushaltsbezogene sowie kollektive, gemeinschaftsbezogene Praktiken des Wissenteilens und Sorgetragens heraus, die im Folgenden exemplarisch dargestellt werden sollen. Auf der individuellen Handlungsebene ermöglichten die Gespräche und das Kochen in den Haushalten ein Hinterfragen von gängig genutzten Nahrungsmitteln. So war eine Konsumverweigerung und Ablehnung gegenüber den exotischen und während der Kolonialisierung eingeführten Kohlsorten zu beobachten. Diese Kohlsorten sind mittlerweile jedoch Teil der Mahlzeitenkultur (Teherani-Krönner 2017). Das indigene Blattgemüse haben sie durch ihre schnellere Zubereitung und das Image des ›modernen-urbanen Essens‹ teilweise verdrängt. Die Interviewpartner*innen begründeten den Konsum des indigenen Blattgemüses dennoch damit, dass dieses schmackhafter wäre und sie so zum Erhalt traditioneller Mahlzeitenkulturen und Rezepturen beitragen. Häufig fand eine Nebeneinanderstellung beider Gemüse statt, wobei vehement auf die positiven Eigenschaften des indigenen Gemüses, wie Nährstoffreichtum, der Spaß an der Zubereitung oder die ökologischen Vorteile, verwiesen wurde. Auf individueller sowie kollektiver Ebene wurde Widerstand gegen neue Vermarktungskanäle und die Verlagerung hin zu einem kommerziellen Vertrieb geleistet: Seit geraumer Zeit wird das Blattgemüse in Supermärkten verkauft, dort jedoch im Vergleich zu den lokalen Märkten zu einem höheren Preis angeboten. Viele der Befragten vertrauten der Qualität des Supermarkt-Gemüses nicht. Die Analyse zeigte, dass dies vor allem an der Undurchsichtigkeit der Produktion und Distribution liegt, die beim Kauf auf lokalen Märkten durch Gespräche mit den Händler*innen transparenter ist. Die lokalen Märkte sind Dreh- und Angelpunkt der rural-urbanen Vernetzung und können des-

305

306

Aneignung, Ausbeutung und emanzipatorische Praktiken

halb als Orte gesehen werden, wo individueller und kollektiver Widerstand zusammenlaufen. Interessanterweise ist hier eine transregionale und ethnische Solidarität zu beobachten: Oft kaufen die Frauen Blattgemüse, welches in ihrer ruralen Heimatregion angebaut wurde oder von Händler*innen, die der gleichen Ethnie angehören wie sie selbst. Hier lässt sich auch ein Bezug zur CareArbeit ziehen, denn die Beziehung zu den Händler*innen kann für die Frauen eine zeitliche Entlastung bei der Zubereitung bedeuten: Einige berichteten, dass sie die Händler*innen im Vorfeld kontaktieren, um das Blattgemüse zu reservieren und den Service des Entstielens und Schneidens in Anspruch zu nehmen. Während einige dies als Arbeitserleichterung ansahen, lehnten andere die Übertragung dieser Arbeitsschritte ab, da sie den hygienischen Bedingungen skeptisch gegenüberstanden oder es als ihre Pflicht ansahen, alle Zubereitungsschritte selbst zu verrichten. Der Kontakt zu den Händler*innen sichert oft auch die tägliche Ernährung, denn sie können selbstbestimmte Mengen kaufen, den Preis verhandeln oder anschreiben lassen. Diese kollektive Solidarität und Verbundenheit ermöglicht es, Regeln und Mechanismen des Marktes wie direktes Bezahlen, feste Preise oder vorgegebene Mengen auszuhebeln – eine Möglichkeit, welche der Kauf im Supermarkt nicht bietet. Dies verdeutlicht, dass ökonomisch schlechter gestellte Haushalte womöglich vom Kauf im Supermarkt ausgeschlossen werden und dass der persönliche Bezug zu Händler*innen Ernährungssouveränität stützt, indem dieser eine selbstbestimmte Ernährung sowie den Zugang zu Lebensmitteln sichert, deren Qualität die Konsument*innen vertrauen. Darüber hinaus erwies sich die Küche auf der Haushaltsebene und gemeinschaftsbasierten Handlungsebene in der Wissensvermittlung rund um Eigenschaften, Anbau und Zubereitung des Blattgemüses von entscheidender Bedeutung. Frauen betonten stets die Relevanz, Kompetenzen der Zubereitung weiterzugeben, um Möglichkeiten der Annäherung und schlussendlich auch Akzeptanz für das indigene Blattgemüse zu schaffen. Diese Wissensvermittlung fand in der Familie, aber auch darüber hinaus statt. Frauen organisierten gemeinsame Koch-Sessions mit anderen Frauen aus Erzeuger*innenkollektiven oder der Kirchengemeinschaft. Diese Sessions dienten dazu, gemeinsam zu experimentieren, Wissen zu erweitern und zu verbreiten. Neben dem Wissen um die Zubereitung standen dabei auch Kenntnisse rund um die Pflanze und deren Aussaat, Ernte und Saisonalität im Vordergrund. Die Küche muss in diesem Zusammenhang als zentraler Ort sozio-ökologischer Wissensdistribution gesehen werden, an dem Wissen

Birgit Hoinle & Meike Brückner: Kolonialität von Essen und Bewegungen

über Biodiversität theoretisch und praktisch vermittelt wird (Brückner 2020b, Brückner/Çağlar 2022). Vereinzelt nahmen auch Männer an diesen Aktivitäten teil, wodurch langsam und in einzelnen Haushalten die starre Vergeschlechtlichung des Kochens aufgeweicht wird und ein gesellschaftspolitischer Diskurs rund um Care und Geschlecht angestoßen werden kann. Die Veranstaltung solcher Koch-Sessions ist zentral für den Austausch von Erfahrungswissen und als Impulsund Inspirationsgeber für Personen, die das Blattgemüse bisher nicht oder kaum essen. Sie verdeutlichen, wie sozial-ökologisches Wissen in Küchen bei der Essenszubereitung zusammenläuft und dadurch dekolonialer Widerstand geleistet werden kann. Dies unterstreicht auch die Beobachtung, dass einige Frauen das Kochen nutzen, um Geschlechterordnungen und -normen aufzubrechen und zu verändern. Die Interviews zeigen, dass die Sorgearbeit des Kochens zutiefst vergeschlechtlicht ist. Im Großteil der Haushalte waren ausschließlich Frauen für die Zubereitung des Blattgemüses zuständig. Einige der Mütter betonten jedoch, dass sie auch ihren Söhnen Wissen vermitteln, da sie die Essenszubereitung und vor allem die des indigenen Blattgemüses als eine ›Fähigkeit fürs Leben‹ betrachten. Dieses Bestreben ist verbunden mit der Tatsache, dass viele Frauen die freudvolle, kreative und zufriedenstellende Seite des Kochens hervorhoben und es als eine Aktivität der Selbstwirksamkeit ansahen. Damit widersetzen sie sich starren und gesellschaftlich normierten Weiblichkeits- und Männlichkeitsbildern, die unter anderem durch die Kolonialisierung verschärft wurden.

4. Fazit und Ausblick: Kolonialität von Essen und Perspektiven einer Dekolonisierung Die skizzierten Beispiele aus Kenia und Kolumbien veranschaulichen Praxen der Dekolonialisierung und Ernährungssouveränität: Während Wissen rund um das Saatgut und Blattgemüse durch die Kolonialisierung unsichtbar und entwertet wurde, sehen die interviewten Frauen die Weitergabe und Erhaltung dessen als eine wichtige gesellschaftliche und ökologische Aufgabe an. Somit wird einst verkanntes Wissen rund um Agrobiodiversität und ökologische Zusammenhänge wieder sichtbar, anerkannt und verschiedenen Akteuren zugänglich. Wie am Beispiel der Saatgutnetzwerke in Kolumbien gezeigt wurde, trägt gerade der Austausch von einheimischem Saatgut als Commons und dem damit verbundenen Wissen zu einer De-Kommerzialisierung

307

308

Aneignung, Ausbeutung und emanzipatorische Praktiken

und De-Kolonialisierung von Saatgut bei. Zudem vermitteln die Akteurinnen ihr Wissen geschlechterübergreifend und widersetzen sich somit zugeschriebenen Normen und Mustern der Arbeitsteilung. Damit werden Grenzen einer vergeschlechtlichten Ordnung des Produktiven und Reproduktiven überschritten. Für die Überlegungen hinsichtlich einer Dekolonialisierung von Essen halten wir fest, dass das Unterstützen von lokalen Netzwerken des Anbaus und die Verbundenheit zu bestimmten Händler*innen lokale Ökonomien stärkt und gerade einkommensschwächeren Haushalten Flexibilität in der Versorgung gibt. Dies wurde besonders im Fall von Kenia deutlich. Solidarische Beziehungen zwischen Verkäufer*innen und Produzent*innen und das dadurch mögliche Nachvollziehen von Herkunft und Erzeugung von Saatgut und Nutzpflanzen sind Ansatzpunkte für eine Dekolonialisierung von Ernährungssystemen. Dadurch, dass Produzent*innen und Konsument*innen auf Märkten und über Solidarbeziehungen wieder enger verbunden sind, wird Ernährungssouveränität im Alltag gestärkt. Diese wird jedoch durch Maßnahmen auf nationaler und transnationaler Ebene (wie den Freihandelsabkommen), die die Vermarktung von Saatgut durch global agierende Konzerne befördern, stark unterbunden. So verdeutlicht auch das Beispiel Kenia, dass die Produktion und Kommerzialisierung von indigenen Sorten und damit verbundener Verlust der Agrobiodiversität symptomatisch ist für ein krankendes Ernährungssystem, welches auf Wachstum, Produktivität und Profitsteigerung ausgelegt ist. Damit ist die Kolonialität von Essen eng mit der Ausbreitung kapitalistischer Produktions- und Konsumstrukturen und einer Inwertsetzung von Natur als Ware bzw. Exportgut für den Weltmarkt verbunden. Die Kolonialität von Essen schlägt sich auch in der Gegenwart im ungleichen Zugang zu Lebensmitteln und Entscheidungsmacht über Ernährungssysteme und -politik nieder. Darin kommen historisch gewachsene Muster der Ausgrenzung zum Tragen, die sich in einer nach wie vor ungleichen Arbeitsteilung entlang der Kategorien race und gender äußert: Auf globaler Ebene durch eine Arbeitsteilung, die weiterhin dem Globalen Süden die Rolle des Rohstofflieferanten zuweist – auf Haushaltsebene, indem Frauen die reproduktive, unsichtbare Rolle der Essensfürsorge zugeschrieben wird. Wie in diesem Beitrag herausgearbeitet, sind die Wertschätzung der hinter dem Essen stehenden Care-Arbeit, der Gaben der Natur und das damit verbundene Wissen zentraler Ansatzpunkt für eine Dekolonialisierung von Essen. Die eingenommene Geschlechterperspektive und der Blick auf die Handlungsebene des Haushalts hat anstelle einer Marktwertorientierung folgende

Birgit Hoinle & Meike Brückner: Kolonialität von Essen und Bewegungen

Aspekte offenbart: Der Fokus ist hier bedürfnisgeleitet, gebrauchswertorientiert und liegt auf Sorge, Souveränität, Wohlbefinden und Miteinander. Dies unterstreicht die längst überfällige Anerkennung von Care-Arbeit und deren individuelle und kollektive Widerstandspraxen, die zur Ernährungssouveränität beitragen. Eine Dekolonialisierung bedeutet damit auch, diesen widerständigen Alltagspraxen und dem damit verknüpften Wissen Sichtbarkeit und Anerkennung zu geben.

Literatur AG KGGU – Arbeitsgruppe Kritische Geographien Globaler Ungleichheiten (2019): »Editorial«, in: Feministisches Geo-Rundmail, N°80 (Themenheft Dekoloniale Geographien), S. 2–5. Alimonda, Hector (2011): La naturaleza colonializada. Ecología política y minería en América Latina, Buenos Aires: CLACSO. Bauhardt, Christine (2011): »Gesellschaftliche Naturverhältnisse von der Materialität aus denken: feministische Ökonomik, Queer Ecologies und das Konzept Ressourcenpolitik«, in: GENDER – Zeitschrift für Geschlecht, Kultur und Gesellschaft 3(3), S. 89–103. Bauhardt, Christine; Harcourt, Wendy (Hg.) (2019): Feminist Political Ecology and the Economics of Care: In Search of Economic Alternatives, New York: Routledge. Bauriedl, Sybille; Hoinle, Birgit (2021): »Feministische Naturverhältnisse. Machtvolle Verbindungen von Natur und Geschlecht«, in: Autor*innenkollektiv Geographie & Geschlecht (Hg.): Handbuch Feministische Geographien. Arbeitsweisen und Konzepte, Leverkusen: Barbara Budrich, S. 146–166. Brownhill, Leigh; Kaara, Wahu M.; Turner, Terisa E. (1997): »Gender Relations and Sustainable Agriculture: Rural Women’s Resistance to Structural Adjustment in Kenya«, in: Canadian Women Studies 17(2), S. 41–44. Brückner, Meike (2020a): »Learning Degrowth from Women’s Food Knowledge and Care in Kenya«, in: Anitra Nelson/Ferne Edwards (Hg.): Food for Degrowth: Perspectives and Practices, London: Routledge, S. 45–58. Brückner, Meike (2020b): Biodiversity in the Kitchen. Cooking and Caring for African Indigenous Vegetables in Kenya: A Feminist Approach to Food Sovereignty, München: oekom Verlag. Brückner, Meike; Çağlar, Gülay (2022): »Feministische Politische Ökologie von Agrobiodiversität und Ernährung: Indigenes Blattgemüse in Kenia«, in: Berliner Blätter 86, S. 53−69.

309

310

Aneignung, Ausbeutung und emanzipatorische Praktiken

Camacho, Juana (2014): »Una cocina exprés. Cómo se cocina una política pública de patrimonio culinario«, in: Margarita Chaves, Mauricio Montenegro, Marta Zambrano (Hg.): Mercado, consumo y patrimonialización. Agentes sociales y expansión de las industrias culturales, Bogotá: Icanh, S. 169–200. Castro-Gómez, Santiago; Grosfoguel, Ramón (2007): El giro decolonial: Reflexiones para una diversidad epistémica más allá del capitalismo global, Bogotá: Siglo del Hombre Editores. Cernansky, Rachel (2015): »The Rise of Africa’s Super Vegetables«, in: Nature News 522, S. 146–8. CROPS ACT NO. 16 of 2013, Revised Edition 2015 (2014): https://www.comf und.co.ke/wp-content/uploads/2018/03/Crops-Act-No.-16-of-2013.pdf, zuletzt geprüft am 08.04.2021. Elmhirst, Rebecca (2015): »Feminist Political Ecology«, in: Tom Perreault, Gavin Bridge, James McCarthy (Hg.): The Routledge Handbook of Political Ecology, London: Routledge, S. 519–530. Fals Borda, Orlando (2000): Acción y espacio. Autonomías en la nueva Républica, Bogotá: Tercer Mundo. Flórez Flórez, Juliana; Ramón, Mónica; Gómez, Angélica (2018): »Trayectorias subjetivas laborales y economía comunitaria en la Escuela de Mujeres de Madrid«, in: Nómadas 48, S. 83–99. Fountain, Antonie; Huetz-Adams, Friedel (2020): Cocoa Barometer 2020, https: //www.voicenetwork.eu/wp-content/uploads/2020/12/2020-Cocoa-Baro meter.pdf, zuletzt geprüft am 10.03.2021. Gutiérrez Escobar, Laura (2015): »Soberanía alimentaria. La red de semillas libres de Colombia«, in: [con]textos 4(13), S. 11–24. Hiath, Marcos (2013): »A colonialidade do que se come: Sobre produçăo de carne e crise ambiental«, in: Ensaios De Geografia 1(2), S. 59–72, https:// periodicos.uff.br/ensaios_posgeo/article/view/36243, zuletzt geprüft am 18.06.2021. Hoinle, Birgit (2020): Räume für Empowerment. Urbane und solidarische Landwirtschaft in Kolumbien, München: Oekom. Jarosz, Lucy (2011): »Nourishing Women: Toward a Feminist Political Ecology of Community Supported Agriculture in the United States«, in: Gender, Place & Culture 18(3), S. 307–326. Jarosz, Lucy (2014): »Comparing Food Security and Food Sovereignty Discourses«, in: Dialogues in Human Geography 4(2), S. 168–181. Lander, Edgar (2000): La colonialidad del saber. Eurocentrismo y ciencas sociales, Clacso: Buenos Aires.

Birgit Hoinle & Meike Brückner: Kolonialität von Essen und Bewegungen

Leff, Enrique (2003): »La Ecología Politica en América Latina. Un campo en construcción«, in: Sociedade e Estado 18(1/2), S. 17–40. Llanque, Aymara; Dorrego, Ana; Costanzo, Giulia; Bishelly, Elías; CatacoraVargas, Georgina (2018): »Mujeres, trabajo de cuidado y agroecología: hacia la sustentabilidad de la vida a partir de experiencias en diferentes ecoregiones de Bolivia«, in: Gloria Patricia Zuluaga Sánchez, Georgina Catacora-Vargas, Emma Siliprandi (Hg.): Agroecología en Femenino. Reflexiones a partir de nuestras experiencias, La Paz: SOCLA/CLACSO, S. 123–140. Maundu, Patrick; Njiro, Esther; Chweya, James; Imungi, Jasper; Seme, Elizaphan (1999): »Chapter 4, Kenya«, in: James Chweya, Pablo Eyzaguirre (Hg.): The Biodiversity of Traditional Leafy Vegetables, Rome: International Plant Genetic Resources Institute (IPGRI), S. 51–84. Musotsi, Aswani Anne (2019): »Quantitative Changes of Ascorbic acid and Beta Carotene in African Nightshade (Solanum nigrum) and Spider plant (Cleome gynandra) due to Traditional Cooking Methods used in Western Kenya«, in: Journal of Food and Nutritional Sciences Research 1(1), S. 51–63. Ngcoya, Mvuselelo/Kumarakulasingam, Narendran (2017): »The Lived Experience of Food Sovereignty: Gender, Indigenous Crops and Small-scale Farming in Mtubatuba, South Africa«, in: Journal of Agrarian Change 17(3), S. 480–496. Nogales, Helena (2017): »Colonialidad de la mujer y de la naturaleza frente a un planeta que se agota«, in: Ecología Política 54: S. 8–13. Nouzeilles, Gabriela (2002): La naturaleza en disputa. Rétoricas del cuerpo y el paisaje en América latina, Buenos Aires/Barcelona: Paidós. Nyéléni (2007): Declaration of the Forum for Food Sovereignty, https://nyeleni.org/ spip.php?article290, zuletzt geprüft am 27.04.2021. Ojeda, Diana (2011): »Género, naturaleza y política: Los estudios sobre género y medio ambiente«, in: HALAC 1(1), S. 55–73. Perrey, Shoshana Devra (2013): Food Regimes, Race and The Coloniality of Power: Linking Histories in the Food Sovereignty Movement. Conference Paper, https ://www.tni.org/files/download/52_perrey_2013_0.pdf, zuletzt geprüft am 27.04.2021. Porto-Gonçalves, Carlos Walter (2009): Para outras conexões rural-urbanas e a reapropriação da natureza, https://www.eliomar.com.br/site/arquivostexto /conexoes_rural_urbana.pdf, zuletzt geprüft am 29.04.2021. Quijano, Aníbal (2000): »Colonialidad del poder, eurocentrismo y América Latina«, in: Edgardo Lander (Hg.): La colonialidad del saber: eurocentris-

311

312

Aneignung, Ausbeutung und emanzipatorische Praktiken

mo y ciencias sociales. Perspectivas latinoamericanas, Buenos Aires: CLACSO, S. 122–152. Quiroga Díaz, Natalia; Gágo, Verónica (2014): »Los comunes en lo Feminino. Cuerpo y poder ante la expropiación de las economías para la vida«, in: Economía y Sociedad 19(45), S. 1–18. Raschke, Verena; Cheema, Bobby (2008) »Colonisation, the New World Order, and the Eradication of Traditional Food Habits in East Africa: Historical Perspective on the Nutrition Transition«, in: Public Health Nutrition 11(7), S. 662–674. Red de Semillas Libres Colombia (2015): La resolución 3168 del ICA de 2015 sobre semillas reemplaza la resolución 970, https://www.semillas.org.co/es/la-resol uci, zuletzt geprüft am 20.04.2021. Reina Rozo, Juan David (2015): »Metabolismo socioecológico como herramienta para la historia ambiental urbana«, in: Stefania Gallini (Hg.): Semillas de historia ambiental, Bogotá: Universidad Nacional de Colombia/Jardín Botánico José Celestino Mutis, S. 357–390. Republic of Kenya (2017): National Food and Nutrition Security Policy Implementation Framework 2017–2022. Schurr, Carolin/Segebart, Dörte (2012): »Engaging with Feminist Postcolonial Concerns through Participatory Action Research and Intersectionality«, in: Geographica Helvetica 67, S. 147–154. Teherani-Krönner, Parto (2017): »Meal Cultures – A New Concept in Food Security Debates on African Leafy Vegetables in Kenya and East Africa«, in: Open Access Journal of Agricultural Research 2(5), S. 1–25. Ujuaje, Mama D./Chang, Marina (2020): »Systems of Food and Systems of Violence: An Intervention for the Special Issue on ›Community Self Organisation, Sustainability and Resilience in Food Systems‹«, in: Sustainability 12, https://www.doi.org.10.3390/su12177092. Ulloa, Astrid (2016): »Feminismos territoriales en América Latina: defensa a la vida frente a los extractivismos«, in: Nómadas 45, S. 123–139. Vélez, Germán (2014a): »Colombia: una evaluación de los cultivos genéticamente modificados en Colombia«, in: Catalina Toro Pérez, Elizabeth Bravo, Germán Vélez (Hg.): La Ecología Política de la Bioseguridad en América Latina, Bogotá: Editorial Universidad Nacional de Colombia, S. 141–152. Vélez, Germán (2014b). »Las leyes de semillas en Colombia contra la soberanía y autonomía alimentaria de las comunidades rurales«, in: Catalina Toro Pérez, Elizabeth Bravo, Germán Vélez (Hg.): La Ecología Política de la Bioseguri-

Birgit Hoinle & Meike Brückner: Kolonialität von Essen und Bewegungen

dad en América Latina, Bogotá: Editorial Universidad Nacional de Colombia, S. 153–171. Whitehead, Ann; Dzodzi Tsikata (2003): »Policy Discourses on Women’s Land Rights in Sub-Saharan Africa: The Implications of the Re-turn to the Customary«, in: Journal of Agrarian Change 3(1/2), S. 67–112. Wissen, Markus (2011): Gesellschaftliche Naturverhältnisse in der Internationalisierung des Staates, Münster: Westfälisches Dampfboot. World Bank (1986): Poverty and Hunger. Issues and Options for Food Security in Developing Countries, Washington D.C.: World Bank.

313

Kämpfe um Gesundheitsgerechtigkeit Selbstorganisierte Siedlungsentwicklung und postabyssale Wissensformen in Santiago de Chile Lisa Waegerle

Weltweit leben insbesondere einkommensschwächere BIPoC in ungesunden Stadtverhältnissen (Beebeejaun/Modarres 2020: 7; Nardone et al. 2020: 27; Corburn 2017: 6). Sozial- und umweltepidemologische Studien zeigen beispielsweise, dass einkommensschwächere BIPoC in Städten besonders von Hitze, Lärmbelastung sowie schlechter Luftqualität betroffen sind (Nardone et al. 2021: 1; Vásquez et al. 2017: 560; Bolte et al. 2012: 20f.; Hornberg/Pauli 2012: 129; Morello-Frosch et al. 2002: 149). Als Gründe hierfür werden in allgemeinen Diskussionen um gesundheitsbezogene Stadtverhältnisse vor allem individuelles Verhalten anstatt struktureller Ungerechtigkeiten aufgrund kolonialer Herrschaftsmuster benannt (Mertens 2010: 25; Anigstein 2008: 80). Diese sehr eingeschränkte Perspektive kritisiere ich und stelle, angeregt von Feminist*innen wie Yuderkys Espinosa Miñoso, Diana Gómez Correal, Karina Ochoa Muñoz1 und Julieta Paredes, Wissen von poblador@s2 über

1

2

Diese Autorinnen sind Teil feministischer Kämpfe oder begleiten diese und erkennen Wissen von Sozialen Bewegungen an, dass sie als »essenziell für die Emanzipation und Dekolonialisierung in Abya Yala betrachten« (Espinosa Miñoso/Gómez Correal/Ochoa Muñoz 2014: 18). Poblador@s bezeichnen sich als »[…] Bewohner*innen, die eine kulturelle und historische Identität mit ihrer población haben« (A). Poblador@s können Teil von Sozialen Bewegungen sowie Stadtteilgruppen sein, oder sich als Einzelperson in der población organisieren. Eine población ist ein Stadtteil, dessen Urbanisierungsprozesse selbst durch poblador@s oder Bewohner*innen oder durch staatliche Maßnahmen eingeleitet wurden. Poblador@ wird mit einem At-Zeichen geschrieben, als eine im Spanischen übliche Form des Genderns. Wenn im Beitrag nur pobladora steht, wird explizit die weibliche Form gemeint.

316

Aneignung, Ausbeutung und emanzipatorische Praktiken

Stadtverhältnisse abseits rassistischer Ideologien und kolonialer und imperialer Logiken in den Vordergrund (Paredes 2017: 3f.; Espinosa Miñoso/Gómez Correal/Ochoa Muñoz 2014: 14). Poblador@s sind besonders von ungesunden Stadtverhältnissen betroffen und bauen ihre eigenen Strategien für gesündere Stadtverhältnisse auf. Ihre Perspektiven auf gesunde Stadtverhältnisse sind aufgrund der »abyssalen Linie«, die Wissensformen und Wissensakteure kolonisierter Länder bis heute unsichtbar machen (können) (Santos 2018: 200f., 353), besonders notwendig. In Lo Hermida hatte ich über vier Jahre die Möglichkeit, an unterschiedlichen Stadtteilaktivitäten teilzunehmen und Gespräche mit poblador@s zu führen. In diesem Beitrag3 zeige ich meine Interpretation der Perspektiven von poblador@s in Peñalolén zu gesunden Stadtverhältnissen am Beispiel eines konkreten Planungsprozesses und wie diese umgesetzt werden (können). Peñalolén ist ein Bezirk Santiago de Chiles und hat ca. 240.000 Bewohner*innen. Gegenwärtige gesundheitsbezogene Ungerechtigkeiten, die zum Beispiel mit ungleichen Eigentumsverhältnissen verbunden sind, erklären poblador@s historisch aufgrund der Verwobenheit von Rassismus und kapitalistischen Produktionsverhältnissen sowie als Resultat gesellschaftlicher Naturverhältnisse. Gesundheitsbezogene Ungerechtigkeiten in poblaciones wurden in vielen Gesprächen als Ergebnis politischer Verhältnisse erklärt. Staatliche Institutionen und deren Planungsinstrumente und -verfahren können nach Aussage vieler poblador@s gesundheitsbezogene Ungerechtigkeiten nicht oder kaum verändern. Das zeigt auch meine Analyse relevanter stadtentwicklungspolitischer Dokumente in Chile, in denen historisch gewachsene

3

Dieser Beitrag beinhaltet Ergebnisse meiner Dissertation mit dem Titel: »Gesundheitsbezogene Stadtverhältnisse und Gerechtigkeit. Einsichten in gewobene Denkund Wissenspraktiken«. Die Dissertation wurde im Rahmen der Junior-Forschungsgruppe »Stadt als gesunder Lebensort unabhängig von sozialer Ungleichheit« an der TU Dortmund bearbeitet und am 29.10.2021 veröffentlicht. Für diese Forschung habe ich zwischen 2014 und 2018 verschiedene ero-epische Gespräche mit poblador@s, Bewohner*innen Peñaloléns (nicht alle Bewohner*innen in poblaciones definieren sich selbst als poblador@s), der Stadtverwaltung in Peñalolén, NGOs sowie mit dem Chilenischen Ministerium für Umwelt, Gesundheit und Stadtentwicklung geführt. In diesem Zeitraum habe ich selbst in der población Lo Hermida, Peñalolén gelebt. Quellenangaben mit einem Großbuchstaben weisen auf Interviews mit poblador@s hin, Quellenangaben mit zwei Großbuchstaben deuten auf die weiteren Gesprächspartner*innen hin.

Lisa Waegerle: Kämpfe um Gesundheitsgerechtigkeit

Ungerechtigkeiten keine Rolle spielen (Waegerle 2021: 73ff.). Denk- und Wissenspraktiken von poblador@s könnten Diskussionen um Stadtplanung und -entwicklung bereichern, indem sie Einsichten in die koloniale Vergangenheit von wirtschaftlichen Ausbeutungsverhältnissen, politischen Abhängigkeiten und dominanten Wissensproduktionen ermöglichen und deren Einfluss auf die verschiedenen Erscheinungsformen von Ungleichheit und Ausgrenzung in Stadtverhältnissen besser verständlich machen (Ha 2014: 43).

Gesunde Stadtverhältnisse sichtbar machen Gesundheitsbezogene Ungleichheiten sind das Ergebnis historischer, ökonomischer, politischer und sozialer Verhältnisse, gegen die weltweit gekämpft wird, um mehr Umweltgerechtigkeit für alle Menschen zu erlangen (Ssebunya/Morgan/Okyere-Manu 2019; Mason-Deese/Habermehl/Clare 2019: 154; Corburn 2017: 1; Köckler et al. 2014: 23; Cuyol Soto 2013: 272ff.). In Städten wirken sich sowohl soziale Segregation als auch Umweltbelastungen im Wohnumfeld, wie die Nähe zu Verschmutzungsquellen, negativ auf die Gesundheit der Bewohner*innen aus. Die Lebensdauer verkürzt sich in Santiago de Chile für Frauen um bis zu siebzehn Jahre,4 für Männer um etwa neun Jahre, abhängig davon, ob sie im Osten oder dem Westen der Stadt leben (Bilal et al. 2019: 507). Diese fundamentale, rassifizierte, vergeschlechtlichte und klassistische Umweltungerechtigkeit findet sich auch in deutschen Städten. So verringert sich in der Dortmunder Nordstadt die durchschnittliche Lebenserwartung um bis zu zehn Jahre im Vergleich zur Südstadt (Sieber 2017: 124). In der Dortmunder Südstadt leben vermehrt einkommensstärkere, eher weiße Personen(gruppen). Diese Korrelation wird in der Wissenschaft als gesundheitliche Ungleichheit bezeichnet (Bolte et al. 2012: 23). Gesundheitliche Ungleichheiten zwischen Stadtvierteln werden laut wissenschaftlichen Prognosen weltweit zunehmen (Corburn 2017: 1). Trotz dieses klaren Zusammenhangs zwischen Gesundheitsbelastungen und sozialer Ungleichheit 4

Den großen Geschlechterunterschied in der Lebenserwartung zwischen Frauen und Männern in Santiago de Chile erklärt die Ärztin und Stadtforscherin Alejandra Vives unter anderem dadurch, dass sich Beschäftigungsmöglichkeiten von Frauen häufig weit entfernt von ihrem Wohnort befinden und diese tendenziell prekärer sind als bei Männern. Zudem übernehmen besonders Frauen unbezahlte Pflegearbeit, sind häufig alleinerziehend und müssen die Familie finanziell alleine versorgen, weshalb sie mehrfach belastet sind (Vives 2020: o.S.).

317

318

Aneignung, Ausbeutung und emanzipatorische Praktiken

werden beispielsweise für Deutschland meist nur messbare Gesundheitsbelastungen in Planverfahren einbezogen, soziale Aspekte bleiben dagegen bis heute in der Regel außen vor (Rodenstein 1991: 52; Rüdiger/Baumgart 2016: 16). Das gleiche gilt für die Berücksichtigung struktureller Ungerechtigkeiten einer gesundheitsbezogenen Stadtplanung: »Eine Änderung der Verhältnisse (z.B. der Einkommensverteilung oder der Arbeits- und Wohnbedingungen) ist offenbar viel schwieriger als eine Änderung des individuellen Gesundheitsverhaltens« (Mielck 2000: 22). Deutungen darüber, was ungesunde Stadtverhältnisse sind und welche Strategien gesunde Stadtverhältnisse befördern können, sind Ausdruck unterschiedlicher Interessen(skonflikte) und demnach eng mit Machtverhältnissen verwoben, aber auch veränderbar. So sind Landeigentumsverhältnisse in Chile ein Ergebnis kolonialer und imperialer Machtverhältnisse, die vielfach darüber entscheiden, ob und wo beispielsweise Grünflächen oder (Sozial)Wohnungen gebaut werden können (Mathivet/Pulgar 2011: 209; Rivera Cusicanqui 2010). Grünflächen zur Förderung gesunder Stadtverhältnisse sind selten gleich verteilt, sie befinden sich verstärkt in Stadtteilen, in denen einkommensstärkere, eher weiße Personen(gruppen) leben. Grünflächen können zudem indirekt Verdrängungsprozesse bewirken und Ungerechtigkeiten verschärfen, beispielsweise durch entstehende Gentrifizierungsprozesse infolge einer neuen Parkanlage, die zu Mietpreissteigerungen aufgrund des attraktiveren Wohnstandortes führen kann (green gentrification) (Gould/Lewis 2017). Poblador@s hinterfragten zudem, inwieweit Grünflächen, besonders in semi-ariden/ariden Regionen, überhaupt privat sein dürfen, da sie hier nicht nur eine Gesundheits- und Erholungsfunktion haben, sondern auch der Wasserregulation dienen. Was unter gesunden Stadtverhältnissen verstanden wird, ist demnach umkämpft. So werden beispielsweise in Santiago de Chile seit der Kolonialzeit bis heute die Siedlungsstruktur, lokale Partizipationsformen und gesellschaftliche Naturverhältnisse westlichen Vorstellungen angepasst. Diese koloniale Kontinuität legen dekoloniale feministische Aktivist*innen offen, indem sie sich unsichtbar gemachten Perspektiven zuwenden und für mehr Pluralität plädieren (Espinosa Miñoso/Gómez Correal/Ochoa Muñoz 2014: 14). Dekoloniale bzw. antikoloniale Forderungen und Kämpfe begannen in Abya Yala5 seit Beginn der kolonialen Herrschaft und wurden besonders 5

In diesem Beitrag wird der Begriff Abya Yala verwendet und nicht die problematischen Fremdzuschreibungen Südamerika und Lateinamerika. Von vielen poblador@s in Pe-

Lisa Waegerle: Kämpfe um Gesundheitsgerechtigkeit

ab dem 20. Jahrhundert von Aktivist*innen und Wissenschaftler*innen intensiver thematisiert. Präkoloniale wissenschaftlich-technologische Errungenschaften in Abya Yala wurden größtenteils mit dem Siedlerkolonialismus zerstört und bis heute unsichtbar gemacht (Quijano 2016: 35; siehe Schwarz/ Streule in diesem Band). Diese moderne Totalität zeigt Tariq Jazeel am Beispiel der colonial city, die er definiert als »[…] materielles und phantasievolles Palimpsest der Kolonialgeschichte6 « (Jazeel 2019: 69). Die beiden Stadtforscher Pablo Mansilla Quiñones und Walter Imilan Ojeda plädieren für eine Erneuerung der Stadtforschung in Abya Yala, da aus ihrer Sicht »die Urbanistik eine koloniale territoriale Dimension konstruiert hat, indem sie […] eine Kolonialität des Wissens praktiziert und über eine Reihe von Strategien und Machtmitteln verfügt, die ›in‹ und ›durch‹ den geographischen Raum für die koloniale Machtausübung verwendet werden«7 (Mansilla Quiñones/Imilan Ojeda 2020: 5). Für eine Erneuerung der Stadtforschung unterstreichen Yasser Farrés Delgado und Alberto Matarán Ruiz mit dem Konzept der territorialen Kolonialität die Notwendigkeit neben den Kategorien Wissen und Macht auch die zentrale Kategorie der Kolonialität zu analysieren, wodurch sie das Foucault’sche Konzept des Panoptikums erweitern (Farrés Delgado/Matarán Ruiz 2012: 152). Poblador@s in Peñalolén betonen, dass sie in stadtentwicklungspolitischen Entscheidungsprozessen nicht als Wissensproduzent*innen ihres Stadtteils wahrgenommen werden. Dies steht im Gegensatz dazu, dass sie, bzw. ihre Familien, den Stadtteil selbst mit aufgebaut haben und ihn bis heute aktiv gestalten. Poblador@s bauen ihre eigenen Institutionen und Verfahren für gesunde Stadtverhältnisse auf. Es geht darum »[…] zu verstehen, dass der Stadtteil durch Selbstorganisation solidarisch war, weil der Staat keine Lösungen hatte bzw. von den Privilegien profitierte und daher keine Notwendigkeit

6 7

ñalolén sowie von verschiedenen aktivistischen Gruppen wird der Begriff Abya Yala, verwendet, den die Kuna den Kontinent bereits vor der Ankunft der spanischen Kolonialisten bezeichnet haben und der bis heute besonders als Symbol der Identität und des Respekts für das Land verwendet wird. Originalzitat: »[…] material and imaginative palimpsest of colonial history«. Alle spanisch- und englischsprachigen Zitate: Übers. d. A. Originalzitat: »los estudios urbanos han construido una dimensión territorial colonial al […] ejerciendo colonialidad del saber, disponiendo de un conjunto de estrategias y dispositivos de poder que son ejercidos ›en‹ y ›a través‹ del espacio geográfico para el ejercicio de la dominación colonial.«

319

320

Aneignung, Ausbeutung und emanzipatorische Praktiken

sah, strukturelle Ungerechtigkeiten zu verändern«8 (A). Selbstorganisation ist das zentrale Verfahren, um Bildungs-, Stadtplanungs- und Gesundheitsinstitutionen mit solidarischen Netzwerkstrukturen zu gründen. Im Rahmen verschiedener Stadtteilaktivitäten forderten Poblador@s, ihre selbstorganisierten Strukturen für gesunde Stadtverhältnisse in stadtentwicklungspolitischen Entscheidungsprozessen gleichberechtigt anzuerkennen. Die beiden Raumplaner Yasminah Beebeejaun und Ali Modarres beschreiben diese Notwendigkeit wie folgt: »Rassialisierte und ethnisierte Identitäten werden innerhalb von Strukturen der Unterdrückung geschaffen. Unsere Arbeit sollte sich mit der Komplexität dieser Prozesse auseinandersetzen und beleuchten, wie der Widerstand gegen Macht die Grundlage für die Konstruktion gemeinsamer Welten und hoffnungsvoller Zukünfte bildet«9 (Beebeejaun/Modarres 2020: 6). Gegenhegemoniale Denk- und Wissenspraktiken können (koloniale)10 Unterdrückungsverhältnisse in Bezug auf Klasse, Raza und Gender strukturell verbessern.

Aushandlung des Gegenstandsbereichs im Planungsprozess Peñalolén Bei stadtentwicklungspolitischen Entscheidungsprozessen ist der Gegenstandsbereich selten klar. Es existieren meist unterschiedliche Ansichten darüber, was Gerechtigkeit ist. Dies wird im Folgenden am Beispiel eines konkreten Planungsprozesses dargestellt: dem Modifizierungsprozess des Flächennutzungsplans Peñalolén. Im Rahmen dieses Prozesses stellten neben der Stadtverwaltung zwei weitere Akteure eigene Flächennutzungspläne auf: die selbstorganisierte Ökologische Gemeinschaft (Comunidad Ecologica)

8

9

10

Originalzitat: »Entender que la población era solidario a través de la autoorganización porque el Estado no tenía soluciones o se beneficiaba de los privilegios y por lo tanto no veía la necesidad de cambiar las injusticias estructurales.« Originalzitat: »Racial and ethnic identities are created within structures of oppression. Our work should engage with the complexities of these processes and illuminate how resistance to power forms the basis for constructing shared worlds and hopeful futures.« Kolonial ist hier in Klammern gesetzt, da in Bezug auf den feminismocomunitario Frauen schon vor dem kolonialen Patriachat von Unterdrückungssystemen betroffen waren. Der feminismocomunitario ist ein Feminismus, der aus der Perspektive von Frauen aus Abya Yala, besonders auf Grundlage ihrer gelebten Erfahrungen, Wissen generiert.

Lisa Waegerle: Kämpfe um Gesundheitsgerechtigkeit

und der Rat der sozialen Bewegungen von Peñalolén (Consejo de Movimientos Sociales). Aktualisiert werden sollte der Plan vor allem aufgrund des rasanten Bevölkerungswachstums, das der Bezirk seit Beginn der 2000er Jahre erlebt hat. Poblador@s forderten neben Wohnraum mit angemessener Versorgungsinfrastruktur und öffentlich zugänglichen und frei gestaltbaren Plätzen auch die Bewahrung der Siedlungsstruktur der in Teilen selbstgebauten poblaciones und beantragten einen Volksentscheid, um über die selbst aufgestellten Planungsinhalte abstimmen zu können (I; B; C; Fernández Prajoux 2011: 28f.). Die Stadtverwaltung erkannte den eingereichten Antrag mit den Unterschriften von mehr als 5 Prozent der Wahlberechtigten des Bezirks nicht an (Fernández Prajoux 2011: 29). Der damals amtierende Bürgermeister Orrego rief daraufhin selbst einen Volksentscheid in Namen der Stadtregierung aus. Dabei sollte entweder für oder gegen den Vorschlag des Flächennutzungsplans gestimmt werden und nicht konkret über die Planungsinhalte der poblador@s. Das Verhalten des Bürgermeisters empörte die poblador@s, einige riefen dazu auf, beim Volksentscheid mit Nein zu stimmen. Mit 53,3 Prozent der Stimmen wurde der Flächennutzungsplan abgelehnt (Mathivet/Pulgar 2011: 211; Fernández Prajoux 2011: 29). Die Forderungen der poblador@s sind vor dem Hintergrund der Geschichte des Bezirks zu verstehen: Bis etwa zum Beginn des 20. Jahrhunderts war Peñalolén ein agrarisch genutztes Gebiet mit großen Weingütern im Besitz weniger Adelsfamilien. Ab den 1920er Jahren teilten deren Nachkommen die Großgrundstücke auf, die später teilweise in noch kleinere Parzellen aufgeteilt und verkauft wurden (Fuentes et al. 2011: 8; Mathivet/Pulgar 2011: 204). Mitte der 1960er Jahre fanden Migrationsprozesse aus dem Süden Chiles nach Santiago statt, vor allem aus der Region Araukanien. Ein Auslöser dieser Migrationsprozesse war die staatliche Agrarpolitik, die besonders zur Landknappheit für einkommensschwächere Indigene, besonders für Mapuche, führte (Imilan/Álvarez 2008: 46). Einige der migrierenden Personen(gruppen) kamen nach Peñalolén, wo seit 1967 staatliche Wohnprogramme umgesetzt wurden. Die población Lo Hermida wurde ab 1970 größtenteils von den Bewohner*innen selbst in Folge von Landbesetzungen aufgebaut (A). Die staatliche Repression war in diesen selbstgebauten poblaciones während der Militärdiktatur (1973–1990) besonders stark zu spüren. Verschärft wurden die Segregationsprozesse ab 1979 durch das Programm der Nationalen Stadtentwicklungspolitik. Diese Politik sah die Liberalisierung der Stadtentwicklung durch die Reduzierung staatlicher Investitionen, die Aufhebung der Grundbesitzsteuer sowie die Umsiedlung der Bewohner*innen selbstgebauter

321

322

Aneignung, Ausbeutung und emanzipatorische Praktiken

Stadtteile vor (Lukas 2015: 137; Mathivet/Pulgar 2011: 203f.; Romero/Salgado/ Fuentes 2011: 56f.). Der Handel mit Land wurde und wird in Chile dem freien Markt überlassen (Ferrando 2010: 6). Etwa 48.000 Familien wurden im Jahr 1979 aus selbstgebauten poblaciones, die in einkommensstärkeren Bezirken Santiago de Chiles lagen, in die Peripherie verdrängt, davon ca. 11 Prozent nach Peñalolén (Hidalgo 2004). Aufgrund des starken Drucks von Bewohner*innen Peñaloléns gingen nach dem offiziellen Ende der Militärdiktatur einige Grundstücke in die Hände des Staates über (Mathivet/Pulgar 2011: 204). Peñalolén zählt mittlerweile aufgrund der rasanten Stadtausdehnung als zentrumsnaher Bezirk. Auch wegen des Blicks auf das Andengebirge ist besonders der Stadtteil Peñalolén Nuevo für einkommensstärkere, eher weiße Personen(gruppen) attraktiv geworden. Besonders zwischen 1992 und 2002 wurden gated communities für die gehobene Mittel- bis Oberschicht gebaut (Vásquez 2008: 6). Peñalolén ist heute ein Bezirk mit starken sozial-ökologischen Unterschieden: Die poblaciones werden konfrontiert mit ungerechten Verfügungs- und Zugangsrechten zur gesellschaftlichen Grundversorgung (Bildungseinrichtungen, Gesundheitsvorsorge, politische Entscheidungsräume) und gelten als Risikogebiete für Überschwemmungen, Hochwasser und Erdrutsche (Vasquéz 2008: 11). Dieser knappe Überblick zeigt, wie gesundheitsbezogene Ungerechtigkeiten in Peñalolén historisch aufgrund von (kolonialen) Machverhältnissen gewachsen sind und in welchen neoliberalen Stadtverhältnissen ein neuer Flächennutzungsplan ausgehandelt wird. Der Modifizierungsprozess des Flächennutzungsplans Peñalolén machte erneut die kontinuierlichen Vertreibungsprozesse der Bewohner*innen von poblaciones sichtbar. Bereits zu Beginn des Modifizierungsprozesses beschloss die Stadtverwaltung, dass der Park Peñalolén (parque Peñalolén) auf der Fläche gebaut werden sollte, auf der seit 1999 Land von Bewohner*innen Peñaloléns mit der Forderung nach mehr sozialen Wohnraumlösungen besetzt wird. »Es handelte sich um Häuser, die in einer prekären Situation gebaut wurden und nicht den sanitären Standards entsprachen«, so der Mitarbeiter des Dezernats Stadtplanung bezüglich der Landbesetzung (AB). Wie die Luftaufnahme mit der Visualisierung der geplanten Flächengestaltung in Abbildung 1 zeigt, stellt der Park Peñalolén eine der wenigen Grünflächen für die Nachbarschaft bereit. Das Dezernat Stadtentwicklung in Peñalolén bezeichnet den Park als einen wichtigen Meilenstein für die »Kompensation räumlicher Umweltsegregation« (ebd.). Die gerechtere Verteilung von Grünflächen stellt auch für

Lisa Waegerle: Kämpfe um Gesundheitsgerechtigkeit

die Dezernate Stadtplanung und Wohnungsbau den Gegenstandsbereich für die planerische Herstellung gesünderer Stadtverhältnisse dar (CD). Poblador@s, mit denen ich sprach, bezeichnen als ihren relevanten Gegenstandsbereich der Stadtplanung die Umverteilung historisch entstandener und bis heute ungerechter Landbesitzverhältnisse (J; D; H). Ungerechte Landbesitzverhältnisse führen dazu, dass sich nur wenige Freiflächen im Bezirk in staatlicher Hand befinden. Würden diese wenigen Flächen nun zu Grünflächen, gäbe es erneut keine Antwort auf die seit langer Zeit bestehenden Wohnraumforderungen (J; C; A; B; E). Ein ›grüner‹ Diskurs legitimiere zudem die Vertreibung landloser Menschen, die durch den Park keine Wohnraumlösung in Peñalolén erhielten. Die Festlegung des Gegenstandsbereichs ist verwoben mit ungerechten kolonialen und imperialen Eigentumsverhältnissen, die Personen(gruppen) aus poblaciones nach wie vor in ihren Lebensräumen begrenzen und einengen (J; L).

Abb. 1: Luftbild mit Visualisierung des zukünftigen Parks Peñalolén

Quelle: Basultro 2008: o.S.

Dieser kurze Einblick am Beispiel des Parks Peñalolén konnte zeigen, dass Stadtverwaltung und poblador@s unterschiedliche Ansichten über den Gegenstandbereich der Aushandlungen zum neuen Flächennutzungsplan haben – und damit auch unterschiedliche Ansichten dazu, was Gerechtigkeit in diesem Zusammenhang bedeuten könnte. Diese Situation nennt Nancy Fraser Abnormale Gerechtigkeit, da keine Übereinstimmung über den Gegenstandsbereich

323

324

Aneignung, Ausbeutung und emanzipatorische Praktiken

besteht und dieser folglich notwendigerweise zuvor auszuhandeln ist (Fraser 2015: 48).

Gesunde Stadtverhältnisse durch gleichberechtigte, radikale Koexistenz Um den Gegenstandsbereich in stadtentwicklungspolitischen Entscheidungsprozessen aushandeln zu können, sollten vielfältige Imaginarios über gesundheitsbezogene Probleme und raumbezogene Strategien unterschiedlicher Personen(gruppen) offengelegt werden. Das von Stadtanthropologen aus Abya Yala entwickelte Konzept Imaginario analysiert, wie unterschiedliche Akteure ihr Umfeld betrachten und mit Bedeutung füllen (Vera 2019: 21). Anne Huffschmid und Kathrin Wildner stellen in ihrem Handbuch zur Stadtforschung aus Lateinamerika fest: »Das Denken in Imaginarios ermöglicht die Verschränkung von subjektiver Raumwahrnehmung und -erfahrung, Diskursen und Narrationen mit der sozialen Organisation des städtischen Alltaglebens« (Huffschmid/Wildner 2013: 21). Imaginarios können machtvoll und dynamisch sein und sind räumlich nicht einfach abzugrenzen (Aliste 2013: 285). Die Stadtforscherin Alicia Lindón unterscheidet zwischen zwei Imaginarios: ›Radikale Imaginarios‹, die dazu führen können, Stadtverhältnisse neu zu denken und zu leben und ›Imaginarios der Herrschaft‹, die soziale Reproduktion fördern (Lindón 2019: 33; Lindón 2007: 91). Die Imaginarios von poblador@s können in diesem Sinne als radikal bezeichnet werden, da sie Einblicke in historische Ereignisse, politische Prozesse, Alltagserfahrungen, Identität und Erinnerung abseits kolonialer und imperialer Logiken ermöglichen. Aus Sicht von poblador@s ist die gleichberechtigte Koexistenz selbstorganisierter Institutionen für gesunde Stadtverhältnisse besonders relevant, da laut ihnen politische Partizipation in liberal-demokratischen top-down Verfahren nicht zu Umverteilung für poblaciones führen wird (E; C; A): »[E]s ist so komplex, weil die Politiker*innen in diesem Land rassistisch sind und alle Politiker*innen die Anweisungen nationaler und internationaler Wirtschaftsinteressen befolgen und nicht auf die Bedürfnisse der poblaciones hören«11 (C). Die Historikerin Claudia Zapata Silva zeigt beispielsweise, dass in Chile in den 11

Originalzitat: »es súper más complejo porque las esferas políticas de este país son rasistas y todos los politicos están haciendo la política desde las directrices de los intereses economicos nacionales e internacionales y no desde la población«.

Lisa Waegerle: Kämpfe um Gesundheitsgerechtigkeit

1990er Jahren, nach der Militärdiktatur, Fragen der Umverteilung unsichtbar blieben (Zapata Silva 2019: 66). So erklärt ein poblador: »Es wird keine Lösung von oben kommen […] wir müssen unsere Möglichkeiten der sozialen Selbstbestimmung im Bereich der Politik erweitern […]«12 (A). Es geht poblador@s nicht um die Integration oder das Reformieren diskriminierender Strukturen in Institutionen oder Verfahren, sondern um die gleichberechtigte Anerkennung ihrer Institutionen und Verfahren: »Mit unseren eigenen Ressourcen schaffen wir Räume, wie den Gesundheitsraum, den Gemeinschaftsgarten«13 (L). Poblador@s gründeten auch eigene Institutionen, wie die Selbstverwaltungseinheit für soziale Immobilien (EaGIS) und die Baugenossenschaft Eme Pe Ele (L). Die Metapher Ch’ixi von Silvia Rivera Cusicanqui schlägt für diese konkreten Vorstellungen einer gleichberechtigten, radikalen Koexistenz einen Rahmen vor. Das aymarische Wort Ch’ixi beschreibt die »Koexistenz vieler kultureller Unterschiede, die nicht verschmelzen, sondern entweder im Widerspruch miteinander stehen oder sich komplementieren« (Rivera Cusicanqui 2010: 92). In Peñalolén ist beispielsweise im feminismocomunitario die Koexistenz von Sexualität und Ethnizität in jeder Subjektivität zentral. Die Metapher Ch’ixi symbolisiert »eher ein Unbehagen und ein Hinterfragen« (Rivera Cusicanqui 2018: 153), um über binäre und statische Konzeptionen hinauszugehen und fordert so beispielsweise auch zum Nachdenken über die Bedingungen auf, unter denen Konzepte und Theorien der Stadtplanung entwickelt wurden und werden. Die gleichberechtigte Koexistenz wurde in Gesprächen mit poblador@s besonders in Bezug auf würdigen14 Wohnraum in Peñalolén betont. Sozialwohnungen sind in Chile seit dem Militärputsch 1973 und den damit verbundenen drastischen neoliberalen Reformen stets teurer, kleiner und mangelhafter geworden: Sie sind hellhörig, lassen Regen hinein und es bilden sich Risse in Wänden. Bewohner*innen können Sozialwohnungen nicht mieten, sondern müssen diese kaufen, was sie fast immer zur Aufnahme von Krediten zwingt und aufgrund der Verschuldung häufig zu Stress, Ängsten und Depressionen

12 13 14

Originalzitat: »Desde arriba no va a venir ninguna solución y debemos ampliar nuestras posibilidades de autodeterminación social en el ámbito de la política«. Originalzitat: »Con nuestros propios recursos creamos espacios, como la sala de salud, el jardín comunitario«. Der Begriff »würdig« wurde in vielen Gesprächen mit poblador@s genannt und dabei Bezug genommen auf die Anerkennung ihrer Lebenserfahrungen.

325

326

Aneignung, Ausbeutung und emanzipatorische Praktiken

führt (B; K). In Peñalolén leben laut den Aussagen der Wohnkomitees schätzungsweise 18.000 erwachsene Menschen noch oder wieder bei ihren Familien und warten auf eine Sozialwohnung im Bezirk (Torres Lefiu 2020: o.S.). Die aktuellen Landeigentumsverhältnisse führen dazu, dass viele Menschen nicht mehr in den Stadtteilen wohnen können, in denen sie geboren wurden und ihre Familie und ihre sozialen Netzwerke verlassen müssen. Das betrachten viele Bewohner*innen als Problem für wünschenswerte gesunde Stadtverhältnisse (A; D; H; L). Organisierte Bewohner*innen sind sich einig, dass die Integration ihrer Forderungen und Strategien in die Stadtentwicklungspolitik der neoliberalen Stadtregierung keine würdigen Wohnverhältnisse sicherstellen können: »Immobilienunternehmen waren und sind das größte Problem für den sozialen Wohnungsbau in Chile« (K). Private Immobilien- und Baufirmen werden auch von stadtentwicklungspolitischen Akteuren auf lokaler und nationaler Ebene als mächtige Akteure der Stadtplanung bezeichnet. Laut eines Mitarbeiters des Ministeriums für Wohnungswesen und Stadtplanung werden häufig »[…] die Parameter des Flächennutzungsplans zum Ausschluss von Sozialwohnungen geändert« (OP). Dabei kann nicht mehr zwischen öffentlichen und privaten Akteuren unterschieden werden (Lukas 2014: 147). »Es ist grotesk was in Chile passiert, denn Änderungswünsche von Immobilienunternehmen werden vom Bauleiter an den Gemeinderat weitergeleitet und einfach umgesetzt«, so die Mitarbeiterin der Stiftung Decide (MN). Auch wissenschaftliche Studien zeigen, dass die Akteure auf den Immobilienmärkten in Chile starken Einfluss auf politische Zielsetzungen haben (Link/Valenzuela 2016: 267; Casgrain 2014: 61, 71; Lopez Mórales/Gasic Klett/Meza Corvalán 2014: 3). Aufgrund fehlender kommunalpolitischer Lösungen organisieren sich Wohnraumkomitees, mit denen sich mehrheitlich Frauen mit Kindern einen Zugang zu einer Sozialwohnung in Peñalolén verschaffen wollen (Torres Lefiu 2020: o.S.). Die Wohnraumkomitees fordern eine Verstaatlichung des Gemeindelandes mit einer finanziellen Entschädigung der Landeigentümer (ebd.). Einige poblador@s fordern die Veränderung der historisch entstandenen Landbesitzverteilung durch gesetzgeberisches Eingreifen in Privateigentum und die Gründung einer staatlichen Gesellschaft für Wohnraumbau (H; L). Bis heute befinden sich fast 250 Häuser in Selbstverwaltung, 32 mit erworbenem Land und hundert mit Baugenehmigung, wenn Land von der Kommunalverwaltung gekauft wird (D). In der Mitte der selbstverwalteten Wohnkomplexe befinden sich Kindergärten oder Gemeinschaftsräume (L; siehe Abb. 2).

Lisa Waegerle: Kämpfe um Gesundheitsgerechtigkeit

Abb. 2: Wohnprojekt in Peñalolén Alto. Hier wird ein selbstverwalteter Kindergarten gebaut

Foto: L. Waegerle

Da der Management- und Bauprozess von poblador@s selbst organisiert wurde und wird, sparen sie einen beträchtlichen Teil der Ressourcen ein, der sonst zu privaten Unternehmen fließen würde, und stattdessen in nachhaltigere Materialien investiert werden kann (L). Poblador@s fordern, ihre eigenen Institutionen und Verfahren rechtlich anzuerkennen. Für ein gleichberechtigtes Koexistieren fordern poblador@s zudem staatliche Fördergelder, um zu qualitativ besseren und nachhaltigen Materialien forschen zu können. Notwendig seien auch unbürokratischere Rahmenbedingungen für den Wohnungsbau.

327

328

Aneignung, Ausbeutung und emanzipatorische Praktiken

Fazit: Perspektiven für ein postabyssales Denken Die Gespräche mit poblador@s weisen darauf hin, dass gerechtere Stadtverhältnisse durch die Sichtbarmachung und Koexistenz vielfältiger Imaginarios abseits kolonialer Logiken möglich werden können. Zuvor müsste jedoch die Dominanz abyssalen Denkens – auch in der kritischen Theorie – erkannt werden, um zu einem »[…] radikalen Bruch mit den modernen westlichen Arten des Denkens und Handelns« (Santos 2018: 201) zu gelangen. Ein postabyssales Denken definiert Santos als »[…] das Lernen vom Süden durch eine Epistemologie des Südens« (ebd.). Stadtforscher*innen sollten Fragen zum institutionellen, finanziellen und sprachlichen Zugang zur Wissensproduktion stellen sowie eigene Wissenspraktiken reflektieren. So kritisieren poblador@s ihre geringe Wahrnehmung und öffentliche Anerkennung als Wissensproduzent*innen, auch in der Wissenschaft, etwa im Vergleich zum Rat der Sozialen Bewegungen von Peñalolén. Poblador@s waren vielseitig Teil von Planungsprozessen in Peñalolén und werden – im Vergleich zu Sozialen Bewegungen – in den poblaciones von unterschiedlichen Bewohner*innen anerkannt, auch von denjenigen, die bisher wenig politisiert waren oder sind (A). In Bezug auf Santos muss »[…] derjenigen Wissensform der Vorzug gegeben werden, welche das höchste Partizipationsniveau für die sozialen Gruppen garantiert, die an ihrer Entwicklung, Ausführung und Kontrolle mitgewirkt haben« (ebd.: 303). Selbstorganisierte Gesundheitsräume und Baugenossenschaften können als Kontaktzonen fungieren, in denen poblador@s beispielsweise Alternativen zu liberalen Eigentumsverhältnissen und Mensch-Natur-Beziehungen mit Bewohner*innen erarbeiten. Das ermöglicht die gemeinsame Erfahrung »dass die Planung die Grenzen des Vorstellbaren und des Wünschenswerten für die Stadt verschieben kann«15 (Fawaz/Moumtaz 2017: 347). In Kontaktzonen kann gelernt werden, Differenzen, Ähnlichkeiten sowie Gemeinsamkeiten auszuhalten sowie die eigenen Widersprüche anzunehmen und so auch Dichotomien zu hinterfragen, beispielsweise in Bezug auf Sexualität und Ethnizität: »Das Transzendieren kann also […] nur aus der Perspektive der Subalternität geschehen, aber in Richtung einer Erneuerung des Seins.« (Lugones 2020: 71) Eine pobladora des feminismocomunitario betrachtet für die Erneuerung des Seins das eigene Erfahrungswissen als relevant, welches nach ihr auch die neue pobladora darstellt: »Die neue pobladora ist unsere erste 15

Originalzitat: »[…] that planning can push the boundaries of the imaginable and the desirable for city.«

Lisa Waegerle: Kämpfe um Gesundheitsgerechtigkeit

ideologische, philosophische Referenz für Vielfalt […] mit unseren Visionen und unseren Weltanschauungen.«16 (L) Für ein postabyssales Denken sind zudem verschiedene Zeitverständnisse anzuerkennen. Das Lernen aus der Vergangenheit für die Zukunft bezeichnet Rivera Cusicanqui mit dem Begriff »Zukunft-Vergangenheit« (Rivera Cusicanqui 2021: o.S; Fernández Nadal 2019: 6). Auf gesunde Stadtverhältnisse bezogen soll der Begriff darauf hinweisen, dass es die historische Entstehung von Ungerechtigkeiten zu verstehen und anzuerkennen gilt, um Ungerechtigkeiten zu verändern und ungerechte Planungspraktiken nicht zu wiederholen. Institutionen und Verfahren, die Ungerechtigkeiten (re)produzieren, dürfen in stadtentwicklungspolitischen Entscheidungsprozessen nicht mehr unterstützt werden. Laut Deshonay Dozier muss hierfür auch die bestehende professionelle Planung, sowohl im Lehrplan als auch in der Planungspraxis, historisch reflektiert und repolitisiert werden (Dozier 2019: o.S.). Die gleichberechtigte Anerkennung pluraler, radikaler Denkweisen wird aufgrund des internen Kolonialismus17 von poblador@s als ein komplexer Weg beschrieben, der neben dem Abbau struktureller Ungerechtigkeiten durch Perspektiven von BIPoC auch die Bereitschaft benötigt, Personen(gruppen) und sich selbst mit multiplen Identitäten anzunehmen.

Literatur Aliste, Enrique (2013): »Imaginarios, discursos, representaciones: la ciudad desde su espacio vivido«, in: Ernesto López Morales, Camilo Arriagada, Paola Jirón Martínez (Hg.): Chile urbano hacia el siglo XXI. Investigaciones y reflexiones de política urbana desde la Universidad de Chile, Santiago de Chile: Editorial Universitaria, S. 284–291. Anigstein, María S. (2008): »Participación Comunitaria en Salud: Reflexiones sobre las posibilidades de democratización del sector«, in: Revista Mad (19), S. 77–88.

16 17

Originalzitat: »La nueva pobladora es nuestra primera referencia filosófica ideológica, que respeta la diversidad […] con nuestras visiones nuestras cosmovisiones.« In Anlehnung an Pablo Gonzalez Casanova wird der interne Kolonialismus verstanden als theoretisch-methodischer Rahmen, um Machtverhältnisse zwischen Kolonisten und Kolonialisierten auch nach der offiziellen Unabhängigkeit bis heute aufzuzeigen (Loza 2016: 2).

329

330

Aneignung, Ausbeutung und emanzipatorische Praktiken

Basultro, David (2008): Diseño final Parque Peñalolen. Plataforma Urbana, https: //www.plataformaurbana.cl/archive/2008/05/18/diseno-final-parque-pe nalolen/, zuletzt geprüft am 25.08.2021. Beebeejaun, Yasminah; Modarres, Ali (2020): »Race, Ethnicity and the City«, in: Journal of Race, Ethnicity and the City 2(1), S. 6–10. Bilal, Usama; Alazraqui, Marcio; Caiaffa, Waleska; Lopez-Olmedo, Nancy; Martinez-Folgar, Kevin; Miranda, Jaime; Rodriguez, Daniel; Vives, Alejandra; Diez-Roux, Ana (2019): »Inequalities in Life Expectancy in Six Large Latin American Cities from the SALURBAL Study. An Ecological Analysis«, in: The Lancet Planetary Health 3(12), S. 1–8. Bolte, Gabriele; Bunge, Christiane; Hornberg, Claudia; Köckler, Heike; Mielck, Andreas (2012): »Umweltgerechtigkeit durch Chancengleichheit bei Umwelt und Gesundheit. Eine Einführung in die Thematik und Zielsetzung des Buches«, in: Ebd. (Hg.): Umweltgerechtigkeit. Chancengleichheit bei Umwelt und Gesundheit: Konzepte, Datenlage und Handlungsperspektiven, Bern: Verlag Hans Huber, S. 15–38. Casgrain, Antoine (2014): »Gentrificación Empresarial en el Centro de Santiago. Contradicciones en la producción del espacio residencial«, in: Rodrigo Hidalgo, Michael Janoschka (Hg.): La ciudad neoliberal. Gentrificación y exclusión en Santiago de Chile, Buenos Aires, Ciudad de México y Madrid, Santiago, Chile: Pontificia Universidad Católica de Chile, S. 59–73. Corburn, Jason (2017): »Urban Place and Health Equity: Critical Issues and Practices«, in: International journal of environmental research and public health 14(2), S. 1–10. Cuyul Soto, Andrés (2013): »Salud intercultural y la patrimonialización de la Salud Mapuche en Chile«, in: En El Volcán (22), S. 7–24. Dozier, Deshonay (2019): »A Response to Abolitionist Planning: There is No Room for ›Planners‹ in the Movement for Abolition«, PN: Planners Network – The organization for progressive planning, https://www.plannersnetwork.org/2018/08/response-to-abolitionist-planning/, zuletzt geprüft am 17.06.2021. Espinosa Miñoso, Yuderkys; Gómez Correal, Diana; Ochoa Muñoz, Karina (Hg.) (2014): Tejiendo de otro modo. Feminismo, epistemología y apuestas descoloniales en Abya Yala. Coloquio Tejiendo de Otro Modo Feminismo, Epistemología y Apuestas Descoloniales en Abya Yala, Popayán: Universidad del Cauca. Farrés Delgado, Yasser; Matarán Ruiz, Alberto (2012): »Colonialidad territorial: para analizar a Foucault en el marco de la desterritorialización de la metrópoli. Notas desde La Habana«, in: Tabula Rasa (16), S. 139–159.

Lisa Waegerle: Kämpfe um Gesundheitsgerechtigkeit

Fawaz, Mona; Moumtaz, Nada (2017): »Of Property and Planning: a Brief Introduction«, in: Planning Theory & Practice 18(3), S. 345–350. Fernández Nadal, Estela (2019): »Pasado como futuro y multi-temporalidad en Silvia Rivera Cusicanqui«, 1º Congreso Internacional de Ciencias Humanas – Humanidades entre pasado y futuro, https://www.aacademica.org/1.congreso.in ternacional.de.ciencias.humanas/1456.pdf, zuletzt geprüft am 13.08.2021. Fernández Prajoux, Viviana (2011): »Participación ciudadana reactiva: el caso del Plan Regulador de la comuna de Peñalolén y la modificación del Parque Los Domínicos en la comuna de Las Condes«, in: Revista de Arquitectura 17(24), S. 26–33. Ferrando, Francisco (2010): »Santiago de Chile: antecedentes demográficos, expansión urbana y conflictos«, in: Revista de Urbanismo (18), S. 1–19. Fraser, Nancy (2015): »Abnormale Gerechtigkeit«, in: Helmut König, Emanuel Richter, Sabine Schielke (Hg.): Gerechtigkeit in Europa, Bielefeld: transcript, S. 41–80. Fuentes, Claudio; Irarrázaval, Felipe; Romero, Hugo; Salgado, Marcela (2011): »Comodificación y segregación socio-ambiental en Peñalolén: Comprendiendo su estructuración territorial«, in: Revista Sociedad y Equidad 1(1), S. 1–8. Gould, Kenneth Alan; Lewis, Tammy (2017): Green Gentrification. Urban Sustainability and the Struggle for Environmental Justice, Abingdon/Oxon/New York: Routledge. Ha, Noa K. (2014): »Perspektiven urbaner Dekolonisierung: Die europäische Stadt als ›Contact Zone‹«, in: sub\urban. Zeitschrift für Kritische Stadtforschung 2(1), S. 27–48. Hidalgo Rodrigo (2004): »La vivienda social en Santiago de Chile en la segunda mitad del siglo XX: Actores relevantes y tendencias espaciales«, in: Carlos De Mattos Carlos (Hg.): Santiago en la globalización: ¿una nueva ciudad?, Santiago: Ediciones Sur and EURE libros, S. 219–241. Hornberg, Claudia; Pauli, Andrea (2012): »Soziale Ungleichheit in der umweltbezogenen Gesundheit als Herausforderung für Stadtplanung«, in: Christa Böhme, Christa Kliemke, Bettina Reimann, Waldemar Süß (Hg.): Handbuch Stadtplanung und Gesundheit, Bern: Verlag Hans Huber, S. 129–128. Huffschmid, Anne; Wildner, Kathrin (Hg.) (2014): »Das Urbane als Forschungsfeld: Öffentlichkeit, Territorien, Imaginarios«, in: Ebd. (Hg.): Stadtforschung aus Lateinamerika. Neue urbane Szenarien: Öffentlichkeit – Territorialität – Imaginarios, Bielefeld: transcript, S. 9–28.

331

332

Aneignung, Ausbeutung und emanzipatorische Praktiken

Imilan, Walter Alejandro; Alvarez, Valentina (2008): »El pan mapuche: Un acercamiento a la migración mapuche en la ciudad de Santiago«, in: revista austral ciencias sociales (14), S. 23–49. Jazeel, Tariq (2019): Postcolonialism, Abingdon: Routledge. Köckler, Heike; Blättner, Beate; Bolte, Gabriele; Flacke, Johannes; Rüdiger, Andrea; Baumgart, Sabine (2014): »Gesundheitsfördernde Stadtentwicklung für alle: Gemeinsam den Bestand entwickeln«, in: UMID: Umwelt und Mensch – Informationsdienst 2, S. 23–29. Lindón, Alicia (2007): »Que son los imaginarios y cómo actúan en la ciudad? Diálogo con Néstor Garcá Canclini«, in: eure, S. 89–99. Lindón, Alicia (2019): »The lived city: everyday experiences, urban scenarios, and topologi-cal networks«, in: Geographica Helvetica 74, S. 31–39. Link, Felipe; Valenzuela, Felipe (2016): »Nueva geografía metropolitana y sus impactos en el gobierno local: Capacidades de gestión municipal y vulnerabilidad socio-territorial en Santiago de Chile«, in: Arturo Orellana, Felipe Link, Juan Noyola (Hg.): Urbanización Planetaria y la reconstrucción de la ciudad, Santiago de Chile: RIL Editores, S. 265–283. López Morales, Ernesto; Gasic Klett, Ivo; Meza Corvalán, Daniel (2014): Actores sociales y politicos contestando un modelo de urbanismo pro-empresarial: El lado B de la renovación urbana de Santiago de Chile. XIII Coloquio Internacional de Geocrítica, Barcelona, 05.05.2014, https://www.ub.edu/geocrit/coloquio20 14/Ernesto%20Lopez%20Morales.pdf, zuletzt geprüft am 13.08.2021. Loza, Jorgelina (2016): Sobre el colonialismo interno en la nación multicultural. IX Jornadas de Sociología de la UNLP, 5 al 7 de diciembre de 2016, Ensenada, Argentina, Universidad Nacional de La Plata, Facultad de Humanidades y Ciencias de la Educación, Departamento de Sociología, https://www.memoria .fahce.unlp.edu.ar/trab_eventos/ev.8838/ev.8838.pdf, zuletzt geprüft am 02.09.2021. Lugones, María (2020): »Auf dem Weg zu einem dekolonialen Feminismus«. Übersetzt aus dem Englischen von Daniel Huth, in: polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren (43), S. 55–76. Lukas, Michael (2015): »Neoliberale Stadtentwicklung und die Privatisierung von Planung, Macht, Wissen und die Rolle der ›Harvard Boys‹ in Chile«, in: Hans-Jürgen Burchardt, Olaf Kaltmeier, Rainer Öhlschläger (Hg.): Urbane (T)Räume: Städte zwischen Kultur, Kommerz und Konflikt, Baden-Baden: Nomos, S. 137–150.

Lisa Waegerle: Kämpfe um Gesundheitsgerechtigkeit

Mansilla Quiñones, Pablo; Imilan Ojeda, Walter (2020): »Colonialidad del poder, desarrollo urbano y desposesión mapuche: urbanización de tierras mapuche en la Araucanía chilena«, in: Scripta Nova 24(630), S. 1–23. Mason-Deese, Liz; Habermehl, Victoria; Clare, Nick (2019): »Producing territory: territorial organizing of movements in Buenos Aires«, in: Geographica Helvetica 74(2), S. 153–161. Mathivet, Charlotte; Pulgar, Claudio (2011): »El Movimiento de Pobladores en Lucha: Demanding a Place in the City of Santiago, Chile«, in: Ana Sugranyes, Charlotte Mathivet (Hg.): Cities for All: Proposals and Experiences towards the Right to the City, Santiago: Habitat International Coalition (HIC), S. 203–216. Mertens, Indra (2010): »Gesundheitsfördernde Stadtentwicklung. Akteure, Programme, Vernetzung – Praxisanalyse in einem Sanierungsgebiet in München«, in: Dortmunder Beiträge zur Raumplanung, Blaue Reihe 134, Dortmund. Mielck, Andreas (2000): Soziale Ungleichheit und Gesundheit. Empirische Ergebnisse, Erklärungsansätze, Interventionsmöglichkeiten, Bern/Göttingen/Toronto/ Seattle: Verlag Hand Huber. Morello-Frosch, Rachel; Pastor, Manuel; Porras, Carlos; Sadd, James (2002): »Environmental Justice and Regional Inequality in Southern California: Implications for Future Research«, in: Health Perspectives 110(2), S. 149–154. Nardone, Anthony; Casey, Joan A.; Morello-Frosch, Rachel; Mujahid, Mahasin; Balmes, John R.; Thakur, Neeta (2020): »Associations between Historical Residential Redlining and Current Age-adjusted Rates of Emergency Department Visits due to Asthma Across Eight Cities in California: an Ecological Study«, in: The Lancet Planetary Health 4(1), S. 24–31. Nardone, Anthony; Rudolph, Kara; Morello-Frosch, Rachel; Casey, Joan (2021): »Redlines and Greenspace: The Relationship between Historical Redlining and 2010 Greenspace across the United States«, in: Environmental Health Perspectives 129(1), S. 1–9. Paredes, Julieta (2017): »El feminismocomunitario: la creación de un pensamiento propio«, in: corpusarchivos 7(1), S. 1–9. Quijano, Aníbal (2016): Kolonialität der Macht, Eurozentrismus und Lateinamerika, Wien/Berlin: Turia + Kant. Rivera Cusicanqui, Silva (2018): Un mundo chꞌixi es posible. Ensayos desde un presente en crisis, Buenos Aires: Tinta Limón. Rivera Cusicanqui, Silvia (2010): Chꞌixinakax utxiwa. Eine Reflexion über Praktiken und Diskurse der Dekolonisierung, Münster: Unrast.

333

334

Aneignung, Ausbeutung und emanzipatorische Praktiken

Rivera Cusicanqui, Silvia (2021): »Tenemos que producir pensamiento a partir de lo cotidiano«, in: El Salto, https://www.elsaltodiario.com/feminismo-p oscolonial/silvia-rivera-cusicanqui-producir-pensamiento-cotidiano-pe nsamiento-indigena, zuletzt geprüft am 17.05.2021. Rodenstein, Marianne (1991): »Gesundheit, Stadtplanung und Modernisierung«, in: Deutsches Institut für Urbanistik, Archiv für Kommunalwissenschaften 1/91, S. 47–63. Romero, Hugo; Salgado, Marcela; Fuentes, Claudio (2011): »Segregación SocioAmbiental en espacios intraurbanos de la ciudad de Santiago de Chile«, in: Periurbanización y Sustentabilidad en Grandes Ciudades, S. 55–82. Rüdiger, Andrea; Baumgart, Sabine (2016): »Planungsinstrumente für eine gesundheitsfördernde Stadtentwicklung – Ein Rückblick auf 30 Jahre Baugesetzbuch«, in: RaumPlanung 186(4), S. 15–21. Santos, Boaventura de Sousa (2018): Epistemologien des Südens. Gegen die Hegemonie des westlichen Denkens, unter Mitarbeit von Felix Schüring, Münster: Unrast. Sieber, Raphael (2017): Gesundheitsfördernde Stadtentwicklung – Eine Untersuchung stadtplanerischer Instrumente unter Einbeziehung des Setting-Ansatzes der Gesundheitsförderung, Dissertation, Dortmund, http://dx.doi.org/10.17877/D E290R-18777, zuletzt geprüft am 18.06.2021. Ssebunya, Margaret; Morgan, Stephen Nkansah; Okyere-Manu, Beatrice: (2019): »Environmental Justice: Towards an African Perspective«, in: Munamato Chemhuru (Hg.): African Environmental Ethics. A Critical Reader, Cham: Springer International Publishing; Imprint; Springer, S. 175–189. Torres Lefiu, Francisca (2020): »Esta vez tocamos los intereses de los verdaderos dueños del país. Enrevista a Santiago Castillo, dirigente del Comité de vivienda Luchadores de Lo Hermida«, in: Doble Espacio, Revista de la Escuela de Periodismo de la Universidad de Chile, https://www.doble-espa cio.u-chile.cl/2020/01/02/esta-vez-tocamos-los-intereses-de-los-verdade ros-duenos-del-pais/, zuletzt geprüft am 13.08.2021. Vásquez Fuentes, Alexis (2008): Vegetación Urbana y Desigualdades socio-económicas en la comuna de Peñalolén, Santiago de Chile. Una perspectiva de justicia ambiental, Magisterarbeit, Universidad de Chile. Vásquez Fuentes, Alexis; Lukas, Michael; Salgado, Marcela; Mayorga, José (2017): »Urban Environmental (In)Justice in Latin America. The Case of Chile«, in: Ryan Holifield, Jayajit Chakraborty, Gordon Walker (Hg.): The Routledge Handbook of Environmental Justice, London: Routledge/Taylor & Francis.

Lisa Waegerle: Kämpfe um Gesundheitsgerechtigkeit

Vera, Paula (2019): »Imaginarios Urbanos: Dimensiones, puentes y deslizamientos en sus estudios«, in: Paula Vera, Ariel Gravano, Felipe Aliaga (Hg.): Ciudades (in)descifrables. Imaginarios y representaciones sociales de lo urbano, Bogotá: Ediciones USTA. Vives, Alejandra (2020): »La salud general, la carga de enfermedades crónicas, el riesgo de morir por enfermedad, tienen un patrón social y socioeconómico«, in: Revista Planeo 44, http://revistaplaneo.cl/2020/07/07/entrevistaa-alejandra-vives-la-salud-general-la-carga-de-enfermedades-cronicasel-riesgo-de-morir-por-enfermedad-tienen-un-patron-social-y-socioeco nomico/, zuletzt geprüft am 02.09.2021. Waegerle, Lisa (2021): Gesundheitsbezogene Stadtverhältnisse und Gerechtigkeit. Einsichten in gewobene Denk- und Wissenspraktiken, Dissertation, Raumplanung, TU-Dortmund, Dortmund, https://eldorado.tu-dortmund.de/hand le/2003/41015, zuletzt geprüft am 28.01.2023. Zapata Silva, Claudia (2019): Crisis del multiculturalismo en América Latina. Conflictividad social y respuestas críticas desde el pensamiento político indígena, Bielefeld: University Press.

335

Koloniale Ordnungen und dekoloniale Zukünfte

Plantagenzukünfte Katherine McKittrick

Im Jahre 1991 begann die US General Services Administration am Broadway 290 in Lower Manhattan mit Ausgrabungen und setzte den Ort frei, der heute als New York African Burial Ground bekannt ist. Auf diesem Friedhof, der von Ende des 17. Jahrhunderts bis 1796 genutzt wurde, waren zwischen zehn- und zwanzigtausend Schwarze versklavte Menschen begraben worden, ehe das Areal 1827 im Zuge verschiedener städtischer Expansionsprojekte zugeschüttet und überbaut wurde. Seit der Ausgrabung und den damit verbundenen Exhumierungen 1991 haben sich um Fragen nach dem Umgang mit und dem Gedenken an die Toten eine Reihe von Auseinandersetzungen entsponnen: Während die Schwarze Community einen Anspruch auf die Leichen und die Grabstätte erhob, um das Bewusstsein für die Versklavungsgeschichte zu erweitern, wurde ein immenser Druck auf Wissenschaftler*innen ausgeübt, innerhalb eines engen Zeitrahmens von zirka einem Jahr die sterblichen Überreste zu konservieren und Daten zu sammeln. Ursprünglich waren nur wenige Schwarze Forscher*innen eingeladen worden, sich an der Ausgrabung und Analyse zu beteiligen; und tatsächlich wurde über die Umstände der Ausgrabung und Konservierung der Leichname gesagt, sie seien respektlos und unsensibel gewesen, bis das Projekt 1994 von Michael Blakey, einem afroamerikanischen biologischen Anthropologen, an die Howard University gebracht wurde (Perry 1997). Nachdem die Überreste an der Howard University analysiert worden waren, wurden sie zurück nach Lower Manhattan gebracht, in einer offiziellen Gedenkstätte neu beigesetzt und im Rahmen einer African American Homecoming-Feierlichkeit geehrt. Die toten Versklavten entfachen eine Mischung aus wissenschaftlicher Aufregung und Trauer in der Schwarzen Community. Dieses Spannungsverhältnis zwischen einem ethischen Gedenken an eine von Tod und Sterben geprägte Geschichte einerseits und dem Lernen aus dieser andererseits wurde hier durch wissenschaftliche Analysen der Leichname gerechtfertigt, deren Ziel es war, in den menschlichen Überresten und rund

340

Koloniale Ordnungen und dekoloniale Zukünfte

um sie herum belastbare Fakten aufzuspüren und so zum Beispiel Unterernährung zu dokumentieren sowie Nachweise für religiöse Zeremonien und Begräbnispraktiken, DNA-Belege für afrikanische Abstammungen, die Ausprägung der Muskelentwicklung (und somit körperliche Hinweise auf die Arbeit der Versklavten), Beweise für anti-Schwarze Gewalt, Wunden und andere Dinge zu finden (siehe auch Handler 1994; Blakey 1998). Das 2005 als Modell enthüllte architektonische Ensemble der Gedenkstätte mit dem 2007 fertiggestellten Denkmal verkörpert ein komplexes Gedenken an Schwarze Geschichte. Es enthält eine ›Pforte der Wiederkehr‹ (door of return) und ruft dadurch auch die ›Pforte ohne Wiederkehr‹ (door of no return) auf. Laut der Website des National Park Service soll sie außerdem über die Schwarze Diaspora im städtischen Kontext informieren und die Erinnerung an sie bewahren, spiritualisieren, kartieren und ritualisieren sowie es ermöglichen, »in die Vergangenheit zurückzukehren, um die Zukunft zu erbauen« (African Burial Ground o.J.).

Plantagenzeit Ich habe den African Burial Ground an den Beginn dieses Aufsatzes gesetzt, weil er städtisches Leben als etwas geltend macht, das eine räumliche Kontinuität zwischen den Toten und den Lebenden, zwischen Wissenschaft und storytelling und zwischen Vergangenheit und Gegenwart eröffnet. Während viel über den Aufruhr und die Uneinigkeiten, den Kummer, die Hoffnung und die Wiederherstellung, die der ersten Ausgrabung 1991 folgten, erzählt werden könnte, hebt dieser Ort jedoch auch hervor, inwiefern die verstorbenen und vergessenen und nunmehr in Erinnerung gerufenen Körper Schwarzer Männer, Frauen und Kinder – noch immer begraben, noch immer verwesend und gegen den Zement stoßend, noch immer da – notwendig sind, um über die Stadt als Ort nachdenken zu können, an dem neue Formen menschlichen Lebens möglich werden (Confessore 2005; Phillips 1999). Tatsächlich lese ich diesen Ort als in Erwartung dessen, was Stevie Wonder als »living just enough/just enough for the city« (»gerade genug leben für die Stadt«)1 beschrieben hat:

1

Stevie Wonder: »Living for the City«, im Album Innervisions (Detroit: Tamla Records and Motown Records, 1973). Dieser Aufsatz kann auch zum Liedtext von Elvis Presley gelesen werden: »Now come along with me/We’ll do the plantation rock/It’s easy as can be/[…] Now do the plantation rock.« (»Komm mit mir mit jetzt/Wir tanzen den

Katherine McKittrick: Plantagenzukünfte

Es ist ein Ort Schwarzen Sterbens, der eine narrative Klanglandschaft in sich trägt, die auch ein aufrichtiges Ringen um das Leben verspricht. Die Geographien der Versklavung und des Post-Versklavung sowie der Enteignung Schwarzer Menschen (black dispossession) bieten Gelegenheit wahrzunehmen, dass das Recht auf Menschsein eine Geschichte rassifizierter Begegnungen und innovativer Praktiken der Schwarzen Diaspora in sich trägt, die Akte des Überlebens verräumlichen. Wenn, wie behauptet wird, der Friedhof in einem von anti-Schwarzer Gewalt geprägten Kontext »eine seltene Umgebung bot, in der die Versklavten ihre Menschlichkeit behaupten und ihre eigene Kultur achten konnten« (Blakey 1998: 53), dann zeigt er auch, dass es in den Amerikas unmöglich ist, die gebaute Umwelt, das Urbane und Schwarzsein voneinander zu trennen. Die Gegenwärtigkeit dieser Leichname, die Materialität des Friedhofs, der seltene Umstand, dass diese Toten in Gefangenschaft geehrt wurden, sowie das bewusste Gedenken an Schwarzsein kämpfen gegen die Wissenschaft der Taphonomie (Zerfall von Organismen), der Nekrologie (Absterben von Organismen) und der Diagenese (Veränderungen, die nach der endgültigen Beisetzung eintreten). So werden die physischen, chemischen und biologischen Überreste von Schwarzsein Teil der Produktion des Raums und der Stadtlandschaft. Von dieser Grabstätte lernen wir, dass das Erbe der Versklavung und der Arbeit von Unfreien ein Teil der Umwelt ist, die wir aktuell bewohnen, und diese zudem formt. Sie verweist auch auf das Stück Land, auf dem die Versklavten begraben sind, und bietet einen Möglichkeitsraum für das, was ich hier »Plantagenzukünfte« (plantation futures) nenne: Eine Konzeptualisierung von Zeit-Raum, die den Spuren der Plantage hin zum Gefängnis sowie zu verarmten und zerstörten Stadtteilen folgt und die somit deutlich macht, wie die Plantage eine weiterhin aktive Stätte antiSchwarzer Gewalt und anti-Schwarzen Todes ist, die diese Gewalt nicht länger analytisch aufrechterhalten kann. Für jene von uns, die ein Interesse daran haben, sich weiter mit race, Raum sowie vorzeitigem und vermeidbarem Tod auseinanderzusetzen, fordern Plantagenzukünfte ein dekoloniales Denken, das von menschlichem Leben ausgeht.

Plantagen-Rock/Es ist ganz einfach/… Tanz jetzt den Plantagen-Rock.«) Elvis Presley: »Plantation Rock«, im Album Elvis: A Legendary Performer, vol. 4 (New York: RCA, 1983) [im Original Fußnote 5, d. Übers.].

341

342

Koloniale Ordnungen und dekoloniale Zukünfte

Plantagenkontext In seiner Arbeit zur Schwarzen Diasporabevölkerung und -wirtschaft zeigt George Beckford überzeugend, dass das Plantagensystem während und nach der transatlantischen Versklavung Schwarzes Leben durchdrang, indem es zu den verflochtenen Wirkungsweisen von Enteignung und Widerstand beitrug (Beckford/Levitt 2000; [1972]1999). Beckfords Forschung – vor allem die im Laufe der 1970er Jahre veröffentlichte – lenkte die Aufmerksamkeit darauf, wie Plantagen mit einer breiteren globalen Wirtschaft verbunden sind, die auf der Basis der »anhaltenden Unterentwicklung« und »anhaltenden Armut« Schwarzen Lebens beruhten (Beckford 2000a: 242; [1972]1999). Durch seine Aufarbeitung der sozioökonomischen Logik der Plantokratien entwickelte er einen Zugang, der als seine ›Plantagenthese‹ (plantation thesis) bzw. ›Plantagenwirtschaftsthese‹ (plantation economy thesis) bekannt wurde. Diese besagt unter anderem, dass die Plantagen der transatlantischen Versklavung Grundlage der globalen Wirtschaft waren; dass die Geschichte der Plantagen nicht nur Reichtum in nordatlantischen Metropolen generierte und Enteignung unter den Unfreien und Vertragsarbeiter*innen verschlimmerte, sondern auch eine ausbeuterische rassifizierte Wirtschaft einleitete, die lange nach den verschiedenen Emanzipations- und Unabhängigkeitsbewegungen in den Amerikas weiterbestand; und dass die langwierige koloniale Plantagenlogik in vielerlei Hinsicht auch das Leben in der Post-Versklavung bestimmte (Beckford [1972]1999; Best/Levitt 2009). Beckfords Arbeiten zur Plantage zeigen auf, wie leidvolle, rassifizierte Geschichte/n die Möglichkeit in sich tragen, unsere kollektiven Zukünfte zu organisieren. Die Plantagenthese deckt die miteinander verflochtenen Wirkungsweisen von Moderne und Schwarzsein auf, die in beharrlichen, ungleichen rassifizierten Geographien kulminieren, während sie auch als zentral herausarbeitet, dass die Idee der Plantage wandelbar ist. Das bedeutet, dass in der Landwirtschaft, im Bankenwesen, Bergbau, Handel und Tourismus sowie in anderen kolonialen und postkolonialen Räumen – dem Gefängnis, der Stadt, dem Urlaubsort – gegenwärtig eine Plantagenlogik ähnlich zur (aber nicht identisch mit der) Versklavung auftritt – sowohl ideologisch als auch materiell (Beckford [1972]1999; Strachan 2002; Staples 1987; Hawkins 2010; Davis 2003). Verbunden damit treten auch verschiedene Formen des Überlebens auf – Kreolisierung, Blues, Marronage, Revolution und ähnliche –, die offenlegen, dass die Plantage, sowohl im Kontext der

Katherine McKittrick: Plantagenzukünfte

Versklavung wie der Post-Versklavung, entlang komplexer Aushandlungen von Zeit, Raum und Terror verstanden werden muss.2 Es ist die Plantage, die als Ankerpunkt für eine ganze Reihe an Debatten über die Funktionsweisen von anti-Schwarzem Rassismus und die verknotete-kreolisierte Organisation des diasporischen Lebens in der neuen Welt fungiert – Verbindungen, die sich in Pflanzenwelt und kulinarischer Welt, Politiken und Praktiken der Repräsentation, transnationalen sozioökonomischen Verflechtungen, dem Zeit-Raum des black Atlantic und anderem zeigen (Gilroy 1993; Carney 2009; Shange 1998; Hall 2003; Walcott 2000). W. E. B. Du Bois’ »The Philadelphia Negro«, eine Studie über die Erfahrungen und Kämpfe von Schwarzen im urbanen Raum, befasst sich mit den »Spuren« der Plantage (Du Bois [1899]1969). Die Plantage bildet auch die Einleitung zu Achille Mbembes Aufsatz über Nekropolitik und somit die Grundlage seiner Ausführungen zu Todesfällen und spätmoderner Gewalt (durch Zerstörung städtischen Lebensraums, Selbstmordattentate, Drohnenangriffe) (Mbembe 2003). Auch Nicholas Mirzoeff beginnt sein Projekt zu Kolonialität und Visualität, indem er die Praxis der ›Überwachung‹ (overseeing) von gleichzeitig Schwarzsein und Plantagenland reflektiert – was ihn schließlich zu seiner Analyse des nekropolitisch technologisierten und militarisierten Managements chaotischer Körper führt (Mirzoeff 2011). Es ergeben sich zwei Schemata der Plantage: Zum einen die Arten und Weisen, wie die Plantage eine Logik der Gegenwart aufzeigt und sich in Schwarzem Leben immer wieder von neuem wiederholt; zum anderen 2

Kreolisierung, Marronage, Revolution und Blues als Resultat von Plantokratien sind ausführlich dokumentiert. Für meine Überlegungen in diesem Zusammenhang waren verschiedene Texte hilfreich (Woods 1998, Brathwaite [1971]2008; Glissant 1989; James [1938]1989; Crichlow 2009). Interessanterweise versucht Crichlow der Plantage konzeptionell zu entkommen. Sie argumentiert überzeugend, dass Theorien der »Kreolisierung« allzu oft im Raum der Plantage mit versklavten Menschen ihren Ursprung nehmen und somit an ihn gebunden bleiben, wodurch sie die dynamischen, auf der ganzen Welt stattfindenden Kreolisierungsprozesse im Post-Versklavungskontext blockieren. Gleichzeitig weist sie darauf hin, dass die Plantage unsere Vorstellungen von Widerstand einschränkt – weil sie die Partikularität lokaler Kämpfe überschattet. Allerdings gelingt es Crichlow nicht, der Plantage zu entkommen, denn in ihrer Arbeit bleibt sie dem geographischen Versprechen verpflichtet, das in der Plantage weiter nachklingt: Einem Versprechen, in dem die Plantage die Möglichkeit in sich trägt, Kreolisierung neu zu historisieren und die globalen Wurzeln und Wege (roots/routes) solcher Schwarzer Geographien in der Gegenwart in den Fokus zu rücken. So mahnt uns dieses Projekt nachdrücklich, dass die Politik der Flucht eine Verleugnung der Schattenseiten darstellt [im Original Fußnote 11, d. Übers.].

343

344

Koloniale Ordnungen und dekoloniale Zukünfte

die Arten und Weisen, wie die Plantage zum bedeutsamen Konzept wird, das zumindest teilweise Post-Versklavungs-/Gegenwartstheorien zu Gewalt und Zerstörung des städtischen Lebensraums (urbicide) ermöglicht. Somit bildet die Plantage den Kontext, um die folgenden, miteinander verknüpften Fragen zu stellen: Was sind nennenswerte Charakteristika von Plantagengeographien und worum geht es, wenn eine Plantagenvergangenheit mit der Gegenwart verknüpft wird? Was entsteht, wenn wir die Plantage als Ausgangspunkt zum Nachdenken über gegenwärtige und bereits seit Langem bestehende Praktiken rassifizierter Gewalt nutzen? Wenn uns die Plantage zumindest zum Teil dahin geführt hat, wie und wo wir heute leben und demnach zu den rassifizierten Konturen ungleicher Geographien beiträgt, wie könnten wir ihr eine andere Zukunft geben? In diesem Aufsatz denke ich über den konzeptuellen Beitrag von Schwarzen Geographien und der Plantage nach. Die Plantage nehme ich dabei als bedeutsame historische Geographie wahr, die einen theoretischen Rahmen für ein Nachdenken darüber liefert, wie Schwarzes Leben und Schwarze Geschichte an Post-Versklavungskonzeptualisierungen von geographischer Gewalt (geographic violence) gekoppelt sind. Ein Teil dieser Arbeit beschäftigt sich damit, wie die Plantage Gewalt regulierte und normalisierte sowie Widerstand angefacht hat, und stellt dabei fest, dass sie – zumindest konzeptuell – zu einer totalisierenden Zukunft der Gewalttätigkeit führen kann. Da die durch die Plantagen der transatlantischen Versklavung produzierten Ungerechtigkeiten seit Langem bestehen und die Plantage ein theoretisches Schema bereitgestellt hat, um eine Reihe schwieriger Auseinandersetzungen zu betrachten, lohnt es sich auch, die Frage zu stellen, ob diese Ungerechtigkeiten notwendigerweise auf negative Weise vorwegnehmen, wie wir unsere kollektiven Zukünfte entwerfen. Diese Diskussion versteht die Plantage weder als konzeptuellen Pfad, der ausschließlich ein Schema von Unterdrückung/Widerstand bietet, noch verortet sie die Plantage als Ankerpunkt von anti-Schwarzer Gewalt und düsteren Zukünften. Vielmehr dienen diese Zugänge als Hintergrund meines Anliegens, geographische Mechanismen von Enteignung nachzuverfolgen, um die Plantage als Ort zu kontextualisieren, der auch eine Debatte von Schwarzem Leben im Kontext zeitgenössischer globaler Städte und Zukünfte eröffnet. Es ist an dieser Stelle wichtig zu beachten, dass ich mich mit einer unfertigen und rudimentären Absicht von der Plantage zur Stadt bewege und dabei Mbembes Hinwendung von der Plantage zur Zerstörung städtischen Lebensraums (plantation-urbicide) im Blick habe. Während Zeit-Raum von Bedeutung ist, lohnt es sich auch zu thematisieren, wie die Plantage – gerade weil sie rassi-

Katherine McKittrick: Plantagenzukünfte

fizierte Gewalt beherbergte und historisiert, dieneuartige Widerstandsformen notwendig machte –, ein bedeutsames konzeptuelles Abbild für gegenwärtige Stadtlandschaften ist, die weiterhin die Leben der am stärksten Marginalisierten beherbergen (Davis 2006). Die zeitgenössische Stadt, wie sie hier dargestellt wird, sollte nicht als der einzige Endpunkt der Plantagentheorie verstanden oder theoretisiert werden; vielmehr hoffe ich, dass mein Denken andere Überlegungen über Schwarze und rassifizierte Geographien voranbringen wird – einschließlich ländlicher, vorstädtischer, eingeschlossener (gated) Geographien und solcher jenseits der Amerikas –, die von der Art des Imaginierens von Plantagenzukünften, wie ich sie betreibe, profitieren können. Gestützt auf die Arbeiten von Sylvia Wynter und Dionne Brand und das Theoretische mit dem Kreativen verbindend, entwirft diese Auseinandersetzung Schwarze Geographien als die Orte, durch die bestimmte Kräfte des Imperiums (forces of empire) (Unterdrückung/Widerstand, Schwarze Unsterblichkeit, rassifizierte Gewalt, Zerstörung städtischen Lebensraums) eine Poetik hervorbringen, die eine dekoloniale Zukunft entwirft. Unsere zukünftigen Lebensweisen, wenn auch an Plantage, Imperium und Gewalt gebunden, müssen nicht zwangsläufig unseren spätmodernen Nekropolitiken der Gegenwart in zukünftiges Elend folgen, in dem Freiheit leblos ist und rassifizierter Terror der Akt, in dem diese Freiheit realisiert wird (Mbembe 2003). Stattdessen könnten unsere zukünftigen Lebensweisen sich auf eine dekoloniale Poetik stützen, welche die Schwarze Enteignung als ein ›Fragezeichen‹ versteht, das die Formen der Gewalt der Post-Versklavung auf den Punkt bringt und unsere derzeitige Lebensweise hinterfragt und somit eine Kritik genau jener historischen Prozesse bietet, die die manichäischen Funktionsweisen der Plantage zu »solch einem Ausmaß der Verwirklichung« (Wynter 1971: 97) brachten. Meine hier vorgeschlagene Lesart der Plantage und ihrer Zukunft – gezeichnet vom Leben, der Poetik, dem Theoretischen und Kreativen und geformt von einer Geschichte der Gewalt – ist von der Hoffnung geleitet, dass diese Arbeit einen kleinen Beitrag dazu leisten kann, einen neuen diskursiven Raum zu ermöglichen (Scott 1999: 96). Eben weil die Plantage die »eingebaute Fähigkeit besitzt, sich selbst zu erhalten« (Beckford 2000b: 46), täten wir gut daran, ihre Zukunft neu zu denken.

345

346

Koloniale Ordnungen und dekoloniale Zukünfte

Das Unbewohnbare Vergangene koloniale Begegnungen haben materielle und imaginäre Geographien geschaffen, die globale Segregationen verfestigen, durch die ›Vernichtung‹ von Räumen, die lange von Man’s Human Others bewohnt wurden.3 Vernichtung kann hier auf zwei miteinander verzahnte Weisen verstanden werden: als Einhegung und als Ablehnung von racial-sexueller Differenz. Das Unbewohnbare – insbesondere die Landmassen, die von jenen bewohnt waren, die im 15. und 16. Jahrhundert sowohl räumlich als auch körperlich unvorstellbar waren – ist der geographische (Nicht-)Ort, durch den die Plantage entstand. Von Calibans ›unbewohntem‹ Eiland in Shakespeares »Der Sturm« (orig: »The Tempest«) bis hin zu den Regionen in Afrika, die als zu heiß erklärt wurden, um bewohnbar zu sein: Die Landmassen, die als unbewohnbar bestimmt wurden, boten nach ihrer ›Entdeckung‹ ein geographisches Dilemma (Shakespeare [1623]2008: 21, 32).4 Wie wir wissen, wurden die Bewohner*innen des Unbewohnbaren – heimisch in Afrika und den Amerikas – als barbarisch und vernunftlos dargestellt, während ihr Land in profitable koloniale Außenposten und Siedlungen umgewandelt wurde. Anstatt diese schwierige, aber wohlbekannte Geschichte im Detail nachzuerzählen, ist es

3

4

Hier beziehe ich mich auf Sylvia Wynters Begriff des Man. Es handelt sich dabei um eine zweigliedrige Konzeptualisierung, eingeführt in »Unsettling the Coloniality of Being/Power/Truth/Freedom: Towards the Human, after Man, Its Overrepresentation – An Argument« (2003). Dieser Text macht darauf aufmerksam, wie die sozioräumlichen Ausformungen der westlichen Moderne – koloniale Begegnungen während und nach dem 15. und 16. Jahrhundert; die kopernikanische Revolution und der Aufstieg der Astronomie, Physik und physischer Geographie; die Säkularisierung des Man und seiner menschlichen Anderen innerhalb einer judeo-christlichen Umgebung; territoriale Ausbreitung und transatlantische Versklavung; Industrialisierung; der Aufstieg der biologischen Wissenschaften – sich überlappende herrschende Codes (Man1 und Man2) als Überrepräsentationen des Menschen schufen. Diese herrschenden Codes produzierten rassifizierte/nicht-europäische/nicht-weiße/der Neuen Welt zugeordnete/Indigene/afrikanische Bevölkerungen zunächst als gefallene unwahre Christ*innen (im 15. und 16. Jahrhundert) und später als biologisch fehlerhaft und verdammt (insbesondere im 18. und 19. Jahrhundert) [im Original Fußnote 21, d. Übers.]. Während das Stück auf den »stürmischen Bermudainseln« spielt, wird der (unter der Liste der handelnden Personen genannte) Schauplatz in Shakespeares »Der Sturm« – die Heimat von Caliban und seiner Mutter Syrcorax – als »unbewohntes Eiland« (Shakespeare [1623]2008: 21, 32) beschrieben. Siehe auch Matthew Sparke (2007) und Nicolás Wey Gómez (2008) [im Original Fußnote 22, d. Übers.].

Katherine McKittrick: Plantagenzukünfte

wichtiger darüber nachzudenken, wie es dazu kam, dass das ›Niemandsland‹ mit einer geographischen Sprache rassifizierter Abwertung verbunden wurde. Die Amerikas und Afrika wurden etwa auf der Basis eines europäischen zeitlichen Schemas der ›alten Welt‹, demzufolge das biosphärische Material, aus dem diese Regionen bestanden, ›neuer‹ war als die Erde, die Luft und das Wasser Europas, als geographisch unterlegen markiert. Diese geographische Anmaßung trug teilweise auch zum ›alten‹ europäischen Weltbild bei, demzufolge die Weltbilder jener, die in den ›neuen‹ Landmassen in Afrika und Amerika heimisch waren, noch im Werden begriffen und somit primitiv und unterentwickelt seien (Pagden 1994: 5–8, 116–118). Was also geographisch auf dem Spiel stand, als sich das europäische Zentrum nach außen ausdehnte, in einen Raum, der gleichzeitig ›nirgendwo‹ und von ›niemandem‹ bewohnt und doch unerwartet ›da‹ und ›bewohnt‹ war, sind race und rassifizierte Geographien. Tatsächlich organisierte ein »neues symbolisches Konstrukt von race«, das sich mit den kolonialen Ordnungen nach 1492 deckte, einen Großteil der Welt nach einer rassifizierenden Logik (Wynter 1995: 34, Herv. i.O.). Reservate für Indigene Menschen, Plantagen sowie formelle und informelle Segregation sind nur einige der Mechanismen, durch die das Niemandsland zerstückelt wurde, um zwischen Indigenen, nicht-Indigenen, afrikanischen und kolonialen Gemeinschaften zu unterscheiden und ihre Beziehungen zueinander zu regulieren, wobei einige Orte weiterhin als für bestimmte Gruppen unbewohnbar dargestellt wurden; Orte wie Reservate, Viertel der Versklavten und Auktionspodeste entstanden gemeinsam mit rassifizierenden Einteilungen. Nach dem Ansturm der Kolonisierung des Niemandslands folgte ein geographischer Prozess des kulturellen Austauschs in der Neuen Welt, der in ein rigoroses, nicht-homogenes menschliches Modell mündete: Geographien für weiße Männer, weiße Frauen, Indigene Männer, Indigene Frauen, Schwarze Männer und Schwarze Frauen. Natürlich gab es sich überlappende geographische Erfahrungen sowie Gesellschaften, die Unruhe in diese scheinbar getrennten Räumen brachten, aber diese Überschneidungen waren von einem übergreifenden System begleitet, in dem bestimmte Räume des Andersseins – in diesem Fall: Schwarze Geographien – als unvereinbar mit dem Menschsein angesehen wurden. Das Ineinanderwirken von menschlichem Ansehen, race und Raum zeigt, wie das Unbewohnbare weiterhin wirksam ist und gegenwärtige geographische (An-)Ordnungen organisiert. Die koloniale Herstellung und Umsetzung geographischen Wissens kartierte ›eine normale Lebensweise‹, indem sie unterschiedliche Grade des Menschseins maß und unterschiedliche Versionen

347

348

Koloniale Ordnungen und dekoloniale Zukünfte

des Menschlichen unterschiedlichen Orten zuteilte. Genau genommen war die Erweiterung dessen, was manche europäische ›Entdecker‹ für ›nicht vorhanden‹ hielten, ein geographisches System, das bald begann, Unterschiedlichkeit vor Ort zu organisieren, und das diesen Differenzierungsprozess als selbstverständliche bzw. normale Lebensweise betrachtete. Diese normale Lebensweise hat ihre Wurzeln in rassifizierter Abwertung; sie wird an jenen Orten räumlich offensichtlich, die von verarmten Gemeinschaften bewohnt und Schauplatz von Vergiftung, Umweltzerstörung, Verschmutzung und Militäreinsätzen sind – Geographien, die als Schlachtfelder oder als verbrannt, entsetzlich, besetzt, belagert, ungesund, ausgestorben, ausgehungert, gebeutelt und gefährdet beschrieben werden (Woods 2002; Pulido 2000; Mbembe 2003; Davis 2006). Es ist bemerkenswert, wie wir durch die Geographie die Vergangenheit in die Gegenwart und die Gegenwart in die Vergangenheit verfolgen können. Die historische Konstituierung des ›Niemandslands‹ kann – zumindest zum Teil – in Zusammenhang mit den gegenwärtigen und normalisierten Räumen der rassifizierten Anderen verstanden werden; damit werden die Geographien der rassifizierten Anderen des Lebens entleert, eben weil sie durch ihre historische Konstituierung zum Niemandsland gemacht wurden. So leben in der Gegenwart manche im Unlebbaren; und im Unlebbaren zu leben, verurteilt die Geographien der Marginalisierten immer wieder aufs Neue zum Tod. Leben wird dann also aus bestimmten Regionen extrahiert und damit manche Orte eher in inhumane statt in humane Geographien verwandelt. Oder jene, die außerhalb dessen leben, was als normal betrachtet wird, und jene, dieweiterhin das Unbewohnbare bewohnen, befinden sich derart außerhalb der westlichen bürgerlichen Vorstellung des Menschseins, dass ihre Geographien als unmenschlich, tot und sterbend dargestellt werden – bzw. dies tatsächlich werden. So können wir gemeinsam etliche Orte benennen, die als unbelebt gelten – ohne Geschichte, ohne Geographie oder passendes kapitalistisches lebenserhaltendes System: von Krieg gebeutelte Länder, Reservate, Ghettos, was als ›Globaler Süden‹ bezeichnet wird. Besonders das seit jeher beliebte Bestreben, ein leidendes Afrika und dessen Kinder zu ›retten‹, entwirft das Bild eines Kontinents, der gar nicht mehr menschlich ist, sondern nur noch ein lebensfeindlicher Raum, der von den rassistisch Abgewerteten, den bereits Toten und den Sterbenden bevölkert ist. Das deutet daraufhin, dass die Räume des Andersseins sich über die Zeit verhärtet haben – oft mit Schwarzen, ›verdammten‹ Körpern auf oder außerhalb der untersten Sprosse des Menschseins, welche somit Geographien bewohnen, die die meisten als

Katherine McKittrick: Plantagenzukünfte

unmenschlich oder unbewohnbar betrachten. Es kann kaum ein deutlicheres Beispiel für die wechselseitige Konstruktion von Identität und Raum geben. Wenn manche Orte in der allgemeinen geographischen Vorstellung als unbelebt dargestellt werden, wie verhält es sich dann mit den Bewohner*innen dieses Unbelebten? Und wie verhält es sich mit dem Weltbild derjenigen, die der Kategorie der Verdammten angehören – ist auch ihr Weltbild unbelebt, weil die Geographien, die die Marginalisierten umgeben, als tot gelten? In welcher Weise folgt die Entmenschlichung und rassifizierte Markierung mancher Gemeinschaften der gleichen kolonialen Logik, derzufolge das ›Human‹ in dem Wort ›Humangeographie‹ ein direkter Verweis auf Man ist, der nicht nur eine vollständige Variante des Menschseins repräsentiert (das Wir in Wir und die Anderen), sondern auf globaler Ebene natürlich die belebbaren, wohlhabenden, überentwickelten Länder bewohnt? Auf welche Weise impliziert diese koloniale Logik, dass Man’s Human Others (die Anderen in Wir und die Anderen) natürlich tote und sterbende Regionen bewohnen und zu arbeitslosen Unterschichten gemacht werden, deren Mitglieder in unserer aktuellen globalen Welt als unsere ›Abfallprodukte‹ fungieren müssen? (Wynter 2006: 123f.) Derart abgewertet, bewohnt ein Großteil der Erdbevölkerung – eine Bevölkerung, die Sylvia Wynter als die Aussortierten/Unvollkommenen/Wenigerals-Menschlichen (the dysselected/imperfect/less-than-human) bezeichnet – nicht kosmopolitische Städte, sondern Slums (Wynter 2003: 319). Wie sind die ›Niemandsländer‹ in der Gegenwart entstanden und wie wurde über diese ein Modus normalisiert, der den Planeten anhand von Leben und Unbelebtheit organisiert?

Plantagenlogik Anlass meiner Beschäftigung mit der Plantage ist die beschriebene Darstellung von Schwarzen Geographien als tote Räume absoluter Andersheit – gerade weil meine Forschung die Plantage als ultimativen Ort der Enteignung Schwarzer Menschen, von anti-Schwarzer Gewalt, rassifizierter Begegnung und innovativem Widerstand versteht. Tatsächlich ist es die Plantage, die auf einer Karte als Niemandsland gezeichnet und zu dem Ort wurde, an den Schwarze Menschen in den Amerikas ›verpflanzt‹ (planted) wurden – nicht als Teil der Gesellschaft, sondern als Waren, welche die Cash-Crop-Ökonomien ankurbeln sollten (Wynter 1971: 95). Innerhalb dieses geographischen Systems, in dem rassifizierte Gewalt an die Verwaltung von wirtschaftlichem Wachstum

349

350

Koloniale Ordnungen und dekoloniale Zukünfte

gebunden ist, werden die ›proteischen Fähigkeiten‹ Schwarzen Menschseins gelebt (Mbembe 2003: 22). Wie ich in »Demonic Grounds« anmerke, wird die Plantage oft als ›Stadt‹ mit einem gewinnbringenden Wirtschaftssystem und lokalen politischen und rechtlichen Regulierungen definiert (McKittrick 2005: 75). Die Plantage umfasst üblicherweise ein Hauptgebäude, ein Büro, eine Remise, Scheunen, ein Podest für Versklavungsauktionen, ein Gartenareal, Quartiere für Versklavte und Küche, Ställe, einen Friedhof sowie ein oder mehrere Gebäude für die Verarbeitung der Ernte wie etwa eine Mühle oder Raffinerie; die Plantage enthält zusätzlich Anbauflächen und Felder, Wälder und eine Weide. Plantagensiedlungen waren an Flüsse, Straßen und kleine Eisenbahnnetze angebunden – Transportanbindungen, die den Versand der Ernte, Versklavten und anderer Waren ermöglichte. Dies ist ein bedeutsamer geographischer Prozess, den wir uns vergegenwärtigen sollten, denn er zwingt uns, darüber nachzudenken, wie die Plantage zur Schlüsselfunktion dabei wurde, das Niemandsland in das ›Land von jemandem‹ umzuwandeln – mit Schwarzer Zwangsarbeit, die eine wirtschaftliche Struktur antrieb, welche grundlegend für die Entwicklung von Städten und Industrien in den Amerikas war. Die Plantage verräumlicht also frühe Konzeptionen städtischen Lebens innerhalb des Kontexts einer racial economy: Sie beinhaltete identifizierbare wirtschaftlichen Zonen; sie trieb wirtschaftliches und soziales Wachstum entlang von Transportkorridoren voran; die Landnutzung diente sowohl landwirtschaftlichem als auch industriellem Wachstum; Muster spezialisierter Aktivitäten wurden ausgeübt: von der Haus- und Feldarbeit über Schmiedehandwerk und Verwaltung hin zu religiösen Aktivitäten; rassifizierte Gruppen wurden auf unterschiedliche Weise in die lokale Wirtschaft eingebettet, und so weiter.5 In »Cabin, Quarter, Plantation« untersuchen Clifton Ellis und Rebecca Ginsberg Architektur und Landschaft von Plantagensiedlungen in Nordamerika. Sie leisten damit einen wichtigen Beitrag zu unserem Verständnis der racial economy, indem sie unsere Aufmerksamkeit auf »die Hand der versklavten Arbeiter*innen bei der (buchstäblichen) Umwandlung des Landes [lenken, … auf] die Anstrengungen von Pro-Sklaverei-

5

Die hier angeführten Muster frühen städtischen Lebens (voneinander unterscheidbare wirtschaftliche Zonen sowie Wachstum, Transport und spezialisierte Aktivitäten) basieren auf Leitideen in Nicholas R. Fyfe und Judith T. Kenny (2005) [im Original Fußnote 31, d. Übers.].

Katherine McKittrick: Plantagenzukünfte

Akteuren [beim Gestalten] einer Umwelt, die die Kontrolle und Überwachung der Aktivitäten von Versklavten ermöglichte, [… auf den] Umbau alter und Errichtung neuer Gebäudeformen durch Sklavenhalter*innen mit der Absicht, Architektur für die Unterwerfung und Kontrolle ihres menschlichen Eigentums einzusetzen« (Ellis/Ginsberg 2010: 2f.). Diese Merkmale – Wirtschaft, Landschaft, Architektur – gehen Hand in Hand mit verschiedenen Formen rassifizierter Gewalt, die Saidiya Hartman als »Szenen der Unterwerfung« (scenes of subjection) beschreibt: dem alltäglichen Terror des Plantagenlebens; den im Zeichen von Vergnügen, Paternalismus und Besitztum begangenen Grausamkeiten; dem Leid, den Vergewaltigungen und der Entpersonalisierung; der »brutalen Ausübung von Macht, die Widerstand Form verlieh« (Hartman 1997: 62). Während Plantagen sich über die Zeit und im Raum unterschieden, machen die Prozesse, durch die sie jeweils unterschiedlich betrieben und erhalten wurden, aufmerksam auf die Arten, wie rassifizierte Überwachung, anti-Schwarze Gewalt, sexuelle Grausamkeit und wirtschaftliche Akkumulation die räumliche Wirkung von race und Rassismus erkennbar werden lassen. In vielerlei Hinsicht kartographiert die Plantage spezifische Schwarze Geographien als erkennbar gewaltvoll und verarmt, wodurch sie die ungleiche Produktion von Raum normalisiert. Diese Normalisierung kann sich in der Gegenwart entfalten, wobei sich Schwarzsein und Geographie sowie Vergangenheit und Gegenwart ineinander verflechten und so gegenwärtige Orte der Unbewohnbarkeit aufzeigen. Die Rückkehr zur Plantage in der Gegenwart kann allerdings auch beunruhigende und widersprüchliche Analysen befördern: Jene, in denen die sozialräumlichen Wirkungsweisen anti-Schwarzer Gewalt die Schwarze Geschichte vollständig definieren; jene, die diese Vergangenheit als längst vorüber darstellen und die Plantage als ›rückständige‹ Institution verstehen, die wir hinter uns gelassen haben; oder jene, in denen sich die Plantage als getarnter Anachronismus, der das Gefängnis, die Stadt etc. hervorbringt, durch die Zeit bewegt. Diese Widersprüche erhalten, um es mit Kara Keeling auszudrücken, »gängige Gedächtnisbilder« (common memory images), die gewohnheitsmäßig hervorgebracht werden, um Schwarzsein als lautlos, leidend und immerzu geschändet zu konstruieren, während sie gleichzeitig auszublenden versuchen, wie anti-Schwarze Gewalt in der Gegenwart ausgeübt wird (Keeling 2007: 74). Anders ausgedrückt: Diese Art von analytischem Rahmen ist deswegen beunruhigend, weil sie den missbrauchten Schwarzen Körper als Ursprung Schwarzer Leben in der Neuen Welt archiviert und gleich-

351

352

Koloniale Ordnungen und dekoloniale Zukünfte

zeitig diese Geschichte in einem fast hermetisch verschlossenem Zeit-RaumKontinuum platziert, von dem ein linearer Fortschritt ausgeht, der sich von rassistischer Gewalt wegbewegt. Innerhalb dieses Rahmens gibt es einen unterschwelligen Drang danach, im Benennen von Gewalt Trost zu finden. Damit geht eine Erwartung einher, dass der Weg zur Besserung eine Evolution in Richtung eines Menschlichkeitsmodus sei, der durch Ungerechtigkeiten hervorgerufen wird. Ich denke nicht, dass wir Gewalt vergessen sollen oder die Praxis des Zurückkehrens zu den Grausamkeiten des Lebens auf der Plantage unethisch sei. Ich denke, dass die Frage der Begegnung oft durch unsere gegenwärtige Form des Menschseins gelesen wird, weil das Niemandsland mittels plantokratischer Logiken umgewandelt und rassifizierte Hierarchien des Menschseins verfestigt wurden; eine Begegnung, in der die Räume für uns (bewohnt vom säkulären, wohlsituierten Man und positioniert entgegen der unterentwickelten verarmten Räume für die Anderen) als jene Orte präsentiert werden, zu denen die Unterdrückten hinstreben sollten. In dieser Formulierung ergeben sich drei Unzulänglichkeiten: Die Versklavten, die in die Amerikas verpflanzt wurden, und ihr sense of place werden als normalerweise leblos, als Relikte der Vergangenheit, als ungeographisch und überwunden markiert; unseren gegenwärtigen Auseinandersetzungen mit rassifizierter Gewalt und Schwarzsein wird ein Kontext vorenthalten; und die mythisch-biologischen darwinistischen Konturen unserer Lesepraktiken offenbaren, dass »der/die Fitteste« zu sein ein von uns angestrebter Modus des Menschseins ist. Diese Unzulänglichkeiten drücken sich – wie üblich – gemeinsam mit dem Diskurs aus, dass alles deswegen besser geworden sei, weil die Zeit fortgeschritten ist. Was wäre, wenn die Plantage uns etwas Anderes anbietet? Was, wenn ihre Praktiken der Segregation, ökonomischen Ausbeutung und sexuellen Gewalt nicht eine normale Lebensweise abbilden, sondern eine andere Lebensweise? Was, wenn wir anerkennen, dass die Plantage, wie Toni Morrison schreibt, ein Raum ist, von dem alle weglaufen, aber über den niemand zu sprechen aufhört, und somit eine hartnäckige, hässliche Blaupause für unsere gegenwärtige Raumorganisation, die eine neue Zukunft in sich trägt (Morrison 1987: 13)? Und schließlich: Falls diese Konzeptualisierung möglich ist, wie können wir uns mit gegenwärtigen Formen rassifizierter und verräumlichter Gewalt sowie mit Schwarzen städtischen Geographien neu auseinandersetzen?

Katherine McKittrick: Plantagenzukünfte

Plot und Plantage6 In ihrem 1971 erschienen Aufsatz »Novel and History, Plot and Plantation« erklärt Wynter, dass nicht nur der Aufstieg der Plantage mit dem des Romans zusammenfällt – was auf zwei neue sozioökonomische Systeme des Welt-Machens hinweist (systems of world making) –, sondern dass die Plantage selbst der Schauplatz war, auf dem sich viele Romane bewegten. Sie führt weiter aus, dass die Marktwirtschaft der Plantage und die Geschichten, die den Wert der Plantagenwirtschaft erklärten, sich in einer legitimierenden und »offiziellen Geschichtsschreibung des Überbaus« einfügten und durch die das, was Wynter »verschwiegene Geschichten« (secretive histories) nennt, versteckt – aber nicht ausgelöscht – wurden (Wynter 1971: 101). Verschwiegene Geschichten sind in den plots im doppelten Sinn zu finden: Einerseits in dem plot als zentralem Narrativ des Plantagenromans, der den wirtschaftlichen Überbau der Plantage kontextualisiert und gleichzeitig einen kreativen Raum entwickelt, in dem dieses System infrage gestellt werden kann, und andererseits in den Parzellen (plots of land), die manchen versklavten Menschen zugeteilt wurden, damit sie sich mit darauf angebauten Lebensmitteln selbst ernähren und somit den Gewinn maximieren konnten – Parzellen (plots of land), die auch zum Fokus des Widerstands gegen die Plantagenwirtschaft als übergeordnetem System wurden. In beiden Fällen illustriert der plot eine soziale Ordnung, die im Kontext eines entmenschlichenden Systems entstand, indem er verräumlicht, was unter der Versklavung für unmöglich gehalten wurde: Das tatsächliche Wachsen von Erzählungen, Nahrung und kulturellen Praktiken, die die tiefen Verbindungen zwischen Schwarzsein und der Erde materialisieren und Werte fördern, die systemische Gewalt infrage stellen. Plot und Plantage sind einerseits dichotomisierte und ambivalente Geographien und andererseits genau jene Orte, durch die Schwarzsein in den Amerikas verwurzelt wird: »Für afrikanische Bäuer*innen, die auf den plot umgepflanzt [transplanted] wurden, […] blieb dieses Land die Welt. [Sie] nutzten das Land, um sich zu ernähren und, um der Erde die erste Ernte darzubieten; [das] Begräbnis war die mystische Wiedervereinigung mit der Erde. […] Rund um den Anbau der

6

Anm. d. Übers.: Wir verwenden im folgenden Abschnitt den englischen Begriff plot, um auf die doppelte Bedeutung von Handlung (den plot eines Romans) und Grundstück (plot of land) hinzuweisen.

353

354

Koloniale Ordnungen und dekoloniale Zukünfte

Yamswurzel, von Nahrung für das Überleben, schufen [sie] auf dem plot eine Volkskultur.« (Wynter 1971: 99) Wynters Erkenntnisse sind deswegen nützlich, weil sie uns weder zur Plantage zurückführt, um anti-Schwarze Gewalt zu benennen und damit ins Zentrum zu stellen, noch eine Lesart des Romans und des plot anbietet, die voreilig subalternen Widerstand feiert. Gleichzeitig sind ihre analytischen Provokationen meines Erachtens nicht mit einer Linearität verbunden, die von einer Plantagenlogik abhängt, welche sowohl ihren Anfang als auch ihr Ende in andauerndem Schwarzen Sterben (unending black-death) hat. Stattdessen schafft Wynter ein theoretisches Gerüst, das sich auf neuartige Weise damit auseinandersetzt, wie unsere gegenwärtigen räumlichen Kämpfe rund um race, Segregation und Gewalt neu gedacht werden könnten. Meine Überlegungen dazu werden klarer, wenn ich »Plot and Plantation« mit Wynters Konzept der »dechiffrierenden Praxis« (deciphering practice) zusammen lese: »Eine dechiffrierende Praxis versteht die bestehenden Ungleichheiten unserer Ordnung sowohl als ausdrucksvolle Umsetzung des geltenden Codes von Leben und Tod als auch als das Verzeichnis von »rhetorischen Mystifizierungen«, die am Werk sein müssen, um zu bestimmen, wie diese Ordnung normativ gefühlt und gewusst werden soll, wenn die kollektiven Verhaltensweisen, von denen die strukturierenden Prozesse dieser Ordnung geschaffen werden, dynamisch hervorgerufen und stabilisierend wiederholt werden müssen. Eine dechiffrierende Praxis schlägt deshalb vor, dass die Arten, wie jedes kulturspezifische normale Subjekt seine soziale Realität kennt und sich in Bezug auf diese fühlt, […] keinesfalls als Hinweis darauf verstanden werden sollten, was die empirische Realität unseres sozialen Universums ist.« (Wynter 1992: 271, Herv. i.O.) Das Dechiffrieren einer Plantagenlogik funktioniert über drei Themengebiete hinweg: Es identifiziert die normalisierenden Mechanismen der Plantage, in denen die Unterwerfung Schwarzer Menschen und die Ausbeutung des Landes Hand in Hand gehen und den sicheren (gegenwärtigen) Tod herbeiführen; es erkennt unsere kollektive Teilhabe an und unser rhetorisches Bekenntnis zu einer Reproduktion dieses Systems, als ob es natürlich, unausweichlich und eine normale Lebensweise wäre; und es versteht Plot und Plantage als neuen analytischen Boden, der ein Wissenssystem hervorbringt, das außerhalb des Rahmens der Normalität entsteht und daher von Grund auf die Regeln eines von rassifizierter Ge-

Katherine McKittrick: Plantagenzukünfte

walt profitierenden Systems ablehnt und somit nicht eine rein gegensätzliche Erzählung anstrebt, sondern eine Zukunft, in der eine ko-relationale Perspektive der menschlichen Spezies gewürdigt wird. Die erzwungene Verpflanzung von Schwarzen Menschen in die Amerikas ist mit einem Bewusstsein dafür verbunden, wie Land und Ernährung alternative Weltbilder unterstützen und aufrechterhalten und sich gegen Praktiken der Entmenschlichung wenden können. Es lohnt sich zu wiederholen, dass diese alternativen Weltbilder nicht von der Plantage abgeschottet oder schlicht im Gegensatz zu ihr entwickelt wurden; vielmehr waren sie mit den Geographien der Plantagenwirtschaft und den Grausamkeiten der Versklavung verbunden. Durch die Gewalt der Versklavung erschafft die Plantage Schwarze Verwurzelung an diesem Ort – gerade weil das Land zur zentralen Voraussetzung dafür wird, dass Schwarze Menschen gleichzeitig überleben und dazu gezwungen werden konnten, die Plantagenmaschinerie anzutreiben. Analytisch betrachtet, können durch die eher zeitlich parallelen als dichotomisierten Wirkungsweisen von dem Stück Land (plot) und der Plantage – gemeinsam mit dem kreativen Wirken des plot im Roman verstanden – Politiken des Widerstands verändert werden. Wynters Aufsatz deutet darauf hin, dass Plantagenzukünfte zwei Wege gleichzeitig beschreiten können: Erstens dahin, wo das zugrundeliegende System unberührt bleibt und es uns überlassen bleibt, es zu verteidigen und zu rechtfertigen, und zweitens dahin, wo das Bewusstsein für die Funktionsweisen des Systems in einem (kreativen und geographischen) Plot-Leben hervorgebracht und gleichzeitig diese seit Langem bestehende Logik infragestellt wird (Wynter 1971: 102). Ich denke, dass die letztgenannte Zukunft dem unvermeidbaren Schwarzen Sterben (black-death) nicht standhalten kann, weil sie voraussetzt, dass wir uns Schwarzes Leben (black-life, Herv. von life i.O.) als vorhersehbar vorstellen. In einem solchen Verständnis ist die Figur des Schwarzen Subjekts – in Geographien der Versklavung und Post-Versklavung, in Leben und Sterben – ursprünglich und verwurzelt im Kontext einer Gewalt, die zukünftige menschliche Handlungsmöglichkeiten nicht gänzlich bestimmen kann. Wenn wir davon ausgehen, dass die Stadt der kommerzielle Ausdruck der Plantage und ihrer marginalisierten Menschenmassen ist, und dass die Plantage eine hartnäckige, hässliche Blaupause für unsere zeitgenössischen räumlichen Kämpfe in der Gegenwart darstellt, dann fordert Wynters Aufsatz uns dazu auf, verschwiegene Geschichten ausfindig zu machen, die nicht darauf aus sind, Leblosigkeit, den misshandelten Schwarzen Körper und in Authentizität wurzelnde Widerstandspraktiken zu wiederholen und zu

355

356

Koloniale Ordnungen und dekoloniale Zukünfte

fördern. Die Plantagen-Stadt macht uns auf ein Narrativ von Schwarzsein aufmerksam, das der Moderne implizit und in den Amerikas beheimatet und somit eine Konzeption der Stadt ist, die von einer Version Schwarzer Geschichte durchdrungen ist, welche weder feierlich noch dissident ist. Diese Schwarze urbane Präsenz – Schwarzes Leben – legt einen Modus des Menschseins frei, der zwar oft aus der offiziellen Geschichte gelöscht, aber nicht Opfer und enteignet und dem Land völlig fremd ist; vielmehr definiert er die Bedingungen neu, wer und was wir im Angesicht einer Weltdeutung sind, die zwar schmerzvoll ist, die aber nicht versucht, einen Ort zu bewohnen, der dem des ›Stärksten‹ (the fittest) entspricht, sondern die stattdessen unsere gegenseitig konstitutiven und relationalen Versionen des Menschseins würdigt. Die Plantage, die die Stadt prägt, postuliert also nicht unbedingt – inmitten von fortwährender rassifizierter Gewalt –, dass alles besser geworden sei, sondern dass die Schwierigkeiten, mit denen wir konfrontiert sind, in intellektueller Hinsicht eine Fortführung von Plantagennarrativen sind, die Geographien in wir/sie einteilen und verschwiegene Geschichten verstecken, die die teleologischen und biozentrischen Fundamente von Räumlichkeit aufheben.

Plantagenzukünfte Was für eine Zukunft kann uns die Plantage also anbieten? Wenn wir Schwarze Geographien als sich gegenseitig konstituierende, umfassendere geographische Prozesse konzipieren, wie ermöglicht es dann Wynters Ansatz, uns mit historisch gegenwärtigen Praktiken rassifizierten Ausschlusses auseinanderzusetzen, ohne die am stärksten Marginalisierten in Räume absoluter Andersheit zu verdammen? Ich schließe meinen Aufsatz, indem ich mich Dionne Brands Langgedicht »Inventory« (»Bestandsaufnahme«) zuwende; dabei lese ich es als kreatives Werk, das die gängige Teleologie rassifizierter Gewalt angreift. In der Erweiterung dekolonialer Politik und dekolonialen Denkens – den gemeinschaftlichen Anstrengungen, Dekolonisierung und die Moderne als unabgeschlossene Projekte zu verstehen – begreife ich »Inventory« als Text der dekolonialen Poetik: Diese Poetik verweilt bei der Gewalt der Post-Versklavung (postslave violences), um einen Kontext zu schaffen, durch den Schwarze Zukünfte vorstellbar werden (Maldonado-Torres 2011: 2). Der dekoloniale Beitrag von »Inventory« besteht daher nicht im Archivieren und Benennen von Gewalt, sondern in den Erkenntnismöglichkeiten, die sich bieten, wenn

Katherine McKittrick: Plantagenzukünfte

die Opferdaten verbunden mit Kreativität aufgenommen werden. Ausgehend von meiner bisherigen Auseinandersetzung betrachte ich »Inventory« als ein ungewöhnliches, kreatives Werk, das die Regeln des von rassistischer Gewalt profitierenden Systems ablehnt und somit eine Zukunft ausmalt, in der eine ko-relationale Perspektive der menschlichen Spezies gewürdigt wird. Indem sich der Text an seine*n Leser*in wendet, entstehen Möglichkeiten der Zusammengehörigkeit (corelatedness) – und die Plantage erhält eine andere analytische Zukunft (analytical future). »Inventory« besteht aus sieben Teilen. Der erste Teil beginnt mit: »We believed in nothing.« (»Wir haben an nichts geglaubt.«) (Brand 2006: 3)7 Davon ausgehend führt Brand ihre*n Leser*in an verschiedene Orte, von den hoffnungsvollen Enttäuschungen der Bürger*innenrechtsbewegung zum Trauern um die Sängerin Nina Simone und die Aktivistin Marlene Green. Das Gedicht bewegt sich vom kriminalisierten Schwarzen urbanen Raum in Kanada – das Jane-and-Finch-Viertel in Toronto – zu Reisenden, deren Fingerabdrücke genommen werden. Hier schreibt Brand auch über die Straßen von Kairo, Bagdad und Darfur. Durch diese Straßen und Geschichten können wir Stevie Wonders Großstadt-Blues nachspüren, sowie den Häusern von Miami, die sich an die Erde klammern, John Coltranes Stellar Regions, endlosen Einkaufszentren, den Science-Fiction-Storys von Demokratie, den Sturmschäden von New Orleans und den Bomben. Hurrikan Katrina, die Terroranschläge vom 11. September 2001, die 1960er Jahre und die Irak-Invasion tauchen im Laufe des langen Gedichts immer wieder auf. Im dritten Teil sitzt die erzählende Figur weinend vor dem Fernseher und zählt Bomben und Bombentote: eine Feuerbombe in Nashville, eine Bombe in einem Football-Stadion; dreiundzwanzig von einer Selbstmordbombe getötet, acht von einer Selbstmordbombe, zwei Männer und ein Kind von einer Autobombe, zerbombte Schuhe: eight hundred every month for the last year, and one hundred and twenty in a brutal four days things, things add up. (52)

7

Anm. d. Übers.: Wir geben für das Gedicht jeweils sowohl den englischen Text als auch eine deutsche Übersetzung wieder. Diese Übersetzung ist primär als Verständnishilfe für das Lesen des englischen Gedichts gedacht und unterscheidet sich dementsprechend von anderen möglichen Übersetzungen wie etwa einer stärker lyrisch orientierten Übersetzung des gesamten Langgedichts.

357

358

Koloniale Ordnungen und dekoloniale Zukünfte

achthundert jeden Monat des letzten Jahres, und einhundertzwanzig in grauenvollen vier Tagen es häuft sich immer mehr an. »Inventory« ist ein anstrengender Text – er ist anstrengend, weil er auf empirisch poetische Weise unsere unerträgliche Welt dokumentiert. Er ist anstrengend, weil er eine verstehbare und erschöpfende Liste der Verzweiflung darstellt: She’s afraid of killing someone today, picked up laundry, ate pasta, and a citrus tart, bought a book, drove a street. (76) Sie hat Angst, heute jemanden zu töten, holte die Wäsche ab, aß Pasta und eine Zitronentarte, kaufte ein Buch, fuhr eine Straße entlang. Brands Langgedicht kann ohne Schwierigkeit als tabellarische Auflistung der Akte einer Zerstörung städtischen Lebensraums (urbicide) verstanden werden: Consider then the obliteration of four restaurants, the disappearance of sixty taxis each with one passenger of four overcrowded classrooms, one tier of a football stadium, the sudden lack of, say, cosmeticians ............................................................ vanished, two or three hospital waiting rooms, the nocturnal garbage collectors gone. (78) Denken wir an die Vernichtung von vier Restaurants, das Verschwinden von sechzig Taxis mit je einem Fahrgast, von vier überfüllten Klassenzimmern, einem Rang eines FootballStadiums, den plötzlichen Mangel an, zum Beispiel, Kosmetiker*innen. ............................................................ verschwunden, zwei, drei Krankenhaus-Wartezimmer, die nächtlichen Müllsammler*innen fort.

Katherine McKittrick: Plantagenzukünfte

Tatsächlich lässt das Langgedicht die*n Leser*in an den gewaltvollen Taten, der Verzweiflung und der Hoffnungslosigkeit teilhaben, die die Bestandsaufnahme der Künstlerin ermöglicht – Sterben kann mathematisch berechnet und erfasst werden: still in June, in their hiatus eight killed by suicide bomb at bus station, at least eleven killed in Shula at restaurants, at least fifteen by car bomb. (25) noch im Juni, acht in ihrer Pause an Bushaltestelle von Selbstmordbombe getötet, mindestens elf in Shula in Restaurants getötet, mindestens fünfzehn durch eine Autobombe. »Inventory« kann als systematische Darstellung und Aufzählung von rassistischer Gewalt und Sterben gelesen werden, aber auch als Fürsprache für das Leben. Genauer gesagt, dokumentiert »Inventory« den vorhin erwähnten linearen Verlauf des niemals endenden Sterbens und nimmt ihn gleichzeitig zurück. Möglicherweise können Brands poetische Bestandsaufnahmen die von Kenneth Hewitt so bezeichnete Sterblichkeit des Ortes (mortality of place) aufdecken. In seinem Beitrag zur Flächenbombardierung zeigt Hewitt die Verbundenheit von biologischem menschlichem Leben und Örtlichkeit auf: »Überleben und Vergänglichkeit als Herausforderungen unserer biologischen Existenz gelten genauso für Orte. Genau wie biologisches Leben als eine Abfolge von Aktivitäten bezeichnet werden kann, die dazu dienen sollen, sich dem Tod zu widersetzen, so bieten unsere Lebensorte und die Welt zumindest zum Teil einen Weg, sich psychosozialer und kultureller Auflösung zu widersetzen.« (Hewitt 1983: 258) Expressive Texte wie Brands »Inventory« bieten eine Möglichkeit, die Vergänglichkeit von Orten offenzulegen. Diese Erzählungen – Texte, die sonst als ungeographisch und als von der empirischen Arbeit der Stadtplanung politisch abgekoppelt verstanden würden – legen Zeugnis ab von der Zerstörung von Orten, indem sie die Herausforderungen menschlicher Existenz aufrufen. Möglicherweise besteht die Leseaufgabe, zu der uns »Inventory« auffordert, nicht nur darin, eine transparente Aufzählung zu konsumieren, sondern vielmehr darin, sich gemeinsamen an menschlichen Anstrengungen

359

360

Koloniale Ordnungen und dekoloniale Zukünfte

zu beteiligen und die Praxis des Rechenschaftablegens für die Grausamkeiten unserer Welt zur*m Leser*in zu schieben. Den Text zu lesen – »our grief will dry lakes« (»unsere Trauer wird Seen trockenlegen«, Brand 2006: 61) – verlangt von den Lesenden, dass sie die Tatsachen zur Kenntnis nehmen, indem sie sich fragen, warum die Dichterin diese Tatsachen feststellt, aufschreibt und in Versform gebracht hat. Sich einer dekolonialen Poetik zuzuwenden, die von solchen diasporischen Gemeinschaften geschaffen wurde, die gewaltvolle Vertreibung und weiße Vorherrschaft überlebt haben, erlaubt uns, ungesehene und unerkundete Aspekte von Stadt-Leben zu erkennen und damit StadtSterben nicht als biologisches Ende und biologische Tatsache darzustellen, sondern als Pfad hin zu einer Ehrung von menschlichem Leben und dem, was W. E. B. Du Bois unsere Kummerlieder (sorrow songs) nannte – »die Ausdrücke menschlicher Erfahrung«, die vernachlässigt, missverstanden, verabscheut wurden (Du Bois [1903]1990: 180–181). Brands Langgedicht weist darauf hin, dass Schwarze Perspektiven auf die Stadt diejenigen Räume absoluter Andersheit, so oft bewohnt von den rassifiziert und ökonomisch Verdammten, als Geographien offenbaren, die von Überleben, Widerstand, Kreativität und dem Kampf gegen den Tod geprägt sind. Anders ausgedrückt, könnten wir das Gedicht nicht als Text lesen, der ein lineares Voranschreiten zum Tod nachverfolgt, sondern die kreativen Konsequenzen des plot und der Plantage – eine Konzeption der Stadt, die durchdrungen ist von einem Narrativ Schwarzer Geschichte, das weder feierlich noch dissident ist, sondern in einer Auffassung von Stadt-Leben wurzelt, die akzeptiert, dass Gewalt- und Herrschaftsverhältnisse unsere Existenz und Präsenz in den Amerikas ermöglicht haben, während sie dieses Wissen umformuliert, um eine alternative Zukunft zu entwerfen. »Inventory« verlangt eine ethische Auseinandersetzung. Brands Werk verweigert sich oft einem Bekenntnis zu unserer aktuellen Ordnung. Die Dichterin schreibt Geographie und ihre eigenen politischen Zugehörigkeiten zum Raum als Bekräftigungen des Menschseins und weniger beschränkt auf eine Seite einer in insider/outsider getrennten Welt (Sanders 2006; Walcott 2003; McKittrick 2006). Diese Positionierung der Dichterin ist bedeutsam, weil sie sich der Bequemlichkeit von wir/die-Paradigmen verweigert, während Brand selbst Städte und andere Räume im Angesicht ihrer eigenen Schwarzen Diasporageschichte neu schreibt. Das ist, zumindest für mich, eine radikale Politik, denn wir werden darin nicht einfach dazu aufgefordert, zukünftiges Elend (future-misery) aufzuspüren, sondern unsere eigene schwierige Gegenwart zu bezeugen, um sowohl die Plantage als auch die Stadt anders

Katherine McKittrick: Plantagenzukünfte

zu denken. Gelesen ohne klare Bindung an eine Nation, gelesen ohne das Verdienst, unzählige Todesfälle zu bezeugen, gelesen als dekoloniale Poetik, die sich an anti-Schwarze Gewalt erinnert und mit dem Iraq Body Count Project, mit Nachrichtensendungen und mit Vögeln, die von Baum zu Baum fliegen, verbindet, müssen die in »Inventory« zusammengetragenen Todesfälle in Städten mit einem anderen Verfahren gelesen werden. Die Listen und Verzeichnisse, die Toten und Sterbenden könnten als eine Möglichkeit gelesen werden, zu verdeutlichen, dass Akte genozidaler und ökozidaler Gewalt, um zu Wynter zurückzukehren, »keinesfalls als Hinweis darauf angesehen werden [sollten], was die empirische Realität unseres sozialen Universums ist« (Wynter 1992: 271, Herv. i.O.). Die Ästhetik, die uns Brand in »Inventory« liefert, kann also als Erkenntnisweg dafür verstanden werden, wie die Normalisierung von Todeszahlen und Todesfällen in den Städten die Art und Weise offenlegt, in denen unsere gegenwärtigen Stadtplanungssysteme und die damit verbundenen Formen des Stadtlebens – die üblicherweise guten Städte und die üblicherweise schlechten Städte – uns faktisch an einen Prozess der moralisch-geographischen Überlegenheit und Unterlegenheit binden, wobei eine ortsgebundene Sterblichkeit als nachteilig markiert wird. Anders ausgedrückt: Brands Poetik deckt die normalisierende Wirkung auf, die der menschliche Tod und der Tod der Stadt haben können, wenn sie als Maßstab für die Verfassung menschlichen Lebens betrachtet werden. Daraus folgt, dass Brands Langgedicht als Bestandsaufnahme gelesen werden kann, die die Voraussetzungen infrage stellt, welche die Zerstörung städtischen Lebensraums (urbicide) möglich und sinnvoll verständlich machen. So gelesen fordert die dekoloniale Poetik von »Inventory«, dass wir, seine Leser*innen, zur Rechenschaft gezogen werden für die tödlichen Moralvorstellungen, die die Räume absoluter Andersheit, die von Nicht-Überlebenden (unsurviving) bewohnt werden, regulieren und von denen wir profitieren. Die Opferzahl, die einen Großteil von »Inventory« umfasst – 800 jeden Monat des letzten Jahres,8 120 in vier Tagen – dreht sich also auch um Überleben und menschliches Leben bzw. um einen neuen Raum der Mathematik, in dem die Berechnungen menschlicher Handlungen und gemeinschaftlicher menschlicher Anstrengungen der Poesie begegnen, um die offensichtliche Sackgasse, die so oft mit Gewaltanalysen verbunden ist, neu auszurichten (Brand 2006: 21–52). Wenn wir mit »Inventory« arbeiten, müssen wir Stadt-Leben anders würdigen 8

Anm. d. Hg.: im Originaltext wird kein Referenzjahr angegeben, es ist jedoch von 2005 auszugehen, da das zitierte Gedicht im Jahr 2006 veröffentlicht wurde.

361

362

Koloniale Ordnungen und dekoloniale Zukünfte

und leben. Das anspruchsvolle Gedicht verlangt von uns, Städte und globale Kämpfe, Plantagenvergangenheiten und -zukünfte als Voraussetzung für das gesamte menschliche Leben – selbst im Tod – und auf den Anstrengungen des Überlebens basierend zu verstehen. Hier entwickeln wir eine Vision von einem Leben am Rande, von einer Geographie, die erfordert, am Leben zu bleiben, auch wenn sie gleichzeitig lebensbedrohlich ist, von einer räumlichen Politik der Genügsamkeit – genügsam genug für die Stadt (a spatial politics of living just enough, just enough for the city); dies ist ein politischer Ort, der menschlichere und veränderbare, räumliche Praktiken unterstützt.

Danksagungen Simone Browne, Mark Campbell, Rinaldo Walcott, Sylvia Wynter, David Scott und die anonymen Gutachter*innen haben diesen Aufsatz jeweils auf verschiedene Arten wesentlich gestärkt. Alle Unzulänglichkeiten des Texts liegen in meiner Verantwortung.

Übersetzung Übersetzt aus dem Englischen von Boka En und Michael En mit editorischer Überarbeitung und Austausch mit der Autorin zur Übersetzung zentraler Begriffe durch die Herausgeberinnen. Für ihre ausführlichen Erläuterungen danken wir Katherine McKittrick sehr herzlich. Sofern nicht anders angegeben, wurden die im Text vorkommenden Zitate aus englischsprachigen Werken ebenfalls von Boka En und Michael En ins Deutsche übersetzt. Ursprünglich erschienen als: »Plantation Futures« (2013) in: Small Axe 17(3): 1–15. Übersetzt und abgedruckt mit freundlicher Genehmigung von Duke University Press. © Duke University Press

Literatur African Burial Ground (2010): The African Burial Ground: Return to the Past to Build the Future, Link aus dem Original inaktiv: https://www.africanburialgroun d.gov/ABG_Memorial.htm, zuletzt geprüft am 06.09.2010. Aktuelle Links

Katherine McKittrick: Plantagenzukünfte

zum African Burial Ground: https://www.nps.gov/articles/afamburial.ht m, https://www.nps.gov/afbg/index.htm, zuletzt geprüft am 02.08.2021. Beckford, George L. ([1972]1999): Persistent Poverty. Underdevelopment in Plantation Economies of the Third World, Kingston, Jamaica: University of the West Indies Press. Beckford, George L. (2000a): »Institutional foundations of resource underdevelopment in the Caribbean«, in: George L. Beckford, Kari Levitt (Hg.): The George Beckford Papers, Kingston: Canoe Press, S. 242–259. Beckford, George L. (2000b): »Agriculture Organization and Planning in Cuba«, in: George L. Beckford, Kari Levitt (Hg.): The George Beckford Papers, Kingston: Canoe Press. Beckford, George L.; Levitt, Kari (2000): The George Beckford Papers, Kingston: Canoe Press. Best, Lloyd; Levitt, Kari (2009): Essays on the Theory of Plantation Economy. A Historical and Institutional Approach to Caribbean Economic Development, Kingston: University of the West Indies Press. Blakey, Michael L. (1998): »The New York African Burial Ground Project. An Examination of Enslaved Lives, a Construction of Ancestral Ties«, in: Transforming Anthropology 7(1), S. 53–58. Brand, Dionne (2006): Inventory, Toronto: McClelland & Stewart. Brathwaite, Edward K. ([1971]2008): The Development of Creole Society in Jamaica 1770–1820, Kingston: Ian Randle Publishers. Carney, Judith A.; Rosomoff, Richard N. (2009): In the Shadow of Slavery. Africa’s Botanical Legacy in the Atlantic World, Berkeley: University of California Press. Confessore, Nicholas (2005): »Design Is Picked for African Burial Ground, and the Heckling Begins«, in: New York Times vom 30.04.2005, https://www.ny times.com/2005/04/30/nyregion/design-is-picked-for-african-burial-gro und-memorial-and-heckling.html, zuletzt geprüft am 05.07.2021. Crichlow, Michaeline A. (2009): Globalization and the Post-Creole Imagination. Notes on Fleeing the Plantation, Durham, NC: Duke University Press. Davis, Angela Y. (2003): Are Prisons Obsolete?, New York: Seven Stories Press. Davis, Mike (2006): Planet of Slums, New York: Verso. [Deutsch: Davis, Mike (2007): Planet der Slums, Hamburg: Assoziation A.] Du Bois, W. E. B. ([1899]1969): The Philadelphia Negro. A Social Study, New York: Schocken.

363

364

Koloniale Ordnungen und dekoloniale Zukünfte

Du Bois, W. E. B. ([1903]1990): The Souls of Black Folk, New York: Vintage Books. [Deutsch: Du Bois, W. E. B. (2003): Die Seelen der Schwarzen – The Souls of Black Folk, übersetzt von Jürgen Meyer-Wendt, Freiburg: Orange Press.] Ellis, Clifton; Ginsberg, Rebecca (2010): »Introduction«, in: Clifton Ellis, Rebecca Ginsburg (Hg.): Cabin, Quarter, Plantation. Architecture and Landscapes of North American Slavery, New Haven, CT: Yale University Press, S. 2–3. Fyfe, Nicholas R.; Kenny, Judith T. (Hg.) (2005): The Urban Geography Reader, New York: Routledge. Gilroy, Paul (1993): The Black Atlantic. Modernity and Double Consciousness, Cambridge, MA: Harvard University Press. Glissant, Edouard (1989): Caribbean Discourse. Selected Essays, Charlottesville: University Press of Virginia. Hall, Stuart (2003): »Creolization, Diaspora, and Hybridity«, in: Okwui Enwezor, Carlos Basualdo, Ute Meta Bauer (Hg.): Creolite and Creolization, Hamburg: Hatje Cantz Verlag, S. 185–198. Handler, Jerome S. (1994): »Determining African Birth from Skeletal Remains. A Note on Tooth Mutilation«, in: Historical Archaeology 28(3), S. 113–119. Hartman, Saidiya V. (1997): Scenes of Subjection. Terror, Slavery, and Self-Making in Nineteenth-Century America, New York: Oxford University Press. Hawkins, Billy C. (2010): The New Plantation. Black Athletes, College Sports, and Predominantly White NCAA Institutions, New York: Palgrave Macmillan. Hewitt, Kenneth (1983): »Place Annihilation. Area Bombing and the Fate of Urban Places«, in: Annals of the Association of American Geographers 73(2), S. 257–284. James, C. L. R. ([1938]1989): The Black Jacobins. Toussaint l’Ouverture and the San Domingo Revolution, New York: Vintage Books. Keeling, Kara (2007): The Witch’s Flight. The Cinematic, the Black Femme, and the Image of Common Sense, Durham, NC: Duke University Press. Maldonado-Torres, Nelson (2011): »Thinking Through the Decolonial Turn. Post-Continental Interventions in Theory, Philosophy, and Critique – An Introduction«, in: Transmodernity: Journal of Peripheral Cultural Production of the Luso-Hispanic World 1(2), S. 1–15. Mbembe, Achille (2003): »Necropolitics«, in: Public Culture 15(1), S. 11–40. [Deutsch: Mbembe, Achille (2011): »Nekropolitik«, in: Marianne Pieper, Thomas Atzert, Serhat Karakayalı, Vassilis Tsianos (Hg.): Biopolitik – in der Debatte, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 63–69.] McKittrick, Katherine (2006): Demonic Grounds. Black Women and the Cartographies of Struggle, Minneapolis: University of Minnesota Press.

Katherine McKittrick: Plantagenzukünfte

Mirzoeff, Nicholas (2011): The Right to Look. A Counterhistory of Visuality, Durham, NC: Duke University Press. Morrison, Toni (1987): Beloved. A Novel, New York: Penguin. [Deutsch: Morrison, Toni (1989): Menschenkind, übersetzt von Helga Pfetsch. Roman, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.] Pagden, Anthony (1994): European Encounters with the New World. From Renaissance to Romanticism, New Haven, CT: Yale University Press. Perry, Warren R. (1997): »Archaeology as Community Service. The African Burial Ground Project in New York City«, in: North American Dialogue: Newsletter of the Society for the Anthropology of North America 2(1), S. 1–5. Phillips, Kendall R. (1999): »A Rhetoric of Controversy«, in: Western Journal of Communication 63(4), S. 488–510. Pulido, Laura (2000): »Rethinking Environmental Racism: White Privilege and Urban Development in Southern California«, in: Annals of the Association of American Geographers 90(1), S. 12–40. Sanders, Leslie (2006): »What the Poet Does for Us«, Vortrag am 14.10.2006. In der Reihe No Language Is Neutral: A Conference on Dionne Brand, Toronto, Ontario. Scott, David (1999): Refashioning Futures. Criticism after Postcoloniality, Princeton NJ: Princeton University Press. Shakespeare, William ([1623]2008): The Tempest, New York: Macmillan. [Deutsch: Shakespeare, William ([1954]2008): Der Sturm. München: DTV.] Shange, Ntozake (1998): If I Can Cook, You Know God Can. African American Food Memories, Meditations, and Recipes, Boston: Beacon Press. Sparke, Matthew (2007): »Everywhere but Always Somewhere. Critical Geographies of the Global South«, in: The Global South 1(1), S. 117–126. Staples, Robert (1987): The Urban Plantation. Racism and Colonialism in the Post Civil Rights Era, Oakland, CA: Black Scholar Press. Strachan, Ian G. (2002): Paradise and Plantation. Tourism and Culture in the Anglophone Caribbean, Charlottesville, VA.: University of Virginia Press. Walcott, Rinaldo (2000): »Pedagogy and Trauma. The Middle Passage and the Problem of Creolization«, in: Roger I. Simon, Sharon Rosenberg, Claudia Eppert (Hg.): Between Hope and Despair. Pedagogy and the Remembrance of Historical Trauma, Lanham, MD: Rowman & Littlefield Publishers, S. 135–141. Walcott, Rinaldo (2003): Black Like Who? Writing Black Canada, Toronto: Insomniac Press. Wey Gómez, Nicolás (2008): The Tropics of Empire. Why Columbus Sailed South to the Indies, Cambridge, MA: MIT Press.

365

366

Koloniale Ordnungen und dekoloniale Zukünfte

Woods, Clyde (2002): »Life After Death«, in: The Professional Geographer 54(1), S. 62–66. Woods, Clyde A. (1998): Development Arrested. The Blues and Plantation Power in the Mississippi Delta, London: Verso. Wynter, Sylvia (1971): »Novel and History, Plot and Plantation«, in: Savacou 5. Wynter, Sylvia (1992): »Rethinking ›Aesthetics‹. Notes Towards a Deciphering Practice«, in: Mbye Cham (Hg.): Ex-iles. Essays on Caribbean Cinema, Trenton, NJ: Africa World, S. 238–279. Wynter, Sylvia (1995): »1492: A New World View«, in: Vera L. Hyatt, Rex Nettleford (Hg.): Race, Discourse and the Origin of the Americas, Washington DC: Smithsonian Institution Press, S. 5–57. Wynter, Sylvia (2003): »Unsettling the Coloniality of Being/Power/Truth/ Freedom. Towards the Human, After Man, Its Overrepresentation – An Argument«, in: CR: The New Centennial Review 3(3), S. 257–337. Wynter, Sylvia (2006): »On How We Mistook the Map for the Territory, and Reimprisoned Ourselves in Our Unbearable Wrongness of Being, of Desêtre. Black Studies Toward the Human Project«, in: Not Only the Master’s Tools: African American Studies in Theory and Practice, London: Paradigm Publishers, S. 123–124.

Städtische Episteme dekolonisieren Europa und die Europäische Stadt nach 1989 als koloniale Ordnung Noa K. Ha

Einführung: Das koloniale Europa Europa ist nicht nur ein Kontinent, sondern auch ein epistemisches Projekt der Überlegenheit und der Deutungshoheit. Dieses epistemische Projekt, auch als Eurozentrismus beschrieben, ist eng mit der Geschichte des europäischen Imperialismus und Kolonialismus verwoben (Chakrabarty 2010; Conrad/Randeria/Römhild 2013), einer Geschichte, die im 15. Jahrhundert mit den Schifffahrten auf den Ozeanen dieser Welt ihren expansiven Anfang nahm. Eine postkoloniale Analyse nimmt die letzten 500 Jahre in den Blick, um die Geschichte des Kolonialismus begreifen zu können. Hierbei spannt sich die Geographie des Kolonialismus – von den westlichen Imperien Europas in die Amerikas und die Karibik, über den afrikanischen Kontinent hin zu den östlichen Imperien innerhalb Europas und außerhalb nach Asien bis in den Pazifik – zu einem weltumspannenden Handels-, Eroberungs- und Ausbeutungsnetzwerk. Dies wird getragen von verschiedenen Ausprägungen der Kolonisierung, Unterwerfung, Versklavung und Plünderung, aus dem sowohl der metropolitane Reichtum Europas als auch die siedlerkoloniale Formation nicht-europäischer westlicher Staaten hervorgeht (USA, Kanada, Australien, Neuseeland usw.). Im Auftrag der spanischen und portugiesischen Königshäuser wurden im 15. Jahrhundert die ersten explorativen und expansiven Seefahrten unternommen. Die koloniale Mission führte in den folgenden Jahrhunderten zu einer Konkurrenz zwischen den europäischen Ländern und Nationen um die globale Landmasse und die ressourcenreichen Kontinente Afrikas, Asiens und Amerikas. 1884/85 hatte der deutsche Reichskanzler Otto von Bismarck Vertreter der europäischen Kolonialmächte,

368

Koloniale Ordnungen und dekoloniale Zukünfte

inklusive des osmanischen Reiches, nach Berlin eingeladen, um die Aufteilung des afrikanischen Kontinents und die Handelsfreiheit unter diesen Mächten zu vereinbaren. Die mit dem Lineal gezogenen Grenzziehungen auf dem Konferenztisch des Reichskanzlerpalais in Berlin-Mitte bilden bis heute die Grenzziehungen afrikanischer nationaler Territorien, die die naturlandschaftlichen, topographischen, linguistischen und kulturellen Räume auf dem Kontinent ignorierten. Eine Ignoranz, die gegenüber Gemeinschaften, die aufgrund der Grenzziehungen geteilt wurden, bis heute in den Gefügen der afrikanischen Nationalstaaten anhält. Europa als Inbegriff einer kolonialen Ordnung, die weite Teile der Welt im 18. und 19. Jahrhundert als Kolonien umfasste, setzte sich zugleich selbst als Ort der Aufklärung, der Gleichberechtigung, der Demokratie und der Bürgerschaft ins Zentrum des Wissens von Welt und über Welt. Gloria Wekker zeigt diese widersprüchliche Gleichzeitigkeit in ihrer Analyse des niederländischen Alltagswissens über Rassismus, das sie als ein gesellschaftliches Archiv begreift. Sie arbeitet heraus, wie sich in diesem Archiv das europäische (aka weiße Subjekt) als unschuldig (›white innocence‹) begreift, weil es die Folgen von Rassismus und Versklavung von sich weist (Wekker 2016). Somit wird scheinbar der Widerspruch zwischen einer europäischen Verantwortung für die Kolonialverbrechen und den europäischen Werten von Demokratie und Gleichberechtigung aufgelöst, weil die koloniale Gewaltgeschichte als abgeschlossene Geschichte in der Vergangenheit und außerhalb Europas liegt. Jedoch strukturiert die koloniale Ordnung des Eurozentrismus und des Rassismus bis heute auf vielfältige Weise das Denken und die Wissensproduktion in westlich-kapitalistischen Gesellschaften, und man kann davon ausgehen, dass die kolonial-rassistische Vergangenheit weder abgeschlossen noch aufgearbeitet ist (Shohat/Stam 1994; Quijano 2000; Lugones 2008; Mignolo 2009; Small 2012; Grosfoguel 2013). In dieser epistemischen kolonialen Ordnung ist Europa sowohl als metropolitaner Ort als auch als metropolitane Gesellschaft zu begreifen. So kann die Kolonialität einer siedlerkolonialen Gesellschaft, wie die der USA oder Kanadas, von einer metropolitanen Gesellschaft unterschieden werden, da in den beiden grundlegende Differenzen in der jeweiligen Kolonial- und Migrationsgeschichte sowie Sozialstruktur bestehen. Im Vergleich zu den nordamerikanischen critical race studies, indigenous/native studies, ethnic studies, Black studies und anderen Fächern steht die Rassismus- und (Post-)Kolonialismusforschung, welche die unterschiedlichen Regime der Rassifizierung in metropolitanen Gesellschaften herausarbeitet, in Europa noch in den Anfän-

Noa K. Ha: Städtische Episteme dekolonisieren

gen. Die Analyse und Darstellung der Prozesse der VerAnderung (othering) und Abwertung, die sowohl mit der Kolonialgeschichte als auch mit der Geschichte der Shoah und des Porajmos sowie der Arbeitsmigration in die europäischen Gesellschaften nach 1945 betrachtet werden müssen, verweisen auf ein großes Forschungsfeld von immenser Relevanz (Rodríguez 2005; Rothberg 2009; Castro Varela/Dhawan 2009; El-Tayeb 2015; Bhambra 2017). Das Anliegen, Europa unter seinen postkolonialen Bedingungen und Verflechtungen zu analysieren, zielt auf eine Dekolonisierung der epistemischen kolonialen Ordnung von Europa ab, um der anhaltenden Aktualisierung dieser Wissensbestände bis in die Gegenwart kritisch zu begegnen, sie zu unterlaufen und aufzuhalten. Die Wissensbestände zur Europäischen Stadt greifen die Selbstvergewisserung des metropolitanen Eurozentrismus in Abgrenzung zum Rest der Welt auf – insbesondere in der Stadtplanung und der Stadtsoziologie (Benevolo 1993; Gales 2002; Siebel 2006; Häußermann 2011; Adam/Fritzsche 2012) – und zeichnen sich weitestgehend dadurch aus, dass die historische Einbettung Europas und seiner Städte in das koloniale und imperiale Projekt nicht berücksichtigt wird (Işın 2006). Insofern scheinen die Auswirkungen einer anhaltenden Kolonialität und eines weiterhin virulenten Rassismus in europäischen Gesellschaften seltsam abwesend und irrelevant. Die Formulierung einer postkolonialen Kritik an städtischen Epistemen verweist auf die Relevanz kolonialer Ordnungen von Rasse und Rassismus für das Verständnis von Stadt und städtischen Modellen im Allgemeinen (King 1990; Robinson 2002; Gilmore 2002; Roy 2009; Simone 2016; ZwischenraumKollektiv 2017; Picker/ Murji/Boatcă 2018) sowie im Besonderen für die normativen und idealisierten Wissensbestände über die Europäische Stadt (El-Tayeb 2012; Ha 2014; Picker 2017; Ha/Picker 2022). Die Analyse städtischer Episteme umfasst in gegenseitiger Bezugnahme sowohl die soziale als auch die räumliche Form, welche hier in diesem Beitrag insbesondere für die Bedeutung der Europäischen Stadt nach 1989 im Fokus steht. Sowohl die neue Prominenz des stadtsoziologischen Modells der Europäischen Stadt als auch die politischen Prozesse zur Vorbereitung einer Stadtentwicklung, die das Narrativ der Entdeckung der Welt wiederbeleben, werden im Folgenden als eine Aktualisierung der neokolonialen Ordnung von Europa zur Diskussion gestellt. Das Jahr 1989 markiert den Eintritt in eine neue Weltordnung. Nach diesem Jahr war der Kalte Krieg beendet, die Sowjetunion zusammengebrochen und die beiden deutschen Staaten leiteten ihre Wiedervereinigung ein. In dieser Zeit formierten sich postkoloniale Kontinuitäten mit der Projektion eines ›Neuen Europas‹. In diesem neuen Europa nach 1989 sollte die vergangene Zeit

369

370

Koloniale Ordnungen und dekoloniale Zukünfte

des europäischen Kolonialismus als Referenz repräsentativer Ordnungen für eine neue und zukünftige Weltgesellschaft herangezogen werden. Bemerkenswert ist die Revitalisierung eines kolonialen Referenzsystems, das eine widerspruchsfreie und positive Geschichte des Kolonialismus ohne Gewalt erzählen sollte. Die Geschichte des Kolonialismus erscheint dabei als weit in der Vergangenheit liegend und als weltumspannendes Bezugssystem, das den Austausch und die Begegnung in einer globalen Perspektive ermöglichte. Hierbei wird eine europäische Erzählung entworfen, die sich im Kontext westlicher Hegemonie von der US-amerikanischen abgrenzt und zugleich koloniale Kontinuitäten aufweist sowie koloniale Episteme revitalisiert.

Nach 1989: Das Neue Europa und die Europäische Stadt als koloniales Ideal Wenn der Prozess des aktiven Entinnerns und das mahnende Erinnern der Opfer des Kolonialismus aufeinandertreffen, entstehen Risse, Widersprüche und Konflikte. Diese zeigen, dass in der gleichen Stadt weder alle die gleiche Geschichte erlebt noch gemeinsam erfahren haben. Im postkolonialen Europa treten die Risse durch die anhaltenden kolonialen Vermächtnisse – insbesondere in den Städten Europas – immer deutlicher hervor, weil Forderungen nach Gleichberechtigung, Teilhabe und Transformation eine neue postkoloniale Dimension erreicht haben. Diese haben die Geschichtserzählung Europas ins Wanken gebracht. Im Zuge der Black Lives Matter-Proteste in Europa wurden Denkmäler im öffentlichen Raum vom Sockel gestoßen und ins Wasser geworfen, wie beispielsweise in Bristol das Denkmal von Edward Colston (ehemaliger Händler mit versklavten Menschen).1 Schnell verbreiteten sich Bilder von den gestürzten und beschmierten Denkmälern in den sozialen Medien und in den Nachrichten und warfen die Frage auf: Wie konnte es sein, dass Monumente im öffentlichen Raum – Denkmäler, insbesondere von weißen Männern, die mit der Geschichte des Kolonialismus und der Versklavung verbunden waren – ihrer ›normalen‹ Anwesenheit beraubt und in einem metaphorischen Sinne aus dem Kanon geworfen wurden?

1

Für eine online zugängliche Übersicht über die gefallenen Monumente, in den USA und in Europa sowie weiterführende Texte zur Bedeutung von Monumenten und den Auseinandersetzungen mit ihnen im öffentlichen Raum, siehe All Monuments Must Fall (2020).

Noa K. Ha: Städtische Episteme dekolonisieren

Wie konnte es sein, dass Menschen in Europa die scheinbar so ›normale‹ Geschichte mit ihren Denkmälern im öffentlichen Raum so fundamental in Frage stellten? Wie konnte es sein, dass bis heute die europäischen Verbrechen des Kolonialismus weder von den europäischen Staaten aufgearbeitet noch geächtet worden sind? Diese unbeantworteten Fragen wirken als koloniale Verhältnisse, als koloniale Wissensbestände und als koloniale Macht weiterhin fort und tragen dazu bei, eine vermeintliche Superiorität europäischer Staaten gegenüber den seit Jahrzehnten formal unabhängigen Nationen des afrikanischen Kontinents aufrecht zu erhalten und zu normalisieren, auch bis weit nach dem Ende des Kolonialismus (Savoy 2021; Hansen 2014). Nach 1989 formierte sich Deutschland als Nahtstelle zwischen den Grenzen des ehemaligen Kalten Krieges. Die historische Gelegenheit zur Reflexion von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wurde für Berlin eine sehr konkrete Herausforderung – als geteilte Stadt und neue Hauptstadt des wiedervereinigten Deutschlands. Die städtebaulichen Überlegungen des ›Planwerk Innenstadt‹ postulierten eine kritische Rekonstruktion und verlangten nach einem Rückbau Berlins in Orientierung an der Gründerzeit und dem Berlin der 1920er Jahre (Molnar 2010; Ha 2016). Parallel zu den städtebaulichen Überlegungen, die auch eine Bewertung von Welt- und Gesellschaftsordnung vornahmen, wurde in der Stadtsoziologie das Modell der ›Europäischen Stadt‹ konzeptionell entworfen und diskutiert. Die stadtsoziologischen Überlegungen für das Zusammenleben in den Städten Europas nach dem Zusammenbruch der UdSSR, dem Mauerfall und der Wiedervereinigung Deutschlands enthielten eine explizite Abgrenzung von den US-amerikanischen Städten. In der Formulierung einer europäischen Stadtsoziologie wurde die europäische Stadt als Gegenmodell zu den kapitalistischen Städten der USA entworfen, um eine neue Bürgerlichkeit im Anschluss an Max Weber zu etablieren und die Städte Europas als Orte einer sozialen Demokratie zu entwickeln. Die analytische Modellierung der ›Europäischen Stadt‹ unter Bezugnahme auf Max Weber war in den 1990er eine prominente Debatte. Besonders hervorzuheben für den Diskurs in Deutschland sind die Arbeiten von Hartmut Häußermann, Walter Siebel und anderen (Siebel 2000; 2006; Lenger/Tenfelde 2006; Koch 2010; Schott/Toyka-Seid 2008; Hassenpflug 2002; Frey/Koch 2011; Schubert 2001; Häußermann 2011). Sie eröffneten einen stadtsoziologischen Diskurs über Städte in Europa und definierten wesentliche qualitative Merkmale zur Definition der »Europäischen Stadt«. Diese Definition stellte die urbane Bürgerschaft als zentrales Merkmal fest, die in der Stadt über alle Belange zu entscheiden habe. Diese Bürgerschaft speiste sich laut Max Weber aus einer

371

372

Koloniale Ordnungen und dekoloniale Zukünfte

unternehmerischen urbanen Klasse, die den eigenverantwortlich handelnden und unternehmerisch arbeitenden Menschen ins Zentrum stellte. Dieser urbane Bürger als zentrale Figur der Bewohnerschaft in der Europäischen Stadt ist leitend für ihre weiteren Funktionen und Qualitäten. Die historische Kontinuität des europäischen Urbanismus wird aus dem Mittelalter – mit dem Markt im Zentrum – hergeleitet und konfiguriert eine bauliche und soziologische Entsprechung von europäischer Stadtgesellschaft und der europäischen Stadt (Molnar 2010; Işın 2006). Hierbei ist augenfällig, dass in der außereuropäischen Bezugnahme nur die USA mit ihren kapitalistischen autogerechten Städten und ausufernder Suburbanisierung der Einfamilienhäuser zur Abgrenzung herangezogen werden – aber die europäische Stadt nicht in einer globalen Perspektive unter den postkolonialen Bedingungen analysiert wird. Im Gegenteil: Durch die zentrale Figur des (männlichen) Bürgers, wird hier eine Form der ›Autochthonisierung‹ vorgenommen, zu der sich andere als ›Zugezogene‹ bzw. ›Fremde‹ oder ›Migranten‹ gesellen. Durch diese Konzipierung wird die europäische Bürgerschaft auf einen europäischen Bezugsraum beschränkt und erscheint isoliert von kolonialen globalen Netzwerken bzw. einer globalisierten Wirtschaft. Im Rückblick betrachtet ist es erstaunlich, dass die sozial-demokratische Idee der Bürgerlichkeit urbaner Gesellschaft nicht im Widerspruch zur neoliberalen Inwertsetzung städtischer Flächen steht, und in diesem Zusammenhang recht widerspruchsfrei koloniale Narrative aktualisiert werden konnten. Am Beispiel von Berlin wird deutlich, wie sehr die Metropole aus den 1920er Jahren die städtebauliche Zukunft für das 21. Jahrhundert inspirieren sollte – der Rückbau in die Blockrandbebauung, die Wiedererrichtung klassizistischer Architektur und die namentlichen Referenzen auf Marlene Dietrich oder Alexander von Humboldt. In zweierlei Hinsicht referieren diese erinnerungspolitischen Setzungen eine anhaltende Kolonialität – zum einem als Referenz für die moderne, kosmopolitische Metropole und zum anderen als koloniale Mutterstadt für die Kolonisierten, die hier zur Schau gestellt und für die Eroberung freigegeben waren. In dieser Doppelzüngigkeit von Moderne und Kolonialismus – ein Zusammenhang, der gerade in der dekolonialen Theorieschule als konstitutiv analysiert wird (Quijano 2000; Grosfoguel 2002; Mignolo 2007) – zeigt sich die anhaltende Bedeutung dieses Zusammenhangs, der jedoch in ihrer Ambivalenz und in ihrer Gewaltgeschichte nicht thematisiert wird. Die eurozentristische Erzählung ist so sehr auf sich selbst bezogen, dass ein postkolonialer Perspektivwechsel auch nach 1989 in weite Ferne rückte.

Noa K. Ha: Städtische Episteme dekolonisieren

Postkoloniale Narrative der Entdeckung im Neuen Europa: Das Jahr 1992 Das ›Kolumbusjahr‹ 1992 war das Ergebnis langfristiger politischer Vorbereitungen insbesondere durch Spanien und USA, welche die transatlantischen Beziehungen zwischen den Amerikas und Europa definieren sollten. Rückblickend kann dieses Jahr als eine erfolgreiche Zentrierung europäischer Geschichtsschreibung bewertet werden. Die Perspektiven der ›Entdeckten‹ und ›Kolonisierten‹ tauchen eher als rhetorische Spielereien oder Marginalien auf und die zentrale Geschichte wird aus der Perspektive Europas und ihrer Männer – ihrer Entdecker – erzählt, wie zum Beispiel Christoph Kolumbus, Vasco da Gama und Alexander von Humboldt.

Abb. 1: Auszug aus Gesetz von 1984 ›Public Law 98–375‹, verabschiedet vom 98. Kongress der USA.

Quelle: Congress 1984

Die international ausgerichteten Feierlichkeiten im Jahr 1992, an der sich über 20 Nationen beteiligten, lassen sich auf die »Christopher Columbus Quincentary Jubilee Commission« zurückführen, die 1984 aufgrund eines Gesetzes des US-Kongresses eingerichtet wurde. Das Gesetz diente der Erinnerung an die Ankunft von Christoph Kolumbus in den Amerikas am 12. Oktober 1492, war speziell dazu gedacht, die Feierlichkeiten des 500. Kolumbustages im Jahr 1992 vorzubereiten, und hob die Rolle Italiens und Spaniens hervor:

373

374

Koloniale Ordnungen und dekoloniale Zukünfte

»(2) The governments and people of Spain and Italy should be recognized and commended for their historic role and contribution to those voyages; (3) all persons in this country should look with pride on the achievements and contributions of their ancestors with respect to those historic voyages; […]«: Nur wenige Jahre zuvor erließ das spanische Königshaus im Jahr 1981 ein königliches Dekret, um diesen 500. Gedenktag feierlich zu begehen. Die spanische Regierung und das Königshaus versuchten nach dem Franco-Regime (1939–75) die Beziehungen zu den spanischsprachigen amerikanischen Ländern zu stärken und sich mit staatlichen Investitionen auf die Bühne Europas zu hieven (EXPO in Sevilla 1992, Olympische Sommerspiele in Barcelona 1992, Europäische Kulturhauptstadt Madrid 1992, Erste Schnellzugstrecke 1992). Desweiteren sind die EXPO-Aktivitäten im Jahr 1992 außergewöhnlich, weil zwei sich aufeinander beziehende Weltausstellungen in Genua, Italien und Sevilla, Spanien, stattfanden. Beide Weltausstellungen standen unter dem Motto des Kolumbusjahres, um die eurozentristische Erzählung der ›Entdeckung Amerikas‹ und der Bedeutung des Seefahrers Christoph Kolumbus feierlich ins öffentliche Bewusstsein zu rufen. Diese Vorbereitungen fanden jedoch unter vielfältiger Kritik und Diskussion statt (Kruip 1992), weil mit dieser Setzung ein Bedeutungsverlust der kolonialen Gewalt und Unterdrückung hervorgerufen wurde – und das nach den Jahren der Entkolonisierung und der Unabhängigkeitskämpfe der vormals kolonisierten Länder (Ghirmai 2019). Dem postulierten gemeinsamen transatlantischen Raum zwischen den Amerikas und Europa stand in den folgenden Jahren nach der Erlassung des Dekrets die Konkurrenz zwischen dem anglo-europäischen und dem ibero-amerikanischen Raum gegenüber, die im letztgenannten Raum zu einer grundsätzlichen Infragestellung des Jubiläums des Jahres 1492 als ›Entdeckung Amerikas‹ führte. Insbesondere Mexiko forderte eine Umbenennung der Feierlichkeiten von der ›Entdeckung‹ zur ›Begegnung‹ (encuentro) (Kruip 1992), um eine gemeinsame Perspektive auf diese Geschichtserzählung hervorzuheben. Denn eine Erzählung der ›Entdeckung‹ würde Gefahr laufen, die Perspektive der Kolonisierung, der Unterwerfung und die demographische Katastrophe in den Ländern des südlichen Amerikas, die mit dem Verlust von indigenem Leben, Kosmologien und Sprachen einherging, zu verdecken und zu verschweigen. Zugleich wollte die spanische Regierung seine außenpolitischen Beziehungen in südamerikanische Staaten stärken

Noa K. Ha: Städtische Episteme dekolonisieren

und organisierte ein Treffen der Regierungen Lateinamerikas ohne die USA. Im Rahmen dieser Fokussierung auf das Jahr 1992 wurden die transatlantischen Verbindungen zwischen den spanischsprachigen Ländern von den gemeinsamen Interessen an ökonomischen, kulturellen, aber auch religiösen Beziehungen – insbesondere in der katholischen Kirche – geleitet. Jedoch entstand hier ein Konflikt zwischen der Bedeutung der Evangelisierung und der Befreiungstheologie, die eine implizite Kritik an der katholischen Kirche zur Zeit der königlichen Kolonisierung beinhaltete. In der katholischen Kirche zeichneten sich für die ethische Bewertung der ›Entdeckung‹ Konfliktlinien ab, die danach fragten: Handelt es sich um eine Neokolonisierung durch die Feierlichkeiten zur ›Entdeckung‹ Amerikas, oder eine Dekolonisierung durch die Stärkung der Perspektiven und der Widerstandsgeschichte der kolonisierten indigenen Bevölkerungen? Die detaillierte Darstellung von Kruip verweist auf die Konfliktlinien innerhalb der katholischen Kirche bezüglich der iberoamerikanischen Beziehungen, die sich in dem Ausmaß und dem Versuch aus dem ›Kolumbustag‹ einen ›Tag der Dekolonisierung‹ oder einen ›Tag der Indigenen‹ zu machen, heute kaum spiegeln (Dussel 1988; Kruip 1992). Die zentrale Frage zur moralischen und ethischen Bewertung des Jahres 1492 für die (globalisierte) Weltgesellschaft zeigt sich emblematisch an den Auseinandersetzungen um die Vermächtnisse des frühen Kolonialismus für das heutige Europa. Die langfristigen Vorbereitungen sowohl von Spanien als auch von den USA verweisen auf die politischen Implikationen für die Erzählung einer großen Geschichte der ›Entdeckung‹ Amerikas und der Expansion europäischer (mehrheitlich weißer männlicher) Siedler, der Evangelisierung und der Verbreitung der Ideen der Aufklärung von Fortschritt, Vernunft und Bildung. Ausbeutung, Unterwerfung und Kolonisierung als Gewaltgeschichte in Form von Rassismus, Genozid und kultureller Überlegenheit sollte in dieser Erzählung nicht zentral gestellt, sondern weggelassen und entinnert werden. Die Bemühungen 1992 als das Jahr der ›Begegnung‹, und nicht der ›Entdeckung‹ zu benennen, verliefen im Sande und wurden nicht umgesetzt. Eine weitreichende globale Diskussion über die Auswirkungen der Ankunft Europas in den Amerikas als auch über das moralische Erbe spiegelt sich so gar nicht in dem Gesetz der US-Amerikaner wider. Im Gegensatz zur eurozentristischen Erzählung der ›Entdeckung‹ für das Jahr 1992 stehen die Aussagen aus dem Dokument der Päpstlichen Kommission Justitia et Pax zum Rassismus vom 3. November 1988 – hier wurde im Zusammenhang mit dem Imperialismus, dem Nationalsozialismus und dem Apartheidsystem Südafrikas auch die ›Entdeckung Amerikas‹ genannt (Kruip 1992, 210).

375

376

Koloniale Ordnungen und dekoloniale Zukünfte

1998 nutzte Portugal die Gelegenheit, um im Rahmen der EXPO 1998 Lissabon seine expansive Geschichte der Seefahrt zu erzählen und errichtete einen Turm zur Ehrung von Vasco da Gama, dem portugiesischen Seefahrer, der einen Seeweg von Europa nach Ostindien gefunden hatte und Zeitgenosse von Christoph Kolumbus war. Wenn man heute die EXPO 1998 in Lissabon und andere stadtentwicklungspolitische und erinnerungspolitische Setzungen betrachtet, dann wird ersichtlich, wie lebhaft die große Erzählung von der ›Entdeckung Amerikas‹ unter Ausblendung der kolonialen Gewaltgeschichte Anklang fand. In Berlin wurde in jener Zeit eine Stadtmitte für das wiedervereinigte Deutschland entworfen – und auch hier sollten die expansiven (globalen) Beziehungen Deutschlands Eingang in die städtische Repräsentation finden. Alexander von Humboldt als deutscher Aufklärer und wissenschaftlicher Entdeckungsreisender, der die lateinamerikanischen Länder bereist hatte, wurde zusammen mit seinem Bruder Wilhelm zum prominenten Namensgeber im ›Neuen Berlin‹: Für das Humboldt-Forum hinter der Fassadenkopie des Hohenzollernschlosses – in direkter Nachbarschaft zum Humboldt-Hafen von 1848 und der Humboldt-Universität, die seit 1949 diesen Namen trägt. Während sich in Vorbereitung auf das Jahr 1992 vor allem Spanien und Italien auf der europäischen Bühne in Szene setzen wollten – insbesondere Spanien mit seinen Städten Sevilla, Madrid und Barcelona – war Deutschland nach dem Ende des Kalten Krieges und der Wiedervereinigung damit beschäftigt eine neue nationale Identität zu stiften. Hierbei war sowohl die Entscheidung für eine gemeinsame Hauptstadt von Bedeutung als auch die stadtentwicklungs- und repräsentationspolitische Auseinandersetzung um die Gestaltung der Berliner Stadtmitte. Diese Auseinandersetzung betrachte ich hier nicht als eine lokale Frage, sondern als eine, die in nationale und internationale historische Ordnungen eingebettet war und daher auch eine repräsentative Bedeutung für die Interpretation und Gestaltung einer neuen Weltordnung einnahm. Denn durch Berlin verlief eine Mauer, die nicht nur eine Demarkationslinie für eine geteilte Stadt oder einen geteilten Staat bedeutete, sondern auch die Grenze zwischen den Feinden des Kalten Krieges markierte. Nach dem Fall der Mauer schaute die Welt auf Berlin und reiste dorthin mit der Erwartung eines repräsentationspolitischen Neubeginns einer Gesellschaft, einer Stadt und einer Architektur in Zeiten des weltpolitischen Umbruchs. Die Entwürfe und Auseinandersetzungen im Rahmen der architektonischen Wettbewerbe, die Entwürfe internationaler Architekturbüros und die finalen Entscheidungen für einzelne Gebäude geben Einsicht in die Wünsche

Noa K. Ha: Städtische Episteme dekolonisieren

der Stadt. Denn die Rahmung der gesamten Stadtentwicklung wurde durch das Planwerk Innenstadt gesetzt, das von der Berliner Senatsverwaltung mit lokalen Stadtplaner*innen und Stadtsoziolog*innen entwickelt, konzipiert und verabschiedet wurde. Prominentes Beispiel für die Frustration internationaler Architekt*innen, welche die symbolische Bedeutung der Stadt nach dem Ende des Kalten Krieges für eine neue Zukunft der Weltgesellschaft interpretieren wollten, sind beispielsweise die Aussagen von Rem Koolhaas.2 Unter Protest verließ er die Jury zur Gestaltung des Potsdamer Platzes – die zentrale städtebauliche Baustelle innerhalb der Stadt – weil er die Provinzialität vor Ort angesichts der globalen und historischen Dimension der Neugestaltung nicht nur als ignorant bewertete, sondern als ein »bewusstes Massaker an architektonischer Intelligenz« (Kohlhaas in Siegert 1999). Im Rückblick fällt die provinzielle Ausrichtung und Anknüpfung an eine Stadthistorie des glanzvollen Berlins aus den 1920er Jahren als Folie für eine zukünftige Entwicklung auf. Dieser historische Rückgriff bei der Gestaltung der urbanen Zukunft von Berlin hatte jedoch einen zentralen blinden Fleck – die Bedeutung Berlins zu Beginn des 20. Jahrhunderts für das koloniale Europa und die koloniale Weltordnung. Ein blinder Fleck, der nun viele Fragen nach der Aufarbeitung und Auseinandersetzung mit der eigenen deutschen kolonialen Geschichte aufwirft und koloniale Reproduktionen kritisch beäugt.

Die Europäische Stadt als Widerstands- und Lebensraum Den architektonischen und städtebaulichen Gesten einer Europäischen Stadt, die die koloniale Nostalgie eher fortschreiben, denn kritisch aufarbeiten will, stehen die Lebens- und Wohnräume rassifizierter und migrantischer Communitys in den Städten Europas gegenüber. Ihre Alltagspraxis zeugt von der Herausforderung, sich sowohl der Bewegungseinschränkung auf den Wohnungs- und Arbeitsmärkten als auch in öffentlichen Räumen durch racial profiling, Residenzpflicht bzw. Wohnsitzauflage (insbesondere für geflüchtete Menschen) und Zuzugsbegrenzungen in Nachbarschaften zu widersetzen und dennoch selbstbestimmte Lebenspraktiken im urbanen Raum zu schaffen. Die ungleichen Verhältnisse in Europa werden eher in den Bezügen von Migration und (nationalstaatlicher) Integration analysiert, anstatt diese einer 2

»Der Niederländer Rem Koolhaas ist einer der einflussreichsten zeitgenössischen Architekten. Er forscht und lehrt als Professor an der Harvard-Universität.« (Siegert 1999)

377

378

Koloniale Ordnungen und dekoloniale Zukünfte

rassismus- und kolonialismuskritischen Analyse zu unterziehen, welche die Kontinuitäten und Bezüge sowohl geographisch zwischen den Kolonien und Metropolen als auch historisch zwischen Kolonialismus und Postkolonialismus herausarbeitet. Daher ist der städtische Raum im postkolonialen Europa nicht nur der Wohnraum einer metropolitanen Gesellschaft – Gesellschaft, die zwischen sich und den Anderen unterscheidet – sondern auch der Repräsentationsund Erinnerungsraum europäischer Geschichte. Sei es im öffentlichen Raum, in nationalen und städtischen Museen, in den botanischen und zoologischen Gärten oder in den Universitäten – in all diesen Räumen begegnen wir den kolonialen Vermächtnissen – sowohl in den Wissensbeständen als auch in den sozialen Zugängen zu diesen Räumen. Repräsentations- und Erinnerungsräume sowie Wohnraum sind mit kolonialen Vermächtnissen verwoben, die aktiv die koloniale Gewalt entinnern, um sie als kolonial-nostalgische Erfolgsgeschichte zu affirmieren. Eine postkoloniale Stadtforschung steht vor der Herausforderung, nicht nur Unsichtbares sichtbar zu machen, Verborgenes aus den Archiven und den Erinnerungen zugänglich zu machen, sondern auch in diese kolonialen Machtverhältnisse eingebunden und verwoben zu sein. Daher ist eine postkoloniale europäische Analyse eine beständige Reflektion der Positionalitäten, der Ungleichheit, der geteilten Narrative und der schier unüberbrückbar scheinenden Gräben zwischen den Menschen, hervorgerufen durch die kolonialen Vermächtnisse. Und dennoch ist es nötig, die Analyse und Beschreibung der kolonialen Verhältnisse im städtischen Alltag ins Zentrum zu rücken, um die widerständigen Alltagspraktiken diasporischer Subjekte in den Vordergrund zu stellen, und um Ansätze der Dekolonisierung im postkolonialen Europa herauszuarbeiten.

Anmerkung zu einer Perspektive der Dekolonisierung Bei der Adressierung einer möglichen Dekolonisierung muss ich hier zum Abschluss kritisch anmerken, dass der Begriff der Dekolonisierung im wissenschaftlichen Diskurs in den letzten zehn Jahren einen ungemeinen Auftrieb erhalten hat und zugleich betont werden muss, dass »Dekolonisierung keine Metapher ist« (Tuck/Yang 2012). Europa steht neben den anderen westlichen Gesellschaften, wie den USA, Kanada, Australien und Neuseeland/Aotearoa weiterhin als verstädterte, kapitalistische und metropolitane Gesellschaft im Zentrum der Wissens-, Kapital- und Stadtproduktion. Jedoch sind wichtige Arbei-

Noa K. Ha: Städtische Episteme dekolonisieren

ten, die in einer anti-kolonialen und dekolonisierenden Tradition stehen, von Denker*innen der Karibik, des afrikanischen Kontinents, des südlichen Amerikas und der asiatischen Länder – dem trikontinentalen Zusammenschluss – beeinflusst. Angesichts der globalen Herausforderungen durch den Klimawandel und der (postkolonialen) Verteilung von Ressourcen und des Ressourcenverbrauchs stellt sich nicht mehr so sehr die Frage, was Europa für die Welt leisten kann, sondern wie Europa von der Welt lernen kann, und wie es sich einer globalen Gesellschaft würdig erweisen kann, die Gleichberechtigung und das Recht auf Menschsein ernstnimmt. In diesem Beitrag habe ich zwei Argumentationsstränge miteinander verbunden. Ich argumentierte sowohl mit Blick auf koloniale Kontinuitäten nach dem formalen Ende des Kolonialismus mit dem entsprechenden Bezug zur postkolonialen und dekolonialen Theorie, als auch mit Blick auf die Zäsur der (post-)kolonialen Bedingung nach 1989. Eine Bedingung, die dazu führte, dass Europa sich in einer globalen Perspektive positionierte: Als Teil einer westlichen und demokratischen Hegemonie und zugleich in Abgrenzung zu den USA, die sich als Gewinner des Kalten Krieg betrachteten. Vor dem Hintergrund dieser historischen Kontextualisierung konzentrierte ich mich auf die Diskussion eines stadtsoziologischen Modells – nämlich das der Europäischen Stadt – mit der auch ein städtebauliches Repräsentationssystem einherging, das nach 1989 Narrative des Kolonialismus aufnahm. Die Neuinterpretation kolonialer Weltbezüge orientierte sich vor allem an einem positiven historischen Bild des Kolonialismus der Europäer, das die Verbrechen, Gräueltaten, Genozide und die Versklavung von Menschen schlichtweg ignorierte und mit einem Schweigen belegte. Sollten Menschen in Europa Dekolonisierung ernsthaft begreifen und betreiben wollen, wäre eine fundamentale Infragestellung epistemischer Ordnungen erforderlich. Dieser Revisionsprozess würde die Begutachtung der kolonialen Referenzen im Rahmen stadtentwicklungspolitischer Maßnahmen, die Analyse kolonialer Verhältnisse innerhalb der Städte (Wie leben Menschen in der Stadt? Wie äußert sich städtische Ungleichheit? Wer ist davon betroffen? Gibt es migrantische und rassifizierte Nachbarschaften?) sowie die historische Aufarbeitung der kolonialen städtischen Infrastruktur der Wissensvermittlung (ethnologische Museen, Technikmuseen, Naturkundemuseen, zoologische und botanische Gärten) und ihrer Repräsentation im öffentlichen Stadtraum beinhalten. Von dieser Revision ausgehend und unter Einbeziehung postkolonialer und antikolonialer Perspektiven und Geschich-

379

380

Koloniale Ordnungen und dekoloniale Zukünfte

ten erwachsen Möglichkeitsräume für eine vielfältige Zukunft in den Städten Europas.

Literatur Adam, Brigitte; Fritzsche, Stefan (2012): »The European City – a Model for Future Urban Development and Its Elements«, in: Die Erde 23, S. 105–127. All Monuments Must Fall (2020): All Monuments Must Fall. A Cooperatively Produced Syllabus, https://allmonumentsmustfall.com, zuletzt geprüft am 28.08.2021. Benevolo, Leonardo (1993): The European City, Oxford/Cambridge: Blackwell Publishers. Bhambra, Gurminder K. (2017): »The Current Crisis of Europe: Refugees, Colonialism, and the Limits of Cosmopolitanism«, in: European Law Journal 23(5), S. 395–405. Castro Varela, María do Mar; Dhawan, Nikita (2009): »Feministische Postkoloniale Theorie: Gender und (De-)Kolonisierungsprozesse. Europa provinzialisieren? Ja, bitte! Aber wie?«, in: Femina Politica-Zeitschrift für feministische Politikwissenschaft 18(2), S. 9–18. Chakrabarty, Dipesh (2010): Europa als Provinz: Perspektiven postkolonialer Geschichtsschreibung, Frankfurt a.M./New York: Campus Verlag. Congress (1984): Auszug aus Gesetz von 1984 »Public Law 98–375«, verabschiedet vom 98. Kongress der USA, https://www.congress.gov/bill/98th-congress/housebill/1492/text, zuletzt geprüft am 26.06.2021. Conrad, Sebastian; Randeria, Shalini; Römhild, Regina (Hg.) (2013): Jenseits des Eurozentrismus: Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Auflage 2., Frankfurt a.M.: Campus Verlag. Dussel, Enrique (1988): »Entdeckung oder Invasion Amerikas? Eine historischtheologische Betrachtung«, in: Concilium 24(6), S. 510–514. El-Tayeb, Fatima (2012): »›Gays Who Cannot Properly Be Gay‹: Queer Muslims in the Neoliberal European City«, in: European Journal of Women’s Studies 19(1), S. 79–95. El-Tayeb, Fatima (2015): Anders Europäisch: Rassismus, Identität und Widerstand im vereinten Europa, Münster: Unrast. Frey, Oliver; Koch, Florian (Hg.) (2011): Die Zukunft der Europäischen Stadt, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Noa K. Ha: Städtische Episteme dekolonisieren

Gales, Patrick Le (2002): European Cities: Social Conflicts and Governance, TwentyThird, New York: Oxford University Press. Ghirmai, Philmon (2019): Globale Neuordnung durch antikoloniale Konferenzen: Ghana und Ägypten als Zentren der afrikanischen Dekolonisation, Bielefeld: transcript. Gilmore, Ruth W. (2002): »Race and Globalization«, in: Geographies of Global Change: Remapping the World, S. 261–274. Grosfoguel, Ramón (2002): The Modern/Colonial/Capitalist World-System in the Twentieth Century: Global Processes, Antisystemic Movements, and the Geopolitics of Knowledge, Westport CT: Greenwood Press. Grosfoguel, Ramón (2013): »The Structure of Knowledge in Westernized Universities: Epistemic Racism/Sexism and the Four Genocides/Epistemicides of the Long 16th Century«, in: Human Architecture: Journal of the Sociology of Self-Knowledge 11(1), S. 73–90. Ha, Noa K. (2014): »Perspektiven urbaner Dekolonisierung: Die europäische Stadt als ›Contact Zone‹«, in: sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung 2(1), S. 27–48. Ha, Noa K. (2016): Straßenhandel in Berlin: Öffentlicher Raum, Informalität und Rassismus in der neoliberalen Stadt, Bielefeld: transcript. Ha, Noa K.; Picker, Giovanni (2022): European Cities: Modernity, Race and Colonialism, Manchester: Manchester University Press. Hansen, Peo (2014): Eurafrica, London: Bloomsbury Academic. Hassenpflug, Dieter (2002): Die europäische Stadt-Mythos und Wirklichkeit, Berlin/Hamburg/Münster: LIT Verlag. Häußermann, Hartmut (2011):»Was bleibt von der europäischen Stadt?«, in: Oliver Frey, Florian Koch (Hg.): Die Zukunft der Europäischen Stadt. Stadtpolitik, Stadtplanung und Stadtgesellschaft im Wandel, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 23–35. Işın, Engin Fahri (2006): »Theorizing the European City«, in: Gerard Delanty (Hg.): Handbook of Contemporary European Social Theory, London: Routledge, S. 323–333. King, Anthony D. (1990): Urbanism, Colonialism, and the World Economy: Cultural and Spatial Foundations of the World Urban System, London: Routledge. Koch, Florian (2010): Die europäische Stadt in Transformation, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Kruip, Gerhard (1992): »Jubelfeier oder gefährliche Erinnerung? Der Stand der spanischen Vorbereitung und Diskussion zum ›Quinto Centenario‹ –

381

382

Koloniale Ordnungen und dekoloniale Zukünfte

ein Konfliktpanorama«, in: Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften 33, S. 197–225. Lenger, Friedrich; Tenfelde, Klaus (2006): Die europäische Stadt im 20. Jahrhundert: Wahrnehmung – Entwicklung – Erosion, Köln/Weimar: Böhlau Verlag. Lugones, María (2008): »Colonialidad y Género«, in: Tabula Rasa 9, S. 73–101. Mignolo, Walter D. (2007): »Delinking: The Rhetoric of Modernity, the Logic of Coloniality and the Grammar of De-Coloniality«, in: Cultural Studies 21(2/3), S. 449–514. Mignolo, Walter D. (2009): »Epistemic Disobedience, Independent Thought and Decolonial Freedom«, in: Theory, Culture & Society 26(7-8), S. 159–181. Molnar, Virag (2010): »The Cultural Production of Locality: Reclaiming the ›European City‹ in Post-Wall Berlin«, in: International Journal of Urban and Regional Research 34(2), S. 281–309. Picker, Giovanni (2017): Racial Cities: Governance and the Segregation of Romani People in Urban Europe, London/New York: Taylor & Francis. Picker, Giovanni; Murji, Karim; Boatcă, Manuela (2018): »Racial Urbanities: Towards a Global Cartography«, in: Social Identities 25(1), S. 1–10. Quijano, Aníbal (2000): »Coloniality of Power and Eurocentrism in Latin America«, in: International Sociology 15(2), S. 215–32. Robinson, Jennifer (2002): »Global and World Cities: A View From Off the Map«, in: International Journal of Urban and Regional Research 26(3), S. 531–554. Rodríguez, Encarnación G. (2005): »Das postkoloniale Europa dekonstruieren: Zu Prekarisierung, Migration und Arbeit in der EU«, in: Widerspruch 48, S. 71–84. Rothberg, Michael (2009): Multidirectional Memory: Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization, Stanford, CA: Stanford University Press. Roy, Ananya (2009): »The 21st-Century Metropolis: New Geographies of Theory«, in: Regional Studies 43(6), S. 819–830. Savoy, Bénédicte (2021): Afrikas Kampf um seine Kunst: Geschichte einer postkolonialen Niederlage, 2. Aufl., München: C.H.Beck. Schott, Dieter; Toyka-Seid, Michael (Hg.) (2008): Die europäische Stadt und ihre Umwelt, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Schubert, Dirk (2001): »Mythos europäische Stadt: Zur erforderlichen Kontextualisierung eines umstrittenen Begriffs«, in: Die Alte Stadt 28(4), S. 270–290. Shohat, Ella; Stam, Robert (1994): Unthinking Eurocentricism: Multiculturalism and the Media, London: Routledge.

Noa K. Ha: Städtische Episteme dekolonisieren

Siebel, Walter (2000): »Wesen und Zukunft der europäischen Stadt«, in: DISP 141, S. 28–34. Siebel, Walter (2006): Die europäische Stadt, 3. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Siegert, Hubertus (1999): Die moderne Stadt ist eine Mischung aus Dichte und Leere: Interview mit Rem Koolhaas, https://berlinbabylon.de/?page_id=200&lang= de, zuletzt geprüft am 28.08.2021. Simone, AbdouMaliq (2016): »Urbanity and Generic Blackness«, in: Theory, Culture & Society 33(7/8), S. 183–203. Small, Stephen (2012): »Slavery, Colonialism and their Legacy in the Eurocentric University: The Case of Britain and the Netherlands«, in: Human Architecture: Journal of the Sociology of Self-Knowledge 10(1), S. 69–79. Tuck, Eve; Yang, K. Wayne (2012): »Decolonization Is Not a Metaphor«, in: Decolonization: Indigeneity, Education & Society 1(1), S. 1–40. Wekker, Gloria (2016): White Innocence: Paradoxes of Colonialism and Race, Durham: Duke University Press. ZwischenraumKollektiv (Hg.) (2017): Decolonize the City! Zur Kolonialität der Stadt – Gespräche | Aushandlungen | Perspektiven, Münster: Unrast.

383

Queere Geographien, koloniale Geographien Urbane Gerechtigkeit in Toronto Jin Haritaworn These ancestors, these family members do not lay silent They wait for our visits Calling to us during each season: winter, spring, summer, fall. Always coming back to life, nourishing their children with their wisdom1 (Waters 2018: 83) Nirgendwo ist die Kolonialität gegenwärtiger westlicher Geographien offensichtlicher als in Siedlerkolonien wie dem sogenannten Kanada. In einem im von mir mitherausgegebenen Sammelband »Marvellous Grounds: Queer of Colour Histories in Toronto«2 veröffentlichten Gedicht schreibt Laureen (Blu) Waters – Istchii Nikamoon (Earth Song), Cree/Métis/Micmac, Wolf-Klan, Mitglied der Métis-Nation in Ontario – über die Knochen von verschwundenen und ermordeten Indigenen Menschen. Im Kontext des fortwährenden Kolonialismus und Genozids erfahren Indigene sexuell und geschlechtlich unkonforme Menschen weiterhin sexuelle Gewalt und frühzeitigen Tod.3 Waters 1

2

3

Deutsch: »Diese Ahn*innen, diese Mitglieder unserer Familie liegen nicht still. Sie warten auf unseren Besuch. Rufen nach uns zu jeder Jahreszeit: Winter, Frühling, Sommer, Herbst. Kehren immer wieder zurück ins Leben, nähren ihre Kinder mit ihrer Weisheit« »Marvellous Grounds« und sein Geschwisterband – »Queering Urban Justice: Queer of Colour Formations in Toronto« – sowie der Blog »MarvellousGrounds.com« wurden von Jin Haritaworn, Ghaida Moussa, Syrus Marcus Ware, Gabriela (Rio) Rodriguez und Alvis Choi herausgegeben. In diesen Sammlungen beschreiben wir Queers of Colour als geographische Subjekte, deren Karten und Raumschaffungsprojekte wichtige Kritiken und Alternativen für urbane Gerechtigkeit jenseits von racial capitalism und Siedlerkolonialismus anbieten. Anm. d. Hg.: Die unterschiedlichen Schreibweisen und Begriffe für sexuell und geschlechtlich unkonforme Menschen in der deutschen Version dieses Textes wurden mit Jin Haritaworn abgestimmt und sind bewusst vielfältig.

386

Koloniale Ordnungen und dekoloniale Zukünfte

sieht die Verstorbenen als Ahn*innen, die ihren Territorien und Genealogien entrissen wurden. Ihre Knochen, »lost in the dirt« (Waters 2018: 82), sind nicht abstoßend. Vielmehr bleiben sowohl die Knochen als auch die Erde uns nahe. Sie überwinden aus europäischen Ideen abgeleitete Vorstellungen vom Tod und kommunizieren weiterhin als Subjekte der Fürsorge. Sie geben Leben und sind selbst lebendig. Sie sind Teil einer Erde, die sorgsam und handlungsfähig ist und die die Fähigkeit und Intention zur Heilung hat: »Grass, trees, shrubs, flowers, vines, seeds, they speak for those lost! Medicines we harvest and use to heal our sicknesses are nourished by their bones, deep in Mother Earth.« (Ebd.: 82)4 Solche Beschreibungen des Nicht-Menschlichen werten weder das ›Natürliche‹ auf Kosten menschlicher Geographien auf noch wiederholen sie die Entmenschlichung von Indigenen und Schwarzen Menschen und anderen Menschen of Colour und all jenen, die Sylvia Wynter in ihrer berühmten Formulierung von Man and his Others als human Others bezeichnet (Wynter 2003: 266). Sie sind Teil einer wiedererstarkenden Indigenen Kosmologie, der Waters angehört. Diese Kosmologie versteht Pflanzen als mit dem Menschen verbundene Verwandte, und das Land als empfindungsfähiges Wesen. Ein solches Verständnis ist untrennbar mit gegenwärtigen Indigenen Kämpfen für Souveränität verbunden (Simpson 2014). Dieses Wiedererstarken wird von Indigenen Frauen angeführt und ist explizit pro-queer. Als Teil der Strawberry Ceremony, die jedes Jahr am 14. Februar in kanadischen Städten wie Toronto stattfindet, wird auch der verschwundenen und ermordeten »Indigenen Frauen, Mädchen, trans* und Two-SpiritPersonen« (Strawberry Ceremony 2016) gedacht, deren vorzeitige Tode epidemische Züge haben. In Toronto findet diese Zeremonie vor der Polizeizentrale an der Kreuzung der College Street und Yonge Street statt, die für viele Mitglieder der Schwarzen und Indigenen Communitys in Toronto beispielhaft für staatlichen Genozid steht (Strawberry Ceremony 2016; siehe auch Forrester 2014; It starts with us o.J., Native Youth Sexual Health Network/Families of Sisters in Spirit/No More Silence 2014). In der Zeremonie wird dieser Raum

4

Deutsch: »Gras, Bäume, Sträucher, Blumen, Reben, Samen – sie sprechen für die, die wir verloren haben! Die Arzneien, die wir ernten und nutzen, um unsere Krankheiten zu heilen, werden von ihren Knochen genährt, tief in Mutter Erde.«

Jin Haritaworn: Queere Geographien, koloniale Geographien

zurückerobert, um Indigenen Menschen, die Sexarbeiter*innen und/oder lesbisch, schwul, bi, trans* (LGBT), queer oder Two-Spirit sind, als Mitgliedern einer Familie, die sie liebt und vermisst, zu gedenken und sie wieder heimzuholen. Der Nähe und der Ehrfurcht, die Waters den Toten entgegenbringt, steht die distanzierte Art der dominanten Medien, über vermisste bzw. ermordete vergeschlechtlichte und rassifizierte Subjekte zu berichten, entgegen. Dies gilt besonders für Narrative über Serienmorde, die sowohl Täter*innen als auch Opfer im Monströsen und Grotesken verorten. Jiwani und Young (2006) haben dies in Bezug auf Medienberichte über Robert Pickton dokumentiert, den berüchtigten kanadischen Serienmörder, der für den Tod und das Verschwinden zahlreicher Frauen in Vancouver verurteilt wurde. Viele seiner Opfer waren Indigen und/oder Sexarbeiter*innen und lebten in der Downtown Eastside von Vancouver, einem der ärmsten Viertel Kanadas. Wie Jiwani und Young zeigen, wurde Pickton oft als Psychopath beschrieben, dessen Klassenhintergrund und ländliche Positionierung als Schweinezüchter ihn aus einer ›normalen‹, progressiven Siedlermännlichkeit ausschließt. Wie ich in dem Artikel ausführe, auf dem dieser Aufsatz basiert (Haritaworn 2020), sind ähnliche Thematiken auch charakteristisch für die Berichterstattung zwischen 2017 und 2019 über Bruce McArthur, einen weißen schwulen Mann, der für die Morde an acht Männern – die meisten davon südasiatisch oder nordafrikanisch – verurteilt wurde. Die Morde geschahen in und um Torontos Gay Village, das auch die Church-Wellesley-Gegend genannt wird. Wie auch in früheren Fällen von rassifizierter und sexualisierter Gewalt wurde der Tatort in den Medien bald von den Überresten der Vermissten und Ermordeten dominiert. Als Publikum erfuhren wir, dass McArthur, der Landschaftsgärtner war, die Körperteile seiner Opfer über Jahre hinweg in den Blumentöpfen und Gärten seiner Kund*innen vergraben hatte. Anders als beim ›pathologischen‹ Pickton – und ironischerweise angesichts seiner offen schwulen Sexualität – fiel der Fokus der Berichterstattung auf McArthurs Normalität – sein freundliches, umgängliches Verhalten und die Tatsache, dass er im Gay Village als Stammgast bekannt war. McArthur wurde in der Erzählung als tragischer Einzelfall dargestellt: als ›Monster in unserer Mitte‹, als abnorme und monströse Anomalie in einer Community, die bestrebt ist, normal zu werden für eine Öffentlichkeit, die bestrebt ist, sie zu normalisieren. Dieses unschuldige Selbstbild des Gay Villages und der es umgebenden Raumeinheiten – Stadt, Nation, Westen – wird durch die Gegen-Archive queerer und trans* Schwarzer Menschen, Indigener Menschen und Men-

387

388

Koloniale Ordnungen und dekoloniale Zukünfte

schen of Colour (QTBIPOC – Queer and Trans Black, Indigenous and People of Colour), die an den von mir mitherausgegebenen Büchern und unserer Blogsammlung beteiligt waren, in Frage gestellt (Haritaworn/Moussa/Ware 2018, Haritaworn et al. 2018, MarvellousGrounds.com). Als Illustration dafür dient ein Kapitel, das auf einem Interview von Syrus Marcus Ware mit Monica Forrester basiert. Forrester ist eine ältere Transperson und eine Schwarze und Indigene Aktivistin für die Rechte von Sexarbeiter*innen, die an vielen Bewegungen in der Stadt beteiligt ist, einschließlich Black Lives Matter und der Transbewegung (Ware 2018). Sie ist außerdem an verschiedenen Räumen Indigenen Widerstands beteiligt. Beispielsweise hielt sie 2014 bei Sisters in Spirit, einer Veranstaltung für vermisste und ermordete Indigene Frauen in Toronto, eine Rede (Forrester 2014). Ferner leitet sie die Aboriginal-Gruppe von Maggies, einer Organisation für die Rechte von Sexarbeiter*innen in Toronto. Forresters Erzählung im Interview zeichnet die rassifizierte und vergeschlechtlichte Geographie des Villages radikal neu. Weit entfernt davon, eine unschuldige Kulisse zu sein, erscheint das Village als Ort der Vertreibung und des vorzeitigen Tods (Gilmore 2007), an dem vergeschlechtlichte und rassifizierte Körper zum Verschwinden gebracht werden. Dieses Verschwinden ist ein Phänomen, das dem Village, einem siedlerkolonialen Konstrukt, zugrunde liegt. Dennoch erscheint es – im Gegensatz zur sensationellen Berichterstattung über die Serienmorde – als völlig ereignislos.

Widerstand gegen Rassismus in Polizei und Medien Die Geschichte um den Village-Serienmörder begann zu kursieren, als unsere beiden Sammelbände über QTBIPOC-Räume und -Geschichten in Toronto, »Marvellous Grounds« und »Queering Urban Justice«, in Druck gingen (Haritaworn/Moussa/Ware 2018, Haritaworn et al. 2018). Als südostasiatischer Mensch aus Deutschland, der in den frühen 2010er Jahren nach Toronto migriert und somit ein relativ neues Mitglied der Trans*- und Queers-ofColour-Community in Toronto war, erlebte ich die vielen Reaktionen von Queer- und Transmenschen in der Stadt sowohl in persönlichen Gesprächen, online und auf Events, mit und lernte viel aus ihnen. Der Presse gegenüber drückten viele queere Menschen ihre Wut darüber aus, dass Bruce McArthur der Polizei schon seit Längerem als sexuell und körperlich gewalttätig bekannt gewesen war (Gibson/Isai 2018). Nicht wenige waren schockiert, dass der Serienmörder derselbe Bekannte war, der mit ihnen im Village – wo er

Jin Haritaworn: Queere Geographien, koloniale Geographien

als Stammgast, Geschäftsmann und BDSM-Top bekannt war – gegessen, getrunken, Geschäfte gemacht, Gespräche geführt und Sex gehabt hatte. Andere – vor allem trans* und queere Menschen of Colour – erlebten dagegen ein Déjà-vu, als offenkundig wurde, dass die meisten von McArthurs Opfer südasiatisch und nordafrikanisch waren und dass McArthur zuvor mehrmals für sexuelle Übergriffe angezeigt worden war, die von der Polizei und den Gerichten ungeahndet geblieben waren (ASAP 2018). Einige dieser Fälle waren bereits im Rahmen einer besonderen polizeilichen Untersuchung behandelt worden, die zu dem Schluss gekommen war, dass es »keine Hinweise auf kriminelle Aktivität« gebe und davon ausgegangen werden könne, dass die Opfer in ihre Heimatländer zurückgekehrt statt verschwunden oder ermordet worden wären (Gibson/Isai 2018). Wie bereits bei einigen der von Pickton ermordeten Frauen (Jiwani/Young 2006) wurden Fahndungsfotos von Dean Lisowick verbreitet, einem der Opfer, der eine Geschichte von Sexarbeit, Wohnungslosigkeit und Drogenkonsum hat. Fotos von McArthur hingegen zeigten ihn in einem positiven Licht, als den netten Mann von nebenan, der lächelnd vor den Niagarafällen und anderen kanadischen Landschaften oder im Weihnachtsmann-Kostüm posiert (Ha 2018). Menschen an den Rändern der queeren Szene Torontos verfolgten die sich entfaltende Berichterstattung mit dem Bewusstsein, dass Sexarbeiter*innen, transfeminine Personen, auf der Straße lebende Personen und Queers of Colour seit vielen Jahren aus dem Village verschwinden und dass die Polizei und andere einflussreiche Akteur*innen in Church-Wellesley – von Sicherheitsdiensten über die Business Improvement Association bis hin zum 519, dem größten LSBT-Community-Zentrum der Stadt – an der Schutzlosigkeit dieser Gruppen gegenüber vielfältigen Formen von Gewalt mitschuldig oder aktiv beteiligt sind. Einige Stimmen hinterfragten die Umstände, unter denen die Medien überhaupt Interesse am Village-Serienmörder entwickelten. In einem breit rezipierten Community-Newsletter zeigte die Alliance for South Asian Aids Prevention auf, dass Polizei und Medien die Morde ignoriert hatten, bis ein gut vernetztes weißes Opfer, Andrew Kinsman, als vermisst gemeldet wurde (ASAAP 2018; Krishnan 2018a; 2018b). Manche verknüpften die Tode außerdem mit anderen Fällen, in denen vergeschlechtlichte und rassifizierte Körper verschwunden waren. Im Sommer 2017 – einige Monate, bevor die Serienmorde Schlagzeilen machten – verschwand Alloura Wells, eine Indigene Transfrau, aus dem Village. Sie wurde später tot in einer Schlucht in einer benachbarten Gegend aufgefunden. Laut Monica Forrester, der Elder, auf deren Arbeit ich unten noch weiter eingehen werde, hatte die Polizei den Fall Wells ›überse-

389

390

Koloniale Ordnungen und dekoloniale Zukünfte

hen‹, weil sie »trans*, wohnungslos und möglicherweise eine Sexarbeiterin« (zitiert nach McLaughlin 2017) war5 . Forrester kritisierte neben der Polizei auch das gut ausgestattete LSBT Community-Zentrum The 519 dafür, dass dieses trotz seines Wissens die Community nicht über Wells’ Tod informiert hatte. Diese Praktiken bewusster Nachlässigkeit stehen im Gegensatz zu den Suchaktionen, die von Community-Mitgliedern wie Forrester durchgeführt wurden. Forrester wird in McLaughlins Zeitungsartikel mit dem folgenden Ausdruck einer tiefen ethischen Fürsorge zitiert: »Diese Community vermisst sie und liebt sie. Wir wollen sie wiederhaben.« (Ebd.) Forresters Aussagen sind in ihrem jahrzehntelangen Aktivismus verwurzelt. In ihrem in »Marvellous Grounds« veröffentlichten Interview mit Syrus Marcus Ware (2018) beschreibt Forrester das Village als einen Ort, der auf Gewalt gegründet ist und aus dem transfeminine Sexarbeiter*innen systematisch verdrängt werden. Dieses Verständnis steht im Gegensatz zu dem von Medien, Polizei und Politiker*innen nach McArthurs Mordserie gemalten Bild, das das Village als vertrauensvolle, freundliche und offene Gemeinschaft zeichnet, wo Gewalt und Tod seltene Vorfälle sind (Haritaworn 2020). Im nächsten Abschnitt theoretisiere ich dieses positive Bild als Teil einer ›queeren Regenerierung‹, die für neoliberale Städte auf der ganzen Welt charakteristisch ist.

Queere Regenerierungen Das in Berichten über die Serienmorde gemalte Bild des Villages – als Viertel an der Schwelle zur Respektabilität – liegt in dem begründet, was Jasbir Puar (2007) Homonationalismus nennt und das ich mit dem Begriff des GayImperialismus zu fassen versucht habe (Haritaworn/Tauqir/Erdem 2007). Beide Konzepte beschreiben den Einschluss queerer Körper, Identitäten und, wie ich hier hinzufügen möchte, Räume auf verschiedenen Ebenen (Viertel, Stadt, Nation und Westen) in das Ego-Ideal einer neuerdings LSBT-freundlichen Öffentlichkeit. In »Queer Lovers and Hateful Others: Regenerating Violent Times and Places« (Haritaworn 2015) führe ich den Begriff der queeren Regenerierung

5

Anm. d. Hg.: Alle Übersetzungen, inkl. der Zitate, stammen von Boka En und Michael En, soweit nicht anders angegeben.

Jin Haritaworn: Queere Geographien, koloniale Geographien

(queer regeneration) ein, um zu untersuchen, wie ehemals degenerierte (degenerate) Subjekte zum Leben erweckt werden, und zwar in der Nähe von degenerierten Orten, Zeiten und Körpern, die im Raum des Todes bleiben. Letztere werden im Zuge dieser queeren Regenerierung als kriminell und pathologisch reifiziert und erneut dem beschleunigten sozialen und vorzeitigem Tod ausgesetzt. So werden im Berliner Kontext, den ich im Buch untersuche, weiße queere und trans* Körper in ehemals stigmatisierten innerstädtischen Räumen zu handlungsfähigen Subjekten. Diese (nunmehr aufgewerteten) Nachbarschaften sind sowohl Orte queerer Gentrifizierung – an denen Queers unter den ersten Gentrifizierer*innen waren – als auch Kulisse für Aktivismus gegen sogenannte Hasskriminalität. Dabei handelt es sich um ein politisches Paradigma, das ursprünglich in der nordamerikanischen Bürgerrechtsbewegung entwickelt wurde. In Deutschland ist der Begriff der Hasskriminalität erst vor relativ kurzer Zeit im Rahmen von stark rassifizierten Sittenpaniken angekommen. In den medialen, aktivistischen und politischen Texten, die ich untersucht habe, erscheinen Queers oft zugleich mit ›homophoben Muslimen‹, die sie bedrohen – eine Figur, die einen Großteil jener Bevölkerungsgruppen anruft, die durch Gentrifizierung und Polizierung verdrängt werden (Smith 1997). In ähnlicher Weise beschreiben mehrere Autor*innen im »Marvellous Grounds«-Sammelband die Erneuerung von Church-Wellesley als Torontos Gay Village als Entwicklung, die mit der Verdrängung von queeren und Transmenschen of Colour einhergeht (Rodriguez 2016a; Ramirez 2017; Ahmad 2018; Forrester 2018, siehe auch Walcott 2006). Auch Monica Forrester (2018) spricht im unten zitierten Interview darüber, wie trans* Sexarbeiter*innen immer weiter aus dem Village verdrängt wurden. Aemilius Ramirez (2017), Asam Ahmad (2018) und Gabriela (Rio) Rodriguez (2016a) erinnern in diesem Zusammenhang auch daran, wie The Steps, die Stufen vor dem Second Cup Café an der Kreuzung von Church Street und Wellesley Street, einem vordergründig für die Installation einer Rollstuhlrampe geplanten Revitalisierungsprojekt zum Opfer fielen, das vom Café, der Business Improvement Association und Stadtplaner*innen gemeinsam betrieben wurde. Direkt vor dem Café gelegen (das heute eine Zweigstelle der vietnamesischen Restaurantkette Ginger ist) waren die Steps ein beliebter Treffpunkt für Jugendliche, die zu jung oder zu arm waren, um die Geschäfte und Lokale an der Church Street zu besuchen. Als ich 2012 nach Toronto zog, waren die Steps gerade Geschichte geworden, der auf verschiedene Weisen gedacht wurde. Ein Beispiel ist die radikale queere Village-Führung A Little Bit Louder Now!, geleitet von Rio Rodriguez und anderen queeren und Trans-

391

392

Koloniale Ordnungen und dekoloniale Zukünfte

menschen of Colour, die ironischerweise mittlerweile selbst Ziel ›gentrifizierender‹ Aneignungsversuche durch die Canadian Lesbian and Gay Archives wurde (Rodriguez 2018, siehe auch Rodriguez 2016a). Darüber hinaus waren kurz zuvor mehrere jüngere Menschen of Colour in meinem Umfeld aufgrund von Mietenerhöhungen aus ihren Wohnungen im Village ausgezogen. Im Begleitkommentar zu unserem unter der Regie von Min Sook Lee (2016) entstandenen Kurzfilm, der die beiden Bücher und den Blog begleitet, erinnert Trans*of-Colour-Künstler* Aemilius Ramirez eindrücklich: »There is a history here: Don’t let the corporatization of Pride, of our Village fool you that things are ok now.«6 Mit meiner Beschreibung dieser Prozesse als queere Regenerierung spiele ich bewusst auch auf Resonanzen mit der Stadterneuerung an. Im Kontext der globalen neoliberalen Stadt sind Queers mit Privilegien in Bezug auf race und Klasse zu einem privilegierten Symbol zunehmend gentrifizierter Stadtteile geworden, denen ein neues farbenfrohes Image verpasst wird, während die queer of Colour Bewohner*innen, die lange die cutting edge der Viertel verkörpert haben, aus ihnen verdrängt werden. Die gleichzeitige Wiederbelebung von vormals degenerierten Räumen und ihren Bewohner*innen macht es nötig, jene Körper auszuscheiden, die degeneriert bleiben, weil sie den Raum auf unangemessene Weise bewohnen und die Kehrseite zu siedlerkolonialen Vorstellungen von Kultiviertheit und Kultivierbarkeit bilden. Queere Regenerierung als Konzept erlaubt daher eine umfassende Betrachtung dessen, wie sexuell und geschlechtlich unkonforme Leben auf unterschiedliche Weisen durch Gentrifizierung geprägt werden. Queere Erneuerung beschreibt somit auch tatsächliche Orte, an denen Menschen, in den Worten der environmental justice Bewegung, »leben, arbeiten, essen und spielen« (Gosine/Teelucksingh 2008). Bei der Kartierung dieser Orte spielen Queers of Colour als bislang ignorierte subalterne geographische Subjekte (McKittrick/Woods 2006, Ingram/Boutillette/Retter 1997) eine Rolle, die ernst zu nehmen ist. Zusätzlich ist es meine Absicht, mit dem Konzept der queeren Regenerierung dazu aufzurufen, die biopolitischen, nekropolitischen und geopolitischen Prozesse zu hinterfragen, durch die Subjekte und Orte in der neoliberalen Stadt im Rahmen der longue durée von racial capitalism (Robinson 1983) und Siedlerkolonialismus (Coulthard 2014) vitalisiert und für unterschiedliche

6

Deutsch: »Hier liegt eine Geschichte. Lasst euch durch die wirtschaftliche Vereinnahmung von Pride und von unserem Village nicht einreden, dass jetzt alles okay sei.«

Jin Haritaworn: Queere Geographien, koloniale Geographien

Nutzungszwecke vorbereitet werden. Das Konzept steht im Einklang mit anderen Überlegungen zu kolonialem Raum: Zum einen mit Sherene Razacks (2002) Konzept der Degeneriertheit (degeneracy), das aufzeigt, wie koloniale Diskurse über Raum zwischen ›respektablen‹ bürgerlichen Europäer*innen, die als Einzige befähigt sind, das Land zu bewirtschaften, und degenerierten (degenerate) Körpern, deren Arbeit wertlos bleibt, unterscheiden; zum anderen mit Glen Coulthards (2014) Konzept der urbs nullius, das verdeutlicht, wie die Verdrängung von Indigenen und armen Menschen of Colour im Rahmen von Gentrifizierung der kolonialen Logik der terra nullius folgt – des leeren, unbewohnten Landes, das nur darauf wartet, besiedelt zu werden. Durch die Benennung dieser geschichtlichen Prozesse ermutigt der Begriff zu einer langfristigen Betrachtungsweise, die eine Veränderbarkeit von race und Kapital anerkennt, welche sich etwa aktuell in der Kompatibilität weißer LSBT-Subjekte mit neoliberalen und finanzkapitalistischen Logiken wie Risiko, freie Wahl und Verantwortung zeigt (vgl. Haritaworn 2015). Gleichzeitig erinnert der Begriff daran, dass Versklavung, Genozid und Grenzimperialismus Regime sind, die in der Gegenwart Bestand haben und klassifizierte, rassifizierte sowie vergeschlechtlichte Logiken der Landnutzung aufrechterhalten – von Privateigentum über cis-heteropatriarchale Häuslichkeit bis hin zu Konsumentenrechten. Wie Sunera Thobani (2007) vielleicht sagen würde: Dem weißen queeren Subjekt wird es gestattet, sich zu den exaltierten Siedlersubjekten zu gesellen. Anders ausgedrückt, nach Jared Sexton (2008): Nachdem das queere Subjekt die Methoden und Sprachen Schwarzen Widerstands benutzt hat (Befreiung, Bürgerrechte, Eherechte), tritt es nun in die Ränge der JuniorPartner*innen ein, und zwar in einer Kultur, die dezidiert anti-Schwarz bleibt. Der Begriff der Regenerierung verfügt über einige weitere hilfreiche Resonanzen, von denen ich hier nur einige wenige ansprechen möchte. Er kritisiert neoliberale Stadt-Diskurse wie etwa Richard Floridas »kreative Klasse«, die solche Queers mit Privilegien in Bezug auf race und Klasse als Gentrifizierer*innen der ersten Welle anruft, die als Wegbereiter*innen für wünschenswertere Bevölkerungen fungieren. Etymologisch gesehen resoniert die Wurzel ›gen‹ in Regenerierung mit mehreren entscheidenden sozialen Unterschieden, einschließlich Gender, Genre7 und Genus oder Gattung. Vordenker*in-

7

Ich möchte den Teilnehmer*innen des 2017er Jahrgangs der Residential Research Group Queer of Color Formations and Translocal Space in Europe an der University of California dafür danken, dass sie sich mit meiner Arbeit auseinandergesetzt und dabei die Resonanzen zwischen meinem Konzept der Regenierung und den Begriffen Gender und

393

394

Koloniale Ordnungen und dekoloniale Zukünfte

nen der Black Studies haben aufgezeigt, dass ›Genus‹ sich sowohl auf race als auch auf Spezies bezieht, was uns zurück zum Anfang, zu den Themen in Waters’ Gedicht bringt. Beispiele hierfür sind Sylvia Wynters’ (2003) Unterscheidung zwischen Man and his human and non-human Others, oder Frantz Fanons Beschreibung von anti-Schwarzem Rassismus als der Interpellation als »ein neuer Typus von Mensch, eine neue Gattung« (Fanon 1985[1967]: 88). Der Begriff der queeren Regenerierung hinterfragt also, wie bestimmte Ontologien und Daseinsweisen – im Körper, in der Welt und mit dem Land – von den Erfinder*innen, Entwickler*innen und Planer*innen der Stadt ermöglicht oder verhindert werden. Der Gentrifizierungsprozess, den ich hier aufzeigen möchte, betrifft ferner nicht nur Land, sondern auch Körper und Methodologien. Queere Regenerierung kann auch in Hinblick auf andere Prozesse der Respektabilisierung – wie etwa Trans*-Aktivismus und -Forschung – betrachtet werden. In diesen Kontexten bedeutet queere Erneuerung eine weiß-Werdung von Räumen und Archiven sowie einen Bevölkerungsaustausch: Ein Vergessen und Verdrängen jener, die einst queere und Trans*-Politik und -Geschichte geschaffen haben. Das bedeutet nicht, dass Schwarze und Braune Körper wertlos für dominante Trans*-Aktivismen und -Studien sind. Tatsächlich gibt es eine ständig wachsende Zahl an Sammelbänden und Aufrufen, die sich vordergründig mit Transmenschen of Colour beschäftigen, aber gleichzeitig einen überwiegend weißen Kanon zitieren (siehe auch Ellison et al. 2017: 162). Diese Themen – Verdrängen und Vergessen – wurden in unseren beiden Sammelbänden ausführlich behandelt. In den jeweiligen Einleitungskapiteln beschreiben wir unser Projekt als Entkartieren und Gegenarchivieren (unmapping and counter-archiving): als Intervention in dominante Kartierungen und Geschichtsschreibungen von queeren Zeiten und Orten (Haritaworn/Moussa/ Ware 2018; Haritaworn et al. 2018). Dabei sind wir in der Verwendung der Präfixe ›un-‹ und ›counter-‹ von Razacks (2002) Konzept des Unmapping inspiriert, einer Kartierungsmethodologie, die versucht, sowohl die tatsächlichen, von Genre aufgezeigt haben. Ich möchte außerdem den Organisator*innen und Teilnehmer*innen der folgenden Veranstaltungen für die Einladung bzw. die Möglichkeit danken, diese Arbeit im Rahmen von Keynotes zu diskutieren: Borders. Affects. Biopolitics (Kopenhagen, Dänemark, 2019), Trans Matters (York University, Kanada, 2019), American Sociological Association Preconference, Sexualities Section (Philadelphia, USA, 2018), Thinking and Working in, through, and with the German (Studies) Context (University of Alberta, Kanada, 2017), Feminist Research Symposium (McGill University, Kanada, 2016), Gender Research Conference g16 (Linköping, Schweden, 2016).

Jin Haritaworn: Queere Geographien, koloniale Geographien

nicht-weißen und kolonisierten Subjekten bewohnten Orte zu beschreiben als auch dominante Karten als koloniale Werkzeuge der Raumformung mit dem Ziel der Verdrängung und Enteignung Indigener Völker zu denaturalisieren. Wie die Arbeit meine*r Kollaborateur*in Rio Rodriguez (2016a) zeigt, spielen auch homonormative Karten des Gay Villages eine konstitutive Rolle in der Entwicklung von degeniertem zu respektablem Raum, als visuelle Richtlinien, die ein Säubern von Raum von dem Chaos und der Gesetzlosigkeit, die mit Indigenen und rassifizierten Körpern assoziiert werden, beschreiben. In dem Beitrag, auf dem dieser Aufsatz basiert (Haritaworn 2019), illustriere ich dies damit, wie Journalist*innen und Meinungsmacher*innen das Village im Zuge der Berichterstattung über McArthurs Serienmorde beschreiben. Die kognitive Karte, die in der Debatte am verbreitetsten war, beschrieb das Village als unschuldigen Raum, der vorübergehend von einem tragischen Einzelfall befleckt worden war, dessen Entfernung durch Polizei und Gefängnisse den vor dieser Anomalie vorherrschenden gewaltlosen Zustand wiederherstellte. Diese vorübergehende Entgleisung wurde durch McArthurs trügerische Ähnlichkeit – als erfolgreicher Geschäftsmann und Konsument – mit anderen Stammgästen des Villages erklärt. Durch sein Weißsein, seine geschlechtskonforme Männlichkeit und seine Verortung in der Mittelschicht sah er nicht wie ein Täter aus, der anderen Queers Schaden zufügen könnte – ein solches Aussehen war in diesem homonationalistischen und queer-imperialistischen Kontext mit eben jenen bärtigen braunen Männern assoziiert, die seine Opfer waren. McArthur war völlig anders als die Jugendlichen of Colour, die von den Steps vertrieben worden waren – dem Ort vor genau dem Café, das er laut Journalist*innen oft mit Freund*innen besuchte, die später kaum »die grässlichen Geschichten, die sie hörten, mit dem sympathischen Kerl [zu] vereinen [mochten], mit dem sie gemeinsam Kaffee getrunken hatten« (Gallant/Hunter/Isai 2018). Er ähnelte auch nicht jenen anderen Körpern, die regelmäßig aus dem Village verschwinden: So wie den wohnungslosen Menschen, die sich im Park des 519 treffen, oder den transfemininen Sexarbeiter*innen an der Straßenecke, mit deren Wissensschaffungen als organischen Intellektuellen ich mich im Folgenden beschäftigen werde.

395

396

Koloniale Ordnungen und dekoloniale Zukünfte

Theoriebildung an der Straßenecke8 Unsere kollektive Intervention in Debatten um queere Räume kritisiert die Rolle von dominanten Karten und Archiven in der Entwicklung und Aufrechterhaltung von kolonialen und kapitalistischen Vorstellungen von Zeit und Raum. Gleichzeitig haben auch die an unserem Archiv Beteiligten Karten gezeichnet und Geschichten geschrieben (tatsächlich oder metaphorisch). Diese Kartierungen und Geschichtsschreibungen hinterfragen das Bild einer vertrauensvollen Gemeinschaft, das aus der Berichterstattung über die Serienmorde hervorging. Sie zeigen auf, dass die homonormative Geographie des Villages gleichzeitig eine weiße Geographie ist, die siedlerkoloniale Vorstellungen von Geschlecht und Sexualität und die mit ihnen einhergehende rassistisch-kapitalistische Landnutzung erweitert, während sie rassifiziertes städtisches Leben eindämmt. In mehreren Beiträgen wird das Village als Raum beschrieben, der besonders feindlich ist gegenüber transfemininen Menschen of Colour und anderen, von denen angenommen wird, dass sie Sexarbeiter*innen sind. Diese feindliche Fiktion von Raum wird von genau jenen Kräften aufrechterhalten (Polizei, Sicherheitsdiensten, Betrieben, Vereinen), die in der Berichterstattung um die Serienmorde angeblich Sicherheit im Village schaffen (Rodriguez 2016b; Ramirez 2017; Forrester 2018; Robinson 2018). Dieser Widerspruch wird in Syrus Marcus Wares (2018) Interview mit Monica Forrester näher ausgeführt. Das Interview stellt die lange Geschichte eines Trans-of-Colour-Aktivismus in der Innenstadt Torontos dar, der seither in die Trans*-Angebote des 519 und anderer großer Vereine inkorporiert worden ist. Dieser ältere Aktivismus fand allerdings nie in LSBT-Karten und -Archive Einzug. Forrester erklärt die Gründe dafür wie folgt: »Als du mich um dieses Interview gebeten hast, habe ich begonnen, über die Geschichte der Archivierung nachzudenken, und ich dachte mir: ›Ich wünschte, ich hätte Fotos gemacht!‹ Damals war es so anders für uns. Es ging vor allem ums Überleben. Niemand dachte daran, etwas zu archivieren, weil wir alle davon ausgingen, dass wir ohnehin nicht älter als dreißig würden. Unser Leben war so ungewiss. Niemand dachte: ›Hey, wir sollten das für

8

Ich danke Syrus Marcus Ware, einem Mitglied meines Kollektivs, für den Blick auf die Straßenecke als Ort, an dem Realitäten entstehen und geschaffen werden (persönliche Kommunikation, 2018).

Jin Haritaworn: Queere Geographien, koloniale Geographien

später archivieren.‹ Das Einzige, was mich wirklich beschäftigte, waren die Tode – das vorzeitige Sterben von Transmenschen aufgrund von Ungerechtigkeit, Gewalt und Stigma. Heute gehe ich in mich und denke über die Tode nach, die ich damals miterlebt habe. Ich habe so viele Menschen mit 21, 22 sterben sehen. Damals war es etwas Besonderes, es bis dreißig zu schaffen.« (Ware 2018, S. 26) Forresters Rückblick auf Trans*-Geschichte zeichnet ein gänzlich anderes Bild als die aufpolierten Karten und Archive, die den Einzug von Queers in die Stadt feiern. Er resoniert mit dem, was Performance-Theoretikerin Diana Taylor (2003) das Repertoire nennt: Den alltäglichen Geschichten, Performances, Aktivismen und Formen verkörperter Raumnutzung von subalternen Subjekten und Gemeinschaften, die Taylor explizit vom Archiv als Wirkungsbereich der Kolonisator*innen unterscheidet. Die Canadian Lesbian and Gay Archives – ganz in der Nähe des Villages in Toronto, nur zehn Minuten zu Fuß vom alten Strich an der Ecke von Homewood und Maitland und kürzlich in ArQuives umbenannt – rühmen sich, das »größte unabhängige LGBTQ+-Archiv der Welt« (The ArQuives o.J.) zu sein. Auch andere Dokumentationen queerer Geschichte – vom weißgewaschenen Gedenken an die Bathhouse Raids (die Polizeirazzien auf queere Saunen, die oft als ›Torontos Stonewall‹ bezeichnet werden) bei Veranstaltungen zu queerer Geschichte bis zur Errichtung einer pompösen Statue für Torontos »schwulen Pionier« Alexander Woods an der Ecke von Church Street und Alexander Street – zelebrieren weiße cis-Schwule (und gelegentlich weiße cis-Lesben und weiße Transpersonen) als die heroischen Urahnen der LSBT-Community in Toronto (vgl. Haritaworn et al. 2017). Die Entstehungsgeschichte, die hier archiviert wird, steht in Kontrast zu dem, was Monica Forrester die Straßenecke nennt. Sie beschreibt diese als einen vergessenen Ort, an dem sexarbeitende transfeminine Menschen wichtige Methoden des Organisierens und einzigartige Formen der Community-Arbeit entwickelten. »Ich habe zirka 1999 mit Aktivismus begonnen, weil es einen extremen Anstieg an Morden an Transfrauen gegeben hatte. 1997 wurden in Toronto zwei Transmenschen und eine Indigene cis-Frau an der Straßenecke ermordet. Mirha Soleil Ross, eine erfahrene Radiomacherin und Aktivistin [aus Montreal], ich selbst und ein paar andere Leute schlossen uns zusammen, um einen sicheren Ort für Transmenschen zu fordern – und zwar jetzt sofort. Die Richtung, in die wir uns damals bewegten, war ziemlich gut. Unsere informelle Koalition schloss Transleute of Colour wie mich selbst, Mirha und andere ein.

397

398

Koloniale Ordnungen und dekoloniale Zukünfte

Dann aber ging es bergab, als mehr und mehr weiße Leute an Bord geholt wurden, Leute mit mehr akademischen Fertigkeiten, Leute mit mehr politischer Erfahrung, Leute, die keine Ahnung von den echten Problemen hatten. Dadurch fühlten sich viele von uns, die nicht über diese formellen Qualifikationen verfügten, verdrängt – und wir wurden verdrängt.« (Ware 2018: 26) Die Straßenecke ist sowohl Schauplatz vorzeitigen Todes als auch ein Ort, wo neue Methoden entwickelt werden – Methoden, die später institutionalisiert wurden und nicht mehr dem Aufbau einer Trans-of-Colour-Community dienten. »Die Straßenecke war die einzige Gemeinschaft, die es damals gab, der einzige Ort, an dem wir Informationen teilen konnten. Und dort habe ich das Organisieren gelernt, dort habe ich die Entschlossenheit entwickelt, etwas zu verändern, und die Inspiration gefunden, auch fast dreißig Jahre später noch Aktivistin zu sein.« (Ebd.: 25) Forrester schließt das Interview wie folgt: »Es ist wichtig, zu verstehen, dass es bei Sexarbeit nicht nur ums Überleben geht, sondern auch um den Aufbau von Community. Die Sexarbeit und die Straßenecke waren die Orte, wo wir unsere Partner*innen fanden und als das anerkannt wurden, was wir waren: als Menschen mit wunderschönen Körpern und als Menschen, die diese Körper liebten. Das muss den Leuten klarwerden. Trans* Sexarbeiter*innen in Toronto haben Communitys aufgebaut und landesweite Netzwerke geschaffen. Wir haben Ressourcen entwickelt, die Sexarbeiter*innen und ihren Verbündeten Zugang zu essenziellen Informationen geben. Mithilfe dieser Ressourcen werden wir überleben und uns entfalten können!« (Ebd.: 35) Allerdings laufen diese Methoden Gefahr, ihre lebensspendende Kraft zu verlieren, wenn sie von den Menschen, für die sie erfunden wurden, entwendet werden. Forrester spricht darüber, wie die Angebote, für die trans* Sexarbeiter*innen gekämpft hatten, ›normalisiert‹ und ihnen weggenommen wurden. Sie wurden zum Rohmaterial für Expert*innen, die, obwohl oft auch queer oder trans*, keinen Bezug zu den Realitäten an der Straßenecke haben. Diese Expert*innen sind die wahren Nutznießer*innen einer trans* Inklusionspolitik, die zwar Sichtbarkeit und Identifikations-Möglichkeiten mit sich bringt, aber die Zustände, die weiterhin zum vorzeitigen Sterben von trans* Sexarbei-

Jin Haritaworn: Queere Geographien, koloniale Geographien

ter*innen führen, kaum angreift. Forrester nennt The 519 als Beispiel für diesen Prozess. In der Trans-of-Colour-Community, in der ich mich bewege, kursieren ähnliche Anekdoten über andere Vereine, bei denen es transfeminine Menschen of Colour lange gar nicht oder nur in sehr prekären Positionen gab (vgl. Ahmad 2018). Forrester sagt: »Wenn ich mir die Angebote vom 519 heute ansehe, ist da nichts mehr für Sexarbeiter*innen dabei – obwohl das früher anders war. Ihr Trans-Angebot hat sich davon wegbewegt, trans* Sexarbeiter*innen zu unterstützen – als ob wir völlig vergessen hätten, was der ursprüngliche Zweck dieser Arbeit war.« (Ware 2018: 28) Dieser Akt des Vergessens ist zugleich ein Diebstahl: Die Arbeit an der Straßenecke – Arbeit, die gefährlich und manchmal tödlich ist – wird einkommensschwachen Transmenschen of Colour entzogen und in Angebote und Aktivitäten gesteckt, die einem anderen Zweck dienen und eine andere Zielgruppe haben. Die Früchte der Arbeit von Transmenschen of Colour ermächtigen schließlich eine kleine Gruppe vor allem weißer trans* und LSBT-Expert*innen, deren primäres Interesse nicht die Unterstützung einkommensschwacher Transmenschen of Colour ist, sondern zuallererst ihr eigener Status und ihr eigenes Einkommen. »Zu der Zeit wurden mehr trans-spezifische Sachen gemacht, also Sachen, die Transmenschen einschlossen. Aber dann wurde das einfach normalisiert, wie du weißt. Obwohl sich für marginalisierte Gruppen nichts wirklich veränderte, gab es dann immer mehr Angebote […]. Warum sind immer noch so viele Transmenschen von Wohnungslosigkeit betroffen? Warum müssen sich Transmenschen immer noch mit all diesen anderen Problemen in ihrem Leben herumschlagen, wie zum Beispiel HIV-Übertragung? Warum hat sich das alles noch immer nicht geändert?« (Ebd.: 31) Die Institutionalisierung von Trans-Angeboten, auf die sich Forrester bezieht, kann als fetischistisch in Sara Ahmeds (2000) Sinn verstanden werden: Sie trennt die von trans* Sexarbeiter*innen entwickelten Methoden von ihren Geschichten und den Gemeinschaften, denen sie dienen sollten, ab. Sie trägt wenig dazu bei, die Bedingungen zu verändern, die die Welt für Transfrauen of Colour zu einem schwer überlebbaren Ort macht. Sie ist agnostisch gegenüber den Verhältnissen, die sie tötbar macht. Wie ich in einem mit Riley Snorton (2013) verfassten Beitrag zum zweiten Band des Transgender Studies

399

400

Koloniale Ordnungen und dekoloniale Zukünfte

Reader schreibe, profitiert diese Institutionalisierung von den verletzten und toten Körpern von Transmenschen of Colour, indem sie sie in Statistiken und andere neoliberale Übungen verwandelt, deren Profiteur*innen in ihrer Normalität Körpern wie McArthur ähneln. Wir müssen also die Straßenecke und die Trans of Colour Community, die sich dort zusammenfindet, als Abbaugebiet für die akademischen und gemeinnützigen Sektoren begreifen. Im Prozess der Institutionalisierung und Professionalisierung von Trans-Studien und -Politiken entsteht eine neue Klasse von Expert*innen, von denen viele, wie die trans Elder Miss Major Griffin-Gracy festhielt, weiße trans-maskuline Menschen mit Bildungsprivilegien sind (Donahue 2011). Diese werden dadurch als die eigentlichen trans* Aktivist*innen und Theoretiker*innen erkennbar, sodass es ihnen möglich ist, sich dem bürgerlichen Ideal of Man (wieder in Sylvia Wynters Sinn) anzunähern. Diese Annäherung stützt sich auf ein Verkennen und Entwerten von armen und sexarbeitenden transfemininen Menschen of Colour als Aktivist*innen sowie als organische Intellektuelle. Im Prozess der Institutionalisierung werden ihre rassifizierten und vergeschlechtlichten Körper zu Rohstoffen, die abgetragen und in Brennstoff umgewandelt werden – eine kannibalische Verarbeitung, die sich gegen den menschlichen Körper wendet und ihm seine Energien, seinen Intellekt und seine People Power 9 entzieht, um absatzfähige Produkte zu erzeugen. Die Lebenskraft von Transmenschen of Colour wird so auf Bio-Wert reduziert, womit ich eine Abstrahierung von Energie aus dem extrahierten Körper und seinen individuellen und kollektiven Kapazitäten meine, mit dem Ziel, machtvolle Sektoren, Karrieren und Identitätsformationen zu nähren und zu stärken. Das steht im Einklang mit Jodi Melameds (2011) Konzept des neoliberalen Multikulturalismus – einer Methodologie der Differenz, an die niemand je geglaubt hat – weder die wenigen, die alibihaft aufgenommen und integriert wurden, noch Transmenschen of Colour, die schon vor Trump und seinen Pendants in Kanada und Europa als Repräsentant*innen einer politischen Korrektheit gesehen wurden, die zu weit ging, und erst recht nicht jene weißen Arbeiter- und Mittelklassen, die ihr Recht auf Meinungsfreiheit (ihr right to be offensive) vor jenen verteidigen, die vermeintliche Sonderrechte beanspruchen. Ich behaupte, dass dieses neoliberale Diversitätsregime tatsächlich zu 9

Anm. d. Übers.: Der Begriff ›People Power‹ steht in Verbindung mit sozialen Bewegungen, die ›vom Boden aus‹ entstehen, die politisch schwächsten Mitglieder der Gesellschaft einbinden und sich gegen unternehmerisch-wirtschaftliche Interessen stellen.

Jin Haritaworn: Queere Geographien, koloniale Geographien

Ende geht. Allerdings wäre es ein Fehler, den historischen Moment in der Gestalt von Trump, Brexit oder der schockierenden oder überraschenden Rückkehr des Faschismus zu verorten, wie es in progressiven Kreisen oft getan wird. So war etwa eine häufige Reaktion auf Trumps Wahl zum Präsidenten der USA: »Was geschieht mit unseren Rechten? Zumindest können wir noch kritisch denken.« Im Gegensatz hierzu argumentieren Dylan Rodríguez (2016) und andere, dass ›dieser Moment‹ kein Bruch sei, sondern vielmehr eine Kontinuität innerhalb des fortdauernden Regimes von racial capitalism und Siedlerkolonialismus abbildet. Diese longue durée erlaubt es uns, die progressive, LSBTfreundliche Geschichte des Village-Serienmörders zu hinterfragen, in der das Village als vertrauensvolle, vielfältige Gemeinschaft aufrechter, schutzwürdiger Bürger*innen auftritt. Tatsächlich basiert bereits die Vorstellung eines unschuldigen queeren Raums als solche auf einem systematischen Vergessen jener, deren schieres Überleben eine Gefahr von Grund auf für diesen Raum darstellt.

Schluss: Auf diesen Knochen In »Queer Lovers and Hateful Others« (Haritaworn 2015; 2016) habe ich argumentiert, dass die titelgebende Figur des queeren Liebenden, der im HomoKiez Schutz findet, eine Übergangsfigur ist, die den Weg von einer Wohlfahrtslogik hin zu einem Regime der unverhohlenen Gewalt ebnet, indem sie Polizierung, Überwachung und Vernachlässigung als Zeichen von Fürsorge erscheinen lässt. In diesem Aufsatz möchte ich vorschlagen, dass dieser Übergang mit zwei miteinander verknüpften Formen von Gentrifizierung einhergeht, die aktuell in Toronto und in anderen Weltstädten des Nordens stattfinden: der Gentrifizierung physischer Räume und der Gentrifizierung aktivistischer Methoden. Gentrifizieren bedeutet hier Hinausdrängen und Verdrängen. Im Zuge der Aufwertung eines Arbeits- oder Wohngebiets findet ein Bevölkerungsaustausch statt: Zunächst durch jene, die zwar weniger erwünscht, aber zu sozialem Aufstieg fähig sind (wie etwa weiße Queers und Künstler*innen), dann durch zunehmend privilegierte Gruppen. Tatsächlich überschneidet sich die Gentrifizierung von Aktivismus und Wohnvierteln in den Erzählungen von Monica Forrester und anderen QTBIPOC Autor*innen. So waren etwa das 519 und die schwul dominierten Business Improvement Association und Homeowners’ Association – wie auch viele der Betriebe, die McArthur frequentierte – aktiv an der ›Säuberung‹ des Villages von trans* Sexarbeiter*innen und

401

402

Koloniale Ordnungen und dekoloniale Zukünfte

anderen ›Unerwünschten‹ sowie an der Verdrängung queerer Jugendlicher von den Steps beteiligt (Rodriguez 2016a; b). Mitunter passiert die Verdrängung wortwörtlich, etwa wenn ein neu gebautes Wohngebäude mit Eigentumswohnungen (condominiums) den Platz eines Gebäudes einnimmt, in dem zuvor Transmenschen of Colour gewohnt haben. »Wenn ich über das Kartieren unserer Leben nachdenke, dann wünschte ich, wir könnten danach googeln, in welchen Gegenden früher Transmenschen gelebt haben. Also zum Beispiel da, wo ich gewohnt habe, in diesem verlassenen Haus an der Ecke der Charles Street und Church Street im Village, da steht jetzt ein Condominium-Turm. Oder als wir in einer abgesperrten Tiefgarage an der Bleecker Street gelebt haben. Auch dort ist jetzt ein Condominium-Turm. Da drunter haben früher viele Transmenschen gelebt. Wir sind durch ein kleines Loch rein geklettert. Die Leute haben in einem der Räume gelebt und Feuer angezündet, um uns aufzuwärmen. So war das Leben in den 1980ern und frühen 1990ern. Ich kann das alles in meinem Kopf dokumentieren und visualisieren. Wir hatten keine Fotoapparate oder so, mit denen wir das hätten aufnehmen können. Wie gesagt, wir haben nie erwartet, dass wir so lange leben würden. Wir alle haben im Church-Wellesley-Village gearbeitet – bis sie uns dann nach und nach hinausgedrängt haben.« (Ware 2018: 33) In dieser gentrifizierten Landschaft verschwindet die Straßenecke wortwörtlich. Manchmal wird sie ein Stück nach draußen verschoben, hin zu einer abgelegeneren Gegend. Manchmal wird sie zerstört – abgerissen und als Condominium-Turm wiederaufgebaut. Die Emerald City, wie der Condominium-Boom in Toronto genannt wird, frisst sich in den Kern von Downtown Toronto, um den rechtmäßig Lebendigen Platz zu schaffen. Ihre Fassaden aus Glas und Stahl überdecken die Spuren des Lebens, Liebens, Arbeitens und Organisierens von Transmenschen of Colour. Sich an die Lektionen der Straßenecke zu erinnern, bedeutet, in ein vielfach überschriebenes Archiv (palimpsestic archive) einzutreten, wie es Jacqui Alexander (2005) vielleicht nennen würde. Um zu sehen, was unter unseren Füßen verborgen ist, müssen wir hinter den blanken Zement spähen und unsere kritische Vorstellungskraft benutzen, um zu erahnen, was dort gewesen sein mag. Beim Kratzen an der Betonoberfläche und beim Blick durch die Wolken von Baustellenstaub können wir Eindrücke vielfältiger Vergangenheiten erha-

Jin Haritaworn: Queere Geographien, koloniale Geographien

schen, die durch den Prozess der queeren Regenerierung begraben werden. Wir stoßen auf Knochen von verschwundenen und ermordeten südasiatischen und nordafrikanischen Männern, von Transfrauen of Colour, von Indigenen Menschen. Letztere wurden zuerst aus der Gegend verdrängt, die später Toronto werden sollte (Panag/Rodriguez 2016), und dann wieder verdrängt, in die Stadt zurück, weil das ihnen verbliebene Land zunehmend dem Ressourcenabbau zum Opfer fällt, um schließlich ein weiteres Mal verdrängt zu werden, diesmal aus der Innenstadt hinaus, weil nunmehr diese gentrifiziert wird. Feminist*innen wie Andrea Smith (2014) und Leanne Simpson (2014) rufen uns in Erinnerung, dass diese Verdrängung ein nicht abgeschlossenes, in der Gegenwart stattfindendes Projekt von Besiedelung und Genozid ist, das immer schon von geschlechtlicher Gewalt begleitet war. Traditionelle Indigene Geschlechter und Sexualitäten, die oft über Reproduktion, Monogamie und Zweigeschlechtlichkeit hinausgehen, wurden immer als gescheiterte Varianten des Cis-Hetero-Patriarchats betrachtet, deren Scheitern zugleich ein Versagen symbolisierte, Land produktiv zu nutzen. In dieser urbs nullius (Coulthard 2014) beschreibt die queere Regenerierung des Villages ein Bevölkern, ein Rassifizieren, ein Vergeschlechtlichen eines Ortes, der den Produktions- und Konsumerwartungen von racial capitalism und Siedlerkolonialismus entspricht. Dort steht mit Kaufkraft ausgestatteten weißen schwulen cis-Männern der Schutz durch die Polizei zu, eben weil sie den räumlichen und verkörperten Normen von Produktion und Konsum eher entsprechen als Schwarze, Indigene und andere Menschen of Colour – egal ob diese cis, homo oder heterosexuell identifiziert sind. Deren ›dysfunktionale‹ Nutzung des Raums – von Sexarbeit zum Abhängen auf den Steps, da sie kein Geld oder Ausweis haben oder nicht alt genug sind, um Kaffee oder Bier zu bestellen – macht sie schuldig, bis ihre Unschuld bewiesen ist. Der Bewohner*innenaustausch, der das Village als Gemeinschaft vertrauensvoller und vertrauenswürdiger Individuen produziert, findet auf den Knochen rassifizierter und kolonisierter Menschen statt, von denen viele Frauen, trans, queer oder Two-Spirit sind oder anderweitig gegen die koloniale Zweigeschlechterordnung verstoßen. Sich dieser Knochen bewusst zu werden, schockiert uns nur dann, wenn wir uns davon überzeugt haben, dass queere – oder auch trans – Menschen, die aussehen wie Bruce McArthur, eine unschuldige Präsenz darstellen. Umgekehrt können wir nur Zeit und Optimismus in das Vertrauen darauf investieren, dass die Polizei all jene, die nicht für vermögend gehalten werden, beschützt, oder dass dieser mörderischste Arm der neoliberalen Stadt in eine nährende Kraft verwandelt werden kann,

403

404

Koloniale Ordnungen und dekoloniale Zukünfte

wenn wir die Knochen, die den Boden unter unseren Füßen bilden, vorsätzlich ignorieren. Tatsächlich zeigen die QTBIPOC-Texte, auf die ich mich in diesem Text bezogen habe, dass Grusel nicht die einzig mögliche Reaktion auf die Knochen anderer ist. Wie können wir, inspiriert durch erfahrene Elders wie Laureen (Blu) Waters und Monica Forrester, respektvoll mit diesen Knochen umgehen und sie als Ahn*innen ehren? Wir sagen: »Diese Community vermisst dich und liebt dich. Wir wollen dich wiederhaben.« Wie könnten wir die Toten bitten, wie Avery Gordon es vielleicht sagen würde, uns heimzusuchen mit einem »something-to-be-done« (Gordon 2011: xvi)? In welches Erbe müssen wir eintreten, welchen unabgeschlossenen Revolutionen müssen wir uns anschließen, um Zukünfte zu schaffen, die diese Ahn*innen lebenswert finden könnten?

Übersetzung Übersetzt aus dem Englischen von Boka En und Michael En, mit editorischer Überarbeitung durch die Herausgeberinnen und Abstimmung der deutschen Formulierung zentraler Begriffe mit Jin Haritaworn durch Inken Carstensen-Egwuom. Für diese Arbeit danken wir Jin Haritaworn sehr herzlich. Sofern nicht anders angegeben, wurden die im Text vorkommenden Zitate aus englischsprachigen Werken ebenfalls von Boka En und Michael En ins Deutsche übersetzt. Dieser Aufsatz basiert auf dem von Jin Haritaworn gekürzten Artikel »On These Bones: The Queer Regenerations of the Toronto Gay Village Serial Killings« erschienen 2019 in Topia 40, S. 15–41. Übersetzt und abgedruckt mit freundlicher Genehmigung von University of Toronto Press. © University of Toronto Press.

Literatur Ahmad, Asam (2018): »Queer Circuits of Belonging«, in: Jin Haritaworn/Ghaida Moussa/Syrus M. Ware (Hg.): Marvellous Grounds. Queer of Colour Histories in Toronto, Toronto: Between the Lines, S. 116–124. Ahmed, Sara (2000): Strange Encounters. Embodied Others in Post-Coloniality, London: Routledge.

Jin Haritaworn: Queere Geographien, koloniale Geographien

Alexander, Jacqui (2005): Pedagogies of Crossing. Meditations on Feminism, Sexual Politics, Memory, and the Sacred, Durham: Duke University Press. ASAAP (Alliance for South Asian Aids Prevention) (2018): Call for Action on Missing and Murdered Middle Eastern and South Asian Men, 24.1.2018, https://www.asaap.ca/post/paving-the-path-to-a-brighter-future, zuletzt geprüft am 13.07.2021. Im Original inaktiver Link: http://asaap.ca/commu nity-bulletin/. Chowdhury, Fatin (2016): »Black Lives Matter – Tent City. Digital Photography«, in: Marvellous Grounds (1), http://marvellousgrounds.com/blog/art/, zuletzt geprüft am 13.07.2021. Coulthard, Glen S. (2014): Red Skin, White Masks. Rejecting the Colonial Politics of Recognition, Minneapolis: University of Minnesota Press. Donahue, Jayden (2011): »Making It Happen Mama. A Conversation With Miss Major«, in: Nat Smith/Eric A. Stanley (Hg.): Captive Genders. Trans Embodiment and the Prison Industrial Complex, Oakland, CA: AK Press, S. 267–279. Ellison, Treva/Green, Kai M./Richardson, Matt/Snorton, C. R. (2017): »We Got Issues. Toward a Black Trans*/Studies«, in: Transgender Studies Quarterly 4, S. 162–169. Fanon, Frantz (1985[1967]): Schwarze Haut, Weiße Masken, übersetzt von Eva Moldenhauer, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Forrester, Monica (2014): Remember the Living. Monica Forrester on Sisters in Spirit and Indigenous Sex Workers, https://www.youtube.com/watch?v=l PGQNvIlLuQ, zuletzt geprüft am 13.07.2021. Gallant, Jacques; Hunter, Paul; Isai, Vjosa (2018): »How Alleged Serial Killer Bruce McArthur Hid in Plain Sight for Years«, in: The Star vom 16.03.2018, https://www.thestar.com/news/gta/2018/03/16/how-alleged-serial-killer -bruce-mcarthur-hid-in-plain-sight-for-years.html, zuletzt geprüft am 13.07.2021. Gibson, Victoria; Isai, Vjosa (2018): »10 Questions about the Bruce McArthur Investigation«, in: The Star vom 11.04.2018, https://www.thestar.com/new s/canada/2018/04/11/10-questions-about-the-bruce-mcarthur-investigati on.html, zuletzt geprüft am 13.07.2021. Gilmore, Ruth W. (2007): Golden Gulag. Prisons, Surplus, Crisis, and Opposition in Globalizing California, Berkeley: University of California Press. Gordon, Avery F. (2011): »Some Thoughts on Haunting and Futurity«, in: Borderlands 10(2), S. 1–21.

405

406

Koloniale Ordnungen und dekoloniale Zukünfte

Gosine, Andil/Teelucksingh, Cheryl (2008): Environmental Justice and Racism in Canada. An Introduction, Toronto: Emond Montgomery Publications. Haritaworn, Jin (2015): Queer Lovers and Hateful Others. Regenerating Violent Times and Places, London: Pluto Press. Haritaworn, Jin (2016): »Queere Liebe und rassifizierter Hass. Transnormativität und queere Regenerierung«, in: María Teresa Herrera Vivar, Petra Rostock, Uta Schirmer, Karen Wagels (Hg.): Über Heteronormativität. Auseinandersetzungen um gesellschaftliche Verhältnisse und konzeptuelle Zugänge, Münster: Westfälisches Dampfboot, S. 156–173. Haritaworn, Jin; Moussa, Ghaida; Marcus, Ware; Marcus, Syrus; Choi; Alvis, Panag; Kaur, Amandeep; Rodriguez, Rio (2017): »Marvellous Grounds. QTBIPOC Counter-Archiving Against Imperfect Erasures«, in: Stephanie Chambers, Jane Farrow, Maureen Fitzgerald, Ed Jackson, John Lorinc, Tim McCaskell, Rebecka Sheffield, Tatum Taylor, Rahim Thawer (Hg.): Any Other Way. How Toronto Got Queer, Toronto: Coach House Books. Haritaworn, Jin; Moussa, Ghaida; Ware, Syrus M. (Hg.) (2018): Marvellous Grounds. Queer of Colour Histories in Toronto, Toronto: Between the Lines. Haritaworn, Jin; Moussa, Ghaida; Ware, Syrus M.; Rodriguez, Rio (Hg.) (2018): Queering Urban Justice. Queer of Colour Formations in Toronto, Toronto: University of Toronto Press. Haritaworn, Jin; Tauqir, Tamsila; Erdem, Esra (2007): »Queer-Imperialismus. Eine Intervention in die Debatte über »muslimische Homophobie«, in: Kien N. Ha, Nicola Lauré al-Samarai, Sheila Mysorekar (Hg.): Re/visionen. Postkoloniale Perspektiven von People of Color auf Rassismus, Kulturpolitik und Widerstand in Deutschland, Münster: Unrast, S. 187–206. Ingram, Gordon B. ; Bouthillette, Anne-Marie ; Retter, Yolanda (Hg.) (1997): Queers in Space. Communities, Public Places, Sites of Resistance, Seattle, WA: Bay Press. It Starts With Us (o.J.): In Honour and Memory of Missing and Murdered Indigenous Women, Two-Spirit, and Trans, Toronto, Ontario, http://itstartswithus-mmi w.com/about/, zuletzt geprüft am 13.07.2021. Jiwani, Yasmin; Young, Mary L. (2006): »Missing and Murdered Women. Reproducing Marginality in News Discourse«, in: Canadian Journal of Communication 31(4), S. 895–917. Krishnan, Manisha (2018a): »For Gay Brown Men, the Bruce McArthur Case Brings Up Tough Questions«, in: Vice vom 03.05.2018, https://www.vice.c om/en/article/j5awgb/for-gay-brown-men-the-bruce-mcarthur-case-bri ngs-up-tough-questions, zuletzt geprüft am 13.07.2021.

Jin Haritaworn: Queere Geographien, koloniale Geographien

Krishnan, Manisha (2018b): »How Alleged Serial Killer Bruce McArthur Compares to Other Infamous Murderers«, in: Vice vom 31.01.2018, https://ww w.vice.com/en/article/zmqje5/how-alleged-serial-killer-bruce-mcarthur -compares-to-other-infamous-murderers, zuletzt geprüft am 13.07.2021. Lee, Min S. (2016): Marvellous Grounds, Kurzfilm, Toronto, http://marvellousgr ounds.com/, zuletzt geprüft am 13.07.2021. McKittrick, Katherine; Woods, Clyde A. (2006): Demonic Grounds. Black Women and the Cartographies of Struggle, Minneapolis: University of Minnesota Press. McLaughlin, Amara (2017): »Family and Friends of Transgender Woman Missing since July Launch New Search, Blast Police Response«, in: CBC vom 11.11.2017, https://www.cbc.ca/news/canada/toronto/search-for-mi ssing-transgender-woman-alloura-wells-1.4398966, zuletzt geprüft am 13.07.2021. Melamed, Jodi (2011): »Reading Tehran in Lolita. Making Racialized and Gendered Difference Work for Neoliberal Multiculturalism«, in: Grace K. Hong, Roderick A. Ferguson (Hg.): Strange Affinities. The Gender and Sexual Politics of Comparative Racialization, Durham: Duke University Press, S. 76–110. Native Youth Sexual Health Network/Families of Sisters in Spirit/No More Silence: Supporting the Resurgence of Community-based Responses to Violence, Native Youth Sexual Health Network, https://www.nativeyouthsexualhealth.co m/, zuletzt geprüft am 13.07.2021. Panag, Amandeep K.; Rodriguez, Rio (2016): »QTBIPOC Space – Remapping Belonging in Toronto«, in: Marvellous Grounds (1), http://marvellousg rounds.com/take-space-qtbipoc-reclaiming-the-city/, zuletzt geprüft am 13.07.2021. Puar, Jasbir K. (2007): Terrorist Assemblages. Homonationalism in Queer Times, Durham: Duke University Press. Ramirez, Aemilius (2018): »Speaking Our Truths, Building Our Futures. ArtsBased Organizing in 2SQTBIPOC Communities in Toronto«, in: Jin Haritaworn, Ghaida Moussa, Syrus M. Ware (Hg.): Marvellous Grounds, Toronto: Between the Lines. Robinson, Cedric J. (1983): Black Marxism. The Making of the Black Radical Tradition, Chapel Hill, N.C.: University of North Carolina Press. Rodríguez, Dylan (2016): »The Pitfalls of (White) Liberal Panic«, in: abolitionjournal vom 18.11.2016, https://abolitionjournal.org/the-pitfalls-of-white-l iberal-panic/, zuletzt geprüft am 13.07.2021.

407

408

Koloniale Ordnungen und dekoloniale Zukünfte

Rodriguez, Rio (2016a): Mapping QTBIPOC Toronto, Masterabschlussarbeit, York University, https://fes.yorku.ca/outstanding-paper/mapping-qtbipo c-toronto/, zuletzt geprüft am 13.07.2021. Rodriguez, Rio (2016b): »Mapping Collective History«, in: Marvellous Grounds (1), http://marvellousgrounds.com/blog/mapping-collective-history/, zuletzt geprüft am 13.07.2021. Sexton, Jared (2008): Amalgamation Schemes. Antiblackness and the Critique of Multiracialism, Minneapolis: University of Minnesota Press. Simpson, Leanne Betasamosake (2014): »Not Murdered, Not Missing. Rebelling Against Colonial Gender Violence«, in: Leanne Betasamosake Simpson Blog, https://www.leannesimpson.ca/not-murdered-not-missin g/, zuletzt geprüft am 13.07.2021. Smith, Andrea (2014): »The Colonialism That is Settled and the Colonialism That Never Happened«, in: Decolonization: Indigeneity, Education and Society, ht tps://decolonization.wordpress.com/2014/06/20/the-colonialism-that-issettled-and-the-colonialism-that-never-happened/, zuletzt geprüft am 13.07.2021. Smith, Neilson V. (1997): The New Urban Frontier. Gentrification and the Revanchist City, New York: Routledge. Strawberry Ceremony (2016): 11th Annual Strawberry Ceremony for Indigenous Women, Girls, Trans and Two Spirits Facebook Event, Nicht mehr aktiver Link: https://www.facebook.com/events/1000613013344145/. Taylor, Diana (2003): The Archive and the Repertoire. Performing Cultural Memory in the Americas, Durham: Duke University Press. The ArQuives (o.J.): The ArQuives. Canada’s LGBTQ2+ Archives, https://www.clga .ca, zuletzt geprüft am 01.09.2021. Thobani, Sunera (2007): Exalted Subjects. Studies in the Making of Race and Nation in Canada, Toronto: University of Toronto Press. Walcott, Rinaldo (2006): »Black Men in Frocks: Sexing Race in a Gay Ghetto (Toronto)«, in: Cheryl Teelucksingh (Hg.): Claiming Space. Racialization in Canadian Cities, Waterloo, ON: Wilfred Laurier University Press. Ware, Syrus M. (2018): »Organizing on the Corner. Trans Women of Colour and Sex Worker Activism in Toronto in the 1980s and 1990s. Interview with Monica Forrester and Chanelle Gallant«, in: Jin Haritaworn; Ghaida Moussa; Syrus M. Ware (Hg.): Marvellous Grounds. Queer of Colour Histories in Toronto, Toronto: Between the Lines.

Jin Haritaworn: Queere Geographien, koloniale Geographien

Waters, Laureen B. (2018): »Time Capsules«, in: Jin Haritaworn; Ghaida Moussa; Syrus M. Ware (Hg.): Marvellous Grounds. Queer of Colour Histories in Toronto, Toronto: Between the Lines. Wynter, Sylvia (2003): »Unsettling the Coloniality of Being/Power/Truth/ Freedom. Towards the Human, After Man, Its Overrepresentation – An Argument«, in: CR: The New Centennial Review 3(3), S. 257–337.

409

Stadtplanung als koloniale Praxis und alltägliche Praktiken der urbanen Transformation Antje Bruns & Toni Adscheid Manche Leute wollen die Dinge ins Laufen bringen, andere Dinge wollen weglaufen. Wenn sie dich fragen, sag ihnen, dass wir geflogen sind. Wissen um Freiheit ist die Erfindung der Flucht oder es ist in ihr, es ist darin, (sich) innerhalb der Grenzen, in der Form, einer Unterbrechung, (weg) zu stehlen. Das wird festgehalten im offenen Lied jener, die vermeintlich still sein sollen. (Harney/Moten 2016: 57) Städte sind wichtige Orte, um theoretische und empirische Erkenntnisse über gesellschaftliche Verhältnisse zu gewinnen und so gilt Stadtforschung als relevantes Feld für Gesellschaftsforschung (Schmid 2005). Im post- und dekolonialen Weiterdenken der westlichen Stadttheorie und -forschung werden jedoch eurozentrische Prämissen sichtbar und es zeigen sich blinde Flecken, wie gesellschaftliche Produktion des (städtischen) Raums verhandelt wird. Dementsprechend fordern post- und dekolonial argumentierende Stadtforscher*innen, die rassifizierten Prozesse städtischer Entwicklung zu benennen (Ha 2016) und das Wissensfundament der Stadtforschung grundlegend zu hinterfragen (Eckardt/Hoerning 2012). Da wissenschaftliches Wissen über Stadt vorrangig den Metropolen des Westens entspringt, ist dieses Wissen mit den imperialen und kolonialen Machtzentren verwoben (Roy 2009). Insofern ist der Kolonialismus in die Wissensregime der metropolitanen Zentren ebenso eingeschrieben wie in ihr sozio-materielles Gefüge. Eines der zentralen Ziele postkolonialer Stadtforschung ist es, koloniale Machtverhältnisse in ihrer gesellschaftlichen Vermittlung über den Raum zu verstehen und in eurozentrische Narrative über Stadt zu intervenieren (King 1989; Jacobs 2002; Lanz 2015). Postkoloniale Stadtforschung ist besonders an den »Überschneidungen von Ideen und Institutionen« interessiert, um die Verflechtungen zwischen Wissen und Macht offenzulegen und »hegemoniale

412

Koloniale Ordnungen und dekoloniale Zukünfte

Strukturen zu transformieren« (Castro Varela/Dhawan 2005: 25). Ebenso wie postkoloniale Studien, die »im Spannungsfeld zwischen Kritik und politischer Intervention« agieren (Huggan 2013: 12, Übers. d. A.), sind auch die Studien der Black Geographies interventionistisch. Sie fordern, Schwarze Geographien in ihrer gesellschaftspolitischen Relevanz für die Herstellung und von Raum und in ihrer epistemischen Relevanz für eine nicht-weiße geographische Theoriebildung anzuerkennen (McKittrick 2006: 18). An diese Debatten schließen wir mit unserem Kapitel an und blicken auf Praktiken der Stadtplanung in Accra und London. Mit Accra und London stellen wir zwei Metropolen des Britischen Empire1 in einen gemeinsamen Analyserahmen und zeichnen ihre Verwobenheiten in die Geschichten und Geographien des Kolonialismus nach. Dabei richtet sich unser empirisches Interesse auf Stadtplanung als eine Praxis, die den Raum ordnen und Daseinsvorsorge sichern soll. Im offensichtlichen Widerspruch zu diesem instrumentellen Verständnis stellen wir Stadtplanung als ein konstitutives Element kolonialer Herrschaft heraus. Wir zeigen, wie Planungspraktiken städtischen Raum, der durch eine hohe soziale und räumliche Ungleichheit gekennzeichnet ist, herstellen. Jene über den Raum vermittelten ungleichen Verhältnisse finden in Konflikten über grundlegende Bereiche des Daseins (z.B. Wohnen, Infrastruktur, Arbeit) ihren Ausdruck (Holm 2014). Aus Perspektive der postkolonialen Stadtforschung und den Black Geographies stehen die Ungleichheiten in einem zeitlichen und sachlichen Zusammenhang zu den anhaltenden Auswirkungen des Britischen Empire. Diesen kolonialen Machtverhältnissen und den daraus erwachsenen Praktiken des Widerstands spüren wir sowohl im imperialen Zentrum (London) als auch im Kontext der ehemaligen Kolonialstadt (Accra) nach. Dabei verweisen wir nicht nur auf die machtvolle Rolle der Stadtplanung, sondern auch auf die prekären Möglichkeitsräume.

1

Wir verwenden den Begriff ›Empire‹ im Kontext des Britischen Weltreiches, welches das größte Kolonialreich der Geschichte war und dessen Auswirkungen und Strukturen bis in die Gegenwart reichen.

Antje Bruns & Toni Adscheid: Stadtplanung als koloniale Praxis

Koloniale Herrschaft durch Stadtplanung und alltägliche Praktiken des Widerstands In der kolonialen Stadt liefen politische Macht, sozio-ökonomische Ausbeutung und die Universalisierung westlicher Raumkonzepte, Vorstellungswelten und Wissensbestände zusammen (Mabugunje 1990; Njoh 2010). Daher spielte das Instrumentarium der Stadtplanung für die Vermittlung und Durchsetzung imperialer Macht- und Geltungsansprüche eine besondere Rolle. Stadtplanung ist der territoriale Ausdruck rassifizierter Logiken, fixiert gesellschaftliche Zuschreibungen und überträgt sie in den Raum (Bonnett 2002). Diese Wirkungsweisen und Zusammenhänge illustrieren wir im Folgenden und zugleich befassen wir uns mit den alltäglichen Praktiken, die der Stadtplanung zuwiderlaufen und sie dadurch aushöhlen. Dadurch zeigen wir, dass die (durch Stadtplanung) hergestellte koloniale Ordnung niemals allumfassend war oder unwidersprochen geblieben ist. Die Entstehung der modernen Stadtplanung ist eng an die Industrialisierung der westlichen Welt im 19. und 20. Jahrhundert und das damit einhergehende schnelle Stadtwachstum geknüpft. Vordergründig diente das stadtplanerische Instrumentarium dazu, die hygienischen und gesundheitlichen Lebensbedingungen in den Städten zu verbessern, auch um ein weiteres Wachstum der städtischen Ökonomie zu ermöglichen. Zu diesem Zweck wurden beispielsweise Straßennetze umgestaltet, öffentliche Plätze und Grünräume erweitert, Bausatzungen und -standards erlassen und die Wasserver- und -entsorgung kanalisiert und zentralisiert (King 1977; Njoh 2010; Kooy/Bakker 2008). Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass Stadtplanung zu keiner Zeit und an keinem Ort als neutrales Instrument zur Ordnung des Raumes verstanden werden kann. Denn Stadtplanung strukturiert den Raum über Ge- und Verbote oder die Ausstattung mit Versorgungsinfrastrukturen auf ungleiche Weise. Auch wenn dies im westlichen Diskurs vergleichsweise selten thematisiert wird, so dient Stadtplanung immer auch der politischen Machtausübung (van Gielle Ruppe/Helbrecht/Dirksmeier 2012). Postkoloniale Stadtforschung weist schon seit geraumer Zeit darauf hin, dass Stadtplanung gezielt eingesetzt wurde, um westliche Vorstellungen zu universalisieren. Seit Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts wurden die Institutionen und Instrumente der Stadtplanung in die nicht-westliche Welt

413

414

Koloniale Ordnungen und dekoloniale Zukünfte

exportiert (King 1977)2 . Deren Nutzung dauert bis heute an und schreibt damit koloniale Kontinuitäten fort (Njoh 2010). Die Folgen zeigen sich sowohl in den europäischen Metropolen als auch insbesondere in den Metropolen der ehemaligen Kolonien, da sie der europäischen Stadtplanung als Laboratorien für innovative Vorhaben dienten (Mabugunje 1990; Cooper/Stoler 1997). Die Erkenntnisse aus diesen Laboratorien dienten wiederum dazu, Stadtentwicklungsprozesse in kolonialen und imperialen Herrschaftszentren Europas weiterzuentwickeln (Ha 2017: 76). Dabei kam der Verwaltung und Ordnung von Land (mittels Landrechten, Baugenehmigungen oder -verbote sowie Zonierungen, Grundstücksbegrenzungen und Flächennutzungsplänen) eine besondere Bedeutung zu, weil über die Nutzung von Grund und Boden eine weitreichende Kontrolle elementarer Daseinsbereiche möglich wurde (King 1977). Diese Kontrolle diente schließlich der Durchsetzung politischer Interessen und der Stabilisierung von Herrschaft. Folglich sind die Versorgungsinfrastrukturen und deren Ausgestaltung von zentraler Bedeutung für das stadtplanerische Instrumentarium. Als »Technologien des Regierens« (Kooy/Bakker 2008) tragen Infrastrukturen dazu bei, koloniale Raumvorstellungen in die Architektur und die Stadtstruktur einzuschreiben und kontinuierlich zu reproduzieren. Die dadurch entstehende Raumentwicklung ist oft durch enorme Ungleichheiten geprägt, welche regelrecht in die Stadt einzementiert erscheint. Diese manifestierten Ungleichheiten riefen schon immer Widerstand hervor und daher existierten neben den kolonialen Herrschaftspraktiken (hier also den Praktiken der Stadtplanung) stets auch Praktiken, die Herrschaft in Frage stellen. Um mit den Worten von Cooper und Stoler zu sprechen: »Die Europäer fanden in den Kolonien keinen leeren Raum für wirtschaftliche Herrschaft vor, sondern Menschen, die in der Lage waren, die Prinzipien und Praktiken, auf denen die Extraktion oder die kapitalistische Entwicklung beruhte, zu umgehen und zu untergraben« (Cooper/Stoler 1997: 5, Übers. d. A.). Die Analyse (widerständiger) Praktiken des Alltags nimmt eine zentrale Stellung in den Studien der Black Geographies ein. Dieses Forschungsfeld weist jenen Menschen eine zentrale Position im geographischen Erkenntnisprozess zu, die ebenfalls »Geographie machen«, deren Praktiken und

2

Im Kontext des Britischen Empire wurden beispielsweise die Institutionen des »Town and Country Planning« und ihre Instrumente zur städtebaulichen Ordnung (z.B. zoning = Standort- und Flächenplanung) nach Ghana »exportiert«.

Antje Bruns & Toni Adscheid: Stadtplanung als koloniale Praxis

Geographien aber oft unsichtbar und unbenannt bleiben. Um diese unsichtbar gemachten Geographien zu benennen, führt Katherine McKittrick (2006) in ihrem Buch »Demonic Grounds« das Konzept »ungeographisch« (ungeographic) ein. Durch diese sprachliche Bezeichnung findet eine Sichtbarmachung von zuvor im wissenschaftlichen Diskurs abwesenden Black Geographies statt und zugleich wird Schwarzen Menschen eine Handlungsmacht (agency) zuerkannt. Sie sind nicht mehr nur marginalisiert, unterdrückt und an den Rand gedrängt. Sie sind handelnde Subjekte, die Raum produzieren (Hawthorne 2019). Entlang dieses Verständnisses betonen die Black Geographies, dass Stadt(planung) nicht ausschließlich entlang kolonialer Kontinuitäten analysiert werden sollte, da dann die Gefahr besteht, Brüche, Anfechtungen und widerständige Praktiken unberücksichtigt zu lassen. Dadurch würden Menschen in der Position, die ihnen von der Dominanzgesellschaft zugewiesen wurde, verbleiben und diese Positionierung würde auch weiterhin normalisiert. Zugleich würde der Reichtum an Schwarzen urbanen Imaginationen, Schwarzen raumbezogenen Praktiken und Schwarzen Wissensbeständen im Verborgenen bleiben (ebd.: 7). Um Wissen über Stadt(planung) zu dezentrieren und Brüche sowie Widerstände zu erfassen, blicken wir auf Alltagspraktiken, die der Stadtplanung zuwiderlaufen bzw. sie unterwandern. Unter Bezugnahme auf die Black Geographies fokussieren wir räumliche Praktiken und Imaginationen Schwarzer Menschen, die üblicher Weise im westlich-eurozentrischen Diskurs um Stadt und im Kontext rassifizierter Prozesse der Stadtplanung verborgen bleiben. In London blicken wir auf Praktiken von Schwarzen Selbsthilfeorganisationen, die wir mit Harney/Moten (2016) als flüchtig bezeichnen. Der Begriff der Flüchtigkeit bezieht sich auf einen Prozess, der (Flucht-)Wege aus staatlichen Planungsprozessen eröffnet. Flüchtige Planung ist ein »laufendes Experiment mit dem Informellen« (Harney/Moten 2016: 87) und »reproduziert in ihrem Experiment nicht nur, was sie braucht – das Leben –, sondern was sie sich wünscht« (Harney/Moten 2016: 89). In Accra spüren wir »stillen Praktiken« nach, die ein Leben in der Metropole ermöglichen. Konzeptionell beziehen wir uns auf Bayat (2010), der den Begriff des quiet encroachments geprägt hat und damit auf einen stillen Widerstand im alltäglichen Tun verweist. Flüchtige bzw. stille Praktiken bieten uns einen methodisch-konzeptionellen Zugang, um heterogene, diverse und nicht-formalisierte Formen von Stadtgestaltung zu erfassen, die neben den Ansätzen der formellen Stadtplanung existieren. Diesen alltäglichen Praktiken wohnt ein transformatives Potenzial inne: Stille und flüchtige Praktiken weisen über imperiale Geogra-

415

416

Koloniale Ordnungen und dekoloniale Zukünfte

phien hinaus, zeigen die Pluralität Schwarzer Geographien auf (vgl. Bledsoe/ Wright 2019) und führen vor, welche Möglichkeiten der Transformation sich aus dieser Dezentrierung ergeben.

Das stille Vordringen des Alltäglichen am Rand der west-afrikanischen Metropole Accra Die westafrikanische Hafenmetropole Accra ist ein Ort voller kreativer und prekärer Praktiken der Daseinssicherung. Offiziell leben rund 3,7 Millionen, vermutlich aber deutlich mehr, Menschen im schnell wachsenden metropolitanen Großraum. Sie alle benötigen Land, um Wohnraum zu errichten, und sind auf eine Wasser- und Elektrizitätsversorgung angewiesen. Die Versorgungssysteme sind jedoch fragmentiert und ungleich über den Stadtraum verteilt. Daher setzen sich die Bewohner*innen regelmäßig über die stadtplanerische Verwaltung und Ordnung von Land hinweg (z.B. durch Hausbau ohne Landtitel und Baugenehmigungen und das Errichten eigener Infrastruktur) (vgl. die ausführliche Analyse in Bartels/Bruns 2019). Westlich-eurozentrische Stadttheorie stellt für diesen Modus der Urbanisierung Begriffe wie »Informalität« oder auch »ungeplantes« Stadtwachstum bereit. Mit dieser begrifflichen Festsetzung ist jedoch, erstens, eine Abwertung ganz spezifischer – nämlich nicht von der Stadtverwaltung legitimierter – Stadtentwicklungsprozesse in Accra verbunden. Zweitens wird suggeriert, es fehle an Formalität und Stadtplanung – mithin an westlichen Regierungstechniken und Technologien, Wertvorstellungen und Wissen. Und drittens werden damit die kolonial etablierten und seitdem fortwährend reproduzierten sozialräumlichen Ungleichheiten übertüncht. Das Wesen der Stadtplanung in Accra verweist auf die koloniale Vergangenheit der Stadt: Basierend auf dem britischen English Town and Country Planning Act von 1932 wurde der erste Masterplan für die Stadtentwicklung erstellt (Home 2015: 61). Der Hafen, der im unmittelbar geographischen Sinne die Verbindungsachse zum kolonialen Mutterland darstellte, war räumlicher Ausgangspunkt für die Entwicklung und Organisation der Stadt. Ziel war, dass die kolonialen Stadtviertel einen »orderly European character and ambiance« aufweisen (Grant/Yankson 2003: 67)3 . Durch das Instrumentarium der Stadt3

Im Übrigen galt die im Jahr 1945 überarbeitete Verordnung zur Stadtplanung in Accra bis zum Jahr 2016 in nahezu unveränderter Form.

Antje Bruns & Toni Adscheid: Stadtplanung als koloniale Praxis

planung wurden demgemäß nur die Quartiere der britischen Kolonialbeamten adressiert. Insofern produzierte die Stadtplanung exklusive und ungleiche Räume, wie sich besonders gut am Beispiel der Wasserver- und -entsorgung zeigen lässt. Da durch Wasser übertragene Viruskrankheiten wie Cholera und durch Mücken oder Zecken übertragene wasserbezogene Krankheiten wie Malaria den Erfolg der kolonialen Expansion bedrohten, wurde die Wasserverund -entsorgung vorrangig durch Maßnahmen der städtischen Infrastrukturplanung adressiert. Allerdings wurden durch die ab dem Jahr 1885 verlegten Wasserleitungen nur die Gebiete verbessert, in denen Kolonialbeamte lebten (Fält 2020). Kritische Forschungsbeiträge zeigen, dass die kolonial etablierte räumliche Fragmentierung der Infrastruktur zu Ungleichheiten der Wohn- und Lebensbedingungen führte und dass diese Ungleichheiten seitdem reproduziert und normalisiert werden (Bohman 2012). Die Normalisierung erfolgte – wiederum illustriert am Beispiel der Wasserversorgung – unter anderem durch die Strukturanpassungsprogramme der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds ab den 1980er Jahren, die zu einer Kommodifzierung und Privatisierung des Wassersektors führten und auf großskalige netzgebundene Infrastrukturen setzten. Letztere stehen für Fortschritt, Modernität und Entwicklung und werden oft als einzige Lösung der Wasserkrise in Betracht gezogen und finanziell gefördert. Durch die Bevorzugung der netzgebundenen Form der Wasserversorgung werden dezentrale, heterogene und weniger kapitalintensive Alternativen in ihren Lösungspotenzialen unterbewertet (Alba/Kooy/Bruns 2022). Die oben skizzierten kolonial etablierten ungleichen Lebensbedingungen in Accra sind zugleich durchzogen von Brüchen und Anfechtungen, die wir gelenkt durch Asef Bayat (2010) lesen. Dabei ist unser analytisches Interesse auf die »stillen Praktiken« zur Aneignung von Land und Wasser gerichtet (Bartels 2020). Bayat nennt jene Praktiken still, bei denen es sich um einen nichtorganisierten aber doch massenhaft auftretenden Widerstand handelt. Dieser Widerstand ist Teil des alltäglichen Daseins und Überlebens der Menschen. Mit dieser veränderten Perspektive trägt Bayat zu einer konzeptionellen Neufassung städtischen Widerstandes bei und kritisiert die (Stadt-)Forschung, die widerständige Praktiken vorranging im Rahmen von (sichtbaren) sozialen Bewegungen untersucht. Ähnlich wie andere postkoloniale Theoretiker*innen vor ihm, verweist er darauf, dass in vielen politischen Kontexten sichtbarer Widerstand gefährlich ist. Bayat, der im Nahen Osten forscht, bezieht sich dabei auf gewaltsame, lebensbedrohliche Reaktionen auf Widerstand, zum

417

418

Koloniale Ordnungen und dekoloniale Zukünfte

Beispiel durch die Polizei oder Armee. Wenn auch nicht direkt lebensbedrohlich, so sind uns aus Accra ebenfalls existenzgefährdende Maßnahmen durch Räumung, Vertreibung und Zerstörung von informell errichteten Häusern und Stadtquartieren bekannt. Um die Menschen in diesen Stadtvierteln zu schützen, nennen wir in unseren empirischen Detailanalysen prekärer Wohnraum- und Wasserversorgung die untersuchten Stadtviertel beispielsweise nur mit einem fiktiven Namen (vgl. Alba/Bruns 2022). Der zweite Kritikpunkt von Bayat ist, dass der westliche Analysefokus »dissidente Praktiken der Subalternen« übersieht und dadurch »den Mythos der passiven Armen« generiert (Lanz 2017: 303) – nämlich dann, wenn der westlich deformierte Blick schlussfolgert, es gäbe keinen Widerstand, nur weil Bewegungen nach westlichem Vorbild und mit westlichem Blick der Stadtforschung nicht zu erkennen sind. Zwar handelt es sich in unserem Fallbeispiel nicht um ökonomisch arme Menschen (die Bayat im Blick hat), aber um Menschen, denen kein formaler Landtitel zuerkannt wird. Diese Ungleichheitsdimension macht das Dasein in Accra herausfordernd, selbst wenn das Einkommen dem der ökonomischen Mittelschicht entspricht. Der im Zentrum der folgenden Betrachtung stehende Urbanisierungsprozess der Siedlung P&T ist dadurch gekennzeichnet, dass er von der staatlichen Institution der Stadtplanung (Town and Country Planning) als illegal und informell bezeichnet wird.4 Historisch betrachtet war es aber erst die Institution des Town and Country Planning, die die Kategorie einer informellen Siedlung erschaffen hat, weil sie neben das Gewohnheitsrecht – unter dem Land in Ghana prä-kolonial genutzt und verwaltet wurde – das staatliche Landrecht stellte. Da die britische Kolonialherrschaft auf der indirekten Herrschaft beruhte, ließ die Kolonialregierung das Gewohnheitsrecht bestehen, um darüber eigene Herrschaftsinteressen ausweiten und durchsetzen zu können. Das kolonial eingeführte staatliche Landrecht und das kolonial überprägte gewohnheitsmäßige Landrecht5 besteht bis heute fort und ist Gegenstand vielzähliger Landkonflikte (Berry 2013).

4

5

Die Siedlung P&T hat ihren Namen von der hier geplanten Post- und Telekommunikationsinfrastruktur, die ursprünglich auf diesem Gelände entstehen sollte. Für eine ausführliche Darstellung siehe Bartels (2020). Z.T. wird von »traditionellem Landrecht« gesprochen, aber die Markierung traditionell existiert in Relation zu fortschrittlich, modern und westlich weshalb sie hier abgelehnt wird.

Antje Bruns & Toni Adscheid: Stadtplanung als koloniale Praxis

Im Kontext dieses pluralen Landrechtes erwarb der Staat Ghana im Jahr 1967 Nutzungsrechte an Grund und Boden für öffentliche Zwecke. Das Land wurde von mehreren Familien verwaltet, die als Custodians agieren (das bedeutet, dass sie im Namen und zum Wohl ihrer Gemeinschaft Land treuhänderisch verwalten und Nutzungsrechte vergeben können). Die treuhänderischen Verwalter erhielten eine Entschädigung, traten jegliche Rechte ab und das Land wurde zu ›state land‹. Allerdings bebaute der Staat das Land 40 Jahre lang bis heute nicht (Bartels 2020). Da seit der Jahrtausendwende ein enormer Druck auf unbebautes Land in Accra einsetzte, eigneten Menschen sich diesen Grund und Boden in einem stillen und sukzessiven Prozess an und bebauten das Land inkrementell. Bevor sie aber mit der Errichtung des Wohnraumes und der Bebauung des Landes begonnen haben, erwarben sie das Land von den ursprünglichen Custodians. Diese hatten das Land allerdings bereits Jahre zuvor an den Staat abgetreten. Das Land wurde somit mehrfach verkauft. Mehrfacher Landverkauf kommt in Accra regelmäßig vor, was auf den bereits erwähnten Pluralismus im Landrecht zurückgeführt werden kann. Dieser Pluralismus hat zur Folge, dass Menschen auf der Suche nach Land die komplexen Verwobenheiten gewohnheitsrechtlicher und staatlicher Institutionen navigieren müssen: In Ghana wurde die Idee, dass der Staat Land besitzen könne, erst durch die britische Kolonialverwaltung eingebracht, um »towns and buildings worthy of an empire« zu bauen (Home 2015: 59). Hingegen wurde im Gewohnheitsrecht Land nicht als Besitz oder Ware verstanden, sondern als Gut, welches treuhänderisch für die Gemeinschaft verwaltet wird (Nyametso 2012). Zu der Gemeinschaft gehörten auch die Toten und noch nicht Geborenen und insofern verweist Land auf die gemeinsame Vergangenheit und Zukunft, die allen offensteht. Nun wurde aber in den Jahren der Kolonialherrschaft auch das Gewohnheitsrecht verändert und nicht wenige Wissenschaftler*innen betonen, dass sich in der postkolonialen Ära die Machtposition von Chiefs weiter ausgeweitet hat (Berry 2018). In diesem System suchen Menschen nun in stillen Praktiken nach (Aus-)Wegen, um ihr Dasein zu sichern. Für die alltäglichen Praktiken der Menschen, die Häuser bauen – hier beschrieben am Beispiel der Siedlung P&T – ist das staatliche Landrecht von geringerer Bedeutung als das Gewohnheitsrecht. Während der Staat und die Stadtplanung ihnen keinen Zugang zu Land ermöglichen, tolerieren die ursprünglichen Custodians die Bebauung. Insofern nutzen die Stadtbewohner*innen die Optionen und Räume, die sich ihnen bieten, wobei ihr raumbezogenes Handeln auf einem »Konglomerat von Alltagstechniken« beruht (Reckwitz 2003: 289). Denn die Bebauung ohne formalen Landtitel verwehrt zugleich auch einen Wasser-

419

420

Koloniale Ordnungen und dekoloniale Zukünfte

anschluss und mündet daher zwangsläufig in weitere Praktiken der Selbstorganisation.6 Ihre interventionistischen Praktiken zur Daseinssicherung richten sich zwar nicht unmittelbar gegen das politische System, von dem sie weitgehend ausgeschlossen sind, verweisen aber auf dessen begrenzte Reichweite.

Stadtgestaltung als flüchtiges Projekt – Schwarze Selbsthilfe in London Mit dem Passagierschiff HMT Empire Windrush überquerten im Jahr 1948 afro-karibische Arbeiter*innen, aus den ehemaligen britischen Kolonien der karibischen Inseln (West Indies), den Atlantik auf ihrem Weg nach Großbritannien. Mit der Ankunft dieses Schiffes begann ein prägendes Kapitel der englischen Nachkriegsgeschichte. Die Anwerbung billiger Arbeitskräfte durch die britische Regierung und britische Unternehmen erfolgte mit dem Zweck, britische Industrien nach Ende des Zweiten Weltkriegs wiederaufzubauen (Solomos et al. 1982). In den folgenden Jahren zogen weitere Menschen aus der Karibik, Afrika und Indien in verschiedene Regionen Großbritanniens, in denen sich Arbeitsmöglichkeiten boten, wie London, den West Midlands oder Nordengland (Pilkington 1988). Nachdem sie die Orte der postkolonialen Plantagenökonomie (vgl. Carstensen-Egwuom in diesem Band) verlassen hatten, stießen Schwarze Menschen auf rassistische Feindseligkeiten und Praktiken. So missachteten u.a. Gewerkschaften Schwarze Menschen, die sie (im Gegensatz zu weißen Arbeiter*innen) aufgrund von Arbeitsquoten, welche die Anstellung von Schwarzen Arbeiter*innen fördern sollten, als privilegiert betrachteten (Birmingham Daily Post 1956). Eben jene Schwarzen Menschen wohnten in Vierteln, die aufgrund ihrer schlechten, jedoch erschwinglichen Wohninfrastruktur als »neue Slums« bezeichnet wurden (Birmingham Daily Post 1954). Diese zunehmend »Schwarzen Stadtviertel«, wie beispielsweise Brixton und Notting Hill in London, wurden von staatlichen Institutionen und breiten Teilen der weißen Bevölkerung als Räume des Verbrechens, Chaos und Elends stigmatisiert. Damit wurden sie zu Räumen außerhalb normsetzender weißer Geographien (Gilroy 1990; Elliott-Cooper 2019). Diese rassifizierten Raumzuschreibungen

6

Darunter fällt z.B. die Errichtung von dezentralen Formen der Wasserversorgung (Brunnen, Wasserkioske, Wassertanker).

Antje Bruns & Toni Adscheid: Stadtplanung als koloniale Praxis

spiegelten jedoch nicht nur den institutionalisierten Rassismus wider, sondern prägten auch alltägliche räumliche Praktiken der Exklusion, wie in der Aussage eines Ladenbesitzers deutlich wird: »Ich habe keine Vorurteile, aber wenn sie [Schwarze Angestellte] mit der Öffentlichkeit in Kontakt kommen, wäre das schlecht für das Geschäft.« (Hartlepool Northern Daily Mail 1954, Übers. d. A.) Jenseits der staatlichen Planung, welche rassifzierte Geographien des »Schwarzen Stadtviertels«, des »Slums« und des überbelegten Wohnraumes hervorgebracht hat, gestalten Schwarze Menschen alternative Wohnund Lebensformen selbst. Über Netzwerke wie den South London AngloCaribbean Club oder durch Schwarze Wohnungsgenossenschaften wurden Formen der Solidarität zwischen verschiedenen afro-karibischen Nationalitäten etabliert (Birmingham Daily Post 1954/Metropolitan Coloured People Housing Association Limited 1958). Beispielsweise haben Schwarze Netzwerke das Verständnis von Eigentum durch den gemeinschaftlichen Kauf von Wohnungen transformiert. Fernab von idealisierten Vorstellungen kollektiver Stadtgestaltung, waren diese Praktiken abseits formeller Planung, jedoch von weiteren Ungleichheiten durchzogen. Wie Matera (2015) darlegt, engagierten sich beispielsweise Schwarze Frauen als Reaktion auf sexistische Belästigungen in öffentlichen Räumen und innerhalb ihres privaten Umfelds oft in verschiedenen Schwarzen Organisationen, um ihren Stimmen Gehör zu verschaffen. Zusätzlich waren sie auch Teil weitgehend weißer feministischer Organisationen. Die von ihnen imaginierte Stadt beruhte auf solidarischen Praktiken des Austauschs zwischen weißen und nicht-weißen Frauen und verschrieb sich gleichzeitig dem Kampf um weibliches Schwarzes Dasein in London als Teil des globalen Kampfes gegen rassistische und patriarchale Planung (Matera 2015: 101). Diese Planung schließt Schwarze Frauen nicht nur aus formellen Planungsprozessen aus, sondern räumte ihnen auch nur wenig Mitspracherecht innerhalb männlich dominierter Schwarzer Organisationen ein. Aufgrund der vielfältigen Übergriffe gegen Schwarze Menschen kam es 1958 zu Unruhen im Westlondoner Stadtteil Notting Hill. In dessen Folge versprach der britische Premierminister sich mit dem »Problem der Kolonialbevölkerung« zu befassen (House of Commons 1958), die damit als Ursache der Unruhen identifiziert und pauschalisiert wurden. Zeitgleich propagierten Regierungskomitees eine Rhetorik des »gesunden Menschenverstandes«, welcher sich dadurch auszeichnete, nicht-weiße Einwanderung einzuschränken (Interdepartmental Committee on West-Indians 1959) und rechte Bewegun-

421

422

Koloniale Ordnungen und dekoloniale Zukünfte

gen durch die Britische Regierung nicht überwachen zu lassen (Daily Worker 1959). Aus dieser Rhetorik des »gesunden Menschenverstandes«, erwuchs schließlich die weiße Erzählung des »colour problem« (Hartlepool Northern Daily Mail 1958). Dieser Diskurs problematisierte nicht-weiße Körper, um Schwarze Immigration nach Großbritannien zu begrenzen. Zusätzlich sollte durch den Race Relations Act von 1965 verhindert werden, dass sich Schwarze Menschen in Gruppen organisieren (Black Panther Movement 1971). Diese Unsichtbarmachung Schwarzen Daseins in London, spiegelte somit die Entscheidung weißer Eliten und ihrem »gesunden«, weißen Menschenverstandes wider. Dieser Konsens verfestigte sich in den folgenden Jahren zunehmend u.a. durch den Aufstieg des rechtsgerichteten National Front.7 Während einer Demonstration gegen die Tagung der Partei, im Westlondoner Stadtteil Southall im Jahr 1979, die von Gruppen wie der Anti-Nazi-Liga und asiatischen Jugendbewegungen organisiert wurde, verletzte ein Polizist den weißen neuseeländischen Lehrer Blair Peach tödlich (Friends of Blair Peach 1979). Blair Peachs Tod signalisierte, dass sich staatliche Planungsgewalt Ende der 1970er Jahre nicht ausschließlich gegen nicht-weiße Menschen richtete, sondern auch gegen junge weiße Menschen, die sich im öffentlichen Raum mit nicht-weißen Menschen solidarisieren. In den Monaten nach dem Tod von Blair Peach wurden junge Schwarze und asiatische Londoner verstärkt zum Ziel polizeilich-rassistisch motivierter Gewalt (Race Today 1986). Zeitgleich sahen die Kinder der sogenannten Windrush-Generation, dass ihre Eltern Schwierigkeiten hatten ihren Arbeitsplatz zu behalten und dass sie selbst mit Diskriminierung im Bildungssystem konfrontiert waren. Eine Folge solcher Diskriminierungsstrukturen war eine hohe Rate Schwarzer Jugendarbeitslosigkeit (Ministerial Group on Urban Policies 1977). Anfang der 1980er Jahre versuchte die konservative Regierung Margaret Thatchers Stabilität wiederherzustellen, nachdem die 1970er Jahre von einem scheinbaren Zusammenbruch von Recht und Ordnung in »Schwarzen Stadtvierteln« gekennzeichnet waren (Bloom 2010). Im Rahmen dessen erklärte der Polizeichef Londons, dass Südlondon sein Testgebiet für neue Polizeimaßnahmen sein solle und leitete im April 1981 die »Operation Swamp 81« ein (Grassroots 1981). Allein im Stadtteil Brixton patrouillierten zehn Trupps mit je zehn Polizisten auf den Straßen und führten in den ersten vier Tagen 7

Britische rechtsextreme Partei mit besonders starkem Zuwachs von Mitgliedern in den 1970er und 1980er Jahren.

Antje Bruns & Toni Adscheid: Stadtplanung als koloniale Praxis

tausend Personenkontrollen und einhundert Festnahmen durch (Grassroots 1981/Lambeth Council 1981). Die Bezeichnung »Operation Swamp 81« wurde von einer Regierungserklärung Thatchers inspiriert, in der sie behauptete, dass Schwarze Menschen grundlegende britische Eigenheiten überfluten würden (Grassroots 1978). Mit dem Bild des Sumpfes wurden Räume, in denen Schwarze Menschen leben, mit kriminellen Räumen und Räumen der Angst gleichgesetzt. Zugleich wurden diese Räume als nicht britisch markiert. Wenige Tage nach Beginn der »Operation Swamp 81« kam es am 11. April 1981 zu Unruhen, die als Brixton Riot in die Geschichtsschreibung eingingen. Um die Unruhen aufzuarbeiten leitete die Regierung eine Untersuchung ein. Die Ergebnisse wurden im Scarman Report dargelegt. Zwar enthielt der Bericht einige kritische Passagen gegenüber Polizeipraktiken, aber der Vorwurf des institutionellen Rassismus wurde abgelehnt (House of Lords 1981). Nach Veröffentlichung des Berichtes mobilisierte sich eine Vielzahl Schwarzer (Selbsthilfe-)Organisationen. Diese kämpften für eine Freilassung der während der Unruhen Verhafteten und versuchten Regierungsbeamte zur Rechenschaft zu ziehen (Brixton Defense Campaign 1981/Brixton Neighborhood Community Association 1981/Center News 1981). Für die Bemühungen Schwarzen Menschen zu helfen (z.B. durch finanziellen, juristischen oder karitativen Beistand) und ihnen damit Aus- und Fluchtwege vor dem repressiven Staat zu bieten, benötigten Schwarze Selbsthilfeorganisationen finanzielle Mittel (Voluntary Voice 1986). Paradoxerweise stellte die britische Regierung tatsächlich finanzielle Hilfen in Aussicht, allerdings nur, wenn gewerbliche Tätigkeiten nachgewiesen wurden, beispielweise durch Kooperation von Schwarzen Selbsthilfeorganisationen mit privatwirtschaftlichen Unternehmen (Voluntary Voice 1986). Dies kann als Strategie des Staates gelesen werden, Formen des Widerstands einzuhegen. Bemühungen der britischen Regierung, Schwarzes Leben kontrollierbar zu machen, wurden in den 1990er und 2000er Jahren zum Beispiel mit den Kürzungen sozialer Dienste oder der Schließung von Jugendclubs in Tottenham fortgeführt (Grant 1997). Inmitten von Protesten Studierender und Gewerkschafter gegen weitere Sparmaßnahmen nach der Finanzkrise von 2008 (Dzudzek/Müller 2013) und des Todes von Mark Duggan in Tottenham durch einen weißen Polizisten (Morgner 2014) kam es 2011 in ganz London zu Unruhen. Der junge Schwarze Mann war Mitglied der afro-karibischen Gemeinde rund um die Siedlung Broadwater Farm in Tottenham (Hill 2014), welche im Vorfeld und Nachklang der Aufstände laut dem damaligen Justizminister der Lebensraum für die »feral underclass« war (Dzudzek/Müller 2013).

423

424

Koloniale Ordnungen und dekoloniale Zukünfte

Um dies zu verarbeiteten und der zunehmenden Überwachung öffentlicher Räume zu entkommen, entstanden insbesondere durch Rap und Grime neue musikalische Ausdrucksformen (White 2020). Die in ihnen imaginierten Geographien spiegeln die pluralen Vorstellungen von Stadt und ihrer Gestaltung wider. So heben die Künstler Logic, Big Cakes, Cerose, Badness ihrem gemeinsamen Song »Dangerous Times« die Ähnlichkeit und Zusammenhänge zwischen den Unruhen von 2011 und den Brixton-Unruhen von 1981 hervor; Lethal Bizzle, Sohn ghanaischer Eltern, die mit ihm in England leben, rappt 2007 über das brennende Ghetto in Babylon und Genesis Elijah positionieren sich 2011 kritisch zu den Plünderungen, aber bewerten die Schwarze Selbsthilfe, die Widerstand gegen politisch Mächtige leistet, positiv: »We all came together last night for that I am grateful. If you are a real rebel fight the power not the powerless.« (Genesis Elijah 2011)

Alltägliche Praktiken und die Transformation des Städtischen Accra und London sind eingebettet in die imperiale Geschichte und Geographie des Britischen Empire, aber nicht darauf reduzierbar. Denn die stillen und flüchtigen Praktiken bieten Auswege aus den räumlichen Festlegungen und rassifizierten Praktiken der Stadtplanung (vgl. auch Gilroy 1993; Bledsoe/Wright 2019). Sowohl in Accra als auch London beschränkt die historisch gewachsene institutionelle Logik der Stadtplanung und die dadurch hervorgebrachte rassifizierte räumliche Ordnung das Dasein Schwarzer Menschen. Aber diese Logik wird untergraben und die beschriebenen Praktiken in Accra und London sind mehr als die Daseinssicherung Schwarzen Lebens. Sie verändern den Kern der Metropolen, indem sie sich Festlegungen widersetzen, das Schwarze Dasein neu imaginieren und städtischen Raum im Alltag gestalten. Der Fokus auf die Veränderungen in alltäglichen Praktiken ermöglicht, Schwarzsein als etwas Fluides zu begreifen, dem ein transformatives Potenzial innewohnt (Castro Varela/Dhawan 2005: 238). Darüber findet zugleich eine Positionierung gegen jene Diskurse statt, die Räume, in denen Schwarze Menschen leben, als Räume des Elends oder der Kriminalität territorial stigmatisieren und essentialisieren (Gilroy 1990; ElliottCooper 2019). Aus diesem Grund haben wir mit dem vorliegenden Beitrag die Lebendigkeit und Handlungsmacht Schwarzen Lebens in den Vordergrund gerückt. Handlungsmacht entfaltet sich in stillen und flüchtigen Praktiken

Antje Bruns & Toni Adscheid: Stadtplanung als koloniale Praxis

jenseits formalisierter (Stadt-)Planungsprozesse und jenseits zugewiesener gesellschaftlicher Subjektposition. Nicht-westliche Stadtforscher*innen betonen seit geraumer Zeit das transformative Potenzial, das in alltäglichen Praktiken des Experimentierens und Improvisierens zu finden ist (Simone 2019). Sie liefern damit wichtige konzeptuelle Bausteine für ein praxistheoretisches Verständnis städtischer Raumproduktion und städtischer Transformation: Das Politische des urbanen Alltags zeigt, dass sich städtische Transformation oft im Verborgenen abspielt und nicht immer an offenen Protest und sichtbaren Widerstand gebunden sein muss (Bayat 2010). Diese Beiträge haben bislang noch wenig Eingang in westliche Debatten der Stadtforschung gefunden und eine Auseinandersetzung darüber, wie eigentlich jene Menschen städtische Veränderungsprozesse gestalten, die in der Stadtforschung selten in Erscheinung treten, findet kaum statt. Impulse zum Weiterdenken dieser Debatten bietet unter anderem der Sammelband »Decolonize the City!«, in welchem u.a. Ha (2017) Aufmerksamkeit auf die selbstbestimmten und widerständigen Alltagspraktiken rassifizierter und migrantischer Menschen in europäischen Metropolen lenkt. Und weitere Impulse gehen von den Black Geographies aus (Brand/Miller 2020). Abschließend möchten wir nach den Implikationen der Ausführungen für die Planungstheorie und -praxis und ihrem Beitrag für die transformative Stadtgestaltung fragen. Fest steht, dass allzu vereinfachende Forderungen nach mehr politischer Teilhabe und Partizipation der bisher Ausgeschlossenen den Kern verfehlen. Denn die Hoffnung, Planung könne die »postkolonialen Anderen« einbeziehen, indem sie darauf achtet, dass ein vermeintlich »Anderer« existiert, wäre nur ein weiterer Akt der Geschichtsvergessenheit und De-Politisierung von Stadtplanung (Porter 2006: 393f). Entsprechend bezweifelt Ananya Roy, dass die Denk- und Gestaltungsansätze der Stadtplanung überhaupt einen Raum für gegenhegemoniales Denken und Handeln bieten können (Roy 2008: 92). Hingegen möchten Brand und Miller (2020) Stadtplanung in den Mittelpunkt einer antirassistischen Raumproduktion stellen und fordern die Planungstheorie und -praxis auf, Literatur der Black Geographies einschließlich benachbarter Debattenfelder aufzugreifen. Wir schließen uns dieser Forderung an und verweisen einmal mehr darauf, dass Stadtplanung von Denkweisen, die rassifizierte Herrschaftsformen (re-)produzieren, durchzogen ist. Zugleich sehen wir, dass widerständige Praktiken der Daseinssicherung Brüche in den Herrschaftsstrukturen vertiefen und verweisen auf den prozesshaften Charakter urbaner Transformation (Simone 2019).

425

426

Koloniale Ordnungen und dekoloniale Zukünfte

Literatur Alba, Rossella; Bruns, Antje (2022): »First-Class but not for Long: Heterogeneous Infrastructure and Water Bricolage in Accra’s Kiosk Compounds«, in: Urban Forum 33, S. 129–151. Alba, Rossella; Kooy, Michelle; Bruns, Antje (2022): »Conflicts, Cooperation and Experimentation: Analysing the Politics of Urban Water through Accra’s Heterogeneous Water Supply Infrastructure«, in: Environment and Planning E: Nature and Space 5(1), S. 250–271. Bartels, Lara E. (2020): »Peri-urbanization as »Quiet Encroachment« by the Middle Class. The Case of P&T in Greater Accra«, in: Urban Geography 41(4), S. 524–549. Bartels, Lara E.; Bruns, Antje (2019): »Die Rolle der Mittelklasse im informellen Siedlungsbau. Der Fall der Greater Accra Metropolitan Area in Ghana«, in: Geographische Rundschau 71(11), S. 18–23. Bayat, Asef (2010): Life as Politics. How Ordinary People Change the Middle East, Amsterdam: Amsterdam University Press. Berry, Sara (2013): »Questions of Ownership: Proprietorship and Control in a Changing Rural Terrain – a Case Study from Ghana«, in: Africa 83(1), S. 36–56. Berry, Sara (2018): »Chieftaincy, Land, and the State in Ghana and South Africa«, in. John L. Comaroff, Jean Comaroff (Hg.): The Politics of Custom. Chiefship, Capital, and the State in Contemporary Africa, Chicago: University of Chicago Press, S. 79–109. Bledsoe, Adam; Wright, Willie J. (2019): »The Pluralities of Black Geographies«, in: Antipode 51(2), S. 419–437. Bloom, Clive (2010): Violent London. 2000 Years of Riots, Rebels and Revolts, Basingstoke: Palgrave Macmillan. Bohman, Anna (2012): »The Presence of the Past: A Retrospective View of the Politics of Urban Water Management in Accra, Ghana«, in: Water History 4(2), S. 137–154. Bonnett, Alastair (2002): »The Metropolis and White Modernity«, in Ethnicities 2(3), S. 349–366. Brand, Anna L.; Miller, Charles (2020): »Tomorrow I’ll Be at the Table: Black Geographies and Urban Planning: A Review of the Literature«, in: Journal of Planning Literature 35(4), S. 460–474. Castro Varela, María do Mar; Dhawan, Nikita (2005): Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Bielefeld: transcript.

Antje Bruns & Toni Adscheid: Stadtplanung als koloniale Praxis

Cooper, Frederick; Stoler, Ann L. (Hg.) (1997): Tensions of Empire. Colonial Cultures in a Bourgeois World, Berkeley: University of California Press. Dzudzek, Iris; Müller, Michael (2013): »Der Lärm des Politischen. Die Londoner riots 2011 und ihre politischen Subjekte«, in: sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung 1(2), S. 17–40. Eckardt, Frank; Hoerning, Johanna (2012): »Postkoloniale Städte«, in: Frank Eckardt (Hg.): Handbuch Stadtsoziologie, Wiesbaden: VS Verlag, S. 263–287. Elliott-Cooper, Adam (2019): «Our Life is a Struggle«: Respectable Gender Norms and Black Resistance to Policing«, in: Antipode 51(2), S. 539–557. Fält, Lena (2020): New Urban Horizons in Africa. A Critical Analysis of Changing Land Uses in the Greater Accra Region, Ghana, Stockholm: Stockholm University Doctoral Thesis. Gilroy, Paul (1990): »Art of Darkness: Black Art and the Problem of Belonging to England«, in: Third Text 4(10), S. 45–52. Gilroy, Paul (1993): TheBblack Atlantic. Modernity and Double Consciousness, London: Verso. Grant, Barbara (1997): »Disciplining Students: The Construction of Student Subjectivities«, in: British Journal of Sociology of Education 18(1), S. 101–114. Grant, Richard; Yankson, Paul (2003): »Accra«, in: Cities 20(1), S. 65–74. Ha, Noa K. (2017): »Zur Kolonialität des Städtischen«, in: Zwischenraum Kollektiv (Hg.): Decolonize the City! Zur Kolonialität der Stadt – Gespräche, Aushandlungen, Perspektiven, Münster: Unrast, S. 73–85. Ha, Noa K. (2016): Straßenhandel in Berlin. Öffentlicher Raum, Informalität und Rassismus in der neoliberalen Stadt, Bielefeld: transcript. Harney, Stefano; Moten, Fred (2016): Die Undercommons. Flüchtige Planung und schwarzes Studium, Wien: transversal texts. Hawthorne, Camilla (2019): »Black Matters are Spatial Matters: Black Geographies for the Twenty-first Century«, in: Geography Compass 13(11), https://d oi.org/10.1111/gec3.12468 Hill, Clifford S. (2014): Free at Last? The Tottenham Riots and the Legacy of Slavery, London: Wilberforce Publications. Holm, Andrej (2014): »Das Recht auf die Stadt in umkämpften Räumen. Zur gesellschaftlichen Reichweite lokaler Proteste«, in: Norbert Gestring, Renate Ruhne, Jan Wehrheim (Hg.): Stadt und soziale Bewegungen, Wiesbaden: Springer VS, S. 43–62. Home, Robert (2015): »Colonial Urban Planning in Anglophone Africa«, in: Carlos N. Silva (Hg.): Urban Planning in Sub-Saharan Africa. Colonial and Post-colonial Planning Cultures, London/New York: Routledge, S. 53–66.

427

428

Koloniale Ordnungen und dekoloniale Zukünfte

Huggan, Graham (2013): The Oxford Handbook of Postcolonial Studies, Oxford: Oxford University Press. Jacobs, Jane M. (2002): Edge of Empire, London/New York: Routledge. King, A. D. (1989): »Colonialism, Urbanism and the Capitalist World Economy«, in: International Journal of Urban and Regional Research 13(1), S. 1–18. King, Anthony D. (1977): »Exporting ›Planning‹: The Colonial and Neo-Colonial Experience«, in: Urbanism Past & Present 5, S. 12–22. Kooy, Michelle; Bakker, Karen (2008): »Technologies of Government: Constituting Subjectivities, Spaces, and Infrastructures in Colonial and Contemporary Jakarta«, in: International Journal of Urban and Regional Research 32(2), S. 375–391. Lanz, Stephan (2015): »Über (Un-)Möglichkeiten, hiesige Stadtforschung zu postkolonialisieren«, in: sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung 3(1), S. 75–90. Lanz, Stephan (2017): »Asef Bayat: Leben als Politik«, in: Frank Eckardt (Hg.): Schlüsselwerke der Stadtforschung, Wiesbaden: Springer, S. 301–315. Mabugunje, Akin L. (1990): »Urban Planning and the Post-Colonial State in Africa. A Research Overview«, in: African Studies Review 33(2), S. 121–203. Matera, Marc (2015): Black London. The Imperial Metropolis and Decolonization in the Twentieth Century, Berkeley: University of California Press. McKittrick, Katherine (2006): Demonic Grounds: Black Women and the Cartographies of Struggle, Minneapolis: University of Minnesota Press. Morgner, Christian (2014): »Anti-social Behaviour and the London ›Riots‹: Social Meaning-making of the Anti-social«, in: Sarah Pickard (Hg.): Anti-Social Behaviour in Britain. Victorian and Contemporary Perspectives, Basingstoke: Palgrave Macmillan, S. 92–101. Njoh, Ambe J. (2010): »Europeans, Modern Urban Planning and the Acculturation of ›Racial Others‹«, in: Planning Theory 9(4), S. 369–378. Nyametso, Johnie K. (2012): »The Link between Land Tenure Security, Access to Housing, and Improved Living and Environmental Conditions: A Study of Three Low-income Settlements in Accra, Ghana«, in: Norsk Geografisk Tidsskrift – Norwegian Journal of Geography 66(2), S. 84–98. Pilkington, Edward (1988): Beyond the Mother Country. West Indians and the Notting Hill White Riots, London: Tauris. Porter, Libby (2006): »Planning in (Post)Colonial Settings: Challenges for Theory and Practice«, in: Planning Theory & Practice 7(4), S. 383–396. Reckwitz, Andreas (2003): »Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken«, in: Zeitschrift für Soziologie 32(4), S. 282–301.

Antje Bruns & Toni Adscheid: Stadtplanung als koloniale Praxis

Roy, Ananya (2008): »Post-liberalism: On the Ethico-politics of Planning«, in: Planning Theory 7(1), S. 92–102. Roy, Ananya (2009): »The 21st -Century Metropolis. New Geographies of Theory«, in: Regional Studies 43(6), S. 819–830. Schmid, Christian (2005): Stadt, Raum und Gesellschaft. Henri Lefebvre und die Theorie der Produktion des Raumes, Stuttgart: Steiner. Simone, AbdouMaliq (2019): »Maximum Exposure: Making Sense in the Background of Extensive Urbanization«, in: Environment and Planning D: Society and Space 37(6), S. 990–1006. Solomos, John; Findlay, Bob; Jones, Simon; Gilroy, Paul (1982): »The Organic Crisis of British Capitalism and Race: The Experience of the Seventies«, in: Centre for Contemporary Cultural Studies (Hg.): The Empire Strikes Back. Race and Racism in 70s Britain, London: Hutchinson, S. 9–46. van Gielle Ruppe, Peter; Helbrecht, Ilse; Dirksmeier, Peter (2012): »Die Politisierung der Stadtplanung: die performative Rolle von Planungsinstrumenten in Konfliktzonen am Beispiel Jerusalem«, in: Raumforschung und Raumordnung 70(5), S. 411–424. White, Joy (2020): Terraformed. Young Black Lives In The Inner City, New York: Repeater.

Archiv- und Pressematerial Birmingham Daily Post (1954): The whole population can come over. 23. Dezember, The British Newspaper Archive, https://www.britishnewspaperarchiv e.co.uk, zuletzt geprüft am 12.03.2023. Birmingham Daily Post (1956): Coloured Workers ›Ostracized‹ by Trade Unionists. 12. November, The British Newspaper Archive, https://www.britishne wspaperarchive.co.uk, zuletzt geprüft am 12.03.2023. Black Panther Movement (1971): Summary of National Conference on the Rights of Black People in Britain May 1971, in: Black Panther Movement, ref. JLR/3/1/5, George Padmore Institute, London. Brixton Defence Campaign (1981): Correspondence of the Brixton Defence Campaign to other black movements. 29. Juli, in: Correspondence, ref. Gutsmore/1/2, Black Cultural Archives, London. Brixton Neighbourhood Community Association (1981): Issued Statement on Brixton enquiry. 19. Juni, in: Correspondence, ref. Gutsmore/1/2, Black Cultural Archives, London.

429

430

Koloniale Ordnungen und dekoloniale Zukünfte

Centre News (1981): Centre News: Black community newspaper. Juni, in: Correspondence, ref. Gutsmore/1/2, Black Cultural Archives, London. Daily Worker (1959): Commons discuss Notting Hill. 5. Juni, in: Race Relations in London in the years after the Notting Hill riots: personal correspondence, ref. HLG 117/122, National Archives, London. Friends of Blair Peach (1979): Letter to the United High Commissioner of New Zealand. 16. Oktober, ref. FCO 107/135, National Archives, London. Genesis Elijah (2011): RE: UK Riots. https://www.youtube.com/watch?v=f-rQp kvLuv0, zuletzt geprüft am 19.03.2023. Grant, Bernie (1997): Address in the House of Commons, in: Ministerial letters, ref. BG/P/3/4/10, Bishopsgate Institute Archives, London. Grassroots (1978): ›Black community news‹ [Margret Thatcher – The NF Vote Snatcher]. Ref. Libfront 1/1, Black Cultural Archives, London. Grassroots (1981): ›Black community news‹ [Uprising in na Brixton]. Ref. Libfront 1/1, Black Cultural Archives, London. Hartlepool Northern Daily Mail (1954): Negro Immigrants a vast problem. 22. November, The British Newspaper Archive, https://www.britishnewspape rarchive.co.uk, zuletzt geprüft am 12.03.2023. Hartlepool Northern Daily Mail (1958): Brixton streets peaceful for the coloured folk. 22. September, The British Newspaper Archive, https://www.britishn ewspaperarchive.co.uk, zuletzt geprüft am 12.03.2023. House of Commons (1958): Address in the House of Commons. 10. September, in: Race Relations in London in the years after the Notting Hill riots: personal correspondence, ref. HLG 117/122, National Archives, London. House of Lords (1981): Scarman: Home Secretary discussion on Scarman Inquiry. Ref. HO 498/6, National Archive, London. Interdepartmental Committee on West-Indians (1959): Notes of committee meeting. 28.Mai, in: Measures to assist the assimilation of coloured immigrants, ref. HO 344/43, National Archives, London. Lambeth Council (1981): Disturbances, The Brixton Riots [Notes of Council meeting on the Brixton riots]. 15 April, in: Scarman Report on the Brixton riot, April 1981, ref. HO 496/9, The National Archive, London Lethal Bizzle (2007): Babylon’s Burning The Ghetto. https://www.youtube.com /watch?v=hbf83rLG2mQ, zuletzt geprüft am 19.03.2023. Logic/Big Cakes/Cerose/Badness (2011): Dangerous Times. https://www.yout ube.com/watch?v=y3Jg63dGLxE, zuletzt geprüft am 19.03.2023. Metropolitan Coloured People Housing Association Limited (1958): Memorandum relating to the housing problems of coloured people in London. 2.

Antje Bruns & Toni Adscheid: Stadtplanung als koloniale Praxis

September, in: Race Relations in London in the years after the Notting Hill riots: personal correspondence, ref. HLG 117/122, National Archives, London. Ministerial Group on Urban Policies (1977): Policy issues: Designated Areas and Environmental Problems of Declining Urban Areas [Report on Inner Cities], ref. AT 53/50/2, National Archives, London. Ministry of Housing and Local Government (1957): Personal correspondence about the Situation in Islington. 19. November, in: Race Relations in London in the years after the Notting Hill riots: personal correspondence, ref. HLG 117/122, National Archives, London. Race Today (Hg.) (1986): ›Oh Dear That Criminal ›Minority‹ Again – Handsworth, Brixton, Tottenham‹, in: Race Today 16, ref. GB 2904 JOU/1/1/130, George Padmore Institute, London. Voluntary Voice (Hg.) (1986): Voluntary Voice: GLC Press Ethnic Minority Unit Press. April, in: Greater London Council Ethnic Minorities Unit, ref. RC/ RF/4/11/E, Black Cultural Archives, London.

431

Kolonialität des Alltags Das Konzept der imperialen Lebensweise aus postkolonialer Perspektive Tobias Kalt, Jonas Lage & Anil Shah

Einleitung Mit dem Konzept der imperialen Lebensweise haben die Politikwissenschaftler Ulrich Brand und Markus Wissen eine breite Diskussion im deutschsprachigen Raum losgetreten, die globale Ausbeutung und Umweltzerstörung mit dem alltäglichen Leben der meisten Menschen in Deutschland bzw. dem Globalen Norden verknüpft. Damit greifen die Autoren in eine Umwelt- und Klimadebatte ein, die sich häufig entweder in Konsumkritik erschöpft und einen individuell suffizienten Lebenswandel einfordert oder allein auf die polit-ökonomischen Ursachen für die ökologische Krise fokussiert. Das Konzept der imperialen Lebensweise kann als ein Vermittlungsversuch zwischen diesen parallel verlaufenden Debatten gelesen werden. Es richtet den Blick darauf, wie Alltagswissen und Alltagspraktiken mit gesellschaftlichen Strukturen und Normen so zusammenwirken, dass sie krisenhafte Verhältnisse stabilisieren und transformative Krisenbearbeitung verhindern. Semantisch und in Ansätzen auch konzeptionell knüpft das Konzept an Imperialismusdebatten der letzten Jahrzehnte an. Gleichwohl sind diese Bezüge wenig ausgearbeitet und ausdifferenziert. In diesem Beitrag wollen wir das Konzept der imperialen Lebensweise vorstellen und vor dem Hintergrund postkolonialer und marxistischer (Imperialismus-)Debatten reflektieren. Dazu stellen wir zunächst die Kernthesen des Konzepts vor und definieren wichtige Begriffe. Im Anschluss fassen wir die (marxistische) Kritik am Konzept im deutschsprachigen Raum zusammen. Schließlich erweitern wir diese Kritik aus postkolonialer Perspektive. Ziel dieser kritischen Reflexion ist, Impulse für

434

Koloniale Ordnungen und dekoloniale Zukünfte

neue Perspektiven und Allianzen einer sozial-ökologischen Transformation zu bieten.

Einführung in das Konzept der imperialen Lebensweise Mit dem Konzept der imperialen Lebensweise haben Brand und Wissen eine Krisendiagnose kapitalistischer Naturverhältnisse entwickelt, die zu erklären versucht, warum ökologische Krisen zunehmend problematisiert werden und gleichzeitig die Krisenbearbeitung unzureichend bleibt. Dazu rückt das Konzept die Verschränkung von gegenwärtigen und historisch entstandenen Produktions-, Distributions- und Konsummustern ins Zentrum der Analyse (Brand/Wissen 2011: 79). Die Autoren knüpfen an Arbeiten der Politischen Ökologie an, die Natur und Gesellschaft nicht als getrennte Systeme sondern als miteinander in vermachteten gesellschaftlichen Naturverhältnissen verwoben betrachtet (Görg 1999; Biesecker/Hofmeister 2010). Im Gegensatz zu vorherrschenden Debatten um nachhaltige Entwicklung und grüne Transformation wollen Brand und Wissen mit dem Begriff der imperialen Lebensweise zu einer machtkritischen und emanzipatorischen Transformationstheorie und -praxis beitragen. Die »neue kritische Orthodoxie« der Nachhaltigkeitsdebatte (Brand/Wissen 2017: 31), wie sie beispielsweise im Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung zur »Großen Transformation« (WBGU 2011) zum Ausdruck kommt, kritisieren sie in mehrfacher Hinsicht. Erstens liefern diese Ansätze häufig eine weitreichende Problemdiagnose der ökologischen Krise, verknüpfen diese jedoch nicht mit weiteren Krisendynamiken. Zweitens werden Perspektiven auf Transformationen vor allem auf Entwicklungen innerhalb des Globalen Nordens beschränkt. Und drittens bestehen Transformationsstrategien primär in inkrementellen Reformen unter dem Leitbild einer ökologischen Modernisierung, in der markt- und technologiezentrierte Maßnahmen im Mittelpunkt stehen. Demgegenüber betonen Brand und Wissen, dass ein gutes Leben für alle nur durch die Überwindung der imperialen Lebensweise möglich sei, die eine tiefgreifende Transformation kapitalistischer Naturverhältnisse bedarf.1

1

Als Teil des I.L.A.-Kollektivs haben wir den Begriff der imperialen Lebensweise für unterschiedliche Lebensbereiche anhand empirischer Beispiele konkretisiert (I.L.A.Kollektiv 2017) sowie daran anknüpfend weiterführende Ansatzpunkte einer sozial-

Tobias Kalt, Jonas Lage & Anil Shah: Kolonialität des Alltags

Das Imperiale: Der prinzipiell unbegrenzte Zugriff auf Ressourcen, Senken und Arbeitskraft Ein Kerngedanke des Begriffs der imperialen Lebensweise ist, »dass das alltägliche Leben in den kapitalistischen Zentren wesentlich über die Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse und der Naturverhältnisse andernorts ermöglicht wird« (Brand/Wissen 2017: 43). Damit wird die Analyse von globaler Ungleichheit im Kapitalismus mit der Ebene des Alltags verknüpft. Anders formuliert: Der Wohlstand und die gesellschaftliche Stabilität in den Ländern des Globalen Nordens werden durch die Ausbeutung von Menschen und Natur andernorts ermöglicht. Dabei zielt das Imperiale auf den prinzipiell unbegrenzten Zugriff auf Arbeitskraft, natürliche Ressourcen und Senken im globalen Maßstab (Brand/Wissen 2011: 82). Diese Dynamik zeigt sich etwa bei der Abholzung des Regenwaldes besonders plastisch. Durch den Import von landwirtschaftlichen Produkten aus tropischen Regionen – vor allem Soja, Mais, Palmöl und Rindfleisch – trägt die EU jährlich zu einer Entwaldung von gut 200.000 Hektar Regenwald bei (Wedeux/Schulmeister-Oldenhove 2021). Über solche Prozesse der Aneignung von Land und der Externalisierung von ökologischen Kosten strukturiert die imperiale Lebensweise sowohl die Gesellschaften des Globalen Nordens als auch die Lebensverhältnisse der Menschen im Globalen Süden. Neben der räumlich-territorialen Dimension lässt sich auch eine zeitliche Dimension solcher Landnahmeprozesse beschreiben. Durch die Nutzung fossiler Energieträger werden Ressourcen, die über Millionen Jahre in der Erdkruste angereichert wurden, heute innerhalb von Jahrzehnten wortwörtlich verfeuert. Die entstehenden Kosten werden in Form des Klimawandels und anderen ökologischen Krisen vor allem in den Globalen Süden sowie in die Zukunft ausgelagert. Darüber hinaus beruht die imperiale Lebensweise auf der Expansion kapitalistischer Verwertungslogiken in immer weitere Lebensbereiche, beispielsweise durch die Kommodifizierung von Sorgearbeit oder Freizeitgestaltung. Die Ausbeutung von Arbeit und die Auslagerung von Kosten verläuft dabei zumeist entlang von historisch gewachsenen Ungleichheiten, wie Klassen- und Geschlechterverhältnissen sowie rassistischen und kolonialen Strukturen, die unter anderem durch Entwicklungsdiskurse legitimiert werden (Brand/Wissen 2017: 62). Brand und Wissen beschreiben ökologischen Transformation und Umrisse solidarischer Lebensweisen skizziert (I.L.A.Kollektiv 2019).

435

436

Koloniale Ordnungen und dekoloniale Zukünfte

Ausbeutung und Ungleichheit vor allem im globalen Maßstab entlang der Trennung zwischen Globalem Norden und Globalem Süden. Ähnliche Muster lassen sich jedoch auch in kleineren Maßstäben beobachten. So leisten Frauen in Deutschland über 50 Prozent mehr unbezahlte Sorgearbeit als Männer (BMFSFJ 2018) und es sind vor allem Ärmere und rassifizierte Menschen, die in städtischen Räumen aufgrund einfacher Wohnlagen höheren Verkehrsemissionen ausgesetzt sind. Die Auslagerung von sozial-ökologischen Kosten ist konstitutiv für die imperiale Lebensweise und funktioniert aus ökologischer Sicht solange, wie nur ein Bruchteil der Weltbevölkerung zu den Profitierenden zählt. Die imperiale Lebensweise basiert also auf Exklusivität. Durch eine wachsende globale Mittel- und Oberschicht, vor allem in den BRICS-Staaten, werden jene nicht nur aus ökonomischer, sondern auch aus ökologischer Sicht zu Konkurrenten der Länder des Globalen Nordens, sodass »ökoimperiale Spannungen« (Brand/Wissen 2017: 121) zunehmen. Entsprechende Konflikte zeigen sich beispielsweise bei den Klimaverhandlungen um die Verteilung des verfügbaren CO2 -Budgets. Darüber hinaus stellen Flucht- und Migrationsbewegungen immer wieder Grenzregime an den Außengrenzen der EU und der USA unter Druck und lassen sich auch als Reaktion auf die Zerstörung von Existenzgrundlagen im Globalen Süden durch die imperiale Lebensweise verstehen. Die gewaltvolle Stabilisierung der Grenzregime kann somit auch als Verteidigung der strukturell notwendigen Exklusivität der imperialen Lebensweise gelesen werden.

Die Lebensweise: Verbindung von Struktur und Alltag Der Begriff der Lebensweise versucht zu verdeutlichen, warum und wie das Alltagsleben der meisten Menschen im Globalen Norden unweigerlich mit strukturellen Dynamiken der Weltwirtschaft zusammenhängt. So argumentieren Brand und Wissen, dass sich das ökologisch destruktive Wirtschaftswachstum trotz steigendem Umweltbewusstsein unter anderem deshalb fortsetzen kann, weil es in den Gewohnheiten, Routinen und Normalitätsvorstellungen des gelebten Alltags ausgeblendet wird. Dies führt zu einem gewissen Dilemma, den der Begriff der Lebensweise verdeutlichen will. Einerseits sind es nicht allein politische und wirtschaftliche Eliten, die einen grundlegenden Wandel verhindern, denn die imperiale Lebensweise wird durch normalisierte Alltagspraktiken ständig reproduziert. Andererseits sind die Handlungsspielräume von Individuen begrenzt und werden durch politi-

Tobias Kalt, Jonas Lage & Anil Shah: Kolonialität des Alltags

sche, ökonomische und kulturelle Rahmenbedingungen geformt. Brand und Wissen schließen an regulationstheoretische Konzepte an, indem sie darauf hinweisen, dass die strukturell verankerten Produktions-, Distributions- und Konsumnormen die sozialen Verhältnisse des Alltags prägen (Brand/Wissen 2011: 80; Brand/Wissen 2017: 44). Anders formuliert: Fragen wie und was wir (nicht) essen, wer wo (nicht) wohnt, wer wie (nicht) arbeitet, wohin wir uns (nicht) bewegen können oder wer wen (nicht) pflegt sind keine rein individuellen Entscheidungen, sondern von gesellschaftlichen Machtverhältnissen geprägt. Eingeschrieben sind diese Verhältnisse unter anderem in materielle Infrastrukturen, wie sich am Beispiel der Mobilität verdeutlichen lässt (I.L.A. Kollektiv 2017: 77ff). Eine seit den 1950er Jahren zu beobachtende Entwicklung zugunsten der Automobilität schafft aufgrund wachsender Distanzen zwischen Orten des Wohnens, Arbeitens, Einkaufens und der Freizeit Abhängigkeiten vom motorisierten Verkehr und legt das Auto im wahrsten Sinne des Wortes nahe, wenn der ÖPNV nur ungenügend ausgebaut und Fahrradfahren aufgrund fehlender Radwege unsicher ist. Brand und Wissen beschreiben die vorherrschende Lebensweise als Ergebnis von historischen Kompromissen zwischen Kapital und Arbeit. Im Fordismus, also vor allem in den Nachkriegsjahrzehnten, hat sich die imperiale Lebensweise in Ländern des Globalen Nordens in breite Gesellschaftsschichten verallgemeinert, weil die Löhne eines großen Teils der arbeitenden Bevölkerung mit dem Wirtschaftswachstum stiegen und das steigende Wohlstandsniveau wiederum die Kommodifizierung weiterer Lebensbereiche erlaubte (Brand/Wissen 2017: 85ff.). Solche gesellschaftlichen Kompromisse basierten dabei meist auf der Externalisierung und dem Zugriff auf Ressourcen und Arbeit andernorts und hatten damit einen imperialen Charakter. Dadurch konnte sich eine Lebensweise etablieren, deren imperialer Charakter tief in die Alltagspraxen breiter Bevölkerungsmehrheiten eingewoben war. Neben der materiellen Dimension der imperialen Lebensweise und ihrer politisch-institutionellen Absicherung etwa durch Gesetze oder Handelsabkommen, wird sie auch durch kulturelle Leitbilder und Diskurse stabilisiert. Denn die Verbreitung und Verallgemeinerung der imperialen Lebensweise beschreibt auch eine Verbreitung einer bestimmten Vorstellung vom guten Leben (Brand/Wissen 2011: 81). Im Fordismus setzten sich in europäischen und nordamerikanischen Städten kulturelle Leitbilder durch – wie das Einfamilienhaus, der zunächst wöchentliche, später tägliche Fleischkonsum, das private Auto und eine wachsende Zahl von Konsumgütern – als Ideal eines gelingenden und von Wohlstand geprägten Lebens. Hegemonietheoretisch

437

438

Koloniale Ordnungen und dekoloniale Zukünfte

argumentieren Brand und Wissen mit Bezug auf Antonio Gramsci, dass die imperiale Lebensweise für die Einzelnen sowohl Zwang als auch Versprechen eines guten Lebens und gesellschaftlicher Teilhabe darstellt (Brand/Wissen 2017: 56). Diese hegemonialen Vorstellungen machen die globale Ausbeutung und die ihr zugrundeliegenden Herrschaftsstrukturen unsichtbar. Denn was als normal wahrgenommen wird, bleibt zumeist unhinterfragt, sodass die materiellen Voraussetzungen dieser Normalität zu verschwinden scheinen.

Von der imperialen zur solidarischen Lebensweise Ausgehend von der Analyse der imperialen Lebensweise, die auf Expansion, Externalisierung und Exklusivität fußt, argumentieren die Autoren für eine solidarische Lebensweise, die demokratisch, friedlich und ökologisch ist (Brand/Wissen 2017: 174). Grundlegend für eine solidarische Lebensweise sehen Brand und Wissen eine neue Form der sozial-ökologischen Reproduktion, der Sorge und des vor- und umsorgenden Wirtschaftens, womit sie unter anderem an Ansätze der feministischen Ökonomie rund um den Arbeitskreis Vorsorgendes Wirtschaften anschließen (u.a. Biesecker/Hofmeister 2015). Die Sorgelogik zählt neben der Demokratisierung, dem Commoning und der Suffizienz auch zu den zentralen Konturen einer solidarischen Lebensweise, welche vom I.L.A. Kollektiv (2019) als Alternative zur imperialen Lebensweise ausgearbeitet wurde. Wenn die imperiale Lebensweise also auf mentalen, materiellen und institutionellen Infrastrukturen basiert (I.L.A. Kollektiv 2017: 7), dann müssen Strategien einer tiefgreifenden sozial-ökologischen Transformation auf allen drei Ebenen die imperiale Lebensweise zurückdrängen sowie Prinzipien, Praktiken und Voraussetzungen einer solidarischen Lebensweise ausweiten und absichern (I.L.A. Kollektiv 2019).

Kritische Rezeption des Konzepts im deutschsprachigen Raum Mit der starken These, dass die meisten Menschen im Globalen Norden auf Kosten anderer (Menschen sowie Natur) andernorts leben, rücken Brand und Wissen die räumlich-soziale Ungleichheit der Globalisierung ins Zentrum ihrer Analyse. Dabei ist die tendenziell homogenisierende Darstellung von binären Kategorien wie Globaler Norden/Süden und Innen/Außen sowie die konzeptionell teils widersprüchliche Verwendung von Ausbeutung in der deutschsprachigen Rezeption, vor allem aus Perspektive der marxistischen politischen

Tobias Kalt, Jonas Lage & Anil Shah: Kolonialität des Alltags

Ökonomie, kritisch diskutiert worden. In diesem Abschnitt fassen wir kurz drei wesentliche Kritikpunkte sowie Impulse für Differenzierungen zusammen. Erstens impliziert das Konzept der imperialen Lebensweise eine starke Trennung zwischen einem Innen und Außen, die sich augenscheinlich durch Prozesse der Landnahme und Externalisierung manifestiert. Dabei ist jedoch fraglich, ob sich politische und ökonomische Hierarchien allein, bzw. vorrangig, aus diesen Prozessen erklären lassen. In diesem Zusammenhang haben marxistische Kritiken darauf verwiesen, dass Brand und Wissen den Werttransfer von Peripherien in kapitalistische Zentren, d.h. die international ungleiche Aneignung von Arbeitskraft, einfach voraussetzen, aber nicht systematisch erklären (Sablowski 2018; Dörre 2019). Die primäre Fokussierung auf (neo-)koloniale Prozesse der Landnahme und der Externalisierung ignoriert tendenziell, dass strukturelle Gewalt in das Klassenverhältnis der kapitalistischen Produktionsweise eingeschrieben ist und als solche den Normalzustand für Arbeiter*innen weltweit darstellt. So argumentieren viele zeitgenössische marxistische Imperialismustheorien, dass Ausbeutung nicht allein auf kapitalistischer Expansion und Ausbeutung eines (unsichtbar gemachten) Außen aufbaut. Vielmehr findet die Hierarchisierung der internationalen Arbeitsteilung und die ungleiche Aneignung von Mehrwert gerade auch innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise statt. Insbesondere im Zuge der Globalisierung der Produktion in den letzten Jahrzehnten konnten transnationale Unternehmen ihre politische und ökonomische Macht erheblich ausbauen, indem sie von ungleicher Entwicklung, etwa bezüglich globaler Lohnunterschiede (global labor arbitrage), profitierten (siehe u.a. Smith 2016). Die konzeptionelle Betonung der strukturellen Gewalt globaler kapitalistischer Klassenverhältnisse erlaubt also Hierarchien und Ausbeutungsstrukturen des Innen, als mindestens ebenso zentrale Voraussetzung für die imperiale Lebensweise zu verstehen. Darüber hinaus kann eine konsequente Orientierung an marxistischen Klassenbegriffen die tendenziell homogenisierende und binäre Nord-SüdTrennung im Konzept der imperialen Lebensweise differenzieren. Insbesondere Beiträge der Kritischen Geographie haben herausgearbeitet, dass die neoliberale Globalisierung mit einer multi-skalaren räumlich-sozialen Partikularisierung und Fragmentierung von Regionen, Städten, Arbeitsprozessen und Lebensrealitäten auf unterschiedlichen Ebenen einhergeht (BanerjeeGuha 2010). Globale Ungleichheit lässt sich daher immer weniger mit territorialen Kategorien wie Land/Kontinent begreifen, sondern ist vielmehr

439

440

Koloniale Ordnungen und dekoloniale Zukünfte

durch ungleiche Entwicklung der zeitgleichen Globalisierung und Lokalisierung (daher: Glokalisierung) geprägt (Hürtgen 2021: 378). Die ungleichen, ausbeuterischen und sozial wie ökologisch zerstörerischen Voraussetzungen des von den meisten Menschen im Globalen Norden gelebten Alltags beruhen nicht zuletzt auf prekarisierten, rassifizierten und sexistischen Arbeits- und Klassenverhältnissen in Schlachthöfen, Logistikzentren und Pflegeheimen vor Ort (bspw. in Deutschland) – und nicht (nur) andernorts (I.L.A. Kollektiv 2017). Ebenso wird die Externalisierung von sozialen und ökologischen Kosten in Länder des Globalen Südens nicht nur durch globale postkoloniale Hierarchien geprägt. Innerhalb von Gesellschaften im Globalen Süden werden diese Kosten entlang weiterhin kolonial geprägter Klassenverhältnisse internalisiert. Das bedeutet, dass in diesen Regionen herrschende Klassen die Bedingungen für die Externalisierung dieser Kosten schaffen, aufstrebende Ober- und Mittelschichten an der imperialen Lebensweise teilhaben und der Großteil der Bevölkerung die Kosten dafür trägt, wie Anna Landherr und Jakob Graf für das Beispiel Chile aufzeigen (Landherr/Graf 2019). Eine multiskalare Perspektive, die Klassen- und andere Herrschaftsverhältnisse, die Ausbeutung von Arbeit und Natur bedingen, in den Mittelpunkt stellt, vermag daher Dichotomien wie Globaler Norden/Süden und Innen/Außen – und damit auch die Kategorisierung von Profitierenden und Verlierer*innen der imperialen Lebensweise – differenzierter zu analysieren. Drittens wurde die Konzeption von Subjektivierung und Widerstand im Konzept der imperialen Lebensweise als einseitig, verallgemeinernd und politisch problematisch kritisiert. Da »wir alle« an der Konservierung der bestehenden Verhältnisse beteiligt sind, bleibt unklar wer und was ausgeschlossen wird, wodurch sich das Innen und Außen der imperialen Lebensweise auszeichnet, und was die analytischen Kriterien dafür sind, (nicht) Teil der imperialen Lebensweise zu sein (Dörre 2019: 251). Gerade wenn historisch gewachsene Spaltungen entlang von Klassen- und Geschlechterverhältnissen sowie entlang von kolonialen und rassistischen Strukturen konstitutiv für die imperiale Lebensweise sind, liegt es nahe, dass diese Verhältnisse auch die vermeintlich homogene Vorstellung von einem guten Leben sowie den gelebten Alltag der meisten Menschen durchziehen und entsprechend fragmentieren. Wie Stefanie Hürtgen in ihrer wohlwollenden Kritik des Konzepts hervorhebt, findet Subjektivierung »vielfältiger, widersprüchlicher und keineswegs [durch] allein auf ›Konsum‹ ausgerichteter Praktiken der (arbeitenden) Subjekte« statt (Hürtgen 2020: 173). Wenn die Lebensweise sich einfach aus einer Strukturlogik ableiten lässt und diese stetig reproduziert,

Tobias Kalt, Jonas Lage & Anil Shah: Kolonialität des Alltags

treten Widersprüche und Konflikte der Subjektivierung und damit auch der kollektiven Ermächtigung unterdrückter Klassen in den Hintergrund. Durch die Fokussierung auf die Lebensweise werden statt der herrschafts- und gewaltförmigen Ausbeutung von Arbeit und Natur die Verinnerlichung der herrschenden Wachstums- und Konsumlogiken zum konzeptionellen Drehund Angelpunkt der imperialen Lebensweise (Hürtgen 2020: 178). Obwohl das Konzept eine kritische Intervention gegenüber der neuen kritischen Orthodoxie in der Debatte um nachhaltige Entwicklung sein will, bedeutet die Unterordnung der Produktions- unter die Lebensweise, dass Formen der Politisierung und Handlungsoptionen eher an der Konsum- als an der Produktionsnorm ansetzen (Dörre 2019: 257f.). Dies führt, so die Kritik, zu einem strategischen Dilemma im Hinblick auf Ansatzpunkte, Subjekte und Allianzen einer sozial-ökologischen Transformation (Pye 2017: 526f.). Gerade aus kritischer politökonomischer Perspektive könnten, im Gegensatz zur neuen kritischen Orthodoxie, die Alltagspraxen der Produzierenden stärker in den Mittelpunkt der Analyse gerückt werden. Dadurch würden auch (transformative) Klassenkämpfe sichtbar, welche die Fundamente der imperialen Lebensweise tagtäglich, in verschiedenen Regionen und auf unterschiedlichen Ebenen herausfordern. Dabei muss klar sein, dass sich sowohl der Klassenbegriff als auch der Begriff der Klassenkämpfe nicht nur auf Lohnabhängige und keinesfalls ausschließlich auf eine weiße, männliche Industriearbeiterklasse beziehen. Aktuelle Debatten zur neuen, ökologischen oder verbindenden Klassenpolitik versuchen, diese Engführung zu durchbrechen und Ausbeutung von lebendiger Arbeit und Natur zusammen und in Artikulation mit anderen gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen zu untersuchen (Wissen 2020; Candeias 2021). Vor diesem Hintergrund können Bezüge zum strukturell gewaltförmigen, imperialistischen Charakter der kapitalistischen Produktionsweise eine wichtige Referenz sein, welche die antagonistischen Konfliktlinien auf globaler Ebene schärfer zeichnet als Kategorien des Globalen Nordens/Südens und dabei auf transnationale Solidaritäten verweisen kann, die bestehende Spaltungen überwinden.

Postkoloniale Reflexion und Erweiterung Bislang wurde die Kritik am Konzept der imperialen Lebensweise vornehmlich aus marxistischer Perspektive formuliert. In diesem Abschnitt zeigen wir auf, dass auch eine postkoloniale Reflexion von imperialer Herrschaft produktive

441

442

Koloniale Ordnungen und dekoloniale Zukünfte

Anknüpfungspunkte für eine konstruktive Kritik bieten kann. Erste Ansätze liefern Brand und Wissen (2018a) in dem Artikel »Imperiale Lebensweise als postkoloniale Verstrickung«, die wir im Folgenden erweitern möchten. Wenn Imperialismus definiert wird als »ein umfassendes vernetztes Wirtschaftssystem sowie eine damit einhergehende kulturelle Durchdringung und Vereinheitlichung« (Brennan 2004: 135, Übers. d. A.), dann befassen sich postkoloniale Imperialismusdebatten, in Abgrenzung zu marxistischen Zugängen, in erster Linie mit dem zweiten Aspekt, speziell mit dem Imperialismus als epistemisches Herrschaftsverhältnis. Aus postkolonialer Perspektive wird Imperialismus als Macht- und Herrschaftsverhältnis verstanden, das auf die angebliche Überlegenheit europäischer Gesellschaften und deren kulturelle Leistungen der Aufklärung, Moderne und Zivilisation verweist, die konstitutiv für koloniale Gewaltherrschaft waren und heute wie damals zur Legitimation von imperialistischen Interventionen westlicher Staaten dienen. In »Culture and Imperialism« zeichnet Edward Said (1993) die enge Verknüpfung von Imperialismus und Vorstellungen kultureller Überlegenheit des Westens nach und schreibt: »Denn das Unternehmen des Imperiums hängt von der Idee, ein Imperium zu haben ab […] und alle Arten von Vorbereitungen werden dafür innerhalb einer Kultur getroffen« (Said 1993: 11, Übers. d. A., Herv. i.O.). Postkoloniale Studien zur kulturellen Dimension des Imperialismus füllen eine Leerstelle in der marxistischen Imperialismustheorie, die auslässt, wie Vorstellungen von kultureller Überlegenheit, zivilisatorischer Mission und Rassenideologie den Imperialismus als Herrschaftsverhältnis rechtfertigen (Ashcroft/Griffiths/ Tiffin 2000: 103). Da die kulturelle Überlegenheit Europas in Abgrenzung zu nicht-westlichen Kulturen hergestellt werden muss, geht Imperialismus immer mit Prozessen des othering (Spivak 1985) einher, durch das nicht-westliche Gesellschaften und Lebensweisen systematisch abgewertet und untergeordnet werden. Eine explizit postkoloniale Forschung würde daran anschließend untersuchen, wie die imperiale Lebensweise durch Diskurse kultureller Überlegenheit und durch das othering nicht-westlicher Lebensweisen und rassifizierter Gruppen legitimiert wird. Dies geschieht etwa dadurch, dass in den medialen Erzählungen im Globalen Norden beispielsweise Armut und Hunger im Globalen Süden als Problem von rückständiger Entwicklung, fehlender demokratischer Governance und problematischer kultureller Eigenschaften anstatt von land grabbing, Ausbeutung von Arbeitskraft und Umweltzerstörung infolge kapitalistischer Entwicklung dargestellt wird (siehe Kersting/Schröder in diesem Band). Derartige (post-)koloniale Diskurse

Tobias Kalt, Jonas Lage & Anil Shah: Kolonialität des Alltags

tragen entscheidend dazu bei, dass die gewaltförmigen, imperialen Momente der imperialen Lebensweise weitgehend unbeachtet bleiben. Des Weiteren ließe sich in Bezug auf gerade wieder stärker rezipierte Debatten aus der Black Radical Tradition rund um das Konzept des racial capitalism der konstitutive Charakter von Rassismus für die imperiale Lebensweise herausstellen (Robinson 1983). Zwar weisen Brand und Wissen durchaus auf die wichtige Rolle verschiedener Unterdrückungsverhältnisse für die imperiale Lebensweise hin, wenn sie schreiben, dass »tief verankerte Machtund Herrschaftsverhältnisse entlang unterschiedlicher Spaltungslinien, […] zur imperialen Lebensweise führen und von dieser reproduziert werden.« Ihr Anspruch, dass sie »gerade zeigen [wollen], dass die imperiale Lebensweise konstitutiv mit ausdifferenzierten Klassen-, Geschlechter- und rassisierten Verhältnissen verbunden ist« (Brand/Wissen 2018b) wird jedoch nicht konsequent eingelöst. Denn der Fokus auf Alltag und Konsum führt dazu, dass schwerpunktmäßig der Blick auf die Konsumpraktiken der Ober- und Mittelschichten im Globalen Norden gerichtet wird und der für die kapitalistische Produktionsweise konstitutive Charakter von Rassismus in den Hintergrund rückt. Mit dem Konzept des racial capitalism verweist Cedric J. Robinson (1983) auf den historisch wie gegenwärtig grundlegenden Charakter von rassifizierten Hierarchien und Rassifizierungspraktiken für den globalen Kapitalismus, der auf die Existenz von sozialen Ungleichheiten zwischen arbeitenden Menschen angewiesen ist. In den Worten von Ruth Wilson Gilmore (2015, o.S.): »Kapitalismus erfordert Ungleichheit und Rassismus schreibt diese fest.« (Übers. d. A.) Mit Bezug auf die Literatur zu racial capitalism lässt sich somit die nicht nur nebensächliche, sondern wesentliche Rolle von Rassismus (und Sexismus und anderen Unterdrückungsverhältnissen) für die Entstehung und Aufrechterhaltung der imperialen Lebensweise in verschiedenen Lebensbereichen und an unterschiedlichen Orten deutlicher herausarbeiten. Ein Beispiel sind globale Sorgeketten, welche die länderübergreifende Umverteilung von Sorgearbeiten zuungunsten von marginalisierten Bevölkerungsgruppen bezeichnen (Hochschild 2015). Mit dem Konzept des racial capitalism lässt sich zeigen, dass es kein Zufall ist, dass Sorgearbeiter*innen häufig migrantische Frauen* sind. Die Aneignung von unterbezahlter Sorgearbeit im Kapitalismus ist untrennbar mit rassistischen und sexistischen Verhältnissen verbunden und stabilisiert damit auch die Voraussetzungen für die imperiale Lebensweise. Das Beispiel globaler Sorgeketten kann aufzeigen, wie koloniale Arbeitsteilung und rassistische Legitimierungsdiskurse in

443

444

Koloniale Ordnungen und dekoloniale Zukünfte

veränderter Form auch in der postkolonialen Ära fortbestehen. Ein Ensemble an rassistischen Institutionen und Praktiken wie der begrenzte Zugang zum Arbeitsmarkt, unsichere Aufenthaltstitel, unterdurchschnittliche Bezahlung, begrenzte Arbeitnehmer*innenrechte für Migrant*innen sowie kulturalistische Zuschreibungen von migrantischen Sorgearbeiter*innen als von Natur aus fürsorglich, geduldig und aufopferungsbereit führt dazu, dass viele Migrant*innen oft keine andere Wahl haben, als zu schlechten Bedingungen im Sorgebereich (oder im informellen Sektoren) zu arbeiten (Parreñas 2017). Darüber hinaus ließen sich mit dem Konzept der epistemischen Gewalt, die Prozesse der Normalisierung rassistischer Verhältnisse in der imperialen Lebensweise genauer untersuchen. Epistemische Gewalt lässt sich definieren als »jenen Beitrag zu gewaltförmigen gesellschaftlichen Verhältnissen, die im Wissen selbst, in seiner Genese, Ausformung, Organisationsform und Wirkmächtigkeit angelegt sind« (Brunner 2020: 274). Das zentrale Argument der imperialen Lebensweise bezieht sich darauf, dass globale kapitalistische Verhältnisse im Alltag der Menschen im Globalen Norden durch Normalisierung und Unsichtbarmachung ihrer herrschafts- und gewaltförmigen Voraussetzungen stabilisiert werden. Brand und Wissen sprechen über »die repressive und gewaltförmige Seite der imperialen Lebensweise – in Gestalt von Rohstoffkonflikten oder der Abschottung gegen Geflüchtete« (Brand/Wissen 2017: 15). Ebenso wie physische Gewalt ist jedoch auch epistemische Gewalt ein konstitutives Element der imperialen Lebensweisen. Gayatri Spivak (1988: 286) hat herausgearbeitet, wie der Imperialismus auf epistemischer Gewalt durch eine herrschaftsförmige Wissensproduktion basiert, die durch ein »worlding of the world« westliche Vorstellungen universalisiert, naturalisiert und dadurch imperialistische Herrschaft absichert. Epistemische Gewalt drückt sich laut Spivak darin aus, dass andere Wissensbestände und Lebensweisen verdrängt und marginalisierte Subalterne zum Schweigen gebracht bzw. nicht gehört werden. Analog dazu bezeichnet Boaventura de Sousa Santos (2007) die Vernichtung von marginalisierten Wissensbeständen und Lebensweisen als Epistemizid und argumentiert, dass es keine soziale Gerechtigkeit ohne kognitive Gerechtigkeit geben kann. Die epistemische Gewalt der imperialen Lebensweise ernst zu nehmen, bedeutet daher, dass sozial-ökologische Transformation auch »Dekolonisierung als epistemische[n] Wandel« (Castro Varela/Dhawan 2015: 39) mit einschließen muss. Ein weiterer Aspekt epistemischer Gewalt findet sich in den Subjektivierungsprozessen der imperialen Lebensweise. W.E.B. Du Bois (1903) und Frantz Fanon (1967) beschreiben, wie sich in rassistischen Gesellschaften rassifizierte

Tobias Kalt, Jonas Lage & Anil Shah: Kolonialität des Alltags

Menschen durch den weißen Blick der Mehrheitsgesellschaft wahrnehmen und rassistische Abwertungen und Normen weißer Dominanzkulturen verinnerlichen. Während die hegemonietheoretische Perspektive vornehmlich auf Subjektivierungsprozesse in der Mehrheitsgesellschaft blickt, durch die Konsens zur imperialen Lebensweise generiert wird, kann mit Bezug auf Du Bois und Fanon auch die Gewaltförmigkeit der Subjektivierung marginalisierter Gruppen in der imperialen Lebensweise in den Fokus gerückt werden, ebenso wie ihre widerständigen Praktiken, die sie potenziell zu Subjekten emanzipatorischer Transformation macht. Gerade in Bezug auf Transformationssubjekte wird auch ein latenter Eurozentrismus im Konzept der imperialen Lebensweise deutlich. Brand und Wissen (2017: 44) schreiben, dass »[d]er Ausdruck ›andernorts‹ […] in seiner Unbestimmtheit durchaus bewusst gewählt ist«, um auf die »Unsichtbarkeit der sozialen und ökologischen Voraussetzungen« der imperialen Lebensweise hinzuweisen. Doch wenn Zonen der Ausbeutung und Extraktion zu unbestimmten Orten woanders werden, droht die Viktimisierung der Anderen, wenn sie lediglich als gesichts- und geschichtslose Opfer der imperialen Lebensweise wahrgenommen werden. Darüber hinaus droht die Fokussierung auf die Lebensweise der Mittel- und Oberschichten im Globalen Norden Handlungs- und Gestaltungsmacht primär dort zu verorten. Die explizite Einbeziehung von post- und dekolonialen Perspektiven würde einen differenzierteren Blick auf Möglichkeiten von Handlungsmacht erlauben. So ließe sich einerseits fragen, inwiefern die Ausbreitung der imperialen Lebensweise unter den Ober- und Mittelschichten im Globalen Süden mit aktiven Aneignungen, Verformungen und Vermischungen mit Elementen anderer Lebensweisen einhergeht und hybride Lebensweisen entstehen, die unter Umständen anderer Transformationsstrategien als im Globalen Norden bedürfen. Andererseits kann die Frage nach den Subjekten der Transformation anders diskutiert werden. Wenn wir die Debatten zu racial capitalism ernst nehmen, muss die Transformation der imperialen Lebensweise mit der Überwindung von ineinandergreifenden Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnissen einhergehen. Somit rücken auch Kämpfe und soziale Bewegungen als Transformationsakteure in den Blick, die bisher in westlichen Debatten wenig bis keine Beachtung finden. Dies umfasst sowohl antirassistische Bewegungen im Globalen Norden wie etwa Black Lives Matter (Pellow 2016) als auch dekoloniale Kämpfe, die sich gegen die Ausweitung der imperialen Lebensweise und für ein »Pluriversum« an solidarischen Alternativen einsetzen (Kothari et al. 2019).

445

446

Koloniale Ordnungen und dekoloniale Zukünfte

Fazit: Das Imperiale der Lebensweise besser verstehen Das Konzept der imperialen Lebensweise versucht zu erklären, warum sich trotz steigenden Umweltbewusstseins und Forderungen nach einer Großen Transformation wenig am zerstörerischen Entwicklungspfad der Weltwirtschaft ändert. Im Gegensatz zur neuen kritischen Orthodoxie, die den Diskurs um nachhaltige Entwicklung entscheidend prägt, betonen Brand und Wissen die Zentralität von kapitalistischen Naturverhältnissen, die es zu überwinden gelte. Diese Kritik ist weitgehend überzeugend; dennoch bleiben die Subjekte und Objekte einer tiefgreifenden sozial-ökologischen Transformation teilweise unklar und widersprüchlich. Der Fokus auf die (allumfassende) Lebensweise verleitet dazu, gesellschaftliche Transformation von den Konsumnormen ausgehend zu denken und Produktionsverhältnisse tendenziell als nachgeordnet zu betrachten – auch wenn dies nicht unbedingt der Intention der Autoren entsprechen mag. Dementsprechend rücken als Subjekte einer sozial-ökologischen Transformation insbesondere die Ober- und Mittelschichten der transnationalen Verbraucher*innenklasse, vor allem im Globalen Norden, in den Blick. Die hier vorgenommene postkoloniale Reflexion des Konzepts fokussiert die kulturelle und epistemische Dimension der imperialen Lebensweise. Mit postkolonialen Konzepten des racial capitalism, des othering und der epistemischen Gewalt lassen sich der konstitutive Charakter von rassistischen und (post-)kolonialen Verhältnissen für die imperiale Lebensweise und die gewaltförmige Abwertung nicht-westlicher Lebensweisen und Identitäten genauer fassen. Die marxistische Kritik und die hier vorgestellte postkoloniale Erweiterung erlaubt, das Imperiale der Lebensweise differenzierter zu betrachten und dessen Überwindung in den Mittelpunkt einer emanzipatorischen sozialökologischen Transformationstheorie zu stellen. Die kritischen Erweiterungen betonen dabei Kämpfe gegen Ausbeutung und Unterdrückung weltweit als Ausgangspunkte für sozial-ökologische Transformation. Insbesondere tausende von sozial-ökologischen Konflikten um Land, Wasser, Ressourcen, Infrastrukturprojekte, gesunde Luft und Klimawandel und weitere können als neue Formen von transformativen Klassenkämpfen verstanden werden, in denen häufig auch koloniale und patriarchale Herrschaftsstrukturen herausgefordert werden (Shah 2019, siehe auch Obeng-Odoom in diesem Band). Ein differenzierterer Blick auf das Imperiale der imperialen Lebensweise und auf Pfade der Transformation ist nicht zuletzt für öffentliche wie akademische Debatten zu nachhaltiger Entwicklung und grüner Transformation zentral,

Tobias Kalt, Jonas Lage & Anil Shah: Kolonialität des Alltags

die häufig die koloniale, patriarchale und klassenspezifische Gewaltförmigkeit der imperialen Lebensweise wie auch die Umkämpftheit gesellschaftlichen Wandels ausblenden.

Literatur Ashcroft, Bill; Griffiths, Gareth; Tiffin, Helen (2000): Post-Colonial Studies: The Key Concepts, London: Routledge. Banerjee-Guha, Swapna (Hg.) (2010): Accumulation by Dispossession: Transformative Cities in the New Global Order, Neu-Delhi: Sage. Biesecker, Adelheid; Hofmeister, Sabine (2010): »Focus: (Re)productivity Sustainable Relations both Between Society and Nature and Between the Genders«, in: Ecological Economics 69(8), S. 1703–1711. Brand, Ulrich; Wissen, Markus (2011): »Sozial-ökologische Krise und imperiale Lebensweise. Zu Krise und Kontinuität kapitalistischer Naturverhältnisse«, in: Alex Demirović, Julia Dück, Florian Becker, Pauline Bader (Hg.): VielfachKrise. Im finanzmarktdominierten Kapitalismus, Hamburg: VSA, S. 78–93. Brand, Ulrich; Wissen, Markus (2017): Imperiale Lebensweise: Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus, München: oekom. Brand, Ulrich; Wissen, Markus (2018a): »Imperiale Lebensweise als postkoloniale Verstrickung«, in: Widerspruch: Beiträge zu sozialistischer Politik 72, S. 119–128. Brand, Ulrich; Wissen, Markus (2018b): »Nichts zu verlieren als ihre Ketten? Neue Klassenpolitik und imperiale Lebensweise«, in: Luxemburg, https:// www.zeitschrift-luxemburg.de/neue-klassenpolitik-imperiale-lebenswei se/, zuletzt geprüft am 28.07.2021. Brennan, Timothy (2004): »From Development to Globalization: Postcolonial Studies and Globalization Theory«, in: Neil Lazarus (Hg.): Postcolonial Literary Studies, Cambridge: University Press, S. 120–138. Brunner, Claudia (2020): Epistemische Gewalt: Wissen und Herrschaft in der kolonialen Moderne, Bielefeld: transcript. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.) (2018): Zweiter Gleichstellungsbericht der Bundesregierung, Berlin, https://www.bmfs fj.de/resource/blob/122398/87c1b52c4e84d5e2e5c3bdfd6c16291a/zweiter-g leichstellungsbericht-der-bundesregierung-eine-zusammenfassung-dat a.pdf, zuletzt geprüft am 19.06.2023.

447

448

Koloniale Ordnungen und dekoloniale Zukünfte

Candeias, Mario (Hg.) (2021): Klassentheorie – Vom Making und Remaking, Hamburg: Argument Verlag. Castro Varela, María do Mar; Dhawan, Nikita (2015): Postkoloniale Theorie: Eine kritische Einführung, Bielefeld: transcript. Dörre, Klaus (2019): »Imperiale Lebensweise – eine hoffentlich konstruktive Kritik«, in: Carina Book, Nikolai Huke, Sebastian Klauke, Olaf Tietje (Hg.): Alltägliche Grenzziehungen. Das Konzept »imperiale Lebensweise«, Externalisierung und exklusive Solidarität, Münster: Westfälisches Dampfboot, S. 242–264. Du Bois, W.E.B. (1903): The Souls of Black Folk, Chicago: A. C. McClurg & Co. Fanon, Frantz (1967): Black Skin, White Masks, New York: Grove Press. Gilmore, Ruth Wilson (2015): »The Worrying State of the Anti-Prison Movement«, in: Social Justice, https://www.socialjusticejournal.org/the-worryin g-state-of-the-anti-prison-movement/, zuletzt geprüft am 14.06.2021. Görg, Christoph (1999): Gesellschaftliche Naturverhältnisse (Einstiege, Band 7), Münster: Westfälisches Dampfboot. Hochschild, Arlie R. (2015): »Global Care Chains and Emotional Surplus Value«, in: Daniel Engster, Tamara Metz (Hg.): Justice, Politics, and the Family, London: Routledge, S. 249–261. Hürtgen, Stefanie (2020): »Arbeit, Klasse und eigensinniges Alltagshandeln. Kritisches zur imperialen Lebensweise – Teil 1« in: PROKLA – Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft 50(1), S. 171–188. Hürtgen, Stefanie (2021): »Alltagssubjekt, Nord-Süd und Glokalisierung. Kritisches zur imperialen Lebensweise – Teil 2« in: PROKLA – Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft 5(2), S. 367–388. I.L.A. Kollektiv (2017): Auf Kosten Anderer? Wie die imperiale Lebensweise ein gutes Leben für alle verhindert, München: oekom. I.L.A. Kollektiv (2019): Das gute Leben für alle. Wege in die solidarische Lebensweise, München: oekom. Kothari, Ashish; Salleh, Ariel; Escobar, Arturo; Demaria, Federico; Acosta, Alberto (2019): Pluriverse: A Post-Development Dictionary, Neu-Delhi: Tulika Books. Landherr, Anna; Graf, Jakob (2019): »Über uns die Sintflut – Zu Klassenverhältnissen in der Internalisierungsgesellschaft am Beispiel Chiles« in: PROKLA – Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft 49(3), S. 487–493. Parreñas, Rhacel S. (2017): »The Indenture of Migrant Domestic Workers«, in: Women’s Studies Quarterly 45(1/2), S. 113–127.

Tobias Kalt, Jonas Lage & Anil Shah: Kolonialität des Alltags

Pellow, David (2016): »Toward a Critical Environmental Justice Studies: Black Lives Matter as an Environmental Justice Challenge«, in: Du Bois Review: Social Science Research on Race 13(2), S. 221–236. Pye, Oliver (2017): »Für einen labour turn in der Umweltbewegung. Umkämpfte Naturverhältnisse und Strategien sozial-ökologischer Transformation«, in: PROKLA – Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft 47(4), S. 517–534. Robinson, Cedric J. (1983): Black Marxism: The Making of the Black Radical Tradition, Chapel Hill/London: University of North Carolina Press. Sablowski, Thomas (2018): »Warum die imperiale Lebensweise die Klassenfrage ausblenden muss«, in: Luxemburg, https://www.zeitschrift-luxemburg. de/warum-die-imperiale-lebensweise-die-klassenfrage-ausblenden-mus s/, zuletzt geprüft am 28.04.2021. Said, Edward (1993): Culture and Imperialism, London: Chatto & Windus. Shah, Anil (2019): »Luxemburg meets Schumpeter: Understanding Contemporary Socio-Ecological Conflicts as Processes of Destructive Creation«, in: JEP – Journal für Entwicklungspolitik 35(1), S. 41–64. Smith, John (2016): Imperialism in the Twenty-First Century. Globalization, SuperExploitation, and Capitalism’s Final Crisis, New York: Monthly Review Press. Sousa Santos, Boaventura de (2007): Epistemologies of the South: Justice against Epistemicide, London: Routledge. Spivak, Gayatri (1985): »The Rani of Sirmur: An Essay in Reading the Archives«, in: History and Theory 24(3), S. 247–272. Spivak, Gayatri (1988): »Can the Subaltern Speak?«, in: Cary Nelson, Lawrence Grossberg (Hg.): Marxism and the Interpretation of Culture, Urbana: University of Illinois Oress, S. 271–313. WBGU, Wissenschaftlicher Beirat Globale Umweltveränderungen (2011): Welt im Wandel. Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation [Hauptgutachten], Berlin: WBGU. Wedeux, Béatrice; Schumeister-Oldenhove, Anke (2021): Stepping Up? The Continuing Impact of EU Consumption on Nature Worldwide, Brüssel: WWF – World Wide Fund for Nature, https://wwfeu.awsassets.panda.org/downl oads/new_stepping_up___the_continuing_impact_of_eu_consumption_ on_nature_worldwide_fullreport.pdf, zuletzt geprüft am 28.04.2021. Wissen, Markus (2020): »Klimakrise und Klassenkampf. Zum Verhältnis von sozialen und ökologischen Konflikten« in: PROKLA – Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft 50(3), S. 441–464.

449

Biographien

Toni Adscheid ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand am Lehrstuhl für Nachhaltige Räumliche Entwicklung und Governance der Universität Trier. In seiner Forschung und Lehre beschäftigt er sich mit den politischen Dimensionen subalterner Geographien. Inspiriert von theoretischen Ansätzen der Black Geographies und Postfundamentalistischen Geographien engagiert er sich, im Kontext seiner Forschung in London und darüber hinaus, in antirassistischen und anti-kapitalistischen Graswurzelbewegungen zu Fragen der Wohnungsgerechtigkeit. Sybille Bauriedl ist Professorin für Integrative Geographie an der Europa-Universität Flensburg und beschäftigt sich in Lehre und Forschung mit Problemen nachhaltiger Stadtentwicklung, lokalen und globalen Ressourcenkonflikten, Klimaschutzpolitik und kolonialen Infrastrukturen in europäischen Hafenstädten. International vernetzt ist sie in der Politischen Ökologie und Feministischen Geographie, engagiert sich in der Recht auf Stadt-Bewegung Hamburg sowie im Netzwerk Flensburg postkolonial und betreibt den Blog https:/ /klimadebatte.wordpress.com. Ulrike Bergermann ist Professorin für Medienwissenschaft an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig mit Forschungsschwerpunkten in Gender und Postcolonial Studies. Publikation in Vorbereitung: Kakaogeschmack. Koloniale Ästhetik und kollektive Taste Tanks, August Verlag Berlin 2024. Weitere Publikationen, Vorträge, Lehre etc.: https://www.ulrikebergermann.de. Meike Brückner ist als Post-Doc am Fachbereich Gender und Globalisierung der Humboldt-Universität zu Berlin tätig. Ihre Promotion hat sie zum Thema »Biodiversity in the Kitchen. Cooking and Caring for African Indigenous

452

Geographien der Kolonialität

Vegetables in Kenya: A Feminist Approach to Food Sovereignty« abgeschlossen. Momentan forscht sie zu sozio-technischen Innovationen und deren Nutzung für ernährungsbezogene Sorgearbeit im Haushalt. Dabei werden Potenziale und Risiken für Nachhaltigkeit und emanzipatorische Geschlechterverhältnisse herausgearbeitet. Antje Bruns ist Professorin für Nachhaltigkeit und Governance an der Universität Trier. Sie forscht und lehrt zu den Geographien sozial-ökologischer Krisen und den Leerstellen bisheriger Lösungsansätze. Sie lässt sich von kritischen Theorieansätzen inspirieren (Politische Ökologie, post- und dekoloniale Ansätze), die sie mit der Analyse alternativer Praktiken verschränkt, um über Transformation nachzudenken. Diese Überlegungen bringt sie in (inter-)nationale wissenschaftliche Netzwerke, aber auch in konkrete lokale Praktiken der Transformation in Trier und der grenzüberschreitenden Saar-Lor-Lux Großregion ein. Inken Carstensen-Egwuom arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich der Integrativen Geographie an der Europa-Universität Flensburg. Ihre aktuelle Arbeit befasst sich mit Ansätzen reparativer Gerechtigkeit im Kontext von Versklavung und Kolonialismus sowie mit post-kolonialen europäischen Hafenstädten und den mit ihnen verbundenen (Zuckerrohr-)Plantagenökonomien. In ihrer Promotion hat sie Konzepte von Intersektionalität und transnationaler Migration miteinander in Verbindung gebracht. Sie lehrt u.a. im Bereich des Globalen Lernens und ist aktives Mitglied des Netzwerks Flensburg postkolonial. Michelle Daigle ist Assistant Professor am Zentrum für Indigenous Studies und in der Abteilung für Geographie und Planung an der Universität Toronto. Sie ist Mushkegowuk (Cree), Mitglied der Constance Lake First Nation und französischer Herkunft. Auf Grundlage ihrer 20-jährigen Zusammenarbeit mit Indigenen Gemeinschaften und Organisationen untersucht sie in ihrer Forschung das Indigene Wiederaufleben und die Indigene Freiheit innerhalb der globalen Bedingungen kolonialer kapitalistischer Gewalt. In den letzten Jahren hat sie zudem mit Dr. Magie Ramirez zusammengearbeitet, um räumlich verankerte (grounded) Theoretisierungen dekolonialer Beziehungen zu entwickeln. Noa K. Ha ist Stadt-, Migrations- und Rassismusforscherin und Wissenschaftliche Geschäftsführerin des Deutschen Zentrums für Integrations- und

Biographien

Migrationsforschung (DeZIM). Sie forschte und lehrte an der TU Dresden (Zentrum für Integrationsstudien), der TU Berlin (Center for Metropolitan Studies) und der weissensee kunsthochschule berlin (MA Spatial Strategies). Sie ist Mitglied in zahlreichen städtischen Beiräten und berät Forschungsprojekte im Bereich der postkolonialen Erinnerungsarbeit und Gedenkpolitik, der Integrationsforschung und Critical Race Studies sowie der Migrationsgeschichte in Ostdeutschland. Jin Haritaworn verortet sich in der Tradition einer aktivistischen Wissenschaft, die versucht, im Dienst sozialer Bewegungen zu stehen. Veröffentlichungen umfassen Monographien, u.a. »Queer Lovers and Hateful Others. Regenerating Violent Times and Places«, zahlreiche Artikel in Zeitschriften wie GLQ, Sexualities, sub\urban, Society&Space und Topia sowie mehrere kollaborative Sammelbände, darunter »Queer Necropolitics«, »Queering Urban Justice« und den MarvellousGrounds.com-Blog. Haritaworn hat auf beiden Seiten des Atlantiks in diversen Feldern grundlegende Beiträge geleistet, darunter in Gender-, Sexualitäts- und Transgender-Studien, Critical Race/Ethnic Studies und Stadtforschung, und hat verschiedene Konzepte und Debatten mitgeprägt u.a. Intersektionalität, transnationale und postkoloniale Sexualitäten, Gentrifizierung, Queer Space, Kriminalisierung, Homonationalismus und Queer-of-Colour-Kritik und -Archive. Birgit Hoinle hat an der Universität Hamburg und an der Universidad Externado de Colombia zu räumlichem Empowerment in der urbanen und solidarischen Landwirtschaft in Kolumbien promoviert. Derzeit arbeitet sie als PostDoc an der Universität Hohenheim im Fachbereich Gesellschaftliche Transformation und Landwirtschaft und forscht dort zu nachhaltiger Ernährungspolitik auf kommunaler Ebene. Darüber hinaus engagiert sie sich als Sprecherin des Ernährungsrates der Region Tübingen-Rottenburg, den sie mit aufgebaut hat. Tobias Kalt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Promovend am Fachgebiet Globale Klimapolitik an der Universität Hamburg und befasst sich mit Energie- und Klimagerechtigkeit, sozialen Bewegungen, Gewerkschaften und sozial-ökologischer Transformation. In seiner Promotion untersucht er Konflikte zwischen Gewerkschaften und Klimabewegungen beim Kohleausstieg in Deutschland und Südafrika. U.a. gemeinsam mit seinen Co-Autoren Jonas Lage und Anil Shah ist er Teil des I.L.A.-Kollektivs und wirkt in diesem Kon-

453

454

Geographien der Kolonialität

text an Publikationen und Bildungsarbeit zur imperialen und solidarischen Lebensweise und Fragen sozial-ökologischer Transformation mit. Philippe Kersting ist promovierter deutsch-französischer physischer Geograph. Nach dem akademischen Prekariat und einem Zweitstudium (Lehramt Geographie, Wirtschaft/Politik und Französisch) arbeitet er derzeit als Gymnasiallehrer. Er engagiert sich seit vielen Jahren im Bereich der postkolonialen politischen Bildung bei ebasa e.V. Jonas Lage arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Norbert Elias Center for Transformation Design & Research (NEC) der Europa-Universität Flensburg und promoviert an der TU Dortmund zu Fragen sozial-ökologischer Transformation, nachhaltiger Stadtentwicklung und Suffizienz. In Flensburg hat er eine Initiative zu postkolonialen Stadtrundgängen mit ins Leben gerufen. U.a. gemeinsam mit seinen Co-Autoren Tobias Kalt und Anil Shah ist er Teil des I.L.A.-Kollektivs und wirkt in diesem Kontext an Publikationen und Bildungsarbeit zur imperialen und solidarischen Lebensweise und Fragen sozialökologischer Transformation mit. Katherine McKittrick ist Canada Research Chair für Black Studies und Professorin für Gender Studies an der Queen’s University. Sie ist Autorin von »Demonic Grounds. Black Women and the Cartographies of Struggle«, Herausgeberin von »Sylvia Wynter. On Being Human as Praxis« und ist zusammen mit Clyde Woods Mitherausgeberin von »Black Geographies and the Politics of Place«. Ihre jüngste Monographie »Dear Science and Other Stories« ist eine explorative Untersuchung Schwarzer Methodologien. Martina Neuburger, Geographin, arbeitet am Institut für Geographie der Universität Hamburg und leitet die Arbeitsgruppe »Kritische Geographien Globaler Ungleichheiten« (https://ag-kggu.net). Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in Rural Studies und Peasant Studies vor allem in lateinamerikanischen Kontexten. Theoretisch-konzeptionell fokussiert sie auf Ansätze der Politischen Ökologie sowie post- und dekolonialen Theorien. Sie arbeitet methodisch im Wesentlichen qualitativ und mit narrativen und kritischkartographischen Methoden. Franklin Obeng-Odoom ist Professor für Globale Entwicklungsforschung an der Universität Helsinki in Finnland. Er ist Mitglied der Teachers’ Academy, die

Biographien

höchste Auszeichnung, die an herausragende Lehrkräfte der Universität vergeben wird. Obeng-Odooms Forschungs- und Lehrinteressen konzentrieren sich auf die politische Ökonomie der Entwikcklung, Stadt- und Regionalökonomie, natürliche Ressourcen und die Umwelt. In diesen Bereichen hat er sechs Bücher als Alleinautor veröffentlicht, darunter »Property, Institutions, and Social Stratification in Africa« (Cambridge, 2020), »The Commons in an Age of Uncertainty« (Toronto, 2021) und »Global Migration Beyond Limits« (Oxford, 2022). Professor Obeng-Odoom ist Fellow der Ghana Academy of Arts and Sciences, der ältesten Gelehrtengesellschaft des postkolonialen Afrikas, und Fellow der Academy of Social Sciences, einem Zusammenschluss von weltweit bedeutenden Sozialwissenschaftler*innen. Stefan Ouma ist Inhaber des Lehrstuhls für Wirtschaftsgeographie am Geographischen Institut der Universität Bayreuth. Sein Forschungsinteresse gilt einer gesellschaftstheoretisch informierten wirtschaftsgeographischen Globalisierungs- und Entwicklungsforschung, die sich vor allem auf Einsichten der heterodoxen Ökonomik, Politischen Ökologie und post- und dekolonialer Arbeiten stützt. Seine gegenwärtige Forschung zu den Themen Politische Ökonomie und Ökologie globaler Lieferketten, Finanzialisierung von Land und Landwirtschaft, digitale Transformation von Arbeit und »African Futures« spiegeln diese Orientierung wider. Er ist Autor von »Assembling Export Markets: The Making and Unmaking of Global Food Connections in West Africa« (Wiley, 2015) und »Farming as Financial Asset: Global Finance and the Making of Institutional Landscapes« (Agenda, 2020, open access https://insti tutionallandscapes.org/startseite/pedagogical-approach/). Seit Ende 2019 ist er Mitglied des Redaktionskollektivs von Antipode. Margaret Marietta Ramírez arbeitet als Stadtforscherin zu Überschneidungen von race, Kunst und dem Urbanen. In diesem Zusammenhang fragt sie danach, was die kreativen Praktiken von Menschen, die Enteignungen erleben, uns über die zugrundeliegenden rassistischen, kolonialen und kapitalistischen Strukturen von Städten erzählen können. Ein Großteil ihrer Schriften konzentriert sich auf die Geographien der Enteignung, des Widerstands und der Zukunft, die in Oakland, Kalifornien, entstehen. Ihre Arbeiten wurden u.a. in den Zeitschriften Antipode, Environment & Planning D, Political Geography, Urban Geography und in der IJURR Serie Spotlight On veröffentlicht. Sie ist Assistant Professor für Geographie an der Simon-Fraser-Universiät in Vancouver, BC.

455

456

Geographien der Kolonialität

Tobias Schmitt arbeitet am Institut für Geographie der Universität Hamburg in der Arbeitsgruppe »Kritische Geographien Globaler Ungleichheiten« (https: //ag-kggu.net). In seinen Arbeiten verbindet er Themen und Konzepte postkolonialer Theorien mit Ansätzen der Politischen Ökologie. Neben den akademischen Tätigkeiten ist er u.a. im Arbeitsschwerpunkt Gesellschaftliche Naturverhältnisse der BUKO (Bundeskoordination Internationalismus) aktiv. Birte Schröder ist Post-Doc in der AG Geographie und ihre Didaktik am Institut für Humangeographie der Goethe-Universität Frankfurt a.M. Ihre Forschung beschäftigt sich mit rassismuskritischer Bildung und postkolonialen Theorien in der Geographiedidaktik sowie mit sozialer Ungleichheit im Zuge der Digitalisierung in Schulen. Als Schulbuchautorin und Beraterin von Schulbuchverlagen hat sie an mehreren Geographieschulbüchern für die Sekundarstufe I und II mitgewirkt. Anke Schwarz ist Stadtgeographin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl Humangeographie der TU Dresden. Sie promovierte mit einer Arbeit zu antizipatorischen Praktiken der Wassernutzung in Mexiko-Stadt. Aktuell forscht sie komparativ zu territorialen Vergemeinschaftungen und visuellen Narrativen als politischer Praxis und koordiniert das DFG-geförderte Wissenschaftliche Netzwerk ›Territorialisierungen der radikalen Rechten‹. Weitere Arbeitsschwerpunkte sind Geographien der Zukunft, internationale Urbanisierung, sowie post- und dekoloniale Perspektiven in der Stadtforschung. Anil Shah arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachgebiet Entwicklungspolitik und Postkoloniale Studien an der Universität Kassel zu Ungleichheit in der Globalen Politischen Ökonomie. In seiner Promotion untersucht er die Verschränkung von Entwicklungspolitik, Finanzmärkten und der Verschuldung subalterner Klassen in Indien. U.a. gemeinsam mit seinen Co-Autoren Jonas Lage und Tobias Kalt ist er Teil des I.L.A.-Kollektivs und wirkt in diesem Kontext an Publikationen und Bildungsarbeit zur imperialen und solidarischen Lebensweise und Fragen sozial-ökologischer Transformation mit. Katrin Singer arbeitet am Institut für Geographie der Universität Hamburg in der Arbeitsgruppe »Kritische Geographien Globaler Ungleichheiten« (https: //ag-kggu.net). Sie promovierte zur Kolonialität von Natur, Kindheit und Forschung. Ihre Arbeit ist inspiriert von theoretischem Denken aus der Kritischen

Biographien

Geographie, der Politischen Ökologie sowie von indigenen, postkolonialen und feministischen Theorien. Entlang eines Spektrums an künstlerischen, narrativen und kartographischen Methoden (K/Artographie) folgt sie (auto-)ethnographischen Spuren und landbasierter Forschung, um Formen von sozioökologischen Alternativen zu erkunden. Monika Streule ist Stadtforscherin und Marie-Skłodowska Curie Fellow am Latin America and Caribbean Centre der London School of Economics and Political Science. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die gesellschaftliche Produktion von Raum, Prozesse der Urbanisierung sowie experimentelle Methodologien qualitativer Sozialforschung. Aktuell beschäftigt sie sich mit vergleichender Stadtforschung und mit einem relationalen Begriff von Territorium aus einer postund dekolonialen Perspektive. Sie hat an der ETH Zürich in Stadtforschung promoviert und war mehrfach akademischer Gast an der Nationalen Autonomen Universität von Mexiko UNAM. Publikationen, Vorträge, Workshops: htt ps://www.monikastreule.net. Julian Stenmanns arbeitet im Bereich des Klimaschutzes und der Dekarbonisierung. Zuvor war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an den Geographischen Instituten der Universitäten Frankfurt am Main und Bayreuth tätig. Dort beschäftigte er sich in Forschung und Lehre mit Wirtschafts- und Verkehrsgeographie sowie der kritischen Logistikforschung. Lisa Waegerle beschäftigen Fragen zu gerechteren Stadtverhältnissen, Intersektionalität und Dekolonialität. Sie hat an der TU Dortmund in Raumplanung zu urbaner Umweltgerechtigkeit promoviert. Derzeit arbeitet sie in Santiago de Chile als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universidad Finis Terrae im Fachbereich Wirtschaft. Sie engagiert(e) sich u.a. in Düsseldorf, Wuppertal und Santiago de Chile in selbstorganisierten Kultur- und Bildungsprojekten. Marion Werner ist eine kanadische Wirtschaftsgeographin. Sie lehrt und forscht als Associate Professor an der State University of New York in Buffalo. In den letzten fünfzehn Jahren hat sie wichtige Beiträge zu Diskussionen über Handel, Arbeit, Warenketten und die neoliberale Umstrukturierung von Industrie- und Agrarsektoren in der Karibik und in Lateinamerika geleistet. In ihrer Arbeit bezieht sie sich auf Ansätze der feministischen politischen Ökonomie, auf Foucaultsche Perspektiven sowie auf post- und dekoloniale Denker*innen. Darüber hinaus war sie Mitglied des Redaktionskollektivs der

457

458

Geographien der Kolonialität

Zeitschrift Antipode, einer wichtigen Plattform für Debatten in der radikalen Geographie.