Genuß und Egoismus: Zur Kritik ihrer geschichtlichen Verknüpfung 9783050078991, 9783050035697

Egoismus wie Genuß scheinen heutzutage zunächst ichbezogen und daher asozial; Erfahren und Erkennen, Genießen und Produz

198 90 21MB

German Pages 384 Year 2002

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Genuß und Egoismus: Zur Kritik ihrer geschichtlichen Verknüpfung
 9783050078991, 9783050035697

Citation preview

GENUSS UND EGOISMUS

LITERATURFORSCHUNG Herausgegeben für das Zentrum für Literaturforschung von Eberhard Lämmert und Sigrid Weigel

GENUSS UND EGOISMUS Zur Kritik ihrer geschichtlichen Verknüpfung

Herausgegeben von Wolfgang Klein und Ernst Müller

y

Akademie Verlag

Titelbild: Ausschnitt aus dem Kupferstich von Peter van der Heyden, 1563, nach Pieter Bruegel d. Α., »Die fette Küche« Gedruckt mit Unterstützung der Universität Osnabrück Redaktionelle Mitarbeit: Silvia Pohl und Andreas Ross Register: Andreas Ross Übersetzung der französischen Beiträge: Marie Guthmüller

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Genuß und Egoismus: Zur Kritik ihrer geschichtlichen Verknüpfung / hrsg. von Wolfgang Klein und Ernst Müller. - Berlin : Akad. Verl., 2002 (Literaturforschung) ISBN 3-05-003569-2

© Akademie Verlag GmbH, Berlin 2002 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil des Buches darf ohne Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden.

Einband und Reihengestaltung: Petra Florath, Berlin Druckvorlage: Peter Rotkehl, Berlin Druck und Bindung: Druckhaus »Thomas Müntzer« GmbH, Bad Langensalza Printed in the Federal Republic of Germany

Inhaltsverzeichnis

ERNST MÜLLER/ WOLFGANG KLEIN

IX

Einleitung

GENUSS UND EGOISMUS IN DER KULTURGESCHICHTE JOACHIM KÜPPER

3

Uti und frui bei Augustinus und die Problematik des Genießens in der ästhetischen Tradition des Okzidents

ROBERTWEIMANN

30

Lust und Selbstherrlichkeit im Sommernachtstraum. Komödie zwischen körperlicher Performanz und sprachlicher Darstellung

FRITZ NIES

42

Genußverheißung in französischen Gattungsnamen

DIETER KÜCHE

54

»Ich glaube selbst Engel können nicht ohne Sinnlichkeit sein«. Über einen Fund aus der Frühgeschichte der Ästhetik im Werner-Krauss-Archiv

MANFRED STARKE

66

Zur materialistischen Moral La Mettries

MARTIN FONTIUS

86

Erziehungsprobleme vor der Erfindung der Pädagogik

VI

INHALTSVERZEICHNIS

KARLHEINZSTIERLE

103

Amour de soi und Entfremdung. Rousseaus Reveries du promeneur solitaire und die Ambiguitäten des Glücks

ROLAND MORTIER

124

L'Art dejoüir — Rousseau und die Kunst zu genießen

GERDIRRLITZ

129

Ein Fontenelle-Motiv bei Kant

ERNST MÜLLER

143

Arbeit und Genuß. Zur Phänomenologie ihres Zusammenhangs bei Hegel

KARLMAURER

152

Vom Genuß des Vaterlands in dürftiger Zeit. Hölderlins Gesang des Deutschen und Aleksandr Bloks Skythen

FRITZ RUDOLF FRIES

179

Stendhal oder die Liebe zur Geometrie

FRANCIS CLAUDON

184

Die Nostalgien eines Liberalen. Stendhal und die Neuerungen in der Kunst unter Louis-Philippe

STEFFEN DIETZSCH

193

Nietzsche und die Gesänge des Maldoror

PETER JEHLE

208

Genuß als Produktivkraft

WOLFGANG KLEIN

226

»Der wahre Held amüsiert sich ganz alleine« — ? Oscar Wilde über den Sozialismus und die Seele des Menschen

HELMUT PFEIFFER

239

Dilettantismus und autoritäres Erzählen. Zur Problematik der konservativen Revolution bei Maurice Barres

KARL-HEINZ MAGISTER/

258

Die Jetztzeit des postkolonialen Karnevals

273

Genuß als Taktik. Zum Begriff der Popularität in den neuen Modernetheorie Lateinamerikas

UTZ RIESE MONIKA WALTER

INHALTSVERZEICHNIS

MANFRED NAUMANN - EIN GENIESSENDER EGOIST IN DER LITERATURFORSCHUNG RITASCHOBER

293

Von den Erziehungsprogrammen der Aufklärung zu Stendhals Postmodernismus. Versuch eines Rückblicks auf Manfred Naumanns Wirken und Werk

WERNER MITTENZWEI

313

Egoismus - Triebkraft und Hindernis in der interdisziplinären Forschung. Ein Brief

ZORAN KONSTANTINOVIC

319

Vergleichendes Verstehen — Genuß oder Egoismus?

HANS ULRICH GUMBRECHT

326

Ein genießender Kommunist?

335

Verzeichnis wissenschaftlicher und

ANHANG anderer Publikationen von Manfred Naumann 357

Namenverzeichnis

VII

ERNST MÜLLER / WOLFGANG KLEIN

Einleitung

Verengt der privilegierte Westeuropäer den Blick aufs Augenscheinliche, kann er nicht behaupten, er lebe in genußfernen Zeiten und könne für sein Ich nichts tun. Genuß und Egoismus scheinen verschwistert und positiv wie selten. Keinen Spaß zu haben, gilt zumindest zu Zeiten prosperierender Kapitalgewinne geradezu als Mangel an Charakter und Bildung. Wer dem allgemeinen Prinzip des als Liberalismus verkleideten, kaum verschämten Egoismus den Erhalt rudimentärer Formen der Solidargemeinschaften entgegenhält, kann bereits als unbelehrbarer Sympathisant eines längst falsifizierten Gesellschaftsmodells angesehen werden. Zumindest steht er im Geruch des Verknöcherten — wie Kant, von dem man die Negativ-Verbindung schwarz auf weiß hat: »Alle Eudämonisten sind [...] praktische Egoisten.« Denn sie schränkten »alle Zwecke auf sich selbst ein« und entbehrten des »Probiersteins des ächten Pflichtbegriffs«.1 Jeder kann und soll individuell genießen, soziale und kulturelle Schranken scheinen wenigstens in dieser Hinsicht aufgehoben. Die Medienwelt verkündet allseits, daß alle am Glück der Reichen, Schönen und Mächtigen partizipieren können - und sei es, indem sie Kochanregungen von Kanzler- und Präsidentengattinnen, ergrauten Aufklärern an der unsichtbaren Front und fernsehbaren Talk-Stars nachbilden. Der Marquis de Sade kann in der Pleiade-Reihe des feinsten Pariser Verlags gelesen werden. Therapeuten fangen auf, wessen Psyche stolpert. Ganze Parks gibt's fürs Erlebnis, Arkaden fürs Kaufen, Paläste für die Unterhaltung. Sogar Regieren hat noch kürzlich Spaß gemacht. Das kritische Bewußtsein (einst von der Frankfurter Schule theoretisch sublim begründet), daß es mit Schuld verbunden sein könnte, es sich wohl ergehen zu lassen, solange andere Leid ertragen oder ertrugen, nimmt merkwürdigerweise in dem Maße ab, wie das Elend der Welt zumindest medial zur Nahwelt jedes Einzelnen wird. Doch der Ubermut der Spaßgesellschaft kann schnell in sein Gegenteil umkippen. Wenn die Aktien sinken, wenn Ereignisse eintreten, von denen es heißt, nach ihnen sei nichts mehr wie zuvor, rückt blitzartig das Verdrängte ins Bewußtsein: auf welch tönernen Füßen das fröhliche Babel gebaut ist - als hätte andernorts das täglich produzierte Leid nicht längst apokalyptische Dimensionen. Wenn es ernst wird auf den Höhen, wenn gar Krieg angestimmt wird, übernimmt man Verantwortung für das Gemeinwohl, tut strengen Gesichtes und mit kantianisch gefalteter Stirn seine Pflicht (oder macht gar einen guten Job) und erwartet das von allen. Erst danach ist man »mit Freunden an der Bar« oder im 1 Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: Kant's Gesammelte Schriften (Akademie-Ausgabe), Bd. 7, Berlin 1817, S. 130.

X

ERNST MÜLLER / WOLFGANG KLEIN

»Genußkeller«, den — wie jüngst ein Hamburger Redakteur verriet - »meine Frau [...] mir [...] eingerichtet« hat.2 Dann wird deutlich: Der Genuß ist auf kompensierende Konsumtion beschränkt und schließt die Arbeitswelt wie auch die über das Private hinaus sozialisierte Existenz aus. So wird Egoismus asozial. Was für eine Gesellschaft tritt da auf? Hat der Journalist recht, wenn er die Lage harmonisch sieht? »Genuß ist öffentlich und privat zugleich. Er bestätigt und verfestigt das Sozialgefüge, andererseits untergräbt er die Grenzen, denn er findet drin im Ich statt.«3 Ist das Dasein - wie ein Bestseller für Lebenskunst antikisierend und in Anlehnung an Nietzsche und Foucault verkündet - »nur als ästhetisches, nämlich bejahenswertes Phänomen >gerechtfertigt«< und die Renaissance des Individuums< tatsächlich das, »was übrig geblieben ist nach dem Ende der großen Entwürfe zur Beglückung der Menschheit«?4 Läßt sich das Problem überhaupt feuilletonistisch, kulturkritisch oder als individuierte Angelegenheit der Lebenskunst behandeln? Oder ist jenem Foucault zu folgen, der an dieser Stelle den Genuß ganz ernst nimmt und eben deshalb Formen gesellschaftlicher Macht diagnostiziert und ein Bewußtsein der Spaltung radikalisiert? »Man muß in unserer Kultur von den ständig sich bewegenden und obstinaten Formen der Repression sprechen, [...] um als Grenze der abendländischen Welt und als Ursprung ihrer Moral die tragische Abtrennung der glücklichen Welt der Lust an den Tag zu bringen.«5 Der Fortschritt hat, neben vielem anderen, die Genußmittel vervielfältigt, die dem Einzelnen zur Verfügung stehen. Doch das theoretische Problem der Spannung und des Zusammenkommens von Genuß und Egoismus ist kein Produkt erst der letztgegebenen Gesellschaft. Die Aufsätze dieses Buches gehen einen der Wege der Selbstbesinnung. Um die Gegenwart seines Problems zu begreifen, ihr also kritisch zu begegnen, versammelt es Überlegungen aus der Geschichte der Philosophie, Literatur und Theologie. Sie reichen von Augustinus bis in die unmittelbare Gegenwart, auch die der anderen, lateinamerikanischen Moderne. Dabei kreuzt der Band die geschichtliche Dimension mit den Erfahrungen einer Zeitenund Gesellschaftswende aus der Außen- und der Innenansicht und mit dem Blick auf ein wissenschaftlich tätiges Individuum, in dessen Schriften und Leben die aufgeworfene Frage eine - durch die Zeiten variierende — Konstante bildet. Entstanden sind diese Texte aus Anlaß des 75. Geburtstages von Manfred Naumann,6 der als Literaturwissenschaftler, Romanist und egotistisch kultivierter Genußmensch seine Wirksamkeit vornehmlich in der DDR und damit in einer Gero von Randow, Genießen. Eine Ausschweifung, Hamburg 2001, S. 144. 5 Ebd., S. 144f. 4 Wilhelm Schmid, Philosophie und Lebenskunst. Eine Grundlegung, Frankfurt/M. 1998, S. 169,165. 5 Michel Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt/M. «1989, S. 10. 6 Idee und Konzept gehen zurück auf Gespräche zwischen Karlheinz Barck, Peter Jehle, Wolfgang Klein, Dieter Kliche und Ernst Müller im Winter 1999/2000. Eine erste Sammlung dieser Beiträge wurde Naumann zu seinem Geburtstag am 4. Oktober 2000 überreicht. 2

EINLEITUNG

gesellschaftlichen Wirklichkeit entfaltet hat, die insofern einmal den Gegenpol zu der beschriebenen Gegenwart bilden sollte, als die individuellen Bedürfnisse des Genusses an einem objektivierten Bedarf gemessen wurden und das kollektive >Wir< Vorrang vor dem >Ich< hatte. Erhoben war die Realität damals durch das imaginierte Ideal der anfangs näheren, bald immer ferneren kommunistischen Zukunft, in der die gesellschaftliche Arbeit erstes Lebensbedürfnis und das Maß der neuen Gesellschaft die freie Zeit sein und in der zugleich gelten sollte: Jedem nach seinen Bedürfnissen. Gebrochen war diese Realität durch die besonders beschränkte Lösung des bereits von Rousseau ausgemachten >Grundproblems< jedes Gesellschaftsvertrags: »Es ist eine Form der Assoziation zu finden, die mit der ganzen gemeinsamen Kraft die Person und die Habe jedes Assoziierten verteidigt und schützt und durch die jeder, mit allen vereint, dennoch nur sich selbst gehorcht und so frei bleibt wie zuvor.«7 Denn »das gesellschaftliche Band in allen Herzen« existierte vorwiegend in der Propaganda, und statt daß »jedweder, der dem Gemeinwillen den Gehorsam verweigert«, höchstens vom »ganzen Körper dazu gezwungen« worden wäre, wurde er es durch Repräsentanten, die diesen Gemeinwillen mangels seiner Existenz selbst bestimmten und denen gegenüber Rousseau sein allgemeines Urteil über die Abgeordneten, falls möglich, wohl noch verschärft hätte: »Sobald ein Volk sich Vertreter gibt, ist es nicht mehr frei, ja es existiert nicht mehr.«8 Die Spannung von Genuß und Egoismus läßt sich geschichtlich weit zurückverfolgen und hat einen sich wiederholenden Rhythmus mit größer werdenden Amplituden. Dabei war — folgt man Piatons Beschreibung — ursprünglich die mythische Kunst einer der Räume, in dem Genuß als unmittelbarer und unkontrollierter Ausdruck gemeinschaftlicher Ekstase hoch angesehen war: »So wenig die, welche vom tanzenden Wahnsinn befallen sind, mit vernünftigem Bewußtsein tanzen, so dichten auch die Liederdichter nicht bei vernünftigem Bewußtsein diese schönen Lieder, sondern wenn sie von Harmonie und Rhythmus erfüllt sind, dann werden sie den Bacchen ähnlich, und begeistert, wie diese aus den Strömen Milch und Honig nur wenn sie begeistert sind schöpfen, wenn aber ihres Bewußtseins mächtig, dann nicht. [...] Denn ein leichtes Wesen ist ein Dichter und geflügelt und heilig, und nicht eher vermögend zu dichten, bis er begeistert worden ist und bewußtlos und die Vernunft nicht mehr in ihm wohnt.«9 Als der erste Staatsphilosoph jedoch, der er auch wurde, verband Piaton nicht zufällig die metaphysische Begründung einer ständisch-hierarchischen Gesellschaft mit der Verbannung derjenigen Künste, die seinem dorischasketischen Ideal gefährlich werden konnten: Denn die dichterische Nachbildung »nährt und begießt alles dieses, was doch sollte ausgetrocknet werden, und macht 7 Jean-Jacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts, in: ders., Kulturkritische und politische Schriften, hrsg. von Martin Fontius, Berlin 1989, Bd. 1,S. 391 f. 8 Ebd., S. 472,395,465. » Piaton, Ion, 533e-534b.

XI

ERNST MÜLLER / WOLFGANG KLEIN

es in uns herrschen, obwohl es doch müßte beherrscht werden«. Woraus er die berühmte Folgerung zog, »daß in den Staat nur der Teil der Dichtkunst aufzunehmen ist, der Gesänge an die Götter und Loblieder auf treffliche Männer hervorbringt. Wirst du aber die süßliche Muse aufnehmen, dichte sie nun Gesänge oder gesprochene Verse: so werden dir Lust und Unlust im Staate das Regiment führen statt des Gesetzes und der jeweils von der Gesamtheit für das beste gehaltenen vernünftigen Gedanken.«10 Was neben der Apologetik bleiben sollte, ist das interesselose oder ästhetische Wohlgefallen in der Ideenschau. Die grundlegende Alternative läßt sich bis in die nachklassische, hellenistische Zeit zurückverfolgen, in der die Verbindung von Polisgesellschaft und individueller Weisheit längst entzweit war. Nicht vom Staat und der Gesellschaft her, sondern der Weisheit des Einzelnen zugerechnet, bezeichnen die zwei grundlegenden Richtungen der Spätantike — Epikureismus und Stoizismus — den bis in die Gegenwart reichenden Bruch. Der Stoizismus geht von den das Individuum überschreitenden göttlichen Weltgesetzen aus, die der Mensch allerdings durch seine Vernunft zu erkennen befähigt ist. Grundsatz der stoischen Ethik ist naturgemäßes, mit sich übereinstimmendes Leben. Für vernünftige Wesen hat nur das, was der Selbsterhaltung dient, einen Wert. Nur die Tugend ist ein Gut, nur in ihr besteht die Glückseligkeit. Am allerwenigsten darf die Lust für ein Gut oder gar für ein höchstes Gut gehalten und darf sie um ihrer selbst willen erstrebt werden. Glück und Genuß sind Folge unserer Tugend, die vorrangig in Freiheit von Störungen, in Gemütsruhe, innerer Unabhängigkeit, in Gesetz und Pflicht besteht. Da aber neben den vernünftigen Trieben auch unvernünftige und maßlose Affekte in uns sind, trägt die stoische Tugend wesentlich den Charakter eines Kampfes mit ihnen; sie sollen nicht bloß gemäßigt, sondern ausgerottet werden. Der Weise ist somit frei von Bedürfnissen und Leiden. Das Christentum, das Elemente der Stoa adaptiert, wird den Bruch zwischen irdischer Moral und Glück zur Transzendenz steigern, ihr Verhältnis in eine zeitlich-überzeitliche Dimension rücken und die Verkehrung auf die Spitze treiben, wenn der Schmerz selbst als Lust genossen werden kann. Im Gegensatz dazu steht Epikur. Wie er in seiner Physik die Atome für den Grund alles Seins erklärte, so in seiner Ethik die Individuen für den Zweck alles Tuns. Erst die individuelle Abweichung (Deklination) im freien Fall der Atome — so der, noch den jungen Marx faszinierende, Gedanke — ermöglicht ihre Verbindung. Das Maß, wonach wir Güter und Übel beurteilen, ist unser Gefühl, das einzige unbedingte Gut die Lust. Kein Satz, der das christliche und bürgerliche Gewissen so beunruhigt hat wie der: »Der Anfang und die Wurzel alles Guten ist die Lust des Bauches. Denn auch die gelehrten und hochgestochenen Dinge beziehen sich auf die zurück.«11 Doch auch bei Epikur wird das Glück eher negativ gefaßt, als Freiheit von Schmerzen und als Gemütsruhe. Die geistige Lust Piaton, Politeia, 606d, 607a. Epikur, Fragmente, in: Griechische Atomisten. Texte und Kommentare zum materialistischen Denken der Antike, hrsg. von Fritz Jürß u. a., Leipzig 1973, S. 347. 10 11

EINLEITUNG

ist wichtiger als die körperliche, denn auf die Seele wirken auch die vergangenen und zukünftigen Genüsse, auf die körperlichen nur die gegenwärtigen. Wer den rechten Genuß hat, der wandelt unter den Menschen wie die Götter.12 Weise ist ein genügsames, von der Außenwelt unabhängiges Leben, während Ruhm und Ehre unnatürlich und eitel sind. Epikur erwägt die Begründung der Gemeinschaft aus den Vorteilen und dem Nutzen, der die Verbindung mit anderen Menschen stifte. Gütergemeinschaft hält er deswegen für überflüssig, weil eine solche Einrichtung unter Freunden entbehrlich sein müßte. Die Sicherheit zu genießen, ohne Mühe und Gefahr des Staatsmanns, ist dem Weisen wünschenswert - wenn nicht besondere Umstände ein anderes verlangen. Ein solches Leben - das bestätigt die Geschichte der Epikureer - ist offenbar nur im Verborgenen möglich. Die idealistischen Philosophien, zumal in ihrem bürgerlichen Zeitalter, knüpfen vorrangig an die stoische Tradition an und setzen das Individuum als ein in seinen Trieben, Gedanken und Interessen vereinzeltes Ich voraus. Die Aufhebung der Vereinzelung, die Erhebung des Einzelnen zur Sozialität sei nur durch die Reduktion der konkreten Individualität auf das Subjekt des Denkens, des vernünftigen Ich möglich.13 Insofern in ihre Allgemeinheit der Einzelne nur als ein vernünftiges Wesen eingehen soll, nicht mit der empirischen Mannigfaltigkeit seiner Bedürfnisse, Fähigkeiten und Genußansprüche, enthält solche Idee der Vernunft die Opferung des empirischen, bedürfnishaften Individuums. Die Befriedigung der Bedürfnisse und Fähigkeiten, das Glück des Individuums erscheint als ein willkürliches, anarchisches und subjektives Moment, das mit der Allgemeingültigkeit des höchsten Prinzips nicht in Ubereinstimmung gebracht werden könne. Glück und Genußstreben führen nicht über das Individuum in all seiner Zufälligkeit und Unvollkommenheit hinaus. Die Figur kann unterschiedlich begründet werden. Sie kann Ausdruck einer asketischen, geschichtlich aufsteigenden Bewegung oder Klasse sein oder zum reinen Machtdispositiv degenerieren. Für Kant verwirkt ein Leben, das auf Genuß ausgerichtet ist, sogar seinen Sinn. Genuß, den Kant auch nur als sinnliches oder niederes Erkenntnisvermögen kennt, wird - weil ihn jeder anders fasse — dem Egoismus zugeschrieben, moralische Sozialität (oder Pluralismus, wie Kant das Weltbürgertum auch nennt) fordert Genußverzicht. Die Einheit von Tugend und Glück kehrt als Postulat der Religion wieder und ist der Augustinischen Auffassung so fem nicht, daß Genuß als Selbstzweck nur Gott, nicht aber dem Menschen zustehe. Hegel faßt das Problem stoisch und mit Realismus für geschichtliche Antagonismen - der Fortschritt der Vernunft setzt sich nur gegen das Glück der Individuen durch: »Glücklich ist derjenige, welcher sein Dasein seinem besonderen Charakter, Wollen und Willkür angemessen hat und so in seinem Dasein sich selbst genießt. Die Weltgeschichte ist nicht der Boden des

Epikur, Brief an Menoikeus, in: Griechische Atomisten (Anm. 11), S. 272. Vgl. Herbert Marcuse, Zur Kritik des Hedonismus, in: ders., Kultur und Gesellschaft I, Frankfurt/M. 1965, S. 128-168. 12

13

XIV

ERNST MÜLLER / WOLFGANG KLEIN

Glücks. Die Perioden des Glücks sind leere Blätter in ihr.«14 Das ist auch eine Antwort an Rousseau: »Punkte, in denen alle Interessen übereinstimmen« und aus denen also »die Gesellschaft regiert werden« könnte,15 gibt es historisch so wenige, daß die Selbstbehauptung, gar die genußreiche, aus der Gesellschaft verwiesen ist. Ein fragwürdiges Exil findet der Genuß in den modernen Ästhetiken. Das ästhetische Urteil korrespondiert nach Kant zwar dem sensus communis. Das Angenehme, das Vergnügen und den Genuß jedoch setzt er dem >interesselosen Wohlgefallen des Schönen entgegen, weil der Mensch sich in ihnen alles kommunikativen, also gesellschaftlichen Urteilens enthebt und nicht nur an der Vorstellung, sondern an der Existenz des Gegenstandes interessiert sei. Dann kommt es, so Kants Beispiel, zu solch eklatanten ästhetischen Fehlurteilen wie bei dem irokesischen Sachem, dem in Paris nichts besser als die Garküchen gefielen. Gegen die Verinnerlichung des Glücks, welche die Anarchie und Unfreiheit der äußeren Daseinsverhältnisse als unvermeidlich hinnimmt, haben die hedonistischen Richtungen in der Philosophie protestiert. Eher marginalisiert jedoch sind in der europäischen Theorie- und Literaturgeschichte die Versuche, zu unterlaufen, was als condition humaine eines unüberwindlichen Gegensatzes zwischen moralischer, aber stoischer Vernunft und hedonistischem Individualismus erscheint. Die Moderne hat den tanzenden Wahnsinn schließlich so tief unter das vernünftige Bewußtsein gebracht, daß der Spätaufklärer Pierre Bertaux - um den späten Hölderlin zu würdigen — alles daran setzen mußte, ihn erst einmal der Pathologie zu entwinden: »Sollte ein aus der Norm fallender Mensch unbedingt als Kranker gelten?«16 Man mag dagegen Nietzsches kraftvolle oder jedenfalls seit längerem viel beachtete Bemühungen um die Hoheit des Einzelnen setzen: »Was büßt man am schlimmsten? Seine Bescheidenheit; seinen eigensten Bedürfnissen kein Gehör geschenkt zu haben; sich verwechseln; sich niedrig nehmen; die Feinheit des Ohrs für seine Instinkte einbüßen; — dieser Mangel an Ehrerbietung gegen sich rächt sich durch jede Art von Einbuße, Gesundheit, Wohlgefuhl, Stolz, Heiterkeit, Freiheit, Festigkeit, Muth, Freundschaft. Man vergiebt sich später diesen Mangel an achtem Egoismus nie: man nimmt ihn als Einwand, als Zweifel an einem wirklichen ego [,..].«17 Wenn aber Georges Bataille dieses Fragment in sein Nietzsche-Memorandum aufnahm, das zum 100. Geburtstag Nietzsches entstanden war und im April 1945 in Paris bei Gallimard erschien,18 stärkt das eher die Vermutung, daß das Selbstsein im Genuß in der europäischen Moderne vielfach gebrochen ist, als daß es sie widerlegte: Den noch immer kämpfenden deutschen 14 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, in: ders., Werke, Frankfurt/M. 1970, Bd. 12, S. 41f. 15 Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag (Anm. 7), S. 400. " Pierre Bertaux, Friedrich Hölderlin, Frankfiirt/M. 1978, S. 632. 17 Friedrich Nietzsche, Kritische Studienausgabe. Werke, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 13, S. 464f. 18 Vgl. Georges Bataille, Wiedergutmachung an Nietzsche, hrsg. von Gerd Bergfleth, München 1999, S. 60.

EINLEITUNG

Soldaten galt Faschismus als ächter Egoismus; Bataille konnte seinen eigensten Bedürfnissen nur in engsten Kreisen folgen; und aus Nietzsches Text selbst schon sprach eher Qual als Hedonismus. Manfred Naumann hat sich in seinem GEuvre mehr als gelegentlich denjenigen Denker und Theorien zugewandt, ja war offenbar von ihnen fasziniert, die die Entzweiung von Individuum und Gesellschaft und also die von Genuß und Egoismus aufzuheben versuchten. Das betrifft zunächst seine frühe Beschäftigung mit dem Jahrhundert der Aufklärung in den 50er Jahren. In der Einleitung zu seiner Edition von Holbachs System der Natur stellte er heraus, daß die französischen Materialisten durch die Annahme eines Triebes der Selbstliebe (amour de soi) den »Widerspruch zwischen Individuum und Gesellschaft aufzuheben« versuchten, indem sie »das individuelle menschliche Glücksstreben selbst zur Bedingung der Soziabilität« machten.19 Tugend und Selbstliebe sollten zusammenfallen; denn die »Tugend ist nur die Kunst, durch Förderung der Glückseligkeit anderer sich selbst glücklich zu machen«.20 Wo diese anthropologische Bedingung des Menschen nicht zum Tragen kommt, wo der Mensch sich also von seiner Natur abwendet, ist das gesellschaftliche Milieu die Ursache. Der Optimismus - oder jedenfalls der Elan - der sensualistischen Aufklärung gründete darin, daß sie das Hier und Jetzt des Glücks postulierte. Holbachs Schriften interessierten Naumann kaum als literarisches Phänomen, wohl aber als ein Vergesellschaftungsmodell. Schon bei seinem Lehrer Werner Krauss waren solche Modelle in kritischer Distanz zum Hegel-Marxismus (etwa Lukäcsscher Provenienz) entworfen. Die eigene Situation in der absolutistischen Prägung des Frühsozialismus scheint durch: Als der junge Ludwig XVI. den Thron der Bourbonen bestieg, so Naumann, habe Holbach in ihm noch den gerechten und tugendhaften Monarchen begrüßt. »Er konnte nicht wissen, daß erst das Haupt dieses Königs fallen mußte, ehe sein Traum von der >vernünftigen< Gesellschaft in Erfüllung gehen konnte.« 1960 veröffentlicht, also nach 1956 und den auf die Entstalinisierungshoffnungen folgenden Maßregelungen der Krauss-Schüler, ist der letzte Satz Naumanns neben historischer Analyse wohl auch Ausdruck aktueller Resignation: Anders als Holbachs Freunden blieb ihm nicht »zu sehen erspart, wie die Widersprüche seiner Theorie im Zugriff der revolutionären Wirklichkeit aufgedeckt wurden«.21 In den 70er Jahren, in einer kurzen Phase, die Naumann später als eine des fröhlichen Marxismus< charakterisierte, hat er als spiritus rector der TheorieArbeitsgruppe am Literaturgeschichtsinstitut der Akademie der Wissenschaften der DDR dann selbst einen groß angelegten theoretischen Entwurf vorgelegt, der das Problem unter veränderter Perspektive aufnahm: Im Blick auf die »Literatur19 Manfred Naumann, Einleitung, in: Paul Thiry d'Holbach, System der Natur oder von den Gesetzen der physischen und der moralischen Welt, Berlin 1960, S. XLIX. 20 Ebd., S. L. Ebd., S. LVIII.

XVI

ERNST MÜLLER / WOLFGANG KLEIN

rezeption in theoretischer Sicht« (so der Untertitel des seit 1973 mehrfach aufgelegten Bandes Gesellschaft — Literatur - Lesen) wurde wenigstens auf dem Gebiet der Literatur und Ästhetik fortgeschrieben, was in den Aufbruchsjahren der 50er noch als gesellschaftliches Projekt der Aufklärung verwirklichbar erschien. Von der Konstanzer Variante unterschied sich Naumanns Ansatz vor allem dadurch, daß er noch immer die Rezeption literarischer Werke und ihren ästhetischen Genuß weniger als die andere, kompensierende Seite einer geistigen Entzweiungsstruktur zu erfassen, sondern sie einem gesellschaftlich gefaßten Begriff der literarischen Produktion und Distribution zuzuordnen versuchte. Aus diesem Geist trug Naumann 1978 auch den Mitgliedern der Akademie über »Literatur im >Kapital«< vor. Unter den Bildern von Leibniz und Honecker warnte er die versammelten Herren und wenigen Damen — die auf dem Gang an der Büste eines ironischen Voltaire vorbeigekommen waren und nun einem gewaltigen MarxKopf ganz links neben dem Präsidium gegenüber saßen - davor, sich von des letzteren literarischer Praxis »ein zu asketisches Bild« zu machen, lenkte ihre Gedanken auf den Wert »literarischer Bildung, [der] Fähigkeit zum Genuß von Schönheit, des >Kunstsinns«< und ihre Einbildungskraft mit des jungen Marx Worten darauf, »wie die Natur im Frühling sich nackt hinlegt und gleichsam siegesbewußt alle ihre Reize zur Schau stellt« und solcherart den Dichter zum »frischen, kühnen, poetischen Herrn der Welt« zu machen vermag. Es dürfte dem Redner Genuß bereitet haben, beim Blick in die Runde, immer noch mit Marx, dem »ängstlich-zugeknöpften, in sich geduckten Individuum« des Klassikers Freude am »Anblick eines bunten Luftspringers« wenn nicht nahe zu bringen, so an den Kopf zu werfen - und damit das Vergnügen, das es eigentlich machen sollte, »aus eignen Mitteln die ganze Welt zu bauen«.22 Die große Utopie praktisch werdender Aufklärung beschloß nochmals den Gedankengang: »Die literarischen Werke, genußvoll angeeignet, werden rationell genutzt für das theoretische Werk, und das theoretische Werk vermittelt den literarischen Werken eine neue Bedeutung. [...] Literatur wird für die Theorie und Theorie für die Literatur produktiv.«23 Nota bene: Die Rede war hier von revolutionärer Gesellschaftstheorie. Nahezu gleichzeitig und an programmatischer Stelle zitierte Naumann aber auch die von Werner Krauss 1950 formulierte Frage: »Welche Chance bleibt dem Individuum zur Behauptung in der ihm entfremdeten Gesellschaft?«24 Diese Frage — Realisten stellen sie — hatte immer mitgeschwungen, wo Naumann Theorie(geschichte) statt Literaturgeschichte betrieben hatte. Nun war die Erwartung 22 Manfred Naumann, Literatur im »Kapital«, in: ders., Blickpunkt Leser. Literaturtheoretische Aufsätze, Leipzig 1984, S. 48, 57, 65f. Die Marx-Zitate in: Karl Marx/ Friedrich Engels, Gesamtausgabe (MEGA), Abt. IV, Bd. 1: Exzerpte und Notizen bis 1842, Berlin 1976, S. 79. 23 Ebd., S. 83. 24 In: Manfred Naumann, Prosa in Frankreich. Studien zum Roman im 19. und 20. Jahrhundert, Berlin 1978, S. 7.

EINLEITUNG sehr klein geworden, daß die »Realität einer sozialistischen Perspektive«25 befriedigende Antworten produzieren könnte. Daß andere Gesellschaften das besser vermöchten, war damit nicht behauptet. Aber utopische Verbindungen von Genuß und Egoismus im Entwurf von Gesellschaftszuständen wurden nun nicht mehr beschrieben, und selbst die Weiterarbeit an den ins Stocken geratenden Literaturtheorien im Osten oder später an den sich überschlagenden im Westen schien wenig nützlich, um dem eigentlichen Anliegen zu genügen. Naumann baute seit dieser Zeit seinen Ruhm als Haupt der »Berliner Schule« nicht durch weitere theoretische Entwürfe aus und gab den literarischen Werken und den diese produzierenden Individuen vermehrten Raum. Wie hatte Hegel gesagt? »Die Weltgeschichte ist nicht der Boden des Glücks.« Trotzig-ironisch plädierte

25 Ebd., S. 8. - Dabei konnte kaum ein anderes Buch der DDR-Literaturwissenschaft eine solche nationale wie internationale Resonanz aufweisen wie Gesellschaft - Literatur - Lesen. Die Rezensionen zeigen das: Forum 27 (1973) 22, S. 8 (Dieter Fink); Der Bienenstock. Blätter des Aufbau-Verlages Berlin/Weimar, Nr. 102/1973, S. 3 (Peter Goldammer); Die Weltbühne 68 (1973) 51,18. Dezember 1973, S. 1625-1627 (Wolfgang Klein); Der Morgen (Berlin), 23. März 1974 (Fu.); Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel (Leipzig] 141 (1974) 13,26. März 1974, S. 229 (Klaus Höpcke); Neues Deutschland, 29. März 1974 (Horst Simon); Süddeutsche Zeitung (München), Nr. 87, 13./15. April 1974 (Helmut Winter); Lausitzer Rundschau, 16. April 1974 (an.); Stimme der DDR (Rundfunk Berlin) 20. April 1974; Neues Deutschland, 27. April 1974 (Elisabeth Simons); Junge Welt (Berlin), 3. Mai 1974 (Werner Künzel); Referatedienst zur Literaturwissenschaft 6 (1974) 5, S. 556-559 0ean-Robert Armogathe); Norddeutsche Zeitung (Schwerin), 21. Mai 1974 (cw); St. Galler Tageblatt, 24. Mai 1974 (Dominik Jost); Magazine Litteraire (Paris) 26/1974, S. 27 (L. R.); Hessischer Rundfunk, 17. Juli 1974 (Fritz J. Raddatz); Einheit (Berlin) 29 (1974) 7, S. 883-886 (Klaus Jarmatz); Sonntag 28 (1974) 14, S. 6 (Gisela Lüttig); Weimarer Beiträge 20 (1974) 8, S. 172-182 (Dietrich Löffler); Spektrum 5 (1974) 9, S. 32f. (Rosemarie Lenzer); Die Zeit (Hamburg), 25. Oktober 1974 (Fritz J. Raddatz); Germanistik. Internationales Referateorgan (Tübingen) 15 (1974) 4, S. 831 (Gunter Grimm); Revue d'Histoire litteraire de la France (Paris) 1974, S. 157f. (Jcan-Robert Armogathe); kultura (Prag), Nr. 12,1974 (Miroslaw Beck); Helikon (Budapest) 1/1975, S. 121f. (Bojtär Endre); Sinn und Form 27 (1975) 2, S. 429^34 (Hermann Kähler);New German Critique (1975), Nr. 5/spring, S. 162-165 (Horst Denkler); Deutsche Zeitschrift für Philosophie 23 (1975) 6, S. 853-857 (Horst Redeker); Deutsche Literaturzeitung 96 (1975) 7, Sp. 534—537 (Martin Fontius); Neues Deutschland, 13. August 1975, S. 4 (Manfred Wekwerth); L'Humanite (Paris), 17. Oktober 1975 (Andre Gisselbrecht); Freie Erde (Neustrelitz), Oktober 1975 (Günter Ebert); Hans Robert Jauss, in: Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis, hrsg. von Rainer Warning, München 1975, S. 343-352; Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31. Januar 1976, Nr. 26 (Peter Demetz); Cahiers romains d'etudes litteraires (Bukarest) 2/1976, S. 135-138 (Andrei Corbea); Estetika (Turin) 13 (1976) 4, S. 281-285 (IK); Kultur und Gesellschaft. Monatsschrift des Kulturbunds der BRD, Februar 1978, S. 17f. (Richard Albrecht); Wissenschaftliche Zeitschrift der PH Güstrow, Nr. 2, 1978 (Gabriele März/Gisela Zander); Ceska literatura (Prag) 26 (1978) 4, S. 379f. 0iä Holy); Tap Chi Van Hoc (Hanoi), Nr. 4,1978, S. 120-135; Neue Rundschau (Frankfürt/M.) 90 (1979) 4, S. 520-541 (Bernhard Scheiffele); Obscestennye nauki za rubezom. Referativnyi zurnal. Literaturovedenie (Moskva), serija7, 1979, nr. 5, S. 163-168; Die deutsche Literatur (Tokyo), hrsg. von der Japanischen Gesellschaft für Germanistik, Nr. 66, Frühling 1981, S. 55f. (Mutsaumi Hayaslu); Revue d'Histoire litteraire de la France (Paris), Jg. 1981, S. 109f. (Andre Billaz); GDR Bulletin (St. Louis, Mo.) 8 (1982) winter, S. 7f. (Duncan Smith); WerkstättenRundbrief (Köln), Nr. 141, März 1983, S. 45.

XVII

XVIII

ERNST MÜLLER / WOLFGANG KLEIN

Naumann noch kürzlich — gegen »methodologische Sportwettbewerbe« und »Schreiber in der dritten Potenz« - für eine Rückkehr »in die Täler der Primärliteratur«, für konkrete Lektüren, für den Genuß an den Texten.26 Er argumentierte damit ganz epikureisch: »Der Weise liebt Schauspiele und hat wie jeder andere Freude an musikalischen Genüssen und szenischen Darbietungen der Dionysien. Aber Fragen der Musiktheorie und gelehrten Untersuchungen der Kritiker gibt er nicht einmal beim Gelage Raum.«27 Die Einleitung zu dem von Naumann 1987 herausgegebenen Lexikon der französischen Literatur hält eine dreifache Hoffnung fest: ein Unternehmen dieser Art könnte »der Verbreitung von Kenntnissen über die französische Literatur dienlich sein, vielleicht der wissenschaftlichen Beschäftigung mit ihr nützen und womöglich sogar die Lust zum Lesen ihrer Werke fördern«.28 Da sprach ein abgeklärter Aufklärer, Skeptiker und Genießer - und letzterer hatte, so läßt der Satz sich lesen, nicht das dritte, sondern das akzentuierte Schlußwort. Um Genuß und Egoismus zu behaupten und — immer noch — gesellschaftlich zur größtmöglichen Wirkung zu bringen, waren die literarischen Werke, in einer alten, nun auch den Marxisten einholenden Weise, wieder zum wichtigsten Raum geworden. Wenn sich Naumann insbesondere zwei französischen Autoren und ihren Werken, nämlich Stendhal und Proust, seit langem zugewendet hatte, dann war er mit beiden wesentlich in dem Versuch übereingekommen, die Existenz des Ich auf Genuß zu gründen und darob nicht asozial zu werden. Marcel Proust, über den er 1966, wenige Monate nach dem Kunstwerke zerstörenden 11. Plenum des SED-Zentralkomitees, in Sinn und Form einen kongenialen, in den 70er Jahren noch zweimal aufgenommenen »Versuch« veröffentlichte, war in seiner Analyse mehr als ein »Monomane des Ich-Kultes [...], der auf einer fragwürdigen philosophischen und ästhetischen Grundlage ein Erinnerungsspiel inszeniert, dessen Akteure nahezu ausnahmslos krank sind«, mehr als ein »Egozentriker«, als »ein mit Reichtum gesättigter Träumer«:29 Mit seiner Suche nach der verlorenen Zeit, dem Schreiben des Romans seines Scheitems, trete Prousts Held Marcel ein »in die schöpferische Epoche seines Lebens« und feiere »doch noch einen Sieg über jene Objektwelt«.30 Das Selbst überschritt solcherart die Selbstreflexion: Prousts Roman wurde — als ein ästhetisches Ereignis, das Genuß reflektierte und Genuß erzeugte, und über dieses Ereignis hinaus — zu einer Form der Auseinandersetzung mit Gesellschaftszuständen. 26 Manfred Naumann, Wie ernst sollte die Literaturwissenschaft sich selbst und ihre Leser nehmen?, in: Literaturforschung heute, hrsg. von Eckart Goebel und Wolfgang Klein, Berlin 1999, S. 308. 27 Epikur, Fragmente (Anm. 11), S. 360 28 Manfred Naumann, Vorwort, in: ders. (Hrsg.), Lexikon der französischen Literatur, Leipzig 1987, S. 7. 29 Naumann, Prosa in Frankreich (Anm. 24), S. 232f. Der »Versuch über Proust«, der 1974 auch als Einleitung zur ersten DDR-Ausgabe der Recherche gedient hatte, ist hier in einer überarbeiteten Fassung enthalten. 3» Ebd., S. 223.

EINLEITUNG

Stendhal, dessen Gesammelte Werke in Ein^elbänden Naumann seit 1959 bei Rütten und Loening herausgegeben hat und in dessen raffiniert egoistische Verästelungen er sich über seine Emeritierung hinaus bis heute hineindenkt, dürfte ihn schon mit der Tagebuchnoti2 des 18jährigen Henri Beyle eingenommen haben: »Beeilen wir uns, das Leben zu genießen; unsere Tage sind gezählt [...]. Arbeiten wir; denn die Arbeit ist die Mutter des Genusses.«31 Hinzu traten lakonische Werturteile wie dieses aus einer Programmschrift: »Romantik ist die Kunst, den Völkern jene literarischen Werke zu präsentieren, die ihnen beim gegenwärtigen Zustand ihrer Gewohnheiten und Uberzeugungen den größtmöglichen Genuß zu geben vermögen. Klassik präsentiert ihnen demgegenüber jene Literatur, die den größtmöglichen Genuß ihren Urgroßvätern gab.«32 Am wichtigsten aber wurden die literarischen Texte und die Lebenshaltung dieses maskiert arbeitenden, distanziert beobachtenden und scharf urteilenden Genießers. Allein eine »ungeheure Menge von Ichs« aufzuhäufen, kommt beiden »stinklangweilig vor«33; Details individueller Befindlichkeiten geschwätzig mitzuteilen ist »abscheulicher Egotismus«. Der »ehrliche« Egotismus jedoch verdient alle Anerkennung — da er »eine Art ist, das menschliche Herz zu schildern«34 und sich solcherart selbst zu behaupten. Als Stendhal um 1830 das Wort egotisme nutzte, um von sich selbst zu sprechen, stand es seit seiner Prägung durch Joseph Addison, Herausgeber moralischer Wochenschriften gut 100 Jahre zuvor, im Ruch des Lasters, häufig von sich zu sprechen und das Pronomen >ich< zu gebrauchen. Bis sein Tagebuch eines Egotisten die Öffentlichkeit erreichte, sollten zwar noch 60 Jahre vergehen; an dieser Wertung änderte sich aber wenig. Möglicherweise ließe sich anhand des Wortes, über die von Manfred Naumann in seinem jüngsten Buch aufgedeckten hinaus, zu weiteren verborgenen Quellen im Deutschlandbild Stendhals vorstoßen: das Wort Egoismus, von Christian Wolff und Kant semantisch geprägt, ist schließlich deutscher Provenienz. Stendhal hat jedenfalls den pejorativen preußisch-moralischen Akzent ironisiert, vielleicht französisiert und so mit einem neuen Begriffsinhalt versehen. Das Wort verliert in dieser Fassung weitgehend seinen Gegensatz zum Altruismus. Es vermag — wie uns der Artikel »Egotismus« des Historischen Wörterbuchs der Philosophie mitteilt - schließlich zum einen die minutiöse Selbstanalyse des Individuums als einer physischen, psychischen und moralischen Existenz, zum anderen die epikureische Perfektionierung des Ichs und des eigenen Lebens zu bezeichnen, den passionierten Ichkult, der sich vom Egoismus dadurch unterscheidet, daß er die Umwelt und ihre Interessen nicht zu

31 Stendhal, Tagebücher und andere Selbstzeugnisse, Berlin 1983, Bd. 1, S. 21 (Eintragung vom 12. Juli 1801). 32 Stendhal, Racine et Shakspeare I [1823], in: ders., (Euvres completes, Bd. 16, Paris 1954, S. 27. 33 Stendhal, Leben des Henry Brulard, Berlin 1982, S. 175. 34 Stendhal, Erinnerungen eines Egotisten, in: ders., Tagebücher (Anm. 31), S. 239f.

XIX

ERNST MÜLLER / WOLFGANG KLEIN

Mitteln seines Eudämonismus macht, sondern ganz im Bereich des Selbst verbleibt — eine hohe Rationalisierung solcher Selbstreflexion voraussetzend.35 Man kann bezweifeln, daß solche aufs Ich beschränkte Genußformen Stendhal und daß sie Naumann genügten. Ihr Egotismus-Begiiff ist dem zitierten philosophischen gegenüber unrein. »Der Umstand, daß eine Sache gewesen war, zeichnete in seinen Augen diese Sache noch nicht aus. Es kam darauf an, welchen Genuß sie ihm noch in der Gegenwart bereitete, welchen Nutzen er aus ihr für das Jetzt ziehen konnte.«36 Im Jetzt und im Nutzen blieb der genießende Einzelne bis in die Entsagung an die Gesellschaft gebunden. Nicht als Abhängiger - als einer, der Forderungen stellte. Zur Not suchte er sie sich, einer der happy few, selbst zu erfüllen. Aber selbst Stendhal hoffte auf die Zeit in fünfzig Jahren. Und Naumann edierte und studierte Stendhal — verdrossen und unverdrossen. Um 1992 die Art seiner Erinnerungen an die Literaturwissenschaft nach 1945 zu begründen, bekannte sich Manfred Naumann »zum Partikulären, dem bloß Subjektiven, das in Differenz zu anderem Partikularen und Subjektiven steht und diese aushält«.37 Gegen die alte wie neuerliche, teleologische Anwandlung, Geschichte nicht von (immer nur vorläufigen) Enden her auf sowieso höchstens provisorische Resultate einzuebnen, behauptete er das aufrauhende Recht des Einzelnen, den Blick aus dem partikulären Winkel. Neben den Beiträgen des vorliegenden Bandes, die diese Entzweiungsgeschichte von Genuß und Egoismus geschichtlich nachzeichnen, stehen andere, die das Thema von seinem provokativen Pol her aufnehmen und die historisch-verfestigte Dichotomie von Genuß und Gesellschaftlichkeit experimentell zu vinterlaufen versuchen. Naumann hat beides unternommen.

35 Hans-Jürgen Fuchs, Egotismus, Egoismus, Egomismus, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer, Bd. 2, Basel 1972, Sp. 316. 36 Naumann, Henry Brulard, in: Stendhal, Leben des Henry Brulard (Anm. 33), S. 341. 37 Manfred Naumann, Literaturgeschichte oder Politästhetik? Erinnerungen an die Literaturwissenschaft nach 1945 in der Ostzone, in: Walter H. Pehle/Peter Sillem (Hrsg.), Wissenschaft im geteilten Deutschland. Restauration oder Neubeginn nach 1945?, Frankfurt/M. 1992, S. 166.

GENUSS UND EGOISMUS IN DER KULTURGESCHICHTE

JOACHIM KÜPPER

Uti und frui bei Augustinus und die Problematik des Genießens in der ästhetischen Theorie des Okzidents I. >Uti< und >frui< — mit diesem Begriffspaar bezeichnet der Kirchenvater aus der Spätantike die Prozesse, vermittels deren wir Menschen uns die Welt materiell und mental aneignen. Insofern sich das >Subjekt< zum Gegenstand der Reflexion werden kann, steht auch die Einstellung des jeweiligen Ichs zu sich selbst1 im Zeichen dieser Dichotomie, welche ihr Operationsfeld im menschlichen Geist (>mensanimusmemoriaintelligentia< und >voluntasauf etwas anderes beziehe, oder aber so, daß er sie als Endzweck betrachtet und in ihrem Genuß ruhend verharrt (»[...] sive ad aliquid ea referat sive eorum fine delectata conquiescat«3). >Uti< bezeichnet den allgemeinen Akt, mit dem ein mental Repräsentiertes zum Gegenstand des Wollens gemacht wird, ohne daß dies Gewollte schon den Endzweck des Begehrens bezeichnete, >frui< die Aneignung, die im effektiven Genuß des Angeeigneten ausweist, daß das Wollen an sein Ziel gelangt ist (»Uti est enim assumere aliquid in facultatem voluntatis; frui est autem uti cum gaudio non adhuc spei sed iam rei«). Insofern impliziert jedes >frui< ein >utiuti< ist auch ein >frui< (»Proinde omnis qui fruitur utitur; assumit enim aliquid in facultatem voluntatis cum fine delectationis. Non autem omnis qui utitur fruitur si id quod in facultatem voluntatis assumit non propter illud ipsum sed propter aliud appetivit.«4).

1 Dies betrifft sowohl den Geist wie den Körper (»Ergo [ratio] se ipsa utitur. [...] sie enim utitur suo corpore [...]« [Augustinus, De diversis quaestionibus octoginta tribus, XXX]). 2 »Iam vero usus tertius in voluntate est pertractante ilia quae memoria et intelligentia continentur [...]« (Augustinus, De trinitate, X, 11 [17]). 3 Ebd. 4 Ebd.

4

JOACHIM KÜPPER Das ganze Dilemma der menschlichen Existenz, das bei dem Kirchenvater mit den Begriffen >vitium< und >culpaschlecht< bzw. >falsch< zu handhaben6. Der Wille ist von daher diejenige Instanz, in der sich die Frage des >rechten< und des >falschen< Umgangs mit der Welt insgesamt entscheidet, eine Frage, die für das reine Erkennen (intelligentia) und das Erinnern (memoria) keine unmittelbare Relevanz hat.7 Diesen Unterschied von rechtem und falschem uti bzw. frui erläutert Augustinus am Beispiel von amor und Caritas: Es ist im Prinzip legitim, das Geschaffene zu lieben. Aber diese Liebe soll nicht beim Geschaffenen verharren. Sie darf nicht bereits dort >ruhendes Genießen< finden wollen. Sie muß auf ein anderes bezogen sein, das jetzt auch unumwunden benannt wird: auf den Schöpfer bzw. die >Dinge, die ewig und unveränderlich sind.8 Verharrt die aneignende Zuwendung bei den >temporaliaverkehrtes< Genießen, 10 ja, um >schlechthinnige Perversion^ Mit diesen konzisen Worten ist aus Sicht des Kirchenvaters im Grunde alles gesagt.12 Eine allerdings eher geringfügige Differenzierung fügt er in Ansehung des Faktums der besonderen Stellung des Menschen in der Schöpfungsordnung hinzu. Es gibt ein >frui< des gottebenbildlichen Teils der Schöpfung. Aber auch

5 In der Passage, die in Augustinus, Contra Faustum manicheum, XXII, 78 dem Problem >utifrui< gewidmet wird, dann auch »iniquitas« (welche zu Recht Strafe verdiene). 6 »[...] voluntas autem adest per quam fruamur eis vel utamur. Fruimur enim cognitis in quibus voluntas ipsis propter se ipsa delectata conquiescit; utimur vero eis quae ad aliud referimus quo fruendum est. Nec est alia vita hominum vitiosa atque culpabilis quam male utens et male fruens [...]« (Augustinus, De trinitate X, 10 [13]). 7 Sekundär gewinnt diese Frage dann doch wieder Belang, insofern die Struktur des menschlichen Geistes nach dem Bilde der Trinität entworfen ist (»Et ait [Deus]: >Faciamus hominem ad imaginem et similitudinem nostram [...]reine< Erkenntnis bzw. Erinnerung nicht gibt. 8 »In his igitur omnibus rebus illae tantum sunt, quibus fruendum est, quas aeternas atque incommutabiles commemoravimus; ceteris autem utendum est, ut ad illarum perfructionem pervenire possimus.« (Augustinus, De doctrina Christiana, I, 22 [20]). 9 Diese Dichotomie >temporalia< vs. >aeterna< am deutlichsten in Augustinus, Sermones de vetere testamento, XXXVI, 6 (»[...] deum vivum, qui praestat nobis omnia abundanter [...], temporalia ad utendum, aeterna ad fruendum«); siehe auch Augustinus, Sermo LXI.11. 10 Siehe auch die in Augustinus, De doctrina christiana I, IV (4) bemühte Allegorie der Reise ins Vaterland: Wer die »amoenitates itineris« und die »ipsa gestatio vehiculorum« zum Gegenstand der >delectatio< macht, aktiviert eine Haltung des >frui< dort, wo ein >uü< das einzig Angemessene wäre und erliegt auf diese Weise einer >perversa suavitasrechten< suavitas steht, welch letztere allein in der Lage ist, den Genießenden >glücklich< (>beatusrecht verstandenes< frui, wenn es ein >frui in deo< ist. Bleibt es ein >frui in te ipsoNächsten< als diesem selbst verharrt, ist dies ein Schlechtes, Sündhaftes, das sich von dem ab ovo fehlgeleiteten Genuß des minderen Geschaffenen nicht unterscheidet.13 In nuce gibt es aus der Sicht des Bischofs von Hippo also nur eine einzige >rechte< Form der Aneignung: Die Welt, und zwar die gesamte Welt (auch die >nobis inferior creaturagewolltbegehrtangeeignetgenutzt< bzw. >benutzt< werden, 15 nicht allerdings, um schon darin die delectatio16 bzw. >iucunditaslenken< (>referreruhendelectatio< zuteil, die dann auch frei ist von Sündhaftigkeit und Schuld. Das >falsche< Genießen indes, das recht eigentlich ein Mißbrauchen ist, und insofern auch ohne Nutzen,18 läuft darauf hinaus, die dem Menschen gegebenen Möglichkeiten zu verschenken, >auf das

13 »Ergo aut cupiditate aut caritate, non quo non sit amanda creatura, sed si ad creatorem refertur ille amor, non iam cupiditas sed Caritas erit. Tunc enim est cupiditas cum propter se amatur creatura. Tunc non utentem adiuvat sed corrumpit fruentem. Cum ergo aut par nobis aut inferior creatura sit, inferiore utendum est ad deum, pari autem fruendum sed in deo. Sicut enim te ipso non in te ipso frui debes sed in eo qui fecit te, sic etiam illo quem diligis tamquam te ipsum. Et nobis ergo et fratribus in domino fruamur, et inde nos nec ad nosmetipsos remittere et quasi relaxare deorsum versus audeamus.« (Augustinus, De trinitate, IX, 8 [13]; vgl. weiterhin Augustinus, De doctrina Christiana, I, 22 [20-21] und 1,23 [22]). 14 Augustinus, De trinitate IX, 8 (13); gleichlautend in De diversis quaestionibus octoginta tribus XXX (»Omnia ergo quae facta sunt, in usum hominis facta sunt [.··]«); da das >rechte< uti dann immer auf ein rechtes frui hin zu transzendieren ist, bedeutet dies, daß alles Geschaffene zum Ausgangspunkt einer solchen fruitio werden kann. 15 Um die einigermaßen brutalen Implikate dieses Konzepts einer Welt, die (einschließlich des >NächstenBenutzens< begrenzt, zumindest verbal ein wenig abzumindern, konzediert Augustin in De doctrina Christiana I, 33 (37), daß es ein >cum delectatione uti< gebe, das man gemeinhin auch >frui< nenne. Allerdings gibt es, abgesehen vom Verbalen, für den Kirchenvater keine Kompromisse: Solange ein solches >genießendes bzw. genußvolles Benutzem nur den >Übergang< zum >rechten< Gegenstand des «dauerhaftem Genießens darstellt, ist dies >kein frui im eigentlichen Sinne, sondern ein uti< (»uteris ea, et abusive, non proprie diceris frui.«). Anderenfalls, d. h., wenn der Genießende beim Objekt des >uti< verharrt, handelt es sich um jenes >perverse< frui, das zugleich abwegig und sündhaft ist. 16 »[...] utendum est hoc mundo, non fruendum [...]« (Augustinus, De doctrina Christiana, 1,4 [4]). 17 Dieser Terminus u. a. in Augustinus, Sermones in vetere testamento, CLXXVII, 8 (»[...] fruimur pro iucunditate.«). 18 »Quare abuti rectius dici solent qui non bene utuntur. [...] Non ergo utitur, quisquis male utitur.« (Augustinus, De diversis quaestionibus octoginta tribus, XXX.)

5

6

JOACHIM K Ü P P E R

eigene Niveau zurückzufallen, ja, noch darunter hinabzugleiten< (»ad nosmetipsos remittere et quasi relaxare deorsum versus«19). Die säkulare Moderne verdankt dem Kirchenvater aus der Spätantike mehr, als sie sich oftmals einzugestehen bereit ist. Was sich in der skizzierten Argumentation niederschlägt, macht den Bischof von Hippo zu einem >fondateur de discursiviterechtem< und >falschem< Genießen in der ästhetischen Theorie der frühen Neuzeit wieder, womit sich auch die Frage stellt, seit wann, und ob überhaupt, es im Okzident eine von den Basis-Figuren der Ethik prinzipiell emanzipierte Ästhetik gibt. — Kulturhistorisch von Belang ist aber vor allem, daß mit Augustins zwei Varianten der zugleich sinnlichen (>voluptasencantadores< waren, die ihn in diesen mißlichen und kompromittierenden Zustand versetzt haben,34 und fuhrt ihn auf einem Ochsenkarren zurück in sein Dorf, wo man glaubt, ihn von seinen Phantasmata kurieren zu können. Des Wegs begegnen sie einem canonigo aus Toledo, der mit seinem Gefolge in dieselbe Richtung zieht. Dieser hält Quijote zunächst für einen Delinquenten, und er erkundigt sich nach den Hintergründen. Der stets freundliche und höfliche hidalgo schaltet sich sogleich in das Gespräch ein und

33 Nach der berühmten poetologischen Formel Dantes (»veritade ascosa sotto bella menzogna«) aus Convivio 1 1 , 1 , 3 . Die oben getroffenen Festlegungen könnten mißverstanden werden im Sinne eines Anachronismus, gegen den wir in praktisch all unseren Veröffentlichungen polemisieren. Es ist aus unserer Sicht gerade kein Manko, daß sich die ältere Literatur fast durchweg im Sinne der Danteschen Formel versteht, und zwar aus einer Reihe von Gründen nicht. Nur ein einziger sei hier genannt, weil er derjenige ist, der in Ansehung des Dante-Texts besondere Prägnanz gewinnt: Indem Dante mit seiner Formel von der eingekleideten Wahrheit den dichterischen Text in die Zuständigkeit eben der hermeneutischen Praktiken verweist, die für die Erschließung des (mehrfachen) Schriftsinns des Heiligen Texts Gültigkeit haben, postuliert er tendenziell für den DichterText einen Rang, der von dem des Heiligen Texts zumindest im Prinzip nicht verschieden ist. Mit anderen Worten: Ästhetikhistorisch kann man die Selbstverpflichtung der älteren Literatur auf das Sagen von Wahrheit (und oftmals genau jener, die die Wahrheitsagentur der älteren Epochen, die Kirche, verkündete) durchaus als erstes und vermutlich notwendiges Stadium des Aufstiegs der Literatur zur Autonomie ansehen. 34 Wie der cura dann noch einmal bestätigt, als Quijote selbst diese Geschichte dem canonigo erzählt: »[...] el va encantado en esta carreta [...] por la mala intenciön de aquellos a quien la virtud enfada y la valentia enoja.« (S. 544; hier zitiert nach der Ausgabe von Francisco Rico, Barcelona 1998.)

9

JOACHIM KÜPPER bietet sich an, seinen Fall zu erklären, soweit sich der Fragende auf die Dinge der >caballeria andante< verstehe. Als der canonigo repli2iert, er kenne sich mit den >libros de caballerias< besser aus als mit den zeitgenössischen philosophischen Traktaten, beginnt das berühmte Gespräch über die verschiedenen Arten von Literatur und deren unterschiedliche Funktion. In Übereinstimmung mit der überaus komplexen Kommunikationssituation des gesamten Texts wird auch dieses Gespräch perspektivisch geführt. Der canonigo vertritt seine Position zweimal, einmal gegenüber einem Vernünftigen, von dem er annimmt, daß dieser mit ihm im Prinzip übereinstimmt, das zweite Mal gegenüber dem offensichtlich ein wenig extravaganten >RitterRittermüßigem und fehlgeleitetem Geschmack< (»llevado de un ocioso y falso gusto«)36 fast alle Ritterromane zumindest zum Teil gelesen zu haben, so daß er sein Urteil aus eigener Anschauung formulieren kann. Minderwertig erscheinen ihm die >libros de caballerias< in zweifacher Hinsicht: Von den eigentlich wertvollen Fiktionen, die den Genuß mit Belehrung verbinden (»que deleitan y ensenan juntamente«), unterscheiden sie sich dadurch, daß sie die Wahrheitsdimension programmatisch abkoppeln und sich von der Intention her nur auf das Vergnügen beschränken (»que atienden solamente a deleitar«). Mehr aber noch: sie erreichen dieses sie schon als solches in seiner Begrenztheit disqualifizierende Ziel gar nicht. Ihre Inhalte sind standardisiert, so daß sie den Leser ermüden.37 Die Art ihres Gemachtseins verstoße gegen jene elementaren Regeln der Proportionierlichkeit, die Voraussetzung dafür sind, daß die Seele Vergnügen (>deleitecontentoentendimientofäbulas mentirosasdeleite< abhebenden Wirkungsintentionen. Auf der Ebene des Arrangements der erzählten Abenteuer erschienen die kritisierten Texte so disproportioniert, daß man vermuten möchte, sie seien eher >in der Absicht geschrieben, die Gestalt einer Schimäre oder eines Monsters< nachzubilden als die eines >wohlgeformten Körpersdurolascivoschädlich< (>perjudicialesunnütz< (>inütilaus einem christlichen Staatswesen verbannt zu werden^1. Der cura nun, der, wie aus dem Bücherverbrennungs-Kapitel bekannt, ein nicht weniger eifriger Leser von Ritteromanen ist als der canonigo, pflichtet diesem bei. Aber er erhebt gleichzeitig subtil Einrede gegen dessen Diatribe, indem er von dieser Bücherverbrennung berichtet,42 bei der er anhand rein ästhetischer Kriterien nach >guten< und >schlechten< Ritterromanen differenziert hatte. Die Position des cura läuft also darauf hinaus, daß es ein >ästhetisches< Genießen, welches sich selbst genügt und von jeder Wahrheits- oder Belehrungsdimension frei ist, durchaus geben kann.43 Der canonigo bietet sogleich

39 »Pues jque hermosura puede haber, ο que proporciön de partes con el todo y del todo con las partes, en un libro ο fäbula donde un mozo de diez y seis anos da una cuchillada a un gigante como una torre y le divide en dos mitades, como si fuera de alfenique [Zuckergebäck] [...]?« (Ebd., S. 548.) - Zumal in Ansehung der existierenden Forschungsliteratur, die die Frage des Bezugs von >originalem< Aristotelismus und rinascimental-barock-klassizistischem Neo-Aristotelismus erschöpfend erörtert hat (siehe auch bei Rico [Anm. 34], »Notas complementarias«, 547. 44; 548. 57), wollen wir hier nicht in diese Problematik einsteigen. Ein Wort nur zu den Positionen der Poetik (die, wie angedeutet, zu dem vom canonigo Vertretenen oft nur eine nomenklatorische Nähe aufweist): Das aristotelische Konzept des dichterischen Texts ist ungleich >diesseitiger< als das aller anderen hier diskutierten Autoritäten. Gleichwohl hat es mit jenen gemein, die Rezeption des (Wort-)Kunstwerks nicht schon im ästhetischen Genuß ihren finalen Punkt erreichen zu lassen. Was immer >katharsis< genau bedeuten mag und ob ihre Funktion eine individualpsychologische (gar physiotherapeutische) oder eine soziale ist, auch für Aristoteles gilt, daß das Wesen der >großen< Kunst, der >schönsten< bzw. >besten< (>kallisteDuro< ist Gegenbegriff zu >dulcehöheren< Interesses entkleidete fiktionale Text auch ästhetischen Genuß bereiten könnte.

11

12

JOACHIM KÜPPER

einen Kompromiß zwischen seiner und der offensichtlich toleranteren Position des cura an, einen Kompromiß indes, der in seiner Vordergründigkeit zeigt, daß er in der Selbstgewißheit, mit der er seinen Standpunkt vertritt, das vom cura angedeutete Argument44 überhaupt nicht wahrgenommen hat. Er relativiert seine pauschale Verdammung der Ritterromane, und zwar, indem er sie mit großzügiger Geste in sein Konzept der Fiktionen, die zugleich erfreuen und belehren,45 integriert: Da all diese Romane über die Historie handeln, seien sie geeignet, die Leser mit jenem Exempla-Wissen auszustatten, in dessen Ansehung ihnen das >Meistem< des eigenen Lebens, ja, der Aufstieg zum Status des >varon ilustre< gelingen könne46 — ein Argument, das schon für sich genommen recht abwegig ist, wenn man die gänzlich fabulöse Art der Modellierung der Historie in den Ritterromanen ansieht, vor allem aber mit dem Insistieren auf dem Aspekt der Nützlichkeit der Position des cura nicht Rechnung trägt: daß es durchaus nichtbelehrende Fiktionen gebe, die ästhetisches Vergnügen zu bereiten imstande sind. Die überaus höfliche Art, in der der cura seinen partiellen Dissens mit den Positionen des Höhergestellten kaschiert, bewegt diesen indes dazu, noch Weitergehendes darüber zu offenbaren, wie sehr er sich auf das von ihm Inkriminierte eingelassen hat: Er selbst habe einst begonnen, einen Ritterroman zu schreiben, jedoch einen solchen, der die von ihm umrissenen Regeln des ästhetisch >wertvollen< Texts respektiert47. Mehr als einhundert Seiten hatte er bereits geschrieben, doch dann habe er das Unternehmen abgebrochen. Denn in Betrachtung des Erfolgs-Genres der Zeit, der comedias, sei ihm bewußt geworden, daß das Publikum (»el vulgo«) nach Fiktionen verlange, die >voller Unsinn sind und weder Hand noch Fuß habend8, wohingegen die ästhetisch hochwertigen, den Forderungen von >arte< und >preceptos< genügenden, auf Proportionierlichkeit und damit die Idee des Schönen an sich49 referierenden Fiktionen allenfalls

4 4 Dieser repräsentiert den Typus des tendenziell eher nicht-angepaßten und deshalb weniger erfolgreichen Intellektuellen, welcher es sich fallweise gestattet, über die doxa hinauszudenken. 4 5 »Y siendo esto hecho [...] sin duda compondrä una tela [...] que [...] muestre, que consiga el fin mejor que se pretende en los escritos, que es ensenar y deleitar juntamente, conio ya tengo dicho.« (Cervantes [Anm. 34], S. 550.) 46 »Puede mostrar las astucias de Ulixes, la piedad de Eneas, la valentia de Aquiles, las desgracias de Hector, las traiciones de Sinön, la amistad de Eurialio, la liberalidad de Alejandro, el valor de Cesar, la clemencia y verdad de Trajano, la fidelidad de Zöpiro, la prudencia de Catön, y, finalmente, todas aquellas acciones que pueden hacer perfecto a un varon ilustre [...]« (ebd.). 47 »[...] guardando en el todos los puntos que he significado [...]« (ebd., S. 551). 4 8 »[...] disparates y cosas que no llevan pies ni cabeza« (ebd., S. 552). 49 Christlich hat man im Unterschied zum antiken (zumindest Platonischen) Verständnis diese (göttliche) Wohlgeordnetheit immer auch in der Schöpfung selbst als realisiert gesehen, u. a. in Anlehnung an den berühmten Vers Sap 11,21 »sed omnia in mensura, et numero et pondere disposuisti«. Sekundär entsteht natürlich eine Affinität zwischen

UTI UND FRUI BEI AUGUSTINUS

von >drei oder vier Vernünftigem gelesen würden. Und für eine solch begrenzte Leserschaft sei selbst ihm die Mühe zuviel gewesen. Mit anderen Worten: Die >hohe< Kunst, die zu einem geistigen Vergnügen führt, ist theoretisch ein ehrenwertes Unterfangen, in der Praxis aber läuft sie Gefahr, langweilig, allenfalls esoterisch zu geraten.50 Der >höherstehende< deleite, den zu vermitteln sie verspricht, ist möglicherweise gar kein solcher. Sublimation ist ein eher anstrengendes Unterfangen. Diese implizite Kapitulation des canonigo heißt jedoch nicht, daß die Position, die der cura vertritt und die sich zu der des canonigo in einem Verhältnis asymmetrischer Opposition befindet, sich damit bereits gewissermaßen automatisch ins Recht gesetzt sähe. Denn die Zurückhaltung, mit der der cura seine Meinung vorbringt, ist nicht nur Ausfluß jener Höflichkeit, die er dem Domherrn schuldet. Sie resultiert auch daraus, daß jener von moralischem Nutzen, regelhaften Vorstellungen des Schönen und allem nicht-sinnlichen Geisögen emanzipierte Wert, auf den der Pfarrer verweist, argumentativ so überaus schwer zu fassen ist, so schwer, daß wir bis heute dazu nicht in der Lage sind. So bleibt es dabei, daß die konservative Position des canonigo letztlich durch diesen selbst kompromittiert wird und die des cura sich mangels abstrakter Artikulationsfähigkeit auf die Dimension einer Beanspruchung begrenzt.51 Aber die zwei in der Kunst der Konversation geschulten Partner brechen an diesem Punkt nicht etwa den Dialog ab, sie reden weiter, wechseln über zu den comedias, und die reprobative Einigkeit, zu der canonigo und cura hier rasch finden, versetzt den Höhergestellten in eine so gute Stimmung, daß er Eßbares und Getränke bestellt und sich mit der Reisebekanntschaft zu einem gemeinsamen Mahl niederläßt, in dessen Verlauf er dann auch mit Quijote ins Gespräch

der pagan-antiken Vorstellung des Gegebenen als einer Menge von eidola und der biblischen Auffassung, insofern die ursprüngliche >gute< Schöpfung (Gen 1, passim) durch die Erbsünde geschädigt ist; christlich allerdings ist diese Schädigung nicht materiell, wohl aber spirituell durch den Opfertod des Gottessohnes rückgängig gemacht worden, unter den Vorbehalten, die Augustin herausgestellt hat. 50 Cervantes hat durchaus das Format zur Selbstkritik; unter den wenigen wertvollem, da regelkonformen comedias, die der canonigo kennt, läßt er diesen dann auch seine eigene Numancia erwähnen (Anm. 34, S. 553). Das zu Lebzeiten des Autors unveröffentlichte Stück wäre wohl auch im gegenteiligen Fall kaum in der Lage gewesen, etwas daran zu ändern, daß all dessen dramatische Versuche Mißerfolge geblieben sind. 51 Im Bücherverbrennungs-Kapitel waren die aus der eigentlichen Moderne bekannten ersatzweisen und allesamt problematischen Kriterien der Attribution von (postnormativ verstandenem) ästhetischem Wert bereits erwähnt worden: das Argument der Originalität, das des >guten Stilsgut< zu qualifizieren, ohne eine nähere Begründung zu geben; manches bleibt auch erhalten, weil der cura andere Bücher des betreffenden Verfassers schätzt oder aber diesen als gebildeten und höflichen Menschen beurteilt.

14

JOACHIM KÜPPER

kommt, was ihn in die Lage versetzt, seine Kritik an den Ritterromanen noch einmal zu wiederholen. Gegenüber dem >ingenioso hidalgo< hebt er dabei ganz auf den Aspekt des unwahrscheinlich Phantastischen ab, das er mit einer von vornherein abwertend intendierten Rhetorik apostrophiert (»aquella infinidad de Amadises, [...], tantas princesas enamoradas f···]«)52· Die Ritterromane, so der canonigo nochmals, seien unschön, weil sie gegen alles verstießen, was die Grundprinzipien der (geschaffenen) Natur53 einschließlich der menschlichen Vernunft (»entendimiento humano«)54 ausmache. Nur das >Volk< in seiner >Ignoranz< (»el vulgo ignorante«) revoltiere nicht gegen die Zumutung, dergleichen als >historianichtigen Lügen< für >Wahrheit< zu halten, sei nichts anderes als Ausweis ihrer Verwerflichkeit. Allerdings, so bekennt der canonigo jetzt auch gegenüber Quijote, empfinde auch er bei der Lektüre dieser Bücher zuweilen >ein gewisses Wohlgefallen (»algun contento«). Voraussetzung solchen Genusses jedoch sei, daß er sich dabei ganz den Phantasmata (>imaginacionpensarmens< die rechte Hierarchie der >potentiae< wiederherstelle, d. h. das Imaginierte dem >iudicium< der >ratio< unterwerfe, habe es mit dem Wohlgefallen ein Ende. Noch der beste der gemeinten Texte erscheine ihm dann augenblicklich als so minderwertig, daß er ihn ohne weiteres >gegen die Wand, ja ins Feuer werfen< würde.57 Wir begegnen also in des canonigo Einlassungen, umgesetzt auf das Feld des Ästhetischen, immer wieder jenen zwei Varianten des Genießens, die aus den Schriften des Kirchenvaters bekannt sind: einem Genießen, welches subjektiv durchaus ein solches ist, das sich jedoch darin als ein vordergründiges zu dekuvrieren scheint, daß es ein Genießen in >Ignoranz< der vornehmsten, da gotteben-

52 Usw. (Cervantes [Anm. 34], S. 562). »[...] por ser [...] fuera del trato que pide la comun naturaleza, y como a inventores de nuevas sectas [...]« (ebd.; der letzte, aus moderner Sicht vielleicht ein wenig änigmatische Halbsatz verweist auf das, was wir oben mit der Parenthese zu fassen suchen: >naturaleza< meint in dieser Zeit immer die gottgegebene Schöpfungsordnung, jene Einheit von >Ordnung< und >SchönheitWahrheit< anzuschreiben insofern nicht nur ästhetisch, sondern auch weltanschaulich [>sectasempresasjeglicher Vernunft und Uberlegungniederen< Genusses als des Genusses des vulgo. 60 Cervantes (Anm. 34), S. 565-567; die von Quijote vorgetragene »mezda [...] de verdades y mentiras« (S. 567), die wir hier nicht in extenso zitieren können, ist in ihrer Hybridisierung von Authentischem und Absurd-Phantastischem geradezu ein Paradigma des Komischen, letzteres verstanden im Sinne der Differenztheorie. 61 »[...] que tomo a decir que el que las negase careceria de toda razon y buen discurso« (ebd., S. 567).

15

JOACHIM KÜPPER

Merkwürdige gleichermaßen authentischen Status hätten. Quijote nun verfallt daraufhin in eine (gespielte?) Empörung: Wie könne der canonigo sich nur zu der »blasfemia« herbeilassen, als »mentira« zu qualifizieren, was mit der Druckerlaubnis des Königs und der Zustimmung der Zensoren verbreitet, was >mit Gefallen von jedermann gelesen und gepriesen werde, von jung und alt, arm und reich, von den Gebildeten und Ungebildeten, den Adligen und den Nicht-Adligeningeniösen< hidalgo gelungen, das Register zu wechseln, und zwar von der Legitimation durch Vernunft zu der durch Autorität.63 Unter dem Schutz dieses letzteren Arguments bricht er stillschweigend die in der bisherigen Diskussion theoretisch unbestrittene Junktion von verdad und deleite auf, um sich der Rechtfertigung eines um die >Wahrheit< ganz unbekümmerten Genusses (>gustodeleite0 du Ritter, wer du auch seist, der du diesen [...] See beschauest, wenn du den Schatz erlangen willst, der unter diesen schwarzen Wogen verborgen liegt, so zeige die Stärke deiner Brust und wirf dich mitten in diesen schwarzen [...] Pfuhl [...]aus einer christlichen Republik verbannt gehören^ dürfte riskant sein, und schließlich ist das Argument der communis opinio nicht ohne Gewicht: Wenn in der Tat alle Menschen (in diesem Kontext: alle Gläubigen) die Ritterromane mit >deleite< lesen (was der canonigo indirekt zugesteht, indem er sich selbst als unermüdlichen Leser von Ritterromanen bekennt), ist es nicht ganz leicht, weiterhin zu vertreten, sie seien eine Art Teufelszeug. 62 63

UTI UND FRUI BEI AUGUSTINUS

Mauern von geschlagenem Golde sind, die Zinnen von Diamanten [...] und [...] was kann man Herrlicheres erblicken, als wenn aus den Toren des Kastells ein Zug von Jungfrauen herauskommt, deren glänzenden und prachtvollen Anzug ich nie genug schildern könnte [...]? Diejenige, die die vornehmste von allen scheint, nimmt den kühnen Ritter sogleich bei der Hand [...] und fuhrt ihn, ohne ein Wort zu sprechen, in das köstliche Schloß oder Kastell hinein. Hier läßt sie ihn ganz entkleiden, daß er so nackt ist, wie ihn seine Mutter geboren, mit lauem Wasser baden und mit schön duftenden Ölen salben; dann wird er mit einem Hemd vom feinsten Zindel bekleidet [...], alsbald erscheint eine zweite Jungfrau und hängt ihm einen Mantel um die Schultern, der wohl eine Stade und noch mehr wert ist. Wie herrlich ist es, wenn uns nun erzählt wird, daß man ihn in einen anderen Saal fuhrt, wo er den Tisch mit solcher Pracht gedeckt findet, daß er in Erstaunen gerät? [usw.] Ich will hierüber nicht weitläufiger sein, denn hieraus kann man schon abnehmen, daß alles, was in der Geschichte eines solchen irrenden Ritters vorkommt, jedem, der es liest, großes Entzücken (gusto] [...] erregt.«64 Wir haben nicht zuletzt deshalb so ausfuhrlich zitiert, weil der Text jede ausführliche Interpretation überflüssig macht.65 Was soziale Stellung, Tapferkeit und den mit beiden Merkmalen verbundenen Zugang zu Reichtum und Sex angeht, ist der >Held< des von Quijote improvisierten Stücks Ritterroman das exakte Gegenparadigma des realen Quijote. Der >gusto< bzw. >deleiteHöheres< unbekümmerten Genießens zugrunde liegt, mit derjenigen Vorstellung vom Menschen nur schwerlich harmonisierbar scheint, wie sie aus der christlichen Tradition hervorgegangen ist und auch in späteren, säkularisierten Zeiten bis hin in die unmittelbare Vergangenheit der späten sechziger Jahre das Denken in unserer Kultur fast unangefochten bestimmte. Ein >guter< Mensch wird man, laut Quijote, nicht, indem man seine Wünsche nach Macht, Reichtum und Lust vermittels der Ratio kontrolliert, sondern indem man sich einen zumindest imaginären Raum schafft, in dem man sie ungehemmt ausleben kann. Das Genießen macht den Menschen soziabler, und diese Freundlichkeit wird ihm von den anderen entsprechend entgolten. Der Genießende ist das positive Gegenparadigma zum rational Kontrollierten, der implizit bereits als ein >Frustrierter< im Sinne der Kulturrevolution des späten 20. Jahrhunderts begriffen ist. Vom postmodernen Massen-Hedonismus wird das hier entworfene Konzept allerdings dadurch getrennt, daß die Gratifikation des narzißtischen Begehrens allein in der Phantasie statthat.68 Freilich hieße es die Absicht des Texts verkennen, wenn man Quijote und dessen Positionen als vom Autor propagierte Identifikationsmuster schlechthin begriffe. So sehr das entsprechende Konzept als ein ernstzunehmendes und erwägenswertes gedacht ist, so sehr verweist doch die Figur, der es in den Mund gelegt ist, auf die ihm inhärente Problematik.69 Quijote sieht hier wie anderweitig nicht, was es ist, das ihn in die Fiktionen flüchten läßt: seine in der Tat miserable reale Existenz, die weder seinen Wünschen nach Geltung noch nach sinnlichem Erleben auch nur die geringste Erfüllung gewährt. Die Intensität, ja Inbrunst, mit

67 Ohne dies in unsere Erörterung einbeziehen zu wollen, sei nur an die entsprechenden Positionen der eindrucksvollsten Ästhetik des Hochmodernismus erinnert, der von Theodor W. Adorno. 68 Der Text als ganzes ist eben der Problematik gewidmet, die ein solches Konzept in sich birgt. Es ist offensichtlich höchst schwierig, dieses Verlangen nach Gratifikation auf die Domäne des Imaginären zu begrenzen. Tut man dies konsequent, ist die Gratifikation möglicherweise keine solche. Es handelt sich dann um ein modal variiertes Konzept der (rigorosen) Triebkontrolle, und es entfallen die von Quijote gerühmten positiven Konsequenzen der Gratifikation. Hält man die Domänen von Phantasie und Realität nicht distinkt, endet man letztlich wie Quijote (oder Emma Bovary), jenseits der >Realitätendienendereferierende< Funktion hat. Das eigentliche Interesse des Texts ist die Erörterung jener abstrakten, zuweilen ästhetiktheoretischen, zuweilen moralphilosophischen Fragen, von denen wir hier eine herausgreifen.

UTI UND FRUI BEI AUGUSTINUS der er den nicht zu Höherem transzendierenden Genuß preist, verweist auf die Kläglichkeit seines tatsächlichen Lebens. Quijote indes erkennt die >Wahrheitfrui< des Phantasmatischen würde dann wieder durch ein Erkennen überlagert, im Hinblick auf welches das Eintauchen in die imaginären Welten der Fiktionen nur >referierenden< Charakter hätte. Als Genießender ist Quijote eine naive, ja, eine tendenziell lächerliche und sogar in gewisser Hinsicht tragische Figur. Der sympathische, aber auch ohne Zweifel ein wenig absonderliche >Ritter< bleibt - ungeachtet seiner Feinsinnigkeit und Freundlichkeit - unterhalb des Niveaus menschlicher Möglichkeiten. Und damit ist die Frage gestellt, ob, was sich in Quijotes Lob der kulinarischen Dimension der Fiktionen zunächst so entschlossen ankündigte: die Vindizierung eines Eigenrechts des non-sublimativen Genusses, nicht letztlich doch auf eine Sackgasse verweist.70 Es bleibt anzufügen, daß in der Diatribe des canönigo de Toledo gegen die von Quijote gepriesenen Ritterromane ein Aspekt zutage tritt, der in Augustins abstrakter Erörterung der Problematik noch nicht enthalten war bzw. sein konnte, aber die Frage der zwei Arten des Genießens für die hier diskutierten Gegenstände verschärft: Die Kunst ist ein >poieinfalschen< Gebrauch zu etwas Problematischem werden kann. Das künsderisch Geschaffene muß nicht, kann aber seinerseits bereits Produkt einer >fehlintentionierten< Indienstnahme des natürlich Geschaffenen sein. Es existieren >poetische< Artefakte, die im Unterschied zu den vom Deus Artifex geschaffenen als solche fragwürdig sind, und zwar, weil sie von ihrer Struktur her dem Aneignenden gar keine andere Attitüde ermöglichen als jenes >abusive< Vergnügen, dem der Mensch in Aneignung des natürlich Erschaffenen nur dann verfällt, wenn sein eigener Wille dies will. Im Bereich der >poiesisfalsche< Genießen von Artefakten, die nicht schon für sich Ausdruck eines gewissermaßen fehlintentionierten (künsderischen) Wollens sind, sondern im Prinzip eine Aneignung ermöglichen, bei der der ästhetische Genuß ein >uti< ist, welches auf das >frui< des jenseits der Aisthesis Liegenden zielt. Und es gibt als

70 Für Cervantes, in dessen Text alle dort inszenierten Probleme in der Schwebe bleiben, d. h. der weiteren Reflexion des Lesers anheimgegeben werden, heißt dies allerdings keineswegs, daß nun die vom canönigo vertretene Gegenposition im Recht wäre.

JOACHIM K Ü P P E R

zweite Abteilung der >poiesis< Artefakte, die von ihrem Konzept her von vornherein auf jenes >falsche< Genießen abheben, welches im vordergründig NichtGeistigen verharrt. Kurz: es gibt eine banalisierende, kulinarische Rezeption solcher Literatur, die im Prinzip das >wahre< Genießen zu ermöglichen beabsichtigt und zu gewährleisten imstande ist, und es gibt rein >kulinarische< Literatur, welch letztere wir gemeinhin >trivial< nennen. Für beide Varianten gilt aus Sicht des canonigo 71 was schon Augustinus abstrakt sagte: das Genießen, das sie gewähren, ist kein >wahres< Genießen, es ist nur eine Illusion von frui. Hier liegt denn auch aus Sicht der Theologie die ganze Problematik der Kunst, nicht etwa in der Rivalität zwischen den Gipfelprodukten des menschlich Geschaffenen und dem göttlich Erschaffenen. Noch das am meisten perfekte und schönste Künstlerische ist christlich gesehen als von einem Geschaffenen Geschaffenes immer nur ein weiterer Erweis der Herrlichkeit von Gottes Schöpfiingswerk selbst. Die Problematik der Kunst ist es, dem Geschaffenen Objekte hinzufugen zu können, die in der ursprünglichen Schöpfungsordnung nicht vorgesehen sind, darunter auch solche, die dem Willen nicht die freie Entscheidung zwischen >rechter< und >falscher< Aneignung lassen, sondern ihn unvermeidlich auf den falschen Weg, den des narzißtischen Selbstgenusses, nötigen und die man auf diese Weise nur >recht< aneignen kann, indem man sie nicht aneignet. — Für den Protestanten ist dieses Meiden aller >trivialen< oder >Konsumvorklassischen< Jahrzehnten viele Trinklieder auf Details orgastischer Aufnahme (und sogar Ausscheidung) von Speisen und Getränken; und nicht weniger häufig thematisieren sie, mit zahlreichen Anspielungen auf antike Mythologie und Geschichte, den Genuß von Wein und Liebe — sei es als Konkurrenzverhältnis, das zur Dienstaufkündigung an Amor fuhrt, sei es als förderliches Miteinander. Nach alledem ist nicht eben erstaunlich, wenn in Molieres Bourgeois Gentilhomme IV,1 - neben dem Tanz - gerade der Air a boire erscheint als integraler Bestandteil aristokratischen Lebensstils. Nichts könnte wohl augenfälliger machen als diese über eineinhalb Jahrhunderte hin ungemein beliebten Chansontypen,18 wie falsch das gängige sozialhistorische Doppelschema ist, das der Literatur der >kleinen Leute< vergangener Zeiten pauschal den Aktualisierungsmodus der Oralität zuweist, den sozialen Eliten Schriftlichkeit und Lektüre. Interessanter in unserer Perspektive aber ist ein anderes Phänomen: Zwar blieben einige der hergebrachten Gattungsnamen, die Verbindungen zu raffinierten Gaumengenüssen knüpfen, bis in die Jetztzeit gebräuchlich.19 Doch Versuche von Neuentlehnungen aus der kulinarischen Sphäre kamen offenbar nach Ende des Ancien Regime nicht mehr vor. Dies scheint schlecht zu der Tatsache zu passen, daß man in Frankreich gerade seit dem 19. Jahrhundert bemüht war, die nationale Küche zu feiern als besondere kulturelle Errungenschaft, ja ihr Kunstrang zu verleihen. Wenn die Faszinationskraft kulinarischer Titel und Metaphern im literarischen Gattungssystem dennoch so auffällig nachließ, mag dies mancherlei Gründe haben. Eine jener Ursachen könnte darin liegen, daß primär auf den >Wohlgeschmack< von Texten gerichtete Erwartungen stark bestimmt waren von einer definitiv untergegangenen adligmondänen Welt, und daß die inzwischen dominierende >bürgerliche< Weltsicht in Literaturbetrieb, Bildungssystem und Wissenschaft an literarischen Produkten vor allem Nützlichkeit honorierte. Wie weit für die Gegenwart Schlankheitsfetischismus, eine durch perfektionierte Produktions-, Transport- und Konservierungsmethoden weitgehend garantierte Übersättigung französischer Gaumen zusätzlich beiträgt zur Chancenlosigkeit einschlägiger Gattungskonzepte, mag dahingestellt bleiben. Kommen wir statt dessen nochmals kurz zurück zum sozialen Ort jener Texttypen, die nach Blüten oder Blumenarrangements benannt wurden. Auch von ihnen besaßen manche lange eine unverkennbar aristokratische Aura. So die meist Damen gewidmete guirlande oder das bouquet, beides Produkte spielerisch verfeinerter Geselligkeit. Die nicht zufällig im Mercure de France so zahlreichen

18 Allein die Verlegerdynastie Ballard brachte so ab 1628 für ein halbes Jahrhundert einen Sammelband von Tanz- und Trinkliedern pro Jahr heraus und verkürzte gegen Ende des 17. Jahrhunderts und im 18. Jahrhundert den Erscheinungsrhythmus auf drei Bände jährlich. 19 Etwa farce, pot-pourri, toast.

FRITZ NIES

Vets-Bouquets, deren Blütezeit mit dem zweiten Drittel des 17. Jahrhunderts begann und in der Großen Revolution abbrach, waren ebenfalls meist an eine Dame, gelegentlich an einen Herrn der besseren Gesellschaft (bis hinauf zu König und Königin) adressiert — aus Anlaß ihres Namenstags, später auch der Überreichung eines kleinen Geschenks: künstlicher oder natürlicher Blumen, Briefpapier, Handarbeitsmaterial, Kaffee. Doch die Anfänge einer Gattungstradition gehörten in beiden Fällen offenbar in den religiösen Bereich. Dies signalisieren Titel wie Guirlande de dous^e estoiles, autrement dit chapelet ä dou^e ave (1629), die Etikettierung gewisser Anthologien von »chansons spirituelles« als bouquet (ab 1627) und vor allem die Herausbildung des Sub-Genres bouquet spiritue I. In Titel-Funktion tauchte diese Benennung erstmals auf im Bouquet spirituel et poetique, compose de diverses roses et fleurs differentes, cueillies au beau jardin des Escritures Sainctes et des histoires sacrees des Pfarrers Jean Rosier von 1613. Als späteres Titelbeispiel erwähnt sei das Bouquet spirituel de la Keine, compose de pensees morales et chretiennes, exprimees en vers jranfois seines Standesgenossen Du Boumeuf von 1672. Noch 1752 sollten die Jesuiten von Trevoux in ihrem Dictionnaire Uni verse l die Zweckbestimmung des Genres wie folgt evozieren: »Les Spirituels disent qu'il faut toüjours ä la fin de l'oraison se faire un bouquet spirituel; qu'il faut de temps en temps pendant le jour flairer le bouquet spirituel, c'est-a-dire, se rappeler ce mot, cette pensee [...].« Dieser explizite Bezug der von einschlägig benannten Texten ausgelösten Wirkungen auf olfaktorische Genüsse, wie man sie Blüten verdankt, steht keineswegs allein. Immer wieder wurden »suave odeur« oder »apres senteurs«, der frische oder berückende Duft eines »faisceau odorant« von »corolles« beschworen. Und ebenso häufig sind Hinweise auf die durch Blumen ausgelösten visuellen Genüsse, ihre »vives couleurs«, ihre Helligkeit und Leuchtkraft, den Abwechslungsreichtum ihrer Gruppierungen. Nicht selten evozierte man in Texten beider Genres einzelne Blumenarten, so die in christlicher Symboltradition seit je viel benutzten Lilien, Rosen und Hyazinthen. Eine besondere Rolle fiel mehrfach dem »bouquet de pensees« zu, da es Anthologie-Herausgebern die willkommene Möglichkeit bot, mit der doppelten Wortbedeutung »viola tricolor« und »courte reflexion ayant un sens profond et exprime sous forme litteraire« zu spielen. Als Herkunftsorte der Gebinde von Lese-Blüten wurden überwiegend, durch drei Jahrhunderte hin, wohlkultivierte Ziergärten und ihr »parterre« benannt: »Iardin des Muses« oder »Iardin plante de la main de Dieu« und »parterre de l'Eglise«. Solch religiöse Konnotationen beim Gebrauch der Garten-Metapher kamen, wie sich bereits mehrfach andeutete, nicht von ungefähr. Denn soweit sich soziobiographische Daten erschließen lassen für Autoren von Texttypen, deren Namen sich Blüten-Bildern verdankt, fällt unter ihnen ein hoher Anteil von katholi-

G E N U S S V E R H E I S S U N G IN F R A N Z Ö S I S C H E N G A T T U N G S N A M E N

sehen Welt- und Ordensgeistlichen (im 17. Jahrhundert mehrfach Jesuiten) ins Auge.20 So scheint es, als habe gerade die katholische Kirche sich der Blütenmetaphorik gerne bedient, um die Botschaft bestimmter Texttypen durch Vorstellungen analoger Sinnengenüsse attraktiver zu machen. Galt doch gerade katholischer Tradition seit je in besonderem Maße die sinnenhafte Welt als Abglanz der übersinnlichen und als Verweis auf diese, und sinnlicher Schönheit wurde so in ihrem Denken und ihrer religiösen Praxis breiter Raum gegeben. Insofern mag es wenig verwundern, wenn eine tiefer als die unsere in katholischer Kulturtradition wurzelnde Nationalliteratur aus der Blumenmotivik hervorgegangene Genres entwickelte, pflegte, ausdifferenzierte und in deren Einzeltexten unterschiedliche Aspekte jener Motivik ausgestaltete. Wieweit sich die kirchlichen Duft-, Farbenund Formenbotschaften an den verwöhnten Sinneshaushalt sozialer Eliten richteten oder auch die — bis zur Industrialisierungsphase der letzten Jahrhunderte in ihrer überwältigenden Mehrheit ländliche — Bevölkerung der >petites gens< ansprechen wollten und konnten, bliebe zu überprüfen. Dürften jene Landleute doch bestenfalls einen Nutzgarten besessen haben, in dem für Blumenzier kein Raum blieb. Die Blüten auf Feld und Hur wiederum waren ihnen selbstverständlicher Bestandteil eines harten Arbeitsalltags, wohl kaum mehr wahrgenommen als Augenweide und Duftquelle, vielmehr dazu bestimmt, vom Vieh abgeweidet zu werden oder zur Frucht heranzureifen, um dann als Nahrung zu dienen. Natürlich läßt sich in Frankreich, ungeachtet der Spärlichkeit schriftlicher Quellen über die fast ausschließlich oral tradierte Literatur kaum alphabetisierter Gesellschaftsgruppen, schon während des Ancien Regime eine Reihe von Genres nachweisen, die durch ihren Namen Heiterkeit und unbeschwerten Genuß versprachen und dennoch in ihrem Wirkungsradius keineswegs auf soziale Eliten beschränkt blieben. Zu ihnen gehörte im 17. und 18. Jahrhundert vor allem eine Reihe von Spottliedtypen. So die schon erwähnten Lampons, deren Namen ursprünglich eine Aufforderung zum gemeinsamen Trinken gewesen sein dürfte und die Laster und Schwächen der in Staat und Gesellschaft Mächtigen lächerlich machten; oder die ebenfalls schon genannten Gueridons, in deren Scherzen sich gleichermaßen Aggressionen der Machdosen gegen die Machthaber enduden und deren bevorzugter Lebensraum jene Pariser Jahrmärkte (wie die Foire Saint-Germain) waren, die alle Schichten vom »peuple« bis hinauf zum König anzulocken pflegten. Hier ein Textbeispiel für den erstgenannten Liedtyp: »Richelieu, dans les enfers ... Favori de Lucifer ... Est dans ces lieux, comme en France;

Zu Belegen zum vorstehenden Abschnitt über Genres, deren Namen die Blütenmotivik nutzt, vgl. Fritz Nies, De guirlande en guirlande, de Julie ä Uli. Gattungsbildende Blüten und Stärkungsmittel ä la frar^aise, in: H. Hudde/U. Schöning (Hrsg.), Literatur Geschichte und Verstehen, Heidelberg 1997. 20

51

FRITZ NIES

On le traite d'Eminence. Lampons, lampons, Camarades, lampons.« Derart demonstrierten also ganze Genres, daß sich unbeschwerter Genuß geistreicher Scherztexte, gemeinsames Singen und Trinken einerseits, eine »aktive Rolle« jener Texte »in den sozialen Kämpfen«21 andererseits keineswegs ausschlossen. Ganz wie solche Liedtypen früherer Epochen erreichten etwa auch Barcarolles oder die Gaudrioles der Julimonarchie und des Second Empire ein halbalphabetisiertes Publikum aus den Kellergeschossen der Sozialhierarchie. Gaudrioles wurden, meist ohne Verfasserangabe, in wohlfeilen kleinformatigen Sammelheftchen gedruckt und von Volkssängem verbreitet. Und während die >Hochliteratur< dieser Zeit erstickter Revolutionen, enttäuschter Hoffhungen, weitverbreiteter Resignation schwankte zwischen Weltschmerz, Trübsinn, Gedrücktheit und Fluchtbewegungen, waren die Gaudrioles, einmal mehr lockerpikante Trink- und Liebeslieder, geprägt von gelöster Heiterkeit, unbeschwertem Spott, überschäumender Lebensfreude. Sie erneuerten Gattungstraditionen älterer Chansontypen durch einen oft demonstrativ niederen Sprachstil und zeitgemäße Elemente, so neue Brennpunkte der >vie populaire< als Szenerie und ein volkstümliches Personal von Grisetten, Rekruten usf. - kurz: sie boten eine genußvolle Vertextung der Lebenswelt ihrer Hauptzielgruppen.22 Sache der Germanistik wäre es nun, die deutschsprachige Literatur zu sichten auf ihren Bestand an Gattungsnamen hin, die ebenfalls eine Genußverheißung enthalten. Bis zum Beweis des Gegenteils liegt aus romanistischer Sicht der Verdacht nahe, solche Bezeichnungen seien zwar auch hierzulande vorhanden,23 aber doch weit seltener als in unserer großen Nachbarliteratur. Dem scheint zu entsprechen, daß gerade in unserem Kulturraum Literaturrichter und Ästhetiker marxistischer wie nicht-marxistischer Provenienz den Qualifikativ >kulinansch< gerne als Schimpfwort für literarisch Minderwertiges verwenden und genußorientierte Genres im Grunde ihres progressiv-erzieherischen Herzens für unsittlich halten. Pflegen sie doch vom »echten Kunstwerk« zu fordern, es habe vor allem Protest gegen eine noch unvollkommene Wirklichkeit zu sein,24 emanzipatori-

21 Naumann, Gesellschaft - Literatur - Lesen (Anm. 1), S. 29. - Mehr zu den vorstehenden Liedtypen siehe Fritz Nies, Kulinarische Negativität. Gattungsstrukturen des Chanson im Vaudeville-Bereich, in: Erich Köhler (Hrsg.), Sprachen der Lyrik. Festschrift für Hugo Friedrich, Frankfurt/M. 1975. 22 Beispiele und Belege zur gaudriole siehe Nies, Im »Meer« der bagatelles und petits

vers (Anm. 15), S. 511 f.

Das gilt natürlich vor allem für Appellative wie Wiegenlied, Trinklied, Tanzlied. Nach Lev Trockij; vgl. zu alledem auch die Verweise auf Harald Weinrich, Hans Robert Jauß und Hans Jörg Neuschäfer in: Nies, De guirlande (Anm. 20), S. 626, und Nies, Kulinarische Negativität (Anm. 21), S. 626 und Anm. 79, 80. 23 24

G E N U S S V E R H E I S S U N G IN F R A N Z Ö S I S C H E N G A T T U N G S N A M E N

sehe Qualitäten zu besitzen und den kategorischen Imperativ zu verwirklichen: »Du sollst die bestehenden Verhältnisse, die du abbildest, nicht gelten lassen!« Dies trifft zwar, wie wir gesehen haben, durchaus auch auf einige der vorgestellten französischen Genres zu. Und dennoch: Sind wir hier womöglich einer (gewiß nicht ethnisch im Sinn einstiger >Wesensschaumoralischer Anstalt< verbreiteter sein? Melden sich sauertöpfische Berufspropheten alter und neuer Vertröstungsreligionen lauter zu Wort, die literarisches einzig als Vehikel mühsam-asketischer Andachtsübungen oder eines verbissenen Kampfes um ferne Paradiese gelten lassen, die Legitimität des Genießens dagegen wenn nicht mehr auf ein Leben nach dem Tode, so auf künftige Idealgesellschaften vertagen möchten? Für die genußvoll-streitbaren Spottliedtypen meiner Skizze jedenfalls würde ein solcher Befund sich decken mit der Sicht eines deutschen Beobachters wie Friedrich Engels einerseits, der nationalen Selbstdeutung vieler namhafter französischer Gewährsleute vom 17. Jahrhundert bis hin zu Vernillat andererseits. Nannte Engels als Paradebeispiele Voltaire und Beranger, »der mit demselben französischen Charakter alles in ein Chanson bringt«,25 versicherte Vernillat anläßlich der chanson bachique: »L'epicurisme convient tout particulierement aux Fransais«26. Die kritische Überprüfung von derlei Affirmationen wie meiner eigenen, in ihrer Allgemeinheit höchst gewagten Schlußfolgerungen möchte ich mir für die nächsten Jahre wünschen: als erkenntnisfördemd-genußvolles amusement und divertissement, als recreation eines Jubilars von jener Weite des Horizonts, wie sie Manfred Naumann stets eigen war. Hoffentlich fand er mein Geburtstags-Bo«^«?/ nicht dermaßen dürftig, daß er es schon beiseite gelegt hatte, bevor er auf diesen Wunsch stoßen konnte.

25 Friedrich Engels, Modernes Literaturleben. II. Moderne Polemik (1840), in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Ergänzungsbd. Zweiter Teil, Berlin 1967, S. 47. 26 France Vernillat, Formes et genres de la chanson franfaise, in: Vie et langage, decembre 1972, S. 669. - Hinweise auf weitere Äußerungen zur Affinität zwischen Chanson und Nationalcharakter in: Nies, Kulinarische Negativität (Anm. 21), Anm. 3.

53

D I E T E R KLICHE

»Ich glaube selbst Engel können nicht ohne Sinnlichkeit sein« Über einen Fund aus der Frühgeschichte der Ästhetik im Werner-Krauss-Archiv I. Der Fund In der Potsdamer Villa Siemens, die das Forschungszentrum für Europäische Aufklärung beherbergt und in der unterm Dach das Krauss-Archiv Heimstatt gefunden hat, gibt es eine Mappe, von Krauss handschriftlich mit >Ästhetik< betitelt, die u. a. eine mehrseitige maschinenschriftliche Abschrift enthält. Am Schluß der vier engbeschriebenen Blätter ist die Quelle angegeben: »Philosophische Brieffe von Aletheophilus, 1741, Seite 109-112«; am Kopf des Typoskripts der handschriftliche Vermerk von Werner Krauss: »Baumgarten. Aesthetik.« Die Identifizierung ist somit eindeutig. Es handelt sich um eine Abschrift aus Alexander Gottlieb Baumgartens Philosophischen Brieffen, die dieser 1741 unter dem Pseudonym Aletheophilus (der Weisheitsfreund) herausgebracht hatte. Zu dieser Zeit lehrte Baumgarten schon nicht mehr an der Hallenser Universität, sondern an der Frankfurter Viadrina, wohin er 1740 berufen worden war. In Frankfurt an der Oder veröffentlichte er dann auch 1750 den 1. Band seiner Aesthetica, 1758 den 2. Band. Soweit so gut, und soweit auch bekannt. Der Fund aber besteht darin, daß die Baumgartenforschung1 diesen Text, der sich in Abschrift im Krauss-Archiv fand, nicht kennt. Die zugänglichen Druckfassungen der Philosophischen Brieffe von Aletheophilus, Frankfurth und Leipzig 1741 (ein Verleger bzw. Verlag wird nicht genannt) gehen nur bis Druckseite 108. Das 26. Stück (mehrere Einzelbriefe werden jeweils zu >Stücken< zusammengefaßt) hat die Überschrift »Beschluß der Blätter« und endet mit dem 33. Brief auf Seite 108. Die von oder für Krauss gemachte Abschrift aber stammt aus dem 27. Stück, 36. Schreiben, Seiten 109 bis 112 und trägt die Überschrift »Von der Aesthetik nach Hamburg«.

1 Vgl. zuletzt und die bisherige Baumgartenforschung zusammenfassend diskutierend die Arbeit von Egbert Witte, Logik ohne Dornen. Die Rezeption von A. G. Baumgartens Ästhetik im Spannungsfeld von logischem Begriff und ästhetischer Anschauung, Hildesheim - Zürich - New York 2000, bes. S. 1 3 - 7 3 ; Steffen W. Groß, Felix Aestheticus. Die Ästhetik als Lehre vom Menschen, Würzburg 2001.

»... SELBST ENGEL KÖNNEN NICHT OHNE SINNLICHKEIT SEIN«

Daß es diese erweiterte Fassung gegeben haben muß, wird neben dem Fund im Krauss-Archiv auch durch Baumgartens Hallenser Schüler und Popularisator Georg Friedrich Meier bestätigt. Erster Beleg: Meier verteidigt 1746 in einer eigens verfaßten Schrift Baumgartens Ästhetik-Ansatz gegen die Diatriben der Gottsched-Schule, erklärt dort die Grundsätze einer »sinnlichen Rede« und kommt in diesem Zusammenhang auch auf die Philosophischen Brieffe: »Man kan hiebey vergleichen das 2. 36. 37. und sonderlich das 11. Schreiben, von den philosophischen Briefen, die vor einiger Zeit unter dem Namen des Aletheophilus, heraus gekommen.«2 Zweiter Beleg: In der Einleitung der Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften (1748), das ist die >Ausschreibung< der Baumgartenschen Ästhetik anhand der Vorlesungskonzepte, die Baumgarten seinem Nachfolger im Hallenser Lehramt überlassen hatte, kommt Meier, der sich nicht mit fremden Federn schmücken möchte, schon gar nicht mit denen seines Meisters, auf die Vorgeschichte der Ästhetik und ihren Gründer: »Der Erfinder der Aesthetick ist Herr Alexander Gottlieb Baumgarten, Professor der Weltweisheit zu Franckfurth an der Oder. Er hat derselben zuerst in seiner akademischen Streitschrift, die er im Jahre 1735 hier in Halle de nonnullis ad poeme pertinentibus3 gehalten, Meldung gethan. In dem 115, 116 und 117 Absätze dieser vortrefflichen Schrift, hat er überhaupt seine Gedanken von dieser Wissenschaft eröfnet. Wem es gefällig ist, eine weitere Ausführung davon zu lesen, der kann den 2, 36 und 37 philosophischen Brief, die unter dem Namen Aletheophilus vor einiger Zeit alhier in Halle heraus gekommen, nachschlagen.«4 Durch Meier wissen wir also zusätzlich zum Fund im Krauss-Archiv, daß die erweiterte Fassung der Philosophischen Brieffe in Halle (nicht in Frankfurt an der Oder und Leipzig) herausgekommen ist und daß in dem 27. Stück mindestens vier weitere Briefe enthalten sein müßten, die Briefe 34, 35, 36 und 37. Es bleibt aber unklar, weshalb der 36. Brief in der Paginierung mit S. 109ff. unmittelbar anschließt. Setzt die erweiterte Druckfassung unmittelbar mit dem 36. Brief ein, und gibt es die Briefe 34 und 35 gar nicht? Wo ist die erweiterte Druckfassung von der die Baumgarten- und Ästhetikgeschichtsforschung nichts mehr weiß? Welche Bibliothek oder welcher Spezialist kann da weiterhelfen? Krauss jeden-

2 Georg Friedrich Meier, Vertheidigung der Baumgartischen Erklärung eines Gedichts wider das 5 Stück des I Bandes des neuen Büchersaals der schönen Wissenschaften und freyen Künste, Halle 1746, S. 7. 3 Es handelt sich um Baumgartens lateinisch geschriebene Dissertation, die er 1735

unter dem Titel Meditationes philosophicae de nonnullis ad potma pertinentibus verteidigt

hat, vgl. die lat./dt. Ausgabe von H. Paetzold, Hamburg 1983. 4 Georg Friedrich Meier, Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften, Bd. 1, Halle 2 1754, S. 10.

DIETER KLICHE

falls muß gewußt haben, welches Rarum er in Händen hielt — wozu sonst die lange Abschrift. Der 36. Brief wird hier in voller Länge abgedruckt, auch in der Hoffnung, daß seine Veröffentlichung der bibliothekarischen Recherche nach der erweiterten Druckfassung der Philosophischen Brieffe Impuls gibt.

II. Der Brief [Typoskript. Handschrift Werner Krauss' im Kopf: »Baumgarten Aesthetik«]5 XXVII. Stück 36. Schreiben. Von der Aesthetik nach Hamburg Hochedelgebohrner u.s.w. Ε. H. Scheint der Name der Aesthetik nicht nur fremd und ungewöhnlich, sondern auch seine Bedeutung zu denen Dingen zu zählen, die ohne Not den Kreis derer Wissenschaften vermehren. Ich habe zwar von dieser Wissenschaft schon im 2. Schreiben dieser Briefe eine Erklärung gegeben und den Anfang gemacht das anzuführen, wovon sie zu handeln hätte. Weil ich aber damals nur einiger geschriebenen Blätter Inhalt erzählete, derer Verfasser mir erst nachher bekannter geworden, so habe [ich] mich bei ihrer Beschreibung nicht lange aufgehalten. Nunmehr da ich ihrem Vorschlage selbst weiter nachgedacht, sie auch so weit beliebt worden, daß sie auf einer berühmten deutschen Akademie in ordentlichen Lesestunden mit erwünschten Fortgang vorgetragen wird,6 so nehme [ich] mir die Freiheit Ihnen nach meiner Einsicht etwas weidäufiger anzuzeigen, was man mit ihr denn eigentlich haben wolle. Ein jeder, der der griechischen Sprache auch nur mäßig kundig ist, siehet leicht, daß sie ihren Namen von dem bekannten Worte derer Griechen entliehen, welches sowohl das, so durch die Sinnen und überhaupt sinnlich erkannt wird, als auch den, der dergleichen Erkenntnis hat, zu bezeichnen pflegte. Wie also die Wissenschaft von dem Erkenntnis des

5 Im Typoskript gibt es viele Abschreibfehler, ausgelassene Buchstaben, Buchstabenverdrehungen usw. Wo immer es sich um ganz offensichtliche Fehler handelt, ist stillschweigend berichtigt worden. In allen Fällen, wo diese Klarheit nicht eindeutig herrscht, ist die Schreibung des Typoskripts übernommen worden. 6 Baumgarten meint mit großer Wahrscheinlichkeit die Hallenser Universität. Hier soll Baumgarten bereits im Jahre 1737 die erste Vorlesung zur Ästhetik gehalten haben (vgl. Carl Günther Ludovici, Neueste Merkwürdigkeiten der Leibnitz-Wolffischen Weltweisheit, Frankfurt/O. - Leipzig 1738, S. 360). Es ist aber auch möglich, daß Baumgarten die Frankfurter Viadrina meint. Als er 1740 dort die Professur fur Philosophie übernahm, kündigte er in der Antrittsvorlesung an, er werde »die Historie der Philosophie, eine Einleitung in ihre Theile, und allgemeine Gesetze der Aesthetik, Rhetorik, Poetik und Hermeneutik« lesen (vgl. Baumgarten, Gedancken vom vernünfftigen Beyfall auf Academien [1740], Halle 1741, S. 36). Er hält allerdings erst 1742 die erste Ästhetik-Vorlesung an der

»... SELBST ENGEL KÖNNEN NICHT OHNE SINNLICHKEIT SEIN« Verstandes und der Vernunft von dieser letztern schon vor vielen tausend Jahren die Logik genannt worden, so wird wohl die Wissenschaft von dem sinnlichen Erkenntnis nicht gänzlich unbequem Aesthetik benahmt werden können.7 Wollte man sich bekannterer Worte, wiewohl etwas weidäufiger, bedienen, so könnte diese Wissenschaft auch die Lehre vom schönen Erkenntnis, die Kunst schön zu denken, oder Theorie der schönen Wissenschaften heißen. Doch wir wollen uns bei Worte nicht länger aufhalten. Die Sach selbst betreffend, so ist das, was in dieser Wissenschaft gelehret werden sol, wo nicht länger, doch gewiss eben so lange geübt, als das, wovon die Vernunftlehre handelt. Letzteres ist vom Aristoteles schon meist vollständig gesammelt. Vom erstem hat er nur einen kleinen Teil in zwei lieblichen Zweigen unserer Wissenschaft unter dem Namen der Rhetorik und Poetik besonders ausgeführt. Vor und nach ihm ist entweder noch weniger davon mit der Logik vermengt, oder außer dem Bezirk der Philosophie, als eine freie Kunst, fast allein historisch und in sehr engen Schranken abgehandelt. Aristoteles so wohl, als Cicero, haben eigentlich nur von der politischen Beredsamkeit geschrieben. Wenn wir auch die Lehre der Beredsamkeit im weitesten Verstände nehmen, so hat sie doch schon zum Hauptzweck die Schönheit der Rede, welche die Schönheit derer Gedanken zwar voraussetzt, doch aber nicht so in sich schließt, daß sich die letztere nicht auch oft ohne die erste finden sollte. Man hat daher den Mangel dieser Wissenschaft schon oft bemerkt, ihm auch Stückweise abzuhelfen Sorge getragen. Der grundgelehrte Kunstrichter unserer Zeiten Herr Breitinger wünscht, daß man eine Logik der Einbildungskraft haben möge,8 diese aber ist ein Teil der Aesthetik. Cicero vom Redner im 2. Buch würde seine Freunde nicht mit so vielen Worten streiten lassen, ob eine Kunst beißend zu scherzen sei, wenn es nicht ganz natürlich schiene, einige Gesetze des Witzes und der Scharfsinnigkeit zu entdecken, die sich bei gesalzenen Stachelreden hauptsächlich äußern.9 Am nächsten tritt unserer Wissenschaft, was die Ausführung betrifft, Dominique Bouhours in seinen bekannten Unterredungen von der Art, in denen Werken des Witzes schön zu denken.10 In der Vorrede nennt er dieses sein Werk eine Logik ohne Dornen, die weder trocken, noch allzu abgesondert und erklärte sich, sein Zweck sei nicht zu lehren, wie einzelne Ideen zu begreifen, oder Vemunftschlüsse mit alle der Strenge zu machen sein, die die Vernunft erfordert. Es sei hier nur von denen witzig muntern Urteilen die Frage, die man in schönen Werken des Witzes pflege Gedanken zu nennen. Was

Frankfurter Universität, vgl. Ernst Bergmann, Die Begründung der deutschen Ästhetik durch Alex. Gottlieb Baumgarten und Georg Friedrich Meier, Leip2ig 1911, S. 20 und 23. 7 Baumgarten bezieht sich auf das griechische >aisthesisÄsthetik< für die neue Wissenschaft ableitet. 8 Vgl. Johann Jacob Breitinger, Critische Dichtkunst, 2 Bde., Zürich 1740. 9 Vgl. Cicero, De Oratore 2, 225ff. 10 Vgl. die Dialoge Dominique Bouhours' La moniere de bien penser dans /es outrages d'esprit [1687], die unter dem Titel Die Art, in witzigen Schriften wohl ψ denken, 1759 ins Deutsche übersetzt wurden.

DIETER KLICHE

er durch Esprit verstehe, was ich in Ermangelung eines bequemen Wortes durch Witz übersetze, erklärt er selbst durch eine gesunde lebhafte und feurige Fertigkeit des Kopfes. Wie sehr die Verbesserung des Gedächtnisses schon längst gesucht worden, zeigen die vielen Mnemonischen Künste, mit denen man sich schon vor Alters getragen. Auch unsere Landesleute glückliche Bemühungen den Geschmake zu reinigen beweisen teils des Herrn Hoffrath Joh. Ullr. König Untersuchung vom guten Geschmack, welche seiner Ausgabe derer Canitzischen Gedichte beigefugt. Berlin 1734.8.,11 teils der Kunstverständige Briefwechsel von der Natur des Poetischen Geschmacks. Zürich. 1736.8.12 Hierher gehört des Englischen Philosophischen Poeten Alexander Pope Gedicht von der Kritik13 welches Mr. du Resnel auch deshalb in seiner Übersetzung die Grundsätze des Geschmacks betitelt.14 Ich trage auch kein Bedenken des Mr. du Crousaz Buch vom Schönen15 hier anzuführen, weil es vieles von gutem Geschmack in sich enthält. Allein am genauesten wird unsere Wissenschaft von dem großen deutschen Philosophen dem Herrn Geh. Rath Bülfinger beschrieben, wenn er in seinen vortrefflichen Erläuterungen von GOTT, der Seele des Menschen, der Welt und denen Dingen überhaupt, § 268 schreibt: »Ich wollte daß sich einige finden, die beiden Vermögen derer Empfindungen, Einbildungen, der Aufmerksamkeit, Absonderung, und des Gedächtnisses das leisteten, was der gute Aristoteles, der heutigen Tages allen so wiedrig ist, in Absicht auf den Verstand geleistet hat, d. i. daß sie allem, was zu ihrem richtigen Gebrauche dienlich ist, sie erleichtert und vollkommen macht, die Gestalt einer Kunst geben, wie Aristoteles in seinem Organon die Logik, oder das Vermögen zu erweisen, in Ordnung gebracht. Denn ich sollte nicht meinen, daß dergleichen Bemühen unmöglich oder unnütz sein würde.«16 Zu denen von dem Herrn Geh. Rath angeführten Teilen der Aesthetiik tue ich noch die Abhandlung von Verbesserung und Gebrauch des Vermögens zu dichten, des Witzes, der Scharfsinnigkeit, des Geschmacks oder der sinnlichen Beurteilungskraft, des Vorhergesehens, des Vorhervermutens und endlich des Vermögens seine Gedanken zu bezeichnen. Hierauf folgte die Lehre von der Methode des schönen lebhaften und muntern Denkens, die wir mit Horaz die lichte oder glänzende Ordnung nennen können.

11 Vgl· Johann Ullrich König, Untersuchung von dem guten Geschmack in der Dichtund Rede-Kunst, in: Des Freiherrn von Canitz Gedichte: mehrentheils aus seinen eigenhändigen Schriften verb, und vermehret, Leipzig 21734. 12 Vgl. Johann Jacob Bodmer, Brief-Wechsel Von der Natur des Poetischen Geschmackes, Zürich 1736. 13 Vgl. Alexander Pope, Essay on Criticism (1711). 14 Baumgarten bezieht sich auf die französische Ubersetzung von Popes Essay on Criticism, vgl. Alexander Pope, Les principes de la morale et du gout, traduits de l'anglois de M. Pope, par Μ. l'Abbe du Resnel, Paris 31738. 15 Vgl· Jean-Pierre de Crousaz, Traite du beau, Amsterdam 1715. 16 Vgl. Georg Bernhard Bilfinger, Dilucidationes philosophicae de Deo, anima humana, mundo, et generalibus rerum affectionibus, Tübingen 1725, S. 255. Die Übersetzung aus dem Lateinischen hat Baumgarten vermutlich selbst vorgenommen.

«... SELBST ENGEL KÖNNEN NICHT OHNE SINNLICHKEIT SEIN«

Ferner bekümmert sich die Aesthetik am bequemen Zeichen derer schön vorgestellten Dinge, worunter die Worte freilig die gewöhnlichsten, und folglich auch am genauesten zu bemerken sein würden. Diesem allen würde nicht unbequem eine gemeinere Abhandlung von dem Reichtum, dem edlen und großen, dem wahrscheinlichen, dem lebhaften, dem überredenden, dem bewegenden und rürenden schöner Gedanken vorgesetzt. Und hiermit beschäftigte sich der lehrende Teil der Aesthetik. Der übende Teil muß die allgemeinere Theorie vom schönen Erkenntnis auf seine Arten genauer deuten, welche u. a. mancherlei Abteilungen auch dadurch unterschieden sind, daß sie entweder in gebundener, oder ungebundener Rede ausgedruckt worden, und hier würde sich denn die erste durch die Poetik, die letzte durch die Rhetorik reiflicher untersuchen lassen. Ε. H. sehen vermutlich mit mir die angenehmen Felder, so diese Wissenschaft unsern Augen öffnet, welche ich vielleicht nicht unbillig das Land, Gut derer Musen im Reich der Weltweisheit nennen könnte. Warum soll unsere Philosophie diesen guten Kindern noch beständig so mürrisch begegnen, als die Weltweisheit jener finstern Schulweisen, welche haßeten, was sie nicht kannten? Warum wollen wir noch weiter entweder die Schönheit derer lebhaften Gedanken auf Unkosten des Verstandes und der Vernunft, oder Wissenschaft und Gründlichkeit mit Verläugnung aller Artigkeit und munteren Annehmlichkeit im Denken heraus streichen? Ich glaube selbst Engel können nicht ohne Sinnlichkeit sein. Nun sind wir aber so wenig Engel als schlechte Tiere, sollten wir denn wohl vernünftig hoffen können alles, was wir denken, müssen, deutlich durch den Verstand zu begreifen? müssen wir aber manches, ja die Wahrheit zu gestehen, das meiste nur sinnlich und undeutlich denken, warum sollten einige Stunden übel angewandt sein, die wir auf deutlicher und gewisser Einsicht der Art und Weise wenden, wie wir uns auch die Morgenröte oder Dämmerung der Deutlichkeit als des hellen Tages, vergnügter, brauchbarer und sicherer machen können? Weder philosophische Musenfreunde, noch beständig vergnügte Philosophen können diese Wissenschaften kennen lernen, ohne sie als, den Zucker derer Wissenschaften und das Gewürz der freien Künste, wert zu halten. Philosophische Brieffe von Aletheophilus, 1741, Seite 109-112.

III. Die Schrift und der Kontext Es ist die einzige Schrift, die Baumgarten in deutscher Sprache verfaßt hat, und man merkt den Philosophischen Brieffen auch an, daß es Baumgarten schwerfiel, philosophische Problemstellungen in gebührender Deutlichkeit in deutscher Sprache auszudrücken. Noch 1770 verfaßte Immanuel Kant seine Dissertation De mundi sensibilis forma et principits in Latein und ging auch späterhin bei den Versuchen, die deutsche Sprache für die Zwecke der transzendentalen Kritik geschmeidig zu machen, nicht von dem Brauch ab, bei schwierigen terminologischen Differenzierungen lateinische Äquivalente zu benennen. Baumgarten hielt

DIETER KLICHE

seine Vorlesungen über Ästhetik an der Frankfurter Viadrina (1742 und 1749) zwar in deutscher Sprache.17 Der scientific community freilich offerierte er die Buchfassung dieser Vorlesungen (1. Band 1750, 2. Band 1758) in lateinischer Sprache. Daß die Philosophischen Brieffe in deutscher Sprache veröffentlicht werden, hat aber auch noch einen anderen Grund, der sich aus dem Charakter der Schrift herleitet. Die Briefe gehören nicht zu Baumgartens wissenschaftlicher Produktion im engeren Sinne, sondern sind dem populären Genre der moralischen Wochenschriften zuzurechnen, in der die Philosophie der Wolffschule verbreitet werden soll. In Briefform werden Grundsätze der Moral, Lebensführung, Glückseligkeit usw. verhandelt. Dazu entwirft Baumgarten in der Vorrede eine literarische Fiktion, in deren Rahmen er auch sein Pseudonym bestimmt. Zum uralten Geschlecht der Weisheits- und Wahrheitsfreunde gehörig, nennt er sich Aletheophilus, gibt aber zugleich auch (er will nicht wirklich anonym bleiben) seinen bürgerlichen Namen preis: »Ich selbst führe gewöhnlich einen [Nahmen] der so rein deutsch klinget, als Mäurer, Baumann oder Zimmermann.«18 Weil nun die einzelnen Mitglieder der verzweigten Familie der Wahrheitsfreunde weit auseinanderwohnen, soll die Verbindung durch Briefe aufrechterhalten werden. Auch dies gehört zur Fiktion der Schrift (Aletheophilus gibt vor, einen schon gesammelten Vorrat an Briefen als erstes zu versenden), entspricht aber auch der wirklichen Publikationsform: »Wöchentlich wird von diesen Sendschreiben ein halber Bogen ausgegeben« (S. 5). Ganz am Schluß der Vorrede dann das Verzeichnis der deutschen Buchhändler, bei denen die Briefe wöchentlich ausgegeben werden, darunter die meisten deutschen Universitätsstädte des 18. Jahrhunderts, aber auch Hamburg! Dies ist eine weitere Spur. Geht man ihr nach, kommt man auch dem Umstand näher, warum der 36. Brief »Von der Aesthetik nach Hamburg« überschrieben ist. Wenngleich die Adressaten der Briefe fiktiv zu sein scheinen, so wissen wir doch, daß es in Greifswald und in Hamburg Gesellschaften gegeben hat, mit denen Baumgarten und Meier bei der Verfolgung ihres ästhetischen Projekts in engem Kontakt gestanden haben. Diesen Gesellschaften sind auch periodische Veröffentlichungen zuzuordnen, in Greifswald: Critischer Versuch %ur Aufnahme der deutschen Sprache, in Hamburg: Freje Urtheile und Nachrichten %um Aufnehmen der Wissenschaften und Historie überhaupt. Im 6. Stück des Critischen Versuchs (Greifswald 1742) wurde Baumgartens Dissertation, die Meditationes philosophicae, rezensiert, mit der Verwunderung über die dort vor-

17 Vgl. die deutsche Vorlesungsmitschrift eines anonymen Hörers von Baumgartens zweiter Ästhetik-Vorlesung 1749, abgedruckt in: Bernhard Poppe, Alexander Gottlieb Baumgarten, Borna - Leipzig 1907. 18 Aletheophilus [d. i. Alexander Gottlieb Baumgarten], Philosophische Brieffe, Franckfurth und Leipzig 1741, S. 2. Ich zitiere nach dem Exemplar der Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz (Sign. Nh 10 427).

»... S E L B S T ENGEL KÖNNEN NICHT OHNE SINNLICHKEIT SEIN«

geschlagene neue Wissenschaft >ÄsthetikÄsthetik< zum Ausdruck bringt, auch von den Hamburger Korrespondenten Rückfragen betreff der >Ästhetik< kamen. Den Hamburgern schien, so leitet der 36. Brief ja ein, nicht nur der Name Ästhetik fremd, sondern auch die Nützlichkeit und Brauchbarkeit einer solchen (neuen) Disziplin. Der 36. Brief Von der Aesthetik nach Hamburg stellt den Versuch Baumgartens dar, in kurzer und faßlicher Form das Anliegen einer Wissenschaft >Ästhetik< nochmals und in deutscher Sprache zu erläutern.

19 Georg Friedrich Meier, Vertheidigung der Baumgartischen Erklärung eines Gedichts wider das 5. Stück des 1. Bandes des neuen Büchersaals der schönen Wissenschaften und freyen Künste, in: Critischer Versuch zur Aufnahme der Deutschen Sprache, 15. Stück, Greifswald 1746, S. 234. Meier bezieht sich auf Theodor Johann Quistorp, Erweis, daß die Poesie schon für sich selbst ihre Liebhaber leichtlich unglücklich machen kann, in: Neuer Bücher-Saal 1 (1745), H. 5, S. 433-452. 20 [Anonymus], Aesthetica. Scripsit Alexand. Gottlieb Baumgarten, Prof. Philos. 1750, in: Freye Urtheile und Nachrichten 7 (1750), S. 479. 21 Ebd., S. 480.

61

DIETER KLICHE

IV. Der Quellenwert des Briefes Wir wollen Georg Friedrich Meiers Wink folgen, daß sich Baumgarten besonders im 2., 11., 36. und 37. Brief der Philosophischen Brieffe über das Anliegen seiner Ästhetik erklärt. Den 37. Brief kennen wir nach wie vor nicht. Auch der Hinweis auf den 11. Brief fuhrt nicht sehr weit, weil Baumgarten hier nur einen Teil seiner Ästhetik erläutert, den poetisch-rhetorischen der Schreibart, der sinnlich schönen Rede: »Wenn wir bei einer beredten Rede nur auf das Acht haben wollen, was ihr zukommen muß [...], so wird das dabei zu bemerkende auf die Sachen, die vorgetragen werden sollen, die Ordnung, und des Ausdruck ankommen. Die Aenligkeit und die Gleichheit im Ausdruck ist die Schreib-Art.« (S. 29) Weil Baumgarten auch hier der Präzision der deutschen Sprache nicht traut, gibt er in der Fußnote die entsprechende lateinische Formulierung: »identitas in eloquutione seu dictione = stilus«. So ist es vor allem der 2. Brief, der bisheriger Ästhetik- und BaumgartenForschung als zentraler Bezugspunkt bei der Herausbildung des Begriffs der Ästhetik gegolten hat.22 Und Baumgarten bezieht sich ja selbst am Beginn des Briefes auf sein 2. Schreiben. Die Begründung der Ästhetik in diesem zweiten Schreiben der Philosophischen Brieffe bildet 1741 chronologisch und sachlich gewissermaßen die Mitte zwischen Baumgartens erster Begründung der Ästhetik in den Meditationes (1735) bzw. in der Metaphjsica (1739) und der Aesthetica von 1750. Sachlich gesehen ist der Ausgangspunkt der Argumentation ein enzyklopädisches Projekt der Ordnung des Wissens. Baumgarten gibt hier vor, Papiere eines anderen, Dritten in die Hände bekommen zu haben, die es vielleicht verdienen, dem Adressaten mitgeteilt zu werden. Auch diese Fiktion gehört zu den Inszenierungen der Philosophischen Brieffe. Unzweifelhaft ist, daß hier Baumgarten sein eigenes philosophisches Konzept entwickelt. Baumgarten erinnert an Leibniz' Forderung, nach dem Vorbild von Johann Heinrich Alsteds monumentaler Encyclopaedia (1630) eine neue Enzyklopädie, eine »philosophische Encyclopädie« zu projektieren, wozu er den »Schatten-Riß« (S. 6) von besagtem Dritten erhalten habe. Hier gehe es um das Projekt einer anderen Logik, die komplementär ist zur Logik der »deutlichen Einsicht«.

22 Vgl. Ursula Franke, Kunst als Erkenntnis. Die Rolle der Sinnlichkeit in der Ästhetik des Alexander Gottlieb Baumgarten, Wiesbaden 1972, S. 22f., und den Abdruck des zweiten der Philosophischen B r i e f f e in: Hans Rudolf Schweizer (Hrsg.), Texte zur Grundlegung der Ästhetik. Alexander Gottlieb Baumgarten, Hamburg 1983.

»... S E L B S T E N G E L KÖNNEN NICHT OHNE SINNLICHKEIT SEIN«

»Weil wir nun aber weit mehrere Vermögen der Seelen besitzen, die zur Erkenntnis dienen, als die man bloß zum Verstände oder der Vernunfft rechnen könne, so scheint ihm die Logik mehr zu versprechen, als sie halte, wenn sie unsere Erkenntnis überhaupt zu verbeßem sich anheischig macht, und nachher nur mit der deutlichen Einsicht und deren Zurechtweisung beschäfftigt ist. Er stellt sie sich also, als eine Wißenschafft der Erkenntnis des Verstandes oder der deutlichen Einsicht vor und behält, die Gesetze der sinnlichen und lebhafften Erkenntnis, wenn sie auch nicht bis zur Deutlichkeit, in genauester Bedeutung aufsteigen sollte, zu einer besonderen Wißenschafft zurück. Diese letztere nennt er die Aesthetik, welcher Name mir um so viel weniger fremd vorkommt, weil ich ihn schon in einigen gedrukten akademischen Schrifften bemerckt.« (S. 6f.) Man erkennt die wissenschaftspolitische Finte, Name und Inhalt dieser neuen Wissenschaft als bereits eingeführt auszugeben. Es trifft aber auch zu, daß die Elemente, die hier genannt werden, Resümee dessen sind, was in den Meditationes und der Metaphysica bereits zusammengestellt worden ist: Es ist, auf Leibniz gründend, die Unterscheidving einer wissenschaftlichen Perzeption (Logik), die klar und deutlich ist (»clara et distincta«) von Wahrnehmungen, die klar, aber undeutlich, verworren, >konfus< sind (cognitio clara et confusa). Diese Unterscheidung gründet auch auf der antiken Differenzbestimmung von noesis (erkennende Wahrnehmung) und aisthesis (sinnliche Wahrnehmung). Erkenntnis in dieser ästhetischen Wahrnehmung ist klar, weil sie es möglich macht, die Sache wiederzuerkennen, sie ist aber konfus, weil es unmöglich ist, die einzelnen Merkmale aufzuzählen, die diese Sache von einer anderen unterscheiden.23 Baumgarten ist hier also noch ganz Leibnizianer, geht aber insofern auch über Leibniz hinaus, indem er der sinnlichen Erkenntnis (cognitio sensitiva) innerhalb des enzyklopädischen Wissenssystems einen eigenen Platz in einer spezialisierten Wissenschaft einräumen will. Vor diesem Hintergrund betrachtet, eröffnet der 36. Brief einen weiteren Horizont. Um den die neue Wissenschaft anzweifelnden Hamburger Korrespondenten die Nützlichkeit der Ästhetik ausgreifender zu erläutern, stellt Baumgarten eine Verbindung her zwischen seinem Grundansatz der Ästhetik als einer anderen Logik (analogon rationis) und anderen Elementen und Traditionen, der Theorie der Künste und schönen Wissenschaften (vgl. den Bezug auf Breitingers >Logik der Einbildungskraft), der Geschmacksästhetik (in der Tradition von Graciän, Boileau, Crousaz und Bouhours, aber auch des deutschen Johann Ullrich König), der englischen Kritik (Alexander Pope) und der Poetik und Rhetorik. Dies geschieht hier, im 36. Brief der Philosophischen Brieffe von 1741, zum

23 Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz, Meditationes de cognitione, veritate et ideis (1684), in: ders., Die philosophischen Schriften, hrsg. von Carl Immanuel Gerhardt, 7 Bde., Berlin 1875-90, Bd. 4, S. 422.

DIETER KLICHE

ersten Mal und wird dann noch einmal in der Ästhetik-Vorlesung von 1749, auf die sich die deutsche Kollegmitschrift bezieht, mit dem Argument wiederholt: »Diese Wissenschaft und der Inbegriff ihrer Wahrheiten ist so neu nicht, daß man niemals zuvor schön gedacht hätte. Nein man hat praktische Ästhetiker gehabt, ehe man Regeln von der Ästhetik gewußt und ehe man sie in die Form einer Wissenschaft gebracht hat. Es wird nicht undienlich sein, eine kleine Einleitung in die Geschichte der Ästhetik zu geben.«24 Damit nun aber die Hamburger Korrespondenten nicht argwöhnen, Baumgartens Ästhetik-Projekt sei ja nur junger Wein in alten Schläuchen, erfolgt zum Schluß des Briefes hin noch einmal die Berufung auf den Kern der Innovation: auf die Wölfische Schule und in persona auf Georg Bernhard Bilfinger, der in seinen Oilucidationes pbilosopbicae (1725) für die andere Logik des >je ne sais quoi< einen neuen Aristoteles herbeigewünscht hatte. Den wirklichen Schluß des Briefes aber bildet eine enthusiastische Apologie der sinnlichen Wahrnehmung, die zeigt, woher Baumgarten seine innersten Motive bei der >Gründung< der Ästhetik bezieht. Liest man mit der Kenntnis dieser Passage den dagegen trocken klingenden ersten Paragraphen der lateinischen Aesthetica, der die Definition der Ästhetik gibt, so wird in dem scheinbar parataktischen bzw. hybriden Gefuge dieser Definition das leitende, Struktur gebende Prinzip deutlich: Es geht um die aisthesis und um eine Theorie/Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis: »Die Ästhetik (als Theorie der freien Künste, als untere Erkenntnislehre, als Kunst des schönen Denken und als Kunst des der Vernunft analogen Denkens) ist die Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis.« (AESTHETICA [theoria liberalium artium, gnoseologia inferior, ars pulchre cogitandi, ars analogi rationis] est scientia cognitionis sensitivae.)25 Auch wenn man einräumt, daß in Baumgartens Schönheitsbegriff noch die Metaphysik der Leibnizschen Theodizee gegenwärtig ist und auch sein Verständnis von Vollkommenheit in diesem Horizont verbleibt, so muß man zugleich in Rechnung stellen, daß in der »Diskursformation von 1750« noch keine Trennung zwischen Kognition, Moralität und Ästhetik erfolgt ist.26 Dieser Umstand ist deshalb wichtig, weil in dieser vor-autonomen Ästhetik auch die erzieherischpädagogischen Elemente noch stark sind. Der Paragraph 14 der Aesthetica definiert die Schönheit so: »Aesthetices finis est perfectio cognitionis sensitivae, qua

Vgl. Poppe (Anm. 17), S. 67. Alexander Gottlieb Baumgarten, Theoretische Ästhetik, übers, und hrsg. von Hans Rudolf Schweizer, Hamburg 1983, S. 3. 26 Vgl. Witte, Logik ohne Dornen (Anm. 1), S. 49f. 24

25

»... SELBST ENGEL KÖNNEN NICHT OHNE SINNLICHKEIT SEIN«

talis, haec autem pulchiitudo.« Hans Rudolf Schweizer übersetzt: »Das Ziel der Ästhetik ist die Vollkommenheit (Vervollkommnung) der sinnlichen Erkenntnis als solcher. Damit aber ist die Schönheit gemeint.«27 Perfectio nicht nur als die metaphysische >Vollkommenheit< der Welt, sondern auch >Vervollkommnung< des geschickten Ästhetikers< (felix aestheticus) und des schönen Geistes/der schönen Begabung (ingenium venustum) - dies trifft einen, wenn nicht den Kerngedanken der Baumgartenschen Aesthetica·. die Übung und Ausbildung natürlicher Fertigkeiten (>Kunstschönen Denkens< (ars pulchre cogitandi). Daß Baumgarten dies als einen ästhetischen Erziehungsauftrag von erstrangiger Bedeutung versteht, belegt die ins lutherisch-grobianische Deutsch verfallende Polemik gegen diejenigen, die den Rang des ingenium venustum ins Kleinliche herabsetzen, »gewisse Leute«, »die sich schöne Geister nennen, unter deren Hände aber kein edler Mensch geraten will. Dies sind diejenigen, die man das kriechende Ungeziefer des Helikon oder den Auskehricht des Parnaß nennt, und die man auch Musenzwerge nennen könnte.«28 Es bleibt abschließend noch einmal zu fragen, warum Werner Krauss dieser Text so interessiert hat, daß er ihn abschrieb bzw. abschreiben ließ und seinem Archiv eingliederte. Er legte ihn sicher nicht nur in die Mappe, weil er eine rare Schrift in der Hand gehabt hatte. Man kann die These wagen, daß den Romanisten ein aus dem Brief deutlich hervorgehender Zusammenhang interessierte: die deutsche >Erfindung< aus der Leibniz-Wolffschen Schule als ein Ereignis im Kontinuum der europäischen Aufklärung.

27 28

Baumgarten, Theoretische Ästhetik (Anm. 25), S. lOf. Poppe (Anm. 17), S. 204.

MANFRED STARKE

Zur materialistischen Moral La Mettries

Daß das Wort Moral heute oft altmodisch und sehr oft etwas lächerlich klingt, kann man aus zwei geschichtlichen Erfahrungen erklären: zum einen aus dem Ubermaß der in Jahrhunderten gewachsenen und, wie es scheint, sich endlos mehrenden Enttäuschung über die Heuchelei der Regierenden und der Vielzuvielen, die öffentlich Wasser predigen und heimlich Wein trinken; zum anderen aus der Erfahrung der bürgerlichen Geschichte, daß viele soziale und individuelle Probleme, zu deren Bewältigung es einst eindringlicher moralischer Appelle an die Tugenden des Entbehrens und Verzichtens, gewichtiger Heilslehren und sehr ernster und tragischer (um zwei für die Moralkritik des jungen Nietzsche bedeutsame Worte aufzugreifen)1 Weltbetrachtungen bedurfte, sich oft leichter, bequemer und (last, not least) vergnüglicher auf eine sozusagen rein materielle oder materialistische Weise, nämlich durch Wirtschaftswachstum und Wohlstand lösen lassen. Die Wohlstandsgesellschaft macht es ihren Bürgern leicht, die Moral nicht mehr so ernst und wichtig wie in Zeiten minderer ökonomischer Entwicklung und größerer Sparsamkeit zu nehmen. Brecht hat diese Umwertung der geistig-sittlichen Werte drastisch in dem geflügelten Wort des Zweiten Dreigroschen-Finales ausgedrückt: »Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.«2

1 Der junge Nietzsche möchte die egoistische, »ohne jede Liebeskraft« zusammengehaltene bürgerliche Gesellschaft durch eine Ordnung ersetzt wissen, in der Religion, Metaphysik und Kunst nicht mehr als Nebensachen im allgemeinen liberalistischen »laisser aller«, sondern, ganz im Gegenteil, mit »furchtbarem Ernst«, nämlich mit ganzer Kraft und Macht betrieben werden, damit durch sie das Leben endlich von Grund auf erneuert werden kann: »Unser öffentliches staatliches und sociales Leben läuft auf ein Gleichgewicht der Egoismen hinaus: Lösung der Frage, wie man ein leidliches Dasein, ohne jede Liebeskraft, rein aus der Klugheit der betheiligten Egoismen erziele. - Diese Zeit hat einen Haß auf die Kunst, wie auf die Religion. Sie will weder eine Abfindung durch einen Hinweis auf das Jenseits, noch durch einen Hinweis auf die Verklärung der Kunstwelt. [...] Aber die Kunst als furchtbarer Ernst! Die neue Metaphysik als furchtbarer Ernst!« - Da er auch im Sozialismus keine grundlegend neue Lebensbetrachtung, sondern nur eine Weiterfuhrung der bürgerlichen Existenz zu sehen vermag, bekämpft er ihn mit dem gleichen Argument: »Die ernste Weltbetrachtung als einzige Rettung vor dem Sozialismus.« Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bdn., hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München - Berlin - New York 21988, Bd. 7, S. 441, 259 (im folgenden: KSA). 2

Bertolt Brecht, Die Dreigroschenoper (1928), 2. Akt.

ZUR MATERIALISTISCHEN MORAL LA METTRIES

Leider stellt sich das Modernitätsbewußtsein die »alte« Moral (die »alten« Werte) gern als zu streng und asketisch, als eine Art »Moral-Fanatismus«3 vor. Eine erneute Zuwendung zu den Zeugnissen der Vergangenheit könnte es eines besseren belehren. Das Distichon Würde des Menschen unseres größten, von Nietzsche (trotz aller Verehrung für ihn) als »Moral-Trompeter«4 verspotteten, idealistischen Dichters möge dafür als ein Beispiel stellvertretend für viele stehen: »Nichts mehr davon, ich bitt' euch. Zu essen gebt ihm, zu wohnen; Habt ihr die Blöße bedeckt, gibt sich die Würde von selbst.«5 Die Unentbehrlichkeit des Wohllebens für ein menschenwürdiges Dasein könnte ein sich noch so modern und progressiv dünkender Materialist auch nicht stärker unterstreichen als der heute als so unmodern geltende Idealist Schiller. Man könnte unzählige solcher Beispiele anführen. Sie alle würden die traditionelle Moral als viel lebendiger und fruchtbarer erweisen, als sie gegenwärtig anmutet, wo ein verstiegenes und anmaßendes Modernitätsbewußtsein sie fast noch immer für so überlebt ansieht, wie die Modernistenpartei in ihren hochgestochenen ästhetischen Streitschriften die Traditionalisten vor hundert Jahren. Daß es tatsächlich keine unüberwindbare Kluft zwischen der »alten« und der heutigen Moral gibt, zeigt ζ. B. schon unser Verhältnis zum Egoismus. Wenn die Moral des individuellen Verzichts und der Aufopferung in der heutigen Zeit auch keine wahre und allgemeine öffentliche Würdigung mehr findet - vom Lob des Egoismus ist man doch gewöhnlich ziemlich entfernt. Er hatte erstmals im Zuge der aufklärerischen Moralkritik einen Namen und einen Rang erhalten. In der Emanzipationsbewegung des Bürgertums, in der es primär um die Interessen des freien Individuums, besonders des »Selbständigen«, des Unternehmers, Kaufmanns usw. ging, fand er einen günstigen Boden für sein Gedeihen. Hier (wohlgemerkt: nicht in der entwickelten, durch die Zwänge des Klassenkampfs die Freiheiten immer wieder durch Rückgriffe auf vor- und außerbürgerliche Bindungsformen - »neue Feudalität«, Nationalismus, Militarismus, Hierarchie6 beschneidenden bürgerlichen Gesellschaft) wogen die Rechte des Individuums (Natur-, Menschen-, Bürgerrechte) und die zur Entfaltung der privaten Initiativen notwendigen Freiheiten fast immer schwerer als alles Ringen um eine lebendige Gemeinschaft und die - außerhalb einer kleinen Schar von Idealisten ewig belächelte - Humanität.

3 Nietzsche, KSA, Bd. 12, S. 442: »Kant, mit seiner »praktischen Vernunft*, mit seinem Moral-Fanatism ist ganz 18. Jahrhundert.« < Nietzsche, KSA, Bd. 6, S. 111. 5 Friedrich Schiller, Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe in 20 Bdn., hrsg. von Otto Güntter und Georg Witkowski, Bd. 3: Gedichte 2, Leipzig 1910, S. 240. 6 Paul Tillich, Die sozialistische Entscheidung [1933], mit einer Vorbemerkung zur Neuauflage von Klaus Heinrich, Berlin 3 1980, vor allem das Kapitel: Die tragenden Gruppen und die Grenzen des bürgerlichen Prinzips, S. 52-56.

MANFRED STARKE

Die idealen Helden der freiheitlichen Bewegungen waren halbe Götter (so bei Heine7 im bürgerlich-revolutionären Vormärz), Promethiden (im Sturm und Drang), »Übermenschen« (von den teuflischen »Bösewichten« der Schauerromane des 18. und 19. Jahrhunderts über die romantischen Fassungen Don Juans und Fausts bis zu Nietzsche usw.), »Selbstschöpfer« (Der Mensch als Schöpfer seiner selbst - Buchtitel eines proletarisch-revolutionären Schriftstellers8) - Autonome, Selbstbestimmte. Beispielhaft erhellt schon aus den in der Geschichte des Bürgertums zwischen den drei Fahnenworten der Französischen Revolution sich auftuenden Rangunterschieden, wie sehr hier die Sorge um die individuelle Freiheit die um die soziale Bindung überragte: die Freiheit behauptet zu allen Zeiten eine unangefochtene Spitzenstellung; die Gleichheit erscheint fast immer sehr viel fragwürdiger, verliert mehr und mehr ihren religiösen und philanthropischen Gehalt und ist heute, in einer alles beherrschenden Wettbewerbssituation, zu einer weitgehend formalen Chancengleichheit abgesunken; der Brüderlichkeit (Solidarität), der eigentlich sozialen, die Individuen bindenden Losung, fällt dagegen in der Politik des 19. und 20. Jahrhunderts die Aschenbrödel-Rolle zu. Der philosophische Egoismus, der namentlich von den französischen Aufklärern des 18. Jahrhunderts entwickelt wurde, aber schon unter den alten Griechen, später in Stirner, Nietzsche und den jüngsten Aufklärern des 20. Jahrhunderts einige Anhänger zählte, ist im Grunde nicht viel mehr als eine provokative Verneinung, eine Umkehrung des Altruismus. Auf den Einwand, die Gesellschaft leide, wenn der Einzelne seine Interessen über die des Ganzen stelle, erwiderten seine Verteidiger, sie müßten ja selber leiden, wenn sie auf die Wahrnehmung ihrer eigenen zugunsten fremder Interessen verzichten. La Mettrie (ein keinesfalls bedingungsloser Vertreter der Philosophie des Egoismus) antwortete auf den Vorwurf, er werde der Kultur und der Gesellschaft schaden, wenn er sich wider die Opfer- und Entsagungsmoral zum Fürsprecher rein individueller Interessen mache, in der zynisch-schonungslosen Sprache des Eigennutzes: »Vous eclairez les hommes, vous servez la societe ä vos depens; c'est le fruit de l'education, le germe en est dans l'amour propre, mais non dans la nature. Mais faute de telle ou teile vertu, de telle ou telle verite, les sciences et la societe en souffriront? Soit; mais si je ne la prive point de ces avantages, moi j'en souffrirai.«9

7 »Wir wollen keine Sansculotten sein, keine frugale Bürger, keine wohlfeile Präsidenten; wir stiften eine Demokratie gleichherrlicher, gleichheiliger, gleichbeseligter Götter.« Heinrich Heine, Briefe über Deutschland, in: ders., Werke und Briefe in 10 Bdn., hrsg. von Hans Kaufmann, Berlin 2 1972, Bd. 7, S. 307. 8 Alfred Kurella, Der Mensch als Schöpfer seiner selbst. Beiträge zum sozialistischen Humanismus, Berlin 1958. 9 Julien-Offray de La Mettrie, CEuvres philosophiques, 3 Bde., Amsterdam 1774, Bd. 2, S. 183.

ZUR MATERIALISTISCHEN MORAL LA METTRIES

Der schroffe und gereizte Ton dieser Antwort ist für den seiner praktischen Unhaltbarkeit völlig bewußten, sich dennoch negativistisch auf die Verkörperung einer Gegenposition versteifenden Egoismus bezeichnend, der in dem öden Nihilismus Stimers gipfeln wird. Der aufgeklärt-liberale Normalbürger konnte ihn natürlich nicht ernst nehmen. Er zog ihm eine Philosophie und Moral vor, die keinen der beiden Pole »einseitig« begünstigte, sondern die Belange des Individuums wie die der Gesellschaft gleichmäßig, sozusagen in einfach-schöner Harmonie vertrat. Eine solche bequeme Haltung ergab sich aus dem bürgerlichen Optimismus, der angesichts des infolge der Zunahme von Industrie, Handel und Verkehr wachsenden Wohlstands mit den Tugenden der Askese - Armut, Bescheidenheit - und einem ihnen entsprechenden Weltbild nichts mehr anzufangen wußte, statt dessen in freiheitlicher Großzügigkeit, mit der Selbstverständlichkeit und Leichtigkeit des »gesunden Menschenverstandes« epikureischen privaten Lebensgenuß und stoische öffentliche Pflichterfüllung unter einen Hut bringen zu können meinte. Es ist der freudigen Fortschrittsgewißheit, der Fortschrittslust der Aufklärung zu verdanken, wenn der Deist Shaftesbury »Selbstliebe« und »soziale Liebe« auf dieselbe Stufe stellen konnte: »that true self-love and social be the same«.10 Der Fortschrittsstreben und Glücksverlangen gleichsetzenden Auffassung entsprang auch die im Titel von Benthams Deontology, or, The Science of Morality auftauchende, treffende Formel: »die Harmonie und die Übereinstimmung von Pflicht und Eigeninteresse, Tugend und Glück«.11 In einer von Marx als Beleg für den Zusammenhang des aufklärerischen Materialismus mit dem Kommunismus des frühen 19. Jahrhunderts herangezogenen Stelle wandte sich der Utilitarist Bentham entschieden dagegen, dem Interesse für die Allgemeinheit einen höheren Rang als dem Privatinteresse zu verleihen: »L'interet des individus ... doit ceder ä l'interet public. Mais ... qu'est-ce que cela signifie? Chaque individu n'est-il pas partie du public autant que chaque autre? Cet interet public, que vous personnifiez, n'est qu'un terme abstrait: il ne represente que la masse des interets individuels ,..«12 Heute gilt die Meinung, Selbstnützigkeit und Dienst für das Gemeinwohl, Egoismus und Altruismus ließen sich nicht nur miteinander vereinbaren, sondern seien in Wirklichkeit immer miteinander verquickt, fast als eine Binsenweisheit.

10 Zit. nach: Antoine Adam, Le mouvement philosophique dans la premiere moitie du XVIII' siecle, Paris 1967, S. 92. 11 Jeremy Bentham, Deontology; or, The Science of Morality: in which the harmony and co-incidence of duty and self-interest, virtue and felicity, prudence and benevolence, are explained and exemplified, London - Edinburgh 1834. 12 Zit. nach: Friedrich Engels/Karl Marx, Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik (1845), in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke (im folgenden: MEW), Bd. 2, Berlin 1957, S. 141.

MANFRED STARKE

Ihr Erfolgsgeheimnis ist in der maßgebenden, unverwüstlichen Überzeugung des freien Unternehmertums begründet, daß die Befriedigung des Selbstinteresses, anders gesagt, die privatwirtschaftliche Tüchtigkeit zwangsläufig auch der Allgemeinheit nütze, indem sie zunehmend Wohlstand (von oben bis unten), ja dank einer unermeßlichen Produktion von Arbeitsplätzen und Menschenmassen in einem »globalen« wirtschaftlichen Fortschritt alle beliebigen materiellen und geistigen Güter, eine grenzenlose und unendlich reiche (»multikulturelle«?) Kultur über die Völker ausschütte. Dennoch, wenn diese aufklärerisch-optimistische Doktrin auch noch so zählebig zu sein scheint, so ist eine mit ihr gegebene und sie am Ende selbst bedrohende Gefahr nicht zu übersehen: mit dem Verlust der Rangordnung, dem Zerfließen und Ineinanderfließen gegensätzlicher und unvereinbarer Werte droht der Sinn für Werte überhaupt und darüber hinaus das Verständnis für traditionelle, letztlich soziale Ideale wie ζ. B. eine »sittliche«, gerechte, vernünftige »Weltordnung« u. ä. verlorenzugehen. Wie fragwürdig das scheinbar ohne weiteres einleuchtende »zeitgemäße« Moralverständnis ist, kann schon der folgende knappe historische Hinweis verdeutlichen. Als Vertreter des klassischen deutschen Idealismus wandten sich namentlich Schiller und Fichte gegen den liberalen Glauben, daß die Hingabe für das allgemeine Wohl und der private Lebensgenuß sich im konkreten, praktischen Fall ohne Schwierigkeiten miteinander vermengten. Schiller: »Egoismus und Liebe scheiden die Menschheit in zwei höchstunähnliche Geschlechter, deren Grenzen nie ineinanderfließen.«13 Fichte: »Es gibt nur eine Tugend, die - sich selber als Person zu vergessen — und nur ein Laster, das — an sich selbst zu denken; wer auch nur überhaupt an sich als Person denkt — außer in der Gattung oder für die Gattung, der ist ein gemeiner, kleiner, schlechter und dabei unseliger Mensch.«14 Als im 19. Jahrhundert Bestrebungen einsetzten, über Liberalismus und Demokratie hinaus zu gelangen, galt es auch, neue Antworten auf deren Fragen Primat des Egoismus? Primat der Selbstaufopferung? Harmonisierung beider? — zu finden. Moses Heß verschmolz den »wahren Sozialismus« mit der stoischen und christlichen Tradition der Moral der aufopferungsvollen »Menschenliebe«.15 Dagegen kam für den »wissenschaftlichen Sozialismus« von Marx und Engels ein die Religion fortentwickelnder und deutsch-idealistischer Weg nicht in Frage. Ausgehend von Hegels dialektischer Philosophie der stufenweisen Aufhebung aller Widersprüche versuchte er, nicht nur die »Moral« des Eigennutzes, sondern auch die der Menschenliebe zu überwinden. Engels drang gleich zu Beginn seiner

13 Friedrich Schiller, Philosophische Briefe (1786), in: ders., Sämtliche Werke (Anm. 5), Bd. 17, Leipzig 1910, S. 201. 14 Zit. nach: Friedrich Michael Schiele/Leopold Zscharnack u. a. (Hrsg.), Die Religion in Geschichte und Gegenwart, 5 Bde., Tübingen 1913, Bd. 2, Sp. 200. 15 Friedrich Engels an Karl Marx, Paris, 19. November 1844, in: MEW, Bd. 27, Berlin 2 1965, S. 11 f. Hier auch die folgend zitierten Stellen.

ZUR MATERIALISTISCHEN MORAL LA METTRIES

Zusammenarbeit mit Marx, in einem Brief vom November 1844, auf die Lösung dieser Aufgabe. Entschlossen, die alten Gegensätze aufzulösen, begegnete er Stirners »materialistischer« Verteidigung des Egoismus mit dem »idealistischen« Argument, »daß das menschliche Herz schon von vornherein, unmittelbar, in seinem Egoismus uneigennützig und aufopfernd ist«. Umgekehrt verurteilte er den Idealismus von Heß, seine Abwendung vom Materialismus und Empirismus: »Daher haßt er auch allen und jeden Egoismus, und predigt Menschenliebe usw., was wieder auf die christliche Aufopferung herauskommt. Wenn aber das leibhaftige Individuum die wahre Basis, der wahre Ausgangspunkt ist für unsren >MenschenLiebesprinzip< oder das Devoüment wie der Egoismus sein.«16 Tatsächlich ist dieses Dritte, »ganz andre«, Höhere etwas völlig Verschwommenes, eine reine Konfusion. Es ist nur in zweierlei Gestalt vorstellbar: entweder als eine »lockere«, schwammige Vereinigung von einander angeähnelten, abgestumpften Gegensätzen, ein Gemenge von Hohem und Niederem, eine Synthese von einem Altruismus, der die persönlichen Interessen sehr wohl wahrzunehmen versteht, und einem Egoismus, der »reich« genug ist, sich auch einen sozialen Touch zu leisten; oder als ein labiles, in jeder ernsthaften Krisen- und Entscheidungssituation in seine ursprünglichen Elemente auseinanderfallendes Agglomerat von Unvereinbarem. Tatsächlich kann die liberale Verknüpfung von grundsätzlich unversöhnlichen moralischen Haltungen keinen dauerhaften Bestand haben. Sie wird nur so lange währen wie der von den reichen, »Habgier« (in den vorkapitalistischen Jahrhunderten allgemein verpönt)17 in »Gewinnstreben« um-

16 Karl Marx/Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie (1845/46), in: MEW, Bd. 3, Berlin 1958, S. 425. 17 Vgl. das Verhältnis von Habgier und Liebe bei Pascal: »Denn es gibt zwei Motive, welche die Willenskräfte der Menschen scheiden: Die Habgier und die Liebe. Nicht als ob

71

72

MANFRED STARKE

münzenden und dergestalt zur höchsten Tugend der Wirtschaftsgesinnung erhebenden Industriegesellschaften gegenwärtig erlangte »Lebensstandard«, ein Zustand verbreiteten Wohllebens, der Sättigung und Übersättigung, des Luxus und der Verschwendung. Solange dieser anhält, wird allerdings ein nach strengeren moralischen Prinzipien, in der (religiösen, ökologischen) »Ehrfurcht vor der Schöpfung« oder auf der Grundlage einer tragischen (Pascal, Nietzsche) o. ä. Lebensbetrachtung geführtes Leben der großen Mehrheit als hoffnungslos »unzeitgemäß«, unverständlich und rückständig erscheinen. Im folgenden soll nun versucht werden, die hier angedeuteten Moralprobleme am Beispiel La Mettties etwas genauer zu beleuchten. Insbesondere wird es darum gehen, bei ihm auf die Folgen des Verlusts der rationalistischaufklärerischen Weltanschauung, des Glaubens an eine vernünftige, sittliche (oder übervemünftige, göttliche) Weltordnung, des Humanitätsglaubens an die zentrale Stellung, den hohen Zweck und Wert des Menschen in der Welt hinzuweisen. Es wird sich zeigen, daß das Verschwinden des Fragens nach der universalen Bedeutung des Menschen, der Skeptizismus und Agnostizismus in den metaphysischen und religiösen Fragen, der Rückzug in den Empirismus, der alle Werte, hohe wie niedere, Egoismus wie Altruismus, als natur- oder schicksalsgegeben nivellierende Fatalismus und die apolitische epikureische Genußphilo Sophie nicht ohne einen inneren Zusammenhang sind. Der aufklärerische Glaube, daß das Leben von Grund auf verbessert werden kann, hat seine feste philosophische Grundlage in der idealistischen Anschauung, daß der Mensch erst durch seine geistige, ihm durch Erziehung und Kultur angebildete, geschichtliche Natur zum Menschen wird. Erst die Uberzeugung, daß sein wahres Sein nicht von seiner naturgegebenen, sich durch die Jahrtausende im großen und ganzen gleich bleibenden Leibesverfassung, sondern vom Leben des Geistes, der Bildung und Kultur, kurz, von der Geschichte bestimmt wird, vermag der uralten Hoffnung auf Besserung des Menschen eine realistische Wendung zu geben. Erst wenn sein Wesen als geistig und geschichtlich betrachtet wird, kann es als veränderbar gelten. Es kommt dann nur noch darauf an, Moral, Religion und Politik — so lautet in La Mettries Discours preliminaire die ständig wiederkehrende Formel für die geschichtliche, geistige wie soziale, Welt des Menschen - zu reformieren und in verjüngter Form immer tiefer in der Gesellschaft zu verwurzeln, um die Menschheit endlich aus ihren noch immer sehr ursprünglichen, rohen, halb tierischen Verhältnissen zu befreien. Nur auf dem Standpunkt der Geistigkeit und Geschichtlichkeit des menschlichen Wesens ist der die alte Ordnung tragende »naturalistische« Pessimismus, daß der Mensch von Natur »böse«, d. h. asozial, amoralisch, egoistisch usw. sei, zu überwinden.

die Habgier mit dem Glauben an Gott nicht verbunden sein könnte und als ob Liebe mit den Gütern der Erde unvereinbar wäre: aber die Habgier benutzt Gott und genießt die Welt; bei der Liebe aber ist es umgekehrt.« (Blaise Pascal, Gedanken, Leipzig 1939, S. 224.)

ZUR MATERIALISTISCHEN MORAL LA METTRIES

Es macht nun La Mettries besondere, ihn in die Aufklärung einbindende wie ihn ihr entfremdende philosophische Situation und seine Eigenart aus, daß bei ihm die beiden entgegengesetzten Positionen voll aufeinanderprallen: die idealistische, die das menschliche Leben für veränderbar und verbesserungsfähig hält, und die materialistische, die fatalistisch, stets am Rande des Pessimismus (oft auch des Zynismus), im Banne der deterministischen Idee der ewig gleichen Menschennatur steht. Als Aufklärer hält er die (moralischen, religiösen, politischen) Ideen als für das menschliche Wesen konstituierend. Erziehung, Bildung, Kultur und soziales Umfeld haben die Macht, den Menschen geradezu zu verwandeln. Erziehung und Bildung vermögen unser Denken und Fühlen von Grund auf zu verändern, ja umzuwälzen: »l'education, qui seule peut nous donner des sentiments et un bonheur contraire ä ceux que nous aurions eus sans eile [...]. L'ame instruite, ne veut, ne suit, ne fait plus ce qu'elle faisait auparavant, lorsqu'elle n'etait guidee que par eile. Eclairee par mille sensations nouvelles, eile trouve mauvais ce qu'elle trouvait bon, eile loue en autrui ce qu'elle y blämait. Vraies girouettes, nous tournons done sans cesse au vent de l'education [,..].«18 Es ist die Dreiheit »Moral, Religion, Politik«, die das Wunder der Erneuerung, ja der Erschaffung des eigentlichen, vom Egoismus zum Altruismus bekehrten Menschen möglich macht. Als Aufklärer kann er die fortschrittsfeindliche These der natürlichen »Bösartigkeit des Menschen« nicht teilen. Ohne einen ähnlichen Satz wie den Rousseaus, der Mensch sei gut, ausdrücklich zu formulieren, kommt er ihm in seiner sozialoptimistischen Tendenz doch nahe. Als fatalistischer Materialist hegt er dagegen nicht die geringste Hoffnung auf eine Besserung des Menschen — ein »Illusionsverlust«, von dem es nicht weit zu dem resignierten Rückzug in ein epikureisches Privatleben ist. Die ursprüngliche, leibliche Natur gewinnt hiernach am Ende immer wieder ihre Macht über den geistig und sittlich gewandelten Menschen zurück, die »organischen« Determinationen erweisen sich als stärker als die gesellschaftlichen: »[...] et nous retournons ensuite ä notre premier point, quand nos organes remis ä leur ton naturel, nous rappellent ä eux, et nous font suivre leurs dispositions primitives. Alors les anciennes determinations renaissent; Celles que l'art avait produites s'effacent [,..].«19 Aus dem Blickwinkel des naturalistischen Fatalismus sind alle Anstrengungen, den Menschen von seiner angestammten Schlechtigkeit zu befreien, eitler

La Mettrie, (Euvres philosophiques (Anm. 9), Bd. 2, S. 140. " Ebd. 18

MANFRED STARKE

Wahn — Utopien: »En general les hommes sont mechants [...]. Tel est le vice de la conformation humaine.«20 La Mettries geschichtlicher Optimismus, daß es möglich sei, alle zum selbstlosen Dienst für die anderen zu erziehen, ist zukunftsweisend. Danach ist die »Menschlichkeit« (humanite) nicht naturgegeben, sondern ein Erzeugnis der Geistestätigkeit, der tausendfältigen und tausendjährigen moralischen, religiösen, politischen und sozialen Theorie und Praxis. (Es ist daher als ein Irrtum seinerseits zu bewerten, wenn er die alte, zu Beginn der Aufklärung von Bayle gestellte Streitfrage, ob für den Zusammenhalt der Gesellschaft Religion nötig sei, verneint. Menschlichkeit ist nie ohne Religion zustandegekommen und kann ohne sie nicht, jedenfalls auf Dauer nicht, bestehen.) Immer wieder, gerade in manchen Extremsituationen, erweise sich, daß es den vergangenen Epochen geglückt sei, allen wenigstens den Keim der Humanität einzupflanzen. Jedermann, argumentiert er, sofern er wirklich ein Mensch und kein Ungeheuer ist, besitze die Fähigkeit, für seine Mitmenschen Opfer zu bringen, allgemeine Pflichten über individuelle Bedürfnisse zu stellen, beispielsweise ein erbärmliches Leben um seiner Familie oder besonders geliebter Personen willen mit mehr oder weniger Heroismus auszuhalten. Wer, fragt er, wird nicht auf den Freitod verzichten und lieber weiterhin ein schweres, freudenarmes Leben ertragen wollen, wenn ihm vor Augen gefuhrt wird, wie hilfreich und notwendig er für seine Familie, seine Freunde, sein Vaterland ist? »Quel est le lache qui refuse de porter un fardeau utile ä plusieurs? Quel est le monstre qui par une douleur d'un moment, s'arrachant a sa famille, a ses amis, ä sa patrie, n'a pour but que de se delivrer des devoirs les plus sacres?«21 So spricht der — pathetische oder stille — Humanitätsglauben, für den jeder durchschnittliche Mensch eine moralische Anlage oder Substanz besitzt, ja der höchsten, in ihrem innersten Kern mit Entsagung und Opfermut gleichzusetzenden Moral fähig ist. Mit dem Glauben an eine allen anerzogene, latente oder aktive, Moralität gehört La Mettrie zu jenen Aufklärern, welche, ausgehend von der Würde aller Menschen, die Lehre von den allgemeinen Menschenrechten und -pflichten, der Gleichheit und Freiheit aller begründen und damit die moralischen Grundlagen der Demokratie legen. Man muß den radikal-aufklärerischen Zug an einem Autor hervorheben, der schon zu Lebzeiten verleumdet wurde und noch heute meistens als moralisch und philosophisch flacher Materialist, ein alles Erhabene verspottender Genußmensch, eine Art philosophischer Narr Friedrichs II. abgetan wird. Sein Glaube an die Tauglichkeit jedes Durchschnittsmenschen, mittels angemessener Erziehung ein seine engen individuellen Schranken zerbrechendes und sich als Glied

20 Ebd., S. 118. 21 Ebd., Bd. 3, S. 251.

ZUR MATERIALISTISCHEN MORAL LA METTRIES

des Ganzen betätigendes moralisches Wesen zu werden, beflügelt ihn zur Konzeption einer das ganze Volk erfassenden Aufklärung. In einem kühnen sozialphilosophischen Essay, dem - am Hof des zwar in Dingen der Religion, aber nicht in politischen Angelegenheiten toleranten Friedrich II., daher zwangsläufig recht »sibyllinisch«22 geschriebenen - Discours pre liminaire zu seinen CEuvres philosophiques (1751) fordert er die Aufklärer auf, seinem Radikalismus nachzueifern, die »stolze Unabhängigkeit eines Republikaners«23 zu beweisen und vor dem unaufhaltsamen Umbruch der gesamten alten und noch immer gegenwärtigen Ordnung nicht bange zu sein: »Le tonnerre est loin: laissons gronder, et marchons d'un pas ferme a la verite; rien ne doit enchainer dans un philosophe la liberie de penser; si c'est une folie, c'est celle des grandes ämes: pourvu qu'elles s'elevent, elles ne craignent point de tomber.«24 Als Vorkämpfer einer auf der humanitätsgläubigen und heroischen Moral des privaten Verzichts zugunsten des Gemeinwohls gegründeten Gesellschaft ruft er dazu auf, den Citoyen-Idealen alles aufzuopfern, äußerstenfalls für sie sogar in den Kerker zu gehen: »Je ne dis pas que la liberte de l'esprit soit preferable ä celle du corps: mais quel homme, vraiment homme, tant soit peu sensible ä la belle gloire, ne voudrait pas ä pareil prix etre quelque temps prive de la derniere?«25 Der Discours liefert entscheidende Gründe für die Annahme, daß sein Verfasser einen von den Philosophen regierten Staat für möglich hielt, in dem die Idee eines entsagungsvollen Füreinanderdaseins, einer opferbereiten Humanität, kurz, sittliche Freiheit die Köpfe und Herzen aller erfüllt. Es bleibt nun zu untersuchen, inwiefern sein Materialismus der Fortschrittsphilosophie und altruistischen Moral entgegensteht. Zu diesem Zweck ist am

22 La Mettrie redet im Discours preliminaire mit zwei Zungen, einmal in der Sprache der Tradition, des Konservativismus, das andere Mal in der Sprache des Fortschritts. Jene verkündet, man müsse das Volk ständig unterdrücken, weil der Mensch vom Ursprung her »böse«, ein geborener Feind der Sittlichkeit und der Religiosität sei; sie behauptet, es sei nicht für die Aufklärung geschaffen: »Le peuple ne vit point avec les philosophes, il ne lit point de livres philosophiques.« (Ebd., Bd. 1, S. 25.) »Ne craignons done pas que l'esprit du peuple se moule jamais sur celui des philosophes, trop au-dessus de sa portee.« (S. 23.) Aber als an die Macht der Erziehung und der sozialen Umgebung glaubender Aufklärer läßt er keinen Zweifel daran - »les oracles de cette venerable Sybille« (la philosophic, d. h. die Aufklärung) »ne sont equivoques, que pour ceux qui n'en peuvent penetrer et le sens et l'esprit« (S. 56) daß der geistig-sittliche Fortschritt die gesamte Gesellschaft erreichen wird: »Je conviens qu'on prend de la fa^on de penser, de parier, de gesticuler, de ceux avec qui l'on vit; mais cela se fait peu-ä-peu, [...] on y est prepare par degres, et de plus fortes habitudes surmontent enfin de plus faibles.« (Ebd., S. 24f.) 23 »Soyons done libres dans nos ecrits, comme dans nos actions; montrons-y la fiere independence d'un republicain.« (Ebd., S. 59.) 24 Ebd., S. 58.

MANFRED STARKE

besten von der desillusionierten, nach der Kirchenspaltung und den Religionskriegen des 16. und 17. Jahrhunderts sich unter Intellektuellen ausbreitenden Ansicht auszugehen, daß kein Glaube, keine Weltanschauung und kein wie auch immer beschaffenes Weltbild der menschlichen Existenz eine echte Orientierung, Maß und Mitte zu geben vermöchten. Bayle hatte dieses Urteil gleichsam als sein skeptizistisches Schlußwort zu der kritisch-historischen Auseinandersetzung über die zweifelhafte oder mangelnde Wirkung der augenscheinlich endlos wechselnden religiösen und philosophischen Lehren auf das sittliche oder unsittliche Alltagsverhalten der Menschen und Völker gesprochen. Moralisches Handeln, erklärte er im Dictionnaire historique et critique, setze keinerlei weltanschauliche »Spekulation« voraus: »Le vrai principe de nos moeurs est si peu dans les jugements speculatifs que nous formons sur la nature des choses, qu'il n'est rien de plus ordinaire que des chretiens orthodoxes qui vivent mal, et que des libertins d'esprit qui vivent bien.«26 Der Aufklärung war die alle Theorie als grau und oft nur das weltlichsinnliche Leben und das Vergnügen als lohnend erachtende Skepsis ziemlich vertraut, aber sie milderte sie doch meistens durch Beimischung verschiedener orthodoxer, reformierter oder rationalistischer, deistischer - Formen des Glaubens. Auch La Mettries Skeptizismus und Agnostizismus ließen eigentlich immer eine Tür zur Religion und zum Deismus offen.27 Tatsache ist aber, daß er letztendlich, in einem zu seiner Zeit noch sehr ungewöhnlichen, ja provokativen, von dem tugend- und sittsamen Bürgertum meist verabscheuten, eher vom Adel gewagten Schritt, eine außerordentlich klare und mutige Entscheidung zugunsten des Atheismus und Materialismus getroffen hat. Ja, sein philosophischer Entschluß verrät sogar einen bewußt herausfordernden, betont streitbaren Oppositionscharakter, der vor allem seine damals als skandalös empfundene Moralphilo-

M Ebd., S. 60f. 26 Pierre Bayle, Dictionnaire historique et critique, 3 Bde., Rotterdam 1697 (Reprint 1969), Artikel »Arcesilas«. 27 »Ce n'est pas que je revoque en doute l'existence d'un etre supreme; il me semble au contraire que le plus grand degre de probabilite est pour eile [...].« (La Mettrie, CEuvres philosophiques [Anm. 9], Bd. 3, S. 51.) »[...] admettez la creation, ou la rejetez, c'est partout le meme mystere; partout la meme incomprehensibilite. [...] Quelle est la nature de ce que je vois? De tous ces brillants fantömes dont j'aime l'illusion? Etais-je, avant que de n'etre point? Serai-je, lorsque je ne serai plus? [...] C'est ce que les plus grands genies ne sauront jamais [...].« (Ebd., S. 236.) »Comme la medecine n'est le plus souvent qu'une science de remedes dont les noms sont admirables, la philosophie n'est de meme qu'une science des belles paroles; c'est un double bonheur, quand les uns guerissent, et quand les autres signifient quelque chose. Apres un tel aveu, comment un tel ouvrage serait-il dangereux? II ne peut qu'humilier l'orgueil des philosophes et les inviter ä se soumettre ä la foi.« (Ebd., S. 237.)

ZUR MATERIALISTISCHEN MORAL LA METTRIES

sophie prägt. Sie treibt die Ansicht, daß die gesellschaftliche Praxis keiner Weltanschauung bedürfe, auf die Spitze. Um glücklich zu sein, brauche der Mensch weder Wahrheit und Wissenschaft noch moralische oder philosophische Grundsätze und Religion: »Ce qui me persuade de la verite de ce que je viens de mettre en question, c'est que je vois tant d'ignorants heureux, par leur ignorance meme et leurs prejuges. [...] Que ce soit la terre qui toume, ou le soleil, ils ne s'en inquietent point; loin de s'embarrasser du cours de la nature, ils la laissent aller au hasard, et vont eux-memes rondement et gaiement leur petit train avec le baton d'aveugle qui les conduit. Iis mangent, boivent, dorment, vegetent avec plaisir.«28 Im strengen Sinne notwendig sei dem Menschen (wie dem Tier) nur Gesundheit, Befriedigung der leiblichen Bedürfnisse - Sinnenglück. Von dieser Auffassung rührt auch La Mettries, nicht nur unter seinen Feinden oft heftigen Anstoß erregende, Bevorzugung des Epikureismus vor dem Stoizismus her. Obwohl sich im Grunde, wie bei den meisten (jedenfalls französischen) Aufklärern, so auch bei ihm beide vermischen, liebt und genießt er es, die religionsnahe Moralphilosophie der Vernunft und des Willens, der vernünftigen Weltordnung und der Pflichterfüllung zu geißeln, dagegen genießerische, lustvolle Lobeshymnen (La volupte, L'art de jouif) auf die hedonistische Philosophie anzustimmen. Wie unversöhnlich er die stoisch-christliche und die »natürliche« Moral einander entgegensetzt, mag folgende Stelle belegen: »Ecoutez la premiere: eile vous ordonnera imperieusement de vous vaincre vous-memes; decidant sans balancer que rien n'est plus facile, et que >pour etre vertueux, il ne faut que vouloirjenseits der Gesellschaft. Mit einer exemplarischen Geste macht Rousseau, schon im Angesicht des nahenden Todes, sich selbst, im radikalen Bruch mit der Gesellschaft, zum »Einzigen«, der sich seines »Eigentums« verge-

1 Eine große Zahl einschlägiger Beobachtungen zur Struktur des Subjekts im Ganzen von Rousseaus Kulturtheorie findet sich in Jean Starobinski, Jean-Jacques Rousseau. La transparence et l'obstacle, suivi de sept essais sur Rousseau (1957), Paris 1971, ohne daß diese schon zu einer eigenen Theorie der Subjektivität bei Rousseau zusammengeführt würden. Rousseaus Konzept der gesellschaftlichen Alienation und der Spannung zwischen Individuum und Gesellschaft wurde am genauesten analysiert in der klassischen Arbeit von Bronislaw Baczko, Rousseau. Solitude et communaute, Paris 1974. Vgl. Premiere partie: L'alienation et le »monde des apparences«, S. 11-56. Zum Zusammenhang von homme naturel, citoyen und Subjekt vgl. auch Karlheinz Stierle, Theorie und Erfahrung. Das Werk Jean-Jacques Rousseaus und die Dialektik der Aufklärung, in: Jürgen von Stackelberg (Hrsg.), Neues Handbuch der Literaturwissenschaft. Europäische Aufklärung, Bd. 3, Wiesbaden 1980, S. 159-208. Auch Tzvetan Todorov sieht in seinem schönen Essay Freie bonheur (Paris 1985) jenseits von etat de nature und etat de societe eine »troisieme voie«, die des »individu moral« (vgl. S. 73-87). Aber mir scheint, daß Todorov die konstitutiven, unauflösbaren Spannungen des Subjekts jenseits von homme naturel und citoyen in seinem Konzept des individu moral allzu schnell harmonisiert. Gerade das zerrissene, entfremdete Subjekt der Reveries läßt sich auf das positive Konzept eines individu moral nicht zurückführen. 2 Zur Geschichte des Begriffs reverie im 18. Jahrhundert vgl. Robert J. Morrissey, La Reverie jusqu'ä Rousseau. Recherches sur un topos litteraire, Lexington 1984, und Arnaud Tripet, La Reverie litteraire. Essai sur Rousseau, Geneve 1979.

KARLHEINZ STIERLE

wissert.3 Rousseau hat damit gleichsam den Gründungsmythos des modernen Subjekts geschaffen, der bei Hölderlin, Leopardi, Baudelaire und ihren Nachfolgern ebenso nachklingt wie bei Chateaubriand, Nerval und Proust. Rousseau betritt den Raum der eigenen, radikalen Subjektivität mit der Neugierde eines Forschers, den es auf eine imbekannte Insel verschlagen hat und der wie Robinson genötigt ist, sich auf ihr einzurichten. Die Folge seiner zehn reveries und promenades — reverie der Beine, promenade des Kopfes, vereint in der eigenen Bewegung des Textes - sind Expeditionen in die terra incognita des einzig noch auf sich selbst verwiesenen Ich.4 Der Robinson seiner selbst ist Entdekker und Erbauer in einem. So stehen Rousseaus Reveries im Zeichen einer fast beschwörenden Selbstbehauptung und Selbstgewißheit vor dem dunklen Hintergrund der Selbstgefährdung und des Selbstzweifels. Bedingung dieser Selbstbehauptung ist die Unverbrüchlichkeit des amour de soi und die Erfahrung des Glücks, die solcher Unverbrüchlichkeit entspringt. In der zehnten Promenade erinnert Rousseau sich daran, daß er am heutigen Tag vor genau fünfzig Jahren die Bekanntschaft der Madame de Warens gemacht hat. Im Rückblick sagt er von sich selbst: »II n'y a pas de jour οΰ je ne me rappelle avec joye et attendrissement cet unique et court tems de ma vie oü je fus moi pleinement sans melange et sans obstacle et oü je puis veritablement dire avoir vecu.«5 »Etre moi, pleinement«: So lautet Rousseaus Formel des Glücks. Diese ist in der zehnten Promenade nur umschrieben, aber sie wird ausdrücklich in den Confessions, wo Rousseau im sechsten Buch des ersten Teils schon seine Begegnung mit Madame de Warens dargestellt hatte: »Ici commence le court bonheur de ma vie; ici viennent les paisibles mais rapides momens qui m'ont donne le droit de dire que j'ai vecu.«6 Die Erinnerung wird zu einem Hymnus der Glücks: »Je me levois avec le soleil et j'etois heureux; je me promenois et j'etois heureux, je voyois maman et j'etois heureux, je la quittois et j'etois heureux, je parcourois les bois, les coteaux, j'errois dans les vallons, je lisois, j'etois oisif, je travaillois au jardin, je cueillois les fruits, j'aidois au menage, et le bonheur me suivoit par tout; il n'etoit dans aucune chose assignable, il etoit tout en moi-meme, il ne pouvoit me quitter un seul instant.« (S. 225f.) Nur ein Beispiel fur die Intensität dieses Glückszustands gibt Rousseau, das geringste. Beim Weg nach Charmettes sieht Madame de Warens

Vgl. Max Stirner, Der Einzige und sein Eigentum, Leipzig 1845. Eine knappe und kompetente Einführung in Thema und Komposition der Reveries gibt Michele Crogiez, Solitude et Meditation. Etude sur les »Reveries« de Jean-Jacques Rousseau, Paris 1997. 5 Jean-Jacques Rousseau, Les reveries du promeneur solitaire, texte etabli et annote par Marcel Raymond, in: ders., (Euvres completes, ed. publiee sous la direction de Bernard Gagnebin et Marcel Raymond, Bd. I: Les Confessions. Autres textes autobiographiques, Paris 1964 (Ί959), S. 1098f. Nach dieser Ausgabe auch die folgenden Zitate, Seitenzahlen im Text. « Ebd., S. 225. 3

4

AMOUR DE SOI UND ENTFREMDUNG

am Boden etwas Blaues und gibt ihm seinen Namen: »voila de la pervenche encore en fleur«. Jean-Jacques sieht das blaue Immergrün nur flüchtig im Vorübergehen, ohne ihm Beachtung zu schenken. Als er dreißig Jahre später in Begleitung eines Freundes herborisiert, entdeckt er im Gebüsch erstmals wieder ein solches Immergrün und stößt einen Freudenschrei aus: t>ah voila de la pervenche«.. Die kleine, unscheinbare, einst kaum wahrgenommene pervenche ist zum Schlüssel für eine ganze versunkene Welt des Glücks geworden. Doch liegt in noch weiterer Ferne das Urglück, dessen Abglanz nur das Glück von Charmettes ist, die Zeit der Kindheit, an deren Ende eine falsche Beschuldigung und eine ungerechte Strafe steht: »La fut le terme de la serenite de ma vie enfantine. Des ce moment je cessai de jouir d'un bonheur pur, et je sens aujourdui meme que le souvenir des charmes de mon enfance s'arrete lä.« (S. 20) Die hinter diese Schwelle dringende Erinnerung erfaßt schwebende Momente des Glücks, ohne Vorher und Nachher, Augenblicke des reinen, unentzweiten Jetzt. »Je vois la servante ou le valet agissant dans la chambre, une hirondelle entrant par la fenetre, une mouche se poser sur ma main, tandis que je recitois ma Ιεςοη.« (S. 21) Vielleicht ist dieser flüchtige und bedeutungslose Augenblick der leichtesten, absichtslosesten Berührung der glücklichste der Confessions, das reine, unentfremdete Urglück des sentiment de l'existence. »Etre moi, pleinement«, diese Formel des Rousseauschen Glücks bedeutet den reflexionslosen Genuß des eigenen unentzweiten Daseins. Aber wie will ein solches Dasein seiner selbst innesein? Es bedarf der Entzweiung des Ich, damit es sich in seiner Unentzweitheit erfahren kann. Dies ist der prekäre Augenblick des amour de soi, des im Selbstgefühl sich in seiner Einheit genießenden und als Glück erfahrenden Ich. Aber mit dem amour de soi kommt ein Moment der Sorge ins Spiel, die notwendig das um sich selbst besorgte Ich aus sich hinaustreibt. Erst so wird Entzweiung zur Entfremdung, amour de soi zu amourpropre und mit ihr zur fatalen Verstrickung in die Welt. Mit der amour-propre kommt die amour de soi in ihr Spiegelstadium, sie wird sich ihrer bewußt, und diese Bewußtheit treibt sie weiter aus sich hinaus. In einer Note zum zweiten Discours »Sur l'origine et les fondements de l'inegalite parmi les hommes« hat Rousseau beide Formen der Selbstliebe in einen scharfen Gegensatz gebracht, ohne auf die Dynamik einzugehen, die das eine aus dem anderen hervorgehen läßt: »II ne faut pas confondre l'Amour propre et l'Amour de soi-meme; deux passions tres differentes par leur nature et par leurs effets. L'Amour de soi est un sentiment naturel qui porte tout animal ä veiller ä sa propre conservation et qui, dirige dans l'homme par la raison et modifie par la pitie, produit l'humanite et la vertu. L'Amour propre n'est qu'un sentiment relatif, factice, et ne dans la societe, qui porte chaque individu ä faire plus de cas de soi que de tout autre, qui inspire aux hommes tous les maux qu'ils se font mutuellement, et qui est la veritable source de l'honneur. Ceci bien entendu, je dis que

KARLHEINZ STIERLE

dans notre etat piimitif, dans le veritable etat de nature, l'Amour propre n'existe pas.«7 Die amour-propre ist eine luxurierende amour de soi, in der die liebende Differenz des Ich zu sich selbst zur Entfremdung wird, in der das Ich sich um sich selbst bringt und damit um sein Glück. Das Ich, wenn es nicht aus dem Zustand der natürlichen Bewußdosigkeit in den der gesellschaftlichen Bewußdosigkeit treten will, erfahrt sich gleichermaßen als Widerspruch mit sich selbst und als Widerspruch mit der Gesellschaft, der im amour-propre ins Selbst hineingetragen wurde. Wenn aber dieser Widerspruch sich so verschärft, daß der Zusammenhang des Ich mit der Gesellschaft bricht, wie kann das Ich sich dann noch seines Selbstseins vergewissern, wie kann es eine neue amour de soi begründen, die nicht mit jener vorgesellschaftlichen amour de soi identisch wäre, zu der einfach zurückzukehren unmöglich ist? Wie läßt sich die Möglichkeit eines neuen »etre moi, pleinement« denken, die zugleich der Grund einer neuen Glückserfahrung wäre? Im Raum solcher Fragen sind die Reveries unsichere, tastende, ahnende Versuche einer Antwort.8 Die erste Reverie steht im Zeichen einer noch nicht näher benannten Katastrophe, die den Bruch mit der Gesellschaft herbeigeführt hat. Inmitten von Paris, der Hauptstadt der zivilisierten Menschheit, weiß Jean-Jacques sich von ihr ausgeschlossen. Die erste Promenade beginnt mit der Vergegenwärtigung des ungeheuerlichen Faktums, von der Gesellschaft ausgeschlossen zu sein und nur noch sich selbst zu haben. Aber was ist das Ich jenseits des Gesellschaftszustands und damit zugleich auch jenseits des Naturzustands?9 Kann es überhaupt noch ein Ich sein? »Mais moi, detache d'eux et de tout, que suis-je moi-meme? Voila ce qui me reste a chercher.« (S. 995) In der Bodenlosigkeit des neuen Zustands ist die neu gefundene tranquillite, deren das Ich sich wie beschwörend versichert, der Grund einer neu zu errichtenden amour de soi. »Qu'ai-je encore ä craindre d'eux puisque tout est fait?« (S. 997) Nicht zufällig erinnert diese Formulierung an das »consummatum est« des gekreuzigten Christus im JohannesEvangelium.10 In gleichsam panischer Ruhe vergegenwärtigt das Ich das Ausmaß

7 Note XV, Discours sur l'origine et les fondements de l'inegalite parmi les hommes, texte etabli et annote par Jean Starobinski, CEuvres completes, Bd. 3, Paris 1964, S. 219. Zur Deutung des Discours sur l'inegalite als »Aufbruch zu einer modernen Subjekttheorie« vgl. Paul Geyer, Die Entdeckung des modernen Subjekts. Anthropologie von Descartes bis Rousseau, Tübingen 1997, S. 200-258. 8 Trotz einer großen Zahl von Untersuchungen ist, soweit ich sehe, die innere Konsequenz der Gedankenbewegung in den Reveries noch nicht Gegenstand einer besonderen Darstellung gewesen. Der vorliegende Versuch will vor allem die implizite Theoriehaltigkeit der Reveries aufweisen. 9 Zur Struktur des Ich und seines Selbstbewußtseins in der entfremdeten Gesellschaft vgl. Baczko, Rousseau (Anm. 1), Kap. 111,2: Individuaüte et conscience de soi (S. 205 bis 231) und 111,3: Les antinomies de la solitude (S. 232-263). '»Joh. 19,30.

AMOUR DE SOI UND ENTFREMDUNG

der Entfremdung, des Herausgefallenseins aus der Gesellschaft, ja aus der Welt, dem das Ich nichts entgegenzusetzen hat als das Bollwerk der Ruhe, in sich selbst, um nicht aus der liebenden Entzweiung in den Abgrund der Entfremdung gerissen zu werden: »II ne me reste plus rien ä esperer ni ä craindre en ce monde, et m'y voila tranquille au fond de l'abyme, pauvre mortel infortune, mais impassible comme Dieu meme.« (S. 999) Dem folgen Sätze einer Erfahrung von Weltfremdheit, die in der ganzen Literatur vor Rousseau nicht ihresgleichen haben: »Tout ce qui m'est exterieur m'est etranger desormais. Je n'ai plus en ce monde ni prochain, ni semblables, ni freres. Je suis sur la terre comme dans une pianette etrangere ou je serois tombe de celle que j'habitois.« (S. 999) In dieser Situation entsteht ein außerordentliches Projekt, mit dem das Ich sich aus seiner Fixierung auf eine traumatisierende Vergangenheit löst und im Vorblick auf die endgültige Grenze des eigenen Todes sich ein aus dem eigenen Ich herausgesetztes Du gewinnt. Rousseau — oder sollte man eher sagen das Ich der Reveries} — beschließt, seinen Spaziergängen, die zugleich Gänge durch das eigene vergangene und jetzige Bewußtsein sind, eine schriftliche Form zu geben und so zu seinem eigenen zukünftigen, dem Tod noch näheren Ich in Kommunikation zu treten. Das auf sich selbst zurückgeworfene Ich schließt im Zeichen einer neuen amour de soi, die nicht mehr jenes unbewußte Selbstverhältnis sein kann, das die Natur jedem Lebewesen vergönnt hat, gleichsam einen neuen Pakt mit sich selbst und erschafft sich damit noch einmal fundamental neu. »Livrons nous tout entier ä la douceur de converser avec mon ame puisqu'elle est la seule que les hommes ne puissent m'öter.« (S. 999) Das Ich erforscht im Selbstgespräch die Möglichkeit seines Selbstseins, aber es entwirft sich zugleich als seinen zukünftigen Leser und tritt so in Kommunikation zu seinem zukünftigen Ich.11 Indem das Ich auf seine zukünftige Gestalt vorausblickt, löst es sich vom Bann einer dunklen Vergangenheit und erfährt das kommunikative Glück einer neuen amour de soi, die in die Zukunft vorausgreift. Dem Glück solcher Vorsorge wird das Glück dessen antworten, der, noch hinfälliger geworden, im vergangenen Ich noch immer einen Gesprächspartner besitzen wird. So entsteht die innere Geselligkeit eines Kreislaufs der jouissance: »Je fixerai par l'ecriture Celles qui pourront me venir encore; chaque fois que je les relirai m'en rendra la jouissance.« (S. 999) Daß die reverie im Medium der Schrift sich in ihrem Adressaten ihr zukünftiges Ich erträumt, ist der eigentliche Grund der reverie selbst, den sie vorgreifend schon ausdrücklich macht: »[...] leur lecture me rappellera la douceur que je goute ä les ecrire, et faisant renaitre ainsi pour moi le tems passe doublera pour ainsi dire mon existence. En depit des hommes je saurai gouter encore le charme de la societe et je vivrai decrepit avec moi dans un autre age, comme je vivrois avec un moins vieux ami.« (S. 1001) Die Schrift, für Rousseau Medium eines amourpropre, der ihn tief in eine entfremdete Welt verstrickt hat, ist hier zur Grundlage

11 Zur kommunikativen Antinomie von Rousseaus Projekt vgl. Baczko, Rousseau (Anm. 1), S. 262f.

KARLHEINZ STIERLE

einer neuen Form des amour de soi geworden. Das Medium par excellence einer gesteigerten Gesellschaftlichkeit mit der doppelten Konventionalität von Sprache und Schrift wird hier zum Medium eines Aufschubs, der nicht mehr immer abstrakteren gesellschaftlichen Verhältnissen, sondern der konkreten inneren Geselligkeit dient. Die Schrift, dieses »dangereux supplement«, wird hier gleichsam der Gesellschaft entrissen und zur essentiellen Grundlage des Projekts einer Neubegründung des amour de soi im Raum jenseits der Gesellschaft gemacht.12 Die zweite Promenade greift hinter den Augenblick der ersten Promenade zurück, indem sie deren unmittelbaren Anlaß expliziert, und folgt ihr zugleich nach, indem sie in der Spannung von Erinnerung und Jetzt erstmals das Projekt der schriftlich fixierten reverie einlöst. Rousseau beginnt mit einer Betrachtung über die Erfahrung seiner Promenades im ländlichen Umkreis von Paris. Es sind Augenblicke des vollkommenen Bei-Sich-Seins, des »etre moi, pleinement«, wie Rousseau sie einst in der Kindheit und bei Madame de Warens erfuhr und wie sie seinem Gedächtnis noch immer als Erfahrung eines tiefen Glücksgefühls präsent sind: »Ces heures de solitude et de meditation sont les seules de la joumee oü je sois pleinement moi et a moi sans diversion, sans obstacle, et oü je puisse veritablement dire etre ce que la nature a voulu.« (S. 1002) Aber ist hier die reverie eine Erfahrung des Glücks, oder ist die neue Erfahrung des Glücks eine reverie, die sich imaginär in den Zustand eines verlorenen Glücks versetzt, wo es sich selbst zu sagen glaubt, was die Natur wollte, während sein Medium jetzt doch die Schrift ist, in der der Bewußtseinszustand eines Ich jenseits der Gesellschaft erschlossen werden soll? »Transparence« und »obstacle« gehen, wie Jean Starobinski in seinen grundlegenden Studien gezeigt hat, bei Rousseau immer ineinander über. Das Glück der Selbsttranszendenz und einer liebenden Selbstentzweiung, wo die Entzweiung nur darin läge, dem gesteigerten Glück der Vereinigung den Grund zu geben, ist jetzt aber nicht mehr einfach ein Geschenk der eigenen Natur, es entspringt einem Willen zum Glück, dem ein neuer Wille zum Selbst und zur amour de soi entspricht: »[...] j'appris ainsi par ma propre experience que la source du vrai bonheur est en nous, et qu'il ne depend pas des hommes de rendre vraiment miserable celui qui sait vouloir etre heureux.« (S. 1003) Die erste Phase des Projekts, seine Vorgeschichte, liegt in jenen Promenades, wo die träumerische jouissance des Selbstseins sich so sehr genügt, daß sie die Absicht der Aufzeichnung gleichsam aufzehrt: »En voulant me rappeller tant de douces reve-

12 Rousseaus Neubegründung der Schrift aus dem Geist des amour de soi ist ein großes Beispiel dessen, was er »le remede dans le mal« nennt (Confessions [Anm. 5], S. 427). Vgl. zu dieser zentralen Gedankenfigur Rousseaus Jean Starobinski, Le remede dans le mal: la pensee de Rousseau, in: ders., Le Remede dans le Mal. Critique et legitimation de Tartifice ä l'äge des Lumieres, Paris 1989, S. 165—232. In den tiefsinnigen Bemerkungen zu Rousseaus Theorie der Schrift, die Jacques Derrida ins Zentrum seines Buchs De la grammatologit (Paris 1967) gestellt hat, bleibt dieser Aspekt von Rousseaus Reflexionen über die Schrift gänzlich ausgespart. So überrascht es nicht, daß die Reveries in Derridas Auseinandersetzung mit Rousseau so gut wie keine Rolle spielen.

A M O U R DE S O I UND E N T F R E M D U N G

ties, au lieu de les decrire j'y retombois.« (S. 1003) Auf der letzten Promenade dieser Art vollzieht sich das Unheil, das die faktische und symbolische Grenze setzt, jenseits derer Rousseau sich als aus dem Contrat social ausgestoßen erfahren wird. Von allen Promenades hat die zweite die weiteste innere Spannweite, die hier bis an die Zerreißgrenze fuhrt. Die Textpromenade fuhrt zu ihrem Ursprung, jener ersten, der Schrift übereigneten Promenade, in der sich der irreversible Riß zwischen Vorher und Nachher ereignet. Rousseau schildert seine Promenade über die Höhen von Menilmontant, den Genuß des wechselnden Anblicks der Landschaft, dann, wie er sich, seiner alten Botanisierleidenschaft folgend, in den Anblick einiger in dieser Landschaft selten zu findender Pflanzen vertieft, deren wissenschaftliche Namen ihm wohlvertraut sind, und wie er eine, die seltenste, in einem mitgeführten Buch aufbewahrt. Vom Genuß der selbstvergessenen »menues observations« geht die Wahrnehmung weiter und öffnet sich auf das Ganze der Landschaft, das, obwohl noch im heiteren Licht stehend, doch schon nach eingebrachter Ernte jetzt einsam in Erwartung des Winters daliegt. Die Stimmung der Landschaft überträgt sich auf das Innere, sie wird zur Allegorie des eigenen Selbst in Erwartung seiner eigenen Einsamkeit und des eigenen inneren Winters.13 Doch gerade dies Schweifen des inneren Sinns zwischen Vergangenheiten und wahrgenommener Gegenwart, zwischen heiterer Gegenwart und dunkler Zukunft versetzt das Ich in ein Glück eigener Art, einen Schwebezustand wechselnder innerer Empfindungen zwischen douceur und tristesse, aus der es jäh und brutal herausgerissen wird durch einen »accident imprevu«, der zugleich die Kette seines Daseins zerreißt. Schon auf dem Heimweg, wird Rousseau von einer mächtigen dänischen Dogge, die einer Kutsche vorausspringt, in vollem Lauf so heftig umgestoßen, daß er das Bewußtsein verliert und mit blutendem Kopf am Boden liegenbleibt. Er erwacht in den Armen einiger junger Leute, die ihm den Hergang erzählen. Aber vor allem sucht Rousseau den Augenblick des neu zu sich selbst kommenden Bewußtseins zu erfassen, das sich in einer Wiedergeburt erfährt. Dabei inspiriert Rousseau sich deutlich an Montaignes Essay »De l'exercitation«, wo dieser mit einer außerordentlichen Kunst der Darstellung einen beim Sturz vom Pferd erlittenen traumatischen Schock in seinen einzelnen Phasen vergegenwärtigt hatte.14 Doch wird bei Rousseau die traumatische Erfahrung zu einem Trauma von prinzipiell anderer Art. Der erste Augenblick des Zu-Bewußtsein-Kommens, in dem Rousseau an der eigenen Person gleichsam die früheste Erfahrung des Selbstbewußtseins beim homme naturel erlebt, ist der eines reinen sentiment de l'existence, ohne Vorher und Nachher, den Rousseau als »moment delicieux« in Erinnerung behält. Daraus geht das Bewußtsein eines Neu-Geboren-Seins hervor, das die reverie zugleich zur sozialen Wiedergeburt oder vielmehr zur Geburt eines neuen moi jenseits der Gesellschaft verwandeln wird. »Je naissois dans cet instant ä la

13 14

Hölderlin wird sich für sein Gedicht »Hälfte des Lebens« dieser Stelle erinnern. Michel de Montaigne, Essais, Livre second, chap. VI.

109

KARLHEINZ STIERLE

vie, et il me sembloit que je remplissois de ma legere existence tous les objets que j'appercevois.« (S. 1005) Dies neue Ich erfährt sich in einer unvergleichlichen inneren Ruhe, die die Mitgift an das neue moi sein wird und die sich mit einem so nie zuvor wahrgenommenen Glückszustand verbindet: »Je sentois dans tout mon etre un calme ravissant auquel chaque fois que je me le rappeile je ne trouve rien de comparable dans toute l'activite des plaisirs connus.« (S. 1005) Erst in der Folge kommt Rousseau auf den Gedanken, die rätselhafte Reaktion der Pariser Gesellschaft, die ihn lange ganz ignoriert hatte, auf sein Unglück mit diesem selbst in Zusammenhang zu bringen und auf eine geheime Verschwörung zu seinem Schaden zu schließen. Erst jetzt weiß er sich ohne Hoffnung aus der Gesellschaft ausgeschlossen, ja der einmal in Gang gesetzten schwarzen reverie scheint es nicht ausgeschlossen, daß Gott selbst in seinem unerforschlichen Ratschluß sich von ihm abgewandt habe und der wahre Urheber der dunklen Verschwörung sei, als deren Instrument die teuflische Dogge ihn habe vernichten wollen. Wie erste und zweite Promenade in einem unauflösbaren Zusammenhang stehen, so auch die dritte und vierte. Ausgangspunkt der dritten Promenade ist der Satz Solons: »Je deviens vieux en apprenant toujours.« Dem steht Rousseaus eigene Erfahrung entgegen, daß Wissen oft eher unglücklich als glücklich macht, aber auch, daß das Fortschreiten des Alters keine Garantie für das Fortschreiten der Einsicht ist. Indem Rousseau sein Leben durchforscht, bringt er sich sein geheimes Gesetz zu Bewußtsein. Schon als Kind in den »tourbillon du monde« geworfen, erkennt er sein Bedürfnis nach einem Leben in ruhiger, umgrenzter Beschaulichkeit. Aber aus der Beschaulichkeit von Les Charmettes wirft es ihn erneut in den tourbillon du monde, aus dem er sich wiederum in die Welt der Einfachheit und Ruhe sehnt. Im 40. Jahr ist er schwankender denn je zwischen seinen wahren und seinen eingebildeten Bedürfnissen. Aber schon der junge Jean-Jacques hatte sich vorgenommen, im 40. Jahr über sich eine Entscheidung zu finden. Rousseau verwirklicht sein Lebensprojekt, wie es zunächst scheint, ohne Mühe, wenngleich kompromißlerisch, so daß etwa »une perruque toute simple« durchaus für das neue einfache Leben noch unerläßlich scheint. Die »grande revolution« von Rousseaus Leben führt in die Einsamkeit, doch nur, um dort ein literarisches Werk zu vollenden, das ihn umso mehr wieder in den »tumulte de la societe« zurückstoßen sollte. Aber dennoch bleibt die Einsamkeit der Grund von Rousseaus wahrem Lebensglück, so daß, als später seine Feinde ihn in die Einsamkeit treiben, sie, ohne es zu wissen, ihn zu seiner Bestimmung zurückführen. Wieder ist Rousseau in die Welt der glänzenden Sophismen seiner Freunde zurückgeworfen, bis er endlich den Beschluß faßt, mit seinen Freunden zu brechen und selbst im Hinhören auf das eigenste Innere die Maxime seines zukünftigen Handelns festzulegen. In solcher Ubereinkunft des Ich mit sich selbst wird der Grund jener amour de soi gelegt, die bei allen Schlägen des Schicksals unerschütterlich bleiben wird: »Depuis lors reste tranquille dans les principes que j'avois adoptes apres une meditation si longue et si reflechie, j'en ai

AMOUR DE SOI UND ENTFREMDUNG

fait la regle immuable de ma conduite et de ma foi, sans plus m'inquieter ni des objections que je n'avois pu resoudre ni de Celles que je n'avois pu prevoir et qui se presentoient nouvellement de tems ä autre ä mon esprit.« (S. 1018) Damit ist gleichsam durch einen Contrat social des Ich mit sich selbst die Möglichkeit der Selbstzerstörung gebannt. Zwar bleiben auch fortan Rousseau die Selbstzweifel nicht erspart, aber ihre zerstörerische Kraft ist gebrochen. Das Ich, an den vorgreifenden Pakt der Selbsterkenntnis gebunden, bleibt dadurch im Innersten unangreifbar. Die Zweifel und Verzweiflungen bleiben momentan und machdos: »Ce sont de legeres inquietudes qui n'affectent pas plus mon ame qu'une plume qui tombe dans la riviere ne peut alterer le cours de l'eau.« (S. 1021) Ist dies Selbstanalyse oder beschwörende reverie? Die allzu euphorische Bildlichkeit legt die Vermutung des letzteren nahe. Doch warum sollte Rousseau selbst sich die Sicherheit des Grundes nehmen, auf dem er allein seinem ungeheuren Schicksal standhalten kann? Neben dem praktischen Argument ist das zweite von unwiderlegbarer Logik: daß nichts dafür spricht, die Evidenz eines von Alter und Unglück bedrängten Bewußtseins könnte mächtiger sein als jene des Ich, das sich selbst auf der Höhe seiner Kraft und Einsicht die Regeln seines Lebensprojekts gab. So also, wie der Rousseau der Reveries sich über sich hinausträumt zum Gesprächsparter jenes Rousseau, der er sein wird, träumt er sich zurück zum Gesprächsparter jenes früheren Rousseau, der dem gegenwärtigen das Fundament seiner Selbstgewißheit zu geben vermag. Dies aber ist der Grund, weshalb Rousseau, anders als Solon, sich der Einsicht seines früheren Ich überläßt. Hatte Rousseau in der ersten Promenade sich aus sich selbst einen zukünftigen Gesprächsparter erschaffen, so vollendet die dritte Promenade die Trinität der eigenen Person als Utopie einer neuen Geselligkeit des amour de soi mit dem zur normativen Instanz gewordenen vergangenen Ich. Kann das Ich, wie Plutarch, Rousseaus Lieblingsautor, es nahelegt, aus seinen Feinden Nutzen ziehen? Eine Streitschrift des Abbe Rozier, die das Motto von Rousseaus Confessions »vitam impendere vero« ironisch in Frage stellt, wird zum Anstoß einer tieferdringenden Selbsterkundung, deren Ergebnis lautet: »[...] que le connois-toi toi-meme du Temple de Delphes n'etoit pas une maxime si facile ä suivre que je l'avois cru dans mes Confessions.«. (S. 1024) Die Selbsterkundung wird zum Projekt der Promenade des folgenden Tages, ihr Ergebnis fixiert die Niederschrift am Tag danach. Indem Rousseau jetzt einer verdrängten Wirklichkeit seiner selbst, seinem verborgenen Hang zum Lügen, nachgeht, entdeckt er eine ihm bisher verborgen gebliebene Selbstentzweiung, die ihn nach dem Wunsch seiner Feinde in selbstzerstörerische Verzweiflung stürzen müßte und die im Gegenteil in ihm die Unverbrüchlichkeit seines amour de soi bestärkt. Rousseau lügt aus Scham oder um eine Wahrheit zu schützen, die er nicht preisgeben will und zu deren Preisgabe er nicht verpflichtet ist, er lügt aus nichtigem Anlaß, der moralisch nicht belangt werden kann, er erlaubt sich das »dire faux«, wenn mit ihm nicht die Absicht verbunden ist, einen Schaden

111

KARLHEINZ STIERLE

zuzufügen, und so die Lüge in den Bereich der sich selbst genügenden fiction hinüberspielt. Aber ist nicht die reverie selbst jene zweideutige Region, wo die Differenz zwischen Wahrheit und Lüge in die Schwebe kommt? Zugleich aber ist die reverie der eigentliche Ort des amour de soi und des Glücks seiner Selbstbehauptung über alle Entzweiung hinweg. Rousseaus Lügen, dies ist ihre entscheidende Rechtfertigung, sind nie kalkuliert, sondern impulsiv, entspringen seiner Natur und sind damit ein Teil seiner selbst. Sie gehören somit in den innersten Bereich des amour de soi, nicht in die in die Welt der Entfremdung verstrickte amour-propre. Daher sind Scham und Schüchternheit die eigentlichen Quellen des Lügens, die seiner immer wieder als Selbstschutz bedürfen. Andererseits geht Rousseau bis an den Rand der Selbstentzweiung, wenn er in seinen Confessions gegen seinen Hang zu Scham und Schüchternheit sich selbst gleichsam schamlos bloßstellt, ja in einer Art Überkompensation im Akt der Selbstentblößung oft der negativen Lüge verfällt. Doch ist dies zugleich Teil jenes »delire de l'imagination«, das die Wahrheit färbt und verstärkt, nicht aber sie verfälscht. Nicht zuletzt aber kennt Rousseau auch, wie er mit zwei Kindheitserinnerungen belegt, die Lüge der Großherzigkeit. »J'ai souvent debite bien des fables, mais j'ai tres rarement menti.« (S. 1038) Dies ist das Ergebnis der Selbstbefragung, die, statt den Pakt des amour de soi zu gefährden, ihn noch fester schließt.15 Aber dennoch hat das Überdenken des Vorwurfs seiner Feinde einen Vorteil gebracht. Rousseau muß einsehen, daß die Dialektik von Wahrheit und Unwahrheit in ihm tiefer angelegt ist, als der Verfasser der Confessions dies noch glauben wollte. Damit aber bewahrheitet sich gegen die Einsicht der dritten Promenade die Wahrheit des Solon, daß auch im Alter und selbst von den eigenen Feinden etwas zu lernen ist. Nie kommt die reverie auf festen Boden, sie bleibt schwankend, doch erhält sich unverbrüchlich in ihr die amour de soi als Fundament der volonte du bonheur. Im Blick auf die fünfte Promenade sind die vorhergehenden Einübungen, Vorbereitungen, um eines Glücks mächtig zu sein, dessen Intensität sich einer Entzweiung verdankt, hinter der bedrohlich die Erfahrung der Entfremdung steht. Die Petersinsel im Bieler See, auf die Rousseau sich nach der Steinigung von Motiers geflüchtet hat, ist der Schauplatz eines sich umgrenzenden, ausgrenzenden Ich. Die kurze Zeit, die Rousseau hier zubringt, ehe er aus seinem Paradies vertrieben wird, wird zur Zeit eines vollkommenen Glücks, das sich aus sich überlagernden und steigernden Glückserfahrungen zusammensetzt, die nur dem aus der Gesellschaft freigesetzten Ich zugänglich sein können. Das der Steinigung von Motiers entronnene Ich schließt gleichsam auf der Insel den Pakt eines amour de soi, dessen Glücksmomente in ihrer unerhörten Neuheit dem aus der

15 Nicht zuletzt gegen solche Laxheit richtet sich Kants Aufsatz »Über ein vermeintliches Recht aus Menschenliebe zu lügen«, der wiederum der eigentliche Angriffspunkt von Nietzsches »Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne« gewesen zu sein scheint

AMOUR DE SOI UND ENTFREMDUNG

Gesellschaft ausgestoßenen Ich entspringen.16 Nur der unerhörte Verlust kann aber jene psychischen Energien freisetzen, die das Ich in die Energien eines glücklichen gegenwärtigen Inneseins seiner Welt verwandelt. »Je compte ces deux mois pour le tems le plus heureux de ma vie et tellement heureux qu'il m'eut suffi durant toute mon existence [...].« (S. 1042) Es gibt eine Progression des Prekären in Rousseaus Beschwörung seiner Glücksmomente, die zugleich dem Glück neue Färbungen und Intensitäten erschließt. Rückblickend stellt Rousseau selbst sich die Frage nach der Natur dieses neuen, von allen bisherigen Glückserfahrungen unterschiedenen Glücksgefühls. Seine erste Bedingung ist die erzwungene Untätigkeit. Rousseau, den das Schreiben erst in sein Unglück gebracht hat, schreibt nicht und läßt seine Bücherkisten ungeöffnet. Statt dessen gibt er sich dem Genuß des Botanisierens hin, aber mit dem Ehrgeiz, alle Pflanzen der kleinen Insel systematisch zu erfassen und zu einer »Flora petrinsularis< zusammenzufassen. Jeden Morgen bricht Rousseau auf, sein >Systema naturae< in der Hand. Damit beginnt eine Darstellung, die die zwei auf der Insel verlebten Monate zu einem einzigen Tag des Glücks zusammenschließt. Die Erzählung beginnt am Morgen und führt ihre reverie unmerklich bis zum Abend fort Proust wird sich in der Evokation von Combray dieser Darstellungsweise entsinnen.17 Die Selbstvergessenheit der botanischen Beobachtung ist so intensiv, daß dies nahelegt, sie könnte die andere Seite einer Verdrängung sein. Der Mittag gehört der Bootsfahrt und »mille reveries confuses«, denen er in seinem von den Wellen sanft geschaukelten Boot nachhängt. Die Szene wechselt zum Nachmittag mit seinen Herbarisierungsgängen durch die Insel und den Augenblicken der Rast, wo das träumende Ich seinen Blick auf die weiten es umgebenden Landschaften bis an den Horizont lenkt. Wie die vorhergehenden Promenades in Stationen hinführen zur Evokation der reverie in ihrer reinsten Form, in der zugleich eine neue Möglichkeit des Glücks am intensivsten erscheint, so fuhrt die Cinquieme Promenade selbst in abgesetzten Schritten hin zu ihrem Höhepunkt, der Erinnerung der abendlichen Träumerei am Wasser, wo das Ich gleichsam in einen neuen Zustand seiner selbst hinübertritt.18 Die inneren Bewegungen werden ausgelöscht von einer »inmittelbar in reverie übersetzten leisen Bewegung des Wassers, die dem Ich das leichteste Bewußtsein seiner selbst vermittelt, ohne daß dieses im Allgemeinen und Unbestimmten aufginge: »Le flux et reflux de

16 Friedrich Schiller dürfte in seinem Aufsatz »Uber naive und sentimentalische Dichtung« die fünfte Promenade als Paradigma jener Naturauffassung vor Augen gehabt haben, die er »sentimentalisch« nennt. Friedrich Hölderlin hat in seinem Gedicht »Der Rhein« Rousseau auf der Petersinsel zum Heros einer neuen Naturerfahrung gemacht, in der Natur sich mit Freiheit versöhnt. 17 Hans Robert Jauß hat in seinem Buch Zeit und Erinnerung in Marcel Pransts »A la recherche du temps perdu« (Heidelberg 1955) auf diese Erzählweise bei Proust erstmals hingewiesen (S. 66-76). 18 Uber den Zusammenhang von fluidite und transparence vgl. Starobinski, JeanJacques Rousseau (Anm. 1), S. 305f.

KARLHEINZ STIERLE

cette eau, son bruit continu mais renfle par intervalles frappant sans relache mon oreille et mes yeux suppleoient aux mouvemens internes que la reverie eteignoit en moi et suffisoient pour me faire sentir avec plaisir mon existence, sans prendre la peine de penser.« (S. 1045) Dem sentiment de l'existence des homme naturel, aber auch noch Jean-Jacques', der die leise sommerliche Berührung der Haut durch eine Fliege wahrnimmt, steht hier die gesteigerte Wahrnehmung des sentiment de mon existence eines Ich entgegen, das sich jenseits seiner gesellschaftlichen Existenz eine neue Dimension des Selbstseins erschlossen hat. Ein gemeinsamer Gang mit Therese, der Gefährtin, beschließt den langen Tag. Die Evokation dieser Erinnerungsinsel des Glücks stellt die Frage nach seiner Natur. Glück ist zuständlich, nicht ereignishaft: »[...] et le bonheur que mon cceur regrette n'est point compose d'instans fugitifs mais un etat simple et permanent, qui n'a rien de vif en lui-meme, mais dont la duree accroit le charme au point d'y trouver enfin la supreme felicite.« (S. 1046f.) Aber ist dieser Zustand nicht selbst eine reverie? Ist das Glück etwa gar die flüchtig aufscheinende Ahnung einer Dauer, die ordos bleiben muß? »A peine est-il dans nos plus vives jouissances un instant ou le cceur puisse veritablement nous dire: Je voudrois que cet instant durät toujourr, et comment peut-on appeller bonheur un etat fugitif qui nous laisse encor le cceur inquiet et vuide, qui nous fait regreter quelque chose avant, ou desirer encor quelque chose apres?« (S. 1046) Rousseau erträumt dies vollkommene Glück, »bonheur süffisant, parfait et plein«, und er träumt sich in dieses hinein: »Tel est l'etat ou je me suis trouve souvent ä l'Isle de S' Pierre dans mes reveries solitaires [...].« (S. 1046) Das Glück des »etre pleinement moi« läßt keine Lücke, aber es ist die reverie, die der Lücke, dem Negativen, dem Mangel entspringt und in dieser den Traum der plenitude träumt. Der neuen, komplizierten Empfindung des Einfachen entspricht eine neue, komplizierte Empfindung der Landschaft in der Spannung von Idylle und Erhabenheit, von Kultur und uranfänglicher Natur, für die Rousseau ein neues, aus England kommendes Wort findet, das Fortune machen sollte: romantique heißt die Erfahrung einer Landschaft, die der Empfindung des aus der Gesellschaft, und sei es nur für einen Augenblick, herausgetretenen Ich korrespondiert. Die romantische Landschaft ist gleichsam die Verlängerung der reverie in die Wirklichkeit. Das Ich verläßt seine innere reverie nur, um in eine reverie der Außenwelt einzutreten: »[...] j'assimilois ä mes fictions tous ces aimables objets et me trouvant enfin ramene par degres ä moi-meme et ä ce qui m'entouroit, je ne pouvois marquer le point de separation des fictions aux realites.« (S. 1048) Aber die reverie endet hier nicht. Wie der durch die lapidation de Motiers traumatisierte Rousseau mit neuer Intensität das Glück seiner Insel empfindet, so, und mit noch anderer Intensität, der vom endgültigen Bruch mit der Gesellschaft traumatisierte Rousseau, der in Paris oder seiner nahen Umgebung sich an den glücklichen Aufenthalt auf der lie de Saint-Pierre erinnert. Die Cinquieme Promenade ist die reverie einer reverie. Es ist das gegenwärtige Ich, das sich träumend in die Träumereien der Petersinsel versetzt und diese steigert, zugleich aber auch den dunk-

AMOUR DE SOI UND ENTFREMDUNG

len Hintergrund, den Mangel erahnen läßt, dem die gesteigerte Erfahrung des Glücks entspringt. So kann Rousseau schließlich die gegenwärtige, verlebendigende, intensivierende reverie der einstigen »reverie abstraite et monotone« entgegensetzen: »[...] ä l'attrait d'une reverie abstraite et monotone je joins des images charmantes qui la vivifient.« (S. 1049) Doch erfahrt diese zweite reverie noch einmal eine Steigerung und Intensivierung, indem sie sich zur Text-Reverie, zur reverie im Medium der Schrift konkretisiert.19 Es ist das Wunder einer vollkommenen Durchsichtigkeit der drei reveries im Zusammenklang ihrer inneren Bewegung und ihrer gemeinsamen Korrespondenz mit der von außen kommenden Bewegung, die der Erinnerung an die abendliche reverie am Wasser ihre so noch nie vernommene Eindringlichkeit gibt. Damit ist aber die Voraussetzung dafür geschaffen, daß in einer reverie supreme das zukünftige lesende Ich noch immer teilhat am Nachklang eines fernen und vielleicht imaginären Glücks, in das es sich jetzt seinerseits träumerisch zu versetzen vermag. Mit der fünften Promenade hat Rousseau eine neue Sprache gesteigerter Intensität des amour de soi vor dem Hintergrund einer unheilbaren Entfremdung gefunden, die einer neuen lyrischen Dichtung in ganz Europa die Zunge lösen sollte. Die weiteren Promenades sind Bewegungen auf einem jetzt endgültig gewonnenen neuen Terrain. In der sechsten Promenade sinnt Rousseau der fatalen Verkettung nach, die aus Spontaneität Gewohnheit macht und daraus einen Contrat social entstehen läßt, der die schöne Freiheit der spontanen Regung abtötet. Rousseau fragt nach der Ursache einer ihm selbst rätselhaften Verhaltensweise, daß er nämlich bei seinem gewohnten Gang in Richtung Gentilly automatisch immer denselben Umweg macht. So wird ihm klar, daß er die Begegnung mit einem Betteljungen vermeiden will, der nach einigen Gaben jetzt eine regelmäßige Zuwendung erwartet. Der Anstoß der Selbstbeobachtung fuhrt so bis zu den tiefsten Problemen der Gesellschaftsbildung. Auch dies ist eine Form der reverie, die vom Alltäglichsten und Unscheinbarsten zur tiefsten philosophischen Einsicht in die verborgenen Gesetzmäßigkeiten des Gesellschaftszustands reicht. Auch in der siebten Promenade fragt Rousseau sich selbst nach der Ursache eines rätselhaften Verhaltens. Rousseau ist erneut von der Leidenschaft des Botanisierens ergriffen. Da er seine Bücher verkauft hat, schreibt er sich die für das wissenschaftliche Bestimmen nötigen Werke ab. So stark ist seine Leidenschaft, daß er, kaum begonnen, schon wieder die Darstellung seiner reveries einstellen will, um sich ganz an das Botanisieren hinzugeben. Aber es ist nicht der Lohn einer wissenschaftlichen Tätigkeit, die ihn verlockt, sondern ein verborgener Antrieb, den er selbst ans Licht bringen will: »Or c'est une bizarrerie que je voudrois m'expliquer; il me semble que, bien eclaircie, eile pourroit jetter quelque

19 Vgl. hierzu Jean Starobinskis Bemerkungen über die Doppelung der Reverie und das Verhältnis von »reverie seconde« und Schrift und Rousseaus Projekt der »transmutation clarifiante« in: ebd., 6. Essai: »Reverie et Transmutation« (S. 415-429), bes. S. 417ff.

KARLHEINZ STIERLE

nouveau jour sur cette connaissance de moi-meme ä l'acquisition de laquelle j'ai consacre mes derniers loisits.« (S. 1061) Rousseau erfährt die Freiheit der vom Zwang argumentativer Stringenz entbundenen Reflexion als tiefen Genuß seiner selbst. Im Schweifen der Gedanken wird das Subjekt jenseits der Gesellschaft, das sich selbst noch immer als Gesellschaft hat, zum homme naturel in der neuen Wildnis einer von der Gesellschaft erzeugten Sphäre des Denkbaren. Die schweifenden Energien eines Bewußtseins, das es nicht verhindern kann, sich trotz allen Selbstgenusses als ein unglückliches zu erfahren, finden in der genauen und selbstvergessenen Beobachtung der Pflanzenwelt einen Ruhepunkt. Zwischen enthusiastisch-identifizierender Naturbetrachtung, die vorschnell beim Allgemeinen ankommt, und nüchterner Praxisbezogenheit bleibt der Bereich der Beobachtung und Klassifikation um ihrer selbst willen, die den Geist zu fesseln vermögen. Die Beobachtung tritt aus der Sphäre der enthusiastischen reverie hinaus, aber die Frage, welche verborgenen Motive hinter dieser Zuwendung stehen, führen auf einer höheren Ebene der Reflexion in die Sphäre der Gedanken-Reverie zurück. Rousseau sieht, daß die Hinwendung zur Botanik nichts anderes ist als eine Abwendung von den Beunruhigungen der dem Einsamen noch immer gegenwärtigen Gesellschaft, die Gegenstände der Pflanzenbeobachtung ein Supplement der verdrängten Wirklichkeit des unglücklichen Bewußtseins. Die Einsamkeit selbst ist eine neue reverie der Evasion. Dies wird in einer Erinnerung vergegenwärtigt, die Rousseau gleichsam zur Urszene einer neuen komplizierten Durchdringung von Natur, Gesellschaft und Selbsterfahrung macht. Bei einem Botanisierausflug in den Schweizer Alpen nahe dem Bieler See träumt Rousseau sich mitten im Botanisieren, das ihn immer tiefer in die Einsamkeit fuhrt, in eine absolute, unerhörte Einsamkeit hinein, als deren Christoph Kolumbus er sich empfindet. Er ist der erste Sterbliche, dessen Fuß diese Einsamkeit betrat. Ein mechanisches Klopfen dringt in diese Träumerei, und Rousseau, der ihm nachgeht, wird durch den Anblick einer wassergetriebenen Textilmanufaktur aus der tiefsten und fernsten Einsamkeit in die nächste und avancierteste gesellschaftliche Modernität gerissen. Der plötzliche Anblick, der das Bewußtsein wie ein Schock trifft und es bis zum Zerreißen spannt, steht in der Widersprüchlichkeit zweier Empfindungen: der spontanen Empfindung des Glücks über die plötzliche Nähe menschlicher Gesellschaft und ihrer Überlagerung durch den Schmerz der Trennung: »Mon premier mouvement fut un sentiment de joye de me retrouver parmi des humains oü je m'etois cru totalement seul. Mais ce mouvement plus rapide que 1'eclair fit bientot place ä un sentiment douloureux plus durable, comme ne pouvant dans les antres meme des alpes echaper aux cruelles mains des hommes, acharnes ä me tourmenter.« (S. 1071) Dies ist die komplementäre Erinnerung zu jener der reverie auf der Petersinsel und zugleich ihr entscheidendes Korrektiv. Das unglückliche Bewußtsein findet nicht zur Natur zurück, es erschafft sie neu unter den Bedingungen seiner eigenen Wahrnehmung.

AMOUR DE SOI UND ENTFREMDUNG

Der Ambiguität dieses Augenblicks korrespondiert eine zweite Erinnerung, deren wahrhaft abgründige Ambiguität Rousseau nur andeutet. Rousseau botanisiert während eines Aufenthalts in Grenoble in der Nähe der Stadt zusammen mit dem Rechtsanwalt Bovier. Rousseau ißt giftige Früchte von einem ihm unbekannten Gewächs, ohne daß der Rechtsanwalt ihn warnt. Einer seiner Freunde, hinzugekommen, klärt ihn entsetzt auf, und Bovier, von Rousseau nach seinem Schweigen gefragt, antwortet, er habe es nicht gewagt, ihn zu belehren und so vielleicht in seinem Stolz als kundiger Botaniker zu verletzen. Rousseau, des festen Glaubens, daß, was wohl schmeckt, dem Körper nicht schaden könne, übersteht den giftigen Genuß, ja er lacht über die Sonderlichkeit seines Freundes aus der Dauphine. Sollte dies Lachen ganz ohne Argwohn gewesen sein, und sollte Rousseau sich an diese Episode ganz ohne Argwohn erinnern? Die neue Leidenschaft des Botanisierens erweist sich der nachdenklichen Selbstbefragung immer mehr als ein Medium des komplexen und gesteigerten Bewußtseins. Beim Durchsehen der alten Herbarien werden die Landschaften wieder lebendig, die Rousseau einst durchwanderte, und auch die botanischen Gänge um Paris wecken, über die selbstvergessene Beobachtung hinaus, die Erinnerung und lassen den Bruch mit der Gesellschaft vergessen, zumindest immer wieder für kurze Zeit: »Elle [la botanique] me rappelle et mon jeune age et mes innocens plaisirs, eile m'en fait jouir derechef, et me rend heureux bien souvent encore au milieu du plus triste sort qu'ait subi jamais un mortel.« (S. 1073) Die reverie ist erneut der Ort, wo die ganze Spannweite der Selbsterfahrung im zweifachen Horizont von verlorener Natur und verlorener Gesellschaft in der Schrift als dem Medium der Entfremdung und des amour de soi zum Austrag kommt. Der radikale Bruch mit der Gesellschaft schafft die Virtualität eines neuen Subjekts. Aber dieses wird erst in der Denkarbeit der reverie in die Aktualität gehoben. Auch in der achten Promenade stellt sich im Hinhören auf die eigene Erinnerung eine Frage, der die reflexive reverie nachgeht. Wie kommt es, daß in der Erinnerung die Zeiten des Glücks so viel weniger präsent sind als die seltenen, aber intensiven Glücksmomente in Zeiten des Unglücks? In der Zeit des vollen gesellschaftlichen Glücks der universellen Anerkennung als Autor empfindet Rousseau ein doppeltes Ungenügen: er langweilt sich in der Einsamkeit, und er verliert sich in der Gesellschaft und ihren Verlockungen. In der Zeit des Glücks fehlt ihm eben das, was sein Glück wahrhaft zum Glück seiner selbst machen könnte. Dagegen ist im Zustand des gegenwärtigen Elends das Ich so reich an ihm selbst entspringenden Glückserfahrungen, daß es mit dem Glücklichsten nicht tauschen wollte. Aber Rousseau läßt keinen Zweifel daran, daß dies Glück nicht selbstverständlich ist, sondern beständig erarbeitet werden muß und immer gefährdet bleibt. Rousseau vergegenwärtigt seinen langen Weg von der ersten Entdeckung einer gegen ihn gerichteten Verschwörung seiner falschen Freunde und dem Delirium des Selbstverlusts bis zum gegenwärtigen Augenblick der inneren Ruhe, des Friedens und des neu gefundenen Glücks. Erst die Einsicht in

KARLHEINZ STIERLE

seine radikale Isolierung und die Bereitschaft, sein Unglück klaglos hinzunehmen, haben ihn unangreifbar gemacht. Und doch ist es die geglaubte Absichtlichkeit der ihm zugefugten moralischen Verletzungen, die einen Stachel läßt, den Rousseau in sich nicht ausreißen kann. Rousseau mag mit Indifferenz seiner Situation begegnen, den Stachel in sich selbst kann er nicht herausziehen. Rousseau entdeckt den Grund der Empfindung, die sein Glück bedroht, in seiner eigenen amour-propre und ihrer gefährlichen Kunst, sich an die Stelle des amour de soi zu setzen: »[...] l'amour-propre fertile en illusions se deguise et se fait prendre pour cette estime, mais quand la fraude enfin se decouvre et que l'amour propre ne peut plus se cacher, des lors il n'est plus ä craindre et quoiqu'on l'etouffe avec peine on le subjugue au moins aisement.« (S. 1079) Die amourpropre verstrickt das Ich in die Gesellschaft und schafft die Sucht nach gesellschaftlicher Anerkennung. Niemand kennt diese Verlockung genauer als Rousseau, der von aller Welt umworbene und umschmeichelte Autor. Im amourpropre entfremdet das Ich sich seiner selbst, das im amour de soi in der liebenden Entzweiung sich umfaßt. Zwar ist Rousseaus amour-propre unter dem Zwang der Verhältnisse fast ganz in den ursprünglichen amour de soi zurückgekehrt, so daß der Weg zu einem immer reicheren ungetrübten Glück der Kommunikation mit sich selbst jetzt ganz offenzustehen scheint. Dennoch gibt es immer wieder Augenblicke, wo der schlafende amour-propre erwacht. Die Selbsterziehung kann dies nicht verhindern. Rousseau lebt mitten in Paris, im Mittelpunkt der zivilisierten Welt seiner Zeit. Wie sollte es möglich sein, hier sich selbst in heiterer Indifferenz zu bewahren. »C'est lä ma seule peine; mais eile suffit pour alterer mon bonheur.« (S. 1082) Noch immer ist der amour-propre das Trojanische Pferd der Gesellschaft im eigenen Inneren. Der Pakt von amour-propre und amour de soi kann jederzeit aufgekündigt werden, im Inneren der liebenden Entzweiung bleibt die Entfremdung unausreißbar. Doch gibt es eine Strategie der Selbstbewahrung, mit der das Ich die prinzipielle Unerschütterlichkeit seines Glücks behauptet. Läßt die Entfremdung sich nicht gänzlich bannen, so doch temporalisieren. Die amour-propre »fait son jeu«, aber der Schmerz, den sie erzeugt, fällt ins Leere und entzieht sich der Erinnerung. Er gehört im eigentlichen Sinne dem Ich nicht mehr zu, das sich daher, von der Gesellschaft ausgestoßen, als ein glückliches verstehen kann. Mit der neunten Promenade schließt sich der Bogen einer inständigen Folge von Reflexionen über das Glück, das dem Ich jenseits der Gesellschaft offensteht. Aber der Anfang dieser Promenade scheint alle bisherigen Bemühungen um die Möglichkeit einer neuen subjektiven Glückserfahrung zunichte zu machen: »Le bonheur est un etat permanent qui ne semble pas fait ici bas pour l'homme.« (S. 1085) Damit beginnt ein semantisches Spiel im Sinnbezirk des Glücks, das immer neue Glücksmöglichkeiten aufruft und verortet. Wenn es das Glück vielleicht gar nicht gibt - »ainsi tous nos projets de felicite pour cette vie sont des chimeres« (ebd.) —, so gibt es doch eine unabsehbare Zahl von Supplementen des Glücks. Unter diesen ist jener gemäßigte Zustand der Abwesenheit

AMOUR DE SOI UND ENTFREMDUNG

des Negativen, den Rousseau contentement nennt, der erfreulichste. Während das Glück zeichenlos bleibt, hat das contentement einen semiotischen Status: »Le bonheur n'a point d'enseigne exterieure; pour le connoitre il faudroit lire dans le cceur de l'homme heureux; mais le contentement se lit dans les yeux, dans le maintien, dans l'accent, dans la demarche, et semble se communiquer ä celui qui l'appei^oit.« (Ebd.) Höhepunkt dieser kommunikativen Freude ist das Fest, wo alle zugleich Gebende und Nehmende des festlichen Hochgefühls sind. In scharfem Kontrast dazu steht die übergroße Heiterkeit des M. P., der ihn überraschend besucht und ihm ausführlich eine Eloge d'Alemberts über Madame Geoffrin und ihre Kinderliebe vorliest, über die er sich wegen ihres neologienreichen Stils königlich zu mokieren scheint. Aber gleichzeitig scheint er Wert darauf zu legen, daß Rousseau alles hört, auch die Stelle, wo d'Alembert scharf mit denen ins Gericht geht, die keine Kinderliebe empfinden. Daß er dies eigens für oder vielmehr gegen Rousseau geschrieben hat, der seine Kinder dem Findelhaus übergab, wird Rousseau erst am nächsten Tag bewußt, als er einen Spaztergang unternimmt, der ihn bis zur Ecole militaire führt. Dagegen setzt Rousseau aber sogleich die Naherinnerung an den Besuch zweier kleiner Kinder seines Vermieters, die ihn eine Stunde vor Μ. P. aufgesucht hatten. Der unerwartete Besuch beglückt Rousseau, der sich »transporle d'aise« fühlt, daß sein Alter die unbefangene kindliche Zutraulichkeit nicht abschreckt. So steht der kalten, bösartigen gesellschaftlichen Kommunikation hier das kleine, flüchtige, fast kommunikationslose, aber dennoch reziproke Glück entgegen. Es folgt auf dieses erste Zeugnis der Kinderliebe eine ganze Reihe von Episoden der unverhofften glücklichen Begegnung mit Kindern, wo das Glück, oder besser das contentement, anders als in Rousseaus einsamen Glücksmomenten, wechselseitig i:nd kommunikativ ist, auch wenn es flüchtige Erfahiung bleibt. Dabei tritt Rousseau in immer tiefere Schichten seiner Erinnerung ein. Zwei Jahre zurück liegt die Begegnung mit dem Kind in Clignancourt, das in einem Anfall von heftiger Zärtlichkeit seir.e Knie umfaßt und ihn voller Freundlichkeit anblickt. Rousseau geht weiter und kehrt noch einmal zu dem Kind zurück, um ihm jetzt etwas Geld für eine Nascherei zuzustecken. Als er sieht, daß eine Gestalt dem Vater etwas zuflüstert und dieser ihn unfreundlich fixiert, geht er fort, und alle Versuche, bei späteren Spaziergängen das Kind wiederzusehen, bleiben erfolglos. Drei oder vier Jahre zurück reicht eine andere Begegnung. Rousseau und Therese haben sich bei einem sonntäglichen Spaziergang im Gras niedergelassen, und in ihrer Nähe spielt eine von Nonnen begleitete Schar junger Mädchen, als ein Süßwarenverkäufer erscheint, der seine Ware verlost. Rousseau, den das Spiel der Mädchen erfreut, bezahlt für jedes Mädchen ein Los und sorgt dafür, daß jedes und auch die Nonne, die das Spiel gutmütig mitspielt, eines der Küchlein erhält, die der Preis eines gültigen Loses sind. Rousseau hat den Kindern, der Nonne und sich selbst ein kleines Fest gegönnt. Man trennt sich in allseitiger Zufriedenheir, die Rousseau tief irn Gedächtnis bleibt: »Nous nous quittames

119

KARLHEINZ STIERLE

enfin ties contens les uns des autres; et cette apres midi £ut une de Celles de ma vie dont je me rapelle le souvenir avec le plus de satisfaction.« (S. 1091) Auch diesmal hofft Rousseau vergeblich, die kleine Truppe wiederzusehen. Die Begegnung bleibt folgenlos. Uberraschend ist auch hier die Rolle des Geldes. Rousseau überschlägt, was das Vergnügen ihn gekostet hat, und kalkuliert gleichsam den Mehrwert an Glück: »La fete au reste ne fut pas ruineuse, mais pour trente sols qu'il m'en coüta tout au plus il y eut pour plus de cent ecus de contentement.« (Ebd.) Es scheint, daß Geld, die Sprache par excellence der Gesellschaft und der Entfremdung, ein gesellschaftliches Bindemittel ist, das dem contentement nicht im Wege steht, sondern im Gegenteil es befördert. Auch in der nächsten Episode, die noch tiefer, bis in die Zeit zurückgreift, als Rousseau noch ein Lieblingsautor der Pariser Gesellschaft war, spielt das Geld eine Rolle. Beim Fest des Namenstags seines Mäzens macht Rousseau sich, angeödet von den »tristes plaisirs« der feinen Gesellschaft, allein auf zu einem Gang auf den Jahrmarkt, wo das Volk sich vergnügt. Er amüsiert sich an der bunten Vielfalt und bemerkt schließlich eine Gruppe von kleinen Savoyards, die ein Mädchen umstehen, das Äpfel verkauft, die sie jedoch nicht bezahlen können. Der hinzukommende Rousseau kauft dem Mädchen alle Äpfel ab und verteilt sie an die kleinen Savoyards. So stiftet er ein kleines Fest im Fest, wo »la joye unie avec l'innocence de Tage« (S. 1093) sich an die Stelle des bloßen plaisir setzt. Die Freude des Fests ist ansteckend, selbst auf die Zuschauenden, vor allem aber teilt sie sich Rousseau selbst mit: »Car les spectateurs memes en la voyant la partagerent, et moi qui partageois ä si bon marche cette joye, j'avois de plus celle de sentir qu'elle etoit mon ouvrage.« (Ebd.) Was ist das tiefe Glück, das sich Rousseau bei solchen Gelegenheiten mitteilt? Es ist vor allem der zeichenhafte Ausdruck der Zufriedenheit auf den Gesichtern, der selbst wieder Zufriedenheit, contentement, hervorruft, so wie man sie bei den Festen des Volkes sehen kann. Aber die gaiete des Volksfeste ist in Frankreich kaum mehr zu finden. Nur in der Schweiz gibt es noch wahre Feste, wo »tout respire le contentement et la gaite dans les fetes« (S. 1093). Joie und plaisir sind hier kein Widerspruch, sondern Aspekte Desselben: »[...] le bien-etre, la fratemite, la concorde y disposent les cceurs ä s'epanouir et souvent dans les transports d'une innocente joye, les inconnus s'accostent, s'embrassent et s'invitent ä jouir de concert des plaisirs du jour.« (Ebd.) Wenn aber die Zeichen der Freude einer boshaften Gesinnung entspringen, so sind sie Anlaß einer unerträglichen Mißstimmung, die Rousseau auch im Anblick eines unzufriedenen Gesichts empfindet. Aber sowohl der Anblick des contentement wie jener des mecontentement und der malignite, die sich in der großen Stadt nicht vermeiden lassen, gefährden das innere Gleichgewicht. Darin liegt eine entscheidende Modifikation der vorausgehenden Promenade, in der allein die Gefährdung der inneren Ruhe durch böswillige Akte der Aggression in den Blick kam. Jetzt ist es eine ganze Semiotik des Ausdrucks, die zum Anlaß negativer und positiver Erschütterungen des Ich wird:

AMOUR DE SOI UND ENTFREMDUNG

»Toujours trop affecte des objets sensibles et surtout de ceux qui portent eigne de plaisir ou de peine, de bienveillance ou d'aversion, je me laisse entrainer par ces impressions exterieures sans pouvoir souvent m'y derober autrement que par la fuite. Un signe, un geste, un coup d'oeil d'un inconnu suffit pour troubler mes plaisirs ou calmer mes peines; je ne suis ä moi que quand je suis seul, hors de lä je suis le jouet de tous ceux qui m'entourent.« (S. 1094) Paris als »Hauptstadt der Zeichen« ist ein Ort unabsehbarer Überraschungen, in der das kleine Glück der spontanen Kommunikation sich ebenso ereignen kann wie das Unglück der verweigerten Kommunikation. Doch gibt es im System der generalisierten Kommunikationsverweigerung immer Lücken, die das kurze Glück der Kommunikation möglich machen, dessen leuchtende Farben sich dauerhaft in der Erinnerung festsetzen. »II y a compensation ä tout.« (S. 1090) Nur dem aus der Kommunikation Ausgeschlossenen können solche im Alltäglichen sich ereignende kleine Glücksmomente zum unverlierbaren Besitz werden. Noch immer, trotz aller Beteuerungen, kann Rousseau sich von der Welt der Menschen nicht lösen. Aber je mehr er jedermann in der Stadt bekannt ist, desto mehr glaubt er sich als Objekt durchsichtiger Machenschaften seiner Feinde. Nur solange er unbekannt bleibt, kann er mit Spontaneität und natürlicher Freundlichkeit rechnen. Rousseau gibt ein Beispiel dieser Erfahrung: seinen ersten Kontakt mit den Invalides bei der Ecole militaire. Er wird höflich gegrüßt und liest aus ihrem ganzen Habitus offene Freundlichkeit, bis eines Tages sich die Mienen verdüstern und Haß an die Stelle der einstigen Freundlichkeit tritt. Das Kommunikationssystem der Stadt, das den Ausgestoßenen überallhin verfolgt, hat ihn erneut ereilt. Die Reihe der Episoden beschließt die Begegnung mit einem Invaliden, der erst frisch aus der Provinz nach Paris gekommen ist. Rousseau läßt sich mit ihm zusammen auf die lie du Cygne übersetzen und ist beglückt von seiner offenen Freundlichkeit, aus der sogleich ein Gespräch entsteht. Angekommen, übernimmt Rousseau den Preis für die Überfahrt und hilft dem Invaliden aus dem Boot. Und erneut ist er einen Augenblick versucht, mit Geld das contentement der Begegnung zu steigern. Nur die Scham hindert ihn, der Versuchung nachzugeben. Indes: Das Geld verfälscht, wie das Beispiel der Holländer zeigt, alle menschlichen Beziehungen, wie umgekehrt in Asien die Gesetze der Gastfreundschaft unveräußerbar sind. Aber was ist es, das Rousseau bei seinen unschuldigen Begegnungen mit denen, die das allgemeine Kommunikationssystem der Stadt noch nicht erfaßt hat, immer an Geld denken läßt? Jede der Begegnungen, die Rousseau schildert, liegt gleichsam unterhalb der Ereignisschwelle. Geld ist ein Mittel, ihnen eine gesteigerte Wirklichkeit zu geben. Mit dieser Verlockung macht die amour-propre sich zur Herrin des amour de soi. Wenn Rousseaus Feinde es sind, die der beginnenden Kommunikation ein Ende setzen, so ist es der Feind im Innern, die amour-propre, die ihrerseits durch das Bedürfnis des

KARLHEINZ STIERLE

Überschwangs die Unschuld der Kommunikation gefährdet. Die Gabe erweist sich hier in ihrer tiefen Zweideutigkeit, 20 sofem in ihr amour de soi und amourpropre untrennbar ineinander spielen und so der Weg von der Spontaneität des contentement zum semiotischen Kreislauf des contentement unmerklich in die gesellschaftliche Verstrickung fuhrt. Dies besonders dann, wenn die Gabe einen Geldwert hat, der der Produktion des Mehrwerts an contentement zugrunde liegt. Auch hier ist der transparence spontaner, absichtsloser gesellschaftlicher Kommunikation als Utopie des Wegs aus der Entfremdung schon das obstacle, die Entfremdung, eingeschrieben. Das reine Glück ist nicht zu haben. Von seinen Glücksmomenten sagt Rousseau: »[...] s'ils etoient purs et sans melange je serois plus heureux peut etre que dans ma prosperite« (S. 1090). Aber unterhalb des Glücks gibt es eine reiche Vielfalt von Graduierungen, Nuancierungen, Färbungen und Brechungen, deren dynamische Verhältnisse Rousseau in dieser Promenade als ein semantisches Feld offener, beweglicher Zuordnungen ausschreibt. Von allen Promenades ist die zehnte, abschließende, die kürzeste, ja man könnte sich fragen, ob sie nicht Fragment geblieben ist. Rousseau schrieb sie 1778, wenige Wochen vor seinem Tod, in Erinnerung seiner ersten Begegnung mit Madame de Warens vor genau 50 Jahren. Dieses kurze Erinnerungsmedaillon zum Gedenken an die Frau, die so uneigennützig bis zur Aufzehrung ihres kleinen Vermögens Rousseau die Zeit der Entwicklung seiner Anlagen gewährte, die sonst vielleicht verkümmert wären, ist noch einmal eine intensive Meditation über das Glück und indirekt auch über Glück und Schrift. Rousseau gedenkt der Zeit in Les Charmettes, »ou je fus moi pleinement« (S. 1098), als einer Zeit des allzu kurzen vollkommenen Glücks. Aber diese Zeit, die das Erinnerungsmedaillon isoliert, steht zugleich in einem unauflösbaren Verstrickungszusammenhang, der bis in die Gegenwart des Schreibenden reicht: »Mais ce qui est moins ordinaire est que ce premier moment decida de moi pour toute ma vie, et produisit par un enchainement inevitable le destin du reste de mes jours.« (S. 1098) In Les Charmettes schafft Rousseau die Voraussetzungen, die ihn für seine Karriere als Schriftsteller vorbereiten. Die Schrift wird der Ursprung seiner Verstrickung in die Gesellschaft sein, zugleich der Ursprung seines amour-propre, der ihn aus der Nähe des amour de soi in die Unruhe eines unersättlichen Bedürfnisses hinaustreibt. Indem Rousseau danach trachtet, seine Talente zu steigern, um so seiner Wohltäterin einmal beistehen zu können und ihr zurückzugeben, was sie für ihn getan hat, schafft er die Voraussetzung für die Beendung des glücklichen Zustande, den er zu bewahren sucht. Mit diesem Entschluß endet die letzte Promenade: »[...] je resolus d'employer mes loisirs ä me mettre en etat s'il etoit

20 Vgl. Jean Starobinski, Largesse, Paris 1994, S. 16f. über Rousseaus >don< und die in den Confessions erzählte Kindheitserinnerung an die begehrten Apfel im Haus des Graveurs, bei dem er in die Lehre ging, und die jähe Unterbrechung des geplanten kleinen Apfeldiebstahls.

AMOUR DE SOI UND ENTFREMDUNG

possible de rendre un jour ä la meilleure des femmes l'assistance que j'en avois re9ue.« (S. 1099) Der hier abbrechende Text öffnet sich auf ein Schweigen: die eigene Verirrung, die Unfähigkeit, den Entschluß einzulösen. Rousseau bleibt den >don< schuldig, den er hätte zurückgeben müssen. Und dennoch bleibt dies Schweigen, das die anklagende Sprache des Versagens spricht, nicht das letzte Wort. Rousseau, indem er das Erinnerungsmedaillon als seine in Sprache gefaßte Dankbarkeit aufschreibt, bleibt den >don< nicht gänzlich schuldig. Er erstattet ihn als Supplement. Die Schrift war der Ursprung der Verstrickung in die Logik der Entfremdung, die Schrift ist der Ursprung einer neuen amour de soi, der das Erinnerungsbild an Madame de Warens wesentlich zugehört. Indem die Erinnerung Schrift wird, wird sie dem Ich bis zu seinem letzten Augenblick unvergeßlich; am Ende der Reveries kehrt Rousseau zum Anfang zurück, dem er sich selbst verdankt. Rousseau erklärt zu Beginn seiner Promenades programmatisch, sie nur für sich selbst geschrieben zu haben. Man wird die Ernsthaftigkeit dieser Absicht bezweifeln können. In Montaignes Hinwendung an den Leser, die Rousseau vor Augen stand, wird der Leser durch die Versicherung des Autors, er habe nur »ä la commodite particuliere de mes parents et amis« geschrieben, nur scheinbar ferngehalten. Vielmehr tritt er selbst als Leser in die offene Rolle eines freundschaftlichen Vertrauten ein. Rousseau, der anders als Montaigne allein noch für sich selbst schreiben will, öffnet gleichermaßen die Möglichkeit der identifikatorischen Lektüre, die in die Zirkularität des amour de soi von gegenwärtigem und zukünftigem Ich eintritt. Rousseaus Reveries sind zwei Leserrollen eingeschrieben. Immer wieder scheint es in den Reveries, als spreche Rousseau so für sich, daß er mit einem Leser rechnet, der dem Kreis seiner Verfolger zugehört. Er soll zu seinem Ingrimm und zu seiner Beschämung erfahren, daß alle Manöver, ihm zu schaden, nur zu seinem Glück ausgeschlagen sind. Aber zugleich wendet seine ecriture sich an einen Leser neuer Art, der in einem neuen gesellschaftlichen Pakt, den Jean-Paul Sartre pacte de generosite nennen wird, sich die Erfahrung des Ich zu eigen macht, das über die Schwelle der Gesellschaftlichkeit hinausgetreten ist. Dieser Leser bleibt Rousseaus utopische Hoffnung, daß sein außerordentliches, bis an die Schwelle seines Todes führendes Lebens- und Schreibexperiment nicht vergeblich war.

ROLAND MORTIER

LMr/ de joüir— Rousseau und die Kunst zu genießen Einer der unveröffentlichten Texte Jean-Jacques Rousseaus, die im 19. Jahrhundert herausgegeben wurden, überrascht den Leser mit einem unerwarteten Titel. Das erste der Fragmente, die Rousseau, den Herausgebern des ersten Bandes der CEuvres completes zufolge, vor 1769 erstellt haben soll, trägt den Titel: De /'Art de joüir — Von der Kunst sp genießen} Es wurde im Jahre 1861 von Georges Streckeisen-Moultou entdeckt. Möglicherweise handelt es sich um einen Werkentwurf, den Rousseau später aufgegeben hat, wie schon den Entwurf für eine Morale sensitive, ou le Materialisme du sage, von dessen Existenz man nur aus dem neunten Buch der Confessions (S. 409) und den Skizzen der Reveries weiß. Die 19 Fragmente — einige nehmen nur eine einzige Zeile ein, und die letzten sieben stehen nur indirekt zum Titel des ersten in Beziehung — sind für alle, die sich nicht mit einer oberflächlichen Behandlung der Moralvorstellungen Rousseaus zufrieden geben wollen, von großem Interesse. Man hat den Denker schon zu oft auf das starre Bild eines griesgrämigen, wenig umgänglichen, von strenger Moral und unversöhnlichem Spiritualismus durchdrungenen Geistes reduziert. Uberzeugt davon, ein unheilbares Leiden zu haben, das seinen baldigen Tod herbeiführen wird, blickt Rousseau auf sein vergangenes Leben zurück (Fragment 1). Es war nicht glücklich und beschränkte sich auf »de courts plaisirs et de longues douleurs, beaucoup de maux reels et quelques biens en fumee«. Es war gekennzeichnet von zahlreichen Prüfungen: »dependence, erreurs, vains desirs, indigence, infirmites de toute espece«, die seinen körperlichen und geistigen Zustand ebenso in Frage stellten wie seinen sozialen Status. Obwohl er mit Gelassenheit akzeptiert, seinen Lebensweg »sans gemir« zu beenden, würde er ihn, wenn es möglich wäre, gerne von vorn beginnen: il »recommencerait volontiers«. Diese Feststellung erscheint ihm als Paradox, und er schließt daraus: »sans doute vivre est une douce chose en soi, puisqu'une vie aussi peu fortunee me laisse pourtant des regrets«. Diese Bemerkung kündigt die großartigen Seiten der Reveries an, in denen Rousseau während einer Bootsfahrt das intensive Gefühl der reinen Existenz entdeckt, das Sein in seiner ganzen Fülle bewußt erfährt. In der fünften Promenade entwickelt er das Paradox des ersten Fragments weiter, er schreibt:

1 Jean-Jacques Rousseau, De l'art de joüir, in: ders., CEuvres completes, hrsg. von Bernard Gagnebin und Marcel Raymond, Bd. 1: Les Confessions. Autres textes autobiographiques, Paris 1959, S. 1173-1177. Im folgenden Seitenzahlen im Text.

L'ART DE JOOlR

- ROUSSEAU UND DIE KUNST ZU GENIESSEN

»De quoi jouit-on dans une pareille situation? De iien d'exterieur ä soi, de rien sinon de soi-meme et de sa propre existence. [...] Le sentiment de l'existence depouille de toute autre affection est pär lui-meme un sentiment precieux de contentement et de paix qui suffirait seul pour rendre cette existence chere et douce ä qui saurait ecarter de soi toutes les impressions sensuelles et terrestres qui viennent sans cesse nous en distraire.« (S. 1047) Das Fragment 2 ist eine Lobeshymne auf die Einsamkeit. Rousseau vergleicht sein Leben, »livree aux souffrances«, mit einer Natur, die, bar jeder Schönheit, ganz im Einklang mit seinen Seelenzuständen steht: »foret sans bois, marais sans eau, genets, roseaux, tristes bruyeres«. Der Zauber, den diese »etres insensibles et morts« hervorbringen, liegt nicht in ihnen selbst, sie entbehren seiner gerade, sondern im Herzen des Menschen, der alles, was ihn umgibt, auf die Bedingungen seiner eigenen Existenz zurückfuhrt. Die sozialen Bindungen zu den Menschen entfernen ihn von der Beziehung, die er zu einer einsamen Natur aufbauen möchte, selbst dann, wenn diese ohne Reiz ist. Nur sie kann ihn in Einklang mit sich selbst bringen. Auch diese Idee entwickelt Rousseau in der fünften Promenade weiter, direkt im Anschluß an die Reflexionen über den Zustand innerer Glückseligkeit, in dem er sich während der Fahrt auf dem See, bei seinem Aufenthalt auf der Insel St.-Pierre, befunden hat. Um ein solches Glück zu empfinden, »il faut que le cceur soit en paix et qu'aucune passion n'en vienne troubler le calme. [...] II n'y faut ni un repos absolu, ni trop d'agitation, mais un mouvement uniforme et modere.« Eine ungleichmäßige oder zu heftige Bewegung »nous arrache d'au-dedans de nous pour nous remettre ä l'instant sous le joug de la fortune et des hommes et nous rendre au sentiment de nos malheurs«. Das Fragment 3 entwirft eine Methodologie des Genießens, die von der Fähigkeit ausgeht, sich einzuschränken, also freiwillig Entbehrungen auf sich zu nehmen. Das gewählte Beispiel ist das des Genesenden, der den Bissen, den er sich gönnt, mit Genuß auskostet und der, indem er nur die Hälfte von dem ißt, was ein anderer zu sich nimmt, »jouit au double«. Wie wir sehen werden, ist dieses Genießen hier nicht ganz zufällig mit den von Jean-Jacques sehr geschätzten Gaumenfreuden verbunden. Das Fragment 4 richtet die Überlegungen auf das Jenseits aus. Die wahren Genüsse, die »delices de l'äme«, sind nicht von dieser Welt. Unsere seltenen Glücksmomente sind nur die dumpfe Wahrnehmung der unbekannten Fülle jener anderen Welt und der Leere unseres irdischen Glücks. Das Schreiben kann uns jedoch in einen Zustand des Genießens versetzen, indem es die Lust der Vergangenheit wieder hervorruft. »En me disant j'ai joui, je jouis encore.« (Fragment 5) Genau das tut Rousseau in der ersten Promenade: »Iivrons-nous tout entier ä la douceur de converser avec mon ame, puisqu'elle est la seule que les hommes ne puissent m'oter. [...] Je fixerai par

ROLAND MORTIER l'ecriture Celles [de mes promenades] qui pouiront me venir encore; chaque fois que je les relirai m'en rendra lajouissance.« (S. 999) Vor seinen Augen nähern sich die »purs esprits, ministres du Tres Haut«, um »le monde sensible« zu bevölkern und zu beleben, jene Sinnenwelt, unter der Rousseau die materielle Welt versteht und die ihn, obwohl er sie bewundert, nicht vollständig zufriedenstellen kann (Fragment 6). Das Fragment 7 betrifft nicht mehr Jean-Jacques selbst, sondern die Menschen im allgemeinen, das heißt die anderen. In dem Satz »ils ont peur de mourir et s'ennuient de vivre« klingt ein Echo Pascals mit. Der Tod schreckt sie und das Leben reibt sie auf, denn Langeweile und Überdruß verderben, was es an Angenehmem haben könnte. Ein (vielleicht falsch verstandenes) Zitat Homers soll diese Idee stützen. In ihm wird das Rot eines Ornaments als Makel bezeichnet (Fragment 8). Im Fragment 9 kommt Rousseau auf eine seiner Zwangsvorstellungen zurück: er versichert, daß »ce n'est qu'autant qu'on aime ä vivre seul qu'on est vraiment sociable; car pour ne pas hair les hommes il ne faut les voir de loin«. Das wird das große Thema der Confessions und der vierten l^ettre ä M. de Malesherbes sein. Die Fragmente 10—18 entfernen sich von der Kunst genießen und drehen sich um Rousseaus Obsession, Opfer einer Verschwörung zu sein. Er kann dafür keine eindeutigen und überzeugenden Beweise liefern. Sein inneres Gefühl reicht ihm aus, denn es ist weitaus überzeugender als Syllogismen und andere raisonnierende Beweisführungen (Fragment 10). Eher als Beweisen vertraut er der evidence, der offensichtlichen Gewißheit, die dieses Gefühl ihm bietet (Fragment 11). Dieses Argument wird ihm in der berühmten »brouillerie« mit David Hume erlauben, sich gegen alle offensichtlichen Beweise für unschuldig zu erklären. Indem er das Recht (als Institution) der Gerechtigkeit (als moralischem Gefühl) entgegensetzt, weiß er, daß er verlieren muß, wenn seine Feinde sich auf das Recht beziehen, aber daß er moralisch siegt, »s'ils osent etre equitables« (Fragment 12). Das Fragment 13 analysiert die Taktik seiner Feinde: sie haben auf Heimlichkeiten und auf Zeit gesetzt, wie auch auf ein geschicktes Einschmeicheln bei wichtigen Persönlichkeiten (den großen und schönen Geistern), die den Ton angeben. Im Fragment 14 unterscheidet Rousseau zwischen der großen Mehrzahl der »vrais Fran9ais« und den wenigen Schriftstellern (Diderot, d'Holbach, Grimm und d'Alembert), die ihn mit Beleidigungen überhäuft haben (»couvert d'outrages«). Frankreichs Sinn für Gerechtigkeit verurteilt sie und seine zivile Gesinnung mißbilligt ihr Verhalten. Wenn einige andere Franzosen ihn schlecht behandelt haben, dann haben sie es schweren Herzens getan, wider Willen und sicher schlecht informiert. Sie haben diese Kränkung durch die Sorge und Pflege, die sie ihm angedeihen lassen und die ihn ehren, wiedergutgemacht.

L'ART DE JOOlR - ROUSSEAU UND DIE KUNST ZU GENIESSEN

In dem Streit mit den »philosophes« müssen die Argumente seiner Gegner vor der Kraft seines inneren Gefühls, das von seiner Unschuld und Ehrlichkeit zeugt, wirkungslos bleiben. Das einzige, was die Schriften seiner Feinde beweisen, ist die Tatsache, daß es ihm nicht gelungen ist, sich verständlich zu machen, und daß er nicht die angemessenen Worte gefunden hat (Fragment 15). Als er seine literarische Laufbahn begann, hatte er das Unglück deutlich vor Augen, welches ein solcher Weg mit sich bringt, denn er war entschlossen, seine Feder in den Dienst der Wahrheit zu stellen (Fragment 16). Man weiß, daß er die Devise »Vitam impendere vero« gewählt hat. Das Fragment 17 erklärt die Bedingungen, unter denen es zur Aufbewahrung der hier versammelten Dokumente kam. Als Rousseau daran dachte, nach England zurückzukehren, verbrannte er den größten Teil seiner Papiere, verschonte aber die Fragmente. Sie sollten ihn gegen das »complot« verteidigen, das seine Feinde angezettelt hatten, und diejenigen auf den Weg der Wahrheit führen (»mettre sur la voie de la verite«), die die Gerechtigkeit liebten, um »la rendre ä l'innocence du plus infortune des mortels et ä venger sa memoire des outrages de ses persecuteurs«. Das Fragment 18 soll den Eindruck der petulance (im Sinne von Heftigkeit, Ungestüm) korrigieren, der seinen Briefwechsel mit Alexandre Deleyre prägt. Es versucht zu erklären, wie dieser Eindruck zustande kommt. Durch Deleyre aufs Äußerste gereizt, hat er ihm gegenüber immer wieder seine republikanischen Gefühle zum Ausdruck gebracht und mit Verachtung von den Lebensbedingungen der »sujets« in einer Monarchie gesprochen. Er vermutet, daß der »ton tres extraordinaire qui regne dans les lettres de Deleyre« auf den Einfluß von Diderot und d'Holbach zurückgeht. Das Fragment 19 beschränkt sich darauf, seine Heirat (nach 22 Jahren wilder Ehe) mit Therese Levasseur zu erwähnen. Hier wird das Bedürfnis deutlich, seine Lebenssituation zu ordnen und Therese den Status einer Ehefrau zu geben, auch wenn die Zeremonie für einen in Frankreich lebenden Protestanten offiziell nicht gültig war. Es ist sicher legitim, sich über den inneren Zusammenhang dieser Fragmente Gedanken zu machen. Ihre einzige eindeutige Verbindung ist nicht die Idee des Genießens, sondern der gemeinsame Blickwinkel des »complot«, unter dem alle Fragmente stehen, und das Drama, das es in Rousseaus Leben ausgelöst hat. Die 19 Fragmente sind allein deswegen erhalten, weil sie als Dokumente seiner Verteidigung und Rechtfertigung dienen sollten. Seit er mit den »philosophes« gebrochen hat, ist Rousseaus Selbstbild das eines in die Enge getriebenen, verhöhnten Menschen. Er gibt jedoch zu, daß »vivre« »une chose douce« ist, da doch selbst ein so trauriges Leben wie sein eigenes im Verlust noch ein Bedauern hinterläßt. Dieses Bedauern bezieht sich auf die »courts plaisirs«, die er in der Einsamkeit der Natur erlebt hat. Er ist nicht mehr der Mann, der davon geträumt hatte,

ROLAND MORTIER

ein Werk über L a Morale sensitive, ou le Materialisme du Sage zu schreiben, und der davon nur eine Skizze entworfen hat, die ihm am Herzen liegt - »de plus pres qu'il ne semblerait« (S. 409). In den Confessions wird er hervorheben, daß diese Kunst zu genießen, l'art de jouir, wesentlich aus persönlichen Beobachtungen natürlicher Phänomene bestanden hat: Klima, Licht, Geräusche, Bewegung, Stille, oder auch der Geschmack von Nahrungsmitteln. Ohne es zu wissen, war Rousseau Phänomenologe, er wollte in den natürlichen Erscheinungen »un regime exterieur« finden, eine äußere Ordnung, die mit den Naturgesetzen übereinstimmte und so ein Vorbild für die Tugend und die Etablierung einer inneren, moralischen Ordnung liefern konnte. Er hat den physischen Empfindungen die Bedeutung zugestanden, die sie verdienten, ist aber nicht so weit gegangen, sich von den verführerischen Aspekten des materialistischen Denkens einnehmen zu lassen. Dieses Gleichgewicht zwischen Physischem und Sittlichem, Empfindung und Gefühl, Materie und Geist wird ihn zu einer wichtigen Stelle in Julie, ou la Nouvelle Heloi'se anregen. Sie ist dem Glück gewidmet, das in Ciarens durch die weise Verwaltung des Wolmarschen Haushalts entsteht. Julie und ihr Mann pflegen auf ihre Art »l'art de jouir«. Bevor Monsieur de Wolmar sich aus Liebe zu seiner Frau zur Religion bekehrt, ist er ein Anhänger und lebendes Beispiel des »materialisme du sage«. Julie ihrerseits »a du penchant pour la gourmandise«, was Rousseau keineswegs verurteilt, sondern in seinem Privadeben selber praktiziert, wie Bernardin de Saint-Pierre in einem Bericht über ein Essen bei Jean-Jacques berichtet. Bei ihm wie in Ciarens »regne une sensualite sans rafinement; tous les mets sont communs, [...] et pourtant exquis«, man kann sich dort »egayer ä boire sans alterer sa raison«.2 Die Annehmlichkeiten der Tafel liegen in Mäßigung und Einfachheit. Julie kennt den besten Weg, den geringsten Dingen einen Wert zu geben: »se les refuser vingt fois pour en jouür une« - die Kunst zu genießen ist für sie die Kunst zu entbehren, »l'art de jouür est pour eile celui des privations«.3 Statt eine Kunst des Genießens zu schreiben, hat Rousseau seinem Traum in der Utopie von Ciarens Gestalt verliehen. Die Abhandlung, von der nur der Titel existiert, hat sich in ein Romankapitel verwandelt. Darin hat Rousseau seinen Traum vom irdischen Glück, den er selbst nicht leben konnte, umgesetzt. Ein Glück, das nur dem Weisen zuteil wird: »parce qu'il est de tous les hommes celui ä qui la fortune peut le moins öter«.4 Aus dem Französischen

von Marie

Guthmüller

2 Jean-Jacques Rousseau, Julie ou La Nouvelle Heloi'se, Teil V, Brief 2, in: ders., (Euvres completes (Anm. 1), Bd. 2: La Nouvelle Heloi'se, Theatre, Poesie, Essais litteraires, Paris 1964, S. 542f. 3 Ebd., S. 542, 541. * Ebd., S. 542.

GERD IRRLITZ

Ein Fontenelle-Motiv bei Kant I. Der reale Ursprung einer Idee im Bedürfnis des Zeitalters und deren Begründungen, mit denen sie von den Individuen vorgetragen und der Diskussion zugeführt werden, gehören verschiedenen kulturellen Sphären zu. Der Hegelianer Marx bemerkte zu den Philosophen, die ihrer Theorie systematische Gestalt gäben (hier am Beispiel des von ihm hochgeschätzten Spinoza), es sei »der wirkliche innere Bau des Gedankensystems ganz verschieden von der Form, in der es von ihm bewußt dargestellt war«.1 Für die Begründung des Fortschrittsgedankens der menschlichen Gattung, einer der kühnen und glücklichen Errungenschaften des 18. Jahrhunderts, bedurfte es beträchtlicher Zurüstungen, deren Eigentümlichkeiten sich zum guten Teil nicht aus dem Konzept an sich ergaben, sondern aus der Respektlosigkeit gegen das, wogegen es sich richtete. Dazu treten Erklärungen, warum die im Grunde jedem einsichtige neue Idee bisher verfehlt worden sei. Die einsetzenden öffentlichen Erörterungen der begleitenden Argumentationen, die wie hypothetische Gedankenübungen kommen, schaffen eine Spielebene, auf der weniger die Idee selbst als vielmehr deren Begründungen und Widerlegungen in den Vordergrund gefuhrt werden. Es ist der strategische Hinterhalt, aus dem neue Ideen ihren späteren Sieg über die Phalanx der herrschenden Gedanken vorbereiten. Mit sekundären Begründungsvarianten dringt der neue Gedanke ein und besetzt seinen Platz im Nachdenken des Zeitalters über sich. Man kann nicht einmal sagen, die Konstrukteure hätten alle Erklärungen ernst genommen. Vielleicht betrachteten sie ihre Zurüstungen nur als waffenfähige Hypothesen oder überhaupt als reizvolle Ideen, die durch das Vergnügen, das sie bereiteten, einen Raum geistiger Distanz zum sanktionierten Denken bereiteten. Jedenfalls ändert sich die Demonstration eines Gedankens, der dem Selbstverständnis des Zeitalters wesentlich ist, hat er sich erst durchgesetzt. Im unmittelbaren Übergang dazu nimmt er eine soziale Krisensituation wahr, mit propagandistischer Schärfe seine Lebensnotwendigkeit zu präsentieren. Solche Funktion besaßen die Schrift des Abbe Sieyes vom Januar 1789 und die Hunderten anderen Flugschriften der Zeit, ebenso wieder für die soziale Problematik der bürgerlichen Gesellschaft das kommunistische Manifest, das Marx auf dem Höhepunkt des Vormärz im Dezember 1847 entwarf. Der lange vorbereitete

1 Karl Marx an Ferdinand Lassalle, 31. Mai 1858, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 29, Berlin 1963, S. 561.

130

G E R D IRRLITZ

Gedanke wird Losungswort, zu avancieren. Seine Verwurzelung in der realen gesellschaftlichen Bewegung offenbart sich mit kraftvoller Rhetorik. Danach läßt der Beweisgang das Spielerische und das politisch Pragmatische zurück, ernüchtert sich und geht zur empirischen Verifikation über. So war es bei zentralen Ideen der modern-bürgerlichen Zivilisation wie der des ideologischen Charakters religiöser und moralischer Ideen, der Beziehung von Ökonomie und Recht, der sozialen Klassen, der Gesellschaftsformationen (analog der Theorie der Erdzeitalter) und auch beim Gedanken durchgehenden gesellschaftlichen Fortschritts. Ist die Ablösung einer traditionellen Auffassung erreicht, so geht der siegreiche Gedanke ins Arsenal der geistigen Errungenschaften ein. Die Begründungen werden von den nachfolgenden Denkern vorerst nicht demontiert. Sie führen das Dasein heiterer Gespenster in der Rüstkammer des geistigen Fortgangs der Menschheit. Die Späteren sind mit neuen Fortschritten beschäftigt, haben wenig Zeit für die Vorgänger, und es scheint ihnen, diese hätten endlich etwas Selbstverständliches ausgesprochen. So werden die akzidentiellen und oft nur versuchsweisen Begründungselemente der neuen Idee mit fortgeschleppt und passen vielleicht schon nicht mehr zum eigenen neuen Prinzip des Späteren. Es entsteht ein Uberlagerungsverhältnis von geistigen Motiven unterschiedlicher Gedankensysteme, die verschiedenen Zeitphasen des geistigen Fortgangs zugehören. Der Differenz von Idee und Erläuterungsstrategien liegt ein reales Verhältnis der Idee zu den Umbildungen in der gesellschaftlichen Praxis zum Grunde, das den Theoretikern kaum bewußt ist, jedenfalls in seinem wirklichen Ausmaß nicht erkannt wird. In den Begründungen epochemachender Ideen sprechen sich reale neue Handlungs- und Verhaltensmuster innerhalb einer überkommenen Gesellschaftsform aus. Der neue Leitgedanke stellt deren idealisierende Generalisierung dar. Tatsächlich sind die zunächst sekundär mitgehenden Begründungen die Vorboten des eigentlichen sozialen Gehalts der neuen Idee. Die realen Quellen des Gedankens können von den Späteren gar nicht abgelegt, nur in neuen und immer empirischeren Zusammenhängen, die anfangs wie spielerisch vorweggenommen worden waren, durchgebildet werden. Dann gewinnt die Idee, die den Begründungen ihren Platz im Forum der Zeit verdankt, neue und reichere Gestalt, und sie beginnt sich mit den Antipoden ihrer Ursprungszeit zu vermitteln.

II. Die Überlegungen bestätigen sich aufschlußreich an dem trial-and-errorModell in des frühen Kant Auffassung vom geistigen Fortschritt, den die Geschichte der Philosophie darstelle - einem Fontenelle-Motiv im Kantschen Denken. Kant löst das Motiv mit dem Ubergang zu seiner neuen Metaphysik auf, um seine Theorie als immanente Konsequenz eines dreiphasigen geistigen Stufengangs zu zeigen.

EIN FONTENELLE-MOTIV BEI KANT

In seiner kleinen geistvollen Abhandlung zur Querelle vom Jahre 1688, der Digression sur les Anciens et les Modernes, gab der junge Fontenelle den Altertumsfreunden die Ehre: Wir müßten den Alten dankbar sein, hätten sie uns doch den größten Teil der schwerwiegendsten Irrtümer vorweggenommen, so daß wir der Verlegenheit enthoben seien, sie selbst zu begehen. Fontenelle meinte natürlich: sie noch immer festzuhalten. Der Kem seiner Argumentation geht weit über die ironische Reverenz an die Gegenpartei hinaus. Es ist das trial-and-errorModell des geschichtlichen Fortschritts, das das geschichtliche Bewußtsein in Europa umwandelte. Die Mechanik zunehmender Perfektibilität durch Erfahrung trat an die Stelle eines transzendenten Heilsplanes. Durch seine wie abenteuerliche Naivität und durch scheinbar ideologisch anspruchslose Neutralität trat der Gedanke vom Geschichtsprozeß durch Versuch und Irrtum mit dem Ausdruck der Unschuld ins Selbstverständnis der Aufklärung und behandelte die theologische und die antikisierende humanistische Geschichtsansicht, nach der allemal im Ursprung die Fülle des Geistes beschlossen sei, nachsichtig als entschuldbare Fehlleistung. Fontenelle schrieb: »Teile est notre condition, qu'il ne nous est point permis d'arriver tout d'un coup ä rien de raisonnable sur quelque matiere que ce soit; il faut avant cela que nous nous egarions long-temps, et que nous passions par diverses sortes d'erreurs et par divers degres d'impertinences. II eüt toujours du etre bien facile, ä ce qu'il semble, de s'aviser que tout le jeu de la Nature consiste dans les figures et dans les mouvemens des corps: cependant, avant que d'en venir la, il a fallu essayer des idees de Piaton, des nombres de Pythagore, des qualites dAristote; et tout cela ayant ete reconnu pour faux, on a ete reduit, a prendre le vrai systeme. Je dis qu'on y a ete reduit, car en verite il n'en restoit plus d'autre, et il semble qu'on s'est defendu de le prendre aussi long-temps qu'on a pu.«2 In seiner Erstlingsschrift von 1747, den Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte, variiert Kant das Fontenelle-Thema. Es regt ohnehin zum Variieren an wegen der lockeren Beweglichkeit, die es gegen die kulturelle Dogmatik der Theologen richtete: was geschah, habe geschehen müssen wie es geschah. Im spielerischen Element der Versuch-und-Irrtum-Hypothese liegt Verführungskraft. Kant schreibt zu dem Streit zwischen Descartes' und Leibniz' Theorien der Kräfte bewegter Körper, einem in der ersten Hälfte des 18. Jahr-

Bernard le Bovier de Fontenelle, Digression sur les Anciens et les Modernes, in: ders., (Euvres completes, Bd. 2, o. O. 1991, S. 418 (Hervorhebungen hier und in anderen Zitaten - G. I.). Der Gedanke ist von Francis Bacons Advancement of Learning (1605) vorbereitet, wo sich auch der Anspruch überlegener Weisheit der Antiken mit dem Argument abgewiesen fand, jene seien in Wahrheit die unerfahrenen Jungen, wir dagegen die Alten, blickten wir doch auf so viel mehr Erfahrungen - und auf welche überwundenen Irrtümer - zurück. 2

GERD IRRLITZ

hunderte vielbehandelten Problem, das d'Alembert in seinem (Kant unbekannten) Tratte de Dynamiqtte (1743) bereits erledigt hatte: »Ist es nicht wunderbar, daß man sich einem unermeßlichen Meere von Ausschweifungen und willkürlichen Erdichtungen der Einbildungskraft anvertrauet und dagegen die Mittel nicht achtet, die einfach und begreiflich, aber eben daher auch die natürlichen sind? Allein dieses ist schon die gemeine Seuche des Verstandes. [...] Aber endlich wird doch diejenige Meinung die Oberhand behalten, welche die Natur, wie sie ist, das ist einfach und ohne unendliche Umwege schildert. Der Weg der Natur ist nur ein einziger Weg. Man muß daher erstlich unzählig viel Abwege versucht haben, ehe man auf denjenigen gelangen kann, welcher der wahre ist.«3 Hier führt ebenfalls der Weg vom Falschen zur Wahrheit, zugleich vom Komplizierten zum Einfachen. Das läßt das Unrichtige fast als Ausflucht erscheinen, da doch einfachere Erklärungen naheliegender sein müßten. Kant sagt darum auch, die Theoretiker suchten sich mit imponierenden Erklärungen interessant zu machen. Dann wäre die Fixierung der geistigen Arbeit bei besonderem Stand Ursache, daß Fehler allemal ihre gute Zeit erhielten, ein retardierendes Moment, währenddessen die Menschen ihre Ideen ordnen können, um Geschichte nicht als Abenteuer wahrnehmen zu müssen. Fast 40 Jahre später und mitten in der Durchführung seiner transzendentalphilosophischen Typologie dreier logischer Geltungsformen in der Kultur zieht Kant das Fontenelle-Motiv abermals heran, zu erklären, warum seine einzig richtige Theorie reiner praktischer Vernunft erst so spät und nach so vielen Abwegen gefunden worden sei. Der Abschnitt zur Gliederung aller Moralsysteme in der Grundlegung %ur Metaphysik der Sitten (1785) hebt an: »Die menschliche Vernunft hat hier, wie allerwärts in ihrem reinen Gebrauche, so lange es ihr an Kritik fehlt, vorher alle mögliche Unrechte Wege versucht, ehe es ihr gelingt, den einzigen wahren syi treffen.Sinnlichkeit< verfuhrt zu Täuschungen, indem die erscheinenden komplexen Gegenstände zunächst analytisch unaufgelöst wahrgenommen werden. Descartes nimmt das christlich-asketische Moment aus der Sinnlichkeitskritik heraus und setzt an dessen Stelle seine folgenreiche Theorie der Transposition körperlich bedingter Assoziationen auf Scheinobjekte der äußeren Welt.6 Auf dem ganzen Bau von Leidenschaften der Seele errichtet er seine außerordentliche assoziationspsychologische Erklärung von Gedächtnis, Träumen, religiösen Gesichten und überantwortet den Menschen der Kraft autonomer Rationalität. Die assoziationspsychologisch aufgebaute Transpositionstheorie stellt die Überwindung von Irrtümern als natürlicher Vorurteile in den Zeitablauf zunehmender Korrektur durch Erfahrungen. Descartes' Mahnung, nichi »den Sinnen, d. h. den unbedachten Urteilen seiner Kindheit, mehr zu trauen als der gereiften Ver-

5 Über den Zusammenhang des Motivs mit der Irrtumstheorie im Rahmen der Querelle und deren Rolle in der deutschen Schulmetaphysik vgl. Norbert Hinske, Kant und die Querelle des Anciens et des Modernes, in: ders., Zwischen Aufklärung und Vernunftkritik. Studien zum Kantschen Logikcorpus, Stuttgart-Bad Cannstatt 1998, S. 60-73. 6 »[...] weil wir alle von Kindheit auf angenommen haben, daß alle die Dinge, die wir empfanden, eine Existenz außerhalb unseres Bewußtseins hätten, und daß sie den Empfindungen oder Ideen, die wir von ihnen bei Gelegenheit ihrer Wahrnehmung hatten, ganz ähnlich seien.« (Rene Descartes, Die Prinzipien der Philosophie, übers, von A. Buchenau, Hamburg «1922,1. T., § 66, S. 24.)

GERD IRRLITZ

nunft«,7 enthält überhaupt das Symbol von Zeit als Reifung dutch Erfahrung. Die universalgeschichtliche Dimension war in der ontogenetischen Einhüllung immer mitzulesen. Vor allem das 17. Jahrhundert entfaltete die feine Kunst stiller Darstellung in der Öffentlichkeit, so daß die Folgerungen nahegelegt, jedoch einem intimen Zirkel von Nachdenkenden übergeben wurden. Fontenelles Irrtumstheorie bewegt sich innerhalb der von Descartes vorgegebenen Parameter. Bacon errang den Ideen durch die Erfindung einer neuen weltlichen SpruchRhetorik die große Öffentlichkeit. Sein Satz, die Wahrheit sei eine Geburt der Zeit, erweist in diesen Zusammenhängen guten Sinn. Aus Descartes ergab sich für Fontenelle, daß trügerische Blendungen von Objekten ungebunden variieren müssen und es dauert, bis nicht nur eine Täuschung durch andere, sondern das Prinzip der Vorurteile durch das der klaren und deutlichen Ideen ersetzt wird. Daraus ergab sich die Pointe, fast widerwillig griffe man zum Richtigen, wenn alle Irrtümer probiert seien. Eine andere, theoretisch wenig ergiebige, doch in der kulturellen Auseinandersetzung unentbehrliche Irrtumserklärung geht geradewegs aufs Verschleierungsinteresse der Herrschenden gegenüber den wahren Verhältnissen los. Hier ist der emanzipative gesellschaftliche Gehalt von Wahrheit direkt ausgesprochen. Das Theorem zieht mit Bayles Dictionnaire (1695/97) in die Frühaufklärung ein. Wollte man nicht gleich bis zu den plebejischen Akzenten des antiken Kynismus zurückgehen, der fragte, wem eigentlich die großen Begriffe Vaterland, Tapferkeit, Opfer nützten, so bleibt als wichtiger Vorläufer fürs 18. Jahrhundert des Agrippas von Nettesheim De incertitudine et vanitate scientiarum (1527). In diesem Vorläufer von Erasmus' Lob der Torheit (1535) (Agrippa schließt mit Kapitel 102 »Ad encomium asini digressio«) gewinnt die ideologiekritische Enthüllung interessierten Falschdenkens, von der protestantischen Kirchenkritik beflügelt, das Format frühaufklärerischer Kritik von Herrschaftsordnung im Mantel institutionalisierter geistiger Fehlleistung. Agrippas Zorn auf alle oberen Stände als Träger der sanktionierten Kultur geht dazu fort, sich gleich dem alltagspraktischen Wissen der Unterschichten und deren einfacher urchristlicher Moral anzuvertrauen.8

Ebd., § 76, S. 30. »In früheren Zeiten hatten gelehrte und gebildete Männer an den Höfen der Kaiser und Könige die ersten Stellen inne, ihre Nachfolger von heute sind gewisse gichtische, dickbäuchige Zöllner und Geldsäcke, denen jeglicher Sinn für Wahrheit und Tugend abgeht. Und wie es im Sprichwort heißt: die Nichtsnut2e sind den Nichtsnutzen recht. [...] Wenn etwa zufallig am Hofe begabte Männer auftauchen, die mit ihrer Klugheit und Erfahrung den Staat gedeihlich zu leiten wüßten, die schicken sie dann, damit sie nur ja nicht aufkommen und zu Einfluß gelangen, in ferne Länder. Denen ist es zu danken, daß die Wissenschaften an den Fürstenhöfen weder durch Belohnungen gefördert noch mit Lob ermutigt werden. Daher kommt das dunkle Los der Schriftsteller, so sehr macht die Bildung verhaßt, während die Unwissenheit empfiehlt. Denn diese ist ja den Königen verwandt, den Großen vertraut, einheimisch an den Höfen [...].« (Agrippa von Nettesheim, Apologie der Schrift »Über die Ungewißheit und Eitelkeit aller Künste und Wissen7 8

EIN FONTENELLE-MOTIV BEI KANT

Der trial-and-error-Gedanke bringt in die Irrtumstheorie beträchtliche neue Manövrierfähigkeit und öffnet sie dem Durchbruch zu einem nichtreligiösen universalgeschichtlichen Evolutionismus. Fontenelles allgemeine kulturgeschichtliche Voraussetzung, warum zu phantasievollen Annahmen statt zu den einfachen Wahrheiten des mechanischen Naturbegriffs gegriffen worden sei, besteht im Gedanken von der Menschheitsbewegung aus mythischen und poetischen Kindheitskulturen zur nüchtern rationalen Neuzeit; ein Verlust, für den uns nur die Wahrheit entschädigt im Bunde mit der freien Öffentlichkeit.

IV. Die verborgenen Quellen des Versuch-und-Irrtum-Modells liegen wahrscheinlich in der Mechanik- und überhaupt Technik-Literatur des 16. Jahrhunderts. Hier wird der Geist experimentierender Fortschritte dem Horizont des kulturellen Selbstverständnisses der Menschheit eingeschrieben.9 Mehr noch als nur die handwerkliche Genugtuung, vieles durchexerziert zu haben, spricht Kant freilich auch am Fontenelle-Motiv aus. Im Alter von 22 Jahren und eine Generation vorm Sturm und Drang verband der jugendlich tatendurstige Autor seiner ersten Schrift das trial-and-error-Modell fast mit so etwas wie Denkkraft der Originalgenies. »Ich stehe in der Einbildung, es sei zuweilen nicht unnütze, ein gewisses edles Vertrauen in sein eigene Kräfte zu setzen. [...] Nachdem man sich nun tausendmal bei einem Unterfangen verirrt hat, so wird der Gewinnst, der hiedurch der Erkenntnis der Wahrheit zugewachsen ist, dennoch viel erheblicher sein, als wenn man nur immer die Heeresstraße gehalten hatte. Hierauf gründe ich mich.« Kant nimmt Versuch und Irrtum als kulturelles Prinzip experimentierenden und dialogischen geistigen Fortschritts in Anspruch.10 Verläuft Geschichte wie nach einer im Ganzen unbewußten, im Einzelnen immer zielstrebigen Versuchsanordnung, so wird sie nach dem Erfahrungsbezirk

Schäften«, in: ders., Die Eitelkeit und Unsicherheit der Wissenschaften, hrsg. von Fritz Mauthner, München 1913, S. 198f.) 9 »Die mathematische Mechanik zieht im 15. und 16. Jahrhundert je länger je mehr das Interesse der Techniker auf sich, die sich mit der Konstruktion von Maschinen für die Industrie und von Feuerwaffen für den Krieg, mit der Ausführung ziviler und militärischer Bauten und der Verfertigung von Instrumenten beschäftigten. Das Bestreben nach einer möglichst vorteilhaften Ausnutzung der verfügbaren Energie führt zu einer genaueren Analyse der Art und Weise, wie die Werkzeuge funktionieren, und bis dahin unbekannte Erscheinungen stellen ihr neue Probleme. Die stärksten Impulse gehen dabei wohl aus von der intensiver werdenden Ausnutzung der Wasserkraft im Bergbau und in der Eisenindustrie und von der Entwicklung der Feuerwaffen, insbesondere von der Konstruktion immer größerer Kanonen.« (Eduard Jan Dijksterhuis, Die Mechanisierung des Weltbildes, Berlin - Göttingen - Heidelberg 1956, S. 279f.) 10 Immanuel Kant, Akademie-Ausgabe (Anm. 3), Bd. 1, Berlin 1902, S. 10.

G E R D IRRLITZ

intellektueller und wirtschaftlicher Pioniere interpretiert. Das beendet die Deutung nach transzendentem Telos und dessen Pendant, der Irrationalität herrschaftlicher Willensbestimmung. Die Objektivität eines sachhaften Prozesses wird freigesetzt, an dem das alte Rätsel der Beziehung von Zielstrebigkeit der Handelnden und Unbewußtheit des Gesamtverlaufs rationell darstellbar wird. Der übergreifende Zusammenhang gestaltet sich selbsttätig, bleibt aber innerhalb der Versuchsanordnung sinnhaft-immanent. Das Urteil über die Vergangenheit klingt erstaunlich neutral fürs programmatische Bewußtsein der middle class als eines zurückgesetzten Standes, der sich anschickt, Thron und Altar die Herrschaft streitig zu machen. Der trial-and-error-Gedanke stimmt in der Mentalität rationell optimierter Erfahrung als dem Grundmuster historischer Evolution ganz mit den ökonomischen, verfassungsrechtlichen und wirtschaftspolitischen Maximen der Theorie und der politischen Schriften der Physiokratie überein. Es ist ein revolutionäres Programm aus dem Geist der Überzeugung von besserer Einsicht. Ein fast majestätischer Evolutionismus zieht ins historische Bewußtsein ein: Man wird sich doch den besseren Resultaten nicht verweigern können. Ins Zentrum des historischen Denkens rücken massenhafte Ereignisse, die sich zu gesellschaftlicher Erfahrung summieren. Bislang basierte der Geschichtsbegriff auf dem Ereignis und dessen Gloriole des Singulären. Das Prinzip akkumulierender Erfahrung richtet das Geschichtsverständnis auf unablässigen Prozeß und auf Hervorgehen von Zukunft in jeder Gegenwart. Der aristokratische Topos von der Vorherrschaft der Vergangenheit über die Gegenwart, da Ursprung das Wesen auspräge, wird vom Richtungsverständnis eines Zeitpfeils abgelöst, auf dem das Spätere das Vollkommenere ist. Da Erfahrung unabschließbar ist, bleibt jede Gegenwart für Zukunft offen. Das trial-anderror-Modell ist das Programm der Historisierung von Rationalität. Es wird aufgestellt in der Konstellation, daß sich der intellektuelle Pragmatismus der Theoretiker den Erfolgsmaximen der Städtebürger verwandt erweise. Das trial-and-error-Modell zur Erklärung der geschichtlichen longue duree und zur Vergewisserung der Zivilisation als Fortschrittsdynamik findet seine interessanteste und ehrenhafteste Anwendung zur Gestaltung praktischer Politik im außerordentlichen Esquisse Condorcets von 1794. Die zehnte Epoche seiner Universalgeschichte umreißt »die künftigen Fortschritte des menschlichen Geistes«. Hier werden die Erfahrungen der republikanischen Freiheit auf den sozialen Ausgleich der Klassen vorausgedacht. Wirtschaftspolitik, Sozialpolitik können Mittel werden, die Gleichheit zu sichern, »en rendant les progres de l'industrie et l'activite du commerce plus independants de l'existence des grands capitalistes«.11 Die Möglichkeit, Erfahrungen zu gewinnen und zu beherzigen, wird die effektivste »distribution des travaux et des moyens de subsistance«12 einrichten lassen.

11

Condorcet, Esquisse d'un tableau historique des progres de l'esprit humain, Frank-

furt/M. 1963, S. 360. 12 Ebd, S. 358.

EIN FONTENELLE-MOTIV BEI KANT

Pragmatismus historischer Erklärung wird zum Optimismus rationeller Praxis.13 Das Prinzip erfahrungsgeleiteter Effizienz läßt Fortschritt nicht nur retrospektiv erklären, sondern ebenso auf die Gegenwart anwenden. Condorcet findet für seinen Pragmatismus eine Formel, an deren Genialität Fontenelle zweifellos den verwandten Geist erkannt hätte: »C'est l'application du calcul aux probabilites de la vie.«14 Der Gedanke, wir müßten vor der richtigen Einsicht lange bei falscher umherirren, schafft eine höchst folgerungsfähige Begründung der Basisidee des aufklärerischen Historismus, er unterstützt mit der Kraft einer logischen Mechanik, wie Wemer Krauss formulierte, »eine Umwertung der überlieferten Werte in dem Sinn, daß die jeweils jüngere Erscheinung der ihr vorausgehenden überlegen ist«15. Geschichte des Geistes als naturgemäße Anordnung von Versuch und Irrtum bietet dem Scharfsinn manchen Anreiz. Ein Feld von Lösungsvarianten vorausgesetzt, wäre es wohl auch denkbar, doch auch einmal mit dem Glück des Tüchtigen beim ersten Versuch das Rechte zu treffen. liegt das Falsche näher als das Richtige? Hier würde man das Gesetz der Wahrscheinlichkeit bemühen können. Es gibt ungeheuer viel Verkehrtes, aber nur eine Wahrheit. Die Theoretiker blieben anspruchsvoller. Das 18. Jahrhundert ging von der richtigen Voraussetzung frühen Anthropomorphismus aus, der mit unpräzisem, noch alltagspraktisch-teleologischem Objektbegriff operierte. Die Abstraktion des mathematischen Körperbegriffs in der neuzeitlichen Mechanik und Dynamik ist Resultat von Entmythisierung, die Kulturfelder differenzierenden Geschehens in der Geschichtszeit. Das Fontenelle-Modell umschreibt einen sozialen Aspekt von Theoriebewegung, die höchst rationelle Auffassung von wissenschaftlicher, von kultureller Geschichte als eines Komplexes von widerspruchsvollen und experimentierenden Prozessen. Korrektur von irrigen Erklärungen durch richtige oder wenigstens weniger verkehrte vollzieht sich über die Generationen von Forschern wie ein mehrstimmiges Gespräch. Nicht Eingebungen, nicht Intuitionen, sondern Kenntnisse und die Fähigkeit zur theoretischen Verknüpfung von Erfahrungstatsachen bilden den Boden von ideellen Abläufen, die auf Grund ihrer ganzen

13 Man begreift den guten Blick Albert Schweitzers angesichts der Krise des bürgerlichen Selbstverständnisses nach dem Ersten Weltkrieg. Er sagte zum grassierenden Konservativismus und zu dessen Wiederbelebung romantischer Mystifikationen des Gesellschaftsbegriffes in seinen Vorträgen Verfall und Wiederauflau der Kultur und Kultur und Ethik von 1923: »Wohl weiß ich, daß unsere Zeit zu allem, was irgendwie >rationalistisch< ist, absolut kein Verhältnis hat und es als eine Verirrung des achtzehnten Jahrhunderts abgetan haben möchte. Aber die Einsicht wird schon kommen, daß wir wieder da einsetzen müssen, wo das achtzehnte Jahrhundert stehen blieb.« (Albert Schweitzer, Kultur und Ethik, München 1923, S. XVIII; München 1960, S. 91.) 14 Condorcet, Esquisse d'un tableau historique (Anm. 10), S. 360. 15 Werner Krauss, Terrasson und die geometrische Fortschrittsbewegung, in: ders., Werk und Wort. Aufsätze zur Literaturwissenschaft und Wortgeschichte, Berlin - Weimar 1972, S. 135.

G E R D IRRLITZ

Eigenart nicht Sache eines Einzelnen, sondern nur die getrennten Bemühungen Vieler sein können. Das empiristische wissenschaftsgeschichtliche Konzept, primär von der Ingenieursmentalität der Maschinenkonstrukteure des 17. und 18. Jahrhunderts bestimmt, ist vom wissenschaftsgeschichtlichen Denken der Universitäten jener Zeit und gar der großen Scholastiker grundsätzlich unterschieden. Wissenschaftliche Lösungsprozesse erfordern die Teilnahme vieler Köpfe. Der Begriff der Autorität relativiert sich. Die kulturelle Zeitebene, die von wissenschaftlichen Lösungsprozessen gebildet wird, schafft einen ideellen Raum von Ausgleich durch argumentierendes Gespräch. Es ist eine Welt, in der eine enorme utopische Implikation menschlicher Existenz bereits Realität wird. Jeder, der über gute Gründe verfügt, darf mitsprechen und wird auf Respekt rechnen können. Wissenschaftsgeschichte wird zur ins Ideale verlängerten Wirklichkeit. Müssen erst alle Fehlervarianten durchlaufen sein, ehe der Strahl der Wahrheit durchbricht? Beim späten Kant steht das tatsächlich zu lesen. In der philosophiehistorischen Auffassung seiner Systemzeit entspricht dem absoluten Resultat der Geschichte der notwendige Stufengang genauer Irrtümer. Doch die These vom Fortschritt durch Versuch und Irrtum setzt nicht voraus, daß alle sinnvollen Irrtümer durchlaufen sein müßten. Fontenelle sagt das auch nicht mit der Bemerkung, man habe sich so lange vor der Wahrheit gesträubt, bis schon kein Ausweg mehr geblieben sei. Der Akzent liegt auf dem retardierenden Moment, das geistige Tradition und soziale Interessen am »Offiziösentum der Theorie« darstellten (um Rosa Luxemburgs prachtvollen Ausdruck gegen ideologisch falsifizierende Marx-Dogmatik hier zu benutzen). Die Annahme der Vollständigkeit vergangener Erfahrungen soll den Geltungswert gewonnener gegenwärtiger Resultate stärken; in der Tendenz sogar die Beliebigkeit geistigen Pragmatismus auf eigene Faust (und mit verdeckten kulturellen Intentionen) beschneiden. Absolvierte schon Vergangenheit alle denkbaren Fehler, so sind die Irrtümer erschöpft. Der Gedanke der Gegenwart wird, wenngleich nicht unantastbar, so doch mit verbindlichen Argumentationsleistungen ausgestattet. Kant sah mit gerechtem Widerwillen auf die Geschmacklosigkeit geistiger Anarchie, irgendein ΑρεΓςυ oder gar etwas Abwegiges zum theoretischen Renner aufzuzäumen, wenn es nur für einen Augenblick interessant erscheinen werde und der Eitelkeit des Autors diene. Für seine Transzendentalphilosophie beanspruchte Kant wie fachwissenschaftlich ausweisbare Diskussionskriterien. Er hielt sie außerdem für eine logisch zwingende Konsequenz der europäischen Aufklärung, die er mit gutem Blick als eine sich in Widersprüche verwickelnde Bewegung erkannte, und er sah die Kritik der ursprünglichen Geltungsformen von Urteilen darum für die ebenso erforderliche wie endgültige Errungenschaft des Jahrhunderts an.

EIN FONTENELLE-MOTIV BEI KANT

V. Die Wendung vom Versuch-und-Irrtum-Modell zum absoluten Standpunkt vollzog Kant über einige Vertiefungen der Irrtumstheorie. Kants These, alle in sich konsequent verkehrten Philosophien seien vorgetragen worden, so daß nur noch die Vernunftkritik übrig bleibe, gehört seiner kritischen Revision des aufklärerischen Bewußtseins zu; seiner Einsicht, daß im letzten Drittel des Jahrhunderts schon Selbstaufklärung der Aufklärung not tue, sie zu bewahren. Er tritt um die Mitte des Jahrhunderts in die Aufklärungsbewegung ein. Er sieht deren theoretische Flügel mit Ernüchterung. An der Schulmetaphysik der deutschen Frühaufklärung (Chr. Wolff, A. G. Baumgarten, G. Fr. Meier) erkennt der Republikaner Kant die demonstrative Schematik ständischer Gelehrsamkeit im deutschen Absolutismus. Sie konstruiere intelligible Wesenheiten im ontologischen Sinne (Gott, Seele, Weltganzes), die dem methodischen Standard der mathematischen Naturwissenschaften in deren Verbindung von Apriorismus und Phänomenalismus widersprächen. Rousseau habe ihn zurecht gebracht.16 An der empiristischen Linie der Aufklärung, von der er hauptsächlich die englischen Theoretiker studierte, sah er, enthusiastischer Verehrer Rousseaus, den europäischen bourgeois aufkommen. Kant nahm nichts direkt politisch und nichts moralisch. Er hielt die vulgäraufklärerische Vision für eine Illusion, daß der Fortschritt der Gattung sich in moralischer Vervollkommnung der Individuen zeigen werde. Aber Kant dachte den kulturellen Konsequenzen bestimmter zentraler Theorien nach. Er nahm die theoretischen Alternativen des Zeitalters ernst. Hier erschien ihm der Empirismus zunächst ebenfalls mit den logischen Prämissen der mathematischen Naturwissenschaften unvereinbar. Hume vermochte den Zahlbegriff nicht assoziationspsychologisch zu begründen.17 Also bestanden

16 »Ich bin selbst aus Neigung ein Forscher. Ich fühle den gantzen Durst nach Erkentnis u. die begierige Unruhe darin weiter zu kommen oder auch die Zufriedenheit bey jedem Erwerb. E s war eine Zeit da ich glaubte dieses allein könnte die Ehre der Menschheit machen u. ich verachtete den Pöbel der von nichts weis. Rousseau hat mich zurecht gebracht. Dieser verblendende Vorzug verschwindet, ich lerne die Menschen ehren u. ich würde mich unnützer finden wie den gemeinen Arbeiter wenn ich nicht glaubete daß diese Betrachtung allen übrigen einen Werth ertheilen könne, die rechte der Menschheit herzustellen«. (Immanuel Kant, Akademie-Ausgabe [Anm. 3], Bd. 20, Berlin 1942, S. 44.) 17 »Aber endlich muß jene wegen ihrer apodiktischen Gewißheit so hochgepriesene Wissenschaft doch dem Empirismus in Grundsätzen aus demselben Grunde, warum Hume an der Stelle der objektiven Notwendigkeit in dem Begriffe der Ursache die Gewohnheit setzte, auch unterliegen und sich unangesehen alles ihres Stolzes gefallen lassen, ihre kühne, a priori Beistimmung gebietende Ansprüche herabzustimmen, und den Beifall für die Allgemeingültigkeit ihrer Sätze von der Gunst der Beobachter erwarten, [...] was der Geometer als Grundsätze vorträgt [...], ob es gleich eben nicht notwendig wäre, doch fernerhin, es so erwarten zu dürfen. Auf diese Weise führte Humens Empirismus in Grundsätzen auch unvermeidlich auf den Skeptizismus selbst in Ansehung der Mathematik [...].« (Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, in: Akademie-Ausgabe [Anm. 3], Bd. 5, Berlin 1908, S. 52.)

GERD IRRLITZ

offenbar wesentliche apriorische Voraussetzungen der experimentell bewährten rationalen Systeme von der Natur. Vor allem aber mochte Kant sich weder von einer Toleranz-Garantie noch vom Triumph der Wahrheit überzeugen, wenn die individualrechtliche Gesellschaft das Geltende wie Hume auf custom and belief begründen wollte. Das widersprach für Kant dem aufklärerischen Anspruch der Dominanz systematischer Rationalität, also der methodischen Wissenschaften, im Selbstverständnis der Kultur. Wie, wenn Empirismus bei interessiertem Relativismus und danach bei Skeptizismus endete?18 Dazu kam das ungenaue Feld der sogenannten internal reflections. Der empiristische Positivismus der subjektiven Eindrücke wird Basis einer neuen Glaubensphilosophie. Diese bildet, wie Kant an Hamann, Herder, F. H. Jacobi sah, ein geistiges Übungsfeld antiaufklärerischer Affekte und Gedankenlosigkeit. Kant erkannte in der Mitte des Jahrhunderts Tendenzen zur Selbstnegation der Aufklärung. Also kam es auf neue, sie rekonstruierende Begründungen an. Da Kant vom universalgeschichtlichen Konzept der Aufklärung überzeugt war, verstand er die kulturellen Tendenzen der Zeit als die entwickeltsten Resultate der Geschichte. Darum sah er den Gegensatz von rationalistischer Schulmetaphysik und Empirismus als die absolute Konstellation, zu dem sich die Geschichte der Philosophie hinaufgeklärt habe. Die Selbstaufklärung der Aufklärung muß zur reflektierten Aufklärung fuhren, zu einer Theorie, die die bisherigen aufklärerischen Begründungsstrategien als die erschöpfenden Alternativen erkennt und überschreitet. Daraus ergeben sich der absolute Anspruch der Transzendentalphilosophie und ebenso die erschienene Vollständigkeit des philosophischen Irrtums. Das Schlußkapitel der Kritik der reinen Vernunft (1781) über »Die Geschichte der reinen Vernunft« sagt darum, die Beobachter der szientifischen Methode hätten heute nur die Wahl, entweder dogmatisch (Metaphysik) oder skeptisch (Empirismus) zu verfahren. Beide Theorien seien widerlegt: »Der kritische Weg ist allein noch offen. [...] was viele Jahrhunderte nicht leisten konnten, noch vor Ablauf des gegenwärtigen erreicht werden möge: nämlich die menschliche Vernunft in dem, was ihre Wißbegierde jederzeit, bisher aber vergeblich beschäftigt hat, zur völligen Befriedigung zu bringen.«19 Dem Maßstab selbstreflexiver Aufklärung reicht das theoretisch entspannte trial-and-error-Modell des geistigen Fortschritts nicht mehr zu. Die frühaufkläre-

18 »Wenn nun aber die Betrachtung der Irrtümer, die die Einbildungskraft veranlaßt, uns den Entschluß fassen läßt, die beliebigen alltäglichen Eingebungen der Einbildungskraft abzuweisen und es lieber mit dem Verstände, das heißt mit den Wirkungen der Einbildungskraft von allgemeiner und erprobter Geltung zu halten, so drohen neue Gefahren. Eben dieser Entschluß führt, wenn er konsequent durchgeführt wird, zu den schlimmsten Folgen. Ich habe bereits gezeigt, daß der Verstand, wenn er für sich allein und nach seinen allgemeinsten Prinzipien tätig ist, sich gegen sich selbst wendet, und jede Gewißheit zerstört, in der Philosophie wie im gewöhnlichen Leben.« (David Hume, Ein Traktat über die menschliche Natur, Hamburg 1973, S. 345.) 19 Immanuel Kant, Akademie-Ausgabe (Anm. 3), Bd. 3, Berlin 1904, S. 552.

EIN FONTENELLE-MOTIV BEI KANT

rische Konzeption schafft den geistigen Spielraum weitfassender Kritik der Tradition. Kant konstruiert vor den eingetretenen differenzierenden Expositionen aufklärerischer Positionen und angesichts neuer Varianten antiaufklärerischen Denkens, die aufklärerische Resultate bereits integrieren, eine Theorie in sich geschlossener ideeller Geschichte. Idealistische Substanz-Ontologie (Metaphysik) und Naturalismus standen sich immer gegenüber und zwar als notwendige erste und zweite Stufe des Denkens. Das damit entworfene triadische Modell - metaphysische Position, empiristische Negation, transzendentalphilosophische Negation der Negation — skizziert Kant in den Entwürfen der unvollendeten Preisschrift der Berliner Akademie von 1791: Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibni%' und Wolffs Zeiten in Deutschland gemacht hat? Es verschränkt die Logik der Philosophie und die Geschichte der Philosophie ineinander.20 Die absolute historische Konstruktion verdrängt bei Kant mit dem Aufbau seiner neuen Logik der Philosophie die theoretisch entspannte Versuch-undIrrtum-These. Die Passage aus der Grundlegung, also mitten in der Durchführung der neuen Theorie, zeigt die Überlagerung der beiden einander ausschließenden philosophiehistorischen Irrtumstheorien.21 Beim Versuch, strenge Logik der Geschichte der Philosophie — statt des fast genußvoll phantasierenden Umherschweifens zwischen allen möglichen Irrtümern - zu zeigen, vertieft Kant aufklärerische Grundgedanken. Warum hebt das philosophische Denken mit den Versuchen in dogmatischer Metaphysik an? Kant führt hier seine Lehre vom dialektischen Schein, von der »natürlichen und unvermeidlichen Illusion der reinen Vernunft« ein,22 eine der zentralen Errungenschaften der transzendentalphilosophischen Phase der europäischen Aufklärung und Vertiefung der Vorurteilstheorie, des Kernstücks der aufklärerischen Irrtumstheorien. Der transzendentale Schein entsteht aus der zunächst naheliegenden Täuschung, logische Formen der Synthesis empirischer Daten für objektiv gegebene Elemente der Gegenstände und Prozesse selbst zu halten. Das öffnet den Abweg, intelligible Objekte, solche »Dinge an sich« hinter den Erscheinungen, anzunehmen. Schließlich kommen als die Quellen transzendentaler Dialektik die »Verblendungen in die Vernunftschlüsse, [...] tief in der menschlichen Vernunft verborgen«, unbedingte Postulate logischer Vollständigkeit als ontische Wesenheiten zu setzen. Es ist eine wie natürliche Verschleifung von empirisch-gegenständlicher Wahrnehmung und logischer Form, die eben aus sich

20 »Eine philosophische Geschichte der Philosophie ist selber nicht historisch oder empirisch, sondern rational, d. i. a priori möglich. Denn ob sie gleich Facta der Vernunft aufstellt, so entlehnt sie solche nicht von der Geschichtserzählung, sondern sie zieht sie aus der Natur der menschlichen Vernunft als philosophische Archäologie.« (Immanuel Kant, Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik, in: Akademie-Ausgabe [Anm. 3], Bd. 20, Berlin 1942, S. 341.) 21 Vgl. Anm. 4. 22 Immanuel Kant, Akademie-Ausgabe (Anm. 3), Bd. 3, Berlin 1904, S. 237.

GERD IRRLITZ

und ursprünglich synthetisierend verfährt; daher Kants Hauptproblem der synthetischen Urteile a priori.23 Das täuschende Element der Ontologie intelligibler Wesenheiten ward vom Empirismus aufgedeckt, das Problem aber sei zugleich durch simplifizierende Kurzschlüssigkeit verspielt worden. Er nahm an, alle Bewußtseinsinhalte entstünden aus Außenwelterfahrung und Selbstwahrnehmung, die psychische Realität sei also überhaupt die einzige. Die unvermittelte Negation wird von der Transzendentalphilosophie wieder negiert und der philosophiegeschichtliche Gesamtprozeß erweist sich als logischer Synthesevorgang. Die apriorischen synthetischen Folgerungen aufs Unbedingte (notwendige Ursache-Wirkung-Beziehung, vollkommenes Wesen, ideelle Substanzialität der denkenden Person u. a.), die niemals Gegenstand empirischer Erfahrung werden können, sind denknotwendige intelligible Synthesen, die ihrerseits nur ordnend auf die empirische Erfahrung bezogen werden können. Die neue Metaphysik ist also nur eine »methodisch-gebrauchte Metaphysik«.24 Mit der Verschränkung von Logik der Geschichte und des Systems ist der variationsfahige trial-and-error-Gedanke verlassen und das aufklärerische Selbstverständnis in eine Phase konzeptioneller Unbedingtheit überfuhrt worden, Vorzeichen der im Ubergang zum 19. Jahrhundert aufbrechenden neuen geistigen und sozialen Zerklüftungen. Der außerordentliche geistige Spielraum des Gedankens vom Fortschritt nach Erfahrung zeigt sich auch an Aufnahme und Umwandlung dieses Fontenelle-Motivs in Kants Denken.

23 Ebd., S. 243f., 235. Immanuel Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, in: Akademie-Ausgabe (Anm. 3), Bd. 4, Berlin 1903, S. 524. 24

ERNST MÜLLER

Arbeit und Genuß Zur Phänomenologie ihres Zusammenhangs bei Hegel Genuß könnte man vielleicht diejenige Lust nennen, die nicht allein in der Befriedigung eines notwendigen Bedürfnisses besteht, sondern darüber hinaus, frei von Zwängen und Notdurft, Erfüllung um ihrer selbst willen gewährt; im Genuß verschwindet zeitweise - sei es durch Tätigkeit, sei es durch Kontemplation — die Fremdheit, die uns von den Dingen in ihrer natürlichen und gesellschaftlichen Verfaßtheit trennt; emphatischer noch ließe sich Genuß als Herrschaft der Dinge oder Tätigkeiten über uns fassen, die dann goutiert werden und gelingen kann, wenn äußerliche Zwecksetzungen und reflektierte Kontrollmechanismen suspendiert oder wenigstens zurückgetreten sind. So definiert, könnte Genußfähigkeit als Index angesehen werden, der den Grad der Freiheit des Menschen vom naturhaften und selbst erzeugten Reich der Notwendigkeit anzeigt. Doch eine solche oder ähnlich begründete positive, gleichsam unschuldige Konnotierung von Genuß steht allerdings in merkwürdiger Diskrepanz zu Verdächtigungen und Zurückweisungen seines Begriffes in unterschiedlichen theoretischen Denkströmungen der Geschichte. Nicht nur das weltverneinende Christentum, gerade kritische Konzepte der Aufklärung und der Selbstaufldärung der Aufklärung (von Kant bis Adorno) stellen den Genuß als Selbstzweck in Frage oder unterstellen ihm einen ideologischen Charakter. Verständlich wird dieser Verdacht nur, wenn man Genuß nicht isoliert, sondern im Zusammenhang mit seinem begrifflichen Gegenpol, nämlich der Arbeit in ihren gesellschaftlichen Formen interpretiert. In seinen frühen Jenaer Schriften und in der Phänomenologie des Geistes hat Hegel diesen vermittelten Zusammenhang zwischen Arbeit und Genuß expliziert.1

1 Die Interpretation der Phänomenologie des Geistes, ausgehend vom Kapitel IV.: »Selbständigkeit und Unselbständigkeit des Selbstbewußtseins; Herrschaft und Knechtschaft«, bezieht sich, wie der Großteil der Hegelrezeption im 20. Jahrhundert überhaupt, so auch in diesem Falle zum einen auf das Schlußkapitel von Marx' Pariser Manuskripten (Kritik der Hegeischen Dialektik und Philosophie überhaupt), zum anderen auf Alexandre Kojeves Introduction a la lecture de Hegel. Lefons sur la Phenomenologie (Auszüge u. d. T.: Zusammenfassender Kommentar zu den ersten sechs Kapiteln der Phänomenologie des GeistesDer Tod fürs Vaterland«< zu schließen (Marcel Reich-Ranicki, Kein Rabatt für Märtyrer. Über Liebe aus dem Geist der Kritik. Dankrede aus Anlaß der Verleihung des Friedrich-Hölderlin-Preises der Stadt Bad Homburg, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24. Juni 2000, Bilder und Zeiten S. If., hier S. I). Oder sollte er auch die Marseillaise in sein vernichtendes Urteil einbeziehen wollen? 26 Anders als die pluralische Fügung »den/ Deinen« in V. 59f., die dort wie öfter in Hölderlins Oden die wesensmäßige Zugehörigkeit bezeichnet, hat die individuelle Aussage ich bin der deine an dieser Stelle den Status eines (performativen) Liebesgeständnisses; vgl. die - ins Präteritum transponierte - Parallelstelle in dem Rollengedicht für Diotima aus der ersten Zeit der Umnachtung, »Wenn aus der Ferne ...«, das diese Wendung neben andern unverwechselbaren Idiomatismen der poetischen Sprache Hölderlins noch einmal aufruft, ehe sie ganz verstummt (V. 16): »Ja! ich gestand es, ich war die deine.«

160

KARL MAURER men (V. 109—112: »[...]/ Bei deinen Feiertagen/ Germania, wo du Priesterin bist/ Und wehrlos Rath giebst rings/ Den Königen und den Völkern.«) - sei »dasselbe [...] gemeint«27 wie mit Emanuel Geibels plattem Couplet: »Und es mag am deutschen Wesen Einmal noch die Welt genesen.« {Deutschlands Beruf [1861], V. 41f.) 28 Diese jüngste Attacke, die sich dazu versteigt, dem sei es auch nur >tagträumenden< (Peter Szondi 29 ) Fürstenmörder Hölderlin einen apolitischen Goethe »dankbar« zu konfrontieren, 30 gibt Anlaß, die solcherart gescholtene VaterlandsLiebe, wie sie aus unserm Gedicht spricht, noch einmal in Augenschein zu nehmen und sie vor allem in ihren politisch-historischen Kontext zu rücken, was der Kritiker, wenn wir die Rede vom »Rabatt für Märtyrer« richtig verstehen, geflissentlich unterläßt. Hölderlins Verse sind nicht nur »etwas anders formuliert«, oder besser, in einem ganz andern, »behutsame [n] und liebevolle [n] Ton« gehalten, wie Jürgen Schröder sensibler beobachtet,31 sie sind vor allem soweit wie nur möglich von der auftrumpfenden nationalen Selbstgewißheit der wilhelminischen Ära entfernt, die sich in Geibels lyrischer Einlassving wiedererkannte. Der Gesang des Deutschen ist, anders als späterhin die prophetischen, von Friedrich Beißner so betitelten »Vaterländischen Gesänge«32, noch ganz in des

Reich-Ranicki, Kein Rabatt für Märtyrer (Anm. 25), S. I. Zit. nach: Geibels Werke, hrsg. von Wolfgang Stammler, 3 Bde., Leipzig [1920]. 25 Peter Szondi, Der Fürstenmord, der nicht stattfand (1970, postum veröffentlicht), in: ders., Einführung in die literarische Hermeneutik, hrsg. von Jean Bollack und Helen Stierlin, Frankfurt/M. 1975, S. 409^26, hier S. 410: »Auch unter den deutschen Jakobinern haben viele ihre revolutionären Pläne und Gedanken in die Sphäre des Tagtraums und der Dichtung abgedrängt. Zu diesen zählen sowohl Sinclair als auch Hölderlin.« 30 Reich-Ranicki, Kein Rabatt für Märtyrer (Anm. 25), S. I: »Wenn ich Derartiges lese, blicke ich dankbar zu Goethe auf, der sich zu patriotischen oder gar nationalistischen Äußerungen nie hat hinreißen lassen.« Die Gegenüberstellung mit einem unverfänglicheren Goethe findet sich bereits in Reich-Ranickis älterer Hölderlin-Schelte, seiner Laudatio des Hölderlin-Preisträgers Peter Härtling aus dem Jahre 1987, »Der Fall Hölderlin und vielleicht eine Annäherung«, wo er eine Art politischer Verantwortung des Dichters — »in Grenzen« - für die Rezeption seines Werks über die Zeiten hinweg konstruiert, »für die Mißverständnisse, die es auslöst, und für den Mißbrauch, den es ermöglicht« (zuerst in: Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 27. Juni 1987; dokumentiert in: Peter Härtling, Auskunft für Leser, hrsg. von Martin Lüdke, Darmstadt 1988, S. 69-78, hier S. 70). 31 Jürgen Schröder, Deutschland als Gedicht. Über berühmte und berüchtigte Deutschland-Gedichte aus fünf Jahrhunderten in fünfzehn Lektionen, Freiburg/Breisgau 2000, Kap. 7: >0 heilig Herz der Völker, ο VaterlandU Hölderlins Vaterländischer Gesangs S. 142. 32 Beißner begründet die Wahl dieses Terminus mit Hölderlins Sprachgebrauch, wo er indessen nirgends als Gattungsbezeichnung begegnet, nicht zuletzt aber damit, daß jene »ganz eigenen Gedichte [...] zum Ausdruck ihrer Eigenart auch einen besondren Namen statt einer abgegriffenen Gattungsbezeichnung verlangen« (in: GSA, Bd. 2.2, S. 680); 27

28

VOM GENUSS DES VATERLANDS IN DÜRFTIGER ZEIT

Dichters geschichtlicher Welt verortet. Er ringt sich los aus der Erfahrung einer fortdauernden historischen Benachteiligung des doch mitten in Europa gelegenen, einstweilen noch namenlosen 33 »Vaterlandes«. Die Bilanz, die das Gedicht fünfzehn Strophen lang zieht, fallt insgesamt alles andere als günstig aus: Es fehlt der Nation nicht nur der Nationalstaat, sondern auch jedes Nationalbewußtsein sie »läugne[t] [...] die eigene Seele« (V. 12) —, es fehlt eine gegenwärtige große nationale Dichtung 34 neben den einzigartigen Leistungen der zeitgenössischen Denker, denen bemerkenswerterweise die eher im politischen Bereich beheimateten Prädikate »die/ Kalten und Kühnen, die Unbestechbarn« (V. 47f.) zuerkannt werden, und es fehlt nicht zuletzt an einem einigenden politischen und kulturellen Zentrum, einem deutschen »Delos« oder »Olympia« (V. 57f.). Das Vaterland hat einstweilen nichts vorzuweisen als seine reichen Landschaften (Str. 4—5) und das — unorganisierte — geistige, künstlerische und wirtschaftliche Potential, das in seinen Bewohnern steckt (Str. 6). Der Rest ist Hoffnung, Ahnung, (vage) Verheißung.

Norbert von Hellingrath hatte sich vor ihm noch mit der reinen metrischen Klassifizierung »Hymnen in freien Strophen« begnügt (in: Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, unter Mitarbeit von Friedrich Seebaß hrsg. von Norbert von Hellingrath, München - Leipzig 1913ff., Bd. 4: Gedichte 1800-1806 [1916], S. I49ff., vgl. S. 338). Die von Beißner gewählte Bezeichnung ist zumindest mißverständlich, ebenso wie das unkommentierte Zitat des Wortes vom »hohe[n] und reine [n] Frohloken vaterländischer Gesänge« (Brief an Friedrich Wilmans vom Dezember 1803, in: GSA, Bd. 6.1, Nr. 243, S. 436). Hölderlin verwendet das Wort vaterländisch immer wieder in einer später nicht mehr gebräuchlichen Bedeutung, sinnverwandt mit heimisch, entsprechend russ. omeuecmeeHHbtü, und rückt so »die vaterländischen Vorstellungen« gegen »die griechischen Vorstellungen« usw. (Anmerkungen zur Antigonä, 3., in: GSA, Bd. 5, S. 269). Von dieser Entgegensetzung ist auch das späte dichterische Programm einer »Sangart« von einem ganz »andern Karakter« determiniert, wie es die letzten Briefe an Casimir Ulrich Böhlendorff (hier: Brief vom November P] 1802, in: GSA, Bd. 6.1, Nr. 240, S. 433) und an den Verleger Wilmans entwickeln. 33 So ist die Apostrophe in Vers 49f. (»mein Vaterland,/ Mit neuem Nahmen«) wohl auf jeden Fall ex negativo zu verstehen, gleichgültig an welchen >neuen Namen< Hölderlin denkt. 34 Reich-Ranicki (Kein Rabatt für Märtyrer [Anm. 25], S. I) moniert aus heutiger Sicht, daß Hölderlin die geistig-kulturelle Bedeutung seiner eigenen Epoche, »immerhin jene[r] Goethes und Schillers, Kants und Beethovens«, verkannt habe, doch ist daran zu erinnern, daß Goethe noch im Jahre 1795, wenn auch nicht ohne hintergründigen Selbstbezug, darüber nachsinnt, welche Bedingungen ein »klassischer Nationalautor« vorfinden müßte, damit er in Deutschland »möglich wird« (Johann Wolfgang Goethe, Uterarischer Sansculottismus, in: ders., Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche, hrsg. von Ernst Beuder, 24 Bde., Zürich 1961-66, 3 Erg.-Bde., Zürich 1960-71, Bd. 14, S. 181). Hölderlin legt allerdings, unter dem fortwirkenden Einfluß Klopstocks, einen ganz andern, romantisch-rückwärtsgewandten Maßstab an, wenn er in Vers 45 f. die sagenhafte Dichtung »unser[er] Alten« als unerreichtes Vorbild beschwört.

KARL MAURER

Diese Bestandsaufnahme ist weder larmoyant noch beschönigend, wenn auch gewiß gerade in ihrer Schonungslosigkeit als captatio benevolentiae angelegt.35 Sie liegt vor allem ganz auf der Linie der zeitgenössischen Wahrnehmung, wie, als gewiß unverdächtiges Zeugnis, das ziemlich genau um die gleiche Zeit verfaßte, streckenweise geradezu enthusiastische Kapitel »De la litterature allemande« im zweiten Teil von Madame de Staels Traktat De la litterature (1800) bestätigt (Kap. II, 17). Auch dort wird das folgenreiche Fehlen eines strahlkräftigen Mittelpunkts beklagt: »La division des etats excluant une capitale unique, ού toutes les ressources de la nation se concentrent, oü tous les hommes distingues se reunissent, le goüt doit se former plus difficilement en Allemagne qu'en France.«36 Den vielerorts wegen ihres noch unausgereiften Stils verspotteten deutschen Autoren wird mangelndes Selbstvertrauen, wo nicht Preisgabe ihrer originären Schreibart vorgeworfen: »On a souvent reproche aux ecrivains allemands de manquer de grace et de gaite. Quelques-uns d'entr'eux, craignant ce reproche, [...] veulent imiter en litterature le gout fran9ais; et ils tombent alors dans des fautes d'autant plus graves, qu'etant sortis de leur caractere naturel, ils n'ont plus ces beautes energiques et touchantes qui faisoient oublier toutes les imperfections.«37 Das Lob der einzigartigen Leistungen auf den Feldern der Philosophie, der modernen Geschichtsschreibung, der Naturwissenschaften wird begleitet von der Einsicht, daß dieser kulturellen Blüte vor allem eine Kompensationsfunktion zukommt angesichts der politischen Rückständigkeit (die Deutschen haben noch kein Vaterland!): »Que de travaux pour les sciences, pour la metaphysique, honorent la nation allemande! que de recherches! que de perseverance! Les Allemands n'ont point une patrie politique; mais ils se sont fait une patrie litteraire et philosophique, pour la gloire de laquelle ils sont remplis du plus noble enthousiasme.«38

35 Vgl. Schröder (Deutschland als Gedicht [Anm. 31], S. 144), der diese Tendenz auf die Formel bringt, schon die in den ersten drei Strophen beklagten >Mängel< des Vaterlands würden »so benannt, daß sie wie die Keime künftiger Vorzüge klingen«. 36 Madame de Stael, De la litterature consideree dans ses rapports avec les institutions sociales, hrsg. von Paul van Tieghem, 2 Bde., Geneve - Paris 1959, Bd. 2, S. 244. 57 Ebd., S. 254. 38 Ebd., S. 257f. Die Stelle (ab »Les Allemands ...«) gehört zu den Exzerpten, mit denen Wilhelm von Humboldt in seinem Brief aus Paris vom 30. Mai 1800 Goethe für das soeben erschienene Werk zu interessieren sucht (vgl. Goethes Briefwechsel mit Wilhelm

VOM GENUSS DES VATERLANDS IN DÜRFTIGER ZEIT

Das »Land des hohen ernsteren Genius« (V. 9), als das dem Dichter Hölderlin sein Vaterland nunmehr ausschließlich vorschwebt, ist ganz und gar den Niederungen politischer oder kriegerischer Konflikte enthoben. Es ist fraglich, ob ihn der Appell noch erreicht hätte, mit dem Madame de Stael ihr Kapitel über die deutsche Literatur überraschend beschließt, wenn er ihm denn, wie dem Weimarer Goethe durch Wilhelm von Humboldts Vermitdung,39 vor Augen gekommen wäre: Die Deutschen möchten die Fackel der Aufklärung weitertragen, wenn einmal im nachrevolutionären Frankreich alle Hoffnung auf Freiheit erloschen ist. Mehr als ihre Nachbarn auf die Verbesserung der Lage der Menschen und auf geduldige Überzeugungsarbeit bedacht, müßten sie, wenn auch sie dereinst der republikanische Enthusiasmus erfaßt, das vollenden können, was die Träger der Französischen Revolution durch ihr gewaltsames Vorgehen verfehlt haben: »Iis s'entendent mieux que nous ä 1'amelioration du sort des hommes; ils perfectionnent les lumieres, ils preparent la conviction; et nous, c'est par la violence que nous avons tout essaye, tout entrepris, tout manque.«40 Auch dies, versteht sich, die idealisierende Projektion einer Enttäuschten. Schon der »Jakobiner«41 Hölderlin hatte realistischerweise die Erfüllung seiner politischen Träume allein vom >Glück< der französischen Waffen, nicht etwa von einer Insurrektion seiner Freunde erhofft. »Im Falle, daß die Franzosen glüklich wären, dürfte es vieleicht in unserem Vaterlande [gemeint ist hier: Württemberg] Veränderungen geben«, schreibt er Anfang März 1799 beim Ausbruch des zweiten Koalitionskrieges an die Mutter 42 Gerhard Kurz hat anläßlich des 150. Todestages Hölderlins in seinem Rückblick auf die nationalsozialistische Vereinnahmung des Dichters 50 Jahre zuvor (»Hölderlin 1943«) festgestellt, »gelesen vor dem Hintergrund der als tiefste nationale Kränkung erfahrenen Niederlage im Ersten Weltkrieg« könnten die ersten beiden Strophen unseres Gedichts »leicht als Ausdruck dieser Kränkung und als Ausdruck der eigentlichen Überlegenheit des deutschen Geistes gelesen [...] werden« 43 Diese zweifellos zutreffende Beobachtung legt die Frage nahe, ob Höl-

und Alexander von Humboldt, hrsg. von Ludwig Geiger, Berlin 1909, Nr. 38, hier S. 124); vgl. den Hinweis bei Schmidt, in: SWB, Bd. 1, S. 638f. 5' Vgl. den erwähnten Brief, S. 123. 40 M. de Stael, De la litterature (Anm. 36), Bd. 2, S. 260. 41 Der Streit um Hölderlins »Jakobinismus« ist in der Tat »müßig« (Reich-Ranicki [Anm. 30], S. 72); der Terminus ist in Deutschland am Ende des Jahrhunderts längst zum generalisierenden Schlagwort verkommen. Vgl. Inge Stephan, Literarischer Jakobinismus in Deutschland (1789-1806), Stuttgart 1976, Abschnitt 3: »Problematik des JakobinismusBegriffes fur Deutschland«. « Brieffragment (undatiert), in: GSA, Bd. 6.1, Nr. 175, S. 317. 43 Gerhard Kurz, Hölderlin 1943, in: Peter Härtling/Gerhard Kurz (Hrsg.), Hölderlin und Nürtingen, Stuttgart - Weimar 1994, S. 103-128, hier S. 106.

164

KARL MAURER

derlins Ode nicht aus einem wo nicht gleichgearteten so doch historisch vergleichbaten Empfinden heraus geschrieben ist und wie der Dichter mit diesem Empfinden der unverdienten Zurücksetzung umgeht; denn von »Frieden« und »Liebe [...] zwischen den Vaterländern«44 ist anderswo in seinem lyrischen Werk sehr viel mehr die Rede als hier 45 Akzeptiert man diese Prämisse, so ist der Tenor des Gedichts sogar als ausgesprochen moderat zu bezeichnen. Schillers wohl nach dem Ende des zweiten Koalitionskrieges konzipierter, von seinen Herausgebern »[Deutsche Größe]« betitelter Gedichtentwurf »Darf der Deutsche in diesem Augenblicke ...« spricht das Unbehagen über die fortdauernde Fremdbestimmung der Geschicke Deutschlands sehr viel unverblümter aus: »Wo der Franke wo der Britte Mit d[em] stolzen Siegerschritte Herrschend sein Geschick bestimmt?« 46 hatte er versuchsweise gereimt, mutmaßlich zu einem Zeitpunkt, wo sein Bewunderer und zeitweiliger Schützling schon, gleichfalls aus Anlaß des Friedens von Luneville, die ersten Entwürfe zu seiner Friedensfeier niederschrieb. Offensichtlich hat sich >der Deutschem der hier >singtausgebrannt< sind.49 Daß »der Genius/ Von Land zu Land [wandelt]« (V. 37f.), hatten freilich schon andere vor Hölderlin unwidersprochen festgestellt (es ist die alte Idee der translatio studii)50, zuletzt besonders eindrucksvoll Voltaire im Einleitungskapitel seines Steele de Louis XIV (1751): Auf das Zeitalter »Philipps und Alexanders« (»oder«, wie Voltaire etwas geniert hinzufugt, »der Männer vom Schlage eines Perikles, eines Demosthenes, eines Aristoteles, eines Piaton, eines Apelles, eines Phidias, eines Praxiteles«) sei dasjenige »Cäsars und des Augustus« gefolgt, auf dieses, nach der Einnahme Konstantinopels durch die Türken, das Zeitalter der Medici, und auf dieses wiederum das »sogenannte Zeitalter Ludwigs XIV.«,51 das von allen diesen der Vollkommenheit am nächsten kommt. Auch Voltaire rekurriert schon auf die Überlegung, daß die als letzte, mit großer Verspätung auf den Plan getretene Nation - in diesem Fall die neun Jahrhunderte lang »sous un gouvernement gothique« wirtschaftlich und kulturell zurückgebliebenen, an den großen Entdeckungsfahrten und Erfindungen der Renaissance kaum beteiligten Franzosen — zwangsläufig das zuvor von andern Völkern Erreichte noch einmal übertreffen mußte, deren Errungenschaften sie sich zunutze machen konnte: »Le quatrieme siecle est celui qu'on nomme le siecle de Louis XIV, et c'est peut-etre celui des quatre qui approche le plus de la perfection. Enrichi des decouvertes des trois autres, il a plus fait en certains genres que les trois ensemble.«52

49 Zu dem ursprünglich stoischen Konzept der έκπύρωσις siehe gleichfalls den Kommentar von Schmidt, in: SWB, Bd. 1, S. 641, zur Stelle V. 35f.: »Und eilten sie, die dich belebt, die/ Flammen entbunden zum Aether über?« 50 Vgl. dazu Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (1948), Bern - München 1967, S. 388f. Curtius verweist besonders auf den Prolog von Chretiens de Troyes CÄjiV-Roman, V. 27—44; auch dort, V. 43f., findet sich schon das Bild der gebliebenen »Rede« (parole) nach der erloschenen »Glut« (brese). 51 Voltaire gebraucht hier diese Umschreibung - »celui qu'on nomme le siecle de Louis XIV« - mit Bedacht; ihm ist durchaus bewußt, daß die von ihm behandelte Epoche keinesfalls deckungsgleich ist mit der Lebenszeit oder gar der Ära der persönlichen Regierung ihres Namensgebers. Vgl. dazu Werner Krauss, Der Jahrhundertbegriff im 18. Jahrhundert, in: ders., Studien zur deutschen und französischen Aufklärung, Berlin 1963, S. 9 bis 40, bes. S. 11 f. 52 Voltaire, CEuvres completes, hrsg. von Louis Moland, 52 Bde., Paris 1877-1785, Bd. 14, S. 155-158, hier S. 156.

KARL MAURER Nur rühmt Voltaire ein Zeitalter, dessen wenn auch mittlerweile nicht mehr ganz unumstrittener53 Ertrag vor Augen steht, während der deutsche Dichter ein »freudig Werk« (V. 53) antizipiert, mit dem das Vaterland die Seinen - oder die Muse die Ihren54 — erst noch überraschen muß: Doch wie erräth der Sohn, was du den Deinen, Unsterbliche, längst bereitest? (V. 59f.) Wenn etwas beunruhigt an Hölderlins Ode, so ist es eben der durch die äußeren Gegebenheiten kaum gerechtfertigte Stimmungsaufschwung von der Mitte des Gedichts an, der die drei Schlußstrophen zu einer »triumphalen« (Lawrence J. Ryan)55 Reprise der ersten Anrede an das Vaterland aufwachsen läßt. Der Dichter hat sich am Ende seiner Mahnrede in eine »Sprechsituation der Verkündigung und Voraussage« (Kurz)56 hineinmanövriert, in der er nur noch in die paradoxe Zuversicht ausweichen kann, das zuvor getadelte Vaterland sei »längst« auf dem Wege, das weniger denn je Absehbare auf wundersame Weise wahrzumachen.57

53 Vgl. Karl Maurer, Fenelons vergebliche Kritik der französischen Klassik und die Emanzipation der deutschen Literatur von der klassizistischen Norm, in: ders., Goethe und die romanische Welt. Studien zur Goethezeit und ihrer europäischen Vorgeschichte, Paderborn - München - Wien - Zürich 1997, S. 99-179; zu Voltaires Umgang mit der zeitgenössischen Kritik: S. 149-175. 54 Die Koinzidenz von Vaterland und Muse, wie sie die drittletzte Strophe mit ihren parallelen Anreden zu suggerieren scheint, brächte die Funktionen in Hölderlins vaterländischer Mythologie arg durcheinander (Germania ist in Germanien, V. 49 und V. 110, nur »Priesterin«!). Der »neue Name« des Vaterlands, der, wie Schröder (Deutschland als Gedicht [Anm. 31], S. 145) zu Recht hervorhebt, »noch nicht ausgesprochen werden [kann]«, ist zweifellos weiblichen Geschlechts, wie die Anrufung »Unsterbliche« im letzten Vers beweist. Aber warum nicht: Germania, wie in der zwei Jahre späteren Hymne? Der Bezug zu Tacitus ist auch hier schon gegeben, wäre es nur in der Rede von der »schweigenden Mutter Erd'« (V. 2) am Anfang des Gedichts, und Hölderlin springt auch sonst recht großzügig in seinen Apostrophen hin und her. 55 Ryan, Hölderlins Lehre vom Wechsel der Töne (Anm. 13), S. 192. Lawrence Ryans Analyse der Bewegung, die Hölderlins Gedicht auf dem Höhepunkt seiner Odenkunst beschreibt, ist vorzüglich, ganz unabhängig von dem dornigen Problem der Übertragung einer von ihrem Autor selbst niemals auf eines seiner ausgeführten Gedichte applizierten Kunsdehre. 56 Kurz, Hölderlin 1943 (Anm. 43), S. 114. 57 Eine entsprechende Bringschuld der Nation unterstellt schon der Goethe der Betrachtung Literarischer Sansculottismus (»[...] einen vortrefflichen Nationalschriftsteller kann man nur von der Nation fordern.«) - nicht ohne hintersinnig hinzuzufügen: »Wir wollen die Umwälzungen nicht wünschen, die in Deutschland klassische Werke vorbereiten könnten.« (in: Goethe, Gedenkausgabe [Anm. 34], Bd. 14, S. 181f.) Zur Abgrenzung der zugrundeliegenden Positionen Goethes und Hölderlins vgl. Ulrich Gaier, Hölderlins vaterländische Sangart, in: Hölderlin-Jahrbuch 25 (1986/87), S. 12-59, hier S. 44-46 (»Vaterländische Poetik«).

VOM GENUSS DES VATERLANDS IN DÜRFTIGER ZEIT Kein Zweifel, Hölderlin ist hier - und nicht nur hier58 - dem Sog der hochrhetorischen Odenform seines Jahrhunderts erlegen, nach deren Normen die überraschende Schlußvolte sogar ein besonderes Verdienst darstellt. Aber die Gemütsbewegung, die das Schema füllt — von der pathetischen Eingangsklage über die >naive< Freude am vielfaltigen Vaterlands-»Schöne[n]« (V. 13) 59 , die >heroische< Erinnerung an das untergegangene Vorgängerland »Attika« (V. 33) 60 und die >ahndende< Suche nach den Anzeichen der eigenen Berufung (vgl. V. 40)61 bis zu dem euphorischen Schluß — ist genuin poetisch, sie ist Hölderlins Weise des Genusses am Vaterland >in dürftiger Zeit< (vgl. Β rod und Wein, V. 122) 62 .

Aleksandr Bloks Gedicht (Die Skythen) ist nicht ganz 120 Jahre nach dem Gesang des Deutschen, gewiß ohne Kenntnis der Hölderlinschen Ode,63 gedichtet (die erhaltenen Autographen datieren es auf den 30. Januar 1918 64 ). Es

58 Zu nennen wäre namentlich noch der Odentorso Oer Frieden, wo die Spuren des zugrundeliegenden Expositionsschemas noch im Autograph faßbar werden; vgl. Karl Maurer, Der neue Leser Hölderlins, in: Poetica 27 (1995), S. 1-37, hier S. 24f. 59 Dem >naiven< Aussagemodus (>Ton Ο 6 Η Α Μ MHOHCHT,

Η AeHb npHAeT — He 6yAeT Η CAeAa 0

O T BaiiiHX rteciyMOB, 6ΒΓΠ> MOJKCT! O , craphtH MHp! IloKa T M He n o r a ö ,

riOKa TOMHIHbC« MyKOH CAaAKOH, OcraHOBHCb, npeMyApbiä, KaK 3ΑΗΠ, npeA ΟφΗΗΚΰΟΜ c ApeBHeio 3araAKofi!... 5

POCCHH —

ΟφκΗκο. AnKya

Ii oÖAHBaHCb HepHOH

Η

cKop6a,

KpOBbK),

Ü H A ΓΑΛΑΗΤ, ΓΑΛΑΗΤ, ΓΑΛΑΗΤ Β T e 6 « ,

Η c HeHaBHCTbfO, Η c AIOÖOBbK)! ... A a , TaK AFOGHTL·, KaK A K > 6 H T Haina KpoBb, 3

HHKTO

H3 Bac AaBHo HE

AK>6HT!

3a6bIAH Bhl, ΤΓΟ Β MHpe ecrb AK>6OBL·, K o T o p a « Η Ηοκετ, Η ryöirr!

KARL MAURER Μ η λκ>6ημ Bee — η »tap χολοαημχ hhca, Η Aap 6o»ecTBeHHHx bhachhh, 35 HäM BHÄTHO BCe — Η OCTpMH raAAbCKHH CMHCA, H cyMpaiHHH repMaHCKHÜ rcHHH ... MhT ΠΟΜΗΗΜ BCe — napHHCCKHX yAHII aA, Μ BeHeubÄHCKHe npoxAaAM, Ahmohhmx pom AaACKHH apoMaT, 40

Η KeAbHa AMMHwe rpoMaAW ... Mm λκ>6ημ nAOTb — η BKyc ee, η ιχββτ, Μ AyniHHÜ, CMepTHHÜ πλοτη 3anax ... BhHOBHW Ab MM, KOAb XpyCTHeT BaiH CKeAeT Β THHccAbix, HejKHHX HauiHX Aanax?

45 npHBHKAH MM, XBaTaH ΠΟΔ y3Am»I Hrpaiomnx KOHefi ρετΗΒΜχ, AoMaxb kohäm TfDKeAbie KpecTUM, Η ycMHpaTb paÖMHt ciporrrHBiix ... npHAHTe κ hom! Οτ yacacoB bohhm 50

npHAHTe β MHpHbie oötaTba! IIoKa He πο3αηο — crapMii Met β hoxchm, ToBapHiim! M u craHeM - 6paTb«! A ecAH HeT, — HaM Heiero Tepjrrb, H HaM AocrynHO BepoAOMcrao!

55 Bena, Beica - Bac öyAeT npoKAHHarb BoAbHoe, no3AHee iiotomctbo! Mm ΗΐΗροκο no Ae6p«M η AecaM ITepeA EBponoio rrpHroHcefi PaccTynHMC«! Mm oöepHeMca κ BaM 60

Cßoeio a3HaTCKOH polten! HAHTe Bce, HAirre Ha YpaA! Mm oHHmaeM Mecro 6ojo GraAbHMX MauiHH, rAe amuxht HHTerpaA, C MOHTOAbCKOH ΑΗΚΟΚ) OpAOK)!

65 Ho caMH mm — oTHMHe — BaM — He iimT, OxHMHe β 6oii He BCTynuM caMw! Μω ΠΟΓΛΛΑΗΜ, KaK CMepTHMH 6oh ΚΗΠΗΤ, CbOHMH

y3KHMH TAa3aMH!

VOM G E N U S S DES VATERLANDS IN DÜRFTIGER ZEIT He CABHHeMCH, KorAa CBHpemiH TyHH 70

Β KapMaHax TpynoB 6yAeT mapHTb, yKen> ropOAa, η β uepKOBb raaTb Ta6yH, Η Maco 6eAHX S p a n e e xcapirn>! ...

Β nOCAeAHHH pa3 - OnOMHHCb, CTapblfi MHp! H a 6paTCKHH i m p TpyAa η MHpa, 75 Β nOCAeAHHH pa3 — Ha CBeTAMH 6paTCKHH rrnp C3MBaeT BapBapcKaü Aupa!

D I E SKYTHEN Panmongolismus! Wilder Name, Doch dringt er schmeichelnd uns zum Ohr. Vladimir Solov'ev

Millionen seid ihr. Wir sind ohne Zahl. Versucht nur, euch mit uns zu messen! Ja, Skythen sind wir, Asiaten, ja, Mit schrägen und gierigen Augen! 5 Für euch Äonen, uns ein Augenblick. Wir haben, wie getreue Knappen, Den Schild gehalten für Mongolen hier, Europa dort in Waffen.

10

Äonen lang hat euer Hammerschlag Verdrängt das Donnern der Lawinen. Ein wildes Märchen war der Untergang Lissabons euch und Messinas!

Jahrhunderte giertet ihr ostwärts schon, Schätze zu graben, einzuschmelzen. 15 Wann kommt die Zeit, so fragtet ihr voll Hohn, Dorthin zu richten die Geschütze? Es kam die Zeit. >Mit Flügeln schlägt das LeidFremden< mißachtete, von der Geschichte nicht begünstigte Nation auf die ihr innewohnenden Möglichkeiten, und auch hier bleiben die aufgezeigten Perspektiven unbestimmt, wo nicht schlechtweg utopisch. Von der >Musik< der nicht einmal drei Monate zurückliegenden Oktoberrevolution ist in diesen Versen nichts zu spüren; die sowjetischen, und zuweilen auch noch die postsowjetischen Blok-Exegeten ziehen sich aus der Verlegenheit, indem sie das unmittelbar zuvor entstandene Versepos Die Zwölf (/leenadyamb), den erwähnten Aufsatz Intelligenz und Revolution und unser Gedicht zu einer »Januar-Trilogie« bündeln, die zusammen gelesen werden müsse.67 Blok thematisiert hier ausschließlich das Außenverhältnis seines, wie er es empfindet, aus Europa herausgedrängten Landes; der in den gleichzeitigen Tagebuchaufzeichnungen aufkeimende Verdacht, den Mittelmächten könnte daran gelegen sein, durch ihre Verhandlungsfiihrung »unsere Revolution zu zerstören«,68 bleibt ganz außer Betracht. Die zentrale 13. Strophe greift unüberhörbar die Parole auf, mit der die Bolschewiken ange-

67 Vgl. noch Ε. A. D'jakova, die in ihrer Präsentation des Gedichts in der Schulauswahl A . A . Blok, H36paHHoe, Moskau 1999, S. 351, mittlerweile von der »sogenannten >Januar-Trilogie< des Jahres 1918« spricht. 68 So der Tagebucheintrag vom 11. Januar 1918, der die Thematik der Skythen schon weitgehend vorwegnimmt, in: CC, Bd. 7, S. 317: »[...] ecAH Hainy peeoAioiiHio

noryÖHTe [...].«

174

KARL MAURER

treten waren, »Frieden und Völkerverbrüderung«, 69 mit der feinen Unterscheidung, daß aus den westlichen »Genossen« erst noch »Brüder werden« müssen; 70 aber die ganze Argumentation des Gedichts ist aus einer vorrevolutionären Gedankenwelt erwachsen. Die zugrundeliegende Leitvorstellung, Rußland als (bisheriges) natürliches Bollwerk gegen die »Gelbe Gefahr«, ist ein Echo auf die Kampagne, die im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert besonders von deutscher Seite unter diesem Stichwort betrieben wurde, nicht ohne den Hintergedanken, soweit möglich die Kräfte des Zarenreichs im Osten zu binden.71 Die entsprechenden Einlassungen Wilhelms II. (»Völker Europas, wahrt eure heiligsten Güter!« 72 ) waren Blok zweifellos seit seiner Jugend geläufig, und wäre es nur durch das Gedicht Der Drache (4ρακοΗ, 1900), mit dem Untertitel »An Siegfried«, mit dem der von ihm lebenslang verehrte Vladimir Solov'ev wenige Wochen vor seinem Tode das Eingreifen des deutschen Kaisers beim chinesischen Boxeraufstand begrüßt hatte.73 Nicht das Vaterland ist Adressat von Bloks Aufruf, sondern die der »Sphinx« Rußland (V. 24f.) verständnislos gegenüberstehende »alte Welt« (V. 21 und V. 73), die Europäer, die nun ganz buchstäblich aus der »Tiefe« der vaterländischen Erde Schätze zu heben hoffen (V. 13f.; vgl. Gesang des Deutschen, V. 4) und die die ihnen über die Jahrhunderte angesichts der Mongolengefahr entgegengebrachte Solidarität übel lohnen (vgl. V. 6—8). Und es spricht — besonders bemerkenswert bei Blok, dessen »großes lyrisches Thema« sonst immer

69 Der Dichter hatte sich diese Losung zuvor zu eigen gemacht in seinem Aufsatz Intelligenz und Revolution (in: CC, Bd. 6, S. 13: »>Mnp Η öpaTcreo HapoAOB< - BOT 3ΗΆΚ, ΠΟΑ

KOTOpHM npOXOAHT pyCCKM peBOAIOIJHH.«). 70 Die Differenzierung zwischen bloßer »Genossenschaft« und der nächsten Stufe der »Brüderlichkeit« nimmt Blok auch an anderer Stelle vor ( Α . A . Blok, ΓΕΗΗΕ Β POCCHH [1919], in: CC, Bd. 6, S. 126, über die geistige Nähe zwischen Heine, Ibsen und Strindberg: »emeTOBapHmecTB[o],He 6paTCTB[o]«). Vgl. den Hinweis im Kommentar der neuen kritischen Ausgabe: IlCCn, Bd. 5, S. 480 zur Stelle. 71 Vgl. dazu die klassische Untersuchung von Heinz Gollwitzer, Die Gelbe Gefahr. Geschichte eines Schlagworts, Göttingen 1962, bes. S. 206-218. 72 So der Titel des weitverbreiteten, von Wilhelm II. bei dem Historienmaler Hermann Knackfuß in Auftrag gegebenen allegorischen Propaganda-Gemäldes (1895); vgl. ebd., S. 206-208. 73 Genauer gesagt nimmt Solov'evs Gedicht die ersten Verlautbarungen des Kaisers gegen das negative in- und ausländische Presseecho in Schutz; vgl. V. 11 f.: »XpncTOB o r o H b Β TBoeM 6 y A a T e , / Η pe rp03*man cBirra.« (»Das Feuer Christi blitzt in deiner Klinge,/ Und heilig ist dein drohendes Wort.«) Die berüchtigte »Hunnenrede« wurde erst einige Wochen nach dem auf den »24. Juni 1900« (vorrevolutionärer Zeitrechnung) datierten Gedicht gehalten, Solov'ev hat sie vermutlich gar nicht mehr zur Kenntnis genommen. Zur Datierung vgl. den Anmerkungsteil der Ausgabe V. S. Solov'ev, CTOxoTBOpeHM Η iiiyTOHHbie n b e c M , Moskau 1922; Nachdruck: Slavische Propyläen 18, München 1968, hier S. 337. Nach dieser Ausgabe zitiere ich, allerdings mit modernisierter Orthographie.

VOM GENUSS DES VATERLANDS IN DÜRFTIGER ZEIT

»Blok ist« (Jutij Tynjanov)74 - nicht mehr der einzelne, der »Sohn«, wie in Hölderlins Paränese, sondern das »Wir« der von »Euch« allzulange Ausgenutzten und Mißachteten. Der Ton wird dadurch schärfer, die Aussage schonungsloser, direkter. Der Text klingt am Anfang und am Ende auch recht martialisch und ist vielfältig mit Untergangsszenarien bestückt, vom städteeinebnenden Erd- und Seebeben bis zu den menschenfleischröstenden Hunnen, jeweils sechs Strophen lang; allein der Mittelteil widmet wiederum sechs Strophen einem liebevollen Portrait der naturnah-rauhen und weltoffenen russischen Lebensart, das überleitet zu jener 13. Strophe mit dem großherzigen Verbrüderungsangebot. Die beängstigenden Gesichte, beginnend mit der Heerschau der - unübersetzbaren75 »Unmengen, Unmengen, Unmengen« (V. 1) von skythischen »Asiaten mit schräg geschlitzten und gierigen Augen« (V. 4), dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß hier kein kriegerischer Aufbruch - jetzt oder später - ins Auge gefaßt ist; auch das Zitat aus dem mittelalterlichen Lied von Igor's Heerfahrt — einer sehr unklugen Heerfahrt mit schlimmen Folgen — in der fünften Strophe (V. 25 ~ Cnoeo ο nojtig Miopeee, V. 249-252) impliziert keine solche Perspektive.76 Und

74 » B A O K « (1921), in: Jurij Tynjanov, ApxaHcrw Η HOBaTOpw, Leningrad 1929; Nachdruck: Slavische Propyläen 31, München 1967, S. 512-520, hier S. 513: » B A O K - caiuafl ö o A b i n a a AHpHiecKaa Teiua B A O K a . « Auch wenn der »lyrische Held« (ebd.) Blok in unserm Gedicht nicht in Erscheinung tritt, wird sein biographisches Ich doch zuweilen faßbar. Die westwärts gerichtete Aufgeschlossenheit der Russen, die die neunte und zehnte Strophe feiern, ist vor allem die seine; er erinnert sich - wie sich leicht aus seinen Briefen, seinen Reisegedichten und seinen Aufzeichnungen belegen läßt - an die »Hölle« der engen, heißen Straßen von Paris (V. 37), an die von der Lagune herwehenden »venezianischen kühlen Lüfte« (V. 38) und an die Kölner Szenerie mit Bahnhof, Dom und Hohenzollernbrücke.

75 Das Wort mbMa »unübersehbare Menge« ist im Russischen singulare tantum. Am nächsten kommt dem Original noch Heinz Czechowskis Übertragung mit: »Wir - Legion, Legion, Legion!« (in: Alexander Block, Ausgewählte Werke, hrsg. von Fritz Mierau, 3 Bde., München 1978, Bd. 1, S. 247-249). Ich habe diese und andere verfugbare Übersetzungen der Werke Bloks und Solov'evs dankbar zur Kenntnis genommen, ohne die Übereinstimmungen mit meiner eigenen Wedergabe im einzelnen zu kennzeichnen oder die Abweichungen zu begründen, geschweige einmal gefundene glückliche Formulierungen zu vermeiden. 76 Dies ist festzuhalten gegen die gelegentlich geäußerte Meinung, Blok wolle sich mit dem Zitat der einen Stelle zugleich den Aufruf zum Kampf gegen die Feinde der (russischen) Christenheit am Ende des Gedichts 2ueigen machen. In diesem Sinne etwa der Kommentar von Valentin I. Fatjuscenko (Hrsg.), Aleksandr Blok, AßeHaAiMTb. Ο κ κ φ υ / The Twelve. The Scythians. A Russian Reader with Explanatory Notes in English, Moskau 1982, S. 86, zur Stelle: »The borrowing is not, of course, haphazard, since The Lay of Igor's Host [...] is a passionate appeal for the Russian people to unite against their countless enemies.« - Zur Funktion der nicht wenigen Reminiszenzen aus dem Igorlied in der Dichtung der russischen Symbolisten und Postsymbolisten vgl. den exemplarischen Beitrag von Igor P. Smirnov, » L l H T H p o e a H H e KaK H c r o p H K O - A H T e p a T y p H a a n p o Ö A e M a :

πρπΗίΐΗπω ycBoeHHH ApeBHepyccKoro TeKcra nosTHHecKHMH uiKOAaMH KOHqa X I X HANAAA

XX

BB. (HA MATEPNAAE

Cjioea ο noMy Miopeee)« (»Das Zitat als literarhistorisches

KARL MAURER auch Ivanov-Razumnik, der Wortführer der Skythen-Bewegung, der aus dem Text die Idee einer geistigen »Mission« des »neuen Rußland« herausliest, »die alte Welt Europas von innen heraus mit seinem >Skythentum< zu sprengen«,77 hat Blok gründlich mißverstanden. Die Drohung für den Fall der Weigerung »Wenn aber nicht...« (V. 53) - läuft vielmehr auf ein künftiges gänzliches Sichentziehen hinaus, einmal durch die Selbstverwandlung aus Europäern zu Asiaten (V. 59f.), wie sie die erste Strophe schon einmal im Ergebnis vorwegnimmt,78 dann aber durch ein konsequentes Zurückweichen >bis zum Ural< vor den Truppen der Mittelmächte, die sich in der Tat damals wieder in Bewegung zu setzen begannen, um den Friedensschluß zu erzwingen,79 Die Vorstellung der Selbstverwandlung (oöepTHBaHHe) der verschmähten russischen Nation spielt ins Märchenhafte hinein, der klassische Fall ist Senecas verlassene Medea, die, statt zu fliehen, bleibt und »zur Medea wird«80; die angekündigte Strategie des Ausweichens, bis irgendwo im fernen Asien »die beiden feindlichen Rassen« (V. 7), (Mittel-)Europäer und Mongolen, unmittelbar aufeinandertreffen und die überrollten Russen lachende Dritte werden, entwirft demgegenüber eine surrealistische Überbietung der erfolgreichen Taktik des Feldmarschalls Kutuzov im Va-

Problem: Prinzipien der Aneignung des altrussischen Textes durch die Dichterschulen des ausgehenden 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts [am Material des Lieds von Igor's Heerfahrt]«), in: Z. G. Mine u. a., Hao\eAne A. BAOKa Η ainyaAbHbie npoÖAeMu ΠΟΒΤΗΚΗ (BAOKOBCKHH cSopHHK 4), Tartu 1981, S. 246-276; zu unserer Stelle: S. 254, Anm. 16. 77 So seine Vorrede zur ersten selbständigen Veröffentlichung der beiden JanuarGedichte vom Mai 1918, »HcnhrraHHe β rpo3e η 6ype« (»Prüfung bei Gewitter und Sturm«), wiederabgedruckt in: Ivanov-Razumnik, AAencaHAp BAOK. AHApefi BeAhifl, Petrograd 1919, S. 119-163; Neudruck: Rarity Reprints 15, Letchworth, Herts. 1971, S. 129-173, hier S. 164: »[...] ecA« ecn> y POCCHH MHCCHH, ΤΟ BOT om: B30pBaTb H3HyTpH craphiii MHp Eßponu CBOHM >CKH({)CTBOM< [...].« Die zu keiner Zeit ganz homogene Bewegung driftet nach der Oktoberrevolution rasch auseinander in eine um den Anschluß an das >neue Rußland< bemühte und eine rückwärtsgewandte Richtung, wie Evgenij Zamjatins Pamphlet Skythen? {Οκυφυ JIU?), tatsächlich eine vernichtende Rezension des zweiten J^/Aiw-Almanachs für 1918, in aller Schärfe verdeutlicht (benutzte Ausgabe: COHHHCHHH, hrsg. von Evgenija Ziglevic und Boris Filippov, 4 Bde., München 1970-88, Bd. 4, S. 503513). Blok, dessen Gedicht Zamjatin am Ende ironisch zitiert - ganz so viele aufrechte Skythen sehe er nicht! (S. 512f.) - , ist von solcher aktualpolitischer Vereinnahmung des Skythen-Gedankens weit entfernt. 78 Der vorbereitende Tagebucheintrag vom 11. Januar 1918 faßt unter dem frischen Eindruck des »>Resultats< der Brester Verhandlungen« den gleichen Gedanken noch drastischer: »wir werden die Asiaten herauslassen (MM CKUHCMCH A3HATAMN)« (in: CC, Bd. 7, S. 317). 79 Die deutschen Truppen rückten erst sechs Tage nach der Niederschrift des Gedichts - am 18. Februar des mitderweile auch in Rußland übernommenen westlichen Kalenders - weiter vor, doch war diese Reaktion absehbar, nachdem Trockij am 28. Januar >alten Stils< (10. Februar >neuen Stilsin dürftiger Zeit«, wo man sich kritischer als sonst fragt, was einem bleibt. Dies zumindest, so scheint mir, haben sowohl Hölderlin als Blok, jeder auf seine Weise, versucht. In einem späten, nicht weitergeführten Hymnenentwurf notiert Hölderlin: »Verbotene Frucht, wie der Lorbeer, aber ist Am meisten das Vaterland. Die aber kost' Ein jeder zulezt,«86

85 Gregor Gysi im Gespräch mit Armin Fuhrer (»Der Kalte Krieg in Deutschland kann nur von CDU und PDS beendet werden«, in: Die Welt, 5. August 2000, S. 4). 86 Einst hab ich die Muse gefragt..., V. 6-8. — Es ist ein echtes »Kosten« gemeint, wie die Anspielung auf die Lorbeer-Speisung des Hesiod durch die Musen auf dem Helikon verdeutlicht, die die letztlich auf Plutarch zurückgehende Vita berichtet; vgl. den Kommentar von Beißner zur Stelle in: GSA, Bd. 2.2, S. 854.

FRITZ RUDOLF FRIES

Stendhal oder die Liebe zur Geometrie Die Gesetze der Phantasie sind noch so wenig bekannt, daß ich mir die folgende Bemerkung gestatte, die vielleicht nichts anderes als ein Trugschlußist... Stendhal, Über die Liebe

Über die Liebe schreiben zu wollen, provoziert. Der Leser, erst recht die Leserin, kann ein gewisses Lächeln nicht vermeiden, und schon sehen wir alle aus wie die Liebenden auf den Gemälden des Hieronymus Bosch — mit einem Lächeln im Gesicht halb wissend, halb reumütig. Die Frage ist ja, ob die Liebe am Gängelband der Historie geht und je nach ihrer Konstellation aufblüht oder verwelkt. In den fünfziger Jahren des immerhin schon abgegoltenen vorigen Jahrhunderts mühte sich ein junger Dozent im Seminar des Leipziger Romanischen Instituts, uns Stendhal alias Henri Beyle verständlich zu machen. Die Verständlichkeit ergab sich aus einem komplizierten Zusammenspiel von Geschichte, Biographie und Werk. Wie war das? Dieser Autor des 19. Jahrhunderts, dem Balzac bescheinigt hatte, in seinen Werken den »Leichengeruch einer dahinsterbenden Gesellschaft« verbreitet zu haben, kam in seinem Denken aus dem 18. Jahrhundert. Er hatte in Napoleon den Vollender einer ins Tatsächliche umschlagenden Aufklärung gefeiert. Mehr noch, er war Napoleons Quartiermacher in Europa geworden, sein Adjunkt und Armee-Intendant. Der Übergang über die Beresina, die Stationierung in Berlin und Mailand wurden Vorratskammern im Gedächtnis des Henri Beyle, der sich nach der deutschen Stadt Stendal nannte (der Stadt des Altertumsforschers und Italienreisenden Winckelmann). Der Name mag als das Synonym einer Flucht aus Frankreich und das Utopia Italien des angehenden Schriftstellers verstanden werden. Napoleons Erben wurden die Geschäftsleute unterm Baldachin einer neuen Monarchie. Die einmal entfachte Energie zur Umwandlung einer Welt verkam im Spießbürgertum: Soweit konnten wir folgen in Manfred Naumanns Seminar, wir brauchten uns nur umzusehen, um aktuelle Beispiele vom Widerspruch zwischen Sein und Bewußtsein zu erhalten. Und es mußte nicht erst Gerard Philipe die Rolle des Julien Sorel übernehmen und uns ins Leipziger Kino »Capitol« locken, damit wir die Auslegung von Rot und Schwar\ akzeptierten. Oder doch nicht? Gorki hatte den Autor gelobt, weil er »beinahe am nächsten Tag nach dem Siege der Bourgeoisie scharfsinnig und klar die Anzeichen für den unvermeidlichen inneren sozialen Verfall der bürgerlichen Ordnung geschildert« hatte. Gab es diese Anzeichen auch nach Vollzug einer sozialistischen Revolution? Die Frage war uns so wichtig nicht. Denn mit dem Dozenten teilten wir ein ganz anderes Problem: das unserer Jugend. Mit ihm begriffen wir Stendhal als

FRITZ RUDOLF FRIES

einen Autor der Jugend, und wir rechneten uns zu den »happy few«, die nach 1880 Stendhal neu entdeckten. Jedenfalls seine Passionen und die Art, damit umzugehen. Bis zu seinem Tod im Jahr 1842 hatte sein bedeutender Roman Rot und Schwär^ gerade 1500 Leser gefunden. Wo lag das Problem? Das Problem beleuchtete den Widerspruch zwischen Individuum und Gesellschaft. Das Individuum will geliebt sein, die Gesellschaft aber hat ihre ganz eigenen Präventivmaßnahmen. Der männliche Instinkt hält sich an die Frauen, die in Kriegszeiten die Beute sind, in Zeiten geregelter Verhältnisse den latenten Widerspruch zwischen Natur und Kultur demonstrieren. Dies sollte für einen Schriftsteller keine Herausforderung sein? Henri Beyles Glück im Unglück war es, in Italien, im lebenslang geliebten Mailand der Liebe seines Lebens zu begegnen. 1818 wird er der 28jährigen Matilde Visconti vorgestellt, Ehefrau des napoleonischen Brigadegenerals Jan Dembrowski. Ihr Salon ist während der österreichischen Besetzung Treffpunkt der nationalgesinnten Liberalen. Für Stendhal verklärt sich das Bild der unantastbaren Geliebten im Licht gesellschaftspolitischer Ambitionen. Eine Behauptung, die sich in Erinnerung an das Seminar jener Jahre leicht aufrechterhalten läßt. Womöglich wollte er nur mit ihr schlafen, um sich selbst zu bestätigen. Er wird abgewiesen, und es beginnt die Schizophrenie einer Selbsterkundung. Nachzulesen in den Betrachtungen, Aphorismen und Paradigmen seines bekanntesten Buches Über die Liebe. Denn in welcher Rolle naht Stendhal der spröden Geliebten, die er Metilde nennt? Kommt er als ein Don Giovanni, sind ihm die in der Gesellschaft anerkannten Tugenden sicher: »Bewundernswerte Unerschrokkenheit, die Fähigkeit, sich selbst zu helfen, Lebhaftigkeit, Kaltblütigkeit, Unterhaltungsgabe und so weiter...« Naht er der Geliebten als ein Werther, öffnet er »seine Seele allen Künsten, allen sanften, romantischen Eindrücken, dem Mondschein, der Schönheit der Wälder und der Malerei, mit einem Wort, dem Gefühl und dem Genüsse des Schönen ...« Es bleibt fraglich, wie an anderer Stelle vom Autor ausgeführt wird, ob die Passion Werthers ein italienisches Mädchen überzeugen kann: »In Italien sind die jungen Mädchen, wenn sie lieben, ganz den Eingebungen der Natur ausgeliefert.« In Frankreich dagegen, in Paris zumal, »ist die Liebe eine Frucht des Romans«. Was aber ist der Roman? Er ist »ein Spiegel, den man auf einer großen Straße spazieren trägt; bald sehen deine Augen die Himmelsbläue, bald den Schlamm der Straßenpfützen...« Was aber ist die Liebe, die ein Gegenstand des Romans ist: ein Spiegel der Sinne und des Herzens - und eine Luzidität des Kopfes. Denn der Weg zwischen Sinnlichkeit und Niederschrift bedarf der Kalkulation. Stendhals über die Jahre ergänzte, im Grunde vom Leser abgelehnte Schrift Über die Uebe ist die französische Antwort auf den enttäuschten Mailänder Liebhaber. Der Franzose Henri Beyle siegt über den Europäer Stendhal. Es ist die Liebe more geometrico, die Übersetzung von Don Juans blindem Drauf-

STENDHAL ODER DIE LIEBE ZUR GEOMETRIE

gängertum ins Zeitalter der Aufklärung: spanischer Anarchismus in französischem Reglement. Der große Romancier einer realistischen Beschreibungskunst bekannte sich zur Mathematik: »Überdies liebte ich die Mathematik und liebe sie noch heute um ihrer selbst willen, weil es in ihr nichts Geheucheltes und Verschwommenes gibt, zwei Dinge, die mir auf den Tod zuwider sind.« Im Roman Rot und Schwärξ aus dem Jahr 1830 wird Julien Sorel, der naive Junge aus der »Arbeiter-und-Bauern-Klasse« im Dienst des bourgeoisen Grundbesitzers, zum Landvermesser seiner Empfindungen für Madame de Renal. Er liebt zunächst nicht ihre Schönheit, berauscht ist er von den Möglichkeiten eines gesellschaftlichen Aufstiegs auf den Stufen ihrer Zuneigung. »... sie liebt mich ... Ich bin bei ihr nicht ein Kammerdiener, der mit der Rolle des Liebhabers betraut ist.« Da Julien vorerst nicht an den Folgen jener »Kristallisation« zu leiden hat, die nach Stendhal die Liebe in die Nähe einer Infektionskrankheit rückt, kann der junge Abbe mit klarem Kopf vorgehen. Er vermißt die scheinbar unüberbrückbare soziale Entfernung zwischen ihm und Madame de Renal — und entwirft ein längeres Gedankenspiel, um in ihren Besitz zu kommen. Ironie der Verhältnisse, beide Männer, der Liebhaber und der Ehemann, gleichen sich in ihrer gedachten oder tatsächlichen Dominanz des Weiblichen. Für den arrivierten Ehemann ist die Ehefrau ein Emblem seiner Macht. Julien dagegen möchte Macht gewinnen, indem er von ihr erhört wird. Daß der eine den neuen Verhältnissen von law and order huldigt und der andere ein glühender Verehrer Napoleons ist, sind hier kaum meßbare Unterschiede. Allerdings verbindet sich die Leidenschaft für Napoleon mit der Leidenschaft zur Liebe überhaupt, und so gesehen erlebt der Leser die Liebe Madame de Renais zu Julien wie eine Liebeserklärung an die Passionszeit der napoleonischen Ära. Die Frau, bei Stendhal, behält ihre tradierte Rolle als Märchenfee, Zauberin, mehr noch: sie ist die Priesterin eines Naturrechts, die mit einem Schlag dem Leser das kalkulierte Zögern des Mannes als Taktik einer Interessengesellschaft erkennbar macht. In dieser archaischen Geste wird das utopische Denken einer Menschheit eingebunden, die in der und durch die Liebe auf kürzestem Weg zu ihren Zielen gelangen möchte. Stendhals Leistung ist, seine private Geschichte zu einem Dokument dieses Weges gemacht zu haben. Aus den Passionen des Herzens und den Kalkulationen des Kopfes entsteht Literatur. Indem es ihm um das Individuum geht, erreicht er unser Interesse. »Nirgends stand Stendhal Rousseau näher als hier«, schreibt Manfred Naumann, »die Empfindsamkeit Rousseaus war die Eigenschaft einer optimal ausgebildeten, emanzipierten Individualität, die die Grenzen nicht mehr anerkannte, die die vorhandenen gesellschaftlichen Bedingungen der Persönlichkeitsentfaltung zogen...« Stendhals Niederlagen bei der schönen Mailänderin Matilde Visconti werden als Rückzugsgefechte in seinen Aphorismen, Essays und angedeuteten Novellen sichtbar, die der Band Über die Liebe vereint. Die unfreiwillige Flucht vor der

FRITZ RUDOLF FRIES

Geliebten wird zum Paradigma, denn nach einem Dutzend scheinbar unterschiedlicher Erfahrungen bietet die Ähnlichkeit dieser Annäherungen, Erfolge, Niederlagen etc. die Möglichkeit zum theoretischen Diskurs. Allenfalls entkommt man dem ennui durch eine Tabelle der Leidenschaften in den verschiedenen Nationen, was mit dem Einfluß des Klimas korrespondiert, mit Moral und Sitte, und was sich als ein Echo des 18. Jahrhunderts mit der wissenschaftlichen Neugier des 19. Jahrhunderts verbindet. Hier ist Henri Beyle ein Kind seiner Zeit, und der biologisch determinierten Poetik eines Goethe weit voraus. Stendhals wissenschaftlich (im Sinne von experimentell) fundierte Phantasie kann im Roman die Probe aufs Exempel bieten. Ob wie in Rot und Schwär\ faits divers aus dem täglichen Leben die Anregung geben oder nicht, wesentlich ist die Dialektik in den Verhältnissen. Der simple Vorgang der »Kristallisation« bewirkt beim Leser eine ganz andere »Kristallisierung«, da er sich kaum in die Gestalten der Romane verlieben wird. Es geschieht, was Octavio Paz in seinem Buch über die Liebe, Die doppelte Flamme, anhand der Romanwelt Marcel Prousts beschreibt: »Am Ende von Prousts Werk betrachtet der Erzähler die Kristallisierung der gelebten Zeit, einer Zeit, die die seine ist, unübertragbar, und die auch schon nicht mehr die seine ist: nichts als die Wirklichkeit, so wie sie ist, gerade nur ein Vibrieren, unser Teil an Unsterblichkeit.« Juliens von seinem Autor angestiftete Strategie hat sich in der Anwendimg auf die Kunst neu und erfolgreich entfaltet. Wir könnten das Buch beruhigt aus der Hand legen, wenn da nicht ein ungeklärter Rest wäre. Die reizvolle, Ideologien und Gesellschaften grell beleuchtende Ungleichheit der Beziehungen findet zuweilen eine radikal-anarchistische Möglichkeit der Angleichung. Es ist eine Angleichung zum Tode. Julien erschießt das Fräulein de La Mole — und die Gesellschaft verurteilt ihn zum Tode. Werther erschießt sich, als er die Liebe nur im Kopf nicht mehr erträgt. Der Beispiele sind unzählige. Die Literatur als ein Seismograph fortschreitender gesellschaftlicher Verhältnisse bleibt unbestechlich. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts scheinen Stendhals Arbeiten zum Thema Liebe bereits die Verhältnisse in Utopia zu beschreiben. Guy de Maupassant, der die Bühne betritt, verwickelt seine Figuren in die gnadenlose Abhängigkeit des Geldes. Alles, was die Frau an Naturrecht reklamieren konnte, wird nun im Wechselspiel von Kauf, Genuß und Langerweile abgegolten. Es ist nicht der letzte Kommentar zum Thema. In unseren Tagen erwürgt der Philosoph Louis Althusser seine Ehefrau Helene und schreibt dann seine confessions, darin Psychoanalyse, Ethik, Marxismus und die Pariser Revolution des Mai 1968 die unheimlichen - sinnstiftenden oder sinnverweigemden - Erinnyen am Bett der Liebe sind. Die nackte Sexualität der Femsehkanäle ist das letzte Kapitel in Stendhals Lehrbuch von der Liebe. Sie zeigt das Ende der Metapher und jeglichen Austausches an. Welchen Sinn aber hätte Stendhal der vernichtenden Episode im Leben des Philosophen Althusser gegeben? Die »happy few« als Leser seiner Bücher, in moralischer wie in literarischer Hinsicht, halten sich an die Sinngebung des Sinnlosen, wie man die Liebe, nicht

STENDHAL ODER DIE LIEBE ZUR GEOMETRIE

nur die Historie, beschreiben könnte. Die Literatur ist das einzige Rückzugsgebiet der Liebe - als eine »Ausnahme innerhalb dieser großen Ausnahme, welche die Erotik gegenüber der Sexualität ist« (Paz). Die Erotik, das ist Stendhals von weißen Kristallen überzogener Zweig im Bergwerk. Es ist die Lust des Vorscheins und das Versprechen auf immer wiederkehrenden Genuß. Und es ist ein unerschöpfliches Thema.

FRANCIS CLAUDON

Die Nostalgien eines Liberalen Stendhal und die Neuerungen in der Kunst unter Louis-Philippe Im Laufe seines langen, vielfältigen, manchmal überraschungsvollen literaturwissenschaftlichen Wirkens hat Manfred Naumann Stendhal kontinuierlich als einen persönlichen Schwerpunkt angesehen, als einen Dreh- und Angelpunkt seiner Forschung. Er hat die Betonung einmal auf seine Romane, ein andermal auf seine ästhetischen Ideen gelegt und dabei Werk und Autor vor allem als eine komplexe Gesamtheit verstanden, fiir die sich eine biographische Darstellung geradezu anbot. Während das vorliegende Buch entsteht, ist er dabei, die subtile Schilderung dieser Einheit von Leben und Schaffen Stendhals zu vollenden. Der Gegenstand spiegelt das Bild seines Kritikers: Arrigo Bejle hat nicht ausschließlich und kontinuierlich Mozart, Cimarosa und Shakespeare geliebt.1 Er ist nicht nur Anhänger der Modernen; seine Verachtung für Könige und Priester wird immer wieder von rückwärtsgewandten Haltungen begleitet. Die Stendhalforschung hat sich zu sehr auf den - Mailänder - »rossiniste de 1815« beschränkt, auf den Besucher des Dresdner Museums der napoleonischen Jahre und den Verfasser von Streitschriften wie Racine et Shakespeare unter der Restauration. Und das, obwohl ein Stendhal-Kongreß 1986 in der Bibliotheque Historique de la Ville de Paris den Akzent bezeichnenderweise bereits auf die royalistischen Pariser Jahre Stendhals gelegt hatte.2 Um so angemessener erscheint es, heute zu Ehren Manfred Naumanns einen Versuch zu unternehmen, dieses gegensätzliche Porträt Stendhal zu zeichnen - das Porträt eines liberalen Nostalgikers voller Sehnsucht nach einer niemals aufgehobenen Vergangenheit. Es existiert tatsächlich ein später Stendhal, der als Kritiker und Ästhetiker eine Haltung annimmt, die wir, zumindest vorläufig und aus Bequemlichkeit, den istyle tardift, den späten Stil, nennen wollen. Gerade als Konsul nach Italien zurückgekehrt, macht Beyle Mareste in einem Brief vom Januar 1831 ein seltsam anmutendes Geständnis:

1 Stendhal, (Euvres intimes, hrsg. von Victor Del Litto, Paris 1982, Bd. 2, S. 970, 1005ff. 2 Vgl. Stendhal, Paris et le mirage italien, Paris 1992.

DIE NOSTALGIEN EINES LIBERALEN

»Les Italiens, en fait d'art, voulant du nouveau Bellini se joue partout [...]. Combien cela m'eüt interesse en 1820. Actuellement, j'ai bon goüt, c'est ä dire une d i f f i c u l t y de sentir.«* Diese vertrauliche Mitteilung ist ausgesprochen subtil: können wir daraus schließen, daß Stendhal, wenn er auch nicht gerade fortschrittsfeindlich ist, sich doch dem Fortschritt gegenüber verschließt und der Vergangenheit zuwendet? Er schreibt nicht mehr über Musik; man könnte sich also vorstellen, daß seine musikalische Entwicklung mit der Vie de Rossini endet. In der Malerei fuhren die Idees italiennes sur quelques tableaux von 1840/41 den Kritiker wieder zu Raffael, zurück zu den würdevollsten vatikanischen Gemälden. Wie weit entfernt die Bologneser Manieristen hier zu sein scheinen! In Skulptur und römischer Monumentalkunst verteidigt er jetzt weniger Canova und Valadier — Idole aus den zwanziger Jahren — als deren Schüler: Camporese, Nyström, Thorwaldsen, Fogelberg. 4 Gerade das ist es, was von seiner Verhärtung gegenüber Neuerungen oder gegenüber dem, was man für Neuerungen hält — zu zeugen scheint, von seinem als sicher anzunehmenden Bruch mit den avantgardistischen Positionen, die er einst unter dem Einfluß der Salons von Mailand und Paris entwickelt hatte. In dem Moment, in dem er sich an die mühsame Arbeit des l^euwen wagt, will sich unser Autor von den neuen Konventionen, den abgedroschenen Moden entfernen. Ganz bewußt beruft er sich auf eine Art höheres Zeitalter, er fordert eine traditionellere, edlere Herangehensweise: »Chaque phrase raconte, pour ainsi dire, si je les compare ä celles du Medecin de Campagne de M. Balzac ou de Koat-ven de M. Sue [...] En general idealiser comme Raphael idealise dans un portrait, pour le rendre plus ressemblant. Idealiser pour se rapprocher du beau parfait.« 5 Allerdings revoltiert Stendhal gegen jede Form des Schulmeisterlichen und der Wichtigtuerei. So wettert er im März 1841 gegen Domenico Fiore: »Le grand mal, invisible ä nos sots deputes, c'est que l'Academisme est une oasis de Paris, ou Ton maudit tout ce qui n'est pas le charlatanisme de Paris [...].«

3 Stendhal, Correspondance, hrsg. von Henri Martineau und Victor Del Litto, Paris 1967, Bd. 2, S. 235. 4 Vgl. Francis Claudon, Stendhal et le neo-classicisme, in: Stendhal, Roma, l'Italia, Rome 1985, S. 82ff., sowie ders./Andree Mansau, Stendhal et l'architecture, in: Architectes et architecture dans la litterature fran9aise, Paris 1999, S. 379ff. Zu den Künstlern vgl. Stendhal, Promenades dans Rome, in: Voyages en Italie, hrsg. von Victor Del Litto, Paris 1973, Index. 5 Stendhal, CEuvres intimes (Anm. 1), S. 242.

186

F R A N C I S CLAUDON

und weiter: »Les admirations naives et passionnees d'une famille italienne qui entend pour la premiere fois un opera de ce Marmontel nomme Donizetti, sont precieuses. Des que cette famille romaine veut raisonner theorie eile est parfaitement absurde.«6 Aus dem gleichen Grund nimmt er Anstoß an Halevy: »a l'Opera, epouvantable platitude [de M. Halevy] dans Guido e Ginevrav!·, wie unlängst Fioravanti und Mercadante sind sie alle nicht mehr als Epigonen: »Fioravanti a de l'esprit, mais rien que de l'esprit. M. Mercadante a ete quelquefois simple et touchant [...] que n'a-t-il plus de force ! Μ. Bellini fera peutetre quelque chose, son Virata est bien, mais il vient de donner un second opera, la Straniera, qui ressemble beaucoup trop au premier.«8 Ist Rom überhaupt noch in Rom? Die Künsder beherrschen zwar ihr Handwerk, aber sie werden langweilig und fade, sie haben gut gelernt, aber nichts zu sagen. Der ganze Kunstbetrieb müßte einmal wachgerüttelt werden. Das scheint ein Brief vom 21. März 1841 zu verstehen geben zu wollen, der an eine der Kapazitäten selbst gerichtet ist: an Jean Victor Schnetz, den Verantwortlichen der Villa Medici: »Je suis enchante de recevoir de vos nouvelles, mon eher Directeur; je me suis fait saigner ce matin pour une infame migraine. Je vous parlerai d'art un autre jour [...] en attendant je vous recommande Μ. Hebert, mon cousin, eleve de l'Academie, et qui a remporte un grand prix ä vingt et un ans; il m'a l'air d'avoir une äme.«9 Ist es ein Fehler der Epoche ? Liegt es, mit anderen Worten, am Niedergang des Geschmacks und der Ambitionen unter Louis-Philippe oder Metternich? »Etüde sur le style de la Chartreuse, ä la suite de l'article de M. de Balzac. Laisserai-je le style qui m'a ete inspire par mon caractere pour l'enflure et le ronflant a la mode? Ceci est la reforme des Carrache.«10

Stendhal, Correspondance (Anm. 3), Bd. 3, S. 427. Stendhal, CEuvres intimes (Anm. 1), S. 329. 8 Stendhal, Voyages en France, Voyage dans le Midi de la France, hrsg. von Victor Del Litto, Paris 1992, S. 1094. 9 Stendhal, Correspondance (Anm. 3), Bd. 3, S. 429. 10 Stendhal, CEuvres intimes (Anm. 1), Bd. 2, S. 399. 6 7

DIE NOSTALGIEN EINES LIBERALEN

Vielleicht. Zunächst aber liegt es am Schicksal, am Wesen und an der Veranlagung des Künsders, denn selbst ein anerkannter Ästhet wie z. B. Merimee zeigt wesentliche Schwächen: »Je decouvre seulement en 1837 que Dominique est sensible aux details avec passion. Academus ne sent pas la grossierete sans melange. [...] II ne sentait pas, il y a six mois la grossierete de la levre de l'Enfant Jesus de Rubens [...] sagacite d'Academus plus sure, son jugement plus probable, sur les faits bien entendus qui ne dependent pas des details; c'est le plus grand nombre.« 11 Als unser Autor dann einige Tage später an einem Herbstnachmittag durch den Louvre geht, lassen sich Müdigkeit und Skepsis an seinem Äußeren ebenso ablesen wie an seiner inneren Verfassung; Verachtung und Mißtrauen kommen unmittelbar zum Ausdruck: »Visite en detail les statues du musee Napoleon. La Venus d'Arles, grands traits peu agreables et insignifiants; la renvoyer ä Arles. Ensuite aux tableaux, harasse. On comprend Raphael dans toutes les situations de l'äme et meme dans les moments les plus froids. On ne sent le Correge que dans certaines dispositions d'äme ou le provincial se trouve rarement. To say this in the Touriste.«12 Dieses Geständnis ist eigenartig, es scheint Beyle auf seine Liebe zur Vergangenheit, besonders zu seiner persönlichen, festzulegen und ihm zu viele Anlässe zu geben, an allem zu zweifeln. Das liegt jedoch keineswegs an einem Mangel an Informationen. Nichts wäre verfehlter, als sich einen Stendhal vorzustellen, der eine Ausstellung oder eine Opernpremiere verpaßte. Wie besonders an den Vorbereitungen zu den Memoires d'un Touriste deutlich wird, hat unser Autor sich immer über die letzten Neuigkeiten auf dem Laufenden gehalten. Stendhal hat aufmerksam am Schaffen Donizettis, Bellinis, Meyerbeers und Aubers, am Entstehen der romantischen Oper und der >grand opira< teilgenommen. Er kannte L a Muette de Portia, Guillaume Teil, Robert le Ό table Ρ sei es auch nur deswegen, weil Mademoiselle Ungher dieses Repertoire am Theater von Triest sang und weil diese Werke in den Theatern von Bordeaux, Marseille und Nantes, die er mit gewissenhafter Regelmäßigkeit besuchte, aufgeführt wurden. Unser >touriste< hat mehrere Male die Tenöre Rubini und Duprez gehört, die Spezialisten für dieses Repertoire und große Virtuosen des hohen C

Ebd., S. 300. Stendhal, Correspondance (Anm. 3), Bd. 2, S. 234. 13 Vgl. Francis Claudon, La musique et l'opera frar^ais dans les Memoires d'un touriste, in: Relire les Memoires d'un touriste, Grenoble 1988. 11

12

F R A N C I S CLAUDON

waren. Auch wenn die Reaktionen Stendhals verhalten oder sogar negativ waren, war ihm zweifellos klar, daß hier eine Entwicklung stattfand — und daß sie unvermeidlich war: »Bellini, au milieu du manque du genie, avait une petite pointe legere d'innovation sur Rossini. Rossini est trop farde, trop agreable, meme dans les plus tragiques situations; Bellini est toujours brut et paysan«,14 schreibt er während seiner Reise in den Süden. Diese strenge Zensur ist nicht einfach nur Manie oder Effekthascherei; Stendhals private Äußerungen bestätigen sie, so ζ. B. ein Brief an Mareste, der schon einige Jahr zurückliegt (Februar 1831): »Bellini n'est qu'une sorte de Gluck, sa musique n'est qu'un recitatif oblige, et encore; il n'y a rien de piquant dans son orchestre.«15 Stendhal hat diese neue Musik vollkommen verstanden; er hat sie so empfunden, wie sie ist: schwindelerregend, zu Kopf steigend - und immer ausgefallen. Aber er will - oder kann - sich darüber nicht auslassen. So zeigt ζ. B. eine Tagebuchnotiz vom 7. November 1836, daß unser »Dilettant« hintereinander, ohne Übergang, mühelos - und ohne Kommentar! - den Matrimonii) segreto, Don Juan, I Puritani und Anna Bo/enau hört. Stendhal spürt, fast bis zum Ende, eine musikalische Trunkenheit in allen Gliedern; aber dieses Gefühl bleibt privat, es löst kein Schreiben mehr aus, schweigt und versiegt wie eine Quelle: »Night de vendredi 13 au samedi 14 [aoüt 1841] ä l'hotel de la Porta Rossa. Intelligence de la musique de Beatrice di Tenda au Theatre Leopold de Panne. C'est avec ces nuits que .. .«17 Man kann als sicher annehmen, daß es sich hier um ein wirkliches persönliches Ereignis, eine höchst private Erfahrung gehandelt hat: »Hier [19 juin 1841] divine repetition de Norma«.18 Nach mehreren Jahrzehnten sind es noch die gleichen Worte - Worte, mit denen die Entdeckung von Cimarosa und Mozart bezeichnet wurde. Nur daß es sich jetzt eben um Bellini handelt! Genau so verhält es sich mit den schönen Künsten, besonders mit der Malerei. Stendhal hat sich immer für zeitgenössische Maler interessiert. Er hat Hayez gelobt, den langweiligen Schnetz und Paul Delaroche verteidigt; deutlich wird

Stendhal, Voyages (Anm. 8), S. 726. Stendhal, Correspondance (Anm. 3), Bd. 2, S. 234. 16 Stendhal, CEuvres intimes (Anm. 1), S. 284. " Ebd., S. 422. 18 Ebd., S. 420. 14

15

DIE NOSTALGIEN EINES LIBERALEN

seine Haltung seit dem Bericht über den Salon von 1827. Aber in der Folge beginnt unser Autor sich zu distanzieren; er grenzt sich ab, so ζ. B. von Sigalon oder Delacroix. Als Stendhal (dem Text zufolge am 30. Juni 1837) das Museum von Nantes und (am 7. Juni) das Museum von Lyon besuchte, war seine Beurteilung durchaus positiv; er schrieb: »La France a produit LeSueur et Prud'hon, et parmi nous Eugene Delacroix; l'on n'y est done pas totalement prive de quelque lueur de gout nature! pour cet art. On y juge les tableaux un peu par soi-meme, quand toutefois l'Academie ne leur ferme pas l'entree du Louvre. Ainsi le Jugement dernier de Michel Ange, tolerablement copie par M. Sigalon.«19 Dagegen ist seine private Meinung einige Monate später - im September 1837 — weit weniger herzlich; unvermutet taucht eine gewisse Starrheit auf, Stendhals Urteil verhärtet sich: »Ce matin vu Le Jugement copie par feu Sigalon. Style petit, mesquin, etroit, copie plus courte de quatre pieds par la betise de M. Thiers.«20 Wir müssen auf diese doppelte Bewegung achten: zum einen ist Stendhal gegenüber der Kunst und ihren zeitgenössischen Bewegungen gespalten und oft rados, zum anderen scheint er nicht mehr die Kraft zu haben, sich intellektuell damit auseinanderzusetzen. Die Feder versagt - fast scheint es, als sei die Kühnheit verschwunden, die ihn einst zu Racine et Shakespeare, dem Salon de 1827 und zu ha Vie de Rossini inspiriert hatte. Stendhal fuhrt keine öffentlichen Auseinandersetzungen mehr, er hat seine Rolle als Berufskritiker aufgegeben. Warum? Hier können wir den Begriff des style tardif, des späten Stils, ins Spiel bringen. Man darf ihn nicht mit dem dekadenten Stil verwechseln, jedenfalls nicht in dem Sinn, in dem ihn später Nietzsche, Huysmans oder Bourget verstehen werden.21 Eher kann man sich auf die Debatten beziehen, die die deutsche musikalische Moderne ausgelöst hat, speziell die Debatte um Beethoven. In den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts übernimmt die Kunstkritik bereitwillig ein Gliederungsmodell aus den Naturwissenschaften, die sich gerade in vollem Aufschwung befinden (und die Goethe oder Sainte-Beuve, Fauriel und Ampere gleichermaßen anregen). So teilt beispielsweise Fetis in der Biographie universelle des musiciens (1. Ausgabe 1839) Beethovens Schaffen in drei Phasen ein: Jugend-

Stendhal, Voyages (Anm. 8), S. 124. Ebd., S. 300. 21 Vgl. das Vorwort von A. Guyaux in: Paul Bourget, Essais de psychologie contemporaine (1883), Paris 1993. 19

20

190

FRANCIS CLAUDON

und Entwicklungsjahre, Höhepunkt (vom Opus 55 zum Opus 95) und style tardif. Noch deutlicher gehen der auf Französisch schreibende Ulybyschew (Beethoven. Ses trots styles et ses glossateurs, 1857) und Wilhelm von Lenz, der deutsch-baltische Freund Balzacs, vor, der der Nachwelt Beethoven et ses trois styles (1852) überliefert. Was ist ein style tardif? Es ist eine Art zu schreiben, die sich durch Rückkehr zu den großen Formen und zur Technik in ihrer Reinform auszeichnet (wie der Fuge), durch Tonbrüche und philosophische Abstraktionen (wie in der IX. Symphonie, die von Schillers Ode gekrönt wird). Die unmittelbare Folge sind Unfertigkeit oder Hermetismus. So kann Fetis schreiben: »L'analyse que j'ai faite avec soin des ceuvres 127 a 135 m'a demontre que dans ces demieres productions les necessites de l'harmonie s'effa9aient dans sa pensee devant des considerations d'une autre nature.«22 In den Schriften Stendhals wird Lenz nicht erwähnt. Doch verfügte eines der Testamente des Konsuls von Civita-Vecchia: »donner quelques volumes« — unter anderen - »ä M. Fetis«.23 Handelt es sich hier um den Musikwissenschaftler? Das wäre eine wichtige Fährte. Interessant ist auch, daß gerade in diesem Kontext plötzlich Beethoven auftaucht, der in den Vies oder in den Reiseberichten gewöhnlich umgangen wird. Im Dezember 1837 schreibt Stendhal: »Peinture et litterature. Article Beethoven [d'JAndre Delrieu. Des verites sublimes etaient tombees dans les basses classes de la litterature. Voilä en quoi les Delrieu valent mieux que ceux de 1690. L'instruction fait des progres, mais les Delrieu actuels n'inventent pas plus que ceux de 1690. De meme les peintres actuels executent mieux les uniformes, les boutons et les croix [...] que ceux de 1690.«24 Delrieu arbeitete als Journalist für Le Temps·, er soll 1834 eine Rezension über De l'Amour geschrieben haben. Was ist das nun, die Liebe? Wann und wo kommen die erhabenen Gefühle zum Vorschein? Läßt sich das Schöne auch im Entstehen fassen, auch wenn sicher ist, daß ein ideales Schönes existiert? Große und umfassende Fragen. Sie scheinen den späten Stendhal umzutreiben, vielleicht schon länger, als es den Anschein hat. Vermutlich war das von Fetis zugespitzte Problem der Abstraktion und des Unfertigen in der Kunst eine brennende persönliche Frage für den in Civita-Vecchia exilierten Konsul. Wie läßt sich das Wesentliche sagen? Wie das Erhabene wiedergeben? Gibt es Wahrheit im Sprechen, Malen oder im Spielen eines Instruments? Liegt nicht

Biographie universelle des musiciens, Paris 2 1860, Bd. 1, S. 313. « Stendhal, CEuvres intimes (Anm. 1), Bd. 2, S. 1001. Ebd., S. 307.

22

DIE NOSTALGIEN EINES LIBERALEN

gerade in dieser Frage das Schreibproblem des späten Stendhal? Das Problem hat ihn an Leuwen scheitern lassen, ebenso wie an den zahlreichen Romanversuchen, die er gerade in der Zeit dieser Auseinandersetzung unternommen hat. Das Unfertige so vieler interessanter Ideen läßt sich mit dem Vorsatz erklären, eine vollkommen andere Auffassung des Romans zu entwickeln — so, wie der späte Beethoven eine absolute, vollkommen abstrakte Musik anstrebt, »depourvu d'anecdotes, de boutons et de croix«, um die Worte des zurückgezogenen Konsuls aufzunehmen. Im Grunde ist es das, was auch die strenge Fuge anstrebt, oder die körperlose Farbe, nach der der echte Maler sucht. Delacroix oder Vermeer? Corregio oder Raffael? Das ist nicht wichtig, wir sind hier am äußersten Gegenpol der aufgesetzten Konstruktionen Davids und der künstlichen Farbtöne des Herrn Ingres angelangt: »Le dessin est beau et ne manque pas de vigueur, mais toutes les chairs sont grises. C'est d'avance le coloris de M. Ingres«25 seufzt der Touriste, während er im Museum von Marseille an den Bildern der beiden neo-klassischen Meister entlang geht. Noch deutlicher wird Stendhal, wenn es sich um die Oper handelt: »J'ai trouve ici un theatre Italien. Je subis le Furioso (de Donizetti) dont pour moi pas une seule mesure n'est passable. Je vols Norma dont le seul duo de la fin me plait. Duo declame ä la Gluck [...]. Dans le Pirate je trouve un accompagnement qui peint le desespoir et un morceau de chant qui a le meme merite, mais remis so gradu.«26 Um diese Idee in einer anderen Form wiederaufzunehmen, sei an die letzten Worte der Vie de Haydn erinnert: »Iis cherchent ä se garantir de la contagion de leur [mauvais] style. [...] Peutetre les jeunes musiciens devraient-ils faire de meme. Sans cela, quel moyen de se garantir de ce senequisme general qui vicie tous les arts et auquel je ne connais d'exception vivante que Canova, car Paisiello ne travaille plus?«27 Was ist es also, was Scribe oder Sue oder Donizetti tun? Sie produzieren »1'enflure, le ronflant ä la mode«. Wonach streben ein gewisser Balzac, ein gewisser Chateaubriand? Danach, »les tableaux envoyes par le gouvernement«28 zu liefern. Die allerletzte Entwicklung Stendhals, seine oft widersprüchlichen Wertungen implizieren eine intime, häufig ergreifende Dialektik. Seine geistige Offenheit

25 Stendhal, Voyages (Anm. 8), S. 731. 26 Ebd., S. 726. 27 Stendhal, L'Ame et la musique. Vie de Haydn, hrsg. von S. Esquier, Paris 1999, S. 151. 28 Stendhal, Voyages (Anm. 8), S. 717.

192

F R A N C I S CLAUDON

geht mit einer sentimentalen, nostalgischen Erregung einher. In dieser Wechselbewegung haben die letzten Neuheiten in Malerei und Musik der Jahre 1835-40 als Katalysatoren gedient, im positiven wie im negativen Sinne. Der späte Stendhal trifft hier auf die Haltung des späten Beethoven, der, wie er selbst, weitgehend unverstanden blieb. Sicher haben die beiden Künsder die Grenzen der künsderischen Ausdrucksformen ihrer Zeit abgelehnt, aber sie haben akzeptiert, den Preis dafür zu zahlen. Sie haben den Zwang der Grenzen entdeckt - auch ihrer persönlichen. »Idee poetique - 17 fevrier 1841 Quand je serai vieux, si j'en ai la patience, dieter une poetique fran9aise qui sera bien nouvelle [...]. Les auteurs jesuites du temps de Bouhours, Poree et Cie. [...] etaient moins imbeciles (dans le sens latin), faibles, sans nerfs, etc. que la plupart des Laharpe et Cie.«29

Aus dem Französischen von Marie Guthmüller

» Stendhal, CEuvres intimes (Anm. 1), Bd. 2, S. 414.

STEFFEN DIETZSCH

Nietzsche und die Gesänge des Maldoror »Schleusenmeister der Literatur von Morgen« Andre Gide

Für das Jahr 1869 - in diesem Jahr werden die Gesänge des Maldoror erscheinen — hatte Friedrich Nietzsche geplant, zusammen mit ein paar Leipziger Freunden in die französische Hauptstadt zu fahren. »Nach Paris reise ich nicht vor Ostern nächsten Jahres«, schrieb er im Sommer 1868 an Carl von Gersdorff, »ich gebe die Hoffnung nicht auf, daß wir dort eine längere Zeit zusammenleben: jedenfalls kommt ein ganzer Club von Schopenhauerfreunden dort zusammen, und ich denke, wir werden eine Art von litterarischer Mission zu erfüllen haben.«1 Dazu kam es dann allerdings nicht, wegen Nietzsches überraschender Berufung an die Universität Basel. Was den Freunden aus Klein-Paris dort an der Seine nun hätte begegnen können, möchte ich in den folgenden vier Abschnitten imaginieren: I. Paris, II. Lautreamont, III. Zweifel an Gott, IV. Ein neuer Literatur-Begriff.

I. Paris Wir nehmen die Metro bis zur Bourse, den Ausgang zur Rue Vivienne und stehen bald vor der Hausnummer 15, in der Nähe der alten Nationalbibliothek und der großen Passagen. »Die Läden der Rue Vivienne breiten vor den entzückten Augen ihre Reichtümer aus. Von zahlreichen Gaslampen erleuchtet, werfen die Mahagonikästchen und die goldenen Uhren blendende Lichtgarben durch die Schaufenster. [...] Während der größte Teil der Stadt Vorbereitungen trifft, um in den Freuden nächtlicher Feste zu schwelgen, befindet sich die Rue Vivienne plötzlich durch eine Art von Versteinerung wie vereist. [...] >Ein Unglück ist im Anzugemultipliziert< hatte. Es entstanden artifizielle Wahmehmungsfelder, bei denen einem dann förmlich die Sinne übergingen, man alles wie gesteigert, im Rausch von Assoziationen, alles gewissermaßen >überreal< empfand. »Vom Parfüm der Handschuhe bis zum Ruf der [automatischen] Eule, vom Herzklopfen des Mörders bis zur Blütenlohe des Goldregens, von der Bißwunde bis zum Chanson.«7

3 Claude Pichois, Baudelaire ä Paris, Paris 1 9 6 7 , S. 31. (Ein Sonnenuntergang, Nebel, Regen, Straßen wie alle Straßen, v o n einer visionären Phantasie bevölkert. [...] Ein Paris feierlich und mystisch.) 4 Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, hrsg. v o n Rolf Tiedemann, Frankfurt/M. 1983, S. 1015. 5 Lautreamont, Gesamtwerk (Anm. 2), S. 2 5 1 f. 6 Nietzsche kannte Blanquis L'e'ternite' par Its astres (Paris 1872), vgl. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, in: ders., Kritische Studienausgabe. Werke, hrsg. v o n Giorgio Colli und Mazzino Montinari (im folgenden: K S A ) , Bd. 10, S. 560. Und: »Was übrigens >den Staat< betrifft«, schreibt Nietzsche einmal an seinen Chemnitzer Verleger, »so weiß ich, was ich weiß. Mag man mich zu den >Anarchisten< rechnen [...], aber gewiß ist, daß ich europäische Anarchien und Erdbeben in ungeheurem Umfange voraussehe. Alle Bewegungen fuhren dahin - Ihre antijüdische eingerechnet.« (Nietzsche an Ernst Schmeitzner, 2. April 1 8 8 3 , in: K S B , Bd. 6, S. 355f.) 7 Louis Aragon, Pariser Landleben (1926), deutsch von Rudolf Wittkopf, München 1 9 6 9 , S. 48.

NIETZSCHE UND DIE GESÄNGE DES MALDOROR

Es konnte der Eindruck entstehen, als befände man sich in einem Aquarium, grün-blau oszillierende Färb- und Formenspiele verwandelten (>entwirklichtendurchsichtig< zu werden beginnen, sich durchdringen und neue, gewissermaßen >überreale< Konstellationen im Sehen konstituiert werden. Es war hier in den Passagen ein bißchen so, als hätte man in diesem neuen theatrum mundi den überkommenen binären Code >Zuschauer< vs. >Schausteller< aufgehoben, und alle Beteiligten bemerkten auf einmal, wie sie, in den Worten eines passionierten Paris-Kenners wie Karl Marx ausgedrückt, »in einem Verfasser und Zuschauer ihres eigenen Dramas«9 sind. Man war hier inmitten all dieser wahren und falschen Künstlichkeiten wie in einem Labyrinth neuer unbestimmter Zeichen. Nichts an diesem Zeichenkosmos, an dieser materialen >Semiologie< wäre etwa eindeutig oder >wahrquer< durch das Innere des Stadtkörpers. Man konnte so die horizontale Geometrie der Straßen als ein Außeres hinter sich lassen. Deren ästhetische Erscheinung im Paris des Second Empire gab ihnen eine spezielle, inszenierte Wirkung: »die Fahrbahn aus graublauen, in Form von Pfauenfedern-Mustern verlegten Pflastersteinen; die Bordsteine aus weißem Granit und mit Asphalt bedeckten Gehsteige [...] schließlich das Schwarzbraun der Bänke, Kandelaber und Anschlagsäulen«.11

8 Vgl. hierzu Elisabeth Lenk, Der Traum als Konstruktionsprinzip bei Lautreamont und Carroll (Habil.-Vortrag 1975), in: Comte de Lautreamont, Die Gesänge des Maldoror, mit 20 Gouachen von Georg Baselitz, München 1976, S. 294-317. 9 Karl Marx, Das Elend der Philosophie. Antwort auf Proudhons »Philosophie des Elends« (1847), in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Berlin 1964, Bd. 4, S. 135. 10 Benjamin, Das Passagen-Werk (Anm. 4), S. 993. 11 Jean-Marie Leri, Die Straße, in: Paris. Belle Epoque 1880-1914, Recklinghausen 1994, S. 31.

STEFFEN DIETZSCH

Jene hauptstädtisch-herrschaftliche Ordnung der Straße nun verläßt man in der Unübersichtlichkeit, im Zwielicht und im Halblauten der Passagen. Ihr »Interieur ist nicht nur das Universum sondern auch das Etui des Privatmannes«.12 Der Flaneur — mit seiner »Sicherheit des Auftretens, Kunst der Beredsamkeit und einer Frechheit im Lügen«13 — läuft in den Passagen, assoziativ zu einem berühmten Buch von Joris-Karl Huysmans 1884, gewissermaßen: Λ Rebours. Er bewegt sich im Moment des Eintauchens in die Passage also >gegen den StrichDraußenDrinnenhistoriomanischen< Kultur (jenes Fortschrittsjahrhunderts), hinein in etwas wie eine > zweite NaturGesänge< noch einmal, überzeugt, daß ich geträumt hätte.« (Zit. in: Alme Cesaire, Das Geheimnis des Comte de Lautreamont, Berlin 1986, S. 177.) 40 Andre Breton, Anthologie des schwarzen Humors (1940), München 1972, S. 217f. - Breton hat daran angeknüpft mit seiner Idee der iicriture automatique. 41 Ernst Jünger, Siebzig verweht II, Stuttgart 1981, S. 179 (Tagebuch-Eintrag vom 10. Juli 1974). 42 Lautreamont, Gesamtwerk (Anm. 2), S. 244.

NIETZSCHE UND DIE GESÄNGE DES MALDOROR 203 Das Lachen Lautreamonts ist viel mehr als bloß eine Angelegenheit etwa der reflektierenden Urteilskraft, sondern es ist - als ein Sinnliches kat exochen nicht mehr bloß Sekretion (die Tränen rollen, spontaner Harnabgang), sondern viel eher Sektion (Blut muß fließen): »Ich wollte lachen, wie die anderen. Ich nahm ein Messer mit scharfer Schneide und schnitt hinein ins Fleisch, dort, wo die Lippen sich vereinigen. Eine Sekunde lang glaubte ich mein Ziel erreicht. In einem Spiegel betrachtete ich diesen freiwillig verletzten Mund. Es war ein Irrtum! Das reichlich fließende Blut [...] hinderte mich übrigens zu erkennen, ob dies wirklich das Lachen der anderen sei. Aber nach kurzen Vergleichen sah ich genau, daß mein Lachen dem der Menschen nicht glich [,..].«43 Wegen der Präzision seiner poetischen Verfahrensweise, die frei ist von subjektiven Passionen, ist Lautreamont einmal überraschend, aber nicht unbegründet — metonymisch — in den Umkreis mathematischen Denkens gesetzt worden: »On y sent la douce et poetique expansion d'un coeur en quelque maniere noneuclidien, ivre d'un non-amour, tout ä la joie de refuser la joie, de vivre abstraitement la non-vie, de s'ecarter des obligations du desir, de briser le parallelisme de la volonte et du bonheur [...] Peut-etre devons-nous indiquer aussi une note ä peine sensible dans la page, mais qu'il faut toujours reveiller quand on evoque une culture mathematique.«44

III. Zweifel an Gott »Meine Subjektivität und der Schöpfer, das ist zuviel für ein Gehirn«.45 Maldoror stieß bei seinen Streifzügen durch die künstlichen Paradiese< und bei seinen Sondierungen im Labyrinth des Geistes nirgends auf Gott (freilich ist der sowieso durch >Suchen< nicht aufzufinden) als einen, der uns — wie dann namhafte Philosophen der Gegenwart vermuten - retten könnte.

43 Ebd., S. 13. Vgl. auch: »Der soll verflucht sein [...], der dabei beharrt, die unversöhnlichen Känguruhs des Gelächters und die kühnen Läuse der Karikatur nicht verstehen zu wollen!« (Ebd., S. 167.) 44 Gaston Bachelard, Lautreamont mathematicien, in: L'usage de la Parole (Paris) 1 (1939), Nr. 1/Dezember, S. 16. (Man spürt darin die sanfte und poetische Ausbreitung eines irgendwie nicht-euklidischen Herzens, trunken von Nicht-Liebe, voller Freude, die Freude abzulehnen, das Nicht-Leben abstrakt zu leben, den Zwängen der Begierde auszuweichen, den Parallelismus von Willen und Glück zu zerbrechen. [...] Man muß vielleicht auf eine kaum spürbare Note der Seite hinweisen, die man aber immer wieder wachrufen muß, wenn von einer mathematischen Kultur die Rede ist.) - Im Maldoror heißt es: »O heilige Mathematik, mögest du den Rest meiner Tage durch fortwährenden Umgang mit dir, über die Bosheit der Menschen und die Ungerechtigkeit des Allmächtigen trösten!« (Lautreamont, Gesamtwerk [Anm. 2] , S. 93.) 45 Ebd., S. 214 (Gesang V/3).

204

STEFFEN DIETZSCH

Aber auch hier erhalten wir hermeneutische Hilfe wieder von Emst Jünger, der unter dem 21. Juli 1942 in sein Pariser Tagebuch schreibt, daß Lautreamont »eine Form des neuen Optimismus vorweggenommen [habe], auch ohne Gott, doch dadurch von der des Fortschritts unterschieden, daß aus dem Bewußtsein der Perfektion gesprochen wird, statt im utopischen Hinblick auf sie.«46 Daß es also, wie jüngst Karl-Heinz Bohrer vermutet hatte, um eine »Menschlichkeit ohne Gott« geht, darum, »ohne Götter human zu sein«.47 »Ich bestehe darauf«, so schreibt einmal Antonin Artaud in seinem Brief über Lautreamont (1946), daß er »weder ein Halluzinant noch ein Visionär, sondern ein Genie war, das während seines ganzen Lebens nicht davon abließ, mit vollkommener Luzidität zu sehen, wenn es das immer noch ungepflügte Brachland des Unbewußten betrachtete und in ihm herumstocherte.«48 Es ist dann Lautreamonts Zeitgenosse Friedrich Nietzsche, der endlich auch in der Philosophie mit einem ähnlich tief in Seelisches blickenden sensuellen Subjekt operieren wird, das in eine Genealogie mit der Erde, dem Schmerz und dem Werden verwickelt ist; und nicht zuletzt in einen Sisyphos-Kampf mit Gott. Hier wäre die tröstliche Rede von einem hilfreich in die Angelegenheiten der Menschen eingreifenden Gott eine Form des literarischen Gau (hier: Größter anzunehmender Unsinn], Denn, und da würde Nietzsche von Lautreamont intellektuellen Beistand erfahren: »Ich beneide den Schöpfer um gar nichts; aber er soll mich den Strom meines Schicksals hinabfahren lassen, der durch eine wachsende Zahl ruhmreicher Verbrechen fuhrt.«49

IV. Ein neuer Literatur-Begriff Schön wie ... »der angeborene organische Fehler der Geschlechtsteile des Mannes, der in der relativen Kürze des Kanals der Harnröhre und [...] dem Fehlen ihrer Innenwand besteht, so daß dieser Kanal sich in wechselnder Entfernung von der Eichel und unter dem Penis öffnet«, oder auch »Schön wie [...] die fleischige, kegelförmige Karunkel, von ziemlich tiefen, querverlaufenden Runzeln

Jünger, Strahlungen (Anm. 32), S. 137. Interview mit Karl-Heinz Bohrer, in: Die Zeit, 7. März 1997, S. 52. 48 Antonin Artaud, Brief über Lautreamont, in: ders.., Van Gogh, der Selbstmörder durch die Gesellschaft und andere Texte, hrsg. von F. Loechler, München 1993, S. 84. 49 Lautreamont, Gesamtwerk (Anm. 2), S. 265. »Verlaine ist vor ein paar Tagen hier [in Stuttgart] eingetroffen, mit einem Rosenkranz in den Klauen [...] Drei Stunden später hatten wir Gott geleugnet und die achtundneunzig Wundmale des Heilands bluten lassen.« (Arthur Rimbaud an Ernest Delahaye, 6. März 1875; in: Lancelot, H. 6/1947, S. 51). Wie Nietzsche lange Zeit unter den Fälschungen seiner Schwester verborgen blieb, so litt auch Rimbauds Ansehen lange unter »den frommen Lügen der unaussprechlichen Schwester des Dichters, Isabelle Berrichon« (Louis Aragon, Chronik des Bel Canto 1946, in: ebd., S. 53). 46

47

NIETZSCHE UND DIE GESÄNGE DES MALDOROR

durchfurcht, die sich auf dem Ansatz des oberen Schnabels des Truthahns erhebt«50, kurz: »schön wie das Zittern der Hand bei Alkoholsucht«.51 In solchen über den ganzen Text von Maldoror verstreuten Definitionen des Schönen kommt eine literarische Verfahrensweise zum Tragen, die dann im Surrealismus dessen, wenn man so will, Poetik bestimmt hat. Es ist der von Andre Breton so genannte hasard objectif, d. h. also die Annäherung zweier in ihrer >Binnenlogik< völlig konträrer Konstellationen, Strukturen, Dinge etc., die dann wie zwei Vektoren eine neue Resultante bilden. Im Sechsten Gesang des Maldoror werden wir Zeugen einer solchen, inzwischen >klassischen< Konfrontation, nämlich jener »unvermuteten Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch!«52 Dies ist später die nahezu definitorische Bestimmung der surrealistischen Analytik schlechthin, die in Literatur, Malerei, Film und Photographie angewandt wurde und heute die >Logik< vieler digital erzeugter Artefakte ausmacht. Diese neue Sehweise hat sich inzwischen allerdings, das muß man von heute her auch sagen, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bald in einer trivialen Massenkultur entzaubert. Alltäglich dann vor allem in der gegenwärtigen digitalen Welt, ζ. B. in der Photographie, im Video, in der Werbung, wo nach Rezeptbüchern des Phantastischen erzeugt wird. Denn: Durch derartige »Anstrengungen, das Wunderbare um jeden Preis heraufzubeschwören, werden die Thaumaturgen zu [Markt-]Bürokraten«.53 Doch am Anfang dieser Entdeckung der Zusammenführung des Fernliegendsten erlaubte dies der surrealistischen Gruppe zuerst einen Tiefenblick in den Bau der Welt und die Konstellationen des Menschen. Kurz: Eine Optik, die Walter Benjamin trefflich einmal das »Röntgenbild des Surrealismus«54 genannt hat. Es war damit ein ganz neuer experimenteller Umgang mit Sprache und Wirklichkeit in die Welt gekommen. Jetzt muß wieder auf Friedrich Nietzsche verwiesen werden, der als einziger unter den philosophischen Zeitgenossen Lautreamonts explizit eine solche, modern gesprochen, Methodologie entwickelte. Mit ihr wollte er eine neue Periode in der deutschen Sprachkultur begründen; eine dritte, wie er in Ecce Homo schrieb, nach Martin Luther und Johann Wolfgang Goethe. Daß dieses Vorhaben von allem Anfang an auch durch französische Quellen gespeist sein könnte, allerdings in klandestiner Weise, davon muß Nietzsches

Lautreamont, Gesamtwerk (Anm. 2), S. 264f. 5· Ebd., S. 211. 52 Ebd., S. 250. 5 3 Alejo Carpentier, Über die wunderbare Wirklichkeit Amerikas, in: ders., Essays (Anm. 34), S. 18. 54 Walter Benjamin, Der Sürrealismus (1929), in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. 11,1, Frankfurt/M. 1977, S. 302. 50

205

206

STEFFEN DIETZSCH

akademischer Lehrer in Bonn und Leipzig, Alfred Ritsehl, mehr als nur eine Ahnung gehabt haben. Ritsehl nämlich behauptete schon von dem Studenten Nietzsche, er plane seine Abhandlungen - notabene - »wie ein Pariser romancier — absurd spannend«.55 In seinem zwanzig Jahre nach dem Maldoror geschriebenen Ecce Homo schlug nun Nietzsche vor, künftig das Verstehen derart zu organisieren, daß »Dinge, die noch nie einander in's Gesicht gesehen hatten, plötzlich gegenüber gestellt, aus einander beleuchtet und begriffen«56 werden können; als Beispiel für eine solche neue, >synthetischedekonstruktiv< zu nennende Hermeneutik führt Nietzsche an: die Oper und die Revolution. Und auch dabei war es von allem Anfang an wieder Ernst Jünger, der, wie schon erwähnt, wie kaum ein anderer in seiner Schriftsteller-Generation in Deutschland — die Ausnahme ist immerhin Stephan Hermlin — lebenslang mit bemerkenswert klarem Blick auf die Vorzüge jener dann >surrealistisch< genannten Optik verwiesen hat. Unter dem 27. November 1972 beispielsweise schreibt er in sein AltersTagebuch Siebzig verweht »Der Surrealismus erstrebt die Konzentration der Wirklichkeit, ihre Essenz, doch ohne Beeinträchtigung der Realität. Er will nicht hinter, sondern in ihr das Wirkliche sehen. Die Realität wird unter Druck gesetzt; sie wird wie ein Kieselstein zum Kristall gepreßt. Kiesel und Kristall bleiben identisch; der Unterschied liegt im Aspekt. Das Auge des Künsders erfaßt eine neue Lichtbrechung.«57 Diese neuartige Sicht auf Dinge und Menschen war den Zeitgenossen natürlich sehr fremd. Man sprach allerorten aus einer abschätzigen mediokren Normalität heraus vom delirierenden Blick jener Schriftsteller (wie Desnos), Maler (wie Dali) oder Cineasten (wie Bunuel). Geradeso - als >Deliranten< - hat ursprünglich auch die zumal deutsche Universitätsphilosophie ihren Dissidenten Nietzsche wahrnehmen wollen. Friedrich Nietzsche bot für diesbezügliche Mißdeutungen allerdings auch ungeschützt und reichlich Anlaß, sowohl zunächst im Persönlichen wie auch im Theoretischen. In einem Brief an den vertrauten Freund Heinrich Köselitz [Peter Gast] hatte er einmal sein neues literarisches Selbstverständnis angedeutet, als er schrieb, sein Werk, namentlich sein Ecce Homo (1888), gehe »dermaßen über den Begriff >Utteratur< hinaus, daß eigentlich selbst in der Natur das Gleichniß fehlt:

55 Friedrich Nietzsche, Ecce Homo, hrsg. von Raoul Richter, Leipzig 1908, S. 56. 5« Ebd., S. 64. 57 Jünger, Siebzig verweht II (Anm. 41), S. 102. Oder, wie man bei dem deutschen Dadaisten Richard Huelsenbeck lesen kann: »Hier ist Freud, Balzac, Apollinaire und Dadaismus in einem [...] gemischt mit den grausamen Phantasien Breughels, der Wut Callots und dem clownischen Scherz Toulouse-Lautrecs.« (Neue Zeitung [München], 21. November 1954.)

NIETZSCHE UND DIE GESÄNGE DES MALDOROR es sprengt, wörtlich, die Geschichte der Menschheit in zwei Stücke - höchster Superlativ von Dynamit,«58 Gerade dies nun verbindet aber Lautreamont und die von ihm ausgehende Bewegung innerlich mit Nietzsches Wollen. Der fran2Ösische Literaturhistoriker Guy Michaud hat diesen engen Zusammenhang Nietzsches mit der französischen Moderne einmal sehr zutreffend charakterisiert, als er schrieb: »L'influence de Nietzsche venait cristalliser ä leur heure les grands themes latente dans l'äme fran9aise.«59 Und selbst in Deutschland haben immer wieder gerade moderne Dichter bezüglich neuer Literaturverhältnisse nachdrücklich darauf aufmerksam gemacht, daß, wie einmal Gottfried Benn exemplarisch schrieb, gerade Nietzsche »für meine Generation das Erdbeben der Epoche und seit Luther das größte Sprachgenie [...] (erhebt sich selbst über Goethe)«60 gewesen sei. Friedrich Nietzsche hätte, gesetzt, er wäre schließlich bis zum >Sechsten Gesang< gekommen, seine eigene kulturelle Konfession wiederfinden können, wenn er bei Isidore Ducasse liest: »Würdet ihr also erklären, ich hätte, weil ich, gleichsam zum Spott, den Menschen, den Schöpfer und mich selbst beschimpft habe, meine Mission in meinen begründeten Ubertreibungen erschöpft? Nein: der wichtigste Teil meiner Arbeit liegt trotzdem in einer Aufgabe, die noch zu tun bleibt.«61

58 Friedrich Nietzsche an Heinrich Köselitz, 9. Dezember 1888, in: KSB, Bd. 8, S. 513. - Etwas ähnliches erhoffte sich Walter Benjamin vom kritischen Potential im historischen Materialismus: »Er sprengt die Epoche aus der dinghaften >Kontinuität der Geschichte< ab. Er sprengt aber auch die Homogenität der Epoche auf. Er durchsetzt sie mit Ekrasit, d. i. Gegenwart.« (Benjamin, Das Passagen-Werk [Anm. 4], S. 592f.) 59 Zit. nach: Johannes Wilhelm, Beiträge zur romanischen Literaturwissenschaft, Tübingen 1956, S. 140. 60 Gottfried Benn, Gesammelte Werke in 4 Bdn., hrsg. von Dieter Wellershoff, Bd. 1: Essays, Reden, Vorträge, Wiesbaden 1959, S. 482f. 61 Lautreamont, Gesamtwerk (Anm. 2), S. 242f.

207

PETER JEHLE

Genuß als Produktivkraft Der Fontenelle beschäftigt mich im Augenblick ungeheuer, auch in seiner konsequent egoistischen Haltung (keine Ehestrapaze und andere die Lebenszeit des 100jährigen verkürzenden Aufladungen), die sich gerade als die Basis einer extremen Wirkung auf die Mitwelt zu erkennen gibt. Ich finde überhaupt: der Sozialismus darf das Glück des Individuums nicht nur als Endsiel begreifen, sondern als die Voraussetzung fürjedes weitere Gedeihen. Werner Krauss an Eva Schultz-Seitz, 24. November 1967

Auf die ungläubige Frage, ob er im Kombinat Schwarze Pumpe einst tatsächlich Marx' 18. Brumaire gelesen habe, antwortete Volker Braun kürzlich: »Als Genußmensch.« 1 Diese Antwort mußte doppelt verblüffen. Mehr noch als die unbefangene Rede von Marxlektüre, noch dazu einer genußreichen, mußte im Jahre zehn der neuen deutschen Teilung der Ort des Geschehens beunruhigend wirken: Wie konnte einer, nachdem er den Tag in voll Wasser gelaufenen Gräben mit dem Verlegen von Rohren zugebracht hatte, in seiner Freizeit auf den abwegigen Gedanken verfallen, sich mit Denkmitteln kritischer Gesellschaftsanalyse zu versehen? Die Ahnung, daß eine Gesellschaft möglich sein könnte, in der die Notwendigkeit der Produktion des Lebens und der Lebensmittel mit der Entwicklung der Fähigkeiten und Bedürfnisse der einzelnen in Einklang gebracht wäre - diese Ahnung ist seit Marx, trotz des mit seinem Namen verknüpften und gescheiterten Sozialismus, nicht mehr aus der Welt zu schaffen. Volker Braun, der Genußmensch, rückte ins Bewußtsein, daß Genuß nicht in dem aufgeht, was einem durch die Industrien des Imaginären zugerichteten gesunden Menschenverstand als solcher erscheint. Der Begriff gehört zu denen, die die ganze Gesellschaft einer Epoche in sich enthalten.

I. In gängigen Lexika fristet »Genuß« ein kümmerliches Dasein, in dem gesellschaftliche Handlungsfähigkeit auf sinnliche Aufnahmefähigkeit reduziert ist. Das dtv-Lexikon (1971) gewährt dem Stichwort Heimatrecht nur in Gestalt von »Genußmittel« und »Genußschein«, der einen »Anspruch auf Beteiligung am Reingewinn« begründet. 2 Der »Genösse«, der sich aus einem Teilhaber an der

1 »Der blutige Witz war nur im Kopf«. Interview mit Volker Braun, in: Der Tagesspiegel, 2./3. Oktober 2000, S. 35. 2 Der Duden (Mannheim 1977) kennt zwar ein Substantiv »Genuß«, zentriert dessen Bedeutung indes in der gleichen Weise auf die Aufnahme von Nahrungsmitteln und

GENUSS ALS PRODUKTIVKRAFT

Beute in Jäger- und Sammlergesellschaften3 zu einem Mitkämpfer für eine solidarische Gesellschaftsordnung entwickelt hat - um als solcher, eingepaßt in die verstaatlichten Parteiapparate, sich bisweilen wieder in jenen Teilhaber verwandelt zu sehen —, scheint unwiderruflich auf den »nichtstuenden Genuß des fremden Blutschweißes«4 in Gestalt von Aktienkapital reduziert. Als »Genußmittel« gelten »Nahrungsbestandteile, die wegen ihrer Annehmlichkeit ohne Rücksicht auf ihren Nährwert genossen werden (ζ. B. Kaffee, geistige Getränke, Gewürze)«. Die Definition bezeugt nicht nur eine erstaunliche Aufnahmefähigkeit des »Geistigen«5, das hier als Attribut bestimmter Getränke auftritt, sondern auch eine Fixierung auf die Bedeutungsdimension von »Luxus«, sei es in der Charaktermaske des Rentiers, der gleichgültig gegenüber dem Gebrauchswert nur an der Wertgestalt der Produkte interessiert ist, sei es in bezug auf Ernährung, die, als genußvolle, vorzüglich in der Gestalt ehemaliger Luxuswaren auftritt. »Genuß« hängt, auch nachdem aus diesen Luxuswaren längst Massenwaren geworden sind, an mit stärkeren Reizen begabten Produkten, die zu den bevorzugten Trägern warenästhetischer Erzählungen von Liebe, Erfolg und Schönheit werden. Das Genußvolle erscheint vom Alltag der Ernährung abgespalten, monopolisiert von den Produkten ohne Nährwert, an denen hängt, wer schon satt ist. Anders in Verhältnissen, in denen die Suche nach Nahrhaftem zum Problem wird: So ist es der Gedanke an frisch gebackenes Brot, der den Protagonisten in Heinrich Bolls Erzählung Das Brot der frühen Jahre (1955) stundenlang durch die Stadt irren läßt und ihn in einen Zustand versetzt, den er als »brotsüchtig« beschreibt. Freilich zeigt dieses Beispiel nur, daß die Produkte, welche die Stelle des ersehnten Genußmittels einnehmen, zwar ganz unterschiedliche sein können — abhängig von den bestimmten Verhältnissen, in denen die Reproduktion des Lebens den einzelnen aufgegeben ist —, die klassischen »Genußmittel« wie Alkohol oder Tabak aber dennoch nicht ihre Bedeutung verlieren, im Gegenteil: Gerade in Situationen des Nahrungsmittelmangels können Zigaretten oder Schnaps in die Funktionsstelle des allgemeinen Äquivalents einrücken, das den Austausch der zwar lebensnotwendigen, gemessen am »Genuß« aber dennoch geringer dotierten Waren vermittelt. Die Industrie, bemerkt Marx mit Blick auf die englischen Schnapsläden, spekuliere auf die »Verfeinerung der Bedürfnisse« ebenso wie auf deren Roheit, »aber auf ihre künstlich hervorgebrachte Roheit, deren wahrer

Getränken, verknüpft mit der Bemerkung, daß »übermäßiger G. von Alkohol schädlich« sei. Nichts scheint der Qualität des Genußvollen würdig, was nicht in Zerstörerisches umschlagen kann. 'Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 4.1, Leipzig 1897, Sp. 3456 (Stichwort »genieszen«). 4 Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke (im folgenden: MEW), Ergänzungsbd. Erster Teil, Berlin 1968, S. 507. 5 Vgl. Wolfgang Fritz Haug, Stichwort »Geist«, in: Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd. 5, Berlin 2001.

210

PETER JEHLE

Genuß [...] die Selbstbetäubung ist«.6 Da die Teuerkeit der Wohnungen im »umgekehrten Verhältnis zu ihrer Güte« steht, werfen die »Minen des Elends« mehr Profit ab als jemals die »Minen von Potosi«7 — ein Zusammenhang, dem Brecht mit der Dreigroschenoper ins Bewußtsein weiter Kreise Eingang zu verschaffen wußte. Man muß zu älteren Wörterbüchern greifen, um zu erkennen, daß die Reduktion von »Genuß« auf »Genußmittel« einer späten Bedeutungsverengung geschuldet ist. Das Wort, das im 17. Jahrhundert die »hauptsächlichsten« Wörterbücher nicht kennen und dessen Stelle noch im 18. Jahrhundert meist von »geniesz« eingenommen wird, bedeute »eigentlich nutznieszung, der nutzen dessen man von irgend einem gute genieszt«.8 Das kann eigenes wie fremdes Eigentum sein, dessen Früchte oder Zinsen man »genießt« (vgl. lat. »usus fructus«; frz. usufruit9), aber auch ein Privileg, ein Vermögen, Ansehen, ja sogar Gott, der, als »Inbegriff aller Kräfte«, ein »Genuß« ist, der »über alle Begriffe geht«;10 schließlich das eigene »Selbst«, denn wenn die Individualität von »schlechter Beschaffenheit« ist, »sind alle Genüsse wie köstliche Weine in einem mit Galle tingierten Mund«.11 Entscheidend ist, daß in der »nutznieszung«, die man von einer Sache hat, indem man sie sich aneignet oder in Gebrauch nimmt, die Komponenten »Lust« und »Nutzen« noch eng miteinander verknüpft sind. In dem genannten lateinischen Term sind die beiden Bedeutungsdimensionen von »uti« (von etwas Gebrauch machen oder in Gebrauch nehmen) und »frui« (von etwas Genuß haben) zusammengezogen. Während bei »uti« der Akzent auf der Inbesitznahme eines Objekts und dem praktischen Umgang damit liegt, so bei »frui« auf den mit diesem Umgang verbundenen Empfindungen der Freude und Lust. »Vergebens besitzt, wer nicht genießt«, weiß das lateinische Sprichwort. In der traditionellen Formel, mit der die französischen Könige ihrem Willen Ausdruck gaben - »Car tel est notre (bon) plaisir« - , bekundet sich die Exklusivität königlicher Regelungskompetenz in der Form eines performativen Aktes, in dem der Hinweis auf den Genuß jede weitere Begründung überflüssig macht. Im Artikel »jouissance« der Entyclopedie wird das an Besitz gebundene Genießen mit einem subversiven Ton versehen: »jouir, c'est connoitre, eprouver, sentir les avantages de posseder: on possede souvent sans jouir. A qui sont ces magnifiques palais? qui est-ce qui a plante ces jardins immenses? C'est le souverain: qui

Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte 1844 (Anm. 4), S. 552. Karl Marx, Das Kapital. Erster Band, in: MEW, Bd. 23, Berlin 1962, S. 687. 8 Grimm, Deutsches Wörterbuch (Anm. 3), Sp. 3518 (Stichwort »genusz«). 9 Emile Littre definiert: »le droit de jouir des choses dont un autre a la propriete« (Emile Littre, Dictionnaire de la langue franfaise, Bd. 4, Paris 1878, S. 2402). 10 Johann Gottfried Herder, Gott. Einige Gespräche (1787), in: ders., Sämmtliche Werke, hrsg. von Bernhard Suphan, Bd. 16, Berlin 1887, S. 503. 11 Arthur Schopenhauer, Aphorismen zur Lebensweisheit, Stuttgart 1947, S. 19. 6 7

GENUSS ALS PRODUKTIVKRAFT

est-ce qui en jouit? C'est moi.«12 Im Bild des Souveräns, der die Paläste und Gärten nur besitzt, nicht aber in Gebrauch nimmt und in diesem Sinne »genießt«, gewinnt die Forderung nach einer Demokratisierung des Genusses an Nachdruck, in deren Ergebnis der »souverain« mit den vielen »Ichs« identisch geworden ist. Paulus' Forderung, »es soll der Bauer, der den Acker bebaut, die Früchte als erster genießen«13 - eine Forderung, welche den grundbesitzenden Ständen des Ancien Regime ebenso in die Quere kommt wie dem grundbesitzenden Kapital - , ist Wasser auf die Mühlen der Aufklärer. Grimm macht darauf aufmerksam, daß in der alten Bedeutung stets »gemeinsame nutznieszung, gemeinschaft« mit gemeint war und selbst dort, wo der »genusz des einzelnen« im Vordergrund steht, dieser »eigentlich doch auch als theilhaber einer gemeinschaft« — wie immer antagonistisch diese »Gemeinschaft« gegen andere stehen mag - zum Nutznießenden wird.14 Nur in Gesellschaft gehe es darum, so Kant, »nicht bloß Mensch, sondern auch nach seiner Art ein feiner Mensch zu sein, [...] den ein Objekt nicht befriedigt, wenn er das Wohlgefallen an demselben nicht in Gemeinschaft mit andern fühlen kann«.15 Walter Fendrich, der Protagonist der erwähnten Böllschen Erzählung, kennt die genußvolle Einverleibung des ersehnten Brotes indes nur als einsam zu vollziehenden Akt. Das bisweilen mit Vaters Geld glücklich auf dem Schwarzmarkt erstandene Zweioder Dreipfundbrot wird sogleich, allein auf einer Bank oder in Trümmern sitzend, mit schmutzigen Händen zerrissen und verschlungen. Der Hunger reduziert die soziale Dimension von »Genuß« auf die durch den eigenen Magen definierte Gemeinschaft mit sich selbst.16 Dabei ist das Essen ein Anlaß, der gerade deshalb religiös, kulturell und ideologisch vielfach besetzt ist, weil er viele an einem Ort zusammenbringt und gesellschaftsbildende Funktion hat. Im Zentrum christlicher Liturgie steht nicht zufällig die »Kommunion«, ein Akt symbolischer Nahrungsaufnahme, der den Bund der Gläubigen mit Christus erneuert. Die französischen Aufklärer wußten um die strategische Bedeutung dieses Aktes, dessen Bindungskräfte sie zu blockieren suchten, indem sie in ihrer Bibel, der Encyclopedic, »Kannibalismus« als mit »Kommunion« verwandten Begriff auswiesen. Die Philosophie- und Literaturgeschichte ist seit alters voll von Symposien, Gastmählern und Gelagen.17 Der Genuß der Speisen und Getränke gewinnt selbst dort, wo diese üppig zur Verfügung stehen, seine eigentlichen Dimensionen erst im Kreise von »Genossen«, mit denen man sich »unterhalten« kann und

12 Encyclopedic ou Dictionnaire raisonne des sciences, des arts et des metiers, Bd. 8, Neufchastel 1765, S. 889. 13 2. Timotheus 2,6. 14 Grimm, Deutsches Wörterbuch (Anm. 3), Sp. 3451, 3455 (Stichwort »geniesz«). 15 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Β 163, A 161. 16 Daher sagt Marx: »Für den ausgehungerten Menschen existiert nicht die menschliche Form der Speise, sondern nur ihr abstraktes Dasein als Speise.« (Marx, Ökonomischphilosophische Manuskripte 1844 [Anm. 4], S. 542.) 17 Dasselbe gilt fürs Theater, das in aller Regel nicht individuell konsumiert wird.

212

PETER JEHLE

die unter Umständen erst im Zusammenhang mit diesem Prozeß kommunikativer Praxis zu solchen werden. Die gesellschaftsbildende, d. h. produktive Dimension von »Genuß« wird selbst im vermeintlichen Medium des »Konsums« par excellence, der Einverleibung von Speisen und Getränken, greifbar. Der biblische Mythos, wonach fünf Brote und zwei Fische eine vieltausendköpfige Menge satt machten, ist auch ein Sinnbild fur die Produktion sozialen Zusammenhalts im Medium gemeinsamen Essens. Grimm bemerkt ferner, daß »im jetzigen begriff« das »hauptgewicht« auf »lust« fällt, »die den genusz begleitet und freilich von jeher darin eingeschlossen ist, aber nicht als hauptmerkmal«,18 wohingegen beim älteren Verb »genieszen« die Bedeutungskomponente »Lust« mitschwang, ohne die Bedeutung in dieser Richtung festzulegen. Die Entwicklung unter Ausklammerung von Marx zusammenfassend heißt es im Historischen Wörterbuch der Philosophie·. »Es scheint, daß seit der Mitte des 19. Jh. der im G.-Begriff ursprünglich mitgemeinte spezifische Weltbezug der geistigen Aneignung und Durchdringung zunehmend verschwindet, um der Bedeutungskomponente des Angenehmen und Erfreulichen Platz zu machen.«19 Die Dissoziation der beiden Komponenten in »Aneignung«20 einerseits, Freude und Lust andererseits, scheint untrennbar verbunden mit der Erfahrung entfremdeter Arbeit, deren Produkte »enteignet« und »Angenehmes und Erfreuliches« damit auf Objekte außerhalb des Produktionsprozesses verwiesen werden. Das affiziert sowohl die Seite der Aneignung, die sich auf den durch Geld vermittelten Kaufakt reduziert, wie die des Angenehmen, das paradigmatisch im »Geldhaben« und damit als Fähigkeit zur prinzipiell schrankenlosen Tätigung von Kaufakten zum Ausdruck kommt. Was könnte »angenehmer« sein, als eben ein unerwarteter Geldgewinn, der aus den sagenhaften Regionen einer von der Produktion scheinbar abgelösten Zirkulationssphäre den glücklichen Zeitgenossen erreicht? Die Börse ist die moderne Gestalt der Losbude, die — ausgestattet mit elektronischer Hochtechnologie — die Welt der Produktion in Anteilsscheine auf mühelosen Gewinn verwandelt. Nicht daß das moderne »Genießen« nicht eine Vielzahl von Aktivitäten bedingen würde. Die Subjekte sportlicher Freizeitbetätigung, meist Opfer ihrer sitzenden Lebensweise, finden sich von Produkten umstellt, die noch die letzten Energien zu mobilisieren gestatten - für ein Fitsein in Verhältnissen, in denen »die anderen« wesentlich als Konkurrenten figurieren. Adornos Satz, daß »unterm Monopolkapitalismus weithin der Tauschwert, nicht mehr der Ge-

Grimm, Deutsches Wörterbuch (Anm. 3), Sp. 3519 (Stichwort »genusz«). G. Biller/R. Meyer, Stichwort »Genuß«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, Stuttgart - Basel 1974, Sp. 321. 20 Vorausgesetzt, man reduziert den Begriff nicht auf »geistige Aneignung«, wie die Autoren des Artikels. 18

19

GENUSS ALS PRODUKTIVKRAFT

brauchswert genossen« wird,21 hat seinen paradoxen Sinn vor dem Hintergrund eines »Genießens«, das - als selbstbestimmtes Tätigsein - in die »Freizeit« verbannt ist; daher deren Attraktivität.

II. Der von »sinnlich menschlicher Tätigkeit, Praxis«22 abstrahierte »Genuß« wird zum Gegenstand unterschiedlicher Moralen und Philosophien, mit vielfältigen Ubergängen zwischen epikuräischer Aufwertung und platonischer Geringschätzung, zwischen »Hedonismus« und Sinnenfeindschaft, »Genuß« und »Askese«. Mit der Erfahrung, daß Arbeit nur »Mittel zum Leben«, nicht aber »erstes Lebensbedürfiiis« ist,23 wird die Quelle aller Genüsse in die Innerlichkeit eines mit freier Muße gesegneten Selbst verlegt. Es fungiert als Paradies auf Erden, in dem eine von Arbeit freigesetzte Herrenkaste ihr »philosophisches« Dasein genießt - die Philosophie imaginiert als »Asyl, wohin keine Tyrannei dringen kann«.24 In der Maxime Schopenhauers, daß »das, was man ist, viel mehr zu unserem Glück beiträgt, als was man hat«,25 steckt zwar — wie in der Kunst — ein Moment von Protest gegen Verhältnisse, in denen »Glück« an das zufällige Wirken anonymer Mächte delegiert ist. Anders jedoch als die bürgerliche Emanzipationsbewegung in Frankreich, die ihr Glück in einer erneuerten Gesellschaftsbildung findet, verbindet sich bei dem deutschen Moralisten die Sorge ums »Selbst« mit dem Abscheu vor Gesellschaftsbildung überhaupt, die ihm nur in Formen der »Geselligkeit« geläufig ist, die den »Mangel an geistigen [...] Genüssen« offenbaren: »Ball, Theater, Gesellschaft, Kartenspiel, Hasardspiel, Pferde, Weiber, Trinken, Reisen usw.«26 Schon in Kants Hierarchie der Erkenntnisvermögen rangiert die »Lust des Genusses« als passive Sinnesempfindung, die der Mitteilbarkeit mangelt, auf unterstem Niveau.27 Der »Eudämonist« ist ein »moralischer Egoist«, der »bloß im Nutzen und der eigenen Glückseligkeit, nicht in der Pflichtvorstellung, den obersten Bestimmungsgrund seines Willens setzt«.28 Dem »jungen Mann« empfiehlt er, sich die »Befriedigung (der Lustbarkeit, der Schwelgerei, der Liebe u.d.g.)« zu versagen, und zwar nicht in der »stoischen Absicht, ihrer gar entbehren zu wol-

Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt/M. 1973, S. 39. Karl Marx, [Thesen über Feuerbach], in: MEW, Bd. 3, Berlin 1958, S. 5. » Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms, in: MEW, Bd. 19, Berlin 1962, S. 21. 24 Friedrich Nietzsche, Unzeitgemässe Betrachtungen. Drittes Stück: Schopenhauer als Erzieher, in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, München - Berlin New York 1988, Bd. 1,S. 354. 25 Arthur Schopenhauer, Aphorismen zur Lebensweisheit, Stuttgart 1947, S. 14. μ Ebd., S. 53. 27 Kant, Kritik der Urteilskraft, Β 154, A 152. 28 Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, BA 8. 21

22

214

PETER JEHLE

len, sondern in der feinen epikurischen, um einen immer noch wachsenden Genuß im Prospekt zu haben«.29 »Genuß« wird nicht einfach verdrängt; er ist das Rohmaterial, das dem Sittengesetz seine Stabilität gibt. »Genuß« in der Gewalt der »Vernunft« ist, »wie alles Idealische, fruchtbarer und weiter umfassend, als alles, was den Sinn dadurch befriedigt, daß es hiemit zugleich verzehrt wird, und so von der Masse des Ganzen abgeht«.30 Die idealistische Konstruktion eines »vernünftigen Ichs«, das »ohne Rücksicht auf Genuß« und nur durch das, was es »tut [...] seinem Dasein als der Existenz einer Person einen absoluten Wert« gibt,31 läßt sich mit Marcuse32 als die Antwort des deutschen Idealismus auf das unlösbare Problem begreifen, wie »Genuß« und »Arbeit«, »Mittel« und »Zweck«, »Anstrengung« und »Belohnimg«, deren unwiderrufliche Disjunktion Schiller im sechsten der Briefe Über die ästhetische Erhebung des Menschen konstatiert hatte, zusammengebracht werden könnten. In der antagonistischen Welt scheint genußvolles produktives Tätigsein nurmehr in privilegierter Absonderung möglich und findet sein Refugium in der »Kunst«, deren Produkte wiederum ein nicht weniger abstraktes »Schönes« vorstellen, herausgeschnitten aus dem Zweckmäßigen, Nützlichen und Angenehmen.33 Aus dieser Konstellation entspringt »die Kunstproduktion als solche«.34 Kants in emanzipatorischer Absicht unternommene Ausarbeitung eines vom Wahren und Guten getrennten Bezirks des »Schönen«, welcher der gesetzgeberischen Willkür der Obrigkeit entzogen und der vollkommenen Selbstbestimmung von Produzenten und Konsumenten anheimgestellt sein sollte, ratifiziert einen Zustand nach der Schlacht, die — auf dem Feld des Theaters — der Hanswurst verloren hat. Nur ohne den plebejischen Blick kann in Deutschland das öffentliche Theater einem Publikum von Höhergestellten zum Genuß werden.35 Am Beispiel der Literarisierung der französischen Theaterverhältnisse seit der Querelle du Cid läßt sich beobachten, wie eine neue »Empfangsbereitschaft« auf selten des Publikums hergestellt wird, in der ein auf Einfühlung basierendes, sinnverstehendes Zuschauen das dominante Element bildet. Der Text gewinnt autoritative Geltung; die Aufführung erscheint als dessen Applikation, genießbar nur dem, der die Regeln kennt.36 Wenn sich die Schaubühne als eine »moralische

Ebd., BA 64. Ebd., BA 65. 31 Kant, Kritik der Urteilskraft, BA 13. 32 Vgl. Herbert Marcuse, Zur Kritik des Hedonismus (1938), in: ders., Kultur und Gesellschaft 1, Frankfurt/M. 1975, S. 128. 33 Zur Exklusion des Angenehmen aus dem Bezirk des »Schönen« vgl. Dieter Küche, Ästhetik und Aisthesis, in: Weimarer Beiträge 44 (1998), H. 4, S. 496. 34 Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Rohentwurf) 18571858, Berlin 1974, S. 30. 35 Vgl. Ruedi Graf, Das Theater im Literaturstaat, Tübingen 1992. 36 Vgl. Peter Jehle, Zur Herausbildung des Staatstheaters in Frankreich, in: Projekt Ideologie-Theorie. Der innere Staat des Bürgertums, Berlin 1986, S. 7-40. 29

30

G E N U S S ALS PRODUKTIVKRAFT

Anstalt« präsentieren kann, so nur, weil ein bestimmtes Wissen zur selbstverständlichen Voraussetzung des Genießens geworden ist: Wer gewohnt ist, »entweder bloß mit dem Verstand oder bloß mit den Sinnen aufzunehmen«, ist »nur für das rohe Element empfänglich« und muß »die ästhetische Organisation eines Werks erst zerstören, ehe er einen Genuß daran findet«.37 Es ist ein bestimmtes Dispositiv von Produktion, Kritik und Theorie, das ein neues genußfähiges Subjekt zugleich voraussetzt und hervorbringt. Neben dem »furchtbaren Reich der Kräfte« und dem »heiligen Reich der Gesetze« soll das »fröhliche Reich des Spiels« einen »ästhetischen Staat« begründen, von dem sich Schiller eine universell zivilisierende Wirkung erhoffte — sei es in bezug auf die Geschlechterverhältnisse, indem die »Begierde« zur »Liebe« sich läutert, sei es in bezug auf die gesellschaftlichen Gewaltverhältnisse, indem etwa dem Fremdling ein gastlicher Herd an der gefürchteten Küste raucht.38 Die Fähigkeit zum »Genuß echter Schönheit«,39 die das »Unnötige« in die eigentliche Quelle der Freude verwandelt,40 ist die Triebkraft zur Aufrichtung jenes Zustande, in dem das »Ideal der Gleichheit« erfüllt ist, »welches der Schwärmer so gern auch dem Wesen nach realisiert sehen möchte«41. Diese »Grenzschutzkonzeption«42 orientiert auf die Ausbildung einer ästhetischen Handlungsfähigkeit, die ihre Unabhängigkeit sichert, indem sie sich im Gegenzug für politisch nicht zuständig erklärt: »Schwärmer« — hier also die Jakobiner, die Gleichheit als Politik konzipieren - sind diejenigen, deren Aktion die Grenzziehungen zwischen Politik, Moral und Kunst angreift. Schillers Konzept gibt zwar einer Herrschaftskritik, die an den wirklichen Verhältnissen nicht gewagt werden kann, ein Refugium, aber es führt kein Weg mehr zurück vom Kunstgenuß zum Genuß als lustvoller Weltaneignung und -gestaltung. So konnte der Kunstgenuß zur Beute der Schulästhetik werden, die Benjamin als eine Hydra mit sieben Köpfen verspottete: »Schöpfertum, Einfühlung, Zeitentbundenheit, Nachschöpfung, Miterleben, Illusion und Kunstgenuß«43 sind die Momente eines Dispositivs, das, von den avantgardistischen Programmen einer Rückführung von »Kunst« in Lebenspraxis vielfach angegriffen, seine Funktionalität bis heute nicht eingebüßt hat. Die »Schulästhetik« gibt stets dort den Ton an, wo

Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1795), in: ders., Uber Kunst und Wirklichkeit, hrsg. von Claus Träger, Leipzig 1975, S. 341 (Brief 22). - Der Zusammenhang von Erkennen und Genießen ist also nicht nur ein Kapitel aus der Vorgeschichte der »klassischen deutschen Kunstperiode«, wie Jauß annimmt (Hans Robert Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt/M. 1982, S. 72). 38 Schiller, Über die ästhetische Erziehung (Anm. 37), S. 370f. (27. Brief). 39 Ebd., S. 338 (22. Brief). « Ebd., S. 369 (27. Brief). 41 Ebd., S. 373 (27. Brief). 42 Vgl. zu diesem Begriff: Projekt Ideologie-Theorie. Theorien über Ideologie, Berlin 1979 (Argument-Sonderband 40), S. 113. 43 Walter Benjamin, Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft (1931), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 3, S. 286. 37

215

PETER JEHLE

Ästhetisches im weitesten Sinne als Wahrnehmung eines von Praxis und Produktion getrennten »Schönen« für die Deformationen eines auf Profitmaximierung fixierten Alltagslebens aufzukommen hat.

III. So sehr Marx die Richtung auf den »weltlichen Genuß« im 18. Jahrhundert als Grundlage antimetaphysischer Haltungen begrüßt,44 so entschieden lehnt er dessen verphilosophierte Formen ab: »Die Philosophie des Genusses war nie etwas andres als die geistreiche Sprache gewisser zum Genuß privilegierter gesellschaftlicher Kreise.« Eine Moral des Genusses ist einer Moral der Askese keineswegs vorzuziehen. Da »die Weise und der Inhalt ihres Genießens stets durch die ganze Gestalt der übrigen Gesellschaft bedingt« ist, wird diese Philosophie zur Phrase, sobald sie einen allgemeinen Charakter annimmt und sich als die »Lebensanschauung der Gesellschaft im Ganzen proklamierte«.45 Sie wird dann zur Moralpredigt, zur »Beschönigung der vorhandenen Gesellschaft« oder kann in ihr Gegenteil umschlagen, »indem sie eine unfreiwillige Askese für Genuß erklärte«. So erscheint etwa die Nationalökonomie, die »vom Faktum des Privateigentums« ausgeht, dasselbe aber nicht erklärt,46 als die »allermoralischste Wissenschaft«, übersetzt sie doch die wirklichen Lebensverhältnisse der Arbeiter, bei denen die einfachste tierische Reinlichkeit aufgehört hat, ein Bedürfnis zu sein, in die Lehre von deren Bedürfnislosigkeit, und bringt so das Kunststück fertig, als eine »Wissenschaft des Reichtums« zugleich eine »Wissenschaft des Entsagens« zu sein.47 Die Heuchelei jeder Philosophie des Genusses, »die sich an alle Individuen ohne Unterschiede richtet« 48 wird durchsichtig, sobald ihr Zusammenhang mit dem »wirklichen Genießen« — das wiederum bestimmt ist durch die Klassenverhältnisse und die sie erzeugenden Produktionsverhältnisse - hergestellt ist. Das »wirkliche Genießen« ist die Kritik des »Genusses«; das Verb macht dem Substantiv einen Strich durch die ideologische Rechnung. Marx knüpft an den weiten Genußbegriff im Sinne lustvoller Weltaneignung an und fragt nach den gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Verwirklichung. Wenn das »menschliche Wesen« in seiner Wirklichkeit »kein dem einzelnen Individuum inwohnendes Abstraktum«, sondern als das »ensemble der gesellschaftli-

44 Friedrich Engels/Karl Marx, Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik, in: MEW, Bd. 2, Berlin 1957, S. 134. « Karl Marx/Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, in: MEW, Bd. 3, Berlin 1958, S. 402. 46 Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte 1844 (Anm. 4), S. 510. 4 7 Ebd., S. 549. 48 Marx/Engels, Die deutsche Ideologie (Anm. 45), S. 403.

GENUSS ALS PRODUKTIVKRAFT chen Verhältnisse«49 ein Aufgegebenes und durch den ein2elnen allererst Anzueignendes ist, dann sind auch Tätigkeit und Genuß ihrem Inhalt wie ihrer Existenzweise nach »gesellschaftliche Tätigkeit und gesellschaftlicher Genuß«50. Der »Mensch« ist »da« als eine »Totalität menschlicher Lebensäußerung«, als »Genuß des gesellschaftlichen Daseins«, der ihn erst zu einem besonderen Individuum macht, zum »wirklichen individuellen Gemeinwesen«.51 Für Hegel hingegen ist »glücklich« derjenige, der »sein Dasein seinem besonderen Charakter, Wollen und Willkür angemessen hat und so in seinem Dasein sich selbst genießt«.52 Wo »Glück« als ein willkürliches Moment gilt, das zur Konstruktion eines Allgemeinen nicht taugt,53 erscheint der Selbstgenuß als Lohn gelungener Harmonisierung von individuellem Dasein und den von der »Vernunft« repräsentierten gesellschaftlichen Zwängen. Dagegen gewinnt die Genußkategorie bei Marx eine kritische Dimension, die das von außen an den einzelnen herangetragene »Gesollte« nicht mehr als das Vernünftige unterstellt und die »Gesellschaft« dem Individuum gegenüber nicht mehr als »Abstraktion« fixiert.54 »Genuß« wird zur Kategorie, an der sich der Zustand der gesellschaftlichen Verhältnisse zu erkennen gibt. Die Weise, wie der Gegenstand fur die Menschen ist, »ist die eigentümliche Weise ihres Genusses«.55 Wenn daher ein Gegenstand erst dann der »unstige ist«, wenn er von uns »unmittelbar besessen, gegessen, getrunken, an unsrem Leib getragen, von uns bewohnt etc., kurz, gebraucht wird«, dann ist dafür das Privateigentum verantwortlich, das uns »so dumm und einseitig« gemacht hat.56 Die Aneignung des menschlichen Wesens ist also »nicht nur im Sinne des unmittelbaren, einseitigen Genusses zu fassen, nicht nur [...] im Sinne des Habens«,57 sondern als Entwicklung einer Totalität von Beziehungen, die im »Sehn, Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen, Denken, Anschauen, Empfinden, Wollen, Tätigsein, Lieben« die Organe ihres gegenständlichen Verhaltens zur Welt hat und zugleich entwickelt. Als Dreh- und Angelpunkt einer Befreiung des Genusses, der nicht mehr aufs »Haben« reduziert und als solcher aufs Geld als den »Kuppler zwischen dem Bedürfnis und dem Gegenstand«58 angewiesen ist, erscheint die Aufhebung des Privateigentums, das in der bürgerlichen Gesellschaft das Recht institutionalisiert, »willkürlich [...], ohne Beziehung auf andre Menschen, unabhängig von der Gesellschaft, sein Vermögen zu genießen und über dasselbe zu

« Marx, [Thesen über Feuerbach] (Anm. 22), S. 6 (6. These). 50 Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte 1844 (Anm. 4), S. 537. 51 Ebd., S. 539. 52 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, in: ders., Werke, Bd. 12, Frankfijrt/M. 1970, S. 40f. 53 Vgl. Marcuse, Zur Kritik des Hedonismus (Anm. 32), S. 128. 54 Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte 1844 (Anm. 4), S. 538. 55 Ebd., S. 563. Ebd., S. 540. 57 Ebd., S. 539. s« Ebd., S. 563.

217

218

PETER JEHLE

disponieren«59. Was vom Standpunkt dieser Gesellschaft spontan als natürlich erscheint, die »egoistische Natur« des Genusses,60 zeigt sich jetzt als Schranke für die umfassende Aneignung der gesellschaftlich bestimmten Wesenskräfte des Menschen. Die banale Erfahrung, daß für ein unmusikalisches Ohr die schönste Musik keinen »Sinn« hat, verweist nicht in erster Linie auf die Zufälligkeit, mit der eine unbegreifbare Natur ihre Gaben verteilt, sondern auf Verhältnisse, in denen die Bildung der fünf Sinne, die eine »Arbeit der ganzen bisherigen Weltgeschichte« ist,61 an der Zufälligkeit der Geburt, des Geldes oder des Geschlechts scheitern muß. Die Produktion »menschlicher Genüsse fähiger Sinne«, etwa des musikalischen Ohrs oder des für die Schönheit der Form empfänglichen Auges,62 wird erst möglich in Verhältnissen, in denen produktives Tätigsein selbst als unmittelbar genußvoll organisiert ist und »Genuß« und »Arbeit« nicht mehr »verschiedenen Individuen zufallen«.63 Die Entdeckung der Gebrauchsweisen der Dinge, die Marx eine »geschichtliche Tat« nennt,64 ist zugleich Entwicklung der Fähigkeit ihres Genießens, denn der Gebrauchswert verwirklicht sich nur im Gebrauch, welcher jene Fähigkeit zugleich voraussetzt und hervorbringt. »Die Produktion liefert dem Bedürfnis nicht nur ein Material, sondern sie liefert dem Material auch ein Bedürfnis«, so daß der »Kunstgegenstand« zugleich ein Subjekt für den Gegenstand, ein »kunstsinniges und schönheitsgenußfähiges Publikum« hervorbringt.65 »Die Fähigkeit des Genusses ist [...] Entwicklung einer individuellen Anlage, Produktivkraft.«66 Die Konsumtion ist nicht nur der »abschließende Akt, wodurch das Produkt Produkt, sondern auch wodurch der Produzent Produzent wird«, und umgekehrt schafft die Produktion den »Reiz der Konsumtion, die Konsumtionsfähigkeit selbst [...] als Bedürfnis« 67 Indem Marx Konsumtion und Produktion als ein und denselben Akt der Reproduktion des Lebens, zerlegt in seine verschiedenen Momente, begreift, gewinnt der Genußbegriff einen Umfang, der ihn aus der Gefangenschaft des Genußmittels wie überhaupt aus der Fixierung auf eine konsumtiv verengte Auffassung von Bedürfnisbefriedigung befreit und mit produktiver Tätigkeit assoziiert: »Essen, Trinken, Bearbeiten des Gegenstandes, etc.«68 rücken jetzt in eine Reihe, deren gemeinsame Klammer ein die Dialektik von Produktion und Konsumtion integrierender Begriff von Genuß ist.

5» Karl Marx, Zur Judenfrage, in: MEW, Bd. 1, Berlin 1956, S. 365. 60 Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte 1844 (Anm. 4), S. 540. 61 Ebd., S. 542. 62 Ebd, S. 541. 63 Marx/Engels, Die deutsche Ideologie (Anm. 45), S. 32. 64 Marx, Das Kapital. Erster Band (Anm. 7), S. 50. 65 Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Anm. 34), S. 13f. 66 Ebd., S. 599. 67 Ebd., S. 15. 68 Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte 1844 (Anm. 4), S. 563.

G E N U S S ALS PRODUKTIVKRAFT

Wird der Genuß-Begriff in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten und in der Deutschen Ideologie häufig verwendet, so taucht er im Kapital seltener auf, und zwar wesentlich in der Bedeutung des dem Verzehr zugeführten »Genußmittels«. Nicht »Gebrauchswert und Genuß, sondern Tauschwert und dessen Vermehrung« seien das »treibende Motiv« des Kapitalisten.69 Andererseits schafft der Fortschritt kapitalistischer Produktion nicht nur eine »Welt von Genüssen«, sondern etabliert auch einen bestimmten »Grad von Verschwendung, die zugleich Schaustellung des Reichtums und daher Kreditmittel ist«, kurz, eine »Geschäftsnotwendigkeit«.70 So zeigt sich, daß Luxuskonsum der »Produktion um der Produktion willen« keineswegs widerspricht und die Trennung zwischen einem zum Abbau der Überproduktion notwendigen »Genußtrieb« und einem produktiven »Bereicherungstrieb« eine vulgärökonomische Erfindung ist, welche die konsumtiven Bedürfnisse der Repräsentanten des nicht produzierenden, sondern nur »genießenden Reichtums«71 gegenüber den unmittelbaren Produzenten des Reichtums legitimieren soll. Daß beim älteren Marx der Bedeutungsumfang von Genuß wieder auf die herkömmliche konsumtive Dimension schrumpft, mag damit zusammenhängen, daß für die Artikulation der befreiten Gesellschaft der Genuß-Begriff in dem des Bedürfnisses aufgehoben ist: »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen«72 - eine Formel, die bereits in der Deutschen Ideologie auftauchte und hier noch im Zusammenhang mit dem Genuß-Begriff stand: Der falsche, weil auf die bestehenden Verhältnisse gegründete Satz »Jedem nach seinen Fähigkeiten«, müsse umgewandelt werden in den Satz »Jedem nach Bedürfnis; daß, mit anderen Worten, die Verschiedenheit in der Tätigkeit, in den Arbeiten, keine Ungleichheit, kein Vorrecht des Besitzes und Genusses begründet«.73 Wenn die Tätigkeiten selbst als genußvolle organisiert sind, verliert die Konsumtion ihre kompensatorische Genußfunktion.

IV. Wie Produktion und Konsumtion einen Wirkungszusammenhang im unmittelbaren Produktionsprozeß bilden, so auch im Prozeß künstlerischer Produktion, und zwar sowohl in bezug auf den Produktions- wie den Rezeptionsakt. Sobald die den Produzenten privilegierende genieästhetische Vorstellung, die den Rezipienten auf die nachrangige Stufe mehr oder weniger passiven Nachvollzugs des gebotenen »Sinns« beschränkt, an Prestige eingebüßt hat, wird deutlich, daß

Marx, Das Kapital. Erster Band (Anm. 7), S. 618. io Ebd., S. 620. 71 Karl Marx, Theorien über den Mehrwert (Vierter Band des »Kapitals«). Dritter Teil, in: MEW, Bd. 26.3, Berlin 1968, S. 46. 72 Marx, Kritik des Gothaer Programms (Anm. 23), S. 21. 73 Marx/Engels, Die deutsche Ideologie (Anm. 45), S. 528. 69

219

220

PETER JEHLE

»Lesen« wesentlich ein Tun, eine sinnproduzierende Aktivität ist, deren Resultate ins Ensemble der eigenen Lebensbezüge eingebaut werden können. Gleich der erste Roman, der den Begriff des neuen Genres mit aufgebaut hat, läßt alles Handeln aus der Lektüre entspringen, die den Ritter von der traurigen Gestalt zu seiner selbstauferlegten Mission provoziert. Solcher Eigensinn, der sich im Medium der Lektüre bilden konnte, empfing einen entscheidenden Anstoß mit dem Übergang lauten Lesens74 zu stiller, individueller Lektüre, deren Sinnproduktion sich unmittelbar äußerer Kontrolle entzog. Begreift man Lesen als Produktion, werden auch die Gegenstände, an denen sich dieses Tun entzündet, nicht länger als bloß gehorsam entgegenzunehmende Verlautbarungen großer Autoren begriffen, sondern als Angebote, sich selbst einen Reim auf die Dinge zu machen. An dieser Problematik haben Manfred Naumann und seine Mitarbeiter seit Ende der sechziger Jahre die Kategorien einer neuen marxistischen Literaturtheorie entwickelt. Das Werk Gesellschaft - Uteratur — Lesen (1973)75 ist ein Manifest des mündigen Lesers, ohne deshalb, wie oft vermutet worden ist, nur eine marxistisch reformulierte »Rezeptionsästhetik« zu sein.76 Verstanden als ein aktives »Nehmen« des Gegenstands, ein In-Gebrauch-Nehmen, mit dem das Werk »umgebaut« und so genießbar wird (GLL, S. 87), schließt der hier entwickelte Rezeptions-Begriff unmittelbar an den weiten Genuß-Begtiff an, für den diese Dimension zentral ist. Hier liegen die Werkzeuge bereit, um sich aus der Vormundschaft befugter Interpreten herauszuarbeiten. »Empfänglichkeit« wurde befreit aus der subalternen Fähigkeit zur Einfühlung in ein bereits Fertiges, womöglich Mustergültiges, dessen Repräsentanten nicht selten in einem den einfachen Bewohnern der »republique des lettres« entzogenen Prozeß ermittelt wurden. Die »großen« Werke, die »Schöpfungen« der »Weltliteratur« wurden erkennbar als aus dem »Treiben der Rede«77 sich abhebende Gestaltungen Produkte, für welche die Leser, die etwas damit anfangen konnten, nicht weniger zuständig waren als die Autoren, die den Lesern gerade dieses Angebot unterbreitet hatten. Die bisherige Fixierung auf die Beziehung Autor-Werk wurde aufgebrochen und als Prozeß literarischer Kommunikation ausgearbeitet, in dem sich der Status des Werks, aufgefaßt vom Standpunkt der Lesenden, auf den

74 Dieses war bekanntlich in den mittelalterlichen Klosterbibliotheken die Regel, nicht zuletzt wegen der ohne Satzzeichen geschriebenen Texte, deren Sinn nur durch lautes Lesen zu erschließen war. 75 Gesellschaft - Literatur - Lesen. Literaturrezeption in theoretischer Sicht, von Manfred Naumann (Leitung und Gesamtredaktion), Dieter Schlenstedt, Karlheinz Barck, Dieter Küche und Rosemarie Lenzer, Berlin - Weimar 2 1975 (im folgenden: GLL). 76 »Entgegen offenbar verbreiteter Vorstellungen lag uns nicht an der Begründung einer >RezeptionsästhetikTäter«< dazu aufruft, »die Geschichte als Prozeß nach vornhin offenzuhalten« und die in der Literatur aufbewahrten »unzeitgemäßen Erinnerungen«81 wahrzunehmen und lebendig werden zu lassen, verbindet sich heute, zehn Jahre nach der historischen Wende, mit einem neuen Sinn. Hier spricht einer, der etwas will. Selbst der »Erbe«Begriff, der lange Zeit höchstens ein Gähnen auszulösen vermochte, gewinnt eine neue Bedeutung, sobald die Leser als »Produzenten der Geschichte«82 emstgenommen werden, welche die von der Literaturgeschichte parat gehaltenen »Botschaften« sich aneignen, umbauen, in Gebrauch nehmen. Denn damit kommt das »Erbe« selbst jetzt in Bewegung, erweist sich gerade nicht als ein Fertiges, Abgeschlossenes, sondern eben als ein allererst Anzueignendes, Genießbar-zu-Machendes, etwas, dessen Gebrauchswert in den Widersprüchen der Gegenwart erst noch zu entdecken ist und sich in ihnen zu bewähren hat. »Erbe« ist das Resultat einer Bearbeitung, die es als nützlich erwiesen und damit erst als »Erbe« qualifiziert hat, das heißt als etwas, das lohnt, aufgehoben zu werden. Peter Weiss hat dieses produktiv-genießende Verhältnis zur Vergangenheit in der Ästhetik des Widerstands gestaltet, indem er einen Bildungsroman »von unten« erzählt, in dem sich die Gewinnung ästhetischer mit gesellschaftlicher Handlungsfähigkeit verknüpft. Die Kunst wird zum Medium dieses Bildungsprozesses, »Ästhetik« mithin aus ihrer Einschließung in kontemplativen »Kunstgenuß«, d. h. den Genuß der Privilegierten befreit. Die Gegenstände, von deren Aneignung die Unteren traditionell ausgeschlossen waren, werden von diesen in Gebrauch genommen, d. h., es wird gezeigt, wie eine geschichtlich neue Genußfähigkeit sich bildet: »Die Bilder erzogen uns dazu, uns nicht mit dem ersten gegebnen Aspekt zu begnügen, sondern jede Erscheinung von verschiednen Richtungen her zu prüfen, jedes Ding zu zerlegen und in seinen gefundenen Bestandteilen wieder zusammenzusetzen, d h es sich anzueignen.«83 Im Medium sinnlicher Wahrnehmung allein84 — in die Ästhetik heute vielfach aufgelöst wird, um der Reduktion auf »Kunst« zu entkommen —, die nicht als Aneignung, als ein In-Gebrauch-Nehmen — Genuß — konkret wird, kann sich keine kritische

81 Manfred Naumann, Aphoristische Bemerkungen über Literaturgeschichte und Literaturtheorie. Aus Anlaß des 75. Geburtstages von Werner Krauss, in: ders., Blickpunkt Leser, Leipzig 1984, S. 9. κ Ebd., S. 10. 83 Peter Weiss, Notizbücher 1971-1980, Bd. 1, Frankfurt/M. 1981, S. 185. 84 Vgl. stellvertretend Wolfgang Welsch, Ästhetisches Denken, Stuttgart 1990.

GENUSS ALS PRODUKTIVKRAFT

Handlungsfähigkeit bilden, d. h. kein Bewußtsein der eigenen Differenz, keine wlderständig-standhaltende Identität. Auch der Versuch von Hans Robert Jauß, die »genießende Erfahrung« der Kunst zu rehabilitieren, der Adorno das Todesurteil ausgestellt hatte,85 zielte auf die Reintegration der »kognitiven und kommunikativen Leistung« in den Begriff des ästhetischen Genusses.86 Die Frontstellung gegen Banausentum hatte eine Privilegierung »ästhetischer Reflexion als Grundlage aller Rezeption« erzeugt, die sich »primärer ästhetischer Erfahrung« gegenüber als unzugänglich erwies.87 Es hatte sich die im historischen Prozeß der Literarisierung der Theaterverhältnisse durchgesetzte Entmündigung des einfachen Zuschauers durch die professionelle Kritik wiederholt: Nicht der Spaß sollte über die Qualität eines Stückes entscheiden, sondern »ästhetische Reflexion«, deren Kategorien in der Produktion zu berücksichtigen, zumindest zur Rechtfertigung der eigenen Schreibpraxis zu zitieren waren. Dagegen sollte, so Jauß, ein Begriff von »genießendem Verstehen«, angereichert um die Komponenten des »Erkennens« und »Handelns« zurückgewonnen werden.88 So wie dem Goetheschen Faust die Erkenntnisleistung ästhetischen Genießens noch selbstverständlich war, so auch der Antike die Vermittlung von »Normen des Handelns« und damit eine »kommunikative Funktion«, »die in unserer Zeit oft leichthin unter den Verdacht der Affirmation von Herrschaftsinteressen gestellt, als bloße Verklärung des Bestehenden mißverstanden und rigoros abgelehnt wird«.89 Wenn sich diese Beschreibung »unserer Zeit« erledigt hat, so aus zwei Gründen: Zum einen hat sich das Feld kritischer Theorie seit den siebziger Jahren ungeheuer differenziert und kann nicht mehr repräsentativ in den Kategorien der einen Kritischen Theorie beschrieben werden;90 zum anderen hat das Denken in Kategorien von Herrschaftsinteressen einen Einbruch erlebt, der mit einem bestimmten ästhetischen Jargon, in dem die Vokabeln »Differenz«, »inkommensurabel« und »irreduzibel« Konjunktur haben, weniger bekämpft als ratifiziert wird. Es ist indes bezeichnend, daß Jauß zwar »Erkennen« und »Handeln« in seinen Begriff »verstehenden Genießens« einbaut,

85 W o Kunstwerke zu »Genußmitteln höherer Ordnung« werden, so Adorno, führt »der dürftige Begriff des Genusses« ein Regiment, das geeignet wäre, »Genießen einem abzugewöhnen«. So überläßt er dem Spießer das Genießen und empfiehlt dagegen das »Verstehen«: »Tatsächlich werden Kunstwerke desto weniger genossen, je mehr einer davon versteht« (Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt/M. 1972, S. 27-30). 86 Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik (Anm. 37), S. 77. 87 Ebd., S. 80. 88 Ebd., S. 82. 89 Ebd. 90 Ich denke vor allem an theoretische Entwürfe auf den Feldern der Ideologie- und Kulturtheorie, in denen Kategorien wie »falsches Bewußtsein« an den Rand gerückt sind, um der Wahrnehmung und Analyse vielfaltiger Formen kultureller Produktion Platz zu machen (vgl. Peter Jehle, Stichwort »Alltäglich/Alltag«, in: Ästhetische Grundbegriffe, hrsg. von Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhart Steinwachs und Friedrich Wolfzettel, Bd. 1: Absenz-Darstellung, Stuttgart - Weimar 2000, Sp. 125-127).

224

PETER JEHLE

nicht aber das »Arbeiten«,91 das seit der Antike im Gegensatz zu Genuß stehe, weshalb dieser Gegensatz den Begriff ästhetischer Erfahrung »von Anbeginn« geprägt habe. Um das Prinzip des »rart-pour-l'art« in seinem Anspruch, die eigentliche »Kunst« zu repräsentieren, als historisch spezifische Form zu relativieren, mag dieser Begriff »genießenden Verstehens« genügen. Aber indem »Arbeiten« vom »Erkennen« und »Handeln« abgespalten bleibt, kann auch der GenußBegriff nicht die Dimensionen einer Produktivkraft gewinnen. »Arbeiten« wird spontan-antik mit Sklavenarbeit — Erniedrigung, Verkümmerung, Genußlosigkeit — ineins gesetzt und seinem Schicksal überlassen. Aber was ist »Arbeiten« anderes als Integration von »Erkennen« und »Handeln« — Produktion, die ihrem Gehalt nach von der bestimmten gesellschaftlichen Form, in der sie stattfindet, zu unterscheiden ist? Brecht habe zwar einen Sinn für die »Wirkung von Literatur«, »doch von vornherein in der Absicht, das aufnehmende Subjekt gegen seine Neigung zur genießenden Einfühlung und ästhetischen Identifikation zu einer denkenden und kritischen Haltung zu erziehen«.92 Es ist genau diese Problemanordnung, die Brecht umbaut: Genuß wird nicht mehr der spezifischen Form von Rezeption, die als »Einfühlung« beschrieben werden kann, überlassen, sondern wird auf die Seite der Kritik — d. h. des Erkennens und Handelns — gezogen. »Wahrer Kunstgenuß ohne kritische Haltung ist unmöglich.« Der Spaß, den man im Theater haben muß, ist keineswegs der Feind der Reflexion. Hält man Gedichte für »unnahbar«, kommt man ihnen auch nicht nahe; sie lassen sich dann nicht in Besitz nehmen. »In der Anwendung von Kriterien liegt ein Hauptteil des Genusses.«93 Nur dort, wo Denken zur Ware wird, ist es mit dem Denken als Genuß vorbei. »Genußsucht« ist »eine der größten Tugenden«, meint daher Ziffel in den Flüchtlingsgesprächen: »Wo sie es schwer hat, oder gar verlästert wird, ist etwas faul.«94 Historischer Sinn, Kritik und Genußfähigkeit bilden einen Wirkungszusammenhang, mit dem durchsichtig wird, daß der wahre Genuß nicht in der Einfühlung, sondern in der denkenden und kritischen Haltung liegt. Manfred Naumann, wie Volker Braun ein Genußmensch, hat in seine Auswahl von Artikeln aus der Diderotschen Enzyklopädie nicht nur »Kaviar« aufgenommen, sondern auch »Sauerkraut«. Der Kaviar gilt hier als »gesundheitsschädlich«, das »Sauerkraut« als ein Gericht, das von den Deutschen »sehr geschätzt«

91 »Insofern ästhetisches Genießen vom praktischen Zwang der Arbeit und den natürlichen Bedürfnissen der Alltagswelt freisetzt, begründet es eine gesellschaftliche Funktion, durch die sich ästhetische Erfahrung von Anbeginn ausgezeichnet hat.« (Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik [Anm. 37], S. 82.) 92 Ebd., S. 80. 93 Bertolt Brecht, [Die kritische Haltung], in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 19, Frankfurt/M. 1967, S. 393. — Mallarmes Auffassung, wonach seine Gedichte »keine Annäherung des Lesers fordern« (zit. nach GLL, S. 67), richtete sich gegen marktkonforme Verwertung, indem er gegen das In-Gebrauch-Nehmen schlechthin war. 94 Bertolt Brecht, Flüchtlingsgespräche, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 14, S. 1483.

G E N U S S ALS PRODUKTIVKRAFT

wird und auf der »Tafel der Reichsten« wie auf dem »Tisch der Ärmsten« seinen Platz hat.95 Es ist nicht zuletzt diese Kunst, die gesellschaftlichen Verhältnisse noch im Medium des Unscheinbarsten zur Anschauung zu bringen, verbunden mit dem dafür notwendigen plebejischen Blick, welche die Lektüre der Schriften Manfred Naumanns zum Genuß macht.

95 Artikel aus der von Diderot und d'Alembert herausgegebenen Enzyklopädie, hrsg. von Manfred Naumann, Leipzig 1984, S. 723.

225

WOLFGANG KLEIN

»Der wahre Held amüsiert sich ganz alleine«1 — ? Oscar Wilde über den Sozialismus und die Seele des Menschen

I. Genuß und Egoismus hat Oscar Wilde in seinem 1891 veröffentlichten Essay Die Seele des Menschen unter dem Sozialismus2 einsichtig verbunden. Der Gedankengang ist nicht sehr überraschend für alle, die ihn als Klassiker des Dandysmus schätzen. Er hat es dennoch in sich. Der Text soll hier genau gelesen werden. Für die »Verfeinerung der Genüsse« (213) argumentiert Wilde zunächst, die zur »vollen Entfaltung einer Persönlichkeit« (219) beitragen, ja führen solle: »Was ich unter einem vollkommenen Menschen verstehe, ist jemand, der sich unter vollkommenen Bedingungen entwickelt; jemand, der nicht verwundet, getrieben oder gelähmt oder von Gefahren umringt ist.« (219) Dieser Mensch kann »sich der geistvollen Muße hingeben - denn Muße, nicht Arbeit ist das Ziel des Menschen« (228). Höchste Form genußreicher Muße ist die Kunst: »Die Kunst ist die intensivste Form des Individualismus, die die Welt kennt. Ich bin versucht zu sagen, daß sie die einzige wirkliche Form des Individualismus ist, die die Welt je kannte.« (229) Wenn für einen solchen Menschen also »Selbstverwirklichung das beherrschende Ziel seines Lebens ist« und sein soll, ist es logisch, daß ihm dieses Streben nicht als Selbstsucht angekreidet werden darf: »Egoismus besteht nicht darin, daß man sein Leben nach seinen Wünschen lebt« - er wäre erst gegeben, wenn »man von anderen verlangt, daß sie so leben, wie man es wünscht«. Wilde entfaltet diese Überlegung in einer Reihe sich immer weiter treibender, epigrammatischer Sätze: »Selbstlosigkeit heißt, andere in Frieden lassen und sich nicht in ihre Angelegenheiten mischen. Der Egoismus ist immer bestrebt, um sich herum eine absolute Gleichheit des Typus zu schaffen. Die Selbstlosigkeit erkennt die unendliche Vielfalt des Typus als etwas Kostbares an, stimmt ihr zu, geht darauf

1 Charles Baudelaire, Mon coeur mis ä nu, in: ders., OEuvres completes, hrsg. von Marcel A. Ruff, Paris 1968, S. 632. 2 Oscar Wilde, Die Seele des Menschen unter dem Sozialismus (zuerst 1891 in der Fortnightly Review), in: ders., Sämtliche Werke in 7 Bdn., hrsg. von Norbert Kohl, Frank-

»DER WAHRE HELD AMÜSIERT SICH GANZ ALLEINE« - ? ein, ja, erfreut sich daran. Es ist keineswegs egoistisch, an sich zu denken. Wer nicht an sich denkt, denkt überhaupt nicht. Es ist äußerst egoistisch, von dem Mitmenschen zu verlangen, daß er in derselben Weise denken, dieselben Meinungen haben soll. Warum sollte er das? Wenn er denken kann, wird er wahrscheinlich verschieden denken.« Alles andere bereite schließlich »kein Vergnügen« (247). Und so fort. Das »Ziel ist ein Individualismus, der sich durch Freude ausdrückt« (251). Freude-Vergnügen-Genuß ist hier ganz auf das Ego gebaut. Der zugehörige Ismus zwar bleibt in realistischer Sicht der herrschenden sprachlichen Zustände als Terminus unbeansprucht, ja einer Gegenseite überlassen. Selbsdosigkeit und unendlich vielfältige Selbstverwirklichung jedoch geben dem Begriff der zum System erhobenen Ichbezogenheit neuen Inhalt, Richtung und Ziel. Selbstsucht ist Bedingung und ist Ort von Genußfähigkeit. Diese macht den vollkommenen Menschen aus. Man kann diesen Gedanken in wenigstens vier Richtungen in die Geistesgeschichte verfolgen. Wenn der genießende Mensch anderen keine Vorschriften über Lebensart machen soll, so muß er ein aufgeklärter Mensch sein. Jeder soll hier nach seiner Fasson selig werden und, wo er handelt, den anderen den für ihre Fasson nötigen Freiraum lassen. Das reicht, über Friedrich hinaus, an Kant heran (mit dem sich der Teenager Wilde neben der Schule auch beschäftigt hat) 3 . Selbstverwirklichung der Wildeschen Art behandelt zwar noch dann des Königsbergers Mühen um Maximen allgemeinen Handelns relativ unbekümmert, wenn diese Maximen Räume für Verschiedenheit zu bestimmen suchen. Jedoch wird dieser Lebensanspruch nicht - wie es an anderen Stellen der Geschichte zu konstatieren ist und gelegentlich der Aufklärung samt ihren Jüngern generell untergeschoben wird unbedenklich gegenüber dem der anderen Menschen. Generell ist sein Anspruch nicht denkbar, bevor nicht die für die Aufklärung charakteristische »Selbstbestimmung« 4 in die Mitte des Handelns der Menschen gegenüber Natur, Gesellschaft und anderen Einzelnen gerückt ist. Wenn des weiteren Muße das Ziel des Menschen genannt wird, ist Aristoteles zitiert.5 Der hatte in seiner Suche nach den Bestimmungen des »höchsten Gutes«

furt/M. - Leipzig 2000, Bd. 7: Essays II, S. 2 1 1 - 2 5 2 (Zitate aus diesem Essay werden im folgenden mit Seitenzahlen im Text nachgewiesen). 3 Vgl. Norbert Kohl, Oscar Wilde. Leben und Werk, Frankfurt/M. - Leipzig 2000, S. 23. 4 Werner Krauss, Zur Periodisierung der Aufklärung (1955), in: ders., Das wissenschaftliche Werk, Bd. 6: Aufklärung II. Frankreich, hrsg. von Rolf Geißler, Berlin - Weimar 1987, S. 565-572, hier S. 566. 5 Vgl. Elisabeth Charlotte Welskopf, Probleme der Muße im alten Hellas, Berlin 1962, bes. S. 224-227.

227

228

WOLFGANG KLEIN Glückseligkeit 6 drei Lebensweisen unterschieden - das Genußleben, das politische Leben und das Leben der philosophischen Betrachtung. In der ersten Hinsicht identifizierte er zunächst nur »die Menge, die rohen Naturen«, das »Vieh« als jene, die »das wahre Glück in die Lust setzen«.7 Und noch am Ende galt dem Philosophen seine eigene, die »denkende Tätigkeit« als jene herausragende, »die an Seligkeit alles übertrifft«. 8 Zudem gab es »anerkannt schimpfliche Arten der Lust [...] für verderbte Naturen«. 9 Aber hinzu trat im Laufe des Überlegens die Besinnung auf die Verschiedenheit des Menschen - bis hin zu der ichbezogenen Konsequenz: »Immer wird seine seiner eigentümlichen Tugend gemäße Tätigkeit die vollendete Glückseligkeit sein.«10 Auch Wilde galten an höchster Stelle »die Dichter, die Philosophen, die Gelehrten, die Gebildeten« als »die echten Menschen« (213). Zugleich aber hätte er der aristotelischen Ermächtigung des seine Zwecke wie seine Genüsse selbst bestimmenden und wertenden Ichs, sehr im Gegensatz zu den tonangebenden seiner Zeitgenossen, kaum widersprochen. Sie lag dem Briten in Heisch und Blut, Herz und Kopf. Die Aufforderung »Sei du selbst« legte er in seinem Essay Jesus in den Mund (221). Und der letzte Satz des Textes lautet: »Der neue Individualismus ist der neue Hellenismus.« (252) Womit wir fast schon bei Nietzsche wären. Wenn zudem Kunst zu einer höchsten Form individualisierten Lebens geworden ist, in der Verfeinerung dominiert, gipfelt Kunstautonomie im Asthetizismus. Der läßt sich kaum besser bestimmen als in den Worten seines Propheten Wilde selbst: »Die Kunst betrachtet das Leben als Teil ihres Rohmaterials, gestaltet es um und faßt es in frische Formen, ist den Fakten gegenüber vollkommen gleichgültig, erfindet, imaginiert, träumt und errichtet zwischen sich selbst und der Realität die undurchdringliche Barriere aus schönem Stil, Ausschmückung oder Ideal.« »Mit einem Wort, das Leben ist der beste, der einzige Schüler der Kunst.« 11 Ermutigung zu solcherlei Paradoxa, man weiß es, hatte der Student Wilde von seinem Oxforder Professor Walter Pater bezogen. Jeder Gegenstand, hatte der im Nachdenken über die Renaissance gemeint, als sich in Frankreich gerade der Impressionismus formierte, verliere sich »im Geist des Beobachters in einer Gruppe von Eindrücken - Farbe, Geruch, Struktur«, und Pater hatte daraus gefolgert, daß »jeder Geist als einsamer Gefangener seinen

6

Aristoteles, Nikomachische Ethik (Philosophische Schriften, Bd. 3), Hamburg 1995, S. 11 (1097b, 21-23). 7 Ebd., S. 5 (1095b, 14-20). 8 Ebd., S. 253 (1178b, 22-23). 9 Ebd., S. 246 (1176a, 23-24). 10 Ebd., S. 248 (1177a, 16-17). Selbstverständlich galt: Die Glückseligkeit »erkennt niemand einem Sklaven zu, außer, es müßte auch sein Leben dem entsprechen« (ebd., 1177a, 8-9). 11 Oscar Wilde, The Decay of Lying (1889/91), in: ders., Intentions, London 1904, S. 22 und 33.

»DER WAHRE HELD AMÜSIERT SICH GANZ ALLEINE« - ?

eigenen Traum von einer Welt bewahrt«.12 Es leuchtet unmittelbar ein, daß die an solche Ermächtigung anschließende Überführung des Lebens in Kunstpraxis genußvoll sein und das Leben in Muße zur genußvollen Selbstbefriedigung machen kann. Ebenso, daß Kunstbetrachtungen, die am Gang »vom partikularen Individuum zum Selbstbewußtsein der Menschengattung« interessiert waren, in solchem »Solipsismus der Erlebniswelt« das »eigentliche Problem« verkannt sahen: »wie ohne radikale Aufhebung, ja durch eine Steigerung der partikularen — unmittelbar in sich selbst verschlossenen - Subjektivität doch der Boden einer bestimmten Objektivität und der Gemeinsamkeit [...] erreicht werden könne«.13 Für Genußkunst war Realismus ein sandigerer Boden als Ästhetizismus. Wenn schließlich der vollkommene Mensch beschworen wird, sind wir an jenem Punkt, auf den Baudelaire den Dandy stellte. Gerade dessen »ewige Überlegenheit«14 war es, die den Franzosen faszinierte. In seinen kurz vor dem Ende mit entblößtem Herzen geschriebenen, aber nicht an die Öffentlichkeit gegebenen Notizen charakterisiert »Dandysmus« den »überlegenen Menschen«, der »kein Spezialist«, sondern »Mensch der Muße und der allgemeinen Erziehung« ist, und lautet der übermenschliche Anspruch an sich selbst: »Der größte der Menschen sein, sich das in jedem Augenblick sagen.«15 Heroismus - wie er auch im Titel dieses Beitrages steht. Walter Benjamin sekundierte siebzig Jahre später mit berühmt gewordenen Definitionen: »Der Dandysmus ist der letzte Schimmer des Heroischen in Zeiten der decadence.« Und: »Der Müßiggang des Flaneurs ist eine Demonstration gegen die Arbeitsteilung.«16 Ein gutes Jahrhundert nach Baudelaire wurden das dann für einige Zeit wirkungsmächtige Gedanken. Vollkommenheit des Dandy, Kunst des Asthetizisten, Muße des Hellenisten, Aufgeklärtheit des modernen Menschen - vier Voraussetzungen für ein genußvoll auf das eigene Selbst gegründetes Leben. Aber Wilde starb mit 46 — fast auf den Tag genau so alt werdend wie Baudelaire. Was war geschehen mit der Seele von Menschen, die so früh verschwanden? Die Existenz des Dandy enthält einen Widerspruch und kann daher tragisch enden. Hiltrud Gnüg hat darauf aufmerksam gemacht: Seine »Spiritualität«, der ihn beflügelnde »Gedanke des auf individueller Auszeichnung begründeten Adels«

12 Walter Pater, The Renaissance. Studies in Art and Poetry, London 1900, S. 248. Die Schrift, in deren Zusammenfassung dieser Gedanke entwickelt war, erschien zuerst 1873 unter dem Titel Studies in the History of Renaissance. Pater berichtet in der hier zitierten 6. Auflage, S. 246, daß er diesen Schluß in der 2. Auflage gestrichen habe - »als ich begriff, daß er einige jener jungen Leute, denen er in die Hände fallen könnte, möglicherweise fehlleiten würde«. Immerhin nahm er ihn noch vor dem Tod von Königin Victoria, wenn nun auch leicht bearbeitet, wieder in sein Buch auf. , s Georg Lukäcs, Die Eigenart des Ästhetischen (1963), Textrevision: Jürgen Jahn, Berlin - Weimar 1981, Bd. 1, S. 540, 568f. 14 Baudelaire, Mon cceur mis ä nu (Anm. 1), S. 632. •5 Ebd., S. 634,642. 16 Walter Benjamin, Das Passagenwerk (1927/39), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 5, hrsg. von Rolf Tiedemann, Frankftirt/M. 1982, S. 969, 538.

230

WOLFGANG KLEIN

gründen auf »Selbstreflektiertheit«, fordern die »Maske«, enthalten »das ironische freie Bewußtsein der eigenen Unfreiheit«. Damit aber gilt: die »Überwachtheit eines Bewußtseins [...] läßt Leben als erfüllten Augenblick kaum zu«.17 Die Existenz des Dandys ist in jedem Augenblick kalte Anstrengung. Dandy zu sein ist nicht genußvoll. Der Dandy ist Inszenierung gegenüber der Gesellschaft. Er braucht die Gesellschaft, über die er sich verachtungsvoll stellt. Damit sind wir an dem Punkt, an dem die Geistesgeschichte nicht ausreicht, um den Dandy zu begreifen. Von hier aus läßt sich erklären, daß der Dandy Wilde die Seele des Menschen mit dem Sozialismus zu verquicken suchte.

II. Die deutschen Exegeten scheint die von Wilde gezogene Verbindung eher aus dem Gleichgewicht gebracht zu haben.18 Der Essay sei ja ersichtlich »als Sympathieerklärung zu verstehen«, konstatierte das DDR-Lexikon fremdsprachiger Schriftsteller vor zwanzig Jahren freundlich — um dann aber schaudernd fortzufahren: Es »läßt sich gleichwohl erkennen, daß W. Sozialismus und schrankenlosen Individualismus gleichsetzte«.19 Dahinter stand die »materialistisch« sich nennende Überzeugung: »Der Mensch kann sich erst in Gesellschaft vereinzeln. Die Menschen produzieren ihr Leben notwendig gesellschaftlich und können es nur gesellschaftlich sichern.«20 Der Essay sei, schrieb dagegen zur gleichen Zeit wie der Lexikon-Autor in der DDR der Wilde-Herausgeber in der alten Bundesrepublik (und ließ es im Jahr 2000 unverändert wieder drucken), die »Gelegenheitsschrift eines bürgerlichen Radikalliberalen«, verfaßt »aus der Perspektive des Droschkenbenutzers, der gelegentlich auch die weniger vornehmen Viertel Londons passierte«. Das wiederum vereinseitigende Bestreben sprach sich auch hier klar aus: den mit einigem Schulterklopfen für »romantisches Freiheitsdenken« und »humanitäres Engagement« immerhin versehenen Text diesmal nun in einer entgegengesetzten

17 Hiltrud Gnüg, Dandy, in: Karlheinz Barck u. a. (Hrsg.)., Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch, Bd. 1, Stuttgart - Weimar 2000, S. 816, 818,823,821. 18 Von Ausnahmen abgesehen, die sich zwar nur ungenau an den Titel erinnern konnten, es vor allem aber »verständlich« fanden, daß »der Dorian Gray und Der Sozialismus und die Seele des Menschen von demselben Autor und mit einheitlichem Impetus geschrieben werden konnten« - dem der »Epochenkritik« (Nachwort, in: Wolfgang Asholt/Walter Fahnders [Hrsg.], Fin de siecle. Erzählungen, Gedichte, Essays, Stuttgart 1993, S. 429). 19 Helmut Findeisen, Oskar Wilde, in: Lexikon fremdsprachiger Schriftsteller, Bd. 3, Leipzig 1980, S. 545. 20 Georg Auernheimer, Altruismus/Egoismus, in: Hans-Jörg Sandkühler (Hrsg.), Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, Hamburg 1990, Bd. 1, S. 101.

»DER WAHRE HELD A M Ü S I E R T SICH GANZ ALLEINE« - ?

Bewegung zu retten — ihn aus der Perspektive des »utopischen Gesellschaftsentwurfs« in den Zusammenhang »der ästhetischen Theorie des Autors« zu rükken.21 Die jüngst vom selben Verfasser veröffentlichte Biographie geht diesen Weg weiter. Wildes Nachdenken über die Seele des Menschen unter dem Sozialismus wird da zusammenfassend »aus einer ganz persönlichen Betroffenheit« erklärt: als »Plädoyer für die sexuelle Selbstbestimmung einer stigmatisierten Minorität und zugleich als Bekenntnis zur Freiheit des Künsders von allen kunstjenseitigen Ansprüchen«.22 Die Erinnerung an zeitgenössische sozialkritische Romane und Reportagen, an die Fabian Society und William Morris verdeutlicht immerhin den denkerischen Kontext, in dem Wilde schrieb (daß dem jungen Stutzer ein starkbärtiger älterer Herr namens Marx noch leibhaftig hätte vor die Droschke kommen können, bleibt allerdings unerwähnt). Aber seine Schrift wird, wie in jüngerer Zeit üblich geworden, so unpraktisch zurückgestutzt, wie sie auch oben präsentiert worden ist. Wildes Titel benannte jedoch exakt die beiden Reflexionsebenen, die der Text dann entwickelte - es ging um die Seele des Menschen, und es ging um den Sozialismus. Diese zweite Schicht ist daher jetzt zu rekonstruieren. Auf den Sozialismus kommt Wilde wie viele andere seiner Zeitgenossen: indem er die Augen nicht verschließt vor der Unmenschlichkeit der kapitalistischen Industrialisierung. Das eingangs zitierte Wort von der Verfeinerung der Genüsse steht im Kontext einer scharf formulierten Polemik gegen »die unabweisbare, widervernünftige, erniedrigende Tyrannis der Not«, durch die dem Lebensbereich der Armen »jede Grazie, jede Anmut der Rede, jegliche Zivilisation oder Kultur, jede Verfeinerung der Genüsse und jede Lebensfreude« fehle (213). Der Sozialismus gewinne seinen Wert als Negation dieser gegebenen Realität. »Es wird keine Menschen mehr geben, die in stinkenden Höhlen mit stinkenden Fetzen bekleidet wohnen und kränkliche, durch den Hunger verkümmerte Kinder inmitten einer unmöglichen, widerwärtigen Umgebung großziehn. [...] Wenn Frost kommt, werden nicht mehr hunderttausend Männer ihre Arbeit verlieren und im Zustand abscheulichen Elends durch die Straßen irren oder ihre Nachbarn um ein Almosen anbetteln oder sich vor den Toren der ekelhaften Asyle drängen, um sich ein Stück Brot oder ein verwahrlostes Obdach für die Nacht zu sichern.« (212) Das Zentrum der Veränderung benannte Wilde wie damals auch andere: Der Sozialismus werde »durch die Umwandlung des Privateigentums in allgemeinen Wohlstand und indem er anstelle des Wettbewerbs die Kooperation setzt, der Gesellschaft den ihr angemessenen Zustand eines gesunden Organismus wieder-

21 22

Norbert Kohl, Nachwort, in: Wilde, Sämtliche Werke (Anm. 2), Bd. 7, S. 272f., 271. Kohl, Oscar Wilde (Anm. 3), S. 122.

232

WOLFGANG KLEIN

geben« (213). »Das wahre Ziel heißt«, formulierte der Ästhet das Prinzip, »die Gesellschaft auf einer Grundlage neu zu errichten, die die Armut ausschließt« (212). Es schiene mir unangemessen, diese Sätze wegen ihrer praktischen Vagheit oder wegen ihres Parfumgehalts abzuwerten. Der ethische Kompaß dieses Dandys funktionierte tadellos. Drei weitere Überlegungen, auf die kurz hinzuweisen ist, verdeutlichen das zusätzlich. Wilde sah nicht nur, gar selbstbespiegelnd, in denkerischer Aktivität das Höchste — er machte Vorschläge, wie solche Würde für alle erreichbar werden könnte. »Viele Arbeiten«, wußte er auch ohne genaue Einblicke in die Industrieproduktion, »sind völlig freudlose Tätigkeiten und sollten auch als solche betrachtet werden. Eine schmutzige Straßenkreuzung während acht Stunden des Tages bei scharfem Ostwind zu fegen, ist eine widerliche Beschäftigung. Sie mit geistiger, moralischer oder körperlicher Würde zu fegen, scheint mir unmöglich.« (227) Das Mittel, dem abzuhelfen, sah der Ästhet in der Maschine. Bisher habe die Maschine das Elend der Menschen oft noch erhöht, da sie sie arbeitslos machte. »Dies ist jedoch nur das Ergebnis unserer Eigentumsordnung und unseres Wettbewerbssystems.« Rationalisierung - um den heutigen Terminus für die angesprochene Sache zu verwenden — müsse dagegen so verwirklicht werden, daß nicht mehr der Mensch »der Sklave der Maschine« (227) sei, sondern »die Maschine dem Menschen« (227f.) diene. Dies werde möglich, wenn die »Maschine das Eigentum aller« sei. Dann könne das Prinzip verwirklicht werden: »Jede mechanische Arbeit, jede einförmige, stumpfsinnige Arbeit, jede Arbeit, die aus schrecklichen Verrichtungen besteht und unter unwürdigen Bedingungen ausgeführt wird, muß von Maschinen geleistet werden.« (227) Der bereits zitierte Gedanke über die Muße als Ziel des Menschen Schloß hier unmittelbar an: sie sollte, wie bei Marx, möglich werden durch die mittels der Maschinen gewonnene Zeit. Wildes ästhetizistischer Antiökonomismus erweist in solch realitätsbezogener Begründung allgemeine humane Qualität. Zu Wildes Bild des realen Kapitalismus gehörte des weiteren, nach der zentralen Verelendungskritik, die Ablehnung des Gewinnfetischismus als kulturabwürgend. Die »Anerkennung des Privateigentums«, die »den Menschen mit seinem Besitz gleichsetzt«, konstatierte er, habe »bewirkt, daß Gewinn, nicht Wachstum sein Ziel wurde. So daß der Mensch meinte, das Wichtigste sei das Haben, und nicht wußte, daß es das Wichtigste ist, zu sein. Die wahre Vollendung des Menschen liegt nicht in dem, was er besitzt, sondern in dem, was er ist.« (217f.) Wilde präsentierte diesen Gedanken noch im Bezug auf die Einzelnen, denen durch das Gewinnstreben die rechte Einstellung fehle. Möglicherweise hat seine Relevanz aber auch für die Orientierung der Kultur von Gesellschaften inzwischen nicht abgenommen — auch wenn sozialer Wohnungsbau, Schlechtwettergeld und manch anderes zumindest in den reicheren Gegenden der Verelendung gewehrt und die Profitwirtschaft sozialer gestaltet haben, als sie Wilde noch vor Augen war.

»DER WAHRE HELD AMÜSIERT SICH GANZ ALLEINE« - ?

Schließlich: Nicht nur diese letzteren Veränderungen haben die Argumente fur Sozialismus nach der Zeit entschärft, in der Wilde seinen Text schrieb. Auch in dessen eigener Geschichte ist die Abschaffung der Armut, soweit sie gelang, nicht das einzige Ereignis geblieben - der Sozialismus hat Unmenschlichkeit neu produziert, statt sie abzuschaffen. Es spricht für Wildes scharfen sozialen Verstand, daß seine Leser bereits hingewiesen wurden auf die Gefahren, die im Stalinismus dann Realität werden sollten. »Wenn der Sozialismus autoritär ist«, wußte Wilde, »wenn Regierungen mit ökonomischer Macht ausgestattet werden, so wie sie jetzt mit politischer Macht ausgestattet sind, wenn wir mit einem Wort eine Industrietyrannis bekommen sollten, dann wäre der neue Status des Menschen schlimmer als der bisherige.« (213) Direkt an die sibirischen Arbeitslager kann man denken. »Während unter dem gegenwärtigen System eine sehr große Zahl von Menschen ihrem Leben eine gewisse Fülle von Freiheit und Ausdruck und Glück zu verleihen vermag, würde unter einem industriellen Kasernensystem oder einem System der ökonomischen Tyrannei niemandem mehr eine solche Freiheit verbleiben.« (216) Wilde wußte und schrieb: »Es ist also klar, daß der autoritäre Sozialismus zu nichts führt.« (216) Der Sozialismus nun, auf den der Dandy sich dennoch einlassen wollte, war rebellischer, und er war anarchischer Natur. Fünf Axiome zur Notwendigkeit der Rebellion. »Wer die Geschichte gelesen hat, weiß, daß Ungehorsam die ursprüngliche Tugend des Menschen ist.« (215) Dann, von der Anthropologie in die soziale Praxis springend: »Der Mensch sollte sich nicht zu dem Beweis erniedrigen, daß er wie ein schlecht genährtes Tier leben kann. Er sollte lieber stehlen oder ins Armenhaus gehen, was viele für eine Form des Diebstahls halten. Was das Betteln betrifft:, so ist Betteln sicherer als Stehlen, aber es ist anständiger zu stehlen, als zu betteln.« (215) Weiter verallgemeinernd auf dem Wege weg vom Rechtsstaat: »Ich begreife wohl, daß ein Mann Gesetze annimmt, die das Privateigentum schützen und seine Anhäufung gestatten, solange er unter diesen Bedingungen seinem Leben eine gewisse Schönheit und Geistigkeit zu geben vermag. Doch es ist mir beinahe unverständlich, wie jemand, dessen Leben durch diese Gesetze zerstört und verunstaltet wird, ihren Fortbestand ruhig mit ansehen kann.« (215) Viertens, da die Armen und Elenden oft so völlig erniedrigt und gelähmt sind: »Was mächtige Arbeitgeber gegen Agitatoren sagen, ist fraglos wahr. Agitatoren sind Eindringlinge, die in eine vollkommen zufriedene Gesellschaftsschicht einbrechen und die Saat der Unzufriedenheit unter sie säen. Das ist der Grund, weshalb Agitatoren so absolut notwendig sind.« (216) Und schließlich, aus anderer Perspektive erneut auf die Selbstbestimmung gerichtet: »Ein Armer, der undankbar, nicht sparsam, unzufrieden und rebellisch ist, ist wahrscheinlich eine echte Persönlichkeit, und es steckt viel in ihm. [...] Was die tugendsamen Armen betrifft«, so haben sie »mit dem Feinde gemeinsame Sache gemacht und haben ihr Erstgeburtsrecht für eine sehr schlechte Suppe verkauft. Sie müssen außerdem äußerst dumm sein.« (215) Wilde war nicht arm und entschieden kein Agitator. Die Gesetze schützten, vorerst, seine Geistigkeit,

233

234

WOLFGANG KLEIN

und stehlen mußte er nicht — höchstens borgen. Der ursprüngliche Ungehorsam des Menschen hatte bei ihm schöngeistige Form gewonnen, oder jedenfalls erhalten. Nur schwärmerisch war diese Art der Rebellion deshalb nicht, und sollte sie nicht genommen werden. Anarchisch war Wildes Sozialismus, weil unter ihm — wie er hoffte —, »die Persönlichkeit des Menschen [...] keine anderen Gesetze als die eigenen anerkennen [wird]; keine andere Autorität als die eigene« (220). Wer die Selbstbestimmung so hoch hielt wie Wilde, mußte alle Formen von fremder Herrschaft, Regierung, ja Autorität in Frage stellen, mehr noch: sie ablehnen. »Die Menschheit regieren, das kann man nicht. Alle Arten des Regierens erweisen sich als Mißgriff« — ob Despotismus, Oligarchie, Ochlokratie oder Demokratie (224f.). »Denn jede Autorität erniedrigt. Sie erniedrigt gleichermaßen Herrscher und Beherrschte.« (225) Zu der allgemeinen Sympathie für »den Geist der Revolte und den Individualismus« (225) gehörte die Warnung vor der »furchtbar demoralisierenden« Wirkung besonders einer großzügig ausgeübten Herrschaft — nochmals ein nicht nur historischer Gedanke: »In diesem Fall werden sich die Menschen des furchtbaren Druckes, der auf ihnen lastet, weniger bewußt und gehen in einer Art von vulgärem Wohlbehagen durch das Leben wie zahme Haustiere, ohne jemals zu erkennen, daß sie [...] nach den Normen anderer Menschen leben [...] und niemals, auch nicht einen Augenblick lang, sie selbst sind.« (216) Im Sozialismus solle demgegenüber jedem »die Freiheit belassen werden, seine Arbeit selbst zu wählen. Keinerlei Zwang darf auf ihn ausgeübt werden.« (216) Für den Staat blieb dann nur noch eine Aufgabe: Er sollte »ein unabhängiger Erzeuger und Verteiler lebensnotwendiger Waren sein. Sache des Staates ist es, das Nützliche zu schaffen. Sache des Individuums ist es, das Schöne hervorzubringen.« (226) Von dem realpolitischen Einwand, daß Gemeinwesen solcher Art - sollten sie überhaupt eingerichtet werden - an Interessengegensätzen und Produktionsunzulänglichkeiten zugrunde gehen müßten, fühlen Konstrukteure solcher Welten sich nicht betroffen: Sie rechnen mit den vollkommenen, nicht mit den real existierenden Menschen und halten Struktur- wie Motivationsfragen damit für erledigt. Es ist dies ein eminent gesellschaftsbezogenes Denken. Allerdings keines der gewohnten Art, das detaillierte Aufmaße der Wege von der fundamentaloppositionellen Gegenwartsanalyse zu der individualitätsgegründeten Zukunftsvision mitliefern wollte oder würde. Der Rationalitätsgehalt der Revolte, die den Umschlagplatz einnimmt, ist bei Wilde ähnlich gering wie bei Breton oder auch, genau betrachtet, bei Lenin.23 Vom Reich der Notwendigkeit in das der Freiheit

Vgl. Wolfgang Klein, Des revolutionnaires cyniques? Camus sur Hegel, Marx et Lenine, in: Revue des Lettres Modernes, 1993, Albert Camus 15, S. 123-151. 23

»DER W A H R E HELD A M Ü S I E R T S I C H GANZ ALLEINE« - ?

gelangt man sprunghaft. Auf dieses utopische Moment ist nochmals zurückzukommen. Zuvor ist festzuhalten: In einer wohlstrukturierten und ethisch anspruchsvollen Denkbewegung entwirft Wildes Essay einen Sozialismus, Vinter dem die Seele des Menschen zu sich selbst zu kommen vermag. Dieses Gewinnen von Selbstbestimmung - Individualismus, wohlverstandenem Egoismus - ist genußorientiert und verwirklicht sich in ästhetisiertem Leben. Sozialismus ist fur Wilde tatsächlich schrankenloser Individualismus - aber der Autor bietet denkerische Möglichkeiten an, davor nicht schlicht zu erschrecken. Sozialismus bestimmt sich für Wilde tatsächlich in unlösbarem Zusammenhang mit ästhetischer Theorie und Lebenspraxis — aber der Gedanke an eine ästhedsierte Formierung von Gesellschaft ist wesentlich Sozialkritik und Aufruf zur Revolte. Da der Dandy wußte und fühlte, daß er die Gesellschaft zu seiner Selbsterschaffung brauchte, suchte er sie auf seine Besonderheit hin einzurichten. »Der Hauptvorzug, den die Herrschaft der sozialistischen Gesellschaftsordnung mit sich brächte, liegt ohne Zweifel darin, daß der Sozialismus uns befreien würde von dem gemeinen Zwang, für andere zu leben.« (211) So der erste Satz des Textes. Dazu, mehrfach variiert, der programmatisch zentrale: »Der Sozialismus [wird] einfach deshalb von Wert sein, weil er zum Individualismus führt« (213, ähnlich 224, 251). Wildes Verbindung von Seele und Sozialismus war kein Spiel mit unvereinbaren Impressionen. Ihre Logik ist ohne Fehl und voll existentiellen Ernstes. Ästhetik und Gesellschaftsentwurf bildeten ein neues Ganzes jenseits des gegebenen bestimmt von den Genüssen der sich selbst verwirklichenden Einzelnen. Wenn nicht die Massen gegen die bestehenden Verhältnisse aufständen, reformulierte später ζ. B. Carl Sternheim Wilde, dann werde eben »die revolutionäre Entität, das heißt das anti-autoritäre Individuum — das niemals Goethe oder Schiller, nicht einmal Gerhart Hauptmann sein wird - [...] die Fundamente der Gesellschaft erschüttern«.24 Wäre es so gekommen, hätte sich allerdings die Spannung verflüchtigt, aus der der Dandy lebte. Schon eine Abendgesellschaft voller Dandys, ohne die umschwänzelnde Dummheit des Restes, ist schwer vorstellbar. Wieviel weniger noch eine Gesellschaft. Allein — davor bewahrte zuverlässig die Realgeschichte, mit den Erfordernissen, Interessen, Beschränktheiten und Exzessen des Ordnungs- und Normalitätsverlangens.

24 Carl Sternheim, Oscar Wilde, in: La Revue Europeenne 28 (Juni 1925), S. 2. Der Artikel steht im Zusammenhang mit Sternheims 1925 bei Max Reinhardt aufgeführtem

Stück Oscar Wilde.

235

236

W O L F G A N G KLEIN

III. Was voraufging, ist - wie nun einzugestehen bleibt — das mit anderen Darstellern produzierte Remake eines vor zehn Jahren schon einmal inszenierten Stückes. Zum 65. Geburtstag Manfred Naumanns betrachtete ich das Verhältnis der revolutionären Arbeiterbewegung zum Dekadentismus der 1880er Jahre. Die damalige Perspektive war zur jetzigen gegenläufig - nicht der Dandy, der auf den Sozialismus schaut, sondern der Sozialist, der konstatiert, daß der »Niedergang der revolutionären Arbeiterbewegung, den wir heute durchleben«, auch mit der Unfähigkeit dieser Bewegung zu tun hat, »plaisir statt Arbeit sowie eine Elitekultur als Fortschrittsgarant« als gesellschaftsverändernde Gewalten zu begreifen und solidarisch zu behandeln.25 Der Unterton dieser Betrachtung war entsagend. Vorgetragen wurde sie vierzehn Tage nach dem genannten Geburtstag, fünfzehn Tage nach dem Vollzug des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik und zehn Tage nach jener Evaluierung des von Manfed Naumann geleiteten Instituts, die der Leiter der Gutachtergruppe mit der sicher entspannend gemeinten Erläuterung eröffnet hatte, hier laufe ein in der bisher nur westlichen Republik ganz üblicher Vorgang ab. Die Institutsvollversammlung lag da schon etliche Monate zurück, auf der der Direktor — kurz darauf von gut zwei Dritteln seiner Mitarbeiter basisdemokratisch im Amt bestätigt - klarzumachen versucht hatte, daß wir Anwesenden alle im Ergebnis der zu begrüßenden neuen sozialen Bewegung in der DDR mit unwiderstehlicher Gewalt »aus unseren Nischen ausgetrieben« werden würden. Für die freundliche Bemerkung des Evaluierers genügte folglich ein ironischer Nebensatz, das Institut verschwand — wie zu erwarten — ein gutes Jahr später von der Bühne, und den Versäumnissen einer erledigten sozialen gegenüber einer immer höchstens marginalen ästhetischen Bewegung nachzuspüren, kann diesem kühlen Kopf in solcher Zeit, wenn nicht überhaupt, nicht anders als naiv erschienen sein. Wir sind schon wieder dicht bei Wilde. Vierzig Jahre seines Lebens lang verhielt der sich eben so. »Die Welt haßt den Individualismus. Aber das soll sie [die Freunde Jesu] nicht bekümmern. Sie sollten gelassen in sich ruhen.« (222) »>Wer frei sein willdarf sich nicht anpassen/« (225) Denn »die öffentliche Meinung ist von keinerlei Wert« (222). Die Rede ist hier natürlich von der inneren Freiheit. Sie ist die eigentliche, wenn nicht einzige. Nach außen ist sie deutlich zu machen. Aber nicht zu detaillieren. Im einundvierzigsten Jahr, am l.März 1895, erwirkte Oscar Wilde einen Haftbefehl gegen den Vater seines Geliebten. Der vermochte die angebliche

25 Wolfgang Klein, Wir und die Dekadenz. Zur Geschichte eines nicht nur ästhetischen Begriffes, Beitrag zum Geburtstagskolloquium der Berliner Akademie der Wissenschaften für Manfred Naumann, 18. Oktober 1990, Manuskript, S. 1 und 5.

»DER W A H R E HELD A M Ü S I E R T S I C H GANZ ALLEINE« - ?

Verleumdung, Wilde nehme unzüchtige Handlungen mit einer anderen männlichen Person vor, mit wenig Mühe als Tatsache zu beweisen, die Gesetze griffen, und keine drei Monate später war der Ästhet zu jenen zwei Jahren Gefängnis mit Zwangsarbeit verurteilt, die ihn zugrunde richteten. Wie nur konnte Wilde, »höchst fahrlässig«, den »verhängnisvollen Schritt«26 der Anzeige tun? Nichts war geschehen, als daß der Pförtner seines Klubs ihm in einem Umschlag eine schwer entzifferbare Visitenkarte übermittelt hatte, auf der der empörte Vater nicht einmal das Wort »Sodomit« richtig geschrieben hatte. Kein öffentlicher Skandal, bei dem der Handschuh unumgänglich hätte zurückgeschleudert werden müssen. Wie konnten »eine emotionale Gemengelage«, »Selbstüberschätzung« und »tiefenpsychologische« Verknüpfungen von »Schuldgefühlen« und Selbstbestrafungsdrängen, gar eine »Wahnvorstellung«27 den Dandy derart überwältigen, seine definitorisch vorgegebene Selbstbeherrschung so völlig außer Kraft setzen? Er hätte sich kühl ausrechnen können, was geschehen werde, mobilisierte er die verachtete Öffentlichkeit zu seinen Gunsten, statt weiter maskiert zu genießen. Ab mit der Visistenkarte in den Papierkorb, das nächste Stück wird wieder ein Erfolg, und die Freiheit, auf die es ankommt, bleibt erhalten. Was immer Wilde in jenen Tagen durch den Kopf ging: Seine Entscheidung ließe sich aus einer geordneten Folge von Überlegungen erklären (um nicht zu sagen: war rational). Denkt man an Die Seele des Menschen unter dem Sozialismus, so ist Wildes Anzeige gegen John Sholto Douglas, Marquess of Queensberry, zu verstehen als Versuch zur sprunghaften Einführung des Sozialismus in Großbritannien. Keine anderen Gesetze als die eigenen sollen mehr anerkannt werden. Niemand soll sich in das Genießen der anderen mischen. Und alle sollen so genießen dürfen, wie sie es wünschen. Den Ungehorsam an die Macht. »Ist das utopisch? Eine Weltkarte, die das Land Utopia nicht enthielte, wäre nicht wert, daß man einen Blick darauf wirft, denn auf ihr fehlte das einzige Land, in dem die Menschheit immer landet. Und wenn die Menschheit dort gelandet ist, hält sie wieder Ausschau, und sieht sie ein schöneres Land vor sich, setzt sie die Segel. Fortschritt ist die Verwirklichung von Utopien.« (228) Die Landung ging schief. Von keinem Gericht Ihrer Majestät war zu verlangen, daß es den Wind für solche Törns blasen würde. Auf keine Karte ließ sich Utopia zwingen. Wilde hatte vielmehr zu erfahren, wie tief irrig seine Annahme war: »Schließlich kann der Mensch auch im Gefängnis frei sein. Seine Seele kann frei sein. Seine Persönlichkeit kann unbehelligt bleiben. Er kann mit sich in Frieden sein.« (222) Die widerlichen Arbeiten, die der Würde keinen Raum lassen nun hatte er sie zu verrichten.

26 27

Kohl, Oscar Wilde (Anm. 3), S. 207. So sein Biograph in: ebd., S. 207f.

237

238

W O L F G A N G KLEIN

In dem einzigen literarischen Text,28 zu dem Wilde nach der Endassung aus der Haft die Kraft noch fand, stehen die Strophen: Ich weiß nicht: sind Gesetze gut Oder sind Gesetze arg? Wir Zuchthäusler wissen eines nur: Gefängnismauern sind stark. Und ein einziger Tag gleicht dort einem Jahr Einem Jahr, das die Ewigkeit barg. Und sicher weiß ich, daß jedes Gesetz, Das der Mensch für den Menschen ersann, Seit das Böse in dieser bedrückenden Welt Durch Brudermord damals begann, Dem Sieb gleicht, mit dem man statt wertvollem Korn Nutzlose Spreu nur gewann. Und das weiß ich auch - und es wäre gut, Wüßt es die ganze Welt - , Daß Zuchthausmauern, von Menschen gebaut, Nur die Schande zusammenhält Und Gitter verhindern, daß Christus es sieht, Wie der Mensch seinen Bruder dort quält. Die Frage bleibt, ob mit solchen Erfahrungen auf das Setzen der Segel ewig zu verzichten sei. Zumindest nicht, scheint mir, auf das Erinnern an die Erfahrung, daß es Heroismus und vielleicht das Leben fordern kann, sich alleine zu amüsieren — dann, wenn man damit ernst zu machen, das heißt, den Genuß in die Gesellschaft zu tragen versucht.

28 Oscar Wilde, Die Ballade vom Zuchthaus zu Reading, in: ders., Sämtliche Werke (Anm. 2), Bd. 5: Gedichte, S. 226f.

HELMUT PFEIFFER

Dilettantismus und autoritäres Erzählen Zur Problematik der konservativen Revolution bei Maurice Barres Goethes Gedichte kann man nur richtig verstehen, fand ich, wenn man durch die Hügellandschaft Thüringens reist, und Caspar David Friedrichs romantisches Genie erst dann ganz begreifen, wenn man seine Bilder mit ihren bescheidenen Vorlagen, etwa in Eldena, vergleicht. [...] Ich habe erst auf diesen Reisen begriffen, wo zumindest wir norddeutschen Protestanten die Fundamente unserer Identität finden, und so war jede dieser Erkundungsfahrten eine Heimkehr, ein Stück glücklicher Wiederentdeckung eigener Wurzeln [...]. Arnulf Baring, Deutschland, was nunP

Mein Thema ist — oberflächlich und auf den ersten Blick — ein in der Literatur und Kulturkritik des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts häufig variierter Sachverhalt: der Umschlag vom Ästhetizismus (oder Dilettantismus) in einen nationalistischen Konservativismus, damit die Ablösung einer genußorientierten Poetik der Selbstkultur durch einen Habitus autoritären Erzählens. Als Paradigma wähle ich Maurice Barres und seine fiktionalen Durcharbeitungen dieses Umkippens — nicht nur, weil es sich um historisch frühe Beispiele handelt, sondern weil sie sowohl rückwärtsgewandt als auch nach vorne gerichtet lesbar sind und deshalb das Problem zugespitzt erkennen lassen. Für eine Geschichte der »Prosa in Frankreich« 2 hat es einen Indexwert, der allerdings angesichts der bedenklichen politischen Karriere des Autors im allgemeinen nicht wirklich artikuliert wird. Barres erschien den Zeitgenossen aufgrund seiner frühen Romantrilogie Le culte du moi als Fürst einer ganzen Generation; seine spätere Trilogie des Raman de l'energie nationale wurde von einem unverdächtigen Zeugen wie Louis Aragon als der Anfang des modernen politischen Romans (»les premiers exemples en France du roman politique moderne« 3 ) ausgezeichnet; Barres ist ein Autor, für dessen unmittelbare epochale Wirkung nicht nur die ihm gewidmeten Bücher von Albert Thibaudet und Ernst Robert Curtius sprechen, sondern beispielsweise auch der literarische Schauprozeß, den die Surrealisten gegen ihn

Arnulf Baring, Deutschland, was nun?, Berlin 1991, S. 47. Manfred Naumanns einschlägiges Buch Prosa in Frankreich. Studien %um Roman im 19. und 20. Jahrhundert (Berlin 1978) ist so angelegt, daß es für Ergänzungen offen ist. 3 Louis Aragon, En guise de preface, in: L'oeuvre de Maurice Barres, hrsg. von Philippe Barres, 20 Bde., Bd. 2, Paris 1965, S. XI-XVI, hier S. XIV. 1

2

240

HELMUT PFEIFFER

inszenierten. Walter Benjamin hat in seinem Aufsatz Zum gesellschaftlichen Standort des französischen Schriftstellers (1933/34), in dem es zentral um die krisenhafte »Funktion des Intellektuellen in der Gesellschaft« geht, noch einmal betont, daß Barres' »Einfluß auf die Intelligenz der Vorkriegsjahre entscheidend war«, daß seine »Gedankenwelt« enge »Verwandtschaft mit den Lehren zeigt, die die Gegenwart überall hervorbringt«,4 schließlich - und nicht zuletzt - , daß der »Radikalismus als politische Partei« sich die Probleme wie Barres, aber gewissermaßen unter Umkehrung des Vorzeichens, stellt, »nur daß er sie im entgegengesetzten Sinne beantwortet«.5 Bei Licht besehen, ist Barres gegenwärtig vielleicht weniger ein vernachlässigter als ein verdrängter Autor. Die Aragonsche Auszeichnung ist schon deshalb nicht verächtlich, weil sie von einem Autor kommt, der am anderen Ende des politischen Spektrums stand - aber auch deshalb, weil sie retrospektiv den unsicheren Ort der Politik im Roman des 19. Jahrhunderts illustriert: die Sektion der Scenes de la vie politique in den Etudes de maurs der Balzacschen Comedie humaine ist eine offenkundige Verlegenheit, und bekanntlich hatte Stendhal — auch wenn er sich in seinen Romanen nicht an seine Einschätzung hielt — in Racine et Shakespeare die Politik in der Literatur mit einem Pistolenschuß im Konzert verglichen, welcher die delikaten Genüsse der Dichtung vernichte:6 Auch wenn man Flauberts Education sentimentale zweifellos zu Recht für einen Roman der Revolution von 1848 hält, ermißt man den Weg, der zurückzulegen war, bis Barres über seinen Roman Leurs figures sagen konnte, er stelle Politiker ohne Rückgriff auf ihr Privadeben, d. h. ausschließlich in ihrer politischen Identität, dar.7 Der Roman wird damit gewissermaßen ganz zu dramatisierter Politik. Im Vordergrund meiner Überlegungen steht weder die Ideologiegeschichte des französischen Nationalismus (in der Barres allerdings eine bedeutende Rolle spielt)8 noch auch jene lose Kategorie der >Ästhetisierung der Politikdreieckigen< Begehrens, eines sowohl unumgänglichen wie in seiner Spezifik kontigenten und deshalb verhängnisvollen »desir selon 1'autre«.10 (2) Der zweite Roman des Zyklus, L.'appel au soldat, hat seinen Schwerpunkt nicht mehr in den Biographien seiner fiktiven Ausgangsprotagonisten, sondern in einer Episode der Zeitgeschichte, in die der Autor als Parlamentsabgeordneter selbst verstrickt war und die sich als Vorform, sozusagen als figura der DreyfusAffäre auffassen läßt: die, je nach Blickwinkel, Tragödie oder Farce des Boulangismus, jenes Versuchs der nationalistischen Opposition, mit Hilfe des Generals Boulanger die Macht an sich zu ziehen und Frankreich eine autoritäre Verfassung zu verleihen. Indem die historische Figur Boulanger ins Zentrum rückt, bindet sich die Erzählung an die Vorgabe einer historischen Ereignisfolge, die fiktiven Protagonisten der Deracines rücken zunehmend an den Rand; zum Teil partizipieren sie am politischen Geschehen, vor allem aber fungieren sie als Träger der im ersten Roman aufgebauten Perspektiven, die die Aventüre des Boulangismus in ein Spektrum von Facetten zerlegen. Konsequenterweise tendiert der Erzähler zunehmend zur Negation seines fiktionalen Status, um sich als Autor in seiner biographischen Identität (als Abgeordneter und Zeitzeuge) zu präsentieren. (3) Leurs figures schließlich, der abschließende Roman des Zyklus, ist in erster Instanz eine Geschichte des Panamaskandals, der die Republik in den Jahren 1892/93 erschütterte. Wiederum dominiert die Zeitgeschichte: die Gesellschaft zum Bau des Panamakanals befand sich in finanziellen Schwierigkeiten und hatte Gelder an die Abgeordneten der Nationalversammlung verteilt, um Stimmen für ein Gesetz zur Autorisierung einer Anleihe zu kaufen. Ihr Bankrott bringt Hunderttausende von Kleinanlegem um ihre Ersparnisse. Barres geht nicht nur den verwickelten Details des Bestechungsskandals nach; er verwendet ihn vielmehr zu einer prinzipiellen Abrechnimg mit dem Parlamentarismus und der Republik auch der Panamaskandal ist eine figura der Dreyfus-Affäre, die ihrerseits als Figur zukünftiger Antagonismen fungiert. Damit drängt er die Schicksale der fiktiven Protagonisten noch weiter an den Rand. Die Details der Zeitgeschichte bestimmen nunmehr die Textoberfläche so massiv, daß damit zugleich eine Rezeptions-

10 Vgl. zu diesem Begrif die systematischen wie historisch-interpretativen Erörterungen in: Rene Girard, Mensonge romantique et verite romanesque, Paris 1963.

DILETTANTISMUS UND A U T O R I T Ä R E S ERZÄHLEN

sperre für spätere Leser, eine Schranke der Unlesbarkeit sozusagen, aufgebaut wird. Ohne vorgängiges historisches Wissen werden viele Episoden des Romans zu verstreuten Signifikanten ( e f f e t s de reel, mit Roland Barthes zu sprechen, die nicht nur auf Realitäten bezogen sind, sondern deren Qualität gewissermaßen selbst zur Darstellung bringen). Ihr Signifikat muß allerdings häufig offen bleiben. Bereits die Titelgebung signalisiert nicht zufällig eine doppelte Orientierung. Der Roman de l'energie nationale ist einerseits eine Trilogie der Entfremdung (oder, wie Barres im Rekurs auf eine romantische Metaphorik biomorph sagt: der Entwurzelung), andererseits der Freisetzung von - bislang traditionell eingebundener — Energie und ihrer Vernichtung bzw. Erschöpfung. Hatte Victor Hugo in seiner Preface de Cromwell bekanntlich statuiert, daß nichts geschehe, was nicht Wurzeln besitze,11 so sind die fiktiven Protagonisten der Deracines einem Sog sozialer und kultureller Entwurzelung ausgesetzt, der sie zu ihrem Herkommen in ein allenfalls sentimentalisches Verhältnis setzt. Demgegenüber ist der historische Protagonist des Appel au soldat, der Soldat Boulanger, an den sich der Appell der Nation (und des Autors) richtet, eine Figur inszenierten, aber letztlich leeren Charismas, der die anarchisch freigesetzten Energien der Nation nicht zu bündeln vermag. Die Protagonisten von Leurs figures schließlich sind zwar einerseits eine amorphe Menagerie von Parlamentariern, welche die auktoriale Metaphorik in ihrer grotesken Haldosigkeit ausstellen will. Gleichwohl verfolgt Barres die parlamentarischen Auseinandersetzungen mit unverkennbarer Faszination: Das in diesem Zusammenhang dominierende Bildfeld ist das des Stierkampfs, dessen Heroismus auch in der Literatur des frühen 20. Jahrhunderts bekanntlich immer wieder als Beispiel authentischer Energieentfaltung eingesetzt werden wird. Anders gesagt: der Parlamentarismus ist der Ort, wo freigesetzte ^entwurzelte^ und anarchische Energien aufeinanderprallen, während demgegenüber der immer wieder beschworene >Körper< der Nation, die substance nationale, von ihren Wurzeln abgeschnitten ist und deshalb die zentrifugale Energetik nicht zu binden vermag. Der erste Roman der Trilogie, die Deracines, fokussiert das die Trilogie beherrschende Doppelthema von Entwurzelung und Energiefreisetzung in zwei aufeinanderfolgenden Kapiteln, in denen nicht zufällig auch das Motiv historischer Vermitderfiguren und Autoritäten eine dominante Rolle spielt: L'arbre de M. Taine und Au tombeau de Napoleon. Das siebte Kapitel, in dem einer der jungen Lothringer, Roemerspacher, Gelegenheit zu einem Spaziergang mit Hippolyte Taine erhält, deutet bereits in seinem Titel den Zusammenhang mit der Entwurzelungsthematik an. Roemerspacher, obwohl Medizinstudent, widmet sich vorzugsweise historischen Studien und verfaßt einen Zeitungsartikel über den Autor der Origines de la France contemporaine. Taine, dessen »perception du

11 »Rien ne vient sans racine« (Victor Hugo, La Preface de Cromwell, in: ders., Theatre complet, Bd. 1, Paris 1963, S. 417).

243

244

HELMUT PFEIFFER

divin moderne« Barres rühmt, unterhält sich mit Roemerspacher über Naturphilosophie, Ethik und die Situation der Zeit Ein Spaziergang nimmt jene Route, die der alte Philosoph jeden Tag einschlägt; sie führt zu einer - Piaton läßt grüßen - Platane in der Nähe des Invalidendoms. Der Baum wird Anlaß eines pädagogischen Exerzitiums, mit dessen Hilfe Taine den Gegenpol zur modernen Erziehung entwirft, die für das Entwurzelungssyndrom verantwortlich gemacht wird. Die Platane fungiert als ein Paradigma der Verwurzelung, der Gesetzmäßigkeit interner Entwicklung und der Anpassungsfähigkeit an situative Gegebenheiten. Keim und Pflanze sind ein ausgezeichnetes Beispiel organischer Entwicklung, stummes Exemplum philosophischer Weisheit und politischer Klugheit: Die »federation bruissante« des Baumes folgt der »logique d'une äme vivante«, die sich zugleich durch die »acceptation des necessites de la vie« auszeichnet. 12 Die >Biographie< des Baumes ist »des le debut« von seinen Wurzeln bestimmt. Andre Gide wird in seiner Rezension der Deracines gerade in dieser Hinsicht Barres belehren, daß seine Biologie unzureichend sei.13 Hier kommt es auf etwas anderes an: Die Metapher der Verwurzelung ist insofern eine genuin konservative, als sie Anfangsmarkiertheit betont, wenn es denn für das konservative Erleben, mit Karl Mannheim gesprochen, konstitutiv ist, »von jenen Erlebniszentren aus zu leben, deren Entstehungsursprung in vergangenen Konstellationen des historischen Geschehens verankert ist«.14 Roemerspacher selbst, der junge Lothringer, zieht eine historisch-organologische Lebenslehre aus dem Taineschen Beispiel, deren Kehrseite indes darin liegt, daß sie ihn im weiteren von allen Formen politischen Handelns abschneiden wird. Der Baum steht für eine Ethik, deren Voraussetzungen, die biomorphe Qualität der nationalen Substanz, durchgängig nicht gegeben sind. Insofern ist Roemerspachers >KonservativismusAnsehensmacht< (Theodor Geiger) bleibt bei Barres fragwürdig, weil sie den Geltungsanspruch ihres Diskurses weder aus der histoire des Romans noch aus der Wahrheit autoritativer Intertexte ableiten kann. Barres' autoritäres Erzählen< beansprucht eine Autorität, die nicht fraglos aus der Erzählung hervorgeht, weil dieser genau jenes Konkrete der Tradition, auf das der Konservative reflektiert, abgeht. So sieht sich der Erzähler beständig zu essayistischen Reflexionen gedrängt, die ihren subjektivistischen Charakter nicht verleugnen können. Der Interventionismus des Erzählers im Roman de l'energie nationale und seine essayistische Verselbständigung hängen damit zusammen, daß er zum Erzählten in einer problematischen Relation steht. Er beansprucht eine Autorität, deren Fragilität sich seinen Reflexionen einzeichnet.

Hofmannsthal, Das Schrifttum (Anm. 24), S. 27. Julien Benda, La trahison des clercs (1927), Paris 5 1975, S. 107-131. 34 Jacques Derrida, Economimesis, in: Sylviane Agacinski (Hrsg.), Mimesis des articulations, Paris 1975. 32

33

HELMUT PFEIFFER

Ahnliches gilt für die vorgeblich rettende Planke der »conception historique«, die Roemerspacher in der Trilogie zu vertreten hat. Sie bleibt fur die Orientierung des Handelns belanglos: die politische Welt ist eben nicht mehr so, daß sie der Taineschen Platane entspräche; auf alle politischen Verwicklungen reagiert Roemerspacher mit der Einsicht, daß die gegenwärtigen Verhältnisse zwar verdorben, aber kaum zu ändern seien. Der Heroismus aber, von dem sein Gegenspieler Sturel, ein »esprit partisan«, träumt, lebt in der »image exaltante«, die keine traditionalistische Absicherung kennt. Napoleon fungiert als ein solches Bild der Energie, das dieser indes keine Richtung mehr geben kann. Im Invalidendom hört man, wie es in einer aufschlußreichen Paradoxic heißt, nicht das Schweigen der Toten, sondern nur eine heroische Unruhe. Vielleicht bedurfte es einer verwandten, aber entschieden weniger >modemen< Denkart wie der von Charles Maurras, um die ganze Aporie der Barresschen Berufung auf eine »theorie imperiale de l'energie«35 sichtbar werden zu lassen. Maurras legt den Finger in die Wunde eines nicht überwundenen Dilettantismus, der Autorität beanspruchen möchte und doch nur autoritäre Gesten hervorbringt. Er weist darauf hin, daß Barres gerade das Bild jener Gestalt - Napoleon — zum Paradigma geschichtsloser Reheroisierung macht, die wie keine andere den Prozeß der >Entwurzelung< vorangetrieben hat. Der Traditionalismus der Wurzeln, der sich in biomorphen Analogien und regionalistischen Nischen bewegt, und das Konzept der Energie, der heroischen Tat, das in entwurzelten Bildern lebt, treten in den Deracines in einen deutlichen Gegensatz. Im Gegensatz zu Maurras hat Barres nie eine auch nur halbwegs konsistente konservative Programmatik ausgeprägt. Die Action fran^aise war dazu eher imstande, weil sie bereit war, den notwendigen Preis der Verwerfung und der Unterwerfung zu zahlen: In der Linie der gegenrevolutionären Traditionalisten Bonald und de Maistre wollte Maurras Aufklärung und Revolution insgesamt zurücknehmen, um die alten Konzepte der legitimen Monarchie und der klassischen französischen Kultur wieder in ihr Recht zu setzen. Barres verweigert sich dem Selektionszwang dieser Verwerfungen. Die Konsequenzen dieses Sachverhalts werden im Appel au soldat sichtbar. Der Roman verhandelt das Thema der heroischen Politik unter liberalparlamentarischen Voraussetzungen. Boulanger ist ein kleiner Napoleon; die Tragödie wiederholt er als Farce. Der Boulangismus scheitert, weil er kein Programm hat — hätte er aber eines, dann wäre er nicht mehr prinzipiell von seinen parlamentarischen Gegenspielern zu unterscheiden, würde er das Spiel eines Systems spielen, das für den Autor insgesamt zu verwerfen ist. Er scheitert aber auch, weil das Charisma, das er um den General künstlich erzeugen möchte und das in der Energieendadung des Staatsstreichs Gestalt annehmen könnte, leer bleibt: Die Vermittlung der zersplitterten nationalen Energien mit dem Mythos

35 Charles Maurras, Lettre ä Maurice Barres, in: Enquete sur la monarchic, Paris 1924, S. 133-143.

DILETTANTISMUS UND A U T O R I T Ä R E S ERZÄHLEN

des Staatsstreichs gelingt nicht, der als Gehimgift verurteilte Parlamentarismus widersteht der künstlichen »image exaltante« der konservativen Revolution, bringt gar im Agon zersplitterter Energien einen eigenen, negativen Heroismus hervor. Maurras, auch er ein konservativer Revolutionär (er gebraucht die Formel der konservativen Revolution in seiner Enquete sur la monarchie), hatte sein Konzept eines >konservativen< Staatsstreichs noch traditionalistisch abgesichert. Für ihn handelt es sich nur um ein einmaliges Moment des großen Werks der Restauration der Monarchie. Weil er kontrafaktisch auf die >Ewigkeit< der Monarchie setzt, besitzt für ihn der Staatsstreich nur den Charakter einer sozusagen sportiven Veranstaltung, welche die alte Substanz wieder herstellt. Angesichts der vermeintlichen Verteidigungsunfähigkeit der in sich zerfallenen Republik gebärdet sich die Action fran^aise deshalb als eine conspiration ä ciel ouvertMythendreieckigen Begehrensc Sartres 'L'enfance d'un chef ist die Geschichte einer Identitätsformierung, die eine Sequenz von Vermittlem durchläuft, deren Teleologie der Protagonist als positiv, als Identitätsgewinn gegen Chaos und Unbestimmtheit, erfährt, während sie aus der ironischen Erzählerperspektive negativ markiert ist — sie kulminiert in militantem Antisemitismus. Am Ende verfugt der Anti-Held Lucien über eine >harte< Identität; er erscheint sich selbst als eine »lame d'acier, mer^ant d'autres poitrines«44. In diesem Umschwung der Selbstwahrnehmung von chaotischer Offenheit zur Härte fungieren die Deracines als jener Intertext, der der drohenden Unabschließbarkeit einer Suche nach und eines Verbrauchs von Vermittlern ein Ende setzt. Lucien war auf dem Gymnasium mit dem Surrealismus in Kontakt gekommen - der modische Intellektuelle Berliac konfrontiert ihn mit den Erstaunlichkeiten der ecriture automatique, vor allem aber mit der Psychoanalyse. Eine Weile scheint es, als würde die Chance, sich als einen >Fall< mit >Komplexen< aufzufassen, für Lucien zum Organon der Selbstfindung. Immerhin faßt er einen Fußmarsch zu Freud nach Wien ins Auge, um sich vom Meister selbst seinen Fall bestätigen zu lassen. Gleichwohl gerät die psychoanalytische Selbststilisierung schnell in die Krise, als Lucien nämlich bemerkt, daß der Freudianismus nur als kommodes Medium narzißtischer Selbststilisierung des gesellschaftlichen Außenseiters fungiert — jedenfalls aber nicht der Identitätsfeststellung des zukünftigen Chefs dienlich ist. In dieser desperaten Situation kommt ihm ein der Action fran9aise angehörender Klassenkamerad mit dem sprechenden Namen Lemordant zu Hilfe. Er stellt Lucien die Diagnose, ein >Entwurzelter< zu sein, und verschafft ihm das geeignete Remedium: Barres' Les deracines. Lucien, mittlerweile zum Experten

44 Jean-Paul Sartre, L'enfance d'un chef, in: ders., (Euvres romanesques, hrsg. von M. Contat und R. Rybalka, Paris 1981, S. 314-388, hier S. 385.

DILETTANTISMUS UND AUTORITÄRES ERZÄHLEN

für Vermittler und ihre Fehlschläge avanciert, reagiert zunächst skeptisch, verfallt aber dann schnell der Versuchung des Romans; er identifiziert seine Lage mit der Sturels. Wo aber der Protagonist des Roma» de l'energie nationale scheitert, reüssiert Lucien. Das Modell fungiert als Anleitung zur Selbstverhärtung. Ein über den Barresschen Intertext induziertes rechtsradikal-antisemitisches Engagement bewirkt den Umschlag von der Introspektion zur Tat. Im ironischen Zitat eröffnen die Deracines eine Perspektive, die ihrem Protagonisten noch verwehrt geblieben war.

257

KARL-HEINZ MAGISTER / UTZ RIESE

Die Jetztzeit des postkolonialen Karnevals Die in sich reflektierte Sinnenper^eption ist hier also die Quelle der Zeit und die Zeit selbst. Karl Marx1

... allerdings, die abstrakteste und daher älteste Liebe ist die Selbstliebe... heißt weiter nichts, als daß das Individuum das Bewußtsein seiner eigenen empirischen Existen^ haben will. Karl Marx2

I.

Zeiten können schweben, wie sie entschweben. Zeiten wenden sich nicht. Sie wenden sich ab. Vielleicht werden sie auch entwendet. Zugleich, der Genuß der Zeit ist ein Genuß der Sinne. Oder: die Sinne genießen, was sie zeugen: Zeit. Wie genießt man Zeit, wie zeugt man Zeit, wenn Zeiten sich abwenden? Zeit ist die Markierung von Zeiten. Abgewandte Zeiten wenden Zeit ab. Der Zukunft zugewandt? Der Benjaminsche Engel treibt »unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst«. Von Zukunft ist nichts zu erwarten. Sie ist Folge »ihres eine homogene und leere Zeit durchlaufenden Fortgangs«.3 Zukunft war immer schon und ist daher überflüssig. Sie ist die >Ekstase< der Zeit als Trümmerhaufen. Ein Interruptus muß sein, damit Zeit Sein sein kann, die Sinne Sinne sein können, nämlich die »existierende Reflexion der Sinnenwelt in sich«,4 der Selbstgenuß Genuß. Und was noch alles. Die Geschichte sei, so hören wir immer noch (oder schon wieder) staunend, »Gegenstand einer Konstruktion, deren Ort nicht die homogene und leere Zeit, sondern die von Jetztzeit erfüllte bildet«. Woher nehmen und nicht stehlen. Nun gut, es gelte, »das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen«. Sprengen wir einmal. Zumindest gibt es dann noch mehr Trümmerhaufen. Trümmerhaufen

1 Karl Marx, [Doktordissertation:] Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie nebst einem Anhange (1841), in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke (im folgenden: MEW), Ergänzungsbd. Erster Teil, Berlin 1968, S. 296. 2 Ebd., S. 308. 3 Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1.2, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhausen Frankfurt/M., S. 698 und 701. 4 Marx, Doktordissertation (Anm. 1), S. 296.

DIE JETZTZEIT DES POSTKOLONIALEN KARNEVALS

haben keinen Index der Erlösung. Sie haben auch nicht eine nur »schwache messianische Kraft«. Sie verbreiten keineswegs die Gewißheit, wir seien »auf der Erde erwartet worden«.5 Von nichts kommt nichts; das Nichts nichte, heißt es anderswo. Und doch hört die Selbstliebe nicht auf. Gemäß der »das Individuum das Bewußtsein seiner eigenen empirischen Existenz haben will«6. Existieren wir einmal. Ohne zu sprengen? Vielleicht. Richten wir Benjamin gegen Benjamin. Ohne jemals ernsthaft etwas aufzusprengen, verzichten wir dennoch keineswegs auf »den Begriff einer Gegenwart, die nicht Übergang ist sondern in der die Zeit einsteht und zum Stillstand gekommen ist«7. Wir suchen einen großen Raum der Gegenwart, welcher Vergegenwärtigung erlaubt. Die Zeit des Genusses verräumlicht sich. Der Raum des Genusses ist die Zeit der Sinne. Unbesonnen. Weil der Sinn der Geschichte keine Repräsentation mehr hat. Er hat nur noch Performance. Jetztzeit wäre unbesonnene Sinnlichkeit? Jetztzeit wäre Vergegenwärtigung jenseits der Geschichte und ihrer ruinösen Fortschritte? Vielleicht ist ja die Jetztzeit eine auch »existierende Reflexion der Sinnlichkeit in sich«.8 Und damit ein mitnichten ««gesprengtes, wohl aber «'»gesprengtes Ingredienz an delirierendem Zeitgenuß in Geschichte. Wenn auch wohl kaum an ihr. Wo Geschichte neuzeitlich ist, ist sie eine der >postcolonialityPost< immer schon eingeschrieben. Es ist eine Periode des Danach: nachdem die >repraesentatio< sich durchsetzte. Und da folglich ihre Verknüpfung von Subjekt und Objekt performativ aufgehoben werden mußte. Die europäischen Riten solcher Performance haben häufig ältere Ursprünge. Aber es geht nicht um Ursprünge. Der Karneval als Zeitraum des Zeitgenusses zeitigt erst postkolonial den Raum der Jetztzeit. Auch in Europa. Aber allemal in verschiedenen seiner Kolonien. Von der Karibik sei hier gleich die Rede. Die Zeiträume des karibischen Karnevals sind Zeichen; »das Zeichen einer messianischen Stillstellung des Geschehens«.9 Es sind Zeichen, denen der Unterschied von Signifikat und Signifikant abhanden gekommen ist, deren Referenz eben das ist, was sie erzeugen: Zeitgenuß. Zeitgenuß als emanzipative Geste, selbstreferentiell? Als unabschaffbares Geschichtszeichen gleichwohl? Und eventuell handelt es sich auch um etwas völlig anderes. Jetztzeit ist Echtzeit. Mithin ähnelt sie der >real time< weltweiter Kommunikation. Der Fluß der menschlichen Energieströme in den geschichtlich stillgestellten Räumen eines wenn auch schwachen Messianismus korrespondiert den technologisch gesteuerten Strömen der Information. Die Zeit wird nicht mehr durch Zeiten markiert.

5 6 7 8 9

Benjamin, Über den Begriff der Geschichte (Anm. 3), S. 701, 694. Marx, Doktordissertation (Anm. 1), S. 308. Benjamin, Über den Begriff der Geschichte (Anm. 3), S. 702. Marx, Doktordissertation (Anm. 1), S. 296. Benjamin, Über den Begriff der Geschichte (Anm. 3), S. 703.

259

260

KARL-HEINZ MAGISTER / UTZ RIESE

Freilich ist die Echtzeit des Karnevals die der Bühne. Seine Jetztzeit ist die des Als-ob. Sie ist die der Fiktion. Aber sie ist eine, die auf Brettern stattfindet, welche die Welt bedeuten. Die unbedeutete Welt kennt eine andere Echtzeit. Bevor wir das bisher Verlautbarte erläutern, zunächst ein Stimmungsbericht.

II. Und der kommt - mit europäischem Blick - aus der karibischen Hauptstadt von Trinidad und Tobago. Karneval '99 in Port of Spain, zu seiner üblichen Zeit im Februar weltweit — doch hier im Zeichen karibisch-karnevalistischer Signale von Calypso, Canboulay und Bacchanal. Seit den Morgenstunden am Carnival Tuesday, von den französischen Kolonisten seit über 200 Jahren >Mardi Gras< genannt, stürmen vielfarbig kostümierte und maskierte Karnevalsgruppen im rasenden Stampede zu Tausenden über die weite Bühne von Queen's Park Savannah. Frauen und Männer jeden Alters und unterschiedlicher sozialer Schichten, Rassen, Religionen und Nationen präsentieren sich - in heftigen und deftigen Bewegungen ihrer karg bedeckten Körper zum ohrenbetäubenden Wummern der Soca-Rhythmen tanzend - schaubedürftig und für europäische Augen exhibitionistisch vor einem globalen Publikum. Angeführt von den frisch gekürten Queens und Kings des Jahres nennen sie sich Fire Eaters, Raw Heat, Savage Garden, Natural Instinct, Sweet Scandal, Soca Storm, Chaos, Chutney Baccanal, Desperadoes, Freedom expressive Signifikanten einer konfliktreichen kolonialen Erfahrung von Widerstand und Subversivität bzw. von Ritualen der Gewalt, wie sie die gesamte koloniale Geschichte der karibischen Kultur und Kunst bis heute durchdringen - in den Worten des trinidadschen Dramatikers und Protagonisten dieser Festivität Rawle Gibbons: »carnival is a way in which power is negotiated«.10 Das multikulturelle und intermediale Großereignis der Vorfastenzeit auf der südlichsten westindischen Doppelinsel der Kleinen Antillen, nur wenige Meilen vom südamerikanischen Kontinent entfernt gelegen, präsentiert alljährlich ein wahres Bacchanal der Lüste und Sinne, eine Ekstase zügelloser Sinnlichkeit. Obwohl ureigenstes europäisches - genauer: französisches - Erbgut, ist das Festival von Trinidad und Tobago in einer über zweihundertjährigen Geschichte durch afrikanische Kulturen in ein karibisches Phänomen transformiert; schon deshalb ist es mit einem Kölner oder Mainzer Wohlstandskarneval kaum vergleichbar. Denn tief in den karibischen Karnevalsdiskurs inskribiert (wenn auch durch gewachsene materielle Bedürfnisse und die kulturellen Einflüsse Nordamerikas mehr und mehr in Frage gestellt) ist die Zelebrierung vorkolonialer,

10 Rawle Gibbons, Room to Pass: Carnival and Caribbean Aesthetics, in: Anglistentag 1997 Gießen, hrsg. von Raimund Borgmeier, Herbert Grabes und Andreas Jucker, Trier 1998, S. 117.

DIE JETZTZEIT DES POSTKOLONIALEN KARNEVALS

afrikanischer Ideale von Besitzlosigkeit, Genügsamkeit und solidarischem Gemeinschaftsgeist, die einzig von der ganzjährig ablaufenden Produktion der schrillen Kostüme und gigantischen Karnevalsdekorationen beherrscht sind. Das Prinzip gründlicher Planung und Organisation kontrastiert deutlich mit Strategien eines bewußt inszenierten Chaos des karnevalistischen Ereignisses selbst. Denn auch alte Mythen und diesen karibischen Vorgängen vorauseilende Gerüchte >sterben schwerc Man werde nächtens unverhofft aus dem Schlaf und mitten hinein in die Reihen der stampfenden, rumtrunkenen Karnevalsgesellschaft gerissen. Trinidadscher Karneval >passiert einfach< - darin einem subversiven Chaosprinzip der Kolonialzeit und einer frühen aufrührerischen Sehnsucht folgend, das Ereignis sei von keiner kolonialen Autorität kontrollierbar. Die heutigen Kamevalsmaskeraden sind des alten karnevalesken Mythos weitgehend entzaubert: Diese haben sich schon stark den kommerzialisierten Interessen der Sponsoren sowie dem Bedürfnis nach dem reinen Spektakel angepaßt. So ist das Erlebnis des einzigartigen Karnevals von Trinidad für den Touristen aus Mitteleuropa denn eher ernüchternde Er kauft sich ein Billett für T&T $ 120 (ca. 20 DM) für einen Platz auf der Tribüne und läßt - bei wenigstens einer Flasche echten Jamaica-Rums und etlichen Haschen >CaribTrinbagoniansPanYards< und den sogenannten >Tents< der Stadt bis zur Kür der Besten auf dem >Panorama< sowie in den öffentlichen Proben der Calypso-Sänger (Calypsonians), die bei den >Calypso Monarch Finals< am >Dimanche Gras< schon vor Karneval in einen nationalen öffentlichen Wettstreit treten. Die besten Calypsonians der vergangenen Jahrzehnte gewannen die Gunst des Publikums durch die Kraft ihrer politischen Botschaft: >Mighty SparrowLord KitchenerLord Executer< und >Black Stalin< erreichten legendären Ruf. Parallel dazu erstreckt sich über Monate die aufwendige Fertigung der phantasievollen farbigen Kostüme, gran-

11

S. 7.

Peter Mason, Baccanal! The Carnival Culture of Trinidad, Kingston/Jamaica, 1998,

262

KARL-HEINZ MAGISTER / UTZ RIESE

diosen Karnevalsfiguien und der mannigfaltigen Insignien des Karnevals bis zur großen Kür der Calypso-Queens am Eröffiingsmontag, genannt >J'OuvertMardi GrasYardMarronage< sowie der Rastafari-Kultur auf Jamaika: Auch er bewegte sich in gleicher Weise zwischen taktischem Rückzug und verschärftem Widerstand. Die von den Weißen übernommene und umstrukturierte Mimikry der Konversion der Hautfarben sowie der >Master/Colonialrites of reversal· in den CanboulayMaskeraden auf den Straßen und den >Yards< von Port of Spain insinuierte die Reversion der kolonialen Ordnung sowie die Eskalation zu Anarchie und zur offenen Revolte, zu Gewalt und Chaos. >Playing Mask< wurde zu einer vieldeutigen Metapher. Sie steht noch heute für die festlichen Maskeraden des Karnevals, umschreibt aber ebenso den rituellen Vorgang des Verkleidens durch die Maske wie auch des >Spielens< eines Charakters in einer tradierten Figur im Tanz auf der Straße. Die Elemente von Spiel und Gewalt konstituieren einen ästhetischen Grundgestus der Kultur des Karnevals auf Trinidad und Tobago. Die Gegensätzlichkeit trinidadscher Karnevalskultur könnte sich nicht größer zeigen als zwischen der glitzernden Show der sogenannten >pretty mas< von Carnival Tuesday und der traditionellen indigenen >01e Mas< des vorausgehenden >J'Ouvert01e Mas< ist der Karneval aus der Gosse. Als am 15. Februar 1999 kurz nach vier Uhr früh an zentralen Urbanen Plätzen der Insel der Beginn des letzten Karnevals dieses Millenniums ausgerufen wurde, stürmten tausende in Fetzen bekleidete und mit Schmiere und Schlamm verkleisterte >black masqueraders< in völliger Unordnung und Anarchie durch die Straßen, nicht um offiziellen Karneval zu repräsentieren, sondern nach altem Ritual mit rebellischen Drohgebärden an der bestehenden Ordnung zu rütteln. Die verschmierte dunkle Hautfarbe von >01e Mas< wird hier zu einem Signifikanten, der Schrecken und Drohungen durch die Unterprivilegierten signifiziert. Die «itualistic significance< und kreolische Performanz karnevalesker Traditionen im heutigen trinidadschen Diskurs erscheinen noch deutlicher vor dem geschichtlichen Hintergrund der schon klassischen Definition Michael Bachtins zum Verhältnis von Literatur und Karneval und zur Lachkultur des europäischen Mittelalters. Bachtins Konzepte der sozialen Dehierarchisierung und der »karnevalistischen Mesalliance« zwischen dem Hohen und dem Niedrigen, dem Gehei-

15 Barbara Lalla, Defining Jamaican Fiction: Marronage and the Discourse of Survival, Tuscaloosa - London 1996, S. 2.

DIE JETZTZEIT DES POSTKOLONIALEN KARNEVALS

ligten und dem Profanen in einer »umgestülpten Welt« propagieren einen Prozeß der »Karnevalisierung der Literatur« in der Frühmodeme. 16 Die postkoloniale Version des afro-karibischen Karnevals hingegen läuft - umgekehrt - auf seine Ästhetisierung und extreme, überschäumende Theatralisierung bzw. Performanz hinaus. Das inszenierte Zusammenspiel von Maskeraden, Steelbands und Calypsonians auf der weiten Bühne von Queen's Park Savannah erscheint als ein großes nationales Drama, das Christopher B. Balme ein »Theatre of Exuberance«17 nennt. In einem performativen theatrical syncretism< von Calypso-Gesang und Narration, von dramatisch-szenischem Spiel und Instrumentalmusik, Maskenritualen und Tanz entsteht ein kreolisches theatralisches Spektakel, das auf die politisch-nationale Repräsentanz eines in sich höchst ausdifferenzierten, aber in der performativen Echtzeit vereinigten Volkes abzielt. Der Karneval ist vom kolonialen Straßenkampf auf die postkoloniale Bühne gewandert. Die zunehmende Theatralisierung des Karnevals und seiner repräsentativen Symbole - Calypso, Pan und Steelband - bleibt nicht ohne Widerspruch. Michael Anthony kritisiert das bühnenartige, kommerzielle Inszenieren der Maskeraden, weil es die Echtheit afrikanisch-karnevalesker Rituale verzerre: »that ain't mas, that's theatre«.18 Die karnevaleske Dramaturgie von Calypso, Tanz, theatralischem Spiel und indigenen kämpferischen Ritualen verschmelzen zu einem gesamtdramatischen Ereignis in der Art einer modernen Revue, die sich durch die Brisanz der von ihr präsentierten aktuellen politischen Themen auszeichnet und damit das nationale Publikum zu faszinieren sucht. Doch das nationale Pathos des Karnevals, dessen a/re-karibische Identität auch heute noch dominierend ist, kann die tiefe Zerrissenheit insbesondere zwischen den beiden größten ethnischen Gruppen nicht übertönen. Der Beobachter der Dimanche-Gras-Show von 1999 (also der Mitverfasser dieses Textes) konnte von der Tribüne aus erleben, wie ein Calypsonian mit seinem >Competitioncolonizer< und >colonized< mehr relevant. Der Karneval wird vielmehr zum ambivalenten Vehikel des gesellschaftlichen Protests bei gleichzeitiger Disziplinierung und Eindämmung dieses Protests durch die ständig wechselnden Verhältnisse kolonialer Repression. Im Vordergrund stehen die sozialen und ethnischen Spannungen zwischen Haus, Yard, Straße und Bühne als den möglichen Orten ritueller Handlungen von Spiel, Gewalt und Chaos, zwischen männlicher und weiblicher Repräsentanz, zwischen öffentlichem und privatem Raum, zwischen >pretty mas< und >ole masrespectability< sowie dem Ruf (>reputationtheatre of exuberance< begreift Mimesis in seiner ursprünglichen Bedeutung als tänzerischen Ausdruck, wo tänzerische Gebärden, Gesten, Mimik über narrative Elemente dominieren. Das komplexe Verhältnis zwischen mehrfach überlagerter Maske und Mimikry, zwischen Verkleidung und dramatischer Rolle, zwischen szenischem >Spiel< und Verkörperung des anderen, zwischen Bühne und Tribüne ist eher auf die Faszination turbulenter, anarchischer Verhältnisse und die Motivation zur Raserei im Stampede gerichtet. Gebärden und die Mimik von Drohung und Gewalt werden zur Botschaft. Im postkolonialen Karneval hat die sinnlich-ekstatische Performance die Repräsentation von Geschichte ersetzt. Tänzer, Mimen und Calypso-Sänger erzeugen »Kommunikation« mit dem Publikum immer weniger durch Dialog und rationale Argumente als vielmehr durch rasante, explosive Körperbewegungen sowie ein Gewitter von Worten, das berüchtigte >rappingTrickster< und >Man-of-Words«, der kraft seiner Intelligenz machtvolle Wortkanonaden auf seine Konkurrenten abfeuert. An die Stelle des kämpferischen >stickfighting< ist das bellizistische >kaiso< in der Form des >rapping< und des wilden Tanzes getreten. Der bekannte Calypso-Forscher Gordon Rohlehr aus Trinidad hat mit großem Bedauern »the loss of the narrative in the calypso«23 und dessen Anpassung an die Dance-Hall-Music der neunziger Jahre konstatiert. Die traditionelle Erzählstruktur des Calypso ist verlorengegangen, doch eine neue kulturelle Dynamik und Wirkung vor allem auf die junge Generation der Calypsonians ist gewonnen. Die Performance dominiert jetzt über die Narration. Vor allem die Erfindung der >pans< mit ihrem farbig differenzierten Dreiklang im heutigen Steelband-Orchester diente dem (vielleicht durch seinen Nobelpreis von 1992) bekanntesten karibischen Dramatiker und Lyriker Derek Walcott als ein Hauptbeweis für die Kreativität und die entwickelte kulturelle Identität dieses Volkes. Nach dem Verbot der afrikanischen Trommel hatten die Trinbagians die >pan< in den vierziger Jahren in den drei Klangvarianten der >tenorguitar< oder >cello< und der >bass pan< erfindungsreich aus der 44Gallonen-Öltonne konstruiert und zu einem neuen, machtvollen nationalen Symbol dieses afro-karibischen kulturellen Ereignisses herausgebildet.24 Der Karneval hat sich auch sprachlich aus der kolonialen englischen Vergangenheit gelöst: Seine ursprüngliche Nomenklatur ist ohnehin französisch bzw. afrikanisch, sein karibischer Sprachduktus ist kreolisch; die englische Hauptsprache konkurriert heute immer noch mit dem French Creole. Die postkoloniale Mimikry des >playing mas< führte letztlich auch zur Umstrukturierung der Maskeraden: zum Bruch zwischen dem Glanz der Masken und Kostüme der traditionellen Karnevalsfigur und der von ihr verkörperten Welt. Doch auch heute noch ist der trinidadsche Clown, der Pierrot, ebensowenig aus den Maskeraden wegzudenken wie die Figuren der Devils, Rulers, Badjohns, Dragons, Queens und Kings. Die postkoloniale Problematisierung karnevalistischer Verkörperungen und Fiktionen ist in der Literatur vielgestaltig repräsentiert. Die vielleicht sinnfälligste narrative Konkretisierung finden wir in Earl Lovelaces Roman The Dragon Can't Dance. Hier wird deutlich, wie tief afro-kreolische Kultur und die dramatischkarnevaleske Performanz ihrer Figuren in die Erzähltradition von Trinidad und Tobago zeitweilig eingebettet sind. Die karnevalesken Inszenierungen - der Calypso, die Steelbands mit ihren >pansthe Hill< als Ort ihrer Performance und das >playing mask< mit der Maskerade sowie die sie repräsentierenden Figuren strukturieren wesentlich die Romanhandlung. Der Autor folgt weniger westlichen Traditionen« von Romanhandlung und Figurenkonstellation, sondern viel mehr den indigenen Gesetzen von narrativer Karnevalisierung und Kreolisierung. Im

22 23 24

Burton, Afro-Creole (Anm. 20), S. 170. Gespräch mit Rohlehr (Anm. 13). Mason, Baccanal! (Anm. 11), S. 62.

268

KARL-HEINZ M A G I S T E R / UTZ R I E S E

Zentrum steht das Geschehen des Karnevals, das durch das Auftreten der Karnevalsfiguren vorbereitet wird: Die einzelnen Kapitel heißen »Queen of the Band«, »the Princess«, »the Dragon«, »the Bad John«, »Friends and Family«, »Outcasts«, »the Spectator« und »the Calypsonian«, die zu den eigentlichen Protagonisten der Erzählung werden. Karneval ist ein immer wiederkehrendes Ereignis dieser westindischen Insel, und der Erzähler folgt in der kamevalistischen Echtzeit dem tanzenden Zug der Maskerade und der kämpferischen Steelbands aus ihren düsteren >Yards< und den Slums der Hauptstadt bis zu ihrem >Zelt< auf dem >Hügel< sowie bis in die Geschichte der technischen Details ihrer symbolträchtigen Instrumente: »With Carnival now, they troop off street corners, desert their battlefield and territory, and turn up the hill to the steelband tent to assemble before steel drums cut to various lengths and tuned and fashioned to give out the different tones - bass, alto, cello - instruments that had their beginnings in kerosene tins, biscuit drums, anything that could sound a note, anything that could ring [...]. Up on the hill with Carnival coming, radios go on full blast, trembling these shacks, booming out calypsos, the songs that announce in this season the new rhythms for people to walk in, rhythms that climb over the red dirt and stone, break-away rhythms [...]. There is dancing in the calypso. Dance! If the words moum the death of a neighbour, the music insists that you dance; if it tells the troubles of a brother, the music says dance. Dance to the hurt! Dance! If you catching hell, dance, and the government don't care, dance! Your woman take your money and run away with another man, dance. Dance! Dance! Dance! It is in dancing that you ward off evil. Dancing is a chant that cuts off the power from the devil. Dance! Dance! Dance! Carnival brings this dancing to every crevice on this hill.«25 Lovelaces hymnische Evozierung der Ekstase des Calypso-Tanzes verwandelt den Text selbst in einen Calypso, indem die Bewegung des Tanzes in der repetitiven syntaktischen Sprachform26 nachvollzogen wird und die narrativen mit den rhythmisch-musikalischen und mimisch-tänzerischen Strukturen des Calypso verschwimmen. Doch im afro-kreolischen Karneval von heute liegen lustvolle Ekstase und Zertrümmerung der Ideale, euphorische Selbstrepräsentation und postkoloniale Entmythisierung dicht beieinander. Die Leitfigur des Dragon in der Verkörperung durch Aldrick repräsentiert in der prachtvollen Verkleidung der Drachenfigur und im kriegerischen Tanz der Maskerade bis zuletzt Glanz und Zerfall traditioneller indigener Kamevalskultur, doch Gewalt und die Radikalisierung ihrer

Earl Lovelace, The Dragon Can't Dance, 1979, S. 26ff. Vgl. Carolyn Cooper, Critical Introduction, in: V. S. Naipaul, The Dragon Can't Dance, Essex 1986, S. 9-21, hier S. 19. 25 26

DIE JETZTZEIT D E S POSTKOLONIALEN K A R N E V A L S

Rituale sind schon als Vorboten ihres Zerfalls sichtbar. Abgeschirmt von der aufrührerischen Welt auf dem >Calvary Hill· wie auch von der kollektiven Gemeinschaft des >yard< (»no wife, no child, no boss, no job«27), ist er ganz der Fertigung von Maske und Kostüm seiner Dragon-Figur ergeben. Das aufwendige Kostüm des Drachens für den großen Auftritt auf dem Festival bleibt nur eine Maske, und seine Fertigung ist einziger Sinn und Zweck seines Lebens, der sich nur im Augenblick der Maskierung und der Maskerade auf den Straßen von Port of Spain erfüllt. Die vorkoloniale, afrikanisch-mythologische Verkörperung, die Gleichsetzung von Aldrick und Drachen, des Subjekts des Karnevals mit jener Karnevalsfigur sowie seiner Rolle, hat ihre subversive Funktion gegenüber den Mächtigen in der postkolonialen Welt eingebüßt, so sehr Aldrick ihre Ideale von Besitzlosigkeit und karnevalesker Identifikation auch immer wieder im kreolischen Sprachduktus beschwört: »I is still Aldrick. I is still the dragon. [...] Never had a regular job in my life or a wife or nutten. I ain't own house or car or radio or racehorse or store. I don't own a thing in this fucking place, except that dragon there, and the dragon ain't even mine. I just make it. [...] All we thinking about is to play dragon. All we thinking about is to show this city, this island, this world, that we is people, not because we own anything, not because we have things, but because we is. We are because we is.«28 Auf dem Höhepunkt karnevalistischer Verkörperungen - »To Be Dragon and Man«29 — evoziert das kollektive karnevaleske Subjekt am chaotischen Tag des J'Ouvert, geschichtlich zurückgewandt über die Versklavung und Verschleppung jenseits des Adantik, das vorkoloniale Gedächtnis der afrikanischen Urheimat, um mit dem Mythos Afrika dem Mythos der karnevalesken Rituale in der Neuen Welt noch einmal letzte Legitimation zu verleihen. Das Gedächtnis fungiert, wie Wolfgang Iser sagt, »as mythmaker, als collective memory«, das angetrieben wird von »a desire to obtain a group identity«:30 »Up on the Hill Carnival Morning [...] litde boys, costumed in old dresses [...] blowing whisdes and beating kerosene tins for drums [...] heralding the masqueraders' coming, that goes back centuries for its beginnings, back across the Middle Passage, back to Mali and Guinea and Dahomey and Congo, back to Africa when the Maskers were sacred and revered [...]. For two full days Aldrick was a dragon in Port of Spain, moving through the loud, hot streets,

Lovelace, The Dragon Can't Dance (Anm. 25), S. 115. μ Ebd., S. 123ff. 29 Ebd., S. 134. 30 Wolfgang Iser/Sandfort Budick (Hrsg.), The Translatability of Cultures. Figurations of the Space Between, Stanford 1996, S. 297. 27

269

KARL-HEINZ MAGISTER / UTZ RIESE

dancing the bad-devil dance, dancing the stickman dance [...] waiting for the police to raid them. He was Manzanilla, Calvary Hill, Congo, Dahomey, Ghana. He was Africa, the ancestral Masker, affirming the power of the warrior, prancing and bowing, breathing out fire, lunging against his chains, threatening with his claws, saying to the city: >1 is a dragon. I have fire in my belly and claws on my hands; watch me! Note me well, for I am ready to burn down your city. I am ready to tear you apart, limb by limb.«endarvt< das karnevaleske Subjekt des Drachenträgers als machdos. >Playing mas< mündet in Anarchismus und in ein aufrührerisches, gewalttätiges Canboulay. Mit dem Ablegen der Maske wird ihm die Bedeutungslosigkeit seiner gespielten Rolle wie auch seiner selbst in der kolonialen Gesellschaft bewußt. Da verfällt letztlich das afro-kreolische Signal der alternden Queen Cleothilde zu einer endeerten Botschaft: »Bacchanal! Trinidad! All o' we is one.« Lovelaces karnevalesker Diskurs demaskiert doppelt, ein Vorgang, den Richard D. E. Burton 1996 »Subverting the Subverters« nennt - das bloße Rollenspiel hat keine Funktion, die heroischen Qualitäten und die Ritualisierung der Besitzlosigkeit als des höchsten afro-karibischen Gutes vermitteln nur Ohnmacht, das gemimte Ungeheuer ist zahnlos: »Der Drache tanzt nicht mehr.«

III. Zeiten können schweben, als gäbe es nur Gegenwart. Zeitgenuß ist der Raum des Karnevals. Das leere Kontinuum des Fortschreitens ist unterbrochen. Die Performanz des Genusses ist die Produktion des empirischen Ichs im Raum des Gegenwärtigen. Geschichte ist dann nur noch ein Wahn, der Wahn der Geschichtsmacht. Geschichte, die stets über Leichen geht, muß innehalten. Der Karneval lebt aus diesem Eingedenken, der postkoloniale zumal. So denken wir dahin, während unsere Tage weniger werden und die Geschichte ungeniert das Ihrige anhäuft. Siehe oben Benjamin. In der Theorie ist ja klar, was den karnevalesken Interruptus ausmacht, den postkolonialen zumal. Homi K. Bhabha, der Zarathustra der >postcolonialitygroßen Er-

31 32

Lovelace, The Dragon Can't dance (Anm. 25), S. 134,137f. Homi K. Bhabha, The Location of Culture, London - New York 1994, S. 4.

DIE JETZTZEIT DES POSTKOLONIALEN KARNEVALS

zählungen< der Geschichte entschlagen, sind wir da. Unser Dasein ist minoritär, defizitär; der Mensch sei ein Mängelwesen, heißt es. Fiktionen bräuchten wir deshalb, sagt Wolfgang Iser. Weil wir Fiktionen und deren Performan2 brauchen, um im Genuß da sein zu können, bestätigen wir das Dasein unseres Mangels an uns selbst. Aber wenn wir erst die Geschichte losgeworden sind, dann ... Dann sind wir endlich bei uns im Reichtum des Genusses? Das klingt nach den schönen Utopien der Grundrisse. Wir seien, sagt Bhabha postkolonial, nunmehr »confronted with what Walter Benjamin describes as the blasting of a monadic moment from the homogenous course of history, establishing a conception of the present as the time of the now«dritten< Raum des Aussprechens und Zusprechens, einen (mit Bhabha) Third Space of Enunciation. Richten wir uns mithin im Raum der Stilblüten ein, im Raum des Inkompatiblen. Katachrese postkolonialer Art ist gerade deswegen eine voller Anspruch, folgen wir Gayatri Chakravorty Spivaks Vorstellung von >catachrestic claimsMatrix< bzw. als neue Wahrnehmungsweise und Erfahrungsform, mit der die Dinge und Kulturobjekte jenseits einer Aura der Unantastbarkeit und Ferne gebraucht und genossen werden können: »Die Entschälung des Gegenstandes aus seiner Hülle, die Zertrümmerung der Axura, ist die Signatur einer Wahrnehmung, deren >Sinn für das Gleichartige in der Welt< so gewachsen ist, daß sie es mittels der Reproduktion auch dem Einmaligen abgewinnt.«20 Dieses synchrone Verknüpfen von zwei methodischen Herangehensweisen an ebenso vormoderne wie moderne Kulturformen erklärt sich aus einem bestimmten Erkenntnisinteresse Martin-Barberos. Dieses gilt vor allem einer neuartigen Historisierung von Fortbestand und Umfunktionalisierung bestimmter Kulturpraktiken. Ein solches Vorhaben muß jedoch in den Umkreis einer umfassenden Denkwende von Modemedenken gesetzt werden, das sich seit den achtziger Jahren in die Lager der neopopulistas2X und antipopulistas teilen sollte. Beide Gruppierungen reagieren in jeweils unterschiedlicher Weise auf den stürmischen Aufstieg der Kulturindustrie, der eine rasche Statusverschiebung im Literaturund Kulturbereich mit sich gebracht hat. Die antipopulistas messen Modernität

'8 Ebd. 19 Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit [Zweite Fassung], in: ders., Allegorien kultureller Erfahrung (Anm. 17), S. 407-434, hier S. 426. 20 Ebd., S. 413. 21 Beatriz Sarlo, Escenas de la vida posmoderna, Buenos Aires 1994, S. 131.

G E N U S S ALS TAKTIK

weiterhin an den Grenzerfahrungen einer Avantgardekunst. Die neopopulistas dagegen üben deutliche Kritik an einem bis dahin in Lateinamerika weitgehend literaturzentrierten Modernebegriff. Die überraschende, weil in den bisherigen Denkkonzepten lateinamerikanischer Moderne so niemals erwartete Expansion von Massenkultur und Massenkommunikation signalisierte eine doppelte Krise der Intellektuellen. Auf der einen Seite hatten sie das Scheitern gesellschaftlicher Radikalveränderungen und den durchschlagenden Erfolg eines autoritären Modernisierungsmodells (mit dem dramatischen Paradigma Chile) zu verarbeiten. Auf der anderen Seite mußten sie nach neuen Erklärungsmustern für die gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen suchen. Etiketten wie >hybrideperipherenicht zeitgenössische< Moderne, die in den achtziger Jahren aufkommen, zeugen von einem weitreichenden Blickwechsel: Was bislang als Dauerkrise von Moderne gesehen wurde, erscheint jetzt als tatsächliche Genese kultureller Modernität. In dem Maße, wie in der Postmoderne das Empfinden von Modernität nicht länger aus einer vorgeblichen Homogenität von Moderneerfahrungen, sondern aus einer vom einzelnen selbst noch erlebbaren heterogenen Koexistenz kultureller Landschaften schöpfte, wurde auch ein Neuzugang zum Erfahrungsmodus lateinamerikanischer Moderne und ein Paradigmawechsel im Modemedenken möglich. Die seit den siebziger Jahren überbordende Popularität der Telenovelas, die mit keiner englischsprachigen Soap Opera oder deutschen Femsehserie zu vergleichen sind, erschien jetzt wie das Markenzeichen für eine grundlegend gewandelte Kultursituation in den lateinamerikanischen Großstädten. Die Popularität der Telenovela offenbarte zuallererst einen >Skandal< für alle Denker in der Gefolgschaft eines europäischen Moderneprojektes. Wie Martin-Barbero oder der Mexikaner Carlos Monsiväis hervorgehoben haben, erfuhren die Mehrheiten in Lateinamerika kulturelle Modernität »keineswegs mit dem Buch in der Hand, sondern durch die Technologien und Formate des audiovisuellen Bildes«.22 Das >Rätsel< dieser Popularität wurde ein neuer epistemologischer Drehpunkt des Nachdenkens über lateinamerikanische Moderne. Nun war >lo populardas Populäre< als Nenner für traditionelle Oralität, Folklore und ländliche Regionalkultur schon lange Zeit eine ebenso beliebte wie schillernd dunkle Kategorie der Theoriebildung gewesen. Solche Präferenz für die Kategorie des Populären wirkt nach dem hier Gesagten keineswegs mehr überraschend. Im Unterschied zu Europa war es weniger die Diskussion um Mangelbedingungen von Literaturautonomie, durch die Lateinamerikas Denker zum Bewußtsein einer eigenständigen ästhetischen Modernität ihres Kontinentes gelangten, als das Nachdenken über die vielfältigen Traditionen und Formen ihrer Popularkulturen.23

Jesüs Martin-Barbero/Sonia Munoz, Television y melodrama, Bogota 1992, S. 14. Hermann Herlinghaus/Monika Walter, Lateinamerikanische Peripherie - diesseits und jenseits der Moderne, in: Robert Weimann (Hrsg.), Ränder der Moderne. Repräsentation und Alterität im (post)kolonialen Diskurs, Frankfurt/M. 1997, S. 242-300. Vgl. auch 22 23

279

280

MONIKA WALTER

Nun wurde durch die überraschende Popularität massenmedialer Erzählform eine ebenso kritische wie historische Neubefragung der Konzepte des Populären und des Modemen erforderlich. Wiederum hat Martin-Barbero mit einer exemplarischen Konsequenz die Entzauberungsarbeit der Begriffe zur unverzichtbaren Voraussetzung für eine neue Historisierung der kulturellen Modernisierungsprozesse erhoben. Die überwältigende Wirkung der Telenovelas konnte ja ganz im Sinne Horkheimers und Adornos als fataler Manipulationserfolg der Kulturindustrie und damit als endgültige politische und ideologische Stillegung der Widerstandsreserve des >Volkes< ausgelegt werden. Gegen eine solche Negativsicht sprach indessen eine auch in Diktaturzeiten ungebrochene Kreativität breiter Schichten in den städtischen Kiezen, die die Europäer so faszinierte: die Breite archaischer Religionsrituale (Candomble und Santeria) und Festtraditionen, vor allem des Karnevals, das Ineinander von traditionellem Geschichtenerzählen, alltäglicher Gesprächskultur, Nachbarschaftsbräuchen und Massenkommunikation, das Verschmelzen von Volksmusik und Rock, von Performance, audiovisuellen Melodrama und Videoclip. Die theoretische Herausforderung bestand für die neopopulistas jetzt darin, den Sinn kultureller Modernität Lateinamerikas von den besonderen Wirkungsbedingungen der Massenkommunikation her zu definieren. Bei einem solchen theoretischen Herangehen erhält die Frage, wie >die Leute< (»las gentes«) kulturelle Modernität erfahren, eine hermeneutische Schlüsselstellung. Auf diese Weise rücken die wenig erkundeten Logiken des populären Kulturgebrauchs, in denen sich zugleich ein ästhetischer Code massenhaft erlebter Alltagserfahrungen niederschlägt, in den Mittelpunkt des Nachdenkens. Die wichtigste theoretische Frage wurde eine wirkungsästhetische: wie die massenkommunikativen Kulturangebote aus der Perspektive der sozialen Alltagspraxis ihrer Konsumenten zu erkunden und zu deuten sind. Wo war das Begriffsbesteck für eine solche Neusichtung eigener Kulturmoderne? Wo waren die Ansätze einer Hermeneutik des Populären für die lateinamerikanischen Modernedenker, in der in den Gebrauchsweisen der Kulturindustrie auch die unterschiedlichen, eben nicht länger allein elitären Genußformen von Kultur sichtbar werden konnten? Die Historisierung des Begriffsapparates um >das Populäre< führt MartinBarbero über Herder hin zu Benjamin und weiter zu Pierre Bourdieu und Michel de Certeau, denn diese Denker gehören zu den wenigen europäischen Theoretikern, die sich, wenngleich auf sehr verschiedene Weise, mit den Logiken des Populären genauer auseinandergesetzt haben. Doch diente die Lektüre dieser Ansätze zunächst vorrangig einer kritischen Neusichtung von Adornos und Horkheimers Konzept der Kulturindustrie. Ihre abwertende Optik auf die modernen Formen von Massenkommunikation war unter den Lateinamerikanern bis in die achtziger Jahre außerordentlich präsent. Während die traditionellen,

Hermann Herlinghaus/Monika Walter (Hrsg.), Posmodernidad en la periferia. Enfoques latinoamericanos de la nueva teoria cultural, Berlin 1994.

GENUSS ALS TAKTIK

scheinbar von historischen Veränderungen und Modernisierungen unberührten Regionalkulturen als Kontrapunkt zu einer an europäischen Standards ausgerichteten Literaturmodeme hoch geschätzt waren, blieben moderne städtische Massenkultur und Massenkommunikation völlig unbeachtet. In dem Maße jedoch, wie das >Geheimnis< um die populäre Begeisterung für die Telenovelas epistemologisch interessant wurde, erwiesen sich die bisherigen kulturtheoretischen Modelle zunehmend als untauglich. In der Auseinandersetzung um das Adornosche Konzept, das Martin-Barbero überdies im Lichte der posthum erschienenen Ästhetischen Theorie kritisch bewertete, bekommt vor allem das Konzept des ästhetischen Gebrauchs und des Genusses eine besondere Bedeutung. Für Martin-Barbero wird die Tatsache wichtig, daß die entschiedene Absage Adornos an den Genußbegriff - »[...] der Begriff des Kunstgenusses als konstitutiver ist abzuschaffen«24 — eng mit komplexen Abwehrmechanismen sowohl gegenüber massenhaft durchlebten Alltagserfahrungen wie gegenüber hermetisch abgeriegelten Kunstexperimenten der Eingeweihten zusammenhängt: »Die Vergeistigung der Kunst hat die Rancune der von der Kultur Ausgeschlossenen aufgestachelt und die Gattung der Konsumentenkunst initiiert, während umgekehrt der Widerwille dieser Künstler zu immer rücksichtsloserer Spiritualisierung drängte.«25 Während Adorno die Massenkultur als >Gattung der Kunstkonsumenten< eingrenzend zu definieren versucht, öffnet sich Benjamin dagegen einer existierenden Vielfalt von ästhetischen Erfahrungen, der eine solche Fülle von Gebrauchs- und Genußformen der Kultur entspricht. Ganz im Gegensatz zu der Position von Adorno und Horkheimer, die unmißverständlich von »der Verkümmerung der Vorstellungskraft und Spontaneität des Kulturkonsumenten« sprechen,26 erkennt Benjamin die Masse als produktive >Matrix< eines andersartigen Erfahrungsmodus von Wirklichkeit und Kultur (anders eben als das >Sensorium< der Elite). Der Gebrauchs- und Genußmodus der Zerstreuung, von Walter Benjamin im Kunstwerk-Essay eher skizziert als ausgeführt, wird für die lateinamerikanischen neopopulistas eine Voraussetzung, radikal den Ort zu verändern, von dem aus nach ihrer Meinung die Fragen heutigen Modemedenkens gestellt werden müssen, um die andere Seite der Kommunikation zu ergründen: die historische Dynamik des Kulturgebrauchs und die Umwertung der Sphäre des Konsums zum Ort populärer Sinnstiftung.

Adorno, Ästhetische Theorie (Anm. 4), S. 30. Ebd., S. 28. 26 Max Horkheimer, Kulturindustrie, Aufklärung als Massenbetrug, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 5: >Dialektik der Aufklärung* und Schriften 1940-1959, Frankfurt/M. 1987, S. 144-196, hier S. 151. 24

25

282

MONIKA WALTER Hier komme ich wieder auf das Gegensatzpaar von »recogimiento« und »dispersion« zurück. Beide Rezeptions- und Genußformen sind grundsätzlich ichbezogen und doch wesentlich unterschieden: die >Sammlung< ist verbunden mit einem Ich, >das sich in die Tiefen des Werkes versenkt< (»sumergiendose en la profundidad de la obra«), und die >Zerstreuung< mit einem Ich, das sich nicht von Gruppenerlebnissen gelöst hat und >das künsderische Werk in sich selbst versenkt^ 27 Was bedeutet indessen diese letzte Formulierung »que sumerge en si misma la obra artistica«? Ist damit die Sicht Adornos auf die »traditionelle Verhaltensweise zum Kunstwerk« gemeint, das ihm zufolge »keines von Einverleibung« darstellt: »sondern umgekehrt verschwand der Betrachter in der Sache«?28 Oder nähert sie sich vielmehr der Auslegung dessen, was Benjamin den Zusammenfall von »kritischer und genießender Haltung« des Publikums genannt, aber letztlich nicht ausführlicher erklärt hat? Martin-Barbero geht es in seiner kritischen Lektüre von Adorno und Benjamin vorrangig um die genauere Erkundung der Gebrauchs- und Genußweisen, die ein solcher Modus der Zerstreuung signalisiert. Bedenken wir noch einmal, daß Adorno/Horkheimer von Kunst und Zerstreuung als den »unversöhnlichen Elementen der Kultur« 29 gesprochen haben. »Zerstreuung« deutet in ihrem Konzept auf einen kulturellen Code von Alltagserfahrung und mithin auf den Genuß von vielen, nur daß in ihrer Sicht diese Erfahrungsebene eindeutig abgewertet erscheint: »Wer Kunstwerke konkretistisch genießt, ist ein Banause.«30 Während Benjamin dagegen die produktiven Aspekte der veränderten Wahmehmungs-, Erfahrungs- und Genußmatrix der Masse und der Rezeptionsweise der Zerstreuung erkennt. Um dieses Nebeneinander oder die Überlagerung bzw. Hybridisierung von Gebrauchs- und Genußformen genauer zu erkunden, vertieft MartinBarbero den Benjaminschen Blick auf den Rezeptionsmodus der Zerstreuung durch die Überlegungen Pierre Bourdieus zum Kulturkapital und der Ästhetik eines populären Publikums sowie durch Michel de Certeaus Ideen zu populären Alltagspraktiken. Für die lateinamerikanischen Modernedenker waren beide methodologischen Ansätze insofern von Gewicht, als sie eine Sicht auf die Massenkultur eben nicht als die Negation von Kultur ermöglichten. Als ausgesprochen produktiv erwies sich die weder dämonisierende noch idealisierende Sicht auf populären Kulturkonsum, wie sie Pierre Bourdieu beispielsweise in La distinction. Critique sociale du jugement entwickelt hat. Die schroffe Trennung zwischen gewöhnlicher Alltagseinstellung und genuin ästhetischer Einstellung, die sich in Adornos Genußverdikt abzeichnet, durchschaut Bourdieu als doppeltes Manöver: zum einen als Distanznahme gegenüber den »non-inities«, zum anderen als tiefsitzende ent-

27

Martin-Barbero, De los tedios a las mediaciones (Anm. 16), S. 59. Adorno, Ästhetische Theorie (Anm. 4), S. 27. 29 Horkheimer, Kulturindustrie, Aufklärung als Massenbetrug (Anm. 26), S. 161. 28

30

Adorno, Ästhetische Theorie (Anm. 4), S. 26f.

G E N U S S ALS TAKTIK

täuschte Erwartung eines »public populaire«, einbezogen zu werden. So erklärt sich auch das Doppelgesicht des populären Spektakels (und mit ihm der populären Ästhetik), denn es verschafft beides zugleich: »la participation individuelle du spectateur au spectacle et la participation collective ä la fete dont le spectacle est l'occasion«.31 Als solches populäres Spektakel wird auch die Telenovela betrachtet, nicht allein wegen der vorwiegend familiären Rezeption, sondern auch wegen der Verarbeitung* der Erzähl- und Bildangebote aus der Alltagskommunikation. Dabei wird diese audiovisuelle Erzählform in die Tradition eines massenkulturellen Melodramas (Boulevardtheater, Performance, Film) gestellt, die in Lateinamerika mit einer Jahrhundertverspätung gegenüber Europa aufgekommen ist. Die Telenovela aber ist - in der Interpretation Martin-Barberos - sowohl noch nicht endgültig aus dem Umkreis traditioneller Oralität, eben aus dem Rezeptionsmodus des Benjaminschen Erzählers, herausgelöst als schon umfunktioniert in das Format sekundärer Oralität: »Wer einer Geschichte zuhört, selbst wer sie liest, hat an dieser Gesellschaft teil.«32 Als vielleicht noch entscheidender für die Suche der Lateinamerikaner nach einer eigenen Hermeneutik sollte sich die Theorie Michel de Certeaus erweisen. In seinem bedeutendsten Werk Uinvention du quotidien. 1. Arts de faire zielt er auf den ebenso lebenspraktischen wie ästhetischen Code massenhaft erlebter Alltagserfahrung und damit auch auf die Verfahren populären Kulturgebrauchs und populärer Sinnstiftung. Certeau ist in den europäischen Kulturdebatten bislang noch völlig unzureichend berücksichtigt worden, sicher aus Gründen einer bestimmten Geschichte des Moderneprojektes, in der zwischen Traditionellem und Populärem früh geschieden wurde und die Kluft zwischen Spezialdiskursen und populären Erzählkünsten sich ebenso zeitig wie endgültig zu konstituieren schien. Das Populäre als culture populaire und litterature populaire bleibt bei diesem französischen Kulturtheoretiker nicht länger im Bereich der endgültigen Kulturprodukte, eben als »Gattung der Konsumkunst«. Es wird vielmehr als »Künste« des Konsums neu gedeutet, die sich nun als alles andere denn passiv und unproduktiv erweisen: »[...] la culture populaire se presente differemment, ainsi que toute une litterature dite >populairearts de faire< ceci ou cela, c'est-ä-dire, en consommations combinatoires et utilisatrices. Ces pratiques mettent en jeu une ratio >populairereussite< des colonisateurs espagnols aupres des ethnies indiennes: soumis et meme consentants, souvent ces Indiens faisaient des actions rituelles, des representations ou des lois qui leur etaient imposees autre chose que ce que le conquerant croyait obtenir par elles: ils les subvertissaient non en les rejetant ou en les changeant, mais par leur maniere de les utiliser ä des fins et en fonction de references etrangeres au systeme.«35 Der Gegensatz von Strategien und Taktiken erhellt fur Certeau insgesamt die Tatsache, daß eine Gesellschaft sich aus herausragenden, autoritätsprägenden Praktiken und zahllosen anderen Praktiken zusammensetzt, unter denen sich auch die stumme Reserve der Konsumprozeduren findet. Der Modus der Zerstreuung, das ist bei Certeau eben jene taktisch-vergnügliche Arbeit der Vermittlung zwischen den eigenen besonderen, zugleich von vielen geteilten Erfahrungen und den auf verschiedenen Ebenen lokalisierten formalen Strukturen. Solche Prozeduren, die gleichermaßen praktische Handhabung von alltäglichen Gelegenheiten wie den Genuß der gemeisterten Situation umfassen, eben die Künste, »etwas damit zu machen«, sind uralt: schon die griechische Mythologie hat sie

M 35

Ebd., S. 20. Ebd., S. XXXVIII.

GENUSS ALS TAKTIK Metis genannt, eine Form der listigen Intelligenz, die immer in die Praxis eingebunden ist und zugleich in der Kunst des Erzählens gespeichert wird. 36 Was bislang eher vage als ebenso lebenspraktischer wie ästhetischer Code des Alltagslebens bezeichnet worden ist, tritt jetzt genauer hervor. E s ist nach Certeau »l'inderacinable d'une societe: des fa£ons d'utüiser les choses ou les mots selon les occasions [...] une historicite quotidienne, indissociable de l'existence des sujets«.37 Hier zeichnen sich durchaus Möglichkeiten ab, den »Zusammenfall von kritischer und genießender Haltung« im Benjaminschen Sinne oder überhaupt von Genießen und Erfahren konkreter zu erkunden. Die tatsächlichen Operationen, die hinter der Kollektivrezeption der Zerstreuung verborgen sind, münden in eine umfassendere Zielstellung, die Benjamin als »begutachtende Haltung« des Gruppenpublikums bezeichnet und die bei Certeau erscheint als »[...] mille fagons d'instaurer une fiabilite dans les situations subies, c'est-ädire d'y ouvrir une possibilite de les vivre en y reintroduisant la mobilite plurielle d'interets et de plaisirs, un art de manipuler et de jouir«.38 In diesen »mille fa9ons« einer »historicite quotidienne« suchen die neopopulistas nun den Erfahrungsmodus von kultureller Modernität auf ihrem Kontinent. Wie aber nutzt Martin-Barbero die methodologischen Offerten, um das Rätsel der Popularität der Telenovela zu lösen? Der Kolumbianer geht hierfür auf die Suche nach historischen Erklärungsmustern für die Popularität der Telenovelas und beschäftigt sich mit der lateinamerikanische Massenkultur des Melodramas. In dieser Tradition deckt er einen eigentümlichen »Restbestand« populärer anachronistischer Erzählformen auf, durch den aus der melodramatischen Telenovela eine Art von Zwitterwesen wird: noch Popularkultur und schon Massenkultur, noch in der archaischen Welt der Jahrmarktsfeste und eines traditionellen Erzählgedächtnisses und schon in der städtischen Bilderwelt und den Kommunikationsformen eines städtischen Massenpublikums. In der massenhaften Rezeption der Telenovela finden sich also das gleichermaßen individuelle wie kollektive Zuhören eines populären Geschichtenerzählers wie die Neuheit des Rezeptionsmodus der Zerstreuung wieder. Was MartinBarbero in der Annäherung an die narrative Gattung der Telenovela deshalb in besonderem Maße interessiert, ist nicht so sehr, »was aus anderen Zeiten überlebt, sondern was bewirkt, daß gewisse kulturelle Matrizen weiterhin Gültigkeit behalten und sich eine im Grunde anachronistische Erzählweise mit dem Leben der Leute zu verbinden vermag«.39 Dieser hybride Fortbestand des Traditionellen

Marcel Detienne/Jean-Pierre Vernant, Les Ruses de l'intelligence. La metis des Grecs, Paris 1974. 37 Certeau, L'invention du quotidien (Anm. 33), S. 39. 38 Ebd., S. LI. 39 Martin-Barbero/Mufioz, Television y melodrama (Anm. 22), S. 22. 36

286

MONIKA WALTER

hat jedoch wenig mit einem unhistorischen und idealistischen Konzept der Volkskultur oder Folklore zu tun. Das andere Konzept von Popularität und Populärem, das die Lateinamerikaner aus eigener Denkerfahrung und derjenigen von Randgängem europäischer Moderne entwickeln, ist von solcher früheren Idealisierung weit entfernt. Weder wird eine besondere homogene Popularkultur neben oder gegenüber der herrschenden Kultur behauptet, noch werden die entdeckten Finten und Spiele in der Handhabung der herrschenden Codes allein zu einer neuen Widerstandshaltung der »kleinen Leute< sublimiert. Walter Benjamin wie Michel de Certeau haben das Janusgesicht von Masse als Matrix wie auch der Zerstreuung im Sinne eines massenhaften Konsums aufgedeckt. Für beide gehen Widerstandsgesten immer einher mit dem aufrichtigen Glauben an die Normen und Codes einer Gesellschaft sowie mit dem Scharfblick für verborgene Kämpfe und Ungleichheiten, eben für jenes »ganz bestimmte, bis dahin verschlossene Gemach der Vergangenheit«,40 von dem Benjamin spricht. Mit Blick auf die Telenovela bekräftigt Martin-Barbero noch einmal, daß der Raum von Alltags- und mithin von Konsumpraktiken immer auch als ein fataler Ort stummer Verinnerlichung sozialer Ungleichheit wirkt.41 Aber der Lateinamerikaner nutzt gleichzeitig das komplexe Konsumkonzept Certeaus, um aus der begeisterten Rezeption der Telenovelas selbst eine stille, zerstreute, spurenlose Kreativität herauszulesen, die weitaus mehr als Reproduktion oder Sinnproduktion im passiven Nachvollzug vorgegebener Botschaften ist. Gemeint ist der Spielraum, der sich durch solche Künste zur Benutzung, zur fintenreichen, listigen und eben auch vergnüglichen und genießerischen Inbesitznahme der aufgenötigten Ordnung des Ortes und der Sprache eröffnet. Die >Kunst< besteht gerade in einer bestimmten Benutzung der gesellschaftlichen Codes, der herrschenden Symbole und stereotypen Prozeduren, die diese in Metaphern und Ellipsen populärer Bestrebungen verwandeln. Und es ist diese Kunstfertigkeit, die sich in den flüchtigen, aber unerschöpflichen Kulturpraktiken des lateinamerikanischen Großstadtalltags wiederfindet. Die Popularität der Telenovelas zeigt sich nun in ihrer ganzen Ambivalenz: In ihren narrativen Techniken der Wiederholung und den daraus folgenden Standardisierungseffekten von Kulturindustrie zeichnet sich sowohl der Niederschlag der Kommerzialisierung und Manipulationsbestrebungen ab wie zugleich die Spuren jener Ästhetik des Wiedererkennens, der Kombinationskunst von Vertrautem, die gerade die traditionelle Erzählkunst auszeichnen. In die Medien ist mithin eine historische Narrativität eingeschrieben, die sich mit dem Diskurs der zu konsumierenden Produkte verbindet und so auf vielschichtige Weise die Rezeption beeinflußt. Die konstruktive und genießerische, in eine Ästhetik des Alltags mündende Seite dieses Prozesses ist in der gesamten europäischen Theo-

40 Walter Benjamin, [Notizen zu: Über den Begriff der Geschichte], in: ders., Allegorien kultureller Erfahrung (Anm. 17), S. 167-169, hier S. 168. 41 Vgl. Martin-Barbero/Munoz, Television y melodrama (Anm. 22), S. 22.

GENUSS ALS TAKTIK

riebildung zur Massenkommunikation, aber insbesondere im Adornoschen Kulturkonzept, übersehen worden.42 Was in den Konsumtaktiken zählt, so zeigt der Konsumbegriff bei Certeau, sind nicht so sehr die Botschaften, sondern ein bewegliches Koordinatensystem kultureller Aktivitätsfelder des Alltags, der Freizeit, die offen für verschiedene Möglichkeiten des Gebrauchs, der Sinngebung, der Lust, des Genusses sind.43 Denn die wichtigste Schlußfolgerung, die MartinBarbero aus der Lektüre von Certeau zieht, um das Phänomen der Popularität der Telenovela richtig zu bewerten, liegt in folgender Einsicht des Franzosen begründet: »L'ordre effectif des choses est justement ce que les tactiques >populaires< detournent ä des fins propres sans l'illusion qu'il va changer de sitöt.«44 Die desillusionierte, aber keineswegs fatalistische Haltung der lateinamerikanischen Intellektuellen fand sich durch solche Einsichten bestärkt, Reformmöglichkeiten in den mikroskopischen Veränderungen der »historicite quotidienne« zu suchen und dabei zugleich Antworten auf zwei grundlegende Fragen zu finden. Sie bleiben bestehen, trotz der schmerzlichen Einsicht, daß es keine objektive Lösung gesellschaftlicher Konflikte und damit auch keine Chance für Radikallösungen gibt. Da ist zum einen die politische Frage, wie sie der Argentinier Nestor Garcia Canclini formuliert hat: »Warum unterstützen die populären Sektoren diejenigen, die sie unterdrücken?« Die andere kulturelle Frage schließt unmittelbar an und zielt darauf, »in welchem Sinne und mit welchem Ziel die populären Bevölkerungsschichten sich der Modernität anschließen, sie suchen und mit ihren Traditionen vermischen«.45 Wir sind erneut beim Paradigmawechsel im lateinamerikanischen Modernedenken angelangt: also Moderne nicht allein von den experimentellen Grenzerfahrungen einer Avantgardekunst her zu definieren, sondern von den Wirkungsbedingungen der Massenkommunikation und damit aus der Perspektive des sogenannten >kleinen MannesSiecle de Lumieres< in Wilhelm von Humboldts Pariser Tagebüchern, in den Melanges offerts ä Roland Mortitr, und 1982 im Philo-

sophenlexikon ein Artikel über Paul Heinrich Dietrich Baron von Holbach. 4 Werner Krauss, Literaturgeschichte als geschichtlicher Auftrag, in: Sinn und Form 2 (1950), H. 4, S. 65-126.

VERSUCH EINES RÜCKBLICKS

buch derfranzösischen Literatur,5 in dessen Einführung in die Grundlagen derfränkischen Aufklärung und Revolutionszeit er darauf hinwies, daß sich »in den Prinzipien der Aufklärung [...] schon die Keime unserer eigenen Epoche erkennen« lassen,6 aber »eine so entscheidende literarische Menschheitsepoche in Deutschland [...] geschmäht und verkannt und der Kenntnis der kommenden Geschlechter entzogen wurde«,7 weshalb es galt, »den verschütteten Zugang zu den belebenden Quellen der echten und bleibenden Werte der Menschheit [wiederzugewinnen« 8 . Aus der Zusammenschau dieser beiden Publikationen ergibt sich als Zielstellung die Herausarbeitung der gesellschaftlichen Widersprüche, die dieses Siecle des Lumieres durchziehen und den in literarischen wie philosophischen Werken sich niederschlagenden geistigen Auseinandersetzungen ihr Gepräge geben. Daß dabei mit Hinblick auf die marxistische Gesellschaftstheorie der Entwicklung des Materialismus die ihm gebührende Aufmerksamkeit gewidmet werden sollte, war selbstverständlich. In eben diesem Kontext steht Naumanns Habilitationsarbeit über Holbach. Die ideologischen Kämpfe der Aufklärer erweisen sich in dieser Optik nicht als eitles Philosophengeplänkel, sondern als Ausdruck der realen Antagonismen des gesellschaftlichen Umbauprozesses, aus dem die Bourgeoisie in der Revolution von 1789 als Sieger hervorgeht. Die Differenzen in der Annäherung der einzelnen Aufklärer an eine konsequent materialistische Interpretation aller Erscheinungen in Natur und Gesellschaft werden zwar als Reflexe unterschiedlicher konkreter Interessen der verschiedenen Fraktionen des Tiers Etat interpretiert, aber nicht mechanistisch aus jeweiliger Schichtenzugehörigkeit der einzelnen Autoren abgeleitet. Holbach, dessen ererbter feudaler Reichtum seine Unabhängigkeit begründete, legte ζ. B. von Anfang an in seiner materialistischen Orientierung eine Radikalität an den Tag, die objektiv »den ideologischen Vertretern jener bürgerlichen Fraktion vorbehalten« war, »die den Kern der kapitalistischen Bourgeoisie bildete: dem Manufaktur- und Handelsbürgertum«.9 Naumanns kritische und zugleich würdigende Darstellung der Werke Holbachs kann als Bestätigung der eingangs getroffenen Feststellung aufgefaßt werden, daß »der Platz, der Holbach objektiv in der Geschichte des menschlichen Denkens gebührt, [...] erst von den Vertretern des wissenschaftlichen Materialismus wirklich befestigt werden« konnte.10 Abgewandelt könnte man diesen Satz auf die Resultate der gesamten von Krauss ausgehenden und angeregten Aufklärungs-

5 Werner Krauss unter Mitwirkung von Manfred Naumann (Hrsg.), Lesebuch der französischen Literatur, Bd. 1: Aufklärung und Revolution, Berlin 1952. 6 Ebd., S. 9. 7 Ebd., S. 25. 8 Ebd. 9 Manfred Naumann, Holbach und das Materialismusproblem in der französischen Aufklärung, in: Grundpositionen der französischen Aufklärung (Neue Beiträge zur Literaturwissenschaft, Bd. 1, hrsg. von Werner Krauss und Hans Mayer), Berlin 1955, S. 83-127,277-297, hier S. 101. 10 Ebd., S. 86.

298

RITA S C H O B E R

forschung, die einen unverzichtbaren Beitrag zu den Peripetien neuzeitlicher Ideologiegeschichte geliefert hat, beziehen. All diese Arbeiten kreisten um Zentralprobleme, die sich der Spätaufklärung stellten: Bei der Auseinandersetzung mit ihnen ging es nicht um ein rein historisches Interesse, sondern um die bis heute unabgegoltene, von der Aufklärung aufgeworfene entscheidende Frage, wie die Gesellschaft bestellt sein muß, damit der Mensch in ihr in Freiheit und Würde leben könne, und umgekehrt, wie der Mensch selbst verfaßt sein müßte, damit er in einem solcher Zwecksetzung verpflichteten Gemeinwesen als gleichberechtigtes Mitglied tätig werden könnte. Das Nachdenken über solche von der Vergangenheit aufgeworfenen Fragen ist letztlich immer ein Nachdenken über die Gegenwart. So hatte Werner Krauss von Anfang an die Aufklärungsforschung auch gesehen und verstanden. Sie war zugleich der Ort, an dem er verkürzten tagespolitischen Lösungen den Widerstand einer in die Tiefe lotenden Reflexion gesellschaftlicher Fragen entgegenstellte. Manfred Naumann hat diese Haltung in seinem eigenen Wirken ebenfalls zu praktizieren gewußt. Manfred Naumanns Einstieg in die im engeren Sinne literarhistorische Arbeit erfolgte 1959 mit der Übernahme der Herausgabe der gesammelten Werke von Stendhal bei Rütten und Loening. Sie erschienen in loser Folge zwischen 1959 und 1984 in zwölf Bänden mit einer jeweiligen Einführung in das entsprechende Werk und umfaßten auch die Reisetagebücher und Briefe. Mit Stendhals Helden kam für Manfred Naumann das problematische Individuum der nachrevolutionären Periode ins Blickfeld, an dessen Lebenslauf die Spielräume und Möglichkeiten erkundet werden konnten, die seinem Selbstverwirklichungsanspruch neu eröffnet waren, und zugleich die Widerstände, die ihn behinderten. Sein weiteres Schicksal verfolgte er in den folgenden Jahren an Hand von Fallstudien zu Flaubert, den Goncourts, insbesondere aber zu Proust und den nouveaux romanciers Nathalie Sarraute, Alain Robbe-Grillet und Michel Butor. Das Ergebnis dieser Erhebungen legte Manfred Naumann 1978 in dem Buch Prosa in Frankreich vor. Da ich mich mit diesem Band bereits 1979 auf nahezu vierzig Seiten Annotationen ausfuhrlich beschäftigt habe,1' möchte ich mich in diesem Zusammenhang auf eine kurze Bemerkung beschränken: Mit Prosa in Frankreich wollte Manfred Naumann, wie er in der Vorbemerkung selbst feststellte, nicht die Geschichte einer literarischen Gattung schreiben, sondern die »entscheidenden Etappen sichtbar machen, in denen der Roman die zeitgemäß möglichen Antworten auf die Frage mach den Chancen individueller Selbstbehauptung< unter den Bedingungen >der zur Prosa geordneten Wirklichkeit bürgerlich-kapitalistischer Gesellschaftsverhältnisse reflektiert«.12 Durch diese auf eine gesellschaftliche Grundfrage

11 Rita Schober, Annotationen zu Manfred Naumanns »Prosa in Frankreich«, in: Weimarer Beiträge 25 (1979), H. 10, S. 88-116. 12 Manfred Naumann, Prosa in Frankreich. Studien zum Roman im 19. und 20. Jahrhundert (Literatur und Gesellschaft), Berlin 1978, S. 7.

VERSUCH EINES RÜCKBLICKS

bezogene Betrachtungsweise gelingt es ihm, die einzeln konzipierten und veröffentlichten Studien zu den behandelten Autoren zu einer glänzenden Gesamtdarstellung zusammenzufassen, die nicht nur zum Neudurchdenken der Geschichte des Romans im 19. und 20. Jahrhundert anregt, sondern auch zentrale Fragen der Realismustheorie aufwirft. Wenn Literatur das Prädikat »realistisch« für sich in Anspruch nehmen will, dann muß ihr in Manfred Naumanns Sicht ein kritisches Potential eingeschrieben sein, das allein ihr im Widerstreit der realen aktiven Kräfte des menschlichen Zusammenlebens den Status eines möglichen Wirkungsfaktors verleihen kann. Der gleichermaßen literargeschichtliche wie theoretische Ertrag dieser Arbeit resultiert auch hier aus einer für Manfred Naumann bezeichnenden methodischen Vorgangsweise: dem Ausgehen von einer historischgesellschaftlichen Fragestellung, um anhand des daraufhin überprüften literarischen Materials das literaturtheoretische Problem in den Griff zu bekommen. Gerade den »Umgang mit konkreten Werken« betrachtete Naumann zudem angesichts der schon jahrelang parallel laufenden theoretischen Arbeit als ein »Korrektiv jener Gefahr [...] über der Beschäftigung mit der Theorie der Literatur die Literatur zu vergessen«.13 Einem Wissenschaftler wie Manfred Naumann, dem historisches Herangehen an alle Fragen der Literatur zur zweiten Natur geworden ist, muß die Erarbeitung eines Literaturlexikons, dessen Anordnungsweise durch — dem Gegenstand Literatur gegenüber - heteronome Kriterien geregelt wird, eine gewisse Selbstüberwindung bedeuten. Vielleicht rechnet er gerade deshalb auch das 1987 erschienene Gemeinschaftswerk Lexikon der französischen Literatur zu seinen literaturpraktischen Arbeiten. Bei genauerem Hinsehen aber zeigt sich, daß sein historischer Sinn sich auch hier nicht verleugnet hat. Natürlich kann ein Literaturlexikon die durch die alphabetische Präsentierung von Autoren und Sachartikeln gegebene Disparatheit der Anordnung des zeitlich Zusammengehörigen nicht prinzipiell aufheben, aber es kann versuchen, Verstrebungen einzubauen, um das Zusammengehörige auffindbar zu machen, und bei diesem Bemühen hatte Naumann eine wirklich glückliche Hand. Dem Benutzer ist durch die Umrahmung des alphabetisch angeordneten Artikelcorpus, durch die Auflistung der Personen- und Werkartikel in chronologischer Reihenfolge, die Präsentierung der Sachartikel in systematischer Anordnung, das Sach- und Personenregister, die Daten zur politischen Geschichte, die Querverweise in den Artikeln selbst und vor allem natürlich durch die einschlägigen Überblicksartikel zu den verschiedenen literarischen Epochen, Strömungen, Richtungen und Gruppen ein Apparat an die Hand gegeben, der es ihm gestattet, im Rahmen des Möglichen die durch das Genre Lexikon gegebene Begrenzung der historischen Sicht im eigenen Umgang mit dem gebotenen Material zu kompensieren. Aber natürlich bleibt das Hauptanliegen eines Lexikons sein Informationswert. Angesichts der Tatsache,

13

Ebd., S. 10.

299

300

RITA SCHOBER

daß zum Zeitpunkt des Erscheinens 1987 in der DDR keine vertretbare Geschichte der französischen Literatur vorhanden und vor allem die Gegenwartsliteratur mit Ausnahme der übersetzten Werke in der Originalsprache so gut wie nicht zugänglich war, kam der Gewichtung der einzelnen Jahrhunderte besondere Bedeutung zu. Die Entscheidung, das 19. und 20. Jahrhundert verstärkt zu berücksichtigen, ohne im Mittelalter und den anderen Epochen Wesentliches zu vernachlässigen, entsprach einem objektiven Bedürfnis. Gerade für die moderne Literatur ist die Auswahl der Autoren und Sachstichwörter um eine die Pluralität der Richtungen erfassende Sachinformation im besten Sinne des Wortes bemüht. Wir haben es mit einem Werk zu tun, das objektiv und undogmatisch, ohne ideologisches Beiwerk allein seinem wissenschaftlichen Anliegen verpflichtet ist. Diese Grundorientierung ist ebenso wie die Gesamdeitung des weiträumigen Unternehmens das unbestreitbare Verdienst des Herausgebers. 14 Aber Manfred Naumann hat sich auch an der Ausarbeitung der Artikel selbst in großem Umfang beteiligt. Seine 250 Beiträge, die vom Mittelalter bis zur Neuzeit reichen, weisen alle Vorteile der ihm eigenen Schreibweise auf, die - stets auf umfassender Sachkenntnis beruhend — vor allem durch die Fähigkeit zu komprimierter Darstellung des Wesentlichen in einer ihm eigenen Diktion gekennzeichnet ist. Mit all diesen ideologiegeschichtlichen, literarhistorischen und auch literaturpraktischen Arbeiten, deren wissenschaftlicher Ertrag ja nur andeutungsweise zur Sprache kommen konnte, hat er sich unverwechselbar in die Romanistik eingeschrieben. Doch seine für die Literaturwissenschaft insgesamt anregendsten und folgenreichsten Publikationen sind, wenn ich es recht sehe, seine Arbeiten zur Literaturtheorie. Mit zwei Artikeln in den Weimarer Beiträgen 1970 und 1971, Literatur und Leser sowie Autor — Adressat — Leser, signalisierte Manfred Naumann seine Beschäftigung mit der Rezeptionsästhetik, die, ungefähr zeitgleich, unter anderen Prämissen auch von Hans Robert Jauß entwickelt wurde. 1973 folgte dann die unter seiner Leitung gemeinsam mit Kollegen des Theoriebereichs, insbesondere Karlheinz Barck und Dieter Schlenstedt, entstandene Gemeinschaftsarbeit Gesellschaft — Literatur — Lesen. Es ist sicher nicht übertrieben zu sagen, daß diese Arbeit für die Literaturwissenschaft der DDR in gewisser Hinsicht einen Paradigmenwechsel einleitete. Ausgehend von ihr, setzte sich entgegen der bis dahin weitgehend produktions- und darstellungsästhetischen Betrachtungsweise eine kommunikationsästhetische Sicht in allen literaturtheoretischen Fragen durch. Ich selbst habe versucht, die Konsequenzen aus dieser Sicht in der Realismustheorie zu ziehen als Korrektiv gegen einseitig werkorientierte Auffassungen

14 Vgl. die interessante Diskussion zu Naumanns Lexikon und dem vom Winfried Engler bei Kröner, 1994 in 3., verbess. Aufl., publizierten Lexikon derfranzösischen Literatur. Lexika zur französischen Literatur: Kein Unterschied zwischen West und Ost? Winfried Engler, Manfred Naumann und Michael Neriich im Dialog, in: lendemains 54 (1989), S. 167-174.

VERSUCH EINES RÜCKBLICKS

von Realismus als einer »Dingqualität« des Textes.15 Gesellschaft — Uteratur — Lesen bringt auf insgesamt 564 Seiten nach einer von Manfred Naumann selbst verfaßten theoretischen Einführung in die Grundproblematik drei Kapitel von Karlheinz Barck und Dieter Kliche zur Behandlung der Literaturrezeption in vergangenen sowie aktuellen Literaturtheorien einschließlich sozialistischer Ansätze. In der zweiten Hälfte wird in dem von Dieter Schlenstedt verfaßten Abschnitt an Hand konkreter Textanalysen zu dem Gedicht Der Rauch von Bertolt Brecht und dem Roman Das siebte Kreuζ von Anna Seghers gewissermaßen eine Tauglichkeitsüberprüfung des eingangs ausgearbeiteten Kategorienarsenals vorgenommen unter zusätzlicher Bereitstellung eines textinterpretatorischen Apparates. Der Band schließt seiner inneren Logik entsprechend mit einem Kapitel über produktive Funktionen der Literatur. Manfred Naumann projiziert in seiner Einfuhrung das Verhältnis Autor - Werk - Leser zunächst auf die von Marx entwickelte »verständige Abstraktion«16 der allgemeinen Dialektik von Produktion und Konsumtion, als der übergreifenden Kategorien aller materiellen und ideellen Aneignungsweisen der Welt durch den Menschen. Unter ausdrücklichem Hinweis auf die Spezifik der »geistigen« Produktion, 17 zu deren Bereich Karl Marx die künstlerische Produktion rechnet, wird diese Dialektik als gültig auch für letztere postuliert Mit diesem Ansatz sind zwei weitere Grundannahmen verbunden: daß diese Dialektik der Weltaneignung durch den Menschen konkret stets auf einer bestimmten gesellschaftlichen Entwicklungsstufe stattfindet 18 und daß der dadurch in Gang gesetzte Prozeß den konkreten Vollzug der historischgesellschaftlichen Entwicklung darstellt, in dessen Verlauf sowohl die ergriffenen Gegenstände verändert werden als auch die sie ergreifenden Subjekte sich selbst verändern. Begriffe wie »Humanisierungsfunktion« der Kunst durch Entfaltung von »Kunstsinn« und »Schönheitsgenußfähigkeit«19 kommen hier im Anschluß an Marx ins Spiel. Nach dieser allgemeinen Grundlegung analysiert Naumann die spezifischen Probleme der literarischen Produktion als »Rezeptionsvorgabe« in bezug auf das Verhältnis des Autors zur Wirklichkeit,20 zum Adressaten 21 und

15 Rita Schober, Rezeption und Realismus, in: dies., Abbild, Sinnbild, Wertung, Berlin - Weimar 1982, S. 192-240. Zum Stand der Realismusdiskussion in der DDR 1988 vgl. Rita Schober, Wirklichkeitseffekt oder Realismus, in: dies., Vom Sinn oder Unsinn der Literaturwissenschaft, Halle - Leipzig 1988, S. 29-65. 16 Manfred Naumann (Leitung und Gesamtred.), Dieter Schlenstedt, Karlheinz Barck, Dieter Kliche und Rosemarie Lenzer, Gesellschaft - Literatur - Lesen. Literaturrezeption in theoretischer Sicht, Berlin - Weimar 1973, S. 22. " Ebd., S. 20. 18 Ebd., S. 22. 19 Ebd, S. 24f. 20 Ebd., S. 39-52. 21 Ebd., S. 52-79.

302

RITA SCHOBER

zum Literatuiprozeß 22 und der »Realisierung der Werke« in der Rezeption »durch das tätige Subjekt«.23 Abgehandelt werden: - gnoseologische Fragen des Werk-Wirklichkeitsverhältnisses als eines spezifischen durch das künstlerische Subjekt aneignend veränderten Abbildes, wobei dieses entscheidende Moment der Veränderung als das Wesentliche der künstlerischen »Widerspiegelung« diagnostiziert wird, - Fragen des damit verbundenen Problems der Wahrheit, - Fragen der psychologischen Besonderheiten des künstlerischen Wahmehmungsprozesses,24 - Fragen der formalen Strukturiertheit, - Fragen der Steuerung der Rezeption durch die jeweilige Verfaßtheit des Werkes, indem drei verschiedene Typen von Rezeptionsvorgaben (transparente, antitransparente und instabile) ausgemacht werden, - Fragen des Verhältnisses zu Tradition und Neuerertum,25 zu dem vorhandenen literarischen Material, dem vorgefundenen Gedankenstoff,26 - Fragen dessen, was Hans Robert Jauß als »Wahmehmungshorizont« der Rezipienten beschrieben hatte, im Hinblick auf gesellschaftliche Rezeptionsweisen,27 Leseerwartungen und -motivationen, - Fragen des Unterschieds zwischen dem Werk als tradiertem Gegenstand und dem Werk als wirklichem Produkt, sofern es in der Aneignung durch die Tätigkeit des Rezipienten emeut in die Dialektik des gesellschaftlichen literarischen Aneignungsprozesses eingeht, u. ä. Kurz: Manfred Naumann durchschreitet in dieser Einfuhrung den ganzen mit der literarischen Produktion und Rezeption verbundenen Problemkreis, wobei er die eigenen Thesen immer zugleich im dialogischen Bezug auf andere in der Diskussion befindliche Auffassungen reflektiert. Sicher, in der Sicht des heute herrschenden metaliterarischen Wissenschaftsdiskurses mag der behandelte Fragenkatalog das Stigma des historischen Entstehungskontextes tragen und Kategorien wie: Humanisierungsfunktion, Botschaft, Schönheitsgenußfähigkeit, »schlummernde Gattungspotenzen« oder die Sinnfrage obsolet erscheinen.28 Aber der Rekurs auf Marx gerade auch mit der nicht zufällig als Thema dieser Festschrift vorgegebenen Kategorie des »Genusses«, das reflektierte Arbeiten mit Sinn- und Wertungskategorien gegen einen einseitigen

22 Ebd., S. 79-83. 23 Ebd., S. 83-97. 24 Vgl. ebd., S. 51. 25 Vgl. ebd., S. 81. 2« Vgl. ebd., S. 80. 27 Vgl. ebd., S. 91. 28 Für die Postmoderne gehört die zugrunde gelegte Gesellschaftstheorie in das Reich der totalisierenden Metaerzählungen. Schlicht und einfach überholt, gehört sie in die Katakomben der Vergangenheit. Vgl. dazu Wolfgang Welsch, Unsere postmoderne Moderne (1987), Berlin Μ 997, S. 172ff.

VERSUCH EINES RÜCKBLICKS

Gnoseologismus, das Betonen der im produktiven und rezeptiven Umgang mit Kunst sich entfaltenden Subjektivität war eine ganz bewußt entwickelte Gegenposition zu einer Reduktion des Gedankenreichtums von Marx auf eine oft mechanistisch angewandte Gesellschaftstheorie. In dieser Beziehung gewinnt Gesellschaft — Literatur - Lesen gerade aus der zeitlichen Distanz einen ganz neuen Dokumentationswert, weil dieses Gemeinschaftswerk auch über die Diskussionen innerhalb der marxistischen Literaturtheorie in den 70er Jahren Aufschluß gibt und die landläufige Auffassung von ihr als eines in jeder Hinsicht festgelegten dogmatischen Konstrukts als Mythos sichtbar macht. Viele der hier vorgetragenen Antworten auf Grundfragen der Literaturtheorie sind in meiner Sicht nach wie vor gültig oder zumindest bedenkenswert und lassen sich, wenn man genauer hinschaut, in so mancher als Standardwerk gehandelten modernen einschlägigen Publikation unter verändertem terminologischem Gewände wiederfinden. Dieses Buch, das mit dem darin verwandten und ζ. T. neu entwickelten literaturtheoretischen Kategoriensystem und der dazu gehörenden Terminologie zu einem Standardwerk für die Literaturwissenschaft der DDR wurde - und sich, soweit ich es überblicke, auch auf die von Jauß entwickelte Konzeption der Rezeptionsästhetik ausgewirkt hat, wofür man als Indiz die gemeinsame Verantwortung für die Sektion Literary Communication and Reception auf dem internationalen AILC-Kongreß in Innsbruck 197929 anführen könnte - dieses Buch enthielt über die behandelte Problematik hinaus zugleich einen ganzen Katalog offen gebliebener Fragen, denen sich Manfred Naumann in den nächsten Jahren zuwandte. Sehe ich es recht, so entwickelten sich diese Arbeiten in einem dreifachen Bedingungsgefüge: Da waren zum einen die literaturtheoretischen Diskussionen in der DDR selbst. Manfred Naumann griff in dem Maße in sie ein, in dem er deren Fragestellungen für relevant hielt. Da waren zum zweiten die Angebote der internationalen Theorieentwicklung, die er schöpferisch aufnahm und verarbeitete. Da war zum dritten die innere Logik der eigenen Theorieentwicklung, die sich immer wieder an dem zentralen Gedanken von Krauss »wie Dichtung in die Zeit gesenkt ist« entzündete. Es ist deshalb folgerichtig, daß ihn Fragen der Literaturgeschichte - sowohl als realer Vorgang wie als metahistorische Darstellung — immer wieder beschäftigten, nicht zuletzt auch, um tagespolitischer Instrumentalisierung der Arbeit entgegenzutreten. Dies zeigen eine Reihe der zwischen 1970 und 1982 entstandenen Aufsätze, die er zusammengefaßt 1984 in dem Reclamband Blickpunkt Leser veröffentlichte. Gerade in der literaturgeschichtlichen Problemstellung flössen diese dreifachen Anstöße zusammen. Seit der 1967 von Hans Robert Jauß gehaltenen Antrittsvorlesung Uteraturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft war das Problem der Literaturgeschichte als Ei-

29 Vgl. dazu: Manfred Naumann, Zoran Konstantinovic und Hans Robert Jauß (Hrsg.), Literary Communication and Reception. Actes du IXe congres de l'AILC, Innsbruck 1980.

303

304

RITA S C H O B E R

gengeschichte unabweisbar neu gestellt.30 Das zweite Krauss-Kolloquium 1980 hatte deshalb nicht zufällig als Thema »Geschichte und Funktion der Literaturgeschichtsschreibung« gewählt Auf diesem Kolloquium hielt Manfred Naumann einen Vortrag mit dem Titel Werk und Literaturgeschichte.31 Er betonte den unlöslichen Konnex zwischen interpretatorischer und historischer Vorgangsweise und machte zugleich den in den jeweilig angewandten Verfahren tinaufgelösten Rest der Erfassung ihres Gegenstandes sichtbar. Dem Streit um eine zu bevorzugende Daseinsberechtigung einer der beiden Forschungsmethoden war damit der Boden entzogen. In die Literaturgeschichtsdebatte griff Manfred Naumann nochmals 1982 mit seinem viel beachteten Vortrag auf dem X. AILC-Kongreß in New York ein. Sein Vortrag L'evenement litteraire et l'histoire litteraire war, das kann man ohne Übertreibung sagen, dort selbst ein »evenement«.32 Ausgehend von Greimas' Aufsatz Sur l'histoire evenementielle et l'histoire fondamentale,33 konstituierte sich fur Naumann das literarische Ereignis im Unterschied zu dem historischen Ereignis von Greimas nicht im Funktionsgefiige der Tiefenstrukturen als Oberflächenstruktur, sondern in der Dialektik zwischen Einzelnem, Besonderem und Allgemeinem, wobei an der »selection significative« außer den Lesern auch die literaturreflexiven Instanzen und literaturvermittelnden Institutionen einen Anteil haben. Der literarische Prozeß präsentiert sich in Naumanns Sicht in diesem Zusammenhang als ein für verschiedene Entwicklungsrichtungen literarischer Produktion offenes Feld, worin dem Zufall ebenso ein systematischer Ort zukommt wie der Unvorhersehbarkeit künstlerischer Subjektivität. Der weitere Entwicklungsgang des literarischen Prozesses aber wird durch die Herausgehobenheit des literarischen Ereignisses als ein besonderes mitstrukturiert. Es läßt das Vorher in anderem Lichte erscheinen als bisher und geht in das Nachher selbst mitbestimmend ein. So konstituierte sich Literaturgeschichte als Eigengeschichte, nicht losgelöst von der Allgemeingeschichte, aber abgehoben von ihr. Ganz am Ende dieses Vortrage kam, wie nebenbei, ein Hinweis auf den Begriff der »literarischen Institution«, wie ihn Roland Barthes gebrauchte.34 1988 hinterfragte Manfred Naumann auf dem AILC-Kongreß in München in seinem Vortrag, Literatur als Institution, ausgehend von dem durch Harry Levin 1946 geprägten Ausdruck »Literature as an Institution« die Tauglichkeit des Begriffs. Die Überprüfung erfolgte an Hand der

30 Vgl. Hans Robert Jauß, Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt/M. 1970, S. 199. 31 Manfred Naumann, Werk und Literaturgeschichte, in: ders., Blickpunkt Leser. Literaturtheoretische Aufsätze, Leipzig 1984, S. 205-220. 32 Vgl. die deutsche Ubersetzung: Manfred Naumann, Das literarische Ereignis in der Literaturgeschichte, in: ders., Blickpunkt Leser (Anm. 31), S. 221-231. 33 Julien Greimas, Sur l'histoire evenementielle et l'histoire fondamentale, in: Geschichte - Ereignis und Erzählung, hrsg. von Reinhart Koselleck und W.-D. Stempel (Poetik und Hermeneutik V), München 1973, S. 139-153. μ Vgl. ebd., S. 228.

VERSUCH EINES RÜCKBLICKS

in ähnliche Richtung gehenden Gedanken von Jean-Paul Sartre, Roland Barthes, Pierre Bourdieu bis hin zu Peter Uwe Hohendahls Anforderungskatalog.35 Vorsichtig abwägend, auch gegenüber dem schon in Gesellschaft - "Literatur — Leseη 1973 vorgeschlagenen Konzept der Literaturverhältnisse, stellt Manfred Naumann fest, daß der Institutionsbegriff kaum in der Lage sei, die widersprüchliche Einheit der verschiedenen Sektoren zu erfassen, die die Gesamtheit des literarischen Lebens in einem bestimmten Moment seiner synchronischen oder diachronischen Entfaltung konstituieren. Den Feldbegtiff von Bourdieu wird er allerdings 1999 in einem Artikel gebrauchen. Die Konsequenz, mit der Manfred Naumann erarbeitete Positionen der eigenen Theorie immer wieder an den Ergebnissen der internationalen Forschung überprüft, ist nicht nur charakteristisch für seine wissenschaftliche Arbeitsweise, sondern auch für die Beharrlichkeit und Umsicht, womit er sein Wissenschaftsgebäude erweitert. Einen besonderen Aspekt eröffnen im Kontext der theoretischen Arbeiten die komparatistischen Artikel. In ihnen treten literarhistorische Befunde in eine produktive Spannung zu den theoretischen Fragen. Sie können deshalb auch unterschiedlich in der einen oder anderen Richtung gewichtet sein. Für ihr Arbeitsgebiet geht die Komparatistik von der stillschweigenden Voraussetzung aus, daß Literaturen sowohl sprachlich und national bedingte Unterschiede als auch darüber hinaus Gemeinsamkeiten aufweisen. Woher für einen Wissenschafder die Anstöße zur Erweiterung seines Forschungsfeldes kommen, wird im einzelnen nicht immer nachvollziehbar sein. Wie in allen den Menschen betreffenden Fragen spielen immer auch Zufälle eine Rolle. Für Manfred Naumann könnte man vermuten, daß die Anstöße im Falle der Komparatistik vielleicht durch drei Umstände ausgelöst bzw. verstärkt wurden: durch die Einbindung in die Aufklärungsforschung, in die unmittelbare Arbeit der AILC und durch die eigenen Stendhalstudien. Die Aufklärungsforschung war für Krauss infolge der dem Forschungsinteresse übergeordneten Zwecksetzung, die Entwicklung des vormarxschen materialistischen Denkens in Frankreich herauszuarbeiten, aber nicht nur unter diesem Aspekt, auch komparatistisch, d. h. mit dem Ausgtiff auf die deutsche Ideologieund Literaturgeschichte angelegt.36 Davon zeugen von Krauss selbst oder der

35 Vgl. Jean-Paul Sartre, Qu'est-ce que la litterature?, Paris 1947; Roland Barthes, Le degre zero de l'ecriture, Paris 1953; Pierre Bourdieu, Le champ litteraire, Prealables critiques et principes de methode, in: lendemains 36 (1984), S. 5-20; ders., Les regies de l'art. Genese et structure du champ litteraire, Paris 1992; Peter Uwe Hohendahl, Die literarische Kultur im Zeitalter des Liberalismus 1830-1870, München 1985, Einleitung. 36 In der 1962 verfaßten kurzen Vorbemerkung zu dem 1964 bei Rütten und Loening, Berlin erschienenen Band Neue Beiträge %ur Literatur der Aufklärung schreibt Krauss am Schluß: »Die Erforschung der französischen Aufklärung ist nicht das einzige und auch nicht das letzte Ziel all dieser Bemühungen. Wir sind davon überzeugt, daß das Verständnis der deutschen Klassik ohne die Kenntnis dieser vorbereitenden Geistesbestrebungen in die Irre geht. Marx hat in der Aufklärung eine der Quellen des wissenschaftlichen

306

RITA SCHOBER

Aufklärungsgruppe erarbeitete Bände wie die schon 1952 konzipierte Anthologie Die französische Aufklärung im Spiegel der deutschen Literatur der Aufklärung, der Sammelband Studien ζur deutschen und französischen Aufklärung (beide 1963 veröffentlicht)37 oder das Schlußkapitel der 1974 erschienenen Gemeinschaftsarbeit der Aufklärungsgruppe Französische Aufklärung, bürgerliche Emanzipation, Literatur und Bea>ußtseinsbildung.is Manfred Naumanns 1976 veröffentlichte, rezeptionsästhetisch orientierte Untersuchung Das Systeme de la Nature in der deutschen Aufklärung gehört ebenso in diesen Zusammenhang wie 1980 der Beitrag zur Festschrift für Roland Mortier, Diderot und das siecle des lumieres in Wilhelm von Humboldts Pariser Tagebüchern. Das Bild, das Autoren von Vertretern einer anderen nationalen Literatur reflektieren, gehört zu einem genuinen komparatistischen Forschungsbereich. Noch früher ist der von Stendhal ausgehende Anstoß dingfest zu machen. Zu der 1971 veröffentlichten Festschrift für Werner Krauss zum 70. Geburtstag steuerte Manfred Naumann einen Aufsatz über Deutschland im Urteil Stendhals bei, in den bereits Überlegungen zur komparatistischen Methode eingestreut sind. Auch die Fokussierung der primär theoretisch motivierten Artikel auf die Umbruchs- und Übergangsperiode vom Ancien Regime zur Julimonarchie, anders formuliert, vom Siecle des Lumieres zur Epoche der ersten industriellen Revolution, ist vielleicht der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Werk Stendhals zu danken. Die in diesem Zeitraum angesetzten Fragen betreffen: das Phänomen der Romantik (so in den beiden Aufsätzen von 1982 Goethes Verhältnis zur europäischen Literatur nach 1815 und Das junge literarische Europa im Urteil des späten Goethe), das Verhältnis von Nationalliteratur und Weltliteratur (es wird selbstverständlich an Goethes Bemerkungen zu dem erst von ihm eingeführten Begriff abgehandelt) und die durch diese Periode ausgelösten Veränderungen des gesamten Literaturgefüges und des damit verbundenen Literaturbegriffs. Die Frage nach dem, was unter Literatur zu verstehen sei - die Joachim Küpper im Juni 2000 in seiner Berliner Antrittsvorlesung Was ist Literatur?

Sozialismus gefunden. Im Hinblick darauf kann unsere Forschung auch als ein Beitrag zum Verständnis unserer eigenen Epoche gewertet werden.« 37 Werner Krauss, Studien zur deutschen und französischen Aufklärung, in: ders. und Hans Mayer (Hrsg.), Neue Beiträge zur Literaturwissenschaft, Bd. 16, Berlin 1963; zu dem ganzen Problemkreis vgl. Werner Krauss, Aufklärung III. Deutschland und Spanien, hrsg. von Martin Fontius, Berlin - New York 1996, dort insbes. die Anmerkungen zu dem 1963 im Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen bei Harri Meier veröffentlichten Aufsatz Die französische Aufklärung und die deutsche Geisteswelt, S. 703ff., sowie das Nachwort von Martin Fontius, Vom Hispanisten zum Dixhuitiemisten. Zu einem Kapitel deutscher Wissenschaftsgeschichte (S. 621-635) und im gleichen Band die Anmerkungen zu dem Aufsatz Über die Konstellation der deutschen Aufklärung (S. 640f.), aus denen hervorgeht, daß die Anthologie u. d. T. Die Französische Aufklärung im Spiegel unseres kulturellen Erbes bereits 1952 konzipiert wurde. 38 Kollektivarbeit von Winfried Schröder (Leitung), Martin Fontius u. a., Leipzig 1974.

VERSUCH EINES RÜCKBLICKS

erneut gestellt hat39 —, ist seit dem in dieser Epoche erfolgten Auseinanderfallen der Literaturproduktion in zwei einander entgegengesetzte Bereiche virulent geblieben. Manfred Naumann handelt sie zunächst an Hand des literarischen Diskurses zu dieser Frage in einem frühen Stadium bei Mme de Stael ab. Der 1989 veröffentlichte Artikel Madame de Staels Begriff von »vulgärer und »hoher« Literatur verweist schon im Titel auf die wertungsmäßig bei ihr vorgenommene vertikale Schichtung, ungeachtet der Tatsache, daß die auf den Massenkonsum orientierte »vulgäre«, sprich »Trivialliteratur« und die in der Folgezeit immer nachhaltiger auf ihren Autonomiestatus pochende »hohe«, sprich »Eliteliteratur« letztlich durch die gleichen heteronomen ökonomischen und ideologischen Zwänge bedingt sind. Schon im nächsten Jahr setzte Naumann die Reflexion dieser Problematik fort, diesmal aber nicht allein gestützt auf literarische Quellen, sondern auch im Dialog mit dem einschlägigen metaliterarischen Diskurs. In Stur% des literarischen Ancien Regime? Veränderungen des Literaturbegriffs in Frankreich nach der Revolution wurden diese Veränderungen vor allem an den im Gattungsgefuge sichtbar werdenden Umschichtungen abgehandelt. All diesen Arbeiten kam eine Art literaturkriminalistischer Spürsinn zugute, den ihm — und damit sind wir wieder bei den »Langzeitfolgen« seiner Aufklärungsforschung. — ζ. B. schon die Sicherung von Abfassungs- und Publikationsdaten des Christianisme devoile 1964 und im gleichen Jahr die Erörterung des umstrittenen Autorschaftsproblems des Systeme de la Nature abverlangt hatte. Verbunden mit einer vorbildlichen philologischen Akribie, diente er in den komparatistischen Arbeiten zugleich der Erschließung neuen Materials, wie es in Zeitschriften, Briefwechseln und Archiven ungehoben brach lag, und damit auch der Erkundung der »petits faits litteraires«, in denen die konkreten Beziehungen und Bewegungen erst faßbar werden. In den letzten Jahren kam dieser Spürsinn vor allem seinen Stendhal-Forschungen zugute. Mit den Nachworten zu seiner Stendhal-Ausgabe hatte Manfred Naumann die die einzelnen Werke betreffenden literaturhistorischen Fragestellungen in gewisser Hinsicht erschöpfend aufgearbeitet, aber die Faszination durch diesen Autor war geblieben. Es lag nahe, ihr nach den Werken nunmehr in den spezifischen Lebensumständen nachzugehen. Den Auftakt dazu bildeten zwei Veröffentlichungen im Stendhal-Club 1987 L'audience de Stendhal aupres de Goethe et d'autres und ein Jahr später Stendhal en Allemagne. In den im letzten Jahrzehnt zu Stendhal publizierten Artikeln verfolgte er u. a. seinen Weg nach Dresden und in die dortige Gemäldeausstellung sowie in andere Museen, ζ. B. nach Braunschweig und nach Wien. An diesen Indizien ließ sich ablesen, daß die Gerüchte, Naumann arbeite intensiv an einer Stendhal-Biographie, nicht einer gewissen Wahrscheinlichkeit entbehrten. Die Untersuchungen sind inzwischen abgeschlossen, sie sollen in Buchform demnächst unter dem Titel Stendhal — Deutschland. Impressionen von Land und Leuten

39 Joachim Küpper, Was ist Literatur?, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Literaturwissenschaft 45 (2000), H. 2, S. 187-215.

307

RITA SCHOBER erscheinen. Die mir vom Autor dankenswerter Weise überlassene Inhaltsübersicht gestattet immerhin einen kleinen Blick hinter den Vorhang, der das noch nicht erschienene Werk verbirgt. Wenn ich aus der Sicht der vorgenannten, bisher veröffentlichten echantillons die hinter den Kapitelüberschriften zu vermutenden Entdeckungen ahnungsweise richtig deute, so wird Naumanns »kriminalistischer Bericht« über Herrn Beyle der biographischen Stendhal-Forschung eine völlig neue Sicht eröffnen. So ertragreiche Arbeiten, wie sie uns in Manfred Naumanns literaturwissenschaftlichen und theoretischen Schriften vorliegen, kommen nicht von ungefähr. Solch reife Leistungen setzen eine Persönlichkeit voraus, die in ihren Haltungen und Fähigkeiten besonders strukturiert sein muß. Sie bedürfen zudem einer bestimmten Haltung gegenüber den Zwängen des Lebens. Manfred Naumann hat in seinen Stendhal-Aufsätzen immer wieder das »Gewicht der Masken« im Verhalten seines Autors zu den sein »Ich« bedrohenden Mächten betont. »Mit Strategien zum Schutz des Gesichts, von denen die pseudonyme Maske nur eine war, verteidigte er seine Souveränität. Damit dekonstruierte er die Konstruktionen des literarischen Feldes, noch bevor sie modern wurden. Insofern war Stendhal ein früher Postmodemer«. 40 Ein Stück von diesem »beylisme«41, der illusionslosen Distanz zum empirischen Sein,42 steckt sicher auch in Manfred Naumanns praktischem Verhalten. Er hat sich den mit seinem wissenschaftlichen Amt verbundenen Pflichten nicht verweigert, nicht in seinem Institut und nicht im allgemeinen. Aber sein Wirken in allen Beratungsgremien, denen er angehörte, war immer auf Wahrung der Wissenschaftlichkeit und Durchsetzung historischen Herangehens und auf nachdrückliche Warnung vor verarmender methodischer Einseitigkeit und leerem Theoriengeklapper gerichtet. Sein Marxismus war nie dogmatisch, sondern immer gespeist aus der profunden Kenntnis der Werke von Marx und Engels, wie ζ. B. seine 1978 im Plenum der Akademie der Wissenschaften der D D R gehaltene Karl-Marx-Vorlesung Uteratur im Kapital beweist. Der Marxismus war

40

Manfred Naumann, Die Aufklärung in der Krise. Argwohn gegen Berufsschriftsteller bei Stendhal, in: Reinhard Bach, Roland Desne, Gerda Häßler (Hrsg.), Formen der Aufklärung und ihrer Rezeption - Expressions des Lumieres et de leur reception, Festschrift zum 70. Geburtstag von Ulrich Ricken, Höttingen 1999, S. 575-583. 41 »Der beylisme, die nach außen zur Schau gestellte Gefühlsindifferenz«, so schreibt er in seinem Aufsatz Deutschland im Urteil Stendhals (S. 244), »war die Waffe, die Stendhal gefunden hatte, um den Kampf mit der realite aufzunehmen.« 42 Wolfgang Klein betont in einem nicht veröffentlichten Beitrag zu Manfred Naumanns 65. Geburtstag, Realismus bei Naumann, der mir im Manuskript vorliegt, mit dem Eingangszitat aus Naumanns Nachwort zu seiner Ausgabe der Briefe Stendhals ausdrücklich die Rolle, die für Naumanns Einschätzung der realistischen Schriftsteller ihre »Maskenhaltung« zur Realität spielte.

VERSUCH EINES RÜCKBLICKS

ihm eine Arbeitsmethode und ein schöpferischer Denkansatz, kein Kompendium vorgefertigter Antworten auf alle Fragen. Er drängte zur Erkundung der realen Welt, zur Erforschung des Unbekannten und bewährte sich in wirklichen Diskussionen, in denen Manfred Naumann es verstand, die aufgeworfenen Fragen auf den Punkt zu bringen. Rigorose Logik der Gedankenführung, Treffsicherheit der Argumentation, Schärfe des Urteils und durchaus auch »Genuß« an wissenschaftlichem Streit, systematische Entfaltung der zentralen Fragestellung, ein Sich-Hüten vor allzu raschen Schlußfolgerungen oder Verallgemeinerungen sowie Ausgewogenheit der Wertungen kennzeichnen seinen Diskussionsstil ebenso wie seine schriftlichen Ausführungen. Die Aufbauweise seiner Artikel und darin besonders die »incipit« kann man jungen Wissenschafdern nur zum Studium empfehlen. Hinzu kommt seine glänzende stilistische Begabung. Seine wohl abgewogene, oft leicht ironisch gefärbte Sprache43 ist nicht nur durch einen ganz spezifischen Duktus, eine sorgfältige Wortwahl und den Gebrauch einer exakten Terminologie gekennzeichnet, sondern sie wird immer wieder durch Bilder und anschauliche Vergleiche aufgelockert und bereichert, die ihr eine eigene ästhetische Qualität verleihen und die Lektüre seiner Schriften nicht nur zu einem wissenschaftlichen Gewinn, sondern auch zu einem sinnlichen Genuß macht. Doch dieser Persönlichkeitsskizze Manfred Naumanns fehlte ein wesentlicher Charakterzug, käme seine Beziehung zu Werner Krauss als Haltung und Verhalten nicht zur Sprache. Sich zu einer Forscherpersönlichkeit diesen Ranges als Schüler zu bekennen, ist sicher kein besonderes Verdienst. Damit zugleich aber die innere Verpflichtung zu übernehmen, dieses Werk zu bewahren und gegen Fehlinterpretationen jeglicher Art zu verteidigen und bereichernd fortzuführen, ist Zeichen der Verehrung und Dankbarkeit. Das offizielle geistige Lehrer-Schüler-Verhältnis erscheint damit in einem ganz anderen Lichte, dem einer emotional untersetzten persönlichen Beziehung. Beides äußert sich in unterschiedlicher Weise. Vielleicht könnte man sagen, daß Naumanns gesamtes wissenschaftliches CEuvre in der einen oder anderen Weise ein innerer Dialog mit seinem Lehrer ist, denn die von ihm übernommene Methode des dialektischen und historischen Denkens wird darin immer wieder exemplarisch praktiziert und ganz im Sinne von Krauss der jeweiligen Aufgabenstellung entsprechend erneuert, auf den Prüfstand geholt, erweitert und vertieft. Manfred Naumanns Ver-

43 Diese von geistiger Unabhängigkeit zeugende Ironie scheut auch nicht davor zurück, sich selbst und das eigene Tun in Frage zu stellen. In köstlicher Weise hat er in seinem Beitrag zur Festschrift für Eberhard Lämmert, Wie ernst sollte die Literaturwissenschaft sich selbst und ihre Leser nehmen (in: Eckart Goebel und Wolfgang Klein (Hrsg.), Literaturforschung heute [LiteraturForschung], Berlin 1999, S. 307-312) seinen Berufskollegen die Tatsache ins Gedächtnis gerufen, daß die durch den metaliterarischen Diskurs innerhalb der Fachdisziplin praktizierte Kommunikation zwar sehr hübsch und sicher auch nicht schädlich ist, ja in gewisser Beziehung vielleicht auch nützlich, aber daß das wesentliche Verhältnis der Leser zur Literatur nicht dadurch, sondern noch immer durch ihr von ihren eigenen Leseinteressen gesteuertes Leseverhalten bewirkt wird.

309

RITA SCHOBER

hältnis zu Krauss ist aber eben nicht nur an diesem, dem eigenen Werk immer wieder angelegten »inhärenten Maßstab« ablesbar. Als persönliche Beziehung tritt sie in den deutlich gesetzten äußeren Zeichen der Hochachtung und Verehrung in Erscheinung. Vielleicht kann man den anläßlich des 75. Geburtstages von Krauss erschienenen Aufsatz Aphoristische Bemerkungen über Uteraturgeschichte und lJteraturtheorie mit seinem dezidierten Insistieren auf dem von Krauss praktizierten schöpferischen Marxismus noch mehr als Ausdruck seines offiziellen Verhältnisses werten. Angefangen von dem Nachruf 1977 umkreisen jedoch die Publikationen zu seinem Lehrer vor allem den Menschen Werner Krauss. Ganz gleich, ob es sich 1983 tun Prolegomena einer Werner-Krauss-Biographie, 1989 Aus dem Nachlaß von Werner Krauss um den Antifaschisten, 1993 in einem lendemains-Artikel um den aufgeklärten Gelehrten, 1995 um die Herausgabe seines Tagebuchs, 1999 um eine publizierte »Zeugenaussage« zur Anfangszeit in Leipzig44 oder schließlich um das 2000 erschienene, bisher letzte Zeugnis dieser Art handelt, man spürt das persönliche Anliegen. Die Krauss-Kolloquien waren in gewisser Beziehung zugleich ein Versuch, diesem Anliegen eine öffentliche Form zu geben. Doch die wichtigste hommage, die Manfred Naumann seinem Lehrer erwiesen hat, ist zweifelsohne sein Bemühen um das Zustandekommen der achtbändigen Ausgabe des wissenschaftlichen Werkes und Nachlasses von Wemer Krauss.45 Begonnen noch unter der Ägide der Akademie der Wissenschaften der DDR, war die Fortfuhrung dieses anspruchsvollen und finanziell aufwendigen Unternehmens durch die politischen Ereignisse der Wende und die damit verbundende Auflösung der Akademie zunächst gefährdet. Daß es Manfred Naumann gelang, die Herausgabe der noch ausstehenden vier Bände46 nunmehr

44 Manfred Naumann, PLN und LTI. Gespräche zwischen Krauss und Klemperer, in: Hans-Otto Dill (Hrsg.), Geschichte und Text in der Literatur Frankreichs, der Romania und der Literaturwissenschaft. Rita Schober zum 80. Geburtstag, Berlin 2000, S. 173-178. 45 Werner Krauss, Das wissenschaftliche Werk, hrsg. von Werner Bahner, Manfred Naumann und Heinrich Scheel, Aufbau-Verlag, Berlin - Weimar, und Akademie-Verlag, Berlin. Unter diesem Signum erschienen: Bd. 1: Literaturtheorie, Philosophie und Politik, hrsg. von Manfred Naumann, Textrevision und Editorische Anmerkungen von Renate Petermann und Peter-Volker Springborn, Berlin - Weimar 1984; Bd. 2: Cervantes und seine Zeit, hrsg. von Werner Bahner, bearb. von Horst F. Müller, Berlin 1990; Bd. 5: Aufklärung in Frankreich, hrsg. von Winfried Schröder, Textrevision und Editorische Anmerkungen von Renate Petermann und Peter-Volker Springborn, Berlin — Weimar 1991; Bd. 6, Aufklärung II. Frankreich, hrsg. von Rolf Geißler, Textrevision und Editorische Anmerkungen von Renate Petermann und Peter-Volker Springborn, Berlin - Weimar 1987. 46 Diese Bände wurden im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Manfred Naumann allein herausgegeben. Sie erschienen sämtlich bei Walter de Gruyter, Berlin - New York: Bd. 3: Spanische, italienische und französische Literatur im Zeitalter des Absolutismus, hrsg. von Peter Jehle, Textrevision und Anmerkungen von Horst F. Müller, 1997; Bd. 4: Essays zur spanischen und französischen Literatur- und Ideologiegeschichte der Moderne, hrsg. von Karlheinz Barck, Textrevision und Editorische Anmerkungen von Renate Petermann und Peter-Volker Springborn, 1997;

VERSUCH EINES RÜCKBLICKS

unter der neu gegründeten Berlin-Brandenburgischen Akademie zu sichern, wäre ohne seinen engagierten Einsatz nicht zustande gekommen. Mit dieser exhaustiven Werkausgabe, deren ersten Band zu Literaturtheorie, Philosophie und Politik Manfred Naumann 1984 selbst betreute, hat er für Werner Krauss ein Monument geschaffen, wie es bisher noch keinem Romanisten errichtet wurde. Es gerät seinem Lehrer ebenso zur Ehre, wie es für die Dankbarkeit seines Schülers spricht. Als ich vor zehn Jahren auf dem Kolloquium der Klasse II der Akademie der Wissenschaften der DDR zum 65. Geburtstag von Manfred Naumann die Laudatio hielt, sprach ich zum Schluß die Überzeugung aus, daß Manfred Naumanns Eintritt in die »vita otiosa« unter dem Dictum von Cicero in seinen Briefen ad familiares stehen werde: »Si otiosus sum, minime otiosus sum.« Auch wenn das herausragende Ergebnis dieser vita otiosa zu Manfred Naumanns 75. Geburtstag uns noch nicht in gedruckter Gestalt vorliegt - in der Vorfreude auf den Lektüregenuß dürfen wir dies magnum opus auf jeden Fall schon mit Spannung erwarten ... Oktober 2000

Bd. 7: Aufklärung III. Deutschland und Spanien, hrsg. von Martin Fontius, Textrevision und Editorische Anmerkungen von Renate Petermann und Peter-Volker Springborn, 1996; Bd. 8: Sprachwissenschaft und Wortgeschichte, hrsg. von Bernhard Henschel, mit einer Bibliographie von Horst F. Müller, 1997.

312

RITA SCHOBER

Kleines post-scriptum am 5. Mai 2001 Inzwischen ist das erwartete Ergebnis dieser Muße-Jahre unter dem Titel Stendhals Deutschland. Impressionen über hand und Leute im März diesen Jahres im Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger in Weimar erschienen. Sicher wäre es verfehlt, nach einer ersten Lektüre mehr als einen Eindruck geben zu wollen. Eines jedoch steht für mich fest: Manfred Naumanns Stendhal-Buch ist ein erfreulich gut lesbarer, in vielen Passagen geradezu spannender wissenschaftlicher Text, frei von modischen Theoriefloskeln und eidem Fremdwortgeklingel, in bester literarhistorischer Tradition solide und exakt in den Fakten gearbeitet und in allen echten wissenschaftlichen Problemen theoretisch durchdacht präsentiert. Natürlich kommt das spezielle Fachurteil der Stendhal-Forschung zu. Den Wert dieser Arbeit aber auf ihre Bereicherung der Stendhal-Biographie festzulegen, wie ich es vorstehend vermutet habe, hieße ihren wirklichen Gehalt verkennen. Denn Naumanns Ausführungen betreffen die deutsche und französische Romantik-Forschung ebenso wie Grundfragen der Komparatistik und werden über den Kreis der Fachwelt hinaus sicher auch das Interesse einer fur kulturelle Kommunikationsverhältnisse aufgeschlossenen deutschen Leserschaft finden. Das Stendhal-Buch ist fürwahr ein magnum opus geworden und zugleich eine summa aller Vorzüge von Manfred Naumanns wissenschaftlicher Arbeitsweise.

WERNER MITTENZWEI

Egoismus - Triebkraft und Hindernis in der interdisziplinären Forschung Ein Brief Lieber Manfred! Die Freunde und Kollegen haben ein sehr interessantes Thema ausgewählt, um uns Gelegenheit zu geben, auf Deine lebenslange wissenschaftliche Arbeit zurückzublicken. Obwohl der Egoismus als philosophische Kategorie seine theoretische Ausrichtung Mitte des 18. Jahrhunderts erhielt, ziehen sich die Überlegungen dazu durch die Geschichte und berühren die vielfältigsten Gebiete. Aber in die philosophischen Erörterungen von Christian Wolff über Kant und Schopenhauer will ich mich nicht einklinken, schon gar nicht in Dein Spezialgebiet Stendhal. Freilich, darüber nachzudenken, würde sich lohnen; denn hier wird es schon vom Begrifflichen her interessant. Greift doch Stendhal auf das selten gebrauchte »egotisme« zurück und arbeitet eine ganz neue Wertung heraus. Bei ihm verliert der Begriff weitgehend seine negative Eigenschaft. Rudolf Kayser nahm Stendhals Auslegung immerhin so wichtig, daß er von da aus Leben und geistige Physiognomie des Dichters charakterisierte. Er beschrieb das Leben Stendhals als das eines Egotisten und widmete ein ganzes Kapitel seiner Monographie der »Welt des Egotismus«. »Geist: Das ist der Stendhalsche Egotismus«, heißt es bei Kayser, »ist reizbares Nerventum, ist die Aufrichtigkeit des Herzens. Geist will alles erkennen, zuletzt, was am schwersten zu erkennen ist: sich selbst.«1 Kaysers Diktion ist mir zu leichtfußig, um zu einer treffenden begrifflichen Aussage zu gelangen. Etwas fußgängerisch könnte sein Stil schon sein, damit die Leser wissen, was er will und meint. Ich weiß nicht, wie Du über Kaysers Stendhal-Monographie denkst, wir haben das Thema nur einmal flüchtig berührt, aber ich werde es aus Deiner Stendhal-Biographie erfahren. Von Stendhal ließe sich leicht zu Brecht überleiten. Doch darüber will ich nicht schreiben. Nach mehr als vierzig Jahren Beschäftigung muß damit einmal Schluß sein. Seine Texte immer wieder zu analysieren, mindert auf die Dauer den Genuß; den aber will ich mir erhalten. Mit Stendhal hat Brecht gemeinsam, daß bei ihm der Egoismus seine negative Vorbestimmung verliert. Für Brecht kam es darauf an, wie der Mensch mit einer solchen Eigenschaft umgeht, wie er sie

1

Rudolf Kayser, Stendhal oder Das Leben eines Egotisten, Frankfurt/M. 1982, S. 15f.

WERNER MITTENZWEI

einsetzt. Er bestand durchaus auf Egoismus, nur nicht dem von wenigen, sondern dem von vielen. Ihn wollte er produktiv verwendet wissen. Im Unterschied zu Stendhal interessierte ihn das Ich, die isolierte Welt des Egotismus wenig. Doch suchte er auch keinen Beistand in der Moral. »Du-sollst-Sätze« paßten nicht in seine Denkweise. So sah er sich genötigt, diese Kategorie auf andere Grundlagen zu stellen. In dem Buch der Wendungen gibt es zwei Stellen, die Brecht mit Egoismus überschrieb.2 Sie lassen seinen theoretischen wie praktischen Zugang zu dieser Kategorie erkennen. In beiden polemisiert er gegen die negative Deutung des Begriffs. Wenn man den Egoismus als schlecht darstelle, weise man auf eine Gesellschaft hin, in dem er sich schlecht auswirke. Verbesserungswürdig oder gar negativ sei nicht diese menschliche Eigenschaft, sondern vielmehr der Zustand des Staates. Gegen den Egoismus würden nur die reden, die einen Zustand billigen, der Egoismus ermöglicht, ja notwendig macht. Man kann in diesen Ausführungen einen Grundzug seines utopischen Denkens sehen, aus dem aber zugleich die Empörung über das bisherige Zusammenleben der Menschen spricht. Brecht wollte selbst in der Klärung dieser Kategorie radikal, d. h. vernünftig sein. Mangel an Eigenliebe sei nur zu verbannen, wenn sie bequem macht, wenn sie dazu beiträgt, sich mit schlechten Zuständen abzufinden, wenn sie dazu führt, dem Individuum »frühzeitig das Rückgrat [zu] biegen«. Eine egoistische Haltung habe im Leben seinen Platz, wenn zwischen dem Nutzen des einzelnen und dem Nutzen der Allgemeinheit kein Unterschied mehr bestehe. »In geordneten Staatswesen nützt der Egoismus der Allgemeinheit.«3 Ein guter, typischer Brecht-Satz! Nur sind wir heute von einem solchen Zustand himmelweit entfernt. Ihn zur Geltung zu bringen ist wohl noch schwerer, als Stendhals Egotismus, seine geistige Selbstanalye als Instrument der Einsicht und Veränderungsmöglichkeit durchzusetzen. Ich stehe hier mehr zu Brecht als zu Stendhal. Nun bin ich doch wieder bei Brecht gelandet, aber da wollte ich gar nicht hin. Ich habe für meinen Beitrag nicht nur deshalb die Briefform gewählt, weil man da besser von einem Gedanken zum anderen springen kann, ich hege auch Bedenken gegen den Zuschnitt der Zueignungs- und Festschriften. Nicht, daß ich sie für überflüssig hielte! Im Gegenteil. Diese Form ist nur reformbedürftig. Ich erinnere mich da an unseren Meister Werner Krauss, der sich in seiner sarkastischen Art über die eingeübten Riten der Gelehrtenwelt lustig machte und sich ihnen doch nicht zu entziehen vermochte oder wollte. Über diesen Zwiespalt bei ihm habe ich mich immer gewundert. Es ist schon nützlich, eine Art Bilanz für ein Gelehrtenleben zu geben. In unserer alten Akademie hatte ich einmal mit den Wissenschaftstheoretikern vereinbart, bei Abschluß einer Leitungsaufgabe oder einer Laufbahn den eigenen Weg und die angewandten Methoden zu analysieren,

2 Bertolt Brecht, Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 18, Berlin - Frankfurt/M. 1995, S. 72 und 129. 3 Ebd., S. 129.

EGOISMUS - TRIEBKRAFT UND HINDERNIS

kommentiert, kritisiert oder auch mit Lob versehen von den Mitarbeitern und Freunden. Sie sollten mit ihrem Urteil dazwischen kommen. Wir meinten, wenn eine solche Aufgabe mit Konsequenz betrieben werde, könnten auf diese Weise eine kritische Methodeneinsicht erreicht und Erfahrungen theoretisch ausgebaut werden. Vielleicht käme so - auch im Sinne der Stendhalschen Selbstanalyse eine Einsicht zustande, die zu neuen Ansätzen fuhrt. Heute mutet eine solche Aufgabe verrückt an, vielleicht war sie es schon damals. Jetzt bin ich endlich bei dem Thema, das ich eigentlich abhandeln wollte: der Egoismus in der interdisziplinären wissenschaftlichen Arbeit auf unserem Gebiet. Als ich zur Zeit der Akademiereform mit der Gründung des Zentralinstituts betraut wurde, bekam ich mit Dir, mit Robert Weimann, Dieter Schlenstedt, Gerhard Ziegengeist u. a. die Aufgabe, dieses Institut auf die interdisziplinäre Forschung auszurichten. Das Zentralinstitut bestand aus etwa 180 Germanisten, Romanisten, Anglisten, Slawisten und technischen Mitarbeitern, von denen bisher jeder für sich gewerkelt hatte. Jetzt sollten sie alle Forschung auf neue Art betreiben, das Institut zu einer Werkstatt des interdisziplinären Produzierens machen. Das hieß, nicht nur gemeinsam diskutieren, sondern die Produkte, die Bücher, die wir planten, darauf auszurichten. Die Frage war, wie das geschehen konnte. Zwischen zwei Buchdeckeln hat vieles Platz. Doch wir wollten eine entschiedene Veränderung. Eingebunden in kleine Teams, sollte jeder Mitarbeiter des Instituts von der Ideenfindung bis zum fertigen Buch an dem Vorhaben beteiligt sein. Jeder war aufgefordert, sich mit seinem spezifischen Wissen und seiner Individualität in ein solches Projekt einzubringen. In anderen Instituten und auch bei uns gab es Versuche, der Aufgabe nachzukommen, ohne darin aufzugehen. Ich nahm sie ernst und brachte mich dadurch gleich am Anfang in eine Krise. Ich kann nicht sagen, daß mir nur daran lag, einem Auftrag gerecht zu werden. Mir war zwar klar, daß die interdisziplinäre Ausrichtung von der Akademieleitung ziemlich pauschal und auch leichtfertig von den Naturwissenschaften auf unsere Disziplin übertragen wurde. Trotzdem sah ich darin eine Chance, die immerhin so viel Lust und Energie auslöste, daß ich gut und gem auf mir wichtige eigene Pläne verzichtete. Was wir uns vornahmen, versprach Vorteile. Das Neue schien gerechtfertigt, auch verlockend. Vorher hatten wir in unserer Arbeitsstelle Literaturtheorie, Du, Robert Weimann, Nyota Thun, ich und die junge Inge Münz-Koenen andere Pläne. Wir wollten, Du als Romanist und Krauss-Schüler, Robert Weimann als Anglist, Nyotha Thun als Slawistin und ich als Germanist, Theaterwissenschaftler und Brecht-Schüler, verschiedenartige Entwürfe ästhetischen Denkens vorstellen. Gerade weil wir um den Unterschied in unserer Denk- und Arbeitsweise wußten, versprachen wir uns einiges von unserem Vorhaben. Was wir planten, verstanden wir gleichfalls als interdisziplinär, nur auf andere Art. Unser Zusammenwirken schien uns nicht so schwierig. Die Verständigling in unserem kleinen Team vollzog sich viel reibungsloser als später in den Forschungsgruppen am neugegründeten Zentralinstitut.

315

316

WERNER MITTENZWEI

Nur gut, daß wir das Ausmaß der Schwierigkeiten nicht einmal ahnten. Wir gingen an diese Aufgabe völlig naiv heran. In den fünfziger Jahren hatte ich eine längere Arbeit über die Atomthematik im deutschen Drama geschrieben und mich dabei etwas ausführlicher mit der Arbeitsweise der Physiker beschäftigt. Mit Erstaunen las ich da, Leute wie Robert Oppenheimer, Edward Teller und andere kannten sich in ihren Vorzügen und Schwächen aus und organisierten aus dieser Sicht die Arbeit und Aufgabenteilung. Auf diese Weise bildete sich wie von selbst ein interdisziplinäres Gefüge heraus, in das sich selbst die kompliziertesten Persönlichkeiten einfügten. Das beeindruckte mich. Dieser Einblick in die Arbeitsweise und Organisation anderer Wissenschaften nährte meine Illusion. Ich wußte damals nicht oder weiß es heute nicht mehr, was in Euch vorging. Wir gerieten gleich anfangs in solche Schwierigkeiten, daß es sich verbot, unsere eigenen Bedenken oder gar die Aussichtslosigkeit unseres Tuns zu debattieren. Wir wußten, wir müssen auf neue Art etwas zustande bringen, wollten wir nicht die Existenz des Instituts gefährden. Einzelne Gruppen auf eine Idee zu verpflichten, die arbeitsteilig zur Ausführung reizt, damit begann die interdisziplinäre Projektarbeit. Das war zugleich der schwierigste Teil; denn man mußte diejenigen, die mitarbeiten sollten, für diese Idee begeistern. Dazu bedurfte es eines günstigen Klimas, in dem jeder die besagte Idee als seine eigene empfand. Materielle Beeinflussungsmittel gab es nicht. Jeder an der Akademie besaß einen festen Arbeitsplatz und war im Grunde unkündbar. Wenn einer gar nicht in ein Projekt hineinpaßte, hatte der Leiter für ihn eine andere Aufgabe zu finden. Zwar kam man zu Beginn der Akademiereform auf den Gedanken, für einzelne Projekte eine Geldsumme einzuplanen, die sich aus den Gehältern der daran Beteiligten und den anfallenden Materialkosten errechnete, wodurch den Mitarbeitern eindrucksvoll vorgeführt wurde, was literaturwissenschaftliche Projekte kosten. Doch diese Kalkulation wurde bald fallengelassen. Eine Idee zu finden, der sich alle bereitwillig anschließen, ist eigentlich nur unter bestimmten, nicht allzu häufigen Voraussetzungen möglich. Etwa, wenn die Projektgruppe aus einem Lehrer-Schüler-Verhältnis hervorgegangen ist und der Lehrer über Jahre auf ein Thema hingearbeit hat. Eine andere Möglichkeit ergibt sich, wenn ein Wissenschaftler ein Konzept, eine methodische Variante entwickelt, die fasziniert und mitreißt, so daß sich Anhänger um ihn sammeln. Schließlich kann das Vertrauen der Mitarbeiter in einen Leiter ein Motiv sein, so daß diese sich sagen, wenn aus der Idee etwas werden soll, dann nur mit ihm. An einem neu gegründeten Institut sind solche Bedingungen relativ selten. Unsere Situation empfanden wir auch deshalb ungünstig, weil beim Zusammenschluß der Philologien zu einem Institut eine Rivalität, ja ein gegenseitiges Mißtrauen gegenüber den anderen Philologien und ihren Methoden bestand. Jede Disziplin meinte, von der anderen über den Tisch gezogen zu werden. Methodenfragen sind zugleich Weltanschauungsfragen. Ein Wissenschafder, der sich für eine solche Aufgabe entscheidet, muß mit sich ins reine kommen.

EGOISMUS - TRIEBKRAFT UND HINDERNIS

Eine Idee für ein gemeinsames Projekt zu erzwingen, war wenig ratsam, die Schwierigkeiten stellen sich dann später ein. Das wurde mir in der Einstiegsphase der interdisziplinären Arbeit bewußt. Die damaligen Diskussionen, als Seminar aufgefaßt, waren hoch interessant. Jeder ging daraus bereichert und mit neuen Gedanken versehen nach Hause. Sie brachten zweifelsohne einen großen Vorteil. Aber wir wollten mehr, wir wollten ein Projekt, das alle zur Ausarbeitung rei2te, das jahrelange Arbeit lohnte. Anfangs kristallisierte sich nicht einmal der Ansatz eines solchen Weges heraus. Gerade die begabtesten Mitarbeiter warfen Ideen auf, die für Diskussionsstoff und für Meinungsstreit sorgten, aber darauf einigen konnten wir uns nicht. Wir sprachen damals von einer Ideenbörse; nur gelangten wir vorerst zu keiner Idee, die eindeutig dominierte. Je mehr eine an Überlegenheit gewann, desto mehr verstärkte sich der Einspruch. Die einzelnen Projektgruppen besaßen ihre Leiter, Professoren von Ruf, die mit eigenen Vorschlägen nicht sparten. Keiner von ihnen wollte mit seiner Autorität oder gar mittels seiner Leitungsfunktion etwas durchsetzen und so den Streit beenden. Uns lag nicht daran, den Kollegen ein Projekt als Leitungsvorgabe oder gar über Mehrheitsverhältnisse aufzudrängen. Insofern verfuhren wir ganz demokratisch. Aber der Auftrag zur interdisziplinären Forschung und Produktion blieb. Damit mußten wir zurecht kommen. Ich fragte mich damals, lohnt dieser Aufwand eigentlich? Wo ist die Überlegenheit gegenüber der individuellen Arbeitsweise? Seit jeher war mir im Wissenschaftsbetrieb die Außenseiterrolle die liebste, da konnte das, was man plante, ruhig kritisiert werden, wenn nur das fertige Produkt überzeugte. Obwohl mir die Schwierigkeiten so zusetzten, daß ich manchmal bedauerte, mich darauf eingelassen zu haben, befand ich mich mit mir selber nicht im Widerspruch. Die neue Arbeitsweise hielt ich dennoch für vorteilhaft. Und das ist bis heute so geblieben. Nur darf man keine kurzfristigen Erfolge erwarten. Damals konnte mir keiner einreden, daß man auf diesem Wege schneller vorankommt. Man kann interdisziplinär Pläne aufgreifen, die ein einzelner schon arbeitsmäßig nicht bewältigen kann. Der wirkliche Gewinn besteht aber darin, daß auf diese Weise eine neue Wissenskultur entsteht und methodische Einsichten gewonnen werden, die den einzelnen wie das ganze Team, wir sagten damals Kollektiv, voranbringen. Zwar wird die Interdisziplinarität nie die Lust auf das eigene Fach verdrängen, das würde den Gewinn wieder aufheben, aber sie schafft ein anderes Niveau, ermöglicht einen anderen Blick auf die eigenen Probleme, die eigene Theorie. Sie hilft sogar, den >groben Egoismus< abzubauen. Doch das sind Einsichten >danachallgemeinen TextRezeptionsästhetikKiril i Metodij< Skopje, S. 35-38. Ein enzyklopädischer Geist, der weit über seine Zeit hinauswies. Zum 200. Todestag des französischen Aufklärers Denis Diderot, in: Neues Deutschland, 30. Juli 1984, S. 4. Literaturnoe proizvedenie i istoria literatury. Sbornik izbrannych rabot, Raduga: Moskva.

1985 Zwischen Realität und Utopie. Goethes Konzept einer Weltliteratur, in: Poetica 17 (1985) 3/4, S. 219-227. Holbach und das Materialismusproblem in der französischen Aufklärung, in: Aufklärung - Gesellschaft — Kritik. Studien zur Philosophie der Aufklärung I, hrsg. von Manfred Buhr und Wolfgang Förster (Schriften zur Philosophie und ihrer Geschichte, 38), Akademie-Verlag: Berlin 1985, Bd. 1, S. 200-271. L'evenement litteraire et l'histoire litteraire, in: Proceedings of the X t h congress of the International Comparative Literature Association = Actes du X e Congres de l'Association Internationale de Litterature Comparee, New York 1982. Vol. 1: General problems of literary history = Problemes generaux de l'histoire litteraire, hrsg. von Douwe W. Fokkema und Anna Balakian, Garland: New York u. a., S. 27-33. Zum ersten Mal einen Kommunisten als Lehrer. Zum 85. Geburtstag von Prof. Dr. Werner Krauss, in: Neuer Tag (Frankfurt/O.), Nr. 125, 31. Mai 1985, Wochenendbeilage, Nr. 20, S. 2. Proizvedenie i istoria literatury, in: Sravnitel'no-istoriceskoe izucenie i teoreticeskie voprosy razvitija sovremennych literatur, Nauka: Moskva, S. 223—235.

1986 Umbrüche in der Antike-Rezeption von der Aufklärung bis Marx, in: Zum Problem der Geschichtlichkeit ästhetischer Normen. Die Antike im Wandel des Urteils des ^ . J a h r hunderts (Vorträge des Krauss-Kolloquiums III, 1983), bearbeitet von Joachim-Jürgen Slomka und Wolfgang Techtmeier (Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der D D R , G 1/1986), Akademie-Verlag: Berlin 1986, S. 13-21. Vorabdruck in: Weimarer Beiträge 31 (1985) 1, S. 5-14. Begrüßung, in: Verteidigung der Kultur. Der Internationale Schriftstellerkongreß Paris 1935 und die antifaschistische Literatur 1935-1939 (Konferenzbeiträge Berlin, 6. und 7. Dezember 1985), hrsg. von Manfred Hahn, Verlag des Kulturbunds der DDR: Berlin, S. 5.

PUBLIKATIONEN VON MANFRED NAUMANN Stichwörter »Leser«, »Rezeption« und »Rezeptionsästhetik«, in: Wörterbuch der Literaturwissenschaft, hrsg. von Claus Träger, Bibliographisches Institut: Leipzig, S. 293,436f. Interview mit Manfred Naumann: Erster Parteiorganisator an der Akademie, in: Spectrum 17 (1986) 1, S. Ilf. 1987 Rez. zu: Wörterbuch der Literaturwissenschaft, hrsg. von Claus Träger, Bibliographisches Institut Leipzig, in: Zeitschrift für Germanistik (Leipzig), Nr. 1,1987, S. 97-100. L'audience de Stendhal aupres de Goethe et d'autres contemporains, in: Stendhal Club, Nr. 117,1987, S. 31-47. Entre realite et Utopie: Goethe et sa conception de >Weltliteratur