Geheime Staatspolizei: Über das Töten und die Tendenzen der Entzivilisierung 9783110870688, 9783110145168

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Geheime Staatspolizei: Über das Töten und die Tendenzen der Entzivilisierung
 9783110870688, 9783110145168

Table of contents :
Abkürzungsverzeichnis
1 Die Geheime Staatspolizei: Eine soziologische Annäherung
1.1 Anmerkungen zum Untersuchungsrahmen
1.2 Soziologischer Bezugsrahmen
1.3 Struktur der Untersuchung
1.4 Überblick zur Literatur und Forschung
2 Entwicklungsbedingungen der Geheimen Staatspolizei
2.1 Informations- und Technikstandards deutscher Politischer Polizeien
2.1.1 Geheime Polizeien in Deutschland
2.1.2 Fallbeispiel: Politische Polizei Hamburg
2.1.3 Methoden-, Mittel- und Informationsstandards Politischer Polizeien
2.2 Politische Polizei in der Weimarer Republik und ihre nationalsozialistische Infiltration
3 Entwicklungsdynamik der geheimpolizeilichen Arbeits- und Lebenswelt
3.1 Die Organisationsstrukturen der Geheimen Staatspolizei
3.2 Administrativer Handlungsrahmen
3.3 Personal
3.3.1 Führungspersonal
3.3.2 Polizeibeamte in der Gestapo
3.3.3 Weibliche Angehörige der Geheimem Staatspolizei sowie Auslandsagenten
3.3.4 Exkurs: Auslandsarbeit der Geheimen Staatspolizei
3.3.5 Sonstiges Personal
3.3.6 Rekrutierung des Gestapo-Personals
3.4 Europäisierung
4 Soziogenese der Geheimen Staatspolizei: Partizipation an und Monopolisierung von Machtquellen
4.1 Monopolisierung von Informationsquellen
4.2 Zuarbeit von Medizinern
4.3 Zuarbeit des Militärs
4.4 Zuarbeit der Wirtschaft
4.5 Zuarbeit der Diplomatie
4.6 Zuarbeit von Wirtschaftswissenschaftlern, Soziologen und Planem
4.7 Zuarbeit der Justiz
4.7.1 Neue Rechtsgrundlagen und Rechtsfiguren für die Geheime Staatspolizei
4.7.2 Einfluß- und Kompetenzverzicht der Justiz am Beispiel der Schutzhaftpraxis
4.7.3 Sondergerichte der Justiz
4.8 Praxis der Geheimen Staatspolizei - Physische Gewalttaten und Tötungen
4.8.1 Vorladungen zur Geheimen Staatspolizei
4.8.2 Freiheitsentzug durch die Geheime Staatspolizei
4.8.3 Physische und psychische Folter
4.8.4 Töten der Verfolgten
4.9 Akzeptanz und Unterstützung der geheimpolizeilichen Praxis
4.10 Zwischenergebnis
5 Psychogenese der Geheimen Staatspolizei
5.1 Kameradschaft im Untergrund: Die geheimpolizeiliche Arbeitswelt
5.2 Symbiotische Bindungsformen an die geheimpolizeiliche Organisation
5.3 Zur Akzeptanz des Tötens
5.4 Zwischenergebnis
6 Die Verfolgten
6.1 Vom Stigmatisieren zum Töten
6.2 Folgen des Stigmatisierens und Tötens
6.2.1 Einsamkeitsgefühle und Reduzierung des Mitgefühls
6.2.2 Überlebensschuld und Traumatisierung
7 Zusammenfassung
8 Geheime Staatspolizei im Rahmen einer soziologischen Polizeitheorie
9 Versuche, eine Geheime Staatspolizei nach 1945 zu verhindern
9.1 Exkurs: Entwicklungen in der sowjetischen Zone und DDR
9.2 Entwicklungen in den Westzonen und der BRD
Quellen- und Literaturverzeichnis

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Materiale Soziologie

TB 4

Geheime Staatspolizei

Materiale Soziologie TB 4

Materiale Soziologie stellt Arbeiten vor, in denen konkrete kulturelle Lebensformen dokumentiert und analysiert werden. Soziologie ist hier Wirklichkeitswissenschaft: der untersuchte Einzelfall kommt selbst zur Sprache. Beschreibung, Deutung und Theorie müssen sich am Material bewähren, an der soziologischen Rekonstruktion von Milieus, Stilen, kommunikativen Mustern, Handlungsfiguren und Sinnkonstruktionen des gesellschaftlichen Lebens. Materiale Soziologie vereinigt Perspektiven von Wissens-, Kultur- und Sprachsoziologie einerseits, Kulturanthropologie und Ethnologie andererseits. Die Autoren stützen sich auf Verfahren der Ethnographie, der sozialwissenschaftlichen Hermeneutik und der Gattungsanalyse: kontrollierte Rekonstruktion tritt an die Stelle sonst üblicher Konstruktion und Spekulation. Herausgeber Prof. Dr. Jörg R. Bergmann, Gießen Prof. Dr. Hans-Georg Soeffner, Konstanz Prof. Dr. Thomas Luckmann, Konstanz

Hans-Joachim Heuer

Geheime Staatspolizei Über das Töten und die Tendenzen der Entzivilisierung

w G DE

Walter de Gruyter Berlin · New York 1995

Dr. phil. Hans-Joachim Heuer, Professor für Sozialwissenschaften an der Verwaltungsfachhochschule in Wiesbaden, Fachbereich Polizei, Abteilung Frankfurt/Main. Konzeptionelle Mitarbeit bei der Reform der Polizei des Landes Niedersachsen von 1990 bis 1993.

® Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt. Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme Heuer, Hans-Joachim: Geheime Staatspolizei : über das Töten und die Tendenzen der Entzivilisierung / Hans-Joachim Heuer. - Berlin ; New York: de Gruyter, 1995 (Materiale Soziologie : TB ; 4) Zugl.: Universität Hannover, Diss., 1994 ISBN 3-11-014516-2 NE: Materiale Soziologie / TB © Copyright 1995 by Walter de Gruyter & Co., D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Druck: WB-Druck GmbH, Rieden am Forggensee. Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer, Berlin. Einbandentwurf: Johannes Rother, Berlin.

Vorwort

Für das dauerhafte innere Befrieden moderner Staatsgesellschaften kommt den legitimen Trägern des physischen Gewaltmonopols eigentlich eine Schlüsselrolle zu. Durchbrechungen dieser bürokratisch institutionalisierten Seite menschlicher Tötungshemmung finden wir in allen Staaten der Erde. Auch Genocide sind im 20. Jahrhundert in vielen Kontinenten organisiert worden. Doch Ausmaß und Rationalität der Planung des Tötens, mit der die Geheime Staatspolizei des Deutschen Reiches vorgegangen ist, sind einzig geblieben. Im ganzen liegt die "Dimension des Völkermords"!, an dem die "Gestapo" die maßgebliche Beteiligte gewesen ist, bei etwa sechs Millionen getöteten Menschen in Europa. Den fortwährenden Wechsel der Generationen überdauern nur solche gesellschaftlichen Organisationen unbeschadet, denen es gelingt, auch die Erinnerung organisatorisch fester zu verankern und sie gesellschaftlich auf Dauer zu stellen. Das vor allem unterscheidet "Organisationen" von sozialen Institutionen. Militär und Polizei zählen in modernen Staatensystemen zu den gesellschaftlichen Schlüsselinstitutionen. In das Kollektivgedächtnis (M. Mauss) der Völker der Erde sind die Untaten der deutschen Geheimen Staatspolizei tief eingegraben. Sind sie es auch in der gemeinsamen Erinnerung der deutschen Polizeien? Dieses Sich-erinnern wird nur möglich werden, wenn sich deren Angehörige auch unmittelbar und selbst damit befassen. Und das genau zeichnet diese Studie über Entzivilisierungstendenzen der Polizei aus. Ihr Verfasser verfügt über jahrelange polizeiliche Berufserfahrungen. Er hat während seines soziologischen Studiums erfahren, junge Polizeiangehörige können lernen, über die Vergangenheit des Tötens auch anders zu sprechen als nur in den juridischen Legitimationsformeln -, immerhin mehr als fünfzig Jahren nach den Mordtaten sollte das möglich werden. In offenen Gesellschaften erhält wissenschaftlich prüfbares Wissen für jeden einzelnen Menschen zum Überleben eine zentrale Funktion. Nahezu sämtliche Organisationen gründen regelrecht auf dem freien Austausch von prüfbarem Wissen. Das gilt ganz besonders für Organisationen, die berufsmäßig Wissen selbst erzeugen und bewahren. Und dies trifft ansich für Universitäten in gleicher Weise zu wie für Polizeioiganisationen; nur wird das Zusammenleben im "Geheimnis"^ bei den letzteren zu einer besonders stringenten Form der Vergesellschaftung aller ihrer Mitglieder. Dennoch wird ein langfristiges Sichern der relativen Autonomie der einzelnen Menschen wie ihrer Organisationen nur möglich, wenn sie stets um den offenen Austausch von Wissen mit anderen bemüht sind - also nicht in die isolierende Symbiose ihrer eigenen Mitglieder versinken. Dadurch ge-

VI

Vorwort

rieten sie gewissermaßen automatisch in eine Oppositionalität zur weiteren Gesellschaft. Die Welt ist voll von derartigen polizeilichen Realverhältnissen: und der massive Verlust des sozialen Ansehens in offenen Gesellschaften ist regelmäßig die Folge. Die Selbstbilder, die einzelne Menschen von sich entwerfen, erwachsen zuverlässig allein aus den sozialen Wechselbeziehungen mit anderen Menschen sowie aus dem nachdenklichen Brechen und dauernden Widerspiegeln, der ständigen Reflexion jener Sehweisen der anderen. Ähnlich entstehen auch die gemeinsamen Selbstbilder von Organisationen. Nur wenn sie realitätstüchtig sind, können sie in modernen Staatsgesellschaften die relative Handlungsautonomie des Einzelnen wie der Organisationen wirklich sichern helfen. Sonst geraten solche sozialen Verbände in die gesellschaftliche Isolation, schöpfen ihre Selbstbilder zusehends mehr und mehr aus dem abgesonderten Zusammenleben der Mitglieder miteinander, allein aus deren Symbiose. Allzuoft entwerfen solche symbiotischen Verbände dann ihre "rationalen" Handlungskonzepte lieber aus dem Wechselgespräch mit den Mitgliedern der Organisation allein; das Gefühl, sich im offenen Widerspruch, in der Oppositionalität zur gesellschaftlichen Mehrheit selbst zu befinden, wächst Solche oppositionellen Selbstbilder sind in vielen Staaten der Erde an der Handlungsorientierung der Polizeien zu beobachten. Offene Gesellschaften suchen sich dagegen zu schützen. Die Einführung eines Rechts auf informationelle Selbstbestimmung ist ein derartiger Versuch; ein anderer besteht darin, das Geschichtswissen in die Ausbildmgsgänge der Organisation einzubringen. Die Träger der physischen Gewaltmittel kennen und respektieren ihre eigene Organisationsgeschichte, lernen sie genauer zu erkunden und Folgerungen daraus zu ziehen. Wer daher fragt, wie Zivilisierungsschritte jener physischen Gewaltmonopolisten möglichen werden, wird Wege aufzeigen müssen, daß die Träger des Gewaltmonopols auch über das Töten weniger verdeckend und offener zu sprechen lernen. Es genügt nicht, sich für das Hinterher juridische Argumentationsketten zurechtzulegen und dies den jeweils Jüngsten beim Eintreten in die Organisation weiterzugeben. Die bittere Organisationsgeschichte eines zeitweiligen staatlichen Tötungsverbandes gehört deshalb zum normalen Ausbildungswissen der Nachfolgegenerationen. Und die jetzt aktiven Polizeiangehörigen sollten im Rahmen ihrer Ausbildung davon in Kenntnis gesetzt werden. Sie müssen eine breitere schulische Erziehung erhalten, ihre Leitungsgremien sollten ausnahmslos eine freies akademisches Studium nachweisen, bevor sie der Organisation beitreten können. Kein noch so gutes Jurastudium vermag das bescheidene Legitimierungswissen hinreichend vermitteln, falls nicht breitere Kenntnisse in den Sozialwissenschaften hinzutreten. Der Autor dieser Studie versucht das auch praktisch zu verwirklichen. Ich wünsche seiner Arbeit in der Fachwelt eine freundliche und kritische Aufnahme. Peter Reinhart Gleichmann Hannover, im Oktober 1994

1 W. Benz, pp. 1 - 20, in: W. Benz, Hrsg., Dimension des Völkermords, Die Zahl der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus (R. Oldenbourg) München 1991 2 E. Siberski, Untergrund und offene Gesellschaft, (F. Enke) Stuttgart 1967

Gegenwärtig haben ... Fremdzwänge in einem Staat... den Charakter eines staatlichen Monopols der physischen Gewalt Die Repräsentanten moderner Staaten sind in den meisten Fällen die Erben einer institutionellen Tradition, die es zu einem strafbaren Vergehen erklärt, wenn irgendein Mitglied eines Staates gegen ein anderes Gewalt ausübt, ohne dafür von staatlichen Autoritäten eine besondere Vollmacht empfangen zu haben. Eine solche Vollmacht wird heute gewöhnlich spezialisierten bewaffneten Gruppen erteilt, wie etwa der Polizei, deren generelle Funktion darin besteht, die Staatsmitglieder in ihrem Umgang miteinander zu schützen und jeden zur Rechenschaft zu ziehen, der den Gesetzen zuwider handelt. Ehe Zivilisierung dieser Monopolisten der physischen Gewalt innerhalb eines Staates ist ein ungelöstes Problem. Norbert

Elias

Inhalt

Abkürzungsverzeichnis

XIII

1

Die Geheime Staatspolizei: Eine soziologische Annäherung 1.1 Anmerkungen zum Untersuchungsrahmen 1.2 Soziologischer Bezugsrahmen 1.3 Struktur der Untersuchung 1.4 Uberblick zur Literatur und Forschung

2

Entwicklungsbedingungen der Geheimen Staatspolizei 2.1 Informations- und Technikstandards deutscher Politischer Polizeien 2.1.1 Geheime Polizeien in Deutschland 2.1.2 Fallbeispiel: Politische Polizei Hamburg 2.1.3 Methoden-, Mittel- und Informationsstandards Politischer Polizeien 2.2 Politische Polizei in der Weimarer Republik und ihre nationalsozialistische Infiltration

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Entwicklungsdynamik der geheimpolizeilichen Arbeits- und Lebenswelt 3.1 Die Organisationsstrukturen der Geheimen Staatspolizei 3.2 Administrativer Handlungsrahmen 3.3 Personal 3.3.1 Führungspersonal 3.3.2 Polizeibeamte in der Gestapo 3.3.3 Weibliche Angehörige der Geheimem Staatspolizei sowie Auslandsagenten 3.3.4 Exkurs: Auslandsarbeit der Geheimen Staatspolizei 3.3.5 Sonstiges Personal 3.3.6 Rekrutierung des Gestapo-Personals 3.4 Europäisierung

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Inhalt

Soziogenese der Geheimen Staatspolizei: Partizipation an und Monopolisierung von Machtquellen 4.1 Monopolisierung von Informationsquellen 4.2 Zuarbeit von Medizinern 4.3 Zuarbeit des Militärs 4.4 Zuarbeit der Wirtschaft 4.5 Zuarbeit der Diplomatie 4.6 Zuarbeit von Wirtschaftswissenschaftlern, Soziologen und Planern 4.7 Zuarbeit der Justiz 4.7.1 Neue Rechtsgrundlagen und Rechtsfiguren für die Geheime Staatspolizei 4.7.2 Einfluß- und Kompetenzverzicht der Justiz am Beispiel der Schutzhaftpraxis 4.7.3 Sondergerichte der Justiz 4.8 Praxis der Geheimen Staatspolizei - Physische Gewalttaten und Tötungen 4.8.1 Vorladungen zur Geheimen Staatspolizei 4.8.2 Freiheitsentzug durch die Geheime Staatspolizei 4.8.3 Physische und psychische Folter 4.8.4 Töten der Verfolgten 4.9 Akzeptanz und Unterstützung der geheimpolizeilichen Praxis 4.10 Zwischenergebnis

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Psychogenese der Geheimen Staatspolizei 5.1 Kameradschaft im Untergrund: Die geheimpolizeiliche Arbeitswelt 5.2 Symbiotische Bindungsformen an die geheimpolizeiliche Organisation 5.3 Zur Akzeptanz des Tötens 5.4 Zwischenergebnis

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Die Verfolgten 6.1 Vom Stigmatisieren zum Töten 6.2 Folgen des Stigmatisierens und Tötens 6.2.1 Einsamkeitsgefìihle und Reduzierung des Mitgefühls 6.2.2 Überlebensschuld und Traumatisierung

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Zusammenfassung

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Geheime Staatspolizei im Rahmen einer soziologischen Polizeitheorie

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Inhalt

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Versuche, eine Geheime Staatspolizei nach 1945 zu verhindern 9.1 Exkurs: Entwicklungen in der sowjetischen Zone und DDR 9.2 Entwicklungen in den Westzonen und der BRD

Quellen- und literaturverzeichnis

XI

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Abkürzungsverzeichnis

AG Anm. BDC DNVP GG HSSPF HStA KJVD KPD Krim. Ass. Krim. Kom. LG Ms. NSBAG NSDAP OMGUS

OKH o.O. o.V. PrOVGE RGBl RJM RMdl RSHA SA SAP SD SHAEF

Aktiengesellschaft Anmerkung Berlin Document Center Deutschnationale Volkspartei Grundgesetz Höherer SS- und Polizeiführer Hauptstaatsarchiv Kommunistischer Jugendveiband Deutschlands Kommunistische Partei Deutschlands Kriminalassistent Kriminalkommissar Landgericht Manuskript Nationalsozialistische Beamtenarbeitsgemeinschaft Nationalsozialistische Deutsche Arbeitepartei Office of Military Government for Germany, United States, Finance Division - Financial Investigation Section Oberkommando des Heeres ohne Ortsangaben ohne Verfasserangaben Entscheidungen des Preußischen Oberverwaltungsgerichts Reichsgesetzblatt Reichsjustizminister Reichsminister des Innern Reichssicherheitshauptamt Sturmabteilung (der NSDAP) Sozialdemokratische Arbeiterpartei Sicherheitsdienst (der NSDAP) Supreme Headquarters, Allied Expeditionary Force

XIV

SS StGB TM u.H.a. USFET Vf. d. Mdl VO ZA/Mdl z.b.V.

Abkürzungsverzeichnis

Schutzstaffel (der NSDAP) Strafgesetzbuch Technical Manuals unter Hinweis auf United States Forces, European Theater Verfügung des (Preußischen) Ministeriums des Innern Verordnung Zentralarchiv des Ministeriums des Innern (DDR) zur besonderen Verwendung

1

Die Geheime Staatspolizei: Eine soziologische Annäherung

Die Angehörigen der deutschen Geheimen Staatspolizei (Gestapo) haben an der Tötung von mehreren Millionen Menschen mitgewirkt. Die Praxis der Gestapo beschränkte sich nicht auf das deutsche Reichsgebiet. Deutsche geheimpolizeiliche Bedrohungen, Verfolgungen, Folterungen und Tötungen haben in fast allen europäischen Staaten die Alltagserfahrungen von Menschen und deren Erinnerung an die Deutschen geprägt. Der Internationale Militärgerichtshof zu Nürnberg erhob 1945 Anklage gegen die Geheime Staatspolizei und kam unter Vorsitz des Richters Lawrence am 30. September 1946 zu folgendem Urteil: "Die Gestapo und der SD wurden für Zwecke verwandt, die gemäß Statut verbrecherisch waren; dazu gehören die Verfolgung und Ausrottung der Juden, Grausamkeiten und Morde in Konzentrationslagern, Ausschreitungen in der Verwaltung der besetzten Gebiete, die Durchführung des Zwangsarbeiterprogrammes und Mißhandlung und Ermordung von Kriegsgefangenen. Der Angeklagte Kaltenbrunner, der ein Mitglied dieser Organisation war, gehörte zu denjenigen, die sie für diese Zwecke verwandten. Bei der Gestapo schließt der Gerichtshof alle Exekutiv- und Verwaltungsbeamten des Amtes IV des RSHA oder solche, die sich mit Gestapo-Angelegenheiten in anderen Abteilungen des RSHA befaßten, sowie alle örtliche Gestapo-Beamten ein, die innerhalb oder außerhalb Deutschlands ihren Dienst versahen.... Der Gerichtshof erklärt für verbrecherisch im Sinne des Statuts, die Gruppe, die sich zusammensetzt aus jenen Mitgliedern der Gestapo und des SD, welche die im vorhergehenden Absatz aufgezählten Stellungen innehatten und Mitglieder der Organisation wurden oder blieben, in Kenntnis des Umstandes, daß diese für die Ausführung von Taten benützt wurde, die gemäß Artikel 6 des Statuts für verbrecherisch erklärt worden sind, oder die als Mitglieder der Organisation persönlich an der VerÜbung solcher Verbrechen beteiligt waren."! In den »Studien über die Deutschen« legt sich Norbert Elias auch die Frage vor, wie es möglich war, "daß Menschen auf eine rationale, ja wissenschaftliche Weise in der besten Manier des 20. Jahrhunderts ein Unternehmen planen und durchführen konnten, das als Rückfall in die Roheit und Barbarei früherer Zeiten erscheint In diesem Zusammenhang weist er auf die häufige Neigung der Menschen im 20. Jahrhundert hin, ihr Selbstbild mit der Vorstellung zu durchsetzen, daß sie in ihren "Standards der Zivilisation und Rationalität ... weit über die Roheit früherer Zeiten oder weniger entwickelten Gesellschaften von heute hinaus seien."3 Im Zusammenhang mit dem »EichmannProzeß« meint Elias weiter, daß auch darüber die Deutschen erneut mit ihrer jüngsten

2

Die Geheime Staatspolizei: Eine soziologische Annäherung

Geschichte konfrontiert wurden. So sind die massenhaften Menschenvemichtungen durch Deutsche geplant und begangen - eine soziale Tatsache des 20. Jahrhunderts.^ Für Massenerschießungen und dem Bau von Todeslagern werden Planungsspezialisten benötigt, die sowohl Kenntnisse von Überwachungs- und Tötungstechniken haben als auch Anfänger in diesen Techniken ausbilden und anleiten können. Es geraten Organisationen und Menschen in das Blickfeld, die an Menschenvernichtungen mitgewirkt haben. Mit Blick auf die Geheime Staatspolizei gilt es, einige gesellschaftliche "Bedingungen zu untersuchen, die Barbareien dieser Art begünstigt haben und auch in Zukunft begünstigen könnten. "5 Was sind also diese »gesellschaftlichen Bedingungen«, die das Töten ermöglichen und wie können einige untersucht werden? Was muß passieren, um Menschen in Organisationen dazu zu veranlassen, jenseits von Notwehr- oder Notstandssituationen zu töten? Welche Veränderungen gehen in diesen Menschen vor? Welche Prozesse machen es möglich, daß Menschen als »minderwertig« definiert werden können, um sie dann später gewissenlos zu töten? Wie müssen sich Menschen verändern, um töten zu können? Was verändert sich bei den Verfolgten, wenn sie mit ihrer eigenen Vernichtung oder der ihrer Familienangehörigen konfrontiert werden? Was bringt Menschen außerhalb von geheimpolizeilichen Tötungsorganisationen dazu, Verfolgungsmaßnahmen und das Töten nicht nur »zu begrüßen«, sondern auch zu unterstützen? Was ist mit denen, die dies alles beobachten und mit bereitgestellten Informationen auch das Töten ermöglichen? Diesen Einzelfragen versuche ich unter folgender Fragestellung nachzugehen: Wie strukturierte sich der Entwicklungsprozeß der deutschen Geheimen Staatspolizei und welche Konsequenzen ergeben sich für das Verhalten und Empfinden bei den Gestapo-Angehörigen und Verfolgten?

1.1

Anmerkungen zum Untersuchungsrahmen

Die verschiedenen Betrachtungsweisen und Fragestellungen machen es erforderlich, die Geheime Staatspolizei nicht nur chronologisch zu untersuchen. Auch die Beschränkung auf eine einfachere Analyse von geheimpolizeilichen Organisationsstrukturen und -entwicklungen genügt nicht dem hier gewählten Ansatz. Es ist nicht Aufgabe dieser Untersuchung, eine geschichtswissenschaftlichen Anforderungen voll entsprechende Arbeit zur Geheimen Staatspolizei vorzulegen; vielmehr werden einige historische Entwicklungen (z.B. Organisationsformen, Personalbestand, Europäisierung der Geheimen Staatspolizei) als Eckdaten für die gewählte sozio-psychologische Fragestellung dargestellt und berücksichtigt. Die Fragestellungen nach Veränderungen bei den Gestapo-Angehörigen auf der Verhaltens- und Empfindungsebene, versuche ich mit Hilfe einer arbeits- bzw. lebensweltlichen Untersuchungsperspektive zu erschließen. Die geheimpolizeiliche Arbeitsund Lebenswelt verstehe ich im allgemeineren Sinne als »Daseinswelt« der GestapoAngehörigen. Die Erweiterung bzw. Verschränkung des Begriffs »Arbeitswelt« mit der »Lebenswelt« wähle ich, um verschiedene Beeinflussungen (Bedingungen) der Gestapo-

Soziologischer Bezugsrahmen

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Angehörigen, die außerhalb ihres beruflichen Feldes liegen, zu erschließen. Damit scheint es mir möglich, solche grundlegende Veränderungen im Verhalten und Empfinden (wie z.B. die Akzeptanz des Tötens als berufliche Handlung) analysieren zu können. Diese Veränderungen sind nicht allein durch die Arbeitswelt bedingt, sondern werden durch außerberufsweltliche Einflüsse mit ermöglicht und gefördert (z.B. durch die familiare Lebenswelt). Mit dem Begriff »Arbeitswelt« wird das eigentliche geheimpolizeiliche Berufsfeld bezeichnet, welches sich über spezifische administrativ geregelte Kommunikations- und Kontaktvorschriften und -möglichkeiten konstituiert. Dieses Berufsfeld kennzeichnet sich durch eine eigentümliche Abgeschlossenheit (das Wort »Geheim« in der Organisationsbezeichnung dieser Polizei deutet es an) von anderen benachbarten polizeilichen Organisationseinheiten und ist auch durch Rechtsnormen und anderen Handlungsanweisungen als exklusiver polizeilicher Organisationsbereich identifizierbar. Die geheimpolizeiliche Organisationsmitgliedschaft hat sich nur teilweise nach spezifischen formalen Qualifikationen des Personals gerichtet Die Angehörigen der Geheimen Staatspolizei mußten auch besondere Verhaltenserwartungen der Organisationsleitung explizit und/oder implizit erfüllen. Denn um in der geheimpolizeilichen Praxis aus der Sicht des Leitungspersonals erfolgreich zu sein, hat es spezifischer Denk-, Wahrnehmungs-, Definitions-, Bewertungs- und Handlungsstrategien seitens des GestapoPersonals bedurft. Darüber hinaus ist es für die dauerhaft erfolgreiche Mitgliedschaft in der Gestapo notwendig gewesen, auch über die Fähigkeit und Bereitschaft zur Anwendung physischer Gewalt zu verfügen. Fragestellungen im Kontext zu den Bedingungswirkungen für die Akzeptanz von Anwendung physischer Gewalt als Voraussetzung für das geheimpolizeiliche Töten, eröffnen schließlich den Zugang zur Analyse von Habitusveränderungen bei den Gestapo-Angehörigen. Mit welchen soziologischen Ansätzen kann nun der Entwicklungsprozeß der Geheimen Staatspolizei und die hier interessierenden Habitusveränderungen systematisch analysiert werden? Es ist ein Konzept zu wählen, das prozeßorientiert und menschenzentriert ist, es muß das (Er-)Leben von Menschen in Organisationen berücksichtigen, aber sich nicht darauf beschränken, es darf darüber hinaus die Außenwirkungen der Organisation nicht vernachlässigen und es muß insbesondere die Verschränkungen der Organisationsmitglieder in den Außenbeziehungen, also das spezifisch gesellschaftliche Beziehungsgeflecht, erschließen können.

1.2

Soziologischer Bezugsrahmen

Die Soziologie der Figurationen berücksichtigt ausdrücklicher Menschen^ in ihrer Gegenstandsdefinition. Besonderes Kennzeichen der Figurationssoziologie ist der Umstand, daß sie sich von den vorherrschenden soziologischen Begriffen absetzt, "die sich vor allem bei der Erforschung lebloser Objekte, also im Rahmen der Physik und der an ihr orientierten Philosophie herausgebildet" 7 haben. In diesem Sinne bilden nach Elias Menschen "... miteinander Figurationen. Die Art ihres Zusammenlebens ist in gewisser

4

Die Geheime Staatspolizei: Eine soziologische Annäherung

Hinsicht einzigartig. Es wird immer durch Wissensübertragung von einer Generation zur anderen mitbestimmt, also durch den Eintritt des Einzelnen in eine spezifische Symbolwelt einer schon vorhandenen Figuration von Menschen.... Das Zusammenleben von Menschen in Gesellschaften hat immer, selbst im Chaos, im Zerfall, in der allergrößten sozialen Unordnung eine ganz bestimmte Gestalt. Das ist es, was der Begriff der Figuration zum Ausdruck bringt Kraft ihrer grundlegenden Interdependenz voneinander gruppieren sich Menschen immer in der Form spezifischer Figurationen. Im Unterschied von den Konfigurationen anderer Lebewesen sind diese Figurationen nicht gattungsmäßig, nicht biologisch fixiert.... Biologisch unveränderte Menschen können veränderliche Figurationen bilden. Sie haben Struktureigentümlichkeiten und sind Repräsentanten einer Ordnung eigener Art und bilden dementsprechend das Untersuchungsfeld eines Wissenszweiges eigener Art, der Sozialwissenschaften im allgemeinen und so auch der Soziologie."^ Das Zusammenleben von Menschen in bestimmten Figurationen ist die Grundannahme der Figurationssoziologie. So wie sich die einzelnen Menschen wandeln, wandeln sich auch die Figurationen, die sie miteinander bilden. Eintscheidend dabei ist jedoch, daß sich diese jeweiligen Veränderungen auf verschiedenen Ebenen in verschiedener Art vollziehen. So kann ein einzelner Maisch eine relative Autonomie gegenüber bestimmten Figurationen haben, aber nicht von Figurationen überhaupt. Andererseits können Figurationen eine relative Autonomie gegenüber einem einzelnen Individuum haben, aber nicht gegenüber Individuen überhaupt.^ "Wenn man von Figurationen spricht, die menschliche Individuen miteinander bilden, dann besitzt man ein Menschenbild und ein begriffliches Handwerkszeug, das wirklichkeitsgerechter ist und mit dessen Hilfe sich die traditionelle Zwickmühle der Soziologie: "Hier Individuum, dort Gesellschaft", die eigentlich auf einem Spiel mit Worten und Werten außerwissenschaftlicher Art beruht, vermeiden läßt."10 Entsprechend dieser Perspektiven erscheint die Konzeption der Soziologie der Figurationen geeignet, um vor ihrem Hintergrund sowohl den Entwicklungsprozeß der Geheimen Staatspolizei als auch die Habitusveränderungen zu analysieren und anschließend die Befunde auch (einheitlich) interpretieren zu können. Um die Reichweite dieser Untersuchung und die Aussagemöglichkeit ihrer Ergebnisse zu konkretisieren ist es bedeutsam, noch einige begriffliche Anmerkungen zur Analyse zu machen. Unter gesellschaftlichen Prozessen werden hier immer menschliche Entwicklungsprozesse verstanden. Nach Elias bezieht sich der Begriff »Sozialer Prozeß«, "auf kontinuierliche, langfristige, d.h. gewöhnlich nicht weniger als drei Generationen umfassende Wandlungen der von Menschen gebildeten Figurationen oder ihrer Aspekte in einer von zwei entgegengesetzten Richtungen."^ Eine Entwicklungsrichtung innerhalb eines sozialen Prozesses "hat gewöhnlich den Charakter des Aufstiegs, die andere den des A b s t i e g s " . ^ Zur Bestimmung solcher Richtungen eignet sich auch das Begriffspaar "Zivilisation" und "EntZivilisation", daß neben der Richtungsbestimmung, auch noch Prozesse der Machtverlagerung abzubilden v e r m a g . In enger Auslegung dieser Begriffsbestimmung wird hier kein »sozialer Prozeß« untersucht, da das Kriterium "nicht weniger als drei Generationen" aufgrund des zwölfjährigen Untersuchungszeitraumes nicht erfüllt ist. Es wird also keine längerfristige

Soziologischer Bezugsrahmen

5

Bitwicklung untersucht, sondern eher ein (kurzfristigerer) »Entwicklungsschub«.^ Es handelt sich hier um die Untersuchung einer bestimmten - kurzfristigen - Entwicklungsrichtung innerhalb eines Gesamtprozesses. Die kurzfristigere Entwicklungsrichtung bezeichne ich mit dem Begriff »Tendenzen zur Entzivilisierung«. Dieser Entwicklungsschub stellt sich somit als eine relativ kurze Phase im »Prozeß der Zivilisation« dar. Denn Kennzeichen des »Zivilisationsprozesses« ist es gerade, daß dieser nicht linear verläuft, sondern sich aus jeweils ablösenden Phasen von »Zivilisierung« und » Entzivilisierung « ergibt. Was sind die Kriterien oder Indikatoren, die eine Bitwicklung mit entzivilsierenden Tendenzen begründen können? Elias hat dazu Beispiele aufgezeigt:^ Ein allgemeineres Merkmal für Prozesse mit entzivilisierenden Tendenzen ist die Erhöhung des "Gewaltniveau[s] im Verkehr von Mensch zu Mensch."^ Wenn das menschliche Zusammenleben im höheren Maße von physischer Gewaltanwendung geprägt ist, wenn die körperliche Gewalttat beim Zusammenleben nicht als Ausnahme erscheint und wenn so physische Gewalt nicht »hinter die Kulissen« der Gesellschaft tritt, sondern einen herausragenden Platz einnimmt, dann können Entwicklungsschübe mit entzivilisierenden Tendenzen angenommen werden. Dabei ist es unerheblich, von wem diese Gewalt ausgeht. Sie kann von einzelnen Menschen oder Gruppen ausgehen und sich gegen andere Menschen richten, sie kann aber auch von den (bewaffneten) Inhabern des »staatlichen Monopols der physischen Gewaltsamkeit« ausgehen und sich auch gegen (unbewaffnete) Menschen richten. Prozesse mit entzivilisierenden Tendenzen sind somit Entwicklungen, die sich durch eine bestimmte Entwicklungsrichtung kennzeichnen. Der Prozeßverlauf charakterisiert sich u.a. über die Zunahme und größere Verbreitung (auch staatlicher) physischer Gewalttaten, einer bestimmten Veränderung von Mitleidsempfindungen und der »Akzeptanz des Tötens« seitens der Akteure. Unter diesem Aspekt sind die hier untersuchten Figurationen zwischen »Gestapo« und »Verfolgten« untrennbar miteinander verflochten. Diese Verflechtungen verdeutlichen noch einmal die Notwendigkeit der hier gewählten Untersuchungsperspektive und verweisen zugleich auf die Unzulänglichkeiten von Ansätzen, die einseitig entweder die Geheime Staatspolizei oder die Angehörigen der verschiedenen Verfolgtengruppierungen als exklusiven Untersuchungsgegenstand wählen. In dieser Untersuchung sind Veränderungen in den Verhaltensstandards der Angehörigen der Geheimen Staatspolizei von besonderer Relevanz. Mit »Verhaltensstandards« sollen sowohl Ausgangsbedingungen wie auch dynamische Veränderungen im Verhaltensrepertoire aufgezeigt werden. Auch dazu ist eine begriffliche Klärung notwendig. Menschliches Verhalten wird unter Bezugnahme auf psychologische Lerntheorien, der klassischen Wirtschaftstheorie, der Psychoanalyse und des kritischen Rationalismus erklärt. 17 Für die Verhaltenstheorie ist ganz allgemein die Annahme entscheidend, "daß die von äußeren oder inneren (kognitiv-mentalen) Stimuli (Reize) ausgelösten Lernvorgänge und Verhaltensänderungen davon abhängen, inwieweit sie durch Belohnungen, verstärkt oder durch Bestrafungen unterdrückt werden." Neuere verhaltenstheoretische Überlegungen versuchen im stärkeren Maße neben kognitiven, sozialstrukturellen, auch kulturelle Elemente zu berücksichtigen. Unter kulturellen Elementen wird konkret der

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Die Geheime Staatspolizei: Eine soziologische Annäherung

Einfluß kulturspezifischer Wertsysteme auf das menschliche Verhalten verstanden. Die differierenden kulturellen Einflüsse auf das Individuum werden von Schichten, gesellschaftlichen Subsystemen, Altersgruppen, Subkulturen, Minderheiten und Randgruppen abhängig gemacht. Die direkte Verbindung von kulturellen Einflüssen mit kleineren und kleinsten gesellschaftlichen Subsystemen, kennzeichnet die generelle soziologische Perspektive und deutet auch den Reichweitenbereich dieser theoretischen Annahmen an. Unausgesprochen wird unterstellt, daß ein einzelner Mensch durch ein »System«, z.B. Kultur, beeinflußt wird. An solchen Konstruktionen wird kritisiert, daß sie dem eigentlichen Ziel der Soziologie, den Menschen Hilfsmittel zur Orientierung in der sozialen Welt der Menschen bereitzustellen, nicht unbedingt dienen. Die Gesellschaft wird so in lebensfremden "Kategorien entpersonalisierter Neutra sozialer Systeme ab[gebildet], statt in Kategorien lebendiger M e n s c h e n " Und führt zu einer »Zustandssoziologie«, die längerfristige Prozesse kaum beschreiben k a n n . 2 0 Die Definition des Begriffes »Verhaltensstandards« geschieht zunächst in Abgrenzung zum Begriff »Verhaltensmuster« und wird anschließend in den Zusammenhang mit geheimpolizeilichen Verhaltensstandards gestellt. Unter »Verhaltensmuster« wird "ein Satz von Verhaltensweisen, [die] erkennbar zusammengefügt [sind]"21 verstanden. Eine solche begriffliche Erklärung weist lediglich den Forschenden den Weg des Erkennens auf. Er gibt in dieser Definition keine Hinweise auf Abhängigkeiten und Bedingtheiten des menschlichen Verhaltens im Zusammenhang mit bestimmten Entwicklungen. Der Begriff »Verhaltensstandards« wird - in Erweiterung zum Begriff »Verhaltensmuster« hier als dynamischer Begriff verstanden. Denn Verhaltensstandards verändern sich, sie sind in verschiedenen Zeiten und in unterschiedlichen Gesellschaften differenziert ausgeprägt. Dabei gehe ich von der Eliasschen Annahme aus, daß sich diese Standards im Zusammenhang mit der menschlichen Zivilisierung und grundsätzlich kontinuierlich in eine Richtung verändern und entwickeln. Diese Richtung ist im wesentlichen durch eine von äußeren ungeplanten menschlichen Verflechtungen abhängige und zunehmende Selbststeuerung der Menschen gekennzeichnet. Mit dieser Entwicklungsrichtung ist die Ausbildung einer »Selbstkontrollapparatur« verbunden, die auch mit einer qualitativ sich verändernden individuellen Affekt- und Triebbeherrschung einher geht.22 So ist hier ein ganz spezifischer »Verhaltensstandard« bedeutsam, welcher nach eine These von Elias für eine bestimmte Gruppierung in Deutschland charakteristisch erscheint und zugleich geeignet ist, Überlegungen zur Analyse von Prozessen mit entzivilisierenden Tendenzen einzuleiten und darzustellen. Dies versuche ich durch die Verbindung von biographischen Daten zweier leitender Gestapo-Angehörigen (Rudolf Diels und Ernst Kaltenbrunner) mit dem von Elias diskutierten spezifischen Verhaltens- und Empfindungskanon im Kontext von »Ehre« und physischer Gewalt. Rudolf Diels war der erste Leiter des Geheimen Staatspolizeiamtes in B e r l i n . 2 3 Sein staatspolizeiliches Wissen erwarb der ausgebildete Jurist unter dem sozialdemokratischen Innenminister Severing im preußischem Innenministerium als Dezernent für »Linksradikalismus«. Diels wurde 1903 als Kind einer großbäuerlichen Familie im Taunus geboren. Er studierte in Marburg Rechtswissenschaften und war zu dieser Zeit Mitglied im Marburger Studentenfreikorps, einer schlagenden Verbindung. Sein Referendariat

Soziologischer Bezugsrahmen

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absolvierte er von 1920 bis 1924 in verschiedenen preußischen Provinzverwaltungen. 1930 wurde er als "Hilfsarbeiter und Referent für politische Ausschreitungen, Spionageabwehr, Landesverrat, Waffen- und Sprengstoffsachen etc."24 im preußischen Innenministerium in Berlin angestellt. Anschließend erfolgte die Ernennung zum Dezernenten für »Linksradikalismus« in der Politischen Abteilung. Seit März 1932 war Diels förderndes Mitglied der SA und am 22. Februar 1932 wurde er zum Leiter der Politischen Polizei im Polizeipräsidium Berlin ernannt. Am 26. April 1933 (nach dem Erlaß des Gesetzes über die Errichtung eines Geheimen Staatspolizeiamtes) wurde Diels Leiter dieses Amtes. Der Österreicher Ernst Kaltenbrunner wurde 1943 zum Leiter des Reichssicherheitshauptamtes ernannt. Am 4. Oktober 1903 wurde er in Ried/Österreich als Sohn einer Rechtsanwaltsfamilie geboren. Seine Schulausbildung erfolgte in Linz. Er studierte Jura. 1926 promovierte er an der Universität in Graz zum Dr. jur. und ließ sich anschließend als Rechtsanwalt nieder. Seit seiner Jugend war er mit Adolf Eichmann befreundet. Kaltenbrunner war in Österreich während seines Studiums Mitglied einer schlagenden studentischen Verbindung und auch Mitglied im ersten österreichischen nationalsozialistischen Studentenbund. 1932 wurde er Mitglied der NSDAP und SS. Hier ist bedeutsam, daß diese beiden - zur Leitung der Gestapo gehörenden - Männer zu der Zeit des ausgehenden Kaiserreichs geboren wurden und während ihres Studiums Mitglied einer schlagenden studentischen Verbindung waren. Beide Männer wurden durch Mensuren im Gesicht verletzt und trugen entsprechende Narben davon.25 i n diesen damaligen studentischen Verbindungen wurden die Mitglieder "zu einer scharf ausgeprägten Haltung der Über- und Unterordnung"26 erzogen, man erlernte dort einen spezifischen Verhaltens- und Empfindungskanon. Dieser Kanon, Elias benennt ihn mit »Kriegerkanon«, war nicht nur durch die individuelle Akzeptanz einer strikten Hierarchie gekennzeichnet, sondern auch durch eine eigentümlich identitätsstiftende und diese spezifische Zugehörigkeit symbolisierende Gemeinsamkeit, welches die »Satisfaktionsfähigkeit« war. Die »Satisfaktionsfähigkeit« war eines von mehreren Merkmalen, welches die »gute Gesellschaft«, also die etablierten Schichten im Kaiserreich, charakterisierte. Als »Prägesanstalten« für diese »gute Gesellschaft« diente einerseits das deutsche Militär und zum anderen erfüllten die schlagenden studentischen Verbindungen in den Universitätsstädten diese F u n k t i o n . D i e Bedeutung der studentischen Verbindungen kennzeichnet Elias mit dem Satz: "Mit dem Eintritt in eine der renommierten Studentenverbindungen betrat ein junger Mann den Aufzug in das Establishment. "28 Der »Kriegerkanon«, der in den schlagenden studentischen Verbindungen gelernt und gelebt wurde, ermöglichte "es dem physisch Stärkeren oder im Gebrauch der Gewaltmittel geschickteren,... dem weniger Starken, weniger Waffentüchtigen, seinen Willen aufzuzwingen und die höchsten Ehren [sie!] heimzutragen."29 Das DuelßO in den studentischen schlagenden Verbindungen und die damit zusammenhängenden Mensuren symbolisierten diesen Kanon. Nach Elias war dieser spezifische Verhaltens- und Empfindungsstandard in Deutschland - im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern - bis hinein ins 20. Jahrhundert existent. Bedeutsam ist hier nicht nur die Tatsache, daß dieser »Kriegerkanon« und die entsprechende Verbreitung in Deutschland weniger als 75 Jahre

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Die Geheime Staatspolizei: Eine soziologische Annäherung

zurückliegt, sondern auch, daß eine solche Art der Konfliktaustragung, die mindestens das Verletzen oder auch Töten implizierte, positiv sanktioniert wurde. Ein weiterer wichtiger Aspekt für diese Untersuchung wird erkennbar, wenn man diese privaten Gewalttaten vor dem Hintergrund des staatlichen Monopols der physischen Gewaltsamkeit reflektiert. Auch im kaiserlichen Deutschland war der Waffengebrauch durch Privatpersonen verboten. Dieser Hinweis könnte zumindest das Vorhandensein eines mehr oder weniger erfolgreich durchgesetzten staatlichen Gewaltmonopols andeuten. Da aber die entscheidenen Machtpositionen des kaiserlichen Staates in der Zeit von 1871 bis 1918 von den Mitgliedern der satisfaktionsfähigen Gesellschaft besetzt waren oder durch sie kontrolliert wurden, bekommt diese Duellpraxis eine besondere Bedeutung. Elias merkt dazu an: "... da die Hüter der Gesetze, die Verletzungen des Staatsmonopols der physischen Gewalt durch Privatleute mit Strafe bedrohten, selbst zu der die Gesetze verletzenden privilegierten Gesellschaft der Satisfaktionsfähigen gehörten, wurden die Exekutivorgane der Staatsgewalt, also etwa die Polizei, in diesen Fällen gegen die Rechtsbrecher nicht mobilisiert."31 Nicht ohne Grund wurden daher für solche Zweikämpfe auch geheime Orte gewählt. Die Anziehungskraft und die Dynamik von solchen formalisierten, dem staatlichen Gewaltmonopol zuwiderlaufenden Gewalthandlungen mit Waffengebrauch, kann wie folgt skizziert werden: "Die immanente Dynamik von Menschengruppen, wo dem Gebrauch physischer Gewalt, und sei es in der formalisierten Gestalt der Duell- und Bestimmungsmensuren, beim gesellschaftlichen Verkehr ein zentraler Platz eingeräumt wird, führt immer wieder innerhalb dieser Gruppen zum Aufstieg von Menschentypen, die sich nicht nur durch physische Stärke oder Geschicklichkeit auszeichnen, sondern denen es auch Lust und Freude bereitet, andere Menschen mit Waffen oder Worten zusammenzuschlagen, wann immer sich die Gelegenheit dazu bietet"32 Zumindest den beiden Gestapomännem, Diels und Kaltenbrunner, war dieser Verhaltenskanon in der Praxis bekannt. Damit soll nicht gesagt werden, daß dieser Kanon mit latent dezivilisierendem Charakter den Habitus dieser beiden Männer alleinig bestimmte, aber er ist sicherlich als mitwirkende Ausgangsbedingung für Habitusveränderungen bei Gestapo-Angehörigen relevant.

1.3

Struktur der Untersuchung

Systematisch unterscheide ich zwischen einer soziogenetischen und einer psychogenetischen Analyse, um die umfangreicheren Verflechtungen zwischen den Angehörigen der Geheimen Staatspolizei und den Verfolgten zu erschließen. Diese Verflechtungen veränderten sich im Zuge des Entwicklungsprozesses der Geheimen Staatspolizei, d.h. dieser Prozeß ist unter dem Aspekt von Machtverlagerungen nachzuzeichnen. Als geeignet erscheint hier die Untersuchung der Gestapo-Praxis im Kontext mit den Wirkungen dieser Verfahren auf die Verfolgten. Die geheimpolizeiliche Praxis veränderte die Verhaltens- und Empfindungsstandards der Gestapo-Angehörigen und die der Verfolgten. Die Untersuchung dieser Habitusveränderungen ist Gegenstand der psychogenetischen Analyse. Ein Schwerpunkt liegt dabei

Uberblick zur Literatur und Forschung

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auf Fragestellungen und Analysen, die die Akzeptanz des Tötens bei den GestapoAngehörigen erklären können. Bei den Verfolgten stehen besonders Aspekte zum Erleben von Ohnmachtssituationen und die daraus resultierenden Traumatisierungen im Vordergrund. Oben ist erläutert, daß nur ausgewählte historische Entwicklungen der Geheimen Staatspolizei den Hintergrund für die Analyse bilden; sie dienen als Kristallisationspunkte für die sozio- und psychogenetischen Untersuchungen. Dennoch ist es unerläßlich, diese Entwicklungen - wenngleich summarisch - darzustellen. Einerseits ist dieses notwendig, weil kein umfassendes Werk zur Geschichte der Geheimen Staatspolizei vorliegt und andererseits Skizzen zur Organisationsentwicklung, zum Rechts- und Haushaltsrahmen, zum Personal und zur Europäisierung der Gestapo sowohl für die Analyse von Machtverlagerungen als auch für die von Habitusveränderungen relevant sind. Als Hauptquellen habe ich die veröffentlichte Primär- und Sekundärliteratur zur Geheimen Staatspolizei sowie verschiedene Archivmaterialien des Niedersächsischen Haupt- und Staatsarchivs in Hannover, des »Leo-Baeck-Institute« und des »YIVO Institute for Jewish Research« (beide Institute befinden sich in New York City, USA) ausgewertet. Die Befragung von bzw. Interviews mit Zeitzeugen lieferten zusätzliches empirisches Material. Auf die Interviews wird im Rahmen der Untersuchung jeweils v e r w i e s e n . 3 3 Nach Konsultationen von DDR-Polizeihistorikern und -historikerinnen ergab sich darüber hinaus die Möglichkeit, einige bislang unveröffentlichte Materialien aus dem Archivbestand des ehemaligen DDR-Innenministeriums für diese Untersuchung zu verwenden. Der engere Untersuchungszeitraum ist mit den Daten der faktischen administrativen Existenz der Gestapo identisch, d.h. vom 26. April 1933 - Gründung des Geheimen Staatspolizeiamtes in Berlin - bis zum 7. Mai 1945 - Besetzung Berlins durch die sowjetische Rote Armee und Unterzeichnung der »bedingungslosen Kapitulation« durch Großadmiral Dönitz. Die Geheime Staatspolizei war nach 1933 in fast ganz Europa präsent. Diese Tatsache wird lediglich im Zusammenhang mit der Untersuchung der Europäisierung der Geheimen Staatspolizei thematisiert, ohne die spezifischen Entwicklungen und besonders die Zusammenarbeit zwischen Gestapo und den lokalen Polizeien in den einzelnen Staaten detaillierter darzustellen.

1.4

Überblick zur Literatur und Forschung

Die Primärliteratur zur Geheimen Staatspolizei kann nach Veröffentlichungen von nationalsozialistischen Parteimitgliedern oder -funktionären und kommentierenden nationalsozialistisch-juristischen Veröffentlichungen unterschieden werden. Zur Primärliteratur zählen desweiteren Veröffentlichungen, die im Rahmen des Widerstands in Deutschland als »Exilliteratur« im Ausland in deutscher oder in anderen Sprachen erschienen sind und sonstige Veröffentlichungen im Ausland vor oder im Jahr 1945. Aufgrund der europäischen Präsenz der deutschen Geheime Staatspolizei sind Veröffentlichungen nicht nur in diesen Ländern, sondern aufgrund der Existenz von Gestapo-

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Die Geheime Staatspolizei: Eine soziologische Annäherung

Dependancen in den USA und der Schweiz auch dort erschienen. Bis zum heutigen Tage hat es die deutsche und internationale Geschichtswissenschaft versäumt, ein Standardwerk über die Geheime Staatspolizei vorzulegen. Dieses ist offensichtlich nicht nur ein einfaches Unterlassen, sondern es scheint sich um "eines der Zentraltabus deutscher Geschichtsforscher"^4 zu handeln. In diesem Zusammenhang wird zu Recht kritisiert, "daß die Organisationen des modernen Staates, denen es unter bestimmten Umständen allein obliegt zu töten, zu den am wenigsten bekannten zählen. "35 Als Ausgangsbestimmung für diese Studie und als erste Bestimmung des geschichtswissenschaftlichen Forschungsstandes kann mit Diamant, einem Verfolgten der Geheimen Staatspolizei, gesagt werden: "Zu beanstanden habe ich, daß nach über 40 Jahren noch niemand es für notwendig gehalten hat, die Geschichte der Gestapo Frankfurt zu schreiben, obwohl in den verschiedenen Publikationen Hinweise auf die Verbrechen der Frankfurter Gestapo gemacht worden sind. Nicht einmal die Frankfurter Universität hat es für nötig befunden, Studenten oder Doktoranden an diese Thematik anzusetzen, obwohl es ihre Pflicht und Aufgabe ist, Geschichte zur lehren und nicht in Vergessenheit zu bringen."36 Eine erste geschichtswissenschaftliche Aufbereitung des Komplexes der Geheimen Staatspolizei erfolgte nach der juristischen Beurteilung im Rahmen des Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg^, insbesondere durch Angehörige des Instituts für Zeitgeschichte in München, in der Form von Gutachten/Dokumentationen.38 Diese wurden u.a. als Sachverständigenbeweis in bundesdeutschen Gerichtsverfahren gegen Angehörige der Geheimen Staatspolizei u.a. wegen begangener Verbrechen in Konzentrationslagern oder im Zusammenhang mit der Praxis der sog. »Einsatzgruppen« verwendet. In den 50er und 60er Jahren sind ausländische journalistische Veröffentlichungen zur »Geheimen Staatspolizei« ins Deutsche übersetzt worden; diese Arbeiten genügen wissenschaftlichen Ansprüchen nicht.39 Dennoch war das Publizieren dieser Schriften von eminenter Wichtigkeit, da zu dieser Zeit die ersten Schriften von ehemaligen Angehörigen der Geheimen Staatspolizei publiziert wurden, die die Geheime Staatspolizei euphemistisch und rechtfertigend darstellen.4^ Die Durchsicht des Jahresverzeichnis der deutschen Hochschulschriften von 1945 bis 1993 ergibt, daß sich lediglich zwei wissenschaftliche Arbeiten 4 ! explizit mit dem Thema »Geheime Staatspolizei« beschäftigt haben. Verschiedene Veröffentlichungen haben die von der Geheimen Staatspolizei und dem Sicherheitsdienst (SD) angefertigten Lage- und Stimmungsberichte4^ zum Gegenstand, nachdem diese in verschiedenen Archiven4^ zugänglich gemacht worden sind. Die Lebensläufe von ausgewählten, in der Regel leitenden, Angehörigen der Geheimen Staatspolizei liegen in der Form von Biographien44 vor. Über die oben genannten Gutachten des Münchner Instituts für Zeitgeschichte hinaus, gelten die Veröffentlichungen in den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte4^ als die umfassendsten veröffentlichten Quellen im deutschsprachigen Raum. Vereinzelte Hinweise auf die Geheime Staatspolizei finden sich darüber hinaus in einer Vielzahl von »klassischen« Veröffentlichungen4^ zur Analyse des Nationalsozialismus.

Überblick zur Literatur und Forschung

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In diesem Zusammenhang ist auf einen besonderen Umstand im Bereich der deutschen Geschichtswissenschaft aufmerksam zu machen. Viele - auch durch den Nationalsozialismus belastete - deutsche Universitätslehrer rechtfertigten nach 1945 ihre Verweigerungshaltung gegenüber der Zeitgeschichte mit Methodenproblemen und argumentierten, daß "es zu früh sei, in den noch rauchenden Ruinen zu forschen" und sie "scheuten die Aktualität des Gegenstandes."47 Ehemalige Angehörige der Geheimen Staatspolizei gaben ihr Wissen über ihre Mitwirkung an Tötungen, über Struktur und Personal freiwillig nicht preis. Als Ausnahme ist der ehemalige Justitiar der Gestapo und spätere Angehörige der »Aufsichtsverwaltung« in Frankreich und Dänemark, Dr. Werner Best, zu nennen, der nach 1945 "geradezu die wissenschaftliche Öffentlichkeit"4** suchte. Allerdings beschränken sich seine Auskünfte und seine angefertigten, in Stiftungen unter Einsichtsvorbehalt abgelegten Dossiers auf die Organisationsstruktur der Geheimen Staatspolizei. Die Geschichtswissenschaft versucht sich dem »Phänomen« Nationalsozialismus auf verschiedenen Ebenen zu nähern. Im einzelnen handelt es sich um geschichtsphilosophische, politisch-ideologische und moralische Erklärungs- und Interpretationsansätze. Allen Ansätzen liegt das "Bedürfnis zugrunde, die Nazivergangenheit zu bewältigen. Der geschichtsphilosophische Ansatz beruht auf den Vorstellungen Rankes, wonach Geschichte als eine kulturelle, von menschlichen Ideen geformte Entwicklung verstanden wird. Geschichtliche Entwicklungen, in denen sich menschliche Absichten und Handlungen konkretisieren, erscheinen daher als "einzigartig. "50 Die politischideologischen Ansätze lassen sich wie folgt unterscheiden: Erstens in den - besonders in der ehemaligen DDR verbreiteten - »Faschismusansatz«, wonach sich der Nationalsozialismus als Faschismus und so "als immanentes Produkt des Kapitalismus" darstellt.51 Der zweite Ansatz, der sich überwiegend in der Bundesrepublik verbreitete, ist der »Totalitarismusansatz«. Danach stellte sich der Nationalsozialismus als "totalitäres System" dar. Dieses Konzept war auch schon vor den einschlägigen Veröffentlichungen von Hannah Arendt und Carl Friedrich in Westdeutschland verbreitet.52 Ende der 60er Jahre wurde die Totalitarismustheorie auch in Westdeutschland kritisiert und die Diskussion unter dem Aspekt der Faschismustheorie neu geführt. Die Entwicklung dieses Diskussionsprozesses skizziert der amerikanische Historiker Kershaw mit folgenden Worten: "In dem Maße, in dem die von der Erfahrung des Dritten Reiches geprägten Ansätze verblaßten, seien sie durch gesellschaftskritische Ansätze und Konzepte ersetzt worden, die die bis dahin vorherrschenden Interpretationen, häufig mit grobem Geschütz, unter Beschüß genommen hätten."53 "Historiker der Siegermächte" macht er mit als Quelle für den moralischen Interpretationsansatz aus.54 Diese waren nach seiner Meinung "eifrig bemüht" aufzuzeigen, "daß der Nationalsozialismus die schlimmsten Charakterzüge bestätigte, die bei Deutschen durch die Jahrhunderte hindurch zu finden seien. "55 Um gegen die dahinterstehende Gleichsetzung von Deutschen mit Nazis zu protestieren, sah die westdeutsche Geschichtswissenschaft ihren Schwerpunkt in der Erforschung des Widerstands gegen Hitler.56 Der moralische Aspekt dieser Interpretationen wird auch am verwendeten Sprachgebrauch deutlich. Hierzu zählen Begriffe wie "verbrecherisch" und "Barbarei" und entsprechende Perspektiven.57 Diese

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Die Gebeime Staatspolizei: Eine soziologische Annäherung

moralischen Bewertungen haben auch eine genauere geschichtswissenschaftliche und soziologische Analyse der Geheimen Staatspolizei mit verhindert. Bislang liegen Monographien nur zur Politischen Polizei der Weimarer Republik bzw. zum unmittelbaren Übergang zur Berliner Geheimen S t a a t s p o l i z e i ^ sowie zu den E i n s a t z g r u p p e n ^ vor. Die explizite Polizeigeschichtsschreibung gibt der Dokumentation der Geheimen Staatspolizei keinen größeren Raum.60 So wird lediglich die Organisationsstruktur und das Personal erwähnt; die geheimpolizeiliche Praxis wird allerdings der Person Hitler zugeschrieben.61 Lokalgeschichtliche D a r s t e l l u n g e n ^ erwähnen die jeweils örtliche Geheime Staatspolizei, aber auch diese Darstellungen sind grundsätzlich personal- und organisationszentriert. Die Gestapo-Praxis wird grundsätzlich nicht analysiert. Andere Darstellungen zur Polizeigeschichte beginnen ausdrücklich mit dem Jahr 1945 und suggerieren so einen Neuanfang.63 Eine realitätsadäquatere Untersuchung zum Übergang der Polizei vom Nationalsozialismus zur späteren Bundesrepublik liegt am Beispiel der Hamburger P o l i z e i ^ vor. Die aktuelleren Veröffentlichungen zur Geheimen Staatspolizei nehmen zum Aspekt der Denunziation^ Stellung, verweisen auf die noch nicht geschriebene »Sozialgeschichte des Terrors«66 oder sind journalistische Darstellungen ohne wissenschaftlichen Anspruch.67 Andere behandeln die Geheime Staatspolizei unter dem Aspekt der polizeilichen " V e r b r e c h e n s b e k ä m p f u n g " , 6 8 geben einen ersten Überblick zu Forschungsansätzen für ein G e s a m t w e r k 6 9 oder sind regionale FallstudienJO Andere Veröffentlichungen sind kleinere Arbeiten zu ausgewählten Fragestellungen der Gestapo (z.B. die Informanten-Kartei der Geheimen Staatspolizei)^! sowie dokumentarische Veröffentlichungen aus Anlaß von Gerichtsprozessen72 und Ausstellungen.73 Die Forschungsdomäne »Polizeigeschichte« lag in der ehemaligen DDR ausschließlich in den Händen von bei der Volkspolizei angestellten Dipl.-Historikerlnnen. Für andere Geschichtswissenschaftlerinnen war die Erforschung der Entwicklung der "bewaffneten Organe" ein Tabubereich.74 Die Forschungsarbeiten wurden in geringen Auflagen für interne Zwecke publiziert und unterlagen der administrativen Geheimhaltung. Polizeigeschichtliche Forschungen waren mit dem Vermerk »Nur für den Dienstgebrauch« gekennzeichnet. Ergebnisse der Forschungen wurden häufig nur auf mündlichem Wege im Rahmen von Vorträgen für die in der Ausbildung befindlichen Volkspolizisten und in Dienstversammlungen verschiedener Bereiche der Volkspolizei vermittelt.75 Polizeigeschichtliche Quellen wurden zentral im DDR-Innenministerium gesammelt und archiviert. Nach der Auflösung des Ministeriums im Jahr 1990 ging der Aktenbestand in den Besitz der Berliner Senatsinnenverwaltung über.76 Aufgrund der restriktiven polizeilichen Geheimhaltungs- und Veröffentlichungsvorschriften waren sogar die Volkspolizeihistorikerinnen überrascht, daß tatsächlich im Jahr 1987 die von ihnen erstellten Bände zur Geschichte der Volkspolizei öffentlich erscheinen konnten. Dieser - bislang einzigen - veröffentlichten Entwicklungsdarstellung zur Volkspolizei lag folgendes Dogma zu Grunde: "Vor 45 Jahren traten Männer zum Polizeidienst an, deren übergroße Mehrheit getragen war von dem Gedanken, das von den Faschisten verursachte Chaos zu beseitigen und im Sinne eines wahrhaft demokratischen Staates für Ruhe und Ordnung im öffentlichen Leben der Gesellschaft zu

Überblick zur Literatur und Forschung

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wirken. Alle hatten die faschistische Diktatur am eigenen Leib erfahren, nicht wenige waren zu aktiven Kämpfern gegen die Naziherrschaft geworden. So gesehen stellte für diese Männer - und selbstverständlich auch Frauen - in allen Besatzungszonen Deutschlands der Frühsommer 1945 gewissermaßen eine Stunde Null dar."77 Verbunden mit dem ideologischen Selbstverständnis, nachdem die DDR ein antifaschistischer Staat sei und somit für Handlungen der Nationalsozialisten nicht verantwortlich^ sein könne, findet sich in den schon erwähnten Geschichtsbänden kein einziger Hinweis auf die Existenz der Geheime Staatspolizei als historische Vorläuferin, auch für die Volkspolizei in der DDR. Nach dieser Geschichtsschreibung wurden existente "Nazipolizisten" nur von den "imperialistischen Besatzungsmächten" im Westen unterstützt. Denn auf dem Gebiet der späteren DDR bildeten sich nach 1945 "Antifa-Ausschüsse" der KPD. Diese entwickelten auch Personalkonzepte für die Polizei und bewirkten so angeblich eine "Veränderung im Charakter dieser P o l i z e i o r g a n e . "79 ¡ ) Historiker und Oberst der Volkspolizei, Joachim Sommerfeld, merkt als Mitautor der Bände zur Geschichte der Volkspolizei zum Umfang der zulässigen Forschung ausdrücklich an: "Es gab den klaren Auftrag, nur die Geschichte der Volkspolizei ab 1945 zu erforschen. Die Geschichte der Polizei vor diesem Zeitpunkt... [war] nicht unser Forschungsgegenstand."80 Tatsächlich wird noch im April 1947 in einem - bislang nicht veröffentlichten - Bericht »Über den Aufbau der Partei in der Polizei"« vermerkt, daß "auch die Personalpolitik in der Polizei stark kritisiert [wurde]. Es wurde Klage geführt, daß noch viele Elemente in der Polizei sind, die keine Gewähr für eine demokratische Polizei bieten. 1 e r

"Polizei, Militär und alle anderen Institutionen des staatlichen Gewaltmonopols [sind] ... nur selten Gegenstand sozialwissenschaftlicher Forschung," dieses stellt der Soziologe Joas bei der Rezension des sozialwissenschaftlichen Standardwerks zur deutschen Polizei fest und charakterisiert damit auch den Stand der universitären sozialwissenschaftlichen Polizeiforschung in Deutschland.82 ^ls Schwerpunkte in der aktuellen Forschung stehen denn auch die quantitative Erfassung und Beurteilung von Kriminalität, die Relation "Polizei - Opfer", die Analyse von bedeutsamen Deliktsbereichen, die kriminalistische Analyse von Tat- und Tätermerkmalen und die Untersuchung von kriminologischen Handlungsstrategien im Mittelpunkt des sozialwissenschaftlichen Untersuchungsinteresses.83 Zu Recht wird daher der bundesrepublikanischen Polizeiforschung eine "verengte Perspektive" konstatiert.84 in bundesrepublikanischen soziologischen Zeitschriften sind zum allgemeineren Thema, dem deutschen Nationalsozialismus, seit 1948 lediglich fünf Aufsätze veröffentlicht worden.85 DaS Standardwerk^ zu den bundesrepublikanischen Polizeien untersucht z.B. »Personal und Organisationsentwicklung der Sicherheitsapparate nach 1968« und die »Entwicklung des Gewaltmonopols nach 1945«. Die historische Dimension wird lediglich bei der Bewaffnung der Polizei erkannt, allerdings unter Auslassung der Polizei in der Zeit des Nationalsozialismus.^ Auch die sonst sehr fundierte Studie zur »Restauration der deutschen Polizei«®** erwähnt nur an wenigen Stellen die Existenz einer Polizei vor 1945. Dieses erfolgt allerdings eingeschränkt unter dem Aspekt der Rekrutierungs- und Entnazifizierungsproblematik in den verschiedenen Besatzungszonen. Als qualitatives problematisches Merkmal wird in

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Die Geheime Staatspolizei: Eine soziologische Annäherung

diesem Zusammenhang lediglich die Zugehörigkeit von Polizeibeamten zur NSDAP thematisiert.89 Im Wörterbuch zur Soziologie^ und in anderen sozialwissenschaftlichen Fachlexika^l wird der Begriff »Polizei« bzw. »Polizeisoziologie« überhaupt nicht verwendet. Funk scheint mit seiner Feststellung Recht zu haben, wenn er meint, daß die Auseinandersetzung mit konfliktbeladenen Themen (zur Zeit) wenig Ansehen in der "academic community "92 bringe und deshalb andere Untersuchungsgegenstände bevorzugt werden. Jedoch ist an dieser Stelle - quasi als regelbestätigende Ausnahme - auf die analytische Studie von Mann93 hinzuweisen werden, der - auf der Basis von in Düsseldorf vorhandenen Gestapo-Akten - die Wirkung der Praxis der Gestapo und das Widerstands- sowie Protestverhalten der Bevölkerung exzellent darstellt. E n e Verortung der Geheimen Staatspolizei ist in der deutschen Polizeisoziologie noch nicht vorgenommen worden, daher werden im Anschluß an die Ergebnisse dieser Untersuchung, Thesen zur Gestapo im Rahmen einer soziologischen Polizeitheorie vorgestellt. Zu Art und Verlauf von Habitusveränderungen bei Angehörigen von polizeilichen Tötungsorganisationen gibt die sozialpsychologische Literatur keine Hinweise und Erklärungen. Dem amerikanischen Psychotherapeuten Robert Lifton ist zu verdanken, daß es einige wenige (individualpsychologische) Erkenntnisse über die Mentalitätsveränderungen bei Ärzten und sonstigem medizinischen Personal gibt, die beim »medical killing« im Dritten Reich mitwirkten.94 In diesem Zusammenhang ist auf eine aktuelle Veröffentlichung des amerikanischen Historikers Christopher R. Browning hinzuweisen, welcher die Akzeptanz des Tötens bei Polizeiangehörigen im Dritten Reich - auch unter sozialpsychologischen Fragestellungen - am Beispiel des Polizei-Bataillons 101 untersucht hat.95 Habitusveränderungen, zu denen es bei den Opfern aufgrund der geheimpolizeilichen Verfolgung und Folterungen kam, werden fachwissenschaftlich dem Gebiet der Psychiatrie zu geordnet. So ist insbesondere auf das Standardwerk der Heidelberger Psychiater v. Baeyer, Häfner und Kisker1^ z u den »Folgen der Verfolgung« und auf die Langzeitstudie zur Traumatisierung von Kindern von Keilson h i n z u w e i s e n . D i e s e Veröffentlichungen sind für die Analyse der Geheimen Staatspolizei von besonderer Relevanz, weil sie bestimmte Praktiken der Geheimen Staatspolizei erschließen sowie Kausalitäten und die Verflechtungen zwischen den Gestapo-Angehörigen und den Verfolgten deutlich werden lassen.98 Die Geschichts- und Sozialwissenschaften in der Bundesrepublik und der ehemaligen DDR haben die Geheime Staatspolizei nur unter ausgewählten Aspekten untersucht. Insbesondere ist der zum Verständnis der historisch nachfolgenden Polizeien wichtige Aspekt, die Gestapo als Entwicklungsvoraussetzung für diese Polizeien zu verstehen, nicht thematisiert worden. Im folgenden Kapitel untersuche ich die »Entwicklungsbedingungen« der Geheimen Staatspolizei. Hier interessieren die bereits vor der Gründung der Gestapo existenten Informations- und Technikstandards geheimer Polizeien in Deutschland. Eine Skizze über die Politische Polizei in Hamburg stellt beispielhaft die Funktion und Wirkung einer solchen Institution im Kaiserreich dar. Die Politische Polizei in der Weimarer Republik wird im Anschluß daran dargestellt und mit Anmerkungen zur »nationalsozialistischen Infiltration« schließt das Kapitel ab.

Anmerkungen

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Anmerkungen ' Der ProzeiS gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof- Nürnberg 14. November 1945 - 1. Oktober 1946, 1947, Bd. 1, S. 300 /301; die zur Geheimen Staatspolizei und dem Sicherheitsdienst (SD) erhobenen Beweise finden sich auf den Seiten 294 - 301 2 Elias 1989, S. 394 3 ebd. 4 Zum Schutz und zur Stabilisierung dieses verzerrten Selbstbildes sind nach Elias diese Vernichtungshandlungen als »Ausnahme« und als etwas »Einzigartiges« bewertet worden. So ist in gewisser Weise auch eine psychische Verarbeitung möglich. Eine solche »Verarbeitung« gibt den Menschen einen "gewissen Trost". Die Menschen müssen sich nach Meinung von Elias dann weniger bewußt machen, daß "wissenschaftlich geführte Massenkriege,... die hochorganisierte und wissenschaftlich geplante Ausrottung ganzer Bevölkerungsgruppen in eigenes dafür eingerichteten Todeslagem und abgesperrten Ghettos durch Verhungern, Vergasen und Erschießen nicht völlig aus dem Rahmen technisierter Massengesellschaften ... fallen."; vgl. ders., S. 395 5 ders., S. 395/396 6 vgl. Goudsblom 1979, S. 139 - 144 7 Elias, in: Schäfers 1986, S. 88 - 91, hier: S. 88/89 8 ders., S. 89/90 9 vgl. ders., S. 90 Ό ebd. 11 Elias, in: Schäfers 1986, S. 234 - 241, hier: S. 234 12 ebd. 13 ders., S. 236 14 vgl. ders., S. 235 vgl. u.a. Elias 1989; dort Kap. I: »Zivilisation und Informalisierung«, S. 31 ff. und Kap. 4: »Der Zusammenbrach der Zivilisation«, S. 391 ff.; ders.1990 (a); ders. 1988, dort Kap. III, »Wandlungen der Wir-Ich-Balance«, S. 207 ff. 16 Elias 1989, S. 227 17 vgl. Hillman, in: Endruweit und Trommsdorf 1989, S. 785 - 789, hier: S. 786 18 ebd. 19 vgl. Goudsblom 1979, S. 139 20 Elias 1980, S. XXIII 21 Titscher, in: Endruweit und Trommsdorf 1989, S. 783 - 785, hier: S. 783 22 vgl. die Ausführungen vom gesellschaftlichen Zwang zum Selbstzwang bei Elias 1980, S. 312 - 336 23 zum Lebenslauf von Diels vgl. Graf 1983, S. 317 - 329; hier: S. 317 24 Graf 1983, S. 318 2 5 vgl. das Portraitphoto von Diels bei Wistrich 1983, S. 51 und von Kaltenbrunner bei ders., S. 151 26 vgl. Elias 1989, S. 55 27 vgl. ders., S. 67 28 ders. 1989, S. 67 29 ders. 1989, S. 69 3 ® vgl. über das Duell die Studie von Frevert 1991 31 Elias 1986, S. 69 32 ders., S. 98 33 In den National Archives in Washington D.C. (USA) werden bis zum heutigen Tage Gestapo-Dokumente aufbewahrt und geheimgehalten. Diese Dokumente werden aus verschiedenen Gründen auch Wissenschaftlern nicht zugänglich gemacht bzw. sind nicht mehr vollständig vorhanden. Bemühungen um Einsicht sind zur Zeit nicht erfolgversprechend, vgl. Weyrauch 1989, S. 95 ff.; auf Material aus Archiven des KGB der Sowjetunion ist ebenfalls nicht zurückgegriffen worden, obwohl diese 1991 erstmalig auch fiir westliche Historiker geöffnet wurden, vgl. DIE ZEIT Nr. 30 vom 19. Juli 1991, S. 9 ff. 34 Gleichmann, in: Seifert 1992, S. 89 - 120; hier S. 108

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35

ders., S. 107

36

Diamant 1988, S. X V I vgl. Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof Nürnberg 1947 - 1949, Bd. 1 - 1 4 ; dort besonders Band 1 (Anklage, Urteile und Urteilsbegründungen) zur Gestapo und SD, S. 294 - 301; gegen Ernst Kaltenbrunner (zuletzt Chef des Reichssicherheitshauptamtes), S. 328 - 331 ; gegen Hans Frank (u.a. Generalgouvemeur für die besetzten polnischen Gebiete und Vorsitzender der Akademie für Deutsches Recht), S. 334 - 337; Steininger (Bearbeiter), Bd. 2,1957

38

vgl. Gutachten des Instituts für Zeitgeschichte, Bd. 1,1958 und Bd. 2,1966

39

vgl. Crankshaw 1959; Manvell 1982; Delarue 1964; Gheorghe 1956

vgl. Gisevius 1954; ders. 1966 und Diels 1950 41 Aronson 1970; Wilhelm 1981; andere wissenschaftliche Arbeiten weisen - bezogen auf den Zeitrauml933 - 1945 - arge Lücken auf, die nicht durch mangelnde Quellen- oder Literaturlage erklärt werden können. Die an der Universität München eingereichte Dissertation von Biemath (1977) verschweigt z.B. die Tatsache, daB Heinrich Himmler und Reinhard Heydrich Angehörige der bayerischen Polizei waren. 40

42

als Auswahl: Nitzsche, in: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung 1/59, S. 138 - 149; Vollmer, in: Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte Nr. 2, Institut zur Zeitgeschichte 1957; Thévoz et al 1974; Schadt (Bearbeiter) 1976; Boberach 1984; Kulka, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 32. Jg. 1984, S. 582 - 624; Mlynek 1986; Pikarski, M. und Warning, E. (Bearbeiterinnen) 1990

43

vgl. Vollmer, in: Der Archivar 16/63, S. 287 - 294; Henke, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 30/82, S. 557 - 620; Kulka und Hildesheimer, in: Paucker (ed.), Leo Baeck Institute, Year Book X X X I V , 1989, p. 187 - 203

44

vgl. Aronson 1971; Calie 1982; Graber 1980; Fraenkel und Manvell 1964; Overy 1986; Bower 1984; Padfield 1990; bibliographische Kurzlebensläufe finden sich bei: Graf 1983; Black 1984; sonstige Kurznotizen auch zum Personal der Geheimen Staatspolizei bei: Stockhorst 1967 und Wistrich 1983

46

vgl. Paetel, in: Vierteljahrsheft für Zeitgeschichte, 2/54, S. 1 - 33; Mommsen, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 10/62, S. 68 - 87; Browder, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 27/79, S. 299 - 324; Benz, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 29/81, S. 615 - 630 als kurze Auswahl: Arendt 1978; dies. 1986; Broszat 1969; Kogon 1974; Fraenkel 1984; Neumann 1984 der langjährige Mitarbeiter und Direktor des Instituts für Zeitgeschichte, Prof. Dr. Wolfgang Benz, stellte dieses im Rahmen seines Vortrages »Wissenschaft oder Alibi - Die Etablierung der Zeitgeschichte in Deutschland« am 16.4.91 in Frankfurt/Main aus Anlaß der "Frankfurter-HistorikVorlesungen" fest; Veröffentlichung des überarbeiteten Vortrage bei: Pehle und Sillem 1992, S. 11 - 2 5

48

Herbert 1991, S. 546 (unveröffentlichte Habilitationsschrift); Best stand in Kontakt mit Helmut Krausnick und Hans Buchheim vom Münchner Institut für Zeitgeschichte

49

Kershaw 1989, S. 19

50

vgl. ders., S. 20

51

vgl. ders., S. 30

52

vgl. ders. S. 32

53

ders., S. 35

54

vgl. ders., S. 37

55

ebd. ebd.; dieses bestätigte auch Benz in seinem Vortrag in Frankfurt/Main am 16.04.91; in diesem Zusammenhang seien die Veröffentlichungen von Ritter 1955 und Rothfels 1949 genannt vgl. Kershaw 1989, S. 38; hier sei angemerkt, daß im Grundsatz die Geschichtswissenschaft nicht moralisch zu bewaten versucht, sondera die Entwicklungen "verstehend" aufzuzeigen. Die Unmöglichkeit des "verstehenden Aufzeigen" des Nationalsozialismus kennzeichnet das (auch aktuelle) Dilemma der Geschichtswissenschaft. So bleibt im Grundsatz nur eine Position übrig, die in besonders exponierter Form vom Historiker Ernst Nolte eingenommen wird. Nolte versucht den

Anmerkungen

17

Nationalsozialismus mit dem Stalinismus zu vergleichen, um ihn so zu relativieren. Dieses hat eine umfassendere - auch öffentlich bemerkbare Diskussion - ausgelöst, die im sogenannten "Historikers treit" einen Höhepunkt fand. Auf die Dokumentation zum Historikerstreit wird hingewiesen: vgl. Historikerstreit 1987 (3. Auflage) 58 vgl. Graf 1983 Krausnick und Wilhelm 1981; vgl. auch die Taschenbuchausgabe von Krausnick 1989 und Headland 1992 60 vgl. Zaika 1979; Harnischmacher und Semerak 1987; Semerak 1988 6 ' dazu ein Zitat aus einer aktuelleren Darstellung zur deutschen Polizeigeschichte: "De lege konnte Hitler nun ohne richterliche Kontrolle Personen auf unbeschränkte Zeit inhaftieren, Haussuchungen durchführen, Telefonate abhören, Briefe öffnen, Zeitungen verbieten bzw. zensieren, Parteien, Vereine und Organisationen auflösen, Eigentum beschlagnahmen, Versammlungen verbieten", aus: Harnischmacher und Semerak 1987, S. 170 am Beispiel Hamburg: Fangmann et al, Parteisoldaten - Die Hamburger Polizei im "3. Reich", Hamburg 1987; am Beispiel Hannover: Mlynek, K., Der Aufbau der Geheimen Staatspolizei in Hannover und die Errichtung des Konzentrationslagers Moringen, in: Historisches Museum Hannover (Hg.), Hannover 1933 - Eine Großstadt wird nationalsozialistisch, Hannover 1981, S. 65 - 80; am Beispiel Düsseldorf: Mann, R., Protest und Kontrolle im Dritten Reich, Frankfurt / New York 1987; am Beispiel der Gestapo-Zentrale in Berlin: Schattenfroh, R. u. Tuchel, J., Zentrale des Terrors, Ffin. 1988; im Rahmen einer polizeigeschichtlichen Darstellung am Beispiel Hildesheim: Lüddecke, W.D., Polizey-Diener der Stadt Hildesheim, Hildesheim 1987; am Beispiel Leipzig: Diamant, Α., Gestapo Leipzig, Ffm. 1990; für die Stadt Cuxhaven: Neumann, W. und Kahle, HJ. (Hg.), Geheime Staatspolizei - Außendienststelle Cuxhaven, Cuxhaven 1989; am Beispiel Würzburg: Schultheis, H. und Wahler, I.E., Bilder und Akten der Gestapo Würzburg über die Judendeportationen 1941 - 1943, Bad Neustadt an der Saale 1988; für die Stadt Frankfurt am Main: Diamant, Α., Gestapo Frankfurt a.M., Ffin. 1988; für die Stadt Kassel: Jäger, M., Organisation und Praxis der Gestapoleitstelle Kassel in der Endphase des Zweiten Weltkrieges - unter besonderer Berücksichtigung der Ermordung von Gestapohäftlingen in Kassel-Wehlheiden im März 1945, Unveröffentlichte Examensarbeit, Gesamthochschule Kassel 1985

65

66 67 68 69 70

71 72 73 74

76 77

z.B. Hamacher 1989; die bislang unveröffentlichte Studie von D. Lüder zur Geschichte der Niedersächsischen Polizei; Biemath 1977. An dieser Stelle sei auf dieselbe geschichtswissenschaftliche Praxis bei der Bewertung der Geschichte der Volkspolizei der DDR nach 1945 hingewiesen, vgl. hierzu: Schönefeld, in: Archiv für Polizeigeschichte, 2/90, S. 35 - 38: "So gesehen stellte für diese Männer - und selbstverständlich auch Frauen [der Volkspolizei]- in allen Besatzungszonen Deutschlands der Frühsommer 1945 gewissermaßen eine Stunde Null dar."; dies., S. 35 Steinbom und Schanzenbach 1990 z.B. Schubert 1990; Gellately, in: The Journal of Modern History Vol. 60, No. 4, Dec. 88, S. 654 - 694; Mann 1987; Schmitz, in: Justizbehörde Hamburg (Hg.) 1992, S. 290-331 Gellately, in: Lüdtkel992, S. 371 - 392 Lang 1990 Werle 1989; explizit zur Geheimen Staatspolizei vgl. S. 483 ff. und 532 - 576 vgl. Mallmann und Paul, in: Florath et al 1992, S. 100 - 110 Gellately 1990; deutsche Übersetzung 1993; vgl. auch die Studie von Mallmann und Paul 1991 fiir das "Industrierevier Saarland" Weyrauch 1989 Busse und Krause 1989 Rürup 1989 vgl. Schönefeld, in: Archiv für Polizeigeschichte, 2/90, S. 35 - 38, hier: S. 37; vgl. auch: Sommerfeld, in: Archiv für Polizeigeschichte, 2/91, S. 44 - 49 mündliche Mitteilung vom 9.11.89 eines Mitautors der Bände zur Geschichte der Volkspolizei: Ministerium des Innern - Kommission zur Erforschung und Ausarbeitung der Geschichte der Deutschen Volkspolizei [DDR] (Hg.), 2 Bände, Berlin [Ost], 1987 vgl. Schönefeld, aaO, S. 38 dies., S. 35

Die Geheime Staatspolizei: Eine soziologische Annäherung

18

7 8

die erste demokratisch gewählte Regierung der DDR bekannte sich erst im März 1990, zu Beginn der konstituierenden Volkskammersitzung, zur Verantwortung gegenüber den Opfern des Nationalsozialismus; vgl. Frankfurter Rundschau (FR) vom 5.6.90 und 12.6.90

7 9

vgl. Ministerium des Innern - Kommission zur Erforschung und Ausarbeitung der Geschichte der Deutschen Volkspolizei [DDR] (Hg.), Band 1, 1987, S. 20 - 27 Sommerfeld, aaO, S. 45

8 0 8

' zit. aus einem Bericht des "Leiters der Abteilung P" (Aktenzeichen H.-Tgb.-Nr. 616/47) vom 13.Mai 1947 gerichtet an den "Herrn Vizepräsidenten Mielke". Dieser Bericht stammt aus den Archivunterlagen des DDR Ministeriums des Innern und befindet sich als Kopie in meinem Besitz; zit. aus einer Karteikarte (No. 00011) für Findbücher (Hinweis auf ZA/Mdl, Bestand 7, Band 240) aus dem Archivbestand des DDR Ministeriums des Innern. Einem anderen unveröffentlichten Bericht zufolge wurdet bei einer im Jahre 1948 stattgefundenen Uberprüfung des polizeilichen Personals in da' sowjetischen Besatzungszone im Zeitraum von Januar bis Ende Juni 1948 "8.568 Kräfte" aus dem Polizeidienst entlassen. Die einschlägige Aufschlüsselung weist folgende Entlassungsgründe aus, allerdings wird nicht in Polizeisparten des »Dritten Reichs« (Ordnungs- und Sicherheitspolizei bzw. Gestapo) unterschieden: 25% waren Angehörige der früheren (Nazi-)Polizei; 38% galten als politisch unzuver lässig; 10% als "nicht geeignet"; 15% waren Angehörige der NSDAP und deren Gliederungen; 3,5% sind wegen Vergehen und "8,5% auf eigenen Wunsch, Krankheit, Alter u.ä." entlassen worden. Hinweise auf die Praxis dieser Entlassungsverfahren (z.B. formliches Rechtsverfahren oder ggf. Nötigung zur "Entlassung auf eigenen Wunsch") sind bislang nicht veröffentlicht worden.

8 2 83 8 4 8 5 86 87 88 8 9

9 1 9 2 9 3 9 4 9 5 9 6 9 7 9 8

Joas, in: Soziologische Revue, 13/90, S. 446 - 447 Funk, in: Kriminologisches Journal, 2/90, S. 105 - 1 2 1 ; hier S. 1 0 9 - 1 1 3 ders., aaO, S. 113/114 vgl. Mann 1987, S. 287 Busch et al 1988 vgl. dies., S. 182 Werkentin 1984 ders., S. 34 - 43 vgl. Endruweit und Trommsdorf 1989 vgl. z.B. Kerberund Schmieder 1984; Bernsdorf 1969; König 1967 (Band 1) bis 1969 (Band 14) Funk, aaO, S. 117 vgl. Mann 1987 vgl. Lifton 1988; vgl. auch Lifton and Markusen 1988 vgl. Browning 1992 Baeyer et al 1964 Keilson 1979 vgl. Stoffels 1991

2

Entwicklungsbedingungen der Geheimen Staatspolizei

In diesem Kapitel werden ausgewählte Entwicklungsbedingungen der Geheimen Staatspolizei skizziert. Dies ergibt sich aus der Absicht, die Geheime Staatspolizei nicht als etwas Statisches zu untersuchen, sondern als eine gewordene Organisation mit einer spezifischen Geschichte. Ich gehe dabei wie folgt vor: Zunächst skizziere ich die administrativen Techniken und Standards bei den direkten historischen Vorläuferinnen der Gestapo, den Politischen Polizeien im Kaiserreich und der Weimarer Republik. Ich gehe davon aus, daß die Geheime Staatspolizei auf bestimmte Standards hinsichtlich Informationsgewinnung, Methoden und Verfahren zurückgreifen konnte und auch Personal rekrutierte, das über eine spezifische Berufspraxis verfügte. Informations- und Technikstandards früherer Geheimer Polizeien erscheinen als notwendige Bedingungen, mit denen auch das Töten möglich wurde. Abschließend diskutiere ich einige politische Umstände, die die Einflußnahmen von Angehörigen der NSDAP auf die Politische Polizei in Berlin in den letzten Jahren der Weimarer Republik charakterisieren. Daraus lassen sich stellvertretend Hinweise entnehmen, inwieweit Polizeibeamte den nationalsozialistischen Ideologien zustimmend oder ablehnend gegenüber standen. Damit wären sicherlich nicht alle, aber im Hinblick auf die gewählte prozeßorientierte Fragestellung wohl die wichtigsten Bedingungen skizziert, die eine Ausgangsbestimmung und Analyse der Gestapo im Sinne der Fragestellung ermöglichen.

2.1 Informations- und Technikstandards deutscher Politischer Polizeien Welche polizeilichen Methoden-, Mittel- und Informationsstandards hatten sich bei Politischen Polizeien in Deutschland vor 1933 ausgebildet? Dazu stelle ich die These auf, daß sich das praxisrepräsentierende Handlungsrepertoire der Geheimen Staatspolizei nicht in jedem Falle aus exklusiven »Gestapo-Erfindungen« zusammensetzt, sondern auch ein Ergebnis eines längerfristigen Entwicklungsprozesses Politischer Polizeien in Deutschland ist Entsprechend liegt der Untersuchungsschwerpunkt vor 1933 und bezieht sich auf polizeiliche Organisationen, die mit den Begriffen »Politische Polizei« oder »Geheime Polizei« bezeichnet wurden. Diese Ist-Stand-Erhebung ermöglicht es, die Praxis der Geheimen Staatspolizei differenzierter vor dem Hintergrund ihrer Veränderungen nach 1933 zu analysieren.

20

Entwicklungsbedingungen der Geheimen Staatspolizei

2.1.1 Geheime Polizeien in Deutschland Im Jahre 1807 wurde in Schwaben die "Bayerische geheime Polizei" institutionalisiert. Die Gründung wird dem bayerischen Staatsminister, Maximilian Joseph Graf von Monteglas, zugeschrieben. 1 Der »Zwang« zur Gründung wird auch mit der Annexion Tirols und der Region Vorarlberg in den Jahren 1803 und 1805 erklärt. Die Annexion dieser Gebiete führte zu der behördlichen Annahme, daß es nunmehr "innere Feinde" im Staatsgebiet geben könne. Innerhalb des Verwaltungsgebietes Schwaben sollte die geheime Polizei die "innere Ruhe" im Sinne der Herrschenden gewährleisten. Aufgaben- und Kompetenzbestimmungen schrieben der Geheimen Polizei vor, u.a. "genauste Aufsicht über alle verdächtigen Personen" zu halten, verdächtige Korrespondenzen zu öffnen, besonders in den Bergregionen, die "Landrichter" und alle anderen Beamten "über alle Volksaufwiegler" zu informieren und sie zur "Aufmerksamkeit" gegenüber diesen Personenkreis anzuhalten. Um den polizeilichen Zugriff auf den Briefverkehr sicherzustellen, wurde der Ulmer Polizeidirektor Kraft zum »Oberaufseher der Post« ernannt.^ Im Land Preußen sind die Anfange der Politischen Polizei mit der Gründung des Berliner Polizeipräsidiums im Jahr 1809 verbunden.3 Bis zum Jahre 1808 wurde die Berliner Polizei von Angehörigen der französischen Besatzung geleitet, die ein »bureau de révision des léttres« zur systematischen Briefkontrolle eingerichtet hatten.^ Zu den Geschäftsabteilungen des Berliner Polizeipräsidiums gehörte u.a. ein »Sicherheitsbüro«, dem ab 1811 auch die Leitung der Kriminalpolizei übertragen wurde. 1812 definierte Hardenberg mit der »Instruction wegen Verwaltung der höheren und geheimen Policey« gegenüber dem Leiter der Politischen Polizei, Fürst Wilhelm Ludwig zu SaynWittgenstein, seine Aufgaben. Nach diesen Instruktionen hatte die Politische Polizei "ihre Aufmerksamkeit sorgfaltig auf das richten, was dem entgegen ist und den Staat in Gefahr setzen oder ihm schädlich und seinen Zwecken hinderlich seyn kann. Sie muß in dieser Hinsicht, sowohl Einheimische als Fremde genau beobachten, insonderheit wenn sie Verdacht erregen, sie muß auf die öffentliche Stimmung sehen, auf Machinationen der Unruhe-Stifter, sie mögen von Inländern, oder Ausländem herrühren, achten desgleichen auf Ausspäher und Correspondenzen, von denen Nachtheil für den Staat zu befürchten ist." 5 Der Zeitraum von 1815 bis 1848 kann als Phase erster staatspolizeilicher Koordinierungen zwischen den deutschen Bundesstaaten bezeichnet werden. Ausgehend von einer 1820 beginnenden systematischen Erfassung der »Attentate gegen gekrönte Häupter«, führte diese Statistik zu der Erkenntnis, daß man zukünftig von einer Bedrohungslage für die Herrschenden auszugehen habe und es wurden die ersten geheimpolizeilichen Definitionen zu »politischen Verbrechen« und zum »Staatsschutz« entwickelt.^* Diese Definitionen wurden in Bundesgesetze^ aufgenommen. Die »Mainzer Zentraluntersuchungskommission« (1819 - 1829) stellte in diesem Zusammenhang den ersten überregionalen Zusammenschluß dar und nahm die Aufgaben einer Koordinierungsstelle der deutschen Politischen Polizeien wahr. Diese Kommission ist charakterisiert worden als "ein großartiges politisches Polizeiinstitut zur Vernichtung [sie!] patriotischer und freiheitlicher Bestrebungen im Interesse des monarchischen Prinzipes."^

Informations- und Technikstandards deutscher Politischer Polizeien

21

Zur Gründung des ersten deutschen »Polizeivereins« kommt es im Jahr 1832. Es ist die "erste zwischenstaatliche, förmliche politisch-polizeiliche Kooperation zwischen deutschen Bundesstaaten außerhalb des Bundestags und unter Umgehung des diplomatischen Wegs."9 Dieser Polizeiverein hat in 18 Punkten seine Aufgaben und Ziele festgelegt, zu denen u.a. gehören: das Verbot politischer Vereine, Volksversammlungen und Volksfeste, die gegenseitige Auslieferung von politischen Verbrechern, einen gegenseitigen Nachrichtenaustausch und das Recht, flüchtige politische Verbrecher "über die Grenze bis zur nächsten Polizeibehörde zu verfolgen."^ Seit 1850 wurden in Berlin die Einhaltung der Bestimmungen des Vereinsgesetzes von 1850 und des Pressegesetzes von 1851 von der Politischen Polizei überwacht. Zum Aufgabenbereich dieser Dienststelle zählte auch die strafrechtliche Ermittlungsführung bei erfolgten bzw. gemutmaßten »politischen Delikten«.^ Aufgrund eines Erlasses des Preußischen Innenministeriums vom 5.9.1878 bekam diese Abteilung die Kompetenz zur Überwachung und Bekämpfung der Anarchisten und Sozialisten in Preußen. Die finanziellen Mittel waren dabei so großzügig bemessen, daß die Preußische Politische Polizei Verbindungsleute in den anderen deutschen Ländern und sogar in verschiedenen europäischen Hauptstädten unterhalten konnte. Das Inkraftsetzen von weiteren gesetzlichen Bestimmungen (u.a. Reichspressegesetz 1874, Sozialistengesetz 1878, Reichsvereinsgesetz 1908) bewirkte eine weitere Ausdehnung des Tätigkeitsfeldes der Preußischen Politischen Polizei. Die Sozialdemokraten nahmen aufgrund ihrer Verfolgung durch die Politische Polizei, die Auflösung von Politischen Polizeien in ihr politisches Programm und realisierten diese Absicht nach 1918.

2.1.2 Fallbeispiel: Politische Polizei Hamburg Aus zwei sozialgeschichtlichen Untersuchungen^ zur Tätigkeit der Politischen Polizei in Hamburg lassen sich verschiedene Arbeitsweisen (Methoden), Mittel und Ziele einer Politischen Polizei erschließen. Die Studie der Sozialwissenschaftlerin Kutz-Bauer untersucht den Zeitraum von 1873 - 1890, die des britischen Historikers Evans die Folgezeit von 1892 - 1914. Die erstgenannte Studie erfaßt die sozioökonomischen und -politischen Rahmenbedingungen unter dem Aspekt der Entstehung und Bitwicklung der Arbeiterbewegung. Die zweite Untersuchung ist - abgesehen von einleitenden Bemerkungen und Analysen - eine dokumentarische Veröffentlichung von »Stimmungsberichten« der Hamburger Politischen Polizei. Hamburg steht im Jahr 1876 in der politischen Tradition der grundsätzlichen Tolerierung von demokratischen Bewegungen^ Und so stellt sich die Praxis der Politischen Polizei als ambivalent dar, auch weil Hamburg zu diesem Zeitpunkt aus der Sicht der preußischen Regierung eine »Oase« der Sozialdemokratie ist. im April 1876 befaßte sich der Hamburger Senat zum ersten Mal im Rahmen einer parlamentarisch«! Erörterung mit der Hamburger Sozialdemokratie. Der Senat fühlte sich (noch) nicht von der Hamburger Arbeiterbewegung bedroht, die sich zunehmend in der sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SAP) politisch organisierte. Die Veranstaltungen der SAP wurden poli-

22

Entwicklungsbedingungen der Geheimen Staatspolizei

zeilich überwacht. Die Analyse der Berichte der Politischen Polizei hat zu diesem Zeitpunkt nach Evans folgendes Ergebnis: "... die Berichte der Polizeibehörde Hamburg über die Veranstaltungen der SAP zeichnen sich, wie die meisten Berichte der observierenden Polizeibeamten, durch sachliche Berichterstattung aus. Unter 20 mit Observationen befaßten Beamten sind es nur wenige, die tendenziöse Berichte erstatten oder ihre eigene Meinung einfließen lassen, diese wenigen, so z.B. der Offiziant Horst, sind ganz untypisch. Gerade im Vergleich mit den von Preußen veranlaßten Spitzelberichten fallt hier die eher nüchternde Berichterstattung auf. Letztere trug zweifellos dazu bei, dem Senat ein einigermaßen zutreffendes Bild von der Hamburger Arbeiterbewegung zu vermitteln."^ In diesem Zusammenhang wird ein Polizeikommissar Schröder erwähnt, dem bescheinigt wurde, daß er mit den "seinem Gegenüber" sachlich umging.^ Eine ähnliche Einstellung zum »Objekt« der polizeilichen Beobachtung hatten auch einzelne (untere) Polizeibeamte, die den "Sozialdemokraten wenn nicht Sympathie, so doch ein gewisses Verständnis entgegenbrachten." 18 Am 3. Januar 1879 beschloß der Hamburger Senat, nach den repressiven preußischen Polizeiinstruktionen im Zusammenhang mit dem Sozialistengesetzen zu verfahren. Unabhängig von den Berichten der Hamburger Politischen Polizei über die Tätigkeiten der Arbeiterbewegung im Quartier, gab es Spitzel, die dem preußischen Berliner Polizeipräsidenten direkt berichteten.19 Dieses führte dazu, daß die Hamburger Polizeiführung zunehmend unter den Druck der preußischen Polizeiverwaltung geriet und nunmehr ihren »sachlichen« Umgang mit der Arbeiterbewegung rechtfertigen mußte. Im Zuge dieser Auseinandersetzungen wurde der schon erwähnte Polizeikommissar Schröder - von Berlin aus - verunglimpft: Seine fachliche Kompetenz wurde angezweifelt und er galt als ein "weder seiner allgemeinen noch Fachausbildung nach für hinreichend befähigt zu erachtende[r] Polizeiinspektor."20 Nur wenige Jahre später veränderte sich der polizeiliche Umgang und damit auch die Bewertung der Arbeiterbewegung. Folglich war in den frühen neunziger Jahren, eine Zunahme der »Berichtstätigkeit« der Hamburger Politischen Polizei zu verzeichnen. Einige Senatoren, die die Interessen des Handels und der Wirtschaft betonten, sahen ihre Politik gefährdet. Im Jahr 1890, nach Aufhebung der Sozialistengesetze, gewann die SPD bei der Reichstagswahl alle drei Hamburger Wahlkreise. Im Kontext von Miet- und Preissteigerungen sowie einem schnellen Bevölkerungszuwachs^! in Hamburg, war es tatsächlich zu einer Veränderung der bisherigen Machtbalance zwischen dem regierenden Senat und der stärker werdenden SPD gekommen. Der Senat, der sich im wesentlichen aus Hausbesitzern, Kaufleuten, Handwerksmeistern zusammensetzte, sah sich nunmehr Forderungen nach mehr Demokratie (Mitspracherechte etc.) von den Mitgliedern der SPD ausgesetzt Ab 1893 wurde die Hamburger Polizei nach preußischem Muster neu organisiert. Dieses hatte besonders für die Rekrutierung der Hamburger Polizei entscheidende Konsequenzen: Die Hamburger Polizeibeamten bekamen nicht nur militärische Titel (»Schutzmann« und »Wachtmeister«) im Gegensatz zu den vorhergehenden englischen Zivilbezeichnungen (»Constabler« und »Sergeant«). Entscheidend ist, daß sie nicht mehr wie vorher aus der einheimischen Handwerkerbevölkerung, sondern aus dem UnteroffiziersCorps der preußischen Armee rekrutiert wurden.22

Informations- und Technikstandards deutscher Politischer Polizeien

2.1.3

23

Methoden-, Mittel- und Informationsstandards Politischer Polizeien

Unter den Begriffen »Methoden« und »Mittel« der Politischen Polizei sollen im weitesten Sinne geheimpolizeiliche Arbeitsweisen verstanden werden. Diese Methoden sind selten schriftlich fixiert und liegen daher als administrative Handlungsanweisungen nicht vor. Zu den Eigentümlichkeiten polizeilicher Organisationen gehört es, daß Methoden kaum in den Ausbildungsstätten gelernt werden. Sie werden hauptsächlich in der polizeilichen Praxis erlernt und in der Regel von erfahrenen Polizeibeamten - häufig informell - an neue Organisationsmitglieder weitergegeben. Polizeiliche Methodenkenntnisse stellen daher informelles (und nichtöffentliches) Wissen dar. Eine besondere Bedeutung kommt diesen Kenntnissen auch deshalb zu, weil sie die Grundlage für das Verständnis von der »Polizei in Aktion« bilden. Auch die Hamburger Politische Polizei hatte die oben beschriebenen Aufgaben, die sich aus den einschlägigen Vereins- und Pressegesetzen sowie strafgesetzlichen Bestimmungen ergaben. Darüber hinaus ergänzte der Leiter, Kommissar Rosalowsky, die Aufgaben wie folgt: "Was hier interessiert, sind Streitigkeiten unter den Verbindungen und ihren Angehörigen, Äußerungen der Unzufriedenheit mit den Führern, Personalkenntnis, Kenntnis über die Emsigkeit neu auftauchender Agitatoren, die Wünsche und Hoffnungen in gewerkschaftlicher und politischer Beziehung, welche von Rednern in der Hitze der Debatte ausgesprochen werden, Vorbereitungen zu Streiks, usw. "23 i n einem anderen Bericht merkt Kommissar Rosalowsky an, daß "die Gesamttätigkeit des Büros dahin gerichtet [ist], durch ein sorgfaltiges Hineinarbeiten, eine weitgehende Personenund Lokalkenntnis, ein sorgfaltiges Sammeln von Mitteilungen aller Art [sie!], eine eingehende Kenntnis der offen zutage tretenden Bestrebungen, Schlüsse auf die unter der Oberfläche verborgenen Ziele der politischen Parteien zu ermöglichen. "24 Die einzelnen Praxisfelder werden hier mit Begriffen bezeichnet, die einen relativ großen Interpretationsspielraum zulassen. Juristisch ist dann von »neutralen Kandidaten« zu sprechen, also von Bestimmungen oder Tatbestandsmerkmalen, die erst durch die polizeiliche Interpretation oder Rechtsprechung ihre inhaltliche Konkretisierung erfahren. Dies ist hier bedeutsam, weil unten auf die These von Raul Hilberg eingegangen werden wird, die besagt, daß staatliche "Aufträge zugleich Vollmachten darstellen"25 Und daß unabhängig vom konkreten Wortlaut bestimmter Anweisungen, sich jeder mittlere Bürokrat "über die bestehenden Absichten und Möglichkeiten im klaren [war]. Im kleinen wie im großen wußte er, für welche Entscheidungen die Zeit herangereift war."26 Im Zusammenhang mit den oben erläuterten Entwicklungen ist auch die Funktion der Politischen Polizei deutlich geworden: Es galt, Informationen aus allen öffentlichen oder (für die Polizei) sonst leichter zugänglichen Lebensbereichen der Arbeiterschaft zu sammeln. Einem Bericht ist zu entnehmen, daß in Hamburg in den ersten vier Monaten des Jahres 1892 "807 Versammlungen überwacht, ungefähr doppelt soviel wie im gleichen Zeitraum des Vorjahres, 4439 Zeitungen wurden gelesen und 12 722 Zeitungsausschnitte gesammelt.... Insgesamt registrierte die Politische Polizei 1892 eine Zunahme in ihrer Tätigkeit von 68% gegenüber den ersten vier Monaten des Vorjahres."27 Für die Politische Polizei stellten sich diese Entwicklungen als eine "beginnende

24

Entwicklungsbedingungen der Geheimen Staatspolizei

Indisziplin der Massen"28 dar. Eine solche Bewertung kennzeichnet treffend die Nähe der Polizei zu den Regierenden und drückt die Distanz zu den Regierten aus. Zum Selbstbild dieser Polizeibeamten kann daher angemerkt werden, daß sie sich selbst als Teil des Staates bzw. als Teil der »Obrigkeit« verstanden haben. Neben der Überwachung von Versammlungen, sahen die Angehörigen der Politischen Polizei Gaststätten, Lokale, Kneipen, Fähren, Bahnhöfe und Bereiche des Hamburger Hafens als die wichtigsten Orte für ihre Arbeit an. Im Zusammenhang mit der Forderung nach mehr Personal für seine Dienststelle merkt Kommissar Rosalowsky an, "daß eine Überwachung von Wirtschaften und damit die direkte Erkundigung der in der Arbeiterbevölkerung herrschenden Ansichten bei dem anstrengenden Dienst von der Stammschaft nur in geringem Umfang oder fast gar nicht gefordert werden kann. Die Versammlungen und deren Überwachung geben doch nur ein einseitiges Bild und lassen nur auf die ausgestreute Saat Schlüsse ziehen. Die Kenntnis darüber, wie diese Saat aufgeht, wie die ins Volk hineingeworfenen Andeutungen wirken, und wie sie in den Köpfen der hier in Frage kommenden Bevölkerungskreise verarbeitet wird, kann nur durch eine direkte Wirtschaftsüberwachung, und damit durch einen direkten unauffälligen Verkehr mit den Leuten, erlangt werden."29 Zu solchen Überwachungstätigkeiten mußten seine Beamten eine bestimmte Qualifikationen erfüllen, gleichzeitig sollten besondere Bestimmungen über ihren Einsatz gelten. Kommissar Rosalowsky führte aus: "Hierfür ist die Schulung der Intelligenz und der Stärke der verwandten Kräfte maßgebend. Wie bereits frühere Versuche beweisen, sind roh und ad hoc eingestellte Leute fast völlig nutzlos. Für dieses ist vielmehr die Erwerbung von Personal- und Lokalkenntnis zur Erzielung von Resultaten unumgänglich notwendig."30 Bei der Polizei durften sie andere Tätigkeiten nicht ausüben, weil "ihre Zugehörigkeit zur Polizeibehörde möglichst verschleiert bleiben muß."31 Die Beamten verkleideten sich jeden Tag als Arbeiter und unter Berücksichtigung des unter Arbeitern üblichen Verkehrsverhaltens (mit der Straßenbahn oder zu Fuß), gelangten sie in die Bezirke der Arbeitersiedlungen. Die Berichte, die die Beamten auch aus Gründen ihrer Tätigkeitsüberwachung schreiben mußten, waren im Stil ähnlich. Namen von Gesprächspartnern wurden in den Berichten nicht genannt. Nachlesbar waren lediglich die Namen der Wirtschaften und des Wirtes. Den Polizeibeamten war es ausdrücklich verboten, jemanden zu verhaften. Sie hatten ggf. "Anzeige zu erstatten" und die Verhaftung erfolgte dann später durch andere Polizeibeamte.32 Die polizeilichen »Zielpersonen« vermuteten allerdings die Anwesenheit von Polizeibeamten in den Wirtschaften. Der Schutzmann Michler gibt 1897 die Äußerungen eines Gastes in »Jörgensens Destillation« wie folgt wieder: "Hier in Hamburg laufen so viele Spitzel in den Wirtschaften umher, dieselben sind womöglich noch als Arbeiter gekleidet und schauen schon darauf, ob auch ein Wort zuviel fällt. Läßt sich nun jemand ein Wort zuviel aus, so wird er von einem solchem Spitzel, welcher zum Staunen vorher erst sein Schild aus der Tasche nahm, und demselben vor der Nase hält, am Kanthaken gefaßt, und so geht's dann los mit dem Betreffenden nach der Wache. "33 Charakteristisch für diese Erhebungsverfahren waren folgende Kriterien: Der Beamte wußte nach dem Schreiben des Berichtes nicht, in welcher Weise der Vorgesetzte mit den Informationen

Informations- und Technikstandards deutscher Politischer Polizeien

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umging. Er wußte nicht, welche Informationen besonders wichtig waren und welche eine eher geringere Bedeutung hatten. Seine Verfügungsmöglichkeit über die Informationen endete mit dem Schreiben und der Abgabe des Berichts. Die Vorstellungswelt der Politischen Polizei war von der Vermutung geprägt, daß die Verhaltensweisen der Arbeiterschaft nichts anderes als das Abweichen von einer »allgemeinen Disziplin« sei. Entsprechend dieser selektiven Vorstellung, war der Wahrnehmungs- und Beurteilungshorizont der Polizei begrenzt. Die Polizeibeamten blieben in den jeweiligen Wirtschaften meist nur 40 bis 50 Minuten und nur ganz selten länger als eine Stunde.34 Gespräche wurde dementsprechend kaum von Beginn bis zum Ende mitgehört. Die Erhebungsmethode, das konspirative Mithören von Gesprächen, war subjektiv und ausschnitthaft. Die vollständige oder ausschnittsweise Darstellung lag in der Hand des wahrnehmenden Polizeibeamten und entzog sich somit dem Einfluß der Leitung der Politischen Polizei. Auf der Grundlage der schriftlichen Berichte^ der Hamburger Politischen Polizei konnte auf Seiten der Regierenden ein zwar ausschnitthaftes, aber immerhin doch fundiertes Bild über ein spezifisches Milieu entstehen. Im einzelnen verfügten so die Regierenden über Informationen zu verschiedenen Lebens- und Arbeitsverhaltensweisen und Einstellungen. Evans faßt sie zu Einstellungen zur Arbeit- und Arbeitslosigkeit, Wohnung und Miete, Krankheit und Tod, Lebensmittel und Landwirtschaft, Umwelt und Verkehr, Trinken und Wetten, Familie und Frauen, Christentum und Wissenschaft, Verbrechen und Vergehen, Polizei und Justiz, Arbeitskämpfe und Gewerkschaften, Sozialdemokratie und Revolution, Verfassung und Volksvertretung, Mittelstandspolitik und Antisemitismus, Kaiser und Kanzler, Weltpolitik und Kolonialismus, Ausländer und fremde Völker, Militarismus und Flottenpolitik sowie zu den Balkanwirren und zum Weltkrieg, z u s a m m e n . 3 6 Mit diesen Informationen hatten die Regierenden faktisch einen Informationsvorsprung, der nicht nur ihrer allgemeineren Orientierung und Information diente, sondern ihnen auch ein höheres Maß an Handlungssicherheit bei der Bewertung, Kontrolle und Umgang mit diesem Milieu versprach. Für die Analyse der Vorbedingungen der Geheimen Staatspolizei ist es nicht unwichtig, die (Er-)Kenntnisse Politischer Polizeien zum Stichwort »Antisemitismus« zu erwähnen. Zu Beginn der 1890er Jahre verhängte die Hamburger Polizeibehörde ein Versammlungsverbot für Antisemiten, die sich in der Parteiengruppierung mit dem Namen "Deutsch-Soziale-Reformpartei" zusammenfanden.37 Nach erheblichen Stimmengewinnen bei der Reichstagswahl im Jahr 1893 verstärkte sich die antisemitische Propaganda mittels verbaler Angriffe auf Besitzer Hamburger Warenhäuser, Warengroßhandlungen und Banken, die nach ihrer Meinung sich "in den Händen der Juden" befanden. Nach Auffassung des Hamburger Senats hätte diese Propaganda wichtige jüdische Firmen veranlassen können, die Hansestadt zu v e r l a s s e n . 3 8 Entsprechend hatte die Politische Polizei auch Meinungsäußerungen zu diesem Themenbereich festzuhalten. Die Berichte zum verbal geäußerten Antisemitismus aus den Reihen der Deutsch-Sozialen Reformpartei wurden von der Politischen Polizei systematisch aufgenommen und aktenmäßig ihren Erkenntnissen über die »Ordnungsparteien« zugeordnet.39 Zusammenfassend kann zu den Methoden und Mitteln der Politischen Polizei in

26

Entwicklungsbedingungen der Geheimen Staatspolizei

Deutschland festgehalten werden, daß sie relativ zielgerichtet und ansatzweise systematisch waren. Die Ziele standen im engen Zusammenhang mit aktuellen gesellschaftlichen Ereignissen; insofern verhielt sich die Politische Polizei reaktiv. Die Überwachungsorte waren an Lebensgewohnheiten der Überwachten ausgerichtet. Entsprechend wurden nur zufällig einzelne Menschen staatlich überwacht. Die Überwachungen waren höchstens räum- und kaum personenbezogen angelegt. Das Ziel war, Stimmungsbilder zu erhalten. Zum Technik- und Mittelrepertoire der kaiserlichen Politischen Polizei gehörte das Verkleiden, das Verstellen, das Aufsuchen von mehr oder weniger leicht zugänglichen Aufenthaltsorten der zu überwachenden Menschen, das Kopieren ihrer Lebensstile und Verhaltensweisen. Dieses sind jeweils konspirative Techniken bzw. Mittel. Die Stimmungsbilder bezogen sich auf einen relativ unkonkret definierten Personenkreis. Statistiken, Karten oder Tabellen, die Auskunft über Zusammensetzung, Aufenthaltsund Beschäftigungsorte hätten geben können, wurden offensichtlich nicht angefertigt. Auch hinsichtlich der familiaren und/oder finanziellen Lebenssituationen erhob die Politische Polizei grundsätzlich keine Daten. Da diese Informationen nicht personenbezogen waren, konnten bei der Verarbeitung Einzelne grundsätzlich nicht identifiziert und somit auch nicht existentiell von der Polizei bedroht werden. Sehr wohl aber wurden die Angehörigen der überwachten Gruppierungen im kriminologischen Sinne stigmatisiert. Die Informationssammlung bei der Politischen Polizei stellte unter dem Aspekt ihrer damaligen Handhabung für die Regierenden eine Machtquelle dar, da sie diese Informationen ohne Kenntnis der Regierten relativ autonom erheben und aus- und bewerten konnten. Diese Praxis ermöglichte es den Regierenden auch, mittel- und langfristige Kontrollstrategien zu entwickeln.

2.2

Politische Polizei in der Weimarer Republik und ihre nationalsozialistische Infiltration

Als »Volkskommissar für den öffentlichen Sicherheitsdienst« hatte Emil Eichhorn (USPD) die politische Abteilung der Polizei im Berliner Polizeipräsidium (Abteilung V) im Jahr 1918 aufgelöst.40 Er erkannte zwar die Notwendigkeit einer Politischen Polizei an sich, jedoch formulierte er erhebliche Bedenken gegen die Beschäftigung der ehemaligen kaiserlichen Polizeibeamten in einer solchen Funktion. Eichhorn setzte deswegen geeignet erscheinende Männer aus den Arbeiter- und Soldatenräten ein. 4 ^ Eugen Ernst, der Emil Eichhorn im Amt des Berliner Polizeipräsidenten folgte, ermöglichte den Wiedereintritt von ehemals kaiserlichen Polizeibeamten, die dann den Stamm der Berliner Politischen Polizei bildeten. Die Abteilung der Politischen Polizei fungierte beim Berliner Polizeipräsidium unter der Bezeichnung »I A«.^2 Mit rund 22.000 Polizeibeamten war das Berliner Polizeipräsidium die größte Polizeibehörde in Deutschland. Das Präsidium vereinigte die sonst separierten und dezentralisierten polizeilichen Befugnisse eines Regierungspräsidiums, einer Kreis- bzw. Ortspolizeibehörde. Das ebenfalls dem Berliner Polizeipräsidenten unterstehende preußische Landespolizeikriminalamt hatte landesweite Kompetenzen und in bestimmten Fällen sogar

Politische Polizei in der Weimarer Republik und ihre nationalsozialistische Infiltration

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reichsweite Funktionen.4^ Die Schutzpolizei des Berliner Polizeipräsidiums hatte einen Personalbestand von ca. 15.000 Beamten, davon waren ca. 500 Schutzpolizisten im Rang eines Offiziers. Der Zentralabteilung der Politischen Polizei (»Abteilung IA«) gehörten ca. 300 Beamte an, davon waren 270 im Außendienst tätig. Die Politische Polizei hatte keinen »Behördenunterbau«, d.h. keine Beamten in den Ebenen der Polizeiämter bzw. Polizeireviere. Die Abteilungsleitung wurde in der Regel von einem Beamten im höheren Dienst (grundsätzlich mit juristischer Ausbildung) wahrgenommen. 44 Nach Bewertung der Historiker Tuchel und Schattenfroh sind polizeiliche Mittel und Maßnahmen gegen staatsfeindliche Angriffe von rechts und links unter der Verantwortung des Preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun4^ mit jeweils gleicher Entschiedenheit eingesetzt worden. Die Autoren weisen in diesem Zusammenhang auf die auch sprachliche Gleichsetzung von Nationalsozialisten und Kommunisten hin: "Seit 1930 wurde die gemeinsame Erwähnung von Nationalsozialisten und Kommunisten und ihre Zusammenfassung in einem Begriffspaar zur immer wiederkehrenden Formel." 4 ^ Allerdings setzten sich konservative und reaktionäre Kreise erfolgreich gegen eine solche Gleichsetzung ein. Letztlich verhinderte auch der amtierende Reichspräsident von Hindenburg wirksamere polizeiliche Aktionen gegen die Nationalsozialisten.4? Der Historiker Graf stellt in seiner Untersuchung fest, daß "alle befragten ehemaligen Beamten der republikanischen Politischen Polizei über eine intensive Überwachung der Aktivitäten der NSDAP und ihrer Führer durch die Politischen Polizei [und] über die Auffindung von diversen Waffenlagern, Terror- und Putschplänen der NSDAP [berichteten], " 4 8 Er nennt jedoch auch Quellen aus denen hervorgeht, daß "verschiedentlich ... Informationen der Politischen Polizei über bevorstehende staatsfeindliche und illegale Aktivitäten der NSDAP verraten worden seien und die Durchführung entsprechend politisch-polizeilicher Aktionen verhindert worden sei, vermutlich durch Beamte des Polizeipräsidiums Berlin oder der politischen Gruppe des preußischen Innenministeriums."4^ Der 20. Juli 1932 markiert das "Ende der republikanischen Polizei."50 Der nun folgende Abschnitt skizziert die Verfahren nationalsozialistischer Einflußnahme auf die polizeiliche Administration. Zur Kennzeichnung dieser Entwicklung wird der von Graf eingeführte Begriff der »Infiltration«51 übernommen. Die preußische Polizei wurde über/ durch verschiedene Organisationen von Nationalsozialisten infiltriert: Dabei handelt es sich um die Vereinigung preußischer Polizeioffiziere und um den Verband der Schutzpolizei-Beamten Preußens. Deren Mitglieder waren "latent republikfeindlich" und ihre meist kleinbürgerliche Herkunft soll sie für das nationalsozialistische Gedankengut besonders anfällig gemacht haben. Als weitere für die Infiltration verantwortliche Organisation ist die »NSBAG« (Nationalsozialistische Beamten-Arbeitsgemeinschaft) zu nennen. Diese Arbeitsgemeinschaft galt als das einflußreichste »NS-Agitationszentrum«. Die NSBAG gliederte sich in Fachgruppen unterschiedlicher Zuständigkeit und orientierte sich dabei an die polizeiliche Organisation. In ihren Sparten der Schutz-, Kriminal- und der Verwaltungspolizei sam-

28

Eotwicklungsbedingungen der Geheimen Staatspolizei

melten sich diejenigen Polizeiangehörigen, die nach 1933 Karriere in der Polizeiadministration und in der Geheimen Staatspolizei machen sollten. Zur Zusammensetzung dieser Fachgruppen ist anzumerken: "Die Fachgruppen der NSBAG rekrutierten sich aus persönlich oder beruflich frustrierten, von beruflichen Mißerfolgen und laufbahnmäßigen Benachteiligungen enttäuschten und unzufriedenen Polizeibeamten, ab 1932 zunehmend aus Opportunisten, die auf die richtige Karte setzten, sowie aus ideologisch fixierten antirepublikanisch eingestellten Beamten, die zum Teil schon im kaiserlichen Deutschland a r b e i t e t e n . "52 Graf belegt, daß diesen Beamten ausdrücklich für ihre Zusammenarbeit vor 1933 mit den damals noch nicht etablierten führenden Nationalsozialisten gedankt w u r d e . 5 3 Diese Zusammenarbeit kann mit dem Begriff »Zuträgerdienst« gekennzeichnet werden. Darunter fällt, 1. die Weitergabe von vertraulichen Informationen über Organisation, Tätigkeit sowie angebliche Versäumnisse und Fehlhandlungen der Polizeibehörden, 2. die Aufstellung von "Säuberungslisten" über »nazifeindliche« Polizeibeamte und Beförderungslisten für »nazifreundliche« Beamte, 3. Werbung von NS-Sympathisanten in der Polizei. Bei der Schutzpolizei leisteten Zuträgerdienste: Der Schutzpolizeimajor Walter Wecke, Polizeioffizier Maas, Polizeiwachtmeister Kurt Gildisch und Polizeihauptmann Walter Stennes. Dennoch stellt Graf fest, daß bis zum Juli 1932 die "republikanische Zuverlässigkeit der Schutzpolizei durch die erwähnten und weitere NS-Zellen wohl kaum erheblich beeinflußt" war. Allerdings schränkt er ein: "...dies bedeutet weder, daß die ganze preußische Schutzpolizei im Juli 1932 republiktreu war, noch daß es keine bedeutende Zersetzungstätigkeit gegeben h ä t t e . " 5 4 Genauer begründet es der Historiker Leßmann, warum die Preußische Schutzpolizei kein Garant für die Republik gewesen war. Er führt die Rekrutierungspolitik des Preußischen Innenministeriums an, denn die Leitungsfunktionen bei der Schutzpolizei wurden mehrheitlich mit ehemaligen Reichswehroffizieren b e s e t z t . 5 5 Diese Offiziere haben an der Verunglimpfung von republikanischen Symbolen mitgewirkt^ und demokratische Reformen innerhalb der Polizei unterlaufen.^ Für die Kriminalpolizei leisteten die Kriminalkommissare Arthur Nebe, Liebermann von Sonnenberg, Otto Trettin, der Kriminalpolizeirat Alfred Mündt und andere wie Emil Berndorff, Erich Lipik, Kurt Geissler, Hubert Geissei, Alwin Wipper, Bruno Sattler und Günther Braschwitz entsprechende Zuträgerdienste für die Nationalsozialisten. Die letztgenannten wurden von der Berliner Politischen Polizei direkt in das Geheime Staatspolizeiamt (Gestapa) übernommen. Von der schon erwähnten Abt. IA im Berliner Polizeipräsidium kamen die Kriminalpolizeiräte Reinhold Heller, Wilhelm Bonatz und Johannes Thiel sowie die Kriminalkommissare Helmut Heisig, Rudolf Braschwitz und Karl Furth zum G e s t a p a . 5 8 Als Ministerialbeamter (im Preußischen Innenministerium) ist besonders der Ministerialdirektor Erwin Schütze hervorzuheben. Nach Einschätzung des

Politische Polizei in der Weimarer Republik und ihre nationalsozialistische Infiltration

29

damaligen Abgeordneten im Preußischen Landtag und späteren Leiters der Ordnungspolizei, Kurt Daluege, hatte Schütze seine "häufigen Anliegen ... jedesmal bereitwillig unterstützt und der Partei außerordentlich wertvolle Dienste geleistet."59 Diese Beamten vermochten aufgrund ihrer Stellung in der bürokratischen Hierarchie auch das nationalsozialistische Gedankengut in die staatliche Administration einzubringen. Die wesentlichen personellen Veränderungen werden nachfolgend am Beispiel der Berliner Polizei skizziert. Im Berliner Polizeipräsidium wurden der Präsident Grzesinski, der Vizepräsident Weiß^O und der Kommandeur der Schutzpolizei Heimannsberg noch am Vormittag des 20. Juli 1932 ihren Ämtern enthoben. Auch andere Beamte wurden entlassen und an ihre Stelle traten "im allgemeinen nationalkonservative, parteifremde Fachbeamte... im Amt blieb das dem Zentrum angehörende oder noch weiter rechts stehende Führungspersonal."61 Der bisherige Leiter der Abt. I im Berliner Polizeipräsidium, Regierungsdirektor Goehrke (Mitglied der Staatspartei) wurde von der Abteilungsleitung entbunden und durch den deutsch-nationalen Regierungsrat von Werder ersetzt. Ihm folgte im Herbst 1932 der Regierungsdirektor und von-Papen-Vertraute, Kretzschmar. Sofern SPD-Mitglieder noch wichtige Funktionen in der Abt. I - besonders bei der Bekämpfung des Rechts- und Linksextremismus - innehatten, wurden sie in "unpolitische" Bereiche des Berliner Polizeipräsidiums und/oder in die Provinz versetzt.^ Auch kriminalpolizeiliches Personal wurde ausgetauscht: Der Inspektionsleiter gegen rechtsradikale Bewegungen, Kriminalrat Johannes Stumm (SPD), wurde versetzt. Stumms Funktion wurde dem NS-Sympathisanten Johannes Thiele übertragen. Der Außendienstleiter der Berliner Kriminalpolizei, Kriminaldirektor Scherler, und andere Kriminalpolizeibeamte näherten sich in dieser Zeit den "nationalsozialistischen Organisationen" an und übernahmen später auch bei der Gestapo wichtige Funktionen. Insgesamt wurden im Land Preußen 28% aller Beamten des höheren Dienstes der Verwaltung entlassen. Dieser Quote stehen nur 3,5% von Beamten aus den anderen Laufbahngruppen gegenüber.63 Nach den personellen Veränderungen wurde der Geschäftsverteilungsplan des Polizeipräsidiums Berlin, welcher die Tätigkeitsbereiche/Aufgabenfelder der Abteilung konkretisierte und voneinander abgrenzte mit neuen Schwerpunkten u.a. der Überwachung des "Internationalen Kommunismus", der KPD, SPD, Gewerkschaften verändert.^ Auch damit erklären sich Defizite in der wirksamen politisch-polizeilichen Überwachung der nationalsozialistischen Infiltrationen. Reichspräsident von Hindenburg ernannte Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler. Nur zwei NSDAP-Mitglieder, Frick (Reichsinnenminister) und Göring (Reichsminister ohne Geschäftsbereich), gehörten diesem Kabinett an. Die Mehrheit der Minister kam aus der Deutschnationalen Volkspartei bzw. waren parteilos.65 Von Papen wurde zum Vizekanzler und gleichzeitig zum »Reichskommissar für Preußen« ernannt. Göring wurde in das Amt des kommissarischen Preußischen Innenministers berufen und hatte damit administrativen Einfluß auf ca. 50.000 Polizeibeamte.66 Unmittelbar nach seinem Amtsantritt berief Göring den NSDAP-Angeordneten und Gauführer, Kurt Daluege, in das neu geschaffene Amt eines »Kommissars Z.B.V.«. Er bekam den Auftrag anhand der im Preußischen Innenministerium vorhandenen Personalakten, die politische Zuverlässigkeit von Polizeibeamten zu überprüfen.67 & hatte aufgrund seiner

Entwicklungsbedingungen der Geheimen Staatspolizei

30

Tätigkeit als Mitglied im parlamentarischen Polizeiuntersuchungsausschuß bereits Kenntnisse über nichtöffentliche Polizeiangelegenheiten erwerben können und unterbreitete Göring später Personalvorschläge zur Entlassung von (NSDAP-) unzuverlässigen Polizeibeamten und schlug die Einsetzung und Beförderung von Polizeibeamten mit NSDAP-Parteibuch vor.68 Zur Personalkontinuität der politischen Polizei der Weimarer Republik bis zur Tätigkeit im Geheimen Staatspolizeiamt kann angemerkt werden, daß "der größte Teil der höheren Beamtenschaft unter Diels erst 1933 von diesem herangezogen wurde und daß mehr als die Hälfte der "Neulinge" das Gestapa mehr oder weniger mit Diels wieder verließen, während die "Alteingesessenen" der Gestapo mehrheitlich wesentlichen länger, bis in den Krieg hinein, treu blieben."69 Ergänzend seien hier noch zwei Bewertungen aus anderen Studien genannt, die sich mit dem Übergang der Polizei der Weimarer Republik zum »Dritten Reich« befassen: Eine Studie zur Hamburger Polizei hält fest: "Die große Mehrheit der Polizeibeamten, die ehemals Mitglieder in demokratischen Parteien waren, gehörte auch nach der NSMachtübernahme weiterhin dem Polizeidienst an, sofern ihre Loyalität gegenüber den neuen Machthabern gesichert erschienen. Nur in wenigen Einzelfallen regte sich innerhalb der Hamburger Polizei Widerstand gegen die nationalsozialistische Machtübernahme."^ Und die Hildesheimer Polizeibeamten verhielten sich wie folgt: "Ein Teil der Beamtenschaft der Polizeidirektion Hildesheim und der Gendarmerie der Landkreise zeigte nach dem Machtwechsel offen Flagge. ... Von der Polizeidirektion Hildesheim und der Gendarmerie Hildesheim wurden allerdings keine Beamten entlassen. Die spezifischen Rekrutierungsmilieus der Polizeibeamten und auch ihre berufsökonomische Situation haben als mitwirkende Faktoren die nationalsozialistische Infiltration der polizeilichen Organisation in der Weimarer Republik erleichtert. Die eigentliche Bedeutung der Infiltration liegt in der Weitergabe von Informationen an nationalsozialistische Funktionäre. Mit der Informationsweitergabe und der (ideologischen) Annäherung zur NSDAP begann für eine Vielzahl von Polizeibeamten ein Etablierungsprozeß, der häufig der Beginn einer neuen Karriere war oder direkt zur Übernahme von Leitungsfunktionen in Bereichen der polizeilichen Administration oder der Geheimen Staatspolizei führte. Mit dem folgenden Kapitel beginnt nunmehr die Analyse zur Entwicklungsdynamik der geheimpolizeilichen Arbeits- und Lebenswelt. Sie knüpft bei der Darstellung der Organisation und bei den Bewertungen zum Personal direkt an die hier skizzierten Ausgangsbedingungen an.

Anmerkungen 1 2 3

vgl. Siemann 1985, S. 48 ebd. vgl. ders., S. 62

Anmerkungen

4

31

vgl. ebd. ders., S. 69/70 6 vgl. ders., S. 72 7 vgl. zum politischen Strafrecht das Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten, Verordnung vom 25. Juni 1867, die §§ 61 ff. (Hochverrath und Landesverrat), §§ 74 IT. (Beleidigungen der Majestät und der Mitglieder des Königlichen Hauses), §§ 78 ff. (Feindliche Handlungen gegen befreundete Staaten) und §§82 ff. (Verbrechen und Vergehen in Beziehung auf die Ausübung der staatsbürgerlichen Rechte), in: Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten 1867, S. 30 - 34 8 Siemann 1985, S. 76 9 ders., S. 89 10 ders., S. 90 11 vgl. Graf 1983, S. 5 ' 2 vgl. ebd. 13 Kutz-Bauer 1988 und Evans 1989 14 dies., S. 367 15 ebd. 16 dies., S. 368 17 dies., S .383 18 dies., S. 385 19 vgl. dies., S. 381 20 dies., S. 384 21 vgl. Evans 1989, S. 8/9 22 vgl. ders., S. 10 23 ders., S. 11 u.H.a. Staatsarchiv Hamburg, Politische Polizei, S 2170, Bd. 19, Teil 1: Bericht vom 28. November 1892 24 ebd. 25 Hilberg 1990, 3. Bd., S. 1064 26 ders., S. 1065 27 Evans 1989, S. 10 28 ders., S. 11 29 ders., S. 13 30 ders., S. 12 31 ebd. 32 vgl. ders., S. 13 33 ders., S. 16 34 vgl. ders., S. 27 im Hamburger Staatsarchiv sind ca. 20.000 Berichte der Politischen Polizei aus der Zeit der 80er und 90er Jahre des 19. Jahrhunderts aufbewahrt; bislang sind lediglich 348, in der Regel längere, Berichte veröffentlicht; vgl. ders., S. 34 36 die jeweilige thematische Zuordnung einzelner Berichte stammt vom Herausgeber, vgl. Evans 1989, S. 34 - 39. Bei der Geheimen Staatspolizei wurde für viele der hier genannten Themaibereiche einzelne Stabsstellen vorgesehen, die gesammelten Informationen wurde so systematischer erfaflt als bei der Politischen Polizei im Kaiserreich. 37 vgl. Evans 1989, S. 305 38 ebd. 39 ebd. 40 vgl. Buchheim 1965, Bd. 1, S. 36 41 vgl. Graf 1983, S. 7 42 ebd. 43 vgl. Schattenfroh und Tuchel 1987, S. 54 5

32

44

Entwicklungsbedingungen der Geheimen Staatspolizei

vgl. dies., S. 56 Otto Braun, geb. 28.01.1872, gest. 15.12.1955, Führer der ostpreußischen Landarbeiterbewegung, seit 1913 für die SPD Mitglied im preußischem Abgeordnetenhaus, seit 1920 im Reichstag; Preußischer Ministerpräsident seit März 1920 bis 1932/33 (Unterbrechungen in den Jahren 1921 u. 1925) wurde am 20.07.1932 durch den Reichskommissar für Preußen v. Papen seines Amtes enthoben und behielt seine Amtsrechte bis 25.10.1932 nach Intervention beim Staatsgerichtshof. 46 Schattenfroh und Tuchel 1987, S. 57 47 dies., S. 57; in diesem Zusammenhang soll nur ein Beispiel erwähnt werden: Anläßlich eines von Hitler in Berlin beabsichtigten Rundfunkinterviews erließ da' Berliner Polizeipräsident mit Datum vom 11.12.1931 eine Ausweisungsverfügung aus dem Land Preußen, Hitler wurde u.a. als lästiger (österreichischer) Ausländer bezeichnet. Der Ministerpräsident Braun stimmte der Verfügung zu; der preußische Innenminister Severing untersagte die Durchsetzung, weil er mutmaßte, "daß sich die Reichsregierung und besonders der Reichspräsident diesen Maßnahmen widersetzen würde"; vgl. dies., S. 58 48 Graf 1983, S. 37/38 49 ders., S. 38 unter Berufung auf "diverse pers. Mitt. Adrian, Schindler, Stumm", dieses waren Beamte der Politischen Polizei, die der SPD nahestanden. 50 Graf 1983; Schattenfroh und Tuchel 1987 51 Graf 1983, S. 92 - 107 52 ders., S. 94 vgl. ders., S. 102 u.H.a. eine Rede vom 22. April 1933, gehalten vom späteren Leiter der Ordnungspolizei, Kurt Daluege, vor einer Berliner NSDAP-Ortsgruppe 54 ders., S. 95 55 vgl. Leßmann 1989, S.202 56 vgl. ders., S. 204 57 vgl. ders., S. 251 -253 58 Graf 1983, S. 97/98 59 ders., S. 102 60 vgl. die Biographie über Bernhard Weiß von Bering 1991, S. 29 ff 61 Schattenfroh und Tuchel 1987, S. 60; vgl. auch Graf 1983, S. 74 62 vgl. Graf 1983, S. 74 63 Eggestein und Schirmer, in: Der Rektor der Verwaltungsfachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege 1987, S. 12 - 30, hier: S. 20 64 vgl. den Geschäftsverteilungsplan der Abt. I vom Dezember 1932, in: Graf 1983, S. 409 (Dokument 7) 65 vgl.Schattenfroh und Tuchel 1987, S. 63 66 Zahlenangabe nach Graf 1983, S. 110 In der Zeit der demokratischen Regierungen nach 1919 ist im preußischen Innenministerium u.a. ein Informationsfundus über die objektiven und subjektiven Leistungen bzw. Fähigkeiten von Polizeibeamten angelegt worden. Bedingt durch die Verfügungsgewalt über diesen Fundus, war es den Nationalsozialisten möglich geworden, Polizeibeamte, die als nicht zuverlässig im Sinne der NSIdeologie definiert wurden, zu entlassen bzw. aus einflußreichen Funktionen zu entfernen. 68 vgl. Schattenfroh und Tuchel 1987, S. 63; bis zum Jahresende 1933 wurden 1.500 Polizeibeamte entlassen und 3.000 wurden neu eingestellt. Die rechtliche Grundlage gab das "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" vom 7. April 1933 69 Graf 1983, S. 396 70 Fangmann et al 1987, S. 129/130 71 Lüddecke 1987, S. 101 45

3

Entwicklungsdynamik der geheimpolizeilichen Arbeits- und Lebenswelt

Nachdem in den vorstehenden Abschnitten einige Vorbedingungen für den Entwicklungsprozeß der Geheimen Staatspolizei untersucht sowie Aufgaben und Wirkungen von Politischen Polizeien in Deutschland besonders unter dem Aspekt ihrer Ausbildungs-, Technik- und Informationsstandards vor 1933 analysiert worden sind, kann nunmehr die Geheime Staatspolizei im engeren Sinne untersucht werden. Historisch sind als Eckpunkte ihrer Entwicklung u.a. die Gründungsphase, die Organisationsstruktur und auch die Europäisierung der Gestapo bedeutsam. Die Beschreibung dieser Entwicklungsstrukturmerkmale und die Analyse ihrer Wirkungen auf die Angehörigen der Geheimen Staatspolizei gehören mit zu den »gesellschaftlichen Bedingungen« unter denen die Praxis möglich wurde. Um die Entwicklung der Geheimen Staatspolizei zu beschreiben, beginne ich mit den Konstitutionsbedingungen der Organisation. Aufgrund des defizitären geschichtswissenschaftlichen Forschungsstands werde ich aus verschiedenen Teilstudien zur Geheimen Staatspolizei - eher summarsisch - einige Eckdaten der Organisation darstellen. Vor dem Hintergrund der unmittelbar anschließenden soziogenetischen Analyse der GestapoPraxis sind verschiedene Konstitutionsbedingungen von besonderem Interesse: Es sind die -

die Organisationsstrukturen, der administrative Handlungsrahmen (Recht und Finanzierung), das Personal, die Personalpolitik und der Europäisierungsprozeß

der Geheimen Staatspolizei. Nach diesen Darstellungen kann folgend erst die Praxis der Geheimen Staatspolizei analysiert werden, die als ein Produkt aus verschiedenen Methoden und Verfahren verstanden wird. Auch Verfahren der »Zuarbeit« durch staatliche Organisationen und private Institutionen gehören dazu. Fragestellung und Methode machen es allerdings erforderlich, diese eher organisationszentrierte Analyse, um die menschenzentrierte Figurationsperspektive zu erweitern, die sich wiederum auf arbeitsund lebensweltlichzentrierte Aspekte stützt. Damit ist die Entwicklungsdynamik der Gestapo im Sinne der Fragestellung fokussiert. Die arbeits- und lebensweltliche

34

Entwicklungsdynamik der geheimpolizeilichen Arbeits- und Lebenswelt

Perspektive zur Gestapo-Praxis, die auf den Untersuchungen in diesem Kapitel basiert, wird im 4. Kapitel behandelt. Die Beschreibung und Analyse der Bedingungen für das Zugehörigkeitserleben bilden dann die Voraussetzung für die Untersuchung von Habitusveränderungen bei den Gestapo-Angehörigen (5. Kapitel). Schließlich ergeben sich aus der Gestapo-Praxis Konsequenzen für die Verfolgten, die in sozio- und psychogenetischen Kategorien unterschieden und im 6. Kapitel diskutiert werden. Die hier gewählte menschenzentrierte Untersuchungsperspektive setzt ein bestimmtes Verständnis und einen vorläufigen Begriff für die geheimpolizeiliche Organisation voraus. In der Literatur zur Geheimen Staatspolizei finden sich im wesentlichen drei Definitionsvorschläge. In der amerikanischen Literatur findet sich der Begriff der »criminal organisation«.! Er orientiert sich an den Definitionen des Nürnberger Militärtribunals aus dem Jahr 1947. Dieser Internationale Gerichtshof erklärte u.a. die Geheimen Staatspolizei zur verbrecherischen Organisation. »Verbrecherische Organisation« ist somit ein juristischer Begriff, der von einem abweichenden Verhalten eines bestimmten Kollektivs ausgeht. Das abweichende Verhalten ist nur im Kontext von Strafvorschriften zu erschließen. Der Begriff »criminal organisation« beschreibt damit weniger die Organisation an sich und eignet sich daher nicht als analytischer Begriff für diese Untersuchung. In der deutschsprachigen Literatur ist der von dem Historiker Hans Buchheim eingeführte Begriff, der die Gestapo als »Instrument der Verwirklichung des Führerwillens« kennzeichnet, weit verbreitet.^ Hinter diesem Begriff steht die Wahrnehmung und Bewertung der Geheimen Staatspolizei und des nationalsozialistischen Herrschaftssystems aus der Perspektive des Totalitarismus. Er suggeriert, daß die Gestapo ein willenloses und fremdgesteuertes Organisationsgebilde war und nur die Person Hitler monopolistisch Einfluß auf sie hatte. Damit wird eine faktische Zwangssituation für die Mitglieder der Geheimen Staatspolizei suggeriert. Zuletzt soll noch der dritte Begriff vorgestellt werden. In der Bibliographie der Wiener Library zur »Nazi Era« findet man die Literatur zur Geheimen Staatspolizei unter dem Begriff »instrument of repression« subsumiert.^ Auch in einer schweizer Studie zur Soziologie der Politischen Verfolgung wird die Geheime Staatspolizei als Repressionsinstrument verstanden.4 Der Begriff »Instrument« unterstellt wie oben erläutert, ein hohes Maß an Fremdbestimmung der Organisation. »Repression« wird im allgemeineren Sinne als Unterdrückung verstanden und kann in diesem Sinne als »Verfolgung« gedeutet werden. Davon ausgehend, daß unter dem Begriff Repression, auch bei weitester Auslegung, begrifflich keine Tötungshandlungen zu subsumieren sind, wird dieser Begriff zur Kennzeichnung der Gestapo ebenfalls als nicht sachgerecht abgelehnt. Für diese Untersuchung wird die Geheime Staatspolizei aufgrund ihrer Praxis und hinsichtlich der Bedeutung für die Analyse von Prozessen mit entzivilisierender Wirkung als Tötungsorganisation verstanden. Die Untersuchung wird zeigen, daß GestapoAngehörige weitgehend selbständig und eigenverantwortlich auch ihre Tötungshandlungen wählten, daß sie kaum bzw. gar nicht abhängig von Befehlen waren und daß die Repressionswirkung der Gestapo eher der weitverbreiteten Denunziationsbereitschaft in der Bevölkerung zu zuschreiben ist. Dieses Vorverständnis zur Geheimen Staatspolizei wird in verschiedenen Kapiteln aufgenommen und dort näher begründet.

Die Organisationsstrukturen der Geheimen Staatspolizei

3.1

35

Die Organisationsstrukturen der Geheimen Staatspolizei

Der Reichstag wurde in der Nacht vom 27. auf den 28. Februar 1933 in Brand gesetzt. Am 28. Februar 1933 erließ der Reichspräsident v. Hindenburg die »Notverordnung zum Schutz von Volk und Staat«. Diverse verfassungsmäßig garantierte Bürger- und Menschenrechte (u.a. Recht der persönlichen Freiheit, Recht der persönlichen Meinungsäußerung, Pressefreiheit, Versammlungs- und Vereinigungsrechte) wurden eingeschränkt. Besonders die Rechte zum Schutz vor Hausdurchsuchungen, vor willkürlichen Festnahmen und bestimmte Eigentumsrechte wurden außer Kraft gesetzt. Ein Erlaß des Preußischen Innenministeriums vom 3. März 1933 (basierend auf der Notverordnung) hatte die Preußische Polizei von der Beachtung der Normen des Preußischen Polizeiverwaltungsgesetzes entbunden. Dr. Werner Best, der spätere Leiter der GestapoAbteilung für Verwaltung und Recht, kommentierte diese Rechtslage 1933 mit den Worten: "Nach Beseitigung aller bestehenden rechtlichen Schranken wird als selbstverständlich vorausgesetzt, daß die zuständigen staatlichen Einrichtungen - vor allem die Polizei - in unmittelbarer normenfreier Anwendung der Staatsgewalt die erforderlichen Maßnahmen treffen."^ Der Aufbau der nationalsozialistischen politischen Polizei begann zeitgleich in Preußen (Berlin) und Bayern (München).^ Die frühe Organisationsentwicklung der Geheimen Staatspolizei in Berlin war eng mit Rudolf Diels verbunden, der bereits unter dem sozialdemokratischen Preußischen Innenminister Severing als Ministerialbeamter mit der Leitung eines Referates der Politischen Polizei beauftragt war. In dieser Funktion hatte er bereits vor dem 30. Januar 1933 verbotswidrig Informationen (z.B. über Angehörige der KPD) an die Nationalsozialisten, besonders an Hermann Göring, weitergegeben. Seit 1932 war Diels - entgegen beamtenrechtlicher Bestimmungen - förderndes Mitglied der SAJ Am 24. März 1933 wurde Diels zum (ersten) Chef der Geheimen Staatspolizei ernannt. Der »(NS-)Reichskommissar für polizeiliche Angelegenheiten« in Bayern, Ritter von Epp, ernannte den Reichsführer SS, Heinrich Himmler, am 09.03.1933 zum stellvertretenden Polizeipräsidenten von München. Reinhard Heydrich wurde Referatsleiter der Abt. VI. Der Abteilung VI war die politische Abteilung der Kriminalpolizei zugeordnet. Wenig später wurde Heinrich Himmler zum »Politischen Polizeikommandeur Bayerns« ernannt. Im Herbst/Winter 1933/34 wurde Himmler sukzessive Chef (die Amtsbezeichnung war jeweils »Inspekteur«) aller Politischen Polizeien der Länder. Offiziell gegründet wurde die Geheime Staatspolizei am 26. April 1933 auf der Grundlage des »Gesetzes über die Einrichtung eines Geheimen Staatspolizeiamtes«8 (Gestapa) und eines Runderlasses zur die »Neuorganisation der Politischen Polizei«.^ Die bedeutsamsten Veränderungen hinsichtlich der Aufgabenstellung des neuen Amtes sind in dem Runderlaß (RdErl. d. MdL v. 26.4.1933 - II 1000/53) und in den Ausführungsbestimmungen zu finden. Die wesentlichen Änderungen sollen an dieser Stelle wiedergegeben werden:

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Entwicklungsdynamik der geheimpolizeilichen Arbeits- und Lebenswelt

1. Das Preußische Landeskriminalamt und das Berliner Polizeipräsidium verfügen nicht mehr über eine eigene Abteilung von »Politischer Polizei« 2. Das Geheime Staatspolizeiamt ist die allgemeine zentrale Nachrichtensammelstelle für das gesamte Staatsgebiet. 3. In den Regierungsbezirken Königsberg, Gumbinnen, Marienwerder, Alienstein, Stettin, Röslin, Schneidemühl, Oppeln, Breslau, Liegnitz, Potsdam, Frankfurt an der Oder, Schleswig, Magdeburg, Merseburg, Erfurt, Hannover, Hildesheim, Lüneburg, Stade, Osnabrück, Aurich, Münster, Rendsburg, Minden, Kassel, Wiesbaden, Düsseldorf, Köln, Aachen, Koblenz, Trier und Sigmaringen) wird je eine Staatspolizeistelle errichtet 4. Sämtliche Kreispolizeibehörden haben den Staatspolizeistellen über "alle wichtigen Vorgänge und Beobachtungen politischer Art unmittelbar zu berichten." Die Staatspolizeistellen wiederum haben direkt dem Geheimen Staatspolizeiamt in Berlin zu berichten. 5. Inhalt der Berichte sind: "Sämtliche Beobachtungen und Feststellungen politischer Art, die nicht rein örtlicher Natur sind, vielmehr - wenn auch nur in Verbindung mit Beobachtungen und Feststellungen in anderen Bezirken - für das gesamte Staatsgebiet von Bedeutung sein können." 6. Das Geheime Staatspolizeiamt hat "zur besseren Fühlungnahme mit den Staatspolizeistellen und zu ihrer Unterrichtung über... besonders erwünschte Nachrichten" Nachrichtenkonferenzen abzuhalten. 7. Das Geheime Staatspolizeiamt bildet seinen Nachwuchs selbst in besonderen Aus- und Fortbildungslehrgängen aus. 8. Anstelle des früheren Landeskriminalamtes in Berlin wird das Geheime Staatspolizeiamt ermächtigt, für den Bereich Berlin Druckschriften zu beschlagnahmen, einzuziehen oder ganz zu verbieten. 9. Alle Polizeibehörden können durch das Geheime Staatspolizeiamt zur "Durchführung von polizeilichen Maßnahmen ersucht werden" bzw. haben entsprechende W e i s u n g e n ^ z u befolgen. Aus dem Geschäftsverteilungsplan vom 19. Juni 1933 läßt sich neben der organisatorischen Gliederung des Geheimen Staatspolizeiamtes auch die Schwerpunktsetzung der Tätigkeiten entnehmen. 11 Danach war das Geheime Staatspolizeiamt (Gestapa) in neun Dezernate gegliedert: in ein pressepolizeiliches Dezernat, ein Schutzhaftdezernat, Dezernate gegen »internationalen Bolschewismus«, SPD, Zentrum und DNVP (Deutschna-

Die Organisationsstrukturen der Geheimen Staatspolizei

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tionale Volkspartei) und Dezernate mit Zuständigkeiten für Sprengstoffe, Attentate, Ausländer und Juden. Formal unterlag das Gestapa der Fachaufsicht durch das Preußische Innenministerium. Die dortige Abteilung hatte aber auf die Aufgabenüberwachung bzw. Personalauswahl des Gestapa faktisch kaum Einflußmöglichkeiten und sie ist Ende November 1933 aufgelöst worden. War bislang die Politische Polizei organisatorisch eine unter mehreren polizeilichen Dienststellen (mit spezifischem Auftrag und eigenen Beamten), verfügte das Gesetz, daß Kreis- und Ortspolizeibehörden Hilfsorgane der Geheimen Staatspolizei sein sollten. Mit dem » 1. Gestapo-Gesetz« wurde eine Polizeibehörde gegründet, die die bisher dezentralen polizeilichen Kompetenzen einerseits bündelte, zugleich aber die polizeilichen Zuständigkeiten auch rigoros erweiterte. Das »2. Gestapo-Gesetz« 12, das »Gesetz über die Geheime Staatspolizei« vom 30. November 1933 sowie der darauf basierende Geschäftsverteilungsplan vom 22. Januar 1934, kennzeichnen den Rechtsrahmen der nächsten Organisationsstufe. Danach gliederte sich das Geheime Staatspolizeiamt in drei Abteilungen (I. Abt.: Verwaltung und Organisation; II. Abt.: Juristische Abteilung; III. Bewegungsabteilung). Der Runderlaß des Preußischen Innenministeriums vom 14. März 1934 sah vor, daß die Staatspolizeistellen aus ihrem bisherigen organisatorischen Zusammenhang (besonders aus ihrem bisherigen »Unterstellungsverhältnis« zu den Bezirksregierungen) herausgelöst werden. Damit war der Weg zur eigenständigen Behörde mit eigenen Weisungsrechten möglich geworden. Somit hatte Göring die Geheime Staatspolizei als besonderen Verwaltungszweig aus der »allgemeinen Verwaltung« herausgelöst. 13 Diels wurde im November 1933 als Leiter des Geheimen Staatspolizeiamtes (kurzfristig) durch den Altonaer Polizeipräsidenten Paul Hinkler ersetzt. In diesen Zeitraum fallt die "angebliche Verfolgung und Flucht Diels in die Tschechoslowakei."^ Göring berief Diels am 29. November jedoch erneut zum Leiter des Gestapa und ernannte ihn zugleich zum Vizepolizeipräsidenten von B e r l i n . 15 Fünf Monate späte- (am 21. April 1934) wurde Diels in den einstweiligen Ruhestand versetzt und Heinrich Himmler wurde am selben Tag zum »Inspekteur der Geheimen Staatspolizei« ernannt. Die Personalstärke des Geheimen Staatspolizeiamtes unter der Leitung Diels ist nicht mehr vollständig zu ermitteln; dies gilt besonders für die im Außendienst tätigen B e a m t e n . 16 Diels selbst hat ca. 250 Bedienstete angegeben, davon sollen 90 im »Außendienst« tätig gewesen sein. Reinhard Heydrich - der Chef des NSDAP-Sicherheitsdienstes (SD) 18 - wurde unter Himmler zum Leiter des »Amtes Kriminalpolizei« sowie zum Leiter des Amtes »Politische Polizei im Geheimen Staatspolizeiamt« berufen. Das Amt Verwaltung und Recht leitete zu dieser Zeit der schon erwähnte Jurist und frühere hessische Landespolizeipräsident, Dr. Werner Best. Unter der Leitung von Heinrich Himmler erreichte das Geheime Staatspolizeiamt eine Personalstärke von ca. 2.600 Beamten und Angestellt e n . ^ Aufgrund seines Amtes als »Inspekteur der Geheimen Staatspolizei« und dem damit verbundenen Rang in der Hierarchie, konnte Himmler verfügen, daß bayerische Polizeibeamte ins Berliner Amt versetzt werden konnten. Heinrich Müller, ein Bekannter Himmlers und späterer Chef der Geheimen Staatspolizei^ (Abteilung IV des Gestapa) wurde von der Gestapo München nach Berlin versetzt.

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Entwicklungsdynamik der geheimpolizeilichen Arbeits- und Lebenswelt

Himmler und Heydrich betrieben weiter den bürokratischen Ausbau und die Kompetenzausweitung ihrer Behörde. Bei Etatverhandlungen zum Haushalt der (preußischen) Geheimen Staatspolizei konnten sie 1935 durchsetzen, daß der Geheimen Staatspolizei (die unterstellten Wachmannschaften der bereits gegründeten Konzentrationslager ausgenommen21) insgesamt 3.818 Planstellen für Beamte, Angestellte und für "Hilfskräfte" zugewiesen wurden. Das »3. Gestapo-Gesetz« wurde am 10. Februar 1936 erlassen und stellte scheinbar den ursprünglichen Zustand (Fachaufsicht und Unterstellung der Gestapo-Stellen unter die Ober- und Regierungspräsidenten/ Bezirksregierungen) wieder her. Faktisch konnten jedoch die Regierungspräsidenten der Geheimen Staatspolizei nur Anweisungen geben, wenn diese mit den Anweisungen des Geheimen Staatspolizeiamts in Berlin übereinstimmten; bei Unstimmigkeiten lag die letzte Entscheidungsbefugnis bei der Zentrale in Berlin.22 Folgend wird die weitere Entwicklung in Verbindung mit dem Reichssicherheitshauptamt in Berlin skizziert Himmlers verschiedene Ämter, das des »Reichsführers SS« als Parteiamt, des (staatlichen) »Politischen Polizeikommandeurs der Länder« und des »Inspekteurs der Geheimen Staatspolizei« wurden am 17. Juni 1936 mit dem neuen staatlichen Amt des »Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei« in Form eines Stabsbüros verwaltungsmäßig zusammengefaßt. Himmler war jetzt organisatorisch dem Reichsinnenminister Frick persönlich und unmittelbar unterstellt. Allerdings lehnte er ausdrücklich die von Staatssekretär Pfundtner betriebene Berufung in das Beamtenverhältnis ab. So war Himmler in diesem Amt nicht dem Beamtenrecht und möglichen disziplinarrechtlichen Sanktionen unterworfen. Die Polizeiverwaltung gliederte sich ab 1936 in zwei Hauptämter: In die »Ordnungspolizei« (Schutzpolizei, Gendamerie und Gemeindepolizei) unter der Führung von Polizeigeneral Kurt Daluege und in die »Sicherheitspolizei« (Politische Polizei und Kriminalpolizei) unter der Führung von Reinhard Heydrich. Die Vielzahl der Funktionen übertrug sich in die vielfältigen Zuständigkeiten der Behörde des »Chefs der Deutschen Polizei« und hatte Konsequenzen für die Organisationsstrukturen. So strukturierte sich die Sicherheitspolizei nicht unbedingt übersichtlich. Es überschnitten sich Kompetenzen und Verantwortlichkeiten waren unklar. Buchheim merkt dazu an: "Auf Seiten der Sicherheitspolizei war es dabei in der Praxis so, daß der Zweig Politische Polizei des Hauptamtes Sicherheitspolizei vom Gestapa gebildet wurde und der Zweig Kriminalpolizei vom Preußischen Landeskriminalamt (ab 16.7.37 Reichskriminalamt), und zwar firmierte auf seiten der Sicherheitspolizei die gleiche Behörde als »Hauptamt Sicherheitspolizei«, insofern sie Ministerialinstanz, und als »Gestapa«, insofern sie als Verwaltungsinstanz in Aktion trat." 23 Die Geheime Staatspolizei trat zwischen 1936 und 1939 unter den bürokratischen Bezeichnungen »Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei« im Schriftverkehr als oberste Reichsbehörde, als »Der Chef der Sicherheitspolizei« oder »Hauptamt Sicherheitspolizei"« als Ministerialinstanz für Angelegenheiten der Sicherheitspolizei in Erscheinung und auch als »Geheimes Staatspolizeiamt«, z.B. bei der Anordnung oder Bestätigung der Schutzhaft, auf.

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Die Organisationsstmkturen der Geheimen Staatspolizei

Seit dem 20.9.36 hatte das Geheime Staatspolizeiamt die Aufgaben des »Politischen Polizeikommandeurs der Länder« wahrzunehmen; diesem Erlaß folgten weitere finanzund beamtenrechtliche Regelungen. Die Verfügungs- und Einflußmöglichkeiten der Länder über die polizeilichen Organisationen waren damit nicht mehr gegeben2-* und der organisatorische Zentralisierungsprozeß der Polizei fand damit seinen Abschluß. Am 1. Oktober 1939 wurde dann durch Erlaß das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) gegründet, die Leitungsaufgabe wurde Reinhard Heydrich übertragen. In diesem Amt "waren sowohl staatliche Beamte als auch von der Partei oder SS angestellte Personen tätig. "25 Die Gründung des RSHA bündelte nochmals die verschiedenen polizeilichen Kompetenzen. Das Reichssicherheitshauptamt war die inländische und später auch für europaweite Verfolgungen verantwortliche Planungs- und Koordinationszentrale der Geheimen Staatspolizei,es gliederte sich zunächst wie folgt: Ämter

Zuständigkeiten

Leitung

Amtl Amt Π Amt ΠΙ

Organisation, Verwaltung, Recht Gegnererforschung Deutsche Lebensgebiete (SD-Inland) Gegnerbekämpfung (Gestapo) Kriminalpolizei SD-Ausland

Dr. Werner Best 2 7 Prof. Dr. Alfred Six 2 8 Otto Ohlendorf 2 9

Amt IV AmtV Amt VI

Heinz Müller Arthur Nebe 3 0 Jost31

Trotz der Gründung des RSHA und der Unterabteilung für »Gegnerbekämpfung« wurde die Bezeichnung "Geheimes Staatspolizeiamt" aufrechterhalten.32 Dieses eigentliche Gestapo-Amt IV, mit dem Hauptsitz in der Prinz-Albrecht-Str. 8 in Berlin, hatte folgende Gliederung:33 Referat

Funktionen/Aufgaben

Leitung

Ref. IV A

Politische Gegner

Ref. IV A 1 Ref. IV A 2 Ref. IV Β Ref. IV Β 1 Ref. IV Β 2 Ref. IV Β 4 Ref. IV C 2 Ref. IV D Ref. IV E

Kommunismus Sabotage Weltanschaulich-rassische Gegner Katholizismus Protestantismus/Sekten Judenreferat Schutzhaft (zuständig für besetzte Gebiete) Abwehr

Obersturmbannführer Pannzinger Sturmbannführer Vogt Hauptsturmführer Kopkow Haiti Sturmbannführer Roth Sturmbannführer Hahnenbruch Eichmann Sturmbannführer Dr. Berndorff NN NN

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Entwicklungsdynamik der geheimpolizeilichen Arbeits- und Lebaiswelt

1939 wurden für die Geheime Staatspolizei »Grundsätze der inneren Staatssicherheit während des Krieges« aufgestellt.34 sie sollten den einheitlichen Einsatz aller Kräfte des Volkes gegen jede Störung und Zersetzung sicherstellen, um so die "Verwirklichung der Ziele des Führers" zu garantieren. Danach waren Zersetzungsversuche "rücksichtslos zu unterdrücken" und die Kommunikation in der Öffentlichkeit - besonders in Gastwirtschaften und öffentlichen Verkehrsmitteln -, war besonders zu überwachen. In diesem Zusammenhang sollten Erkundigungen über festgenommene Personen mittels Unterlagen der Staatspolizeileitstelle, bei dem SD-Unterabschnitt und durch Befragen der örtlichen Partei dienststeilen eingeholt werden. Darüber hinaus sollten »Gewährspersonen« entsprechend vernommen werden. Nach dem Attentat auf Heydrich in der Tschechoslowakei wurde der österreichische SS-Gruppenführer, Ernst Kaltenbrunner, am 30. Januar 1943 zum Leiter des RSHA ernannt. In allen besetzten Gebieten wurden polizeiliche »Einsatzgruppen« unter der Führung von »Höheren SS- und Polizeiführern« (HSSPF) eingesetzt, die im »Rücken der Wehrmacht« die Zivilbevölkerung terrorisierten und systematisch töteten.35 i m Verlauf des Krieges verlagerten sich die Schwerpunkte der Geheimen Staatspolizei von den Sachreferaten zu den »regionalen Referaten«; diese waren für die besetzten Gebiete zuständig. In diesem Zusammenhang wurde auch die Gruppe - IV A - (Gestapoabteilung im RSHA) letztmalig neu organisiert: Amt IVA 1 IV A 2 IV A 3 IV A 4 IV A 5 IV A 6

Funktionenf Aufgabenbereich Links- und Rechtsopposition Sabotageabwehr Spionageabwehr Konfessionen/Juden Sonderaufträge Kartei, Schutzhaft, Schutzdienst36

1943 verfügte Himmler die Verlagerung des Gruppenreferats IV A 6 von Berlin nach Theresienstadt (Ort des gleichnamigen Konzentrationslagers). Ab 1944 fungierte dieses auch für Schutzhaft zuständige - Gruppenreferat unter einem Prager Briefkopf.37 Am 3. Februar 1945 wurde das Gebäude in der Prinz-Albrecht-Str. 8 (Berlin) durch einen Bombenangriff schwer getroffen und große Teile des bereits ausgelagerten Aktenbestandes sind vernichtet worden. Das Dezernat von Adolf Eichmann (Kurfürstenstr. 116) war vom Bombenangriff verschont geblieben. Eichmann berichtete, daß in diesen letzten Tagen der Geheimen Staatspolizei jeder der in Berlin ansässigen oder aufhältigen Gestapo-Angehörigen hier wunschgemäß Zeugnisse, Erklärungen, Dienstnachweise und Namensänderungen^ ausgestellt bekommen konnte, "mit denen er sich tarnen konnte."39

Administrativer Handlungsrahmen

3.2

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Administrativer Handlungsrahmen

Handlungen von Angehörigen staatlicher Organisationen können ihren Rahmen durch (Rechts-) Vorgaben, mittels Kontrollkompetenzen durch andere Organisationen und/oder durch ihre zugewiesenen finanziellen Mittel (Haushalte) erfahren. Dieser Untersuchungsabschnitt geht der Frage nach, unter welchen administrativen Rahmenbedingungen die Geheime Staatspolizei agieren konnte. Die Bedeutung der deutschen Jurisprudenz - der Begriff wird hier summarisch für die Rechtswissenschaft einschließlich der Bereiche von Rechtsetzung, -sprechung und -kommentierung verstanden - im Wirkungsverhältnis zur Praxis der Geheimen Staatspolizei wird im Rahmen dieser Untersuchung unter verschiedenen Aspekten erläutert. Während in diesem Untersuchungsabschnitt die Grundlagen des Rechts, somit der Rechtsrahmen und das nationalsozialistische geheimpolizeiliche Recht skizziert wird, werden die Auswirkungen einer solchen Rechtsentwicklung, die sich aus der Perspektive der Verfolgten als sukzessiver Rechtsentzug darstellt, weiter unten untersucht. Die Zuarbeit der institutionellen Justiz (z.B. ministerielle Justiz, Gerichte, Rechtswissenschaft und -sprechung) wird in ebenfalls in einem besonderen Abschnitt im 4. Kapitel - dargestellt. Für diesen Untersuchungsabschnitt wird die These aufgestellt, daß Elemente des geheimpolizeilichen Handlungsrahmens nicht eindeutig formuliert waren und grundsätzlich keine kontinuierliche (Justiz-)Kontrolle, im Sinne einer effektiven Handlungsbegrenzung, erfolgte. So war das Handeln der Angehörigen der Geheimen Staatspolizei im Rechtssinne nicht vorhersagbar und damit - insbesondere für die Verfolgten - nur bedingt oder gar nicht berechenbar. In diesem Sinne wird versucht, den Rechtsrahmen, die Kontrollkompetenz der Verwaltungsgerichte bezüglich Verfügungen der Geheimen Staatspolizei und die spezifische Art der Finanzierung zu untersuchen. Der administrative Handlungsrahmen ist deshalb von entscheidender Bedeutung, weil damit eine Loslösung von handlungsbegrenzenden Rechtsbestimmungen und Kontrollmöglichkeiten verbunden ist Der Jurist Ernst Fraenkel hat in seinen grundlegenden Untersuchungen zum »Normen- und Maßnahmestaat« der nationalsozialistischen Herrschaftsordnung auch ausgeführt, "daß es eine ständige Spannung gibt zwischen den traditionellen Instanzen, die den Normenstaat repräsentieren und den Organen der Diktatur, den Instrumenten des Maßnahmenstaats. Mit Beginn des Jahres 1936 war der Widerstand der traditionellen Institutionen, denen die Vollziehung der Gesetze obliegt, geschwächt. "40 Daraus ist zu folgern, daß zumindest bis zum Jahr 1936 rechtliche Normen - besonders in Widerspruchs- und Beschwerdefällen - zur Legitimierung einzelner, auch geheimpolizeilicher Verfahren, mobilisiert worden sind. Dabei war das Prinzip des »absoluten Führertunis« als Basis und Struktur der nationalsozialistischen Ideologie, auch für das Recht bedeutsam. 41 Dieses Prinzip bedeutete, "daß das gesamte Volk, von den zentralen Einrichtungen des Staates, bis zur kleinsten Gruppe und bis zur Familie, in einem »Führer« repräsentiert war, der unumschränkte Gewalt in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht hatte." 4 2 Den gesetzlichen Niederschlag fand dieses Prinzip im »Ermächtigungsgesetz«4^, welches Hitler - als Führer und Reichskanzler - unbeschränkten Einfluß auf Regierung

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Entwicklungsdynamik der geheimpolizeilichen Arbeits- und Lebenswelt

und Administration einräumte. Im Sinne dieses Prinzips wurden Gesetze, Länder- und Gemeindeverfassungen geändert bzw. durch Richterrecht entsprechend ausgelegt. Das Führerprinzip beeinflußte in der Folge auch Verfahren und die Personalpolitik der Geheimen Staatspolizei: "The nature and style of Hitlers' rule encouraged bureaucratic infighting and personality politics. By proclaiming himself Führer and linking his own person to the abstract "destiny" of the German volk, Hitler not only removed all institutional limitations on his authority, but also personalized the very source and justification for all legitimate authority in the Third Reich. The absence of clearly defined institutional channels of command also personalized the transmission of the "legitimate" authority from the tops to the lower echelons, for political power was no longer linked to institutions or agencies of the German state or German society, but rather to personal connections with the Führer and his entourage or ideological affinity with their aims. A result of the noninstitutional, personalized command relationships, there developed in Nazi Germany no carefully thought-out apparartus, ordered to the utmost detail, but rather a confusion of privileges and political contacts, competences and plenipotentiaries, which finally became a fight of all against all. Such conditions produced two consequences: a considerable degree of administrative chaos and spectacular opportunities for career building."^ Gegen die Einführung des Führerprinzips gab es zwar "manche Vorbehalte", jedoch wurde es "mit grundsätzlicher Zustimmung, vielfach aber auch mit echter Begeisterung von der überwiegenden Mehrheit des Volkes und den maßgeblichen Führungsgruppen in Heer, Wirtschaft, Justiz und Beamtenschaft a u f g e n o m m e n . " ^ Nicht mehr die juristische Rationalität war entscheidend, sondern "Gefühl und G l a u b e . " 4 6 Die Rechtswissenschaftlerin Majer merkt an, daß auf eine eigene nationalsozialistische Verfassungslehre wegen "Substanzlosigkeit der Ideologie" verzichtet werden mußte. Jedoch wurde über den "Weg der Terminologie, der Tarnsprache,... die äußere, formale Hülle"47 des Rechts beibehalten. Den Rechtsbegriffen wurde damit ein ganz neuer Inhalt gegeben. Dieser Weg der »unbegrenzten Auslegung« ermöglichte, "ohne Rechtsänderungen ein völlig neues politisches System zu installieren, was zugleich den Vorteil hat, daß diese Änderung des Systems verschleiert wird und somit das Rechtspublikum über die wahren Verhältnisse täuscht oder im unklaren läßt."48 Das Recht verlor seine Funktion zur "Gewährleistung von Rechtssicherheit und Gerechtigkeit "und wurde nur noch "instrumental" verstanden, nämlich als "Hilfsfunktion für ideologische »Grundwerte«. Diese Grundwerte wurden durch die Führungsmitglieder der NSDAP, den Mitgliedern ihrer Gliederungen (SA, SS usw.) sowie den Hitler treu ergebenen »Alten Kämpfern« verkörpert. Die zuletzt Genannten galten als die politischen Entscheidungsträger. Auch für die Polizei hatte dieses Konsequenzen: "Der Polizeiapparat wurde, beginnend mit der Geheimen Staatspolizei, aus der inneren Verwaltung mehr und mehr herausgelöst und organisatorisch und an Sachkompetenzen verselbständigt. »Höhepunkt« war 1936 die Verschmelzung mit der SS zu einer einheitlichen Behörde »Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei«, an deren Spitze der Reichsführer SS, Heinrich Himmler, stand. Der Apparat der SS (Totenkopfverbände als Wachmannschaften der

Administrativer Handlungsrahmen

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Konzentrationslager, später die Waffen-SS als militärischer Verband) wurde nach der Entmachtung der SA seit 1934 ununterbrochen verstärkt und ausgebaut, sodaß er zum Staat im Staat, ja zum eigentlichen Machtträger wurde. Seine Funktion war die innenpolitische Kontrolle unter Aufbau einer Bürgerkriegsarmee im I n n e r n . " 5 0 In der Weimarer Reichsverfassung war kein Verfassungsgericht vorgesehen, sondern nur eine Spruchkammer in der Form eines Staatsgerichtshofes. Dieses Gericht war für die Streitigkeiten zwischen dem Reich und den Ländern zuständig. Dieses (nicht auf Individualrechte bezogene) richterliche Überprüfungsrecht staatlicher Normen wurde nach 1933 abgeschafft. Nach Auffassung des Reichsgerichts bestand auch kein Raum und kein Bedürfnis für ein solches Überprüfungsrecht oder auch Kontrollmöglichkeit. Ergebnis einer solchen Argumentation war es, daß eine Gerichtsbarkeit zum Nachteil der Politik undenkbar wurde, Handlungen der Regierung (in der Form von Gesetzen und Erlassen) waren "»politische Akte«, die in Sinne dieser Perspektive kraft »Natur der Sache« der richterlichen Überprüfung entzogen seien. "51 Die Lehre von der Nichtprüfbarkeit von Gesetzen wurde nach 1933 auch auf die Verwaltungsakte übertragen. Dennoch konnte das Preußische Oberverwaltungsgericht bis 1935 als ein Gericht wirken, welches für die Überprüfung auch von polizeilichen Verfügungen oder Verwaltungsakten zuständig war. Dieses stellt die Ausgangsbasis für die nähere Überprüfung der Frage da, inwieweit Verfügungen der Geheimen Staatspolizei durch die Verwaltungsgerichtsbarkeit überprüfbar waren. An Beispielen von Gerichtsentscheidungen des Preußischen Oberverwaltungsgerichtes kann damit auch das Verhältnis zwischen der Geheimen Staatspolizei und ihrer verwaltungsgerichtlichen Kontrolle skizziert werden. Das Preußische Oberverwaltungsgericht, oberste Instanz des Verwaltungsrechtsweges im Land Preußen, war für die Überprüfung der Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen bei Verwaltungsakten bzw. polizeilichen Verfügungen zuständig. Faktisch konnte dieses Gericht auch polizeiliche Verfügungen für rechtswidrig erklären. Als rechtswidrig erklärte Verfügungen hatten (im Rechtssinne) keinen Bestand. Kirchberg weist darauf hin, daß nach 1933 eine "Übermächtigung des privaten durch den öffentlichen Bereich, die sich in einer Vielzahl zusätzlicher öffentlich-rechtlicher Normierungen niederschlug "52 stattfand. Besonderes Kennzeichen dieser zusätzlichen Regelungen war es, daß solche Anordnungen mit endgültigen Zusätzen versehen wurden bzw. die Inanspruchnahme des Verwaltungsgerichtsweges ausdrücklich ausschlossen war. Generell war zwischen anfechtbaren und nichtanfechtbaren V e r w a l t u n g s a k t e n 5 3 z u unterscheiden. So erklärte das Preußische Oberverwaltungsgericht in einem Urteil vom 2 5 . 1 0 . 1 9 3 4 5 4 eine - auf § 1 der Reichstagsbrandverordnung gestützte - Verfügung der Geheimen Staatspolizei zum Verbot einer angeblich kommunistisch infiltrierten Wochenzeitung für grundsätzlich anfechtbar. Gleichzeitig erklärten aber die Richter: " ...daß es die den Behörden "aus dem Bedürfnis der inneren und äußeren Sicherung des Bestandes der neu erwachsenen nationalsozialistischen Staatsform" durch § 1 der VO vom 2 8 . 0 2 . 1 9 3 3 verliehenen außerordentlichen Vollmachten rechtfertigten, die Grenzen des polizeilichen Ermessens auf diesem Gebiete soweit als irgend möglich zu erstrecken: "So wird ein Einschreiten aufgrund der Verordnung u.a. schon durch die bloß mittelbare Gefahr gerechtfertigt, die für den

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Staat dadurch entsteht, daß in der Öffentlichkeit Meinungen verbreitet werden, die sich als Ausdruck der Unzufriedenheit mit der neuen Ordnung der Dinge kennzeichnen und damit dem Wiederauftauchen kommunistischer Bestrebungen den Boden zu bereiten geeignet sind." 55 Hier wird die Paradoxie einer solchen Entscheidung und das »Dilemma« der Richter deutlich: Einerseits wird der Anspruch des Klägers auf verwaltungsrechtlichen Schutz erklärt (die grundsätzliche Anfechtbarkeit ist bestätigt worden) und andererseits wird dem Handeln der Behörden (hier der Geheimen Staatspolizei) ein extensiver Ermessensspielraum eingeräumt.56 Nach der Novellierung der gesetzlichen Bestimmungen für die Geheime Staatspolizei (»2. Gestapo-Gesetz« vom 30.11.1933) wurde seitens des Preußischen Oberverwaltungsgerichtes die Anfechtbarkeit von Verfügungen des Geheimen Staatspolizeiamtes - später auch der Staatspolizeistellen - durch ein Urteil vom 2.5.1935 generell verneint.57 Allgemein-polizeiliche Verfügungen galten jedoch weiterhin als anfechtbar. Der § 7 des »3. Gestapo-Gesetz« schrieb vor, daß Verfügungen in Angelegenheiten der Geheimen Staatspolizei generell als unanfechtbar zu gelten haben und mit einer weiteren Entscheidung vom 19.3.1936 zog das Preußische Oberverwaltungsgericht den Schluß, daß "materielle Verfügungen der ordentlichen Polizeibehörden staatspolizeilichen Inhalts" der verwaltungsrechtlichen Nachprüfung entzogen seien."58 Dieser Beschluß war Richtlinie für alle weiteren Entscheidungen dieses Gerichts. Der verwaltungsgerichtliche Schutz für die Individualrechte wurde damit »auf Null reduziert« .59 Die Richter des Verwaltungsgerichts hatten akzeptiert, daß das Verwaltungsrecht »politisiert« wurde, genau in dem Sinne, wie der nationalsozialistische Jurist und Kommentator Carl Schmitt (schon) 1933 feststellte: "Es ist eine grundlegende Erkenntnis der politisch gegenwärtigen deutschen Generation, daß gerade die Entscheidung darüber, ob eine Angelegenheit oder ein Sachgebiet unpolitisch ist, in spezifischer Weise eine politische Entscheidung darstellt."^ Den Anpassungsprozeß der Verwaltungsgerichtsbarkeit bzw. die Akzeptanz eines politisch-ideologisch ausgerichteten Verwaltungshandelns charakterisiert Kirchberg zusammenfassend wie folgt: "Man ließ deshalb [um Kontinuität beim Aufbau des "Neuen Reiches" zu demonstrieren, Anm. H.J.H.] die Verwaltungsrechtspflege - bis Ende des Krieges - zwar nominell fortbestehen, hungerte sie aber vornehmlich durch Entzug der Entscheidungskompetenzen und durch Ausdünnung des Personalbestandes richtiggehend aus. Begleitet wurden diese Maßnahmen bezeichnenderweise von wiederholten amtlichen Beteuerungen, man habe keinesfalls vor, die Institution der Verwaltungsgerichtsbarkeit in toto abzuschaffen, wodurch im Schrifttum und bei den betroffenen Richtern permanent Rechtfertigungs- und Anpassungszwänge erzeugt wurden, die sich in einer nahezu unübersehbaren Literatur zum Für und Wider der Verwaltungsgerichtsbarkeit im Dritten Reich niederschlugen." 61 Für die Untersuchung der Entwicklung der geheimpolizeilichen Arbeits- und Lebenswelt ist es wichtig, diese Belege im Sinne einer Machtveränderung zu verstehen. Hier hat sich die Machtbalance zwischen der Geheimen Staatspolizei und der Justiz (am Beispiel der Rechtsprechung des Preußischen Oberverwaltungsgerichts) zu Gunsten der Geheimen Staatspolizei verschoben. Die Gestapo konnte nicht mehr von der Justiz überprüft und kontrolliert werden.

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Zur Darstellung des Rechtsrahmens der Geheimen Staatspolizei gehört auch die Beschreibung ihrer Aufgaben und Funktionen. Dies erfolgt anhand einer ausgewählten Veröffentlichung eines nationalsozialistischen Juristen. Diese Schrift erscheint im besonderen Maße geeignet, weil sie nach vierjähriger geheimpolizeilicher Praxis veröffentlicht wurde. Es ist also nicht nur ein theoretischer Entwurf, der im wesentlichen auf der NSIdeologie basiert, sondern eine Arbeit, die die Existenz und Gestapo-Praxis aus nationalsozialistischer Realperspektive reflektiert. Der Jurist Alfred Schweder legte 1937 eine rechtswissenschaftliche Abhandlung über die Politische P o l i z e i ^ vor, in welcher er den Wandel des Polizeiwesens und des Polizeibegriffs vom Metternichschen System bis zum nationalsozialistischen Staat beschreibt. Ausgangspunkt seiner Definition eines nationalsozialistischen Polizeibegriffs ist die politische und weltanschauliche Situation im NS-Staate. Das grundlegend charakteristische des neuen Staatswesens ist nach Schweder, die Gestaltung desselben durch die NSDAP und durch "die von ihr gestellten Führer." Er sieht daher die allgemeine Aufgabe der Polizei und besonders die der Politischen Polizei, in der "Ausmerzung aller Trennungsmomente im Volke." In dem »NS-Staat« schaffen die NS-Verbände sowie alle anderen Organisationen ein "System der Verantwortung nach oben und der Autorität nach unten." Schweders Bewertung der politischen und weltanschaulichen Situation mündet in der Feststellung: "Denn in einem so politischen Volk wie dem deutschen, wird alles politisch." Schweder fährt fort, daß in einem solchen Volk "keine legale Opposition..., die sich von der Mitarbeit ausschließen dürfte", existieren kann. Entsprechend der nationalsozialistischen Ideologie, haben alle Volksgenossen Arbeit für das »Ganze« zu verrichten; "so wird die Arbeit des einzelnen Gottesdienst, so kann sie aber auch ehrloses Verbrechen werden." Hieraus folgert er: "Daher muß der Grundgedanke jeder völkischen Abwehr gegen staatsfeindliche Angriffe sein, sie als Verstöße gegen das Heiligste unbedingt zu brechen, mit jedem Mittel, das Erfolg verspricht. Selbstbeschränkungen in den Mitteln sind nur gerechtfertigt, wenn auch geringerer Aufwand zum Ziel führt, in der Erkenntnis, daß man nie die schärfsten Waffen im täglichen Gebrauch abstumpfen soll." So können "unantastbare Persönlichkeitsrechte aber oder [sie!] "private Sphären"... nicht anerkannt werden, sobald sie das Wirken des Volkes behindern." Schweder legt auch den Anlaß bzw. den Zeitpunkt für das polizeiliche Einschreiten fest: "Die »Gefährdung« der Sicherheit und Ordnung (im Gegensatz zu bloßer Belästigung), die das Einschreiten der Polizei rechtfertigt, wird an einem so früh liegenden Punkt angenommen, daß tatsächlich eine wesentliche Beeinträchtigung immer abgewehrt werden kann." Zu den Begriffen »Sicherheit und Ordnung« merkt der Autor an, daß sie keine Werte mehr seien, "die als Endwerte unbedingt schutzwürdig sind." Die Politische Polizei im nationalsozialistischen Staat hat danach einen dynamischen Charakter, sie hat aktiv an der Verwirklichung der ideologischen Ziele mitzuwirken, "sie muß nämlich jetzt, wenn sie ihren Zweck erfüllen will, nicht nur den Schutz des gegenwärtigen Standes der Volksgemeinschaft übernehmen, sondern auch die ungestörte Fortentwicklung auf den erwünschten Idealzustand hin sichern." Ausführlich werden die Verbindungen zwischen der SS und der Politischen Polizei

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Entwicklungsdynamik der geheimpolizeilichen Arbeits- und Lebenswelt

beschrieben. In diesem Verhältnis hat die SS "bei der Neuschaffung der nationalsozialistischen politischen Polizei ihr sowohl eine neue geistige Haltung wie einen neuen organisatorischen Aufbau gegeben. Dabei kann die Bedeutung gerade der Durchdringung der politischen Polizei mit der geistigen Haltung der SS in der praktischen Auswirkung gar nicht überschätzt werden. Denn die geistige Orientierung bestimmt die Art des Anpackens der einzelnen Aufgaben, und davon wiederum hängt die gegenwärtige und zukünftige Gesamtaufgabenstellung seitens des Staates an die politische Polizei ab." Beispiele oder auch Tatbestände für die "weitgespannte Schutzaufgabe der nationalsozialistischen politischen Polizei" nennt Schweder ebenfalls: "So geht die politische Polizei also gegen böswillige Nörgler vor, die, ohne selbst mithelfen zu wollen, nur die Arbeit derer behindern, die im Namen des Volksganzen schaffen. Sie faßt den "Hamsterer", der durch das Sorgen nur für sich allein die Front der anderen Volksgenossen gefährdet, die gemeinsamen Schwierigkeiten überwinden. Sie greift den Preistreiber, der auf Kosten der Gemeinschaft sich bereichert. Sie kämpft gegen Regungen von Standesdünkel oder Klassenhaß. Sie verhindert oder ahndet Störungen der großen Volksaktionen ... durch Eigensucht, die die gemeinsame Arbeit des Volkes bedroht oder auch nur die Bereitschaft der übrigen Volksgenossen zur Mitarbeit beeinträchtigt. Sie greift ein, wenn Betriebsführer ihre Pflichten gegenüber ihrer Gefolgschaft vernachlässigen und dadurch den Frieden im Volke stören, und umgekehrt, wenn ungerechtfertigte Maßnahmen seitens kurzsichtiger Gefolgschaftsmitglieder vorkommen. ... Sie greift also ein gegen alles "Staatsgefährliche", nicht nur gegen den bewußten "Staatsfeind" im engeren Sinne." In seiner Zusammenfassung definiert Schweder die wesentlichen Merkmale der nationalsozialistischen politischen Polizei wie folgt: "Die politische Polizei des nationalsozialistischen Staates ist das zentrale, von der SS ausgebildete staatliche Kampfinstrument, das den Schutz von Volk, Partei und Staat und deren politischer und weltanschaulicher Entwicklung dadurch gewährleistet, daß es auf politischem und weltanschaulichem Gebiet die Widerstände staatsgefährlicher Kräfte bricht, die sich in ihrem Entwicklungsgang entgegenstellen."^ Zu diesen Darstellungen ist anzumerken, daß die Verwendung von Begriffen bzw. bestimmte Aussagen wie »Ausmerzung«, die Anwendung "jeder Mittel" zur Gegnerbekämpfung, die Nichtakzeptanz von "privaten Sphären" usw. auf die "Erforderlichkeit" zur exzessiven Anwendung von physischer Gewalt durch die politische Polizei hindeutet und zugleich das Maß von Menschenmiß- und -Verachtung im Falle der Abweichung von den Konformitätsvorstellungen belegt.^ Zuletzt werden nunmehr die spezifischen Finanzierungsverfahren der Geheimen Staatspolizei untersucht. Im Reichshaushaltsplan gab es einen Titel mit der Bezeichnung »Max Heiliger«, unter dem die Einnahmen aus der Verwertung jüdischen Eigentums verbucht worden sind.65 Zum Finanzierungsverfahren der SS und Geheimen Staatspolizei kann festgehalten werden: "Very little information is available about the financial background of the SS and the Gestapo."66 Diese Bewertung aus dem Jahr 1945 kennzeichnet noch immer den F o r s c h u n g s s t a n d . 6 7 D ¡ Geheime Staatspolizei verfügte im haushaltsrechtlichen Sinne zwar über einen Etat, der z.B. im Jahr 1935 - allein für die e

Administrativer Handlungsrahmen

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geheimpolizeiliche Auslandsspionage - zwanzig Millionen Mark auswies.68 Überwiegend finanzierte sich die Geheime Staatspolizei allerdings aus verschiedenen nicht offiziellen Quellen. Seit Mitte der 30er Jahre war es erklärtes politisch-administratives Ziel, die SS und die Polizei miteinander zu verschmelzen. Die SS war als NSDAP-Polizeitruppe geplant und erhielt als einzige NS-Gliederung das "Recht zur Werbung fördernder Mitglieder".® Auf das Spendenaufkommen des Freundeskreises Himmlers wird unten noch hingewiesen. Die Politikwissenschaftlerin Hannah Arendt kennzeichnet die Finanzierung Geheimer Polizeien: Seit Fouché haben es Geheime Polizeien verstanden, "ihr offizielles, vom Staate bewilligtes und kontrolliertes Budget durch Nebeneinnahmen zu erhöhen".^ Der Sinn dieser Form von relativ autonomer Finanzierung liegt in erster Linie in der Chance, ein unabhängiges, nicht kontrollierbares und aktenmäßig bzw. buchungstechnisch nicht nachvollziehbares geheimpolizeiliches Handeln zu ermöglichen. Zu diesen Formen der Finanzierung gehören u.a. die Annahme von Bestechungsgeldern, Erpressungen und die Bereicherung an beschlagnahmtem Eigentum. Das Recht auf Nebeneinnahmen sicherte Himmler für die Gestapo mit Hilfe eines Abkommens mit dem Landwirtschaftsministerium unter der Leitung von Darre und später mit der Organisation Todt. Vom Landwirtschaftsministerium erhielt die Gestapo jährlich mehrere Millionen Mark. Andere Spender glaubten mittels ihrer Spenden an die SS, sich das Wohlwollen der Geheimen Staatspolizei erkaufen zu können: "A certain number of well-to-do personalities are solicited to pay a regular contribution to the SS. In return they receive a diploma and a pin bearing the two initials of the Black Militia. They are called "Protectors of the SS". This honour costs dear, but ist serves as a "recommendation" to the Gestapo. Industrialists, merchants and officials compete for it, especially if they are not members of the party. Thus they believe themselves to be protected by Himmler. "71 Das jüdische Finanzvermögen galt in offizieller Behördensprachregelung als "volks-, staats- und reichsfeindliches Vermögen", nur das SS- Wirtschaftsverwaltungshauptamt definierte es noch anders bzw. ideologisch näher: Jüdisches Vermögen wurde als "Diebes-, Hehler- und Hamstergut" bezeichnete^ Auch aufgrund dieser Sprachregelungen gab es keine rechtlichen Bedenken, staatlicherseits über dieses Vermögen zu verfügen. Aufgrund einer Verordnung vom 26. April 1936 hatten Juden ihr Vermögen »anzumelden«. De facto war damit die Substanz des jüdischen Vermögens in die Verfügungsgewalt des Reiches übergegangen, wobei die Zuständigkeit in erster Linie bei der Finanzverwaltung lag.73 Allerdings hatte die Finanzverwaltung nicht das Monopol bei der Einziehung, Veräußerung und Verwertung des jüdischen Vermögens. So gründete z.B. die Wiener Geheime Staatspolizei eine eigene Verkaufsorganisation mit dem Namen »Vugesta«.74 Zum Verkauf kamen hier beschlagnahmte Umzugsgüter jüdischer Emigranten. Nur »Volksgenossen« konnten nach Antragstellung diese Gegenstände erwerben. Der Verkaufspreis dieser Gegenstände setzte sich aus dem Schätzwert und den Verkaufsspesen zusamm e n . ^ über diese Veräußerungen verdiente die Geheime Staatspolizei direkt an den von ihnen beschlagnahmten Gegenständen. Aber auch Angehörige der Geheimen Staatspolizei erwarben Luxusgüter (z.B. Teppiche) zum Preis unter Wert. 7 ^

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Entwicklungsdynamik der geheimpolizeilichen Arbeits- und Lebenswelt

In den verschiedenen jüdischen Ghettos richteten die deutschen Polizeisparten Dienststellen ein. Während die »Bewachung« des Ghettos der Schutzpolizei (als Abteilung der Ordnungspolizei) oblag, hatte die Geheime Staatspolizei die Aufgabe, die "politischen Gegner des Nationalsozialismus zu überwachen und zu v e r f o l g e n " . ^ Die Kriminalpolizei war mit der Bekämpfung der "gewöhnlichen Verbrechen" beauftragt, tatsächlich beschäftigte sich die Kripo überwiegend mit der Beschlagnahme von Vermögenswerten. So ist einer im Ghetto Lodz angefertigten kriminalpolizeilichen Niederschrift zu entnehmen, daß "die Ghettoverwaltung nicht das geringste einzuwenden [hat], wenn Kriminalbeamte auf bestimmte [von ihnen selbst, Anm. H.J.H.] beschlagnahmte Gegenstände reflektieren und diese zu abgeschätzten Preisen kaufen wollen."^8 Bei der Darlegung der Finanzierungsverfahren ist auf einen wichtigen Umstand aufmerksam zu machen, der in der (nicht umfangreichen) Literatur kaum berücksichtigt wird. Im Rahmen der Ermittlungen des »Office of Military Government for Germany, United States, Finance Division - Financial Investigation Section« (OMGUS) gegen die Deutsche Bank^9 Und Dresdner Bank^O finden sich Hinweise auf Verflechtungen zwischen den Spitzenfunktionären der Banken und der Geheimen Staatspolizei. Die Ausweitung des Einflußbereiches der Deutschen Bank im Reichsgebiet vollzog sich parallel zu Boykottaktionen und Übernahmeverfahren von Banken, die sich vormals im jüdischen Besitz befanden (z.B. Übernahme des Bankhauses Simon Hirschland, Essen; Bankhaus Mendelssohn & Co, B e r l i n ) . D i e Ausweitung des ausländischen Filialnetzes und die Übernahme verschiedener europäischer Firmen und Banken verlief parallel mit der deutschen Kriegsführung in den europäischen Ländern.82 Der Siemens-Konzern bediente sich der Dienste der Deutschen Bank beim Erwerb der Aronwerke Elektrizitäts A.G. in Berlin. Manfred Aron, Mehrheitsanteilseigner des Unternehmens, ist zunächst von der NSDAP unter Druck gesetzt und später von der Geheimen Staatspolizei mehrmals verhaftet worden.Aufgrund dieser Verhaftungen stimmte Aron dem Verkauf seines Anteils an die Deutsche Bank zu. Die Bank verkaufte dann weiter an den Siemens-Konzern.^4 Im Zusammenhang mit der Finanzierung der Geheimen Staatspolizei ist eine wesentliche, von der SS geführte, Unternehmung zu nennen: das SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt (WVHA)85 unter der Leitung des SS-Standartenführer und Ministerialdirektors im Reichsinnenministerium, Oswald Pohl.86 Dieses Amt hatte im wesentlichen die Funktion, die Ökonomie der Judenvernichtung administrativ zu bearbeiten und dafür zu sorgen, daß die SS weiter finanziell unabhängig wurde. So vermietete das SS-WVHA Lagerhäftlinge zum Arbeitseinsatz und erledigte das administrative Erfassen von Gegenständen des persönlichen Gebrauchs (Kleidung, Brillen, Schuhe etc.), die bei den Lagerhäftlingen sichergestellt wurden. Den Toten wurde das Zahngold entnommen und auch die Kleidung und selbst die Haare wurden durch das SS-WVHA verwertet. Das WVHA lieferte direkt an das RSHA Armband- und Wanduhren, Brieftaschen und Schreibzeug. Diese Gegenstände sind den Häftlingen in den Vernichtungslagern abgenommen w o r d e n . H i l b e r g hat diese umfänglichen ökonomischadministrativen Verwertungsverfahren dargestellt und weist daraufhin, daß von den Beschlagnahmungen besonders Polizeiangehörige und ihre Familien profitierten.88 So

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Personal

wurden Uhren und Füllfederhalter auch beschlagnahmt, um als staatliche Weihnachtsgeschenke an verwundete SS-Männer verwendet zu werden. So finanzierte sich die Geheime Staatspolizei aus verschiedenen Quellen. Die Verschränkung zwischen staatlicher Polizei und der SS ab 1936 macht Unterscheidungen zwischen den jeweiligen Organisationen auf der Grundlage der veröffentlichten Literatur schwer. Es kann aber davon ausgegangen werden, daß sich die Gestapo aus den Spendengeldern der SS mitfinanzierte. Darüber hinaus betrieb sie eigene Verkaufsstellen, in denen sie die von den Gestapo-Beamten beschlagnahmten Güter verkaufte. Wenig erforscht ist die Mitwirkung der Geheimen Staatspolizei bei der Übernahme verschiedener Unternehmungen in den besetzten Gebieten. Hinweise auf »Handgelder« für GestapoBeamte im Rahmen dieser Mitwirkung, konnten im Rahmen dieser Studie nicht gefunden werden. Die Zahlung solcher Gelder gilt aber aufgrund der dargestellten Praxis als wahrscheinlich. Augenscheinlich ist nicht nur die Vorrangstellung der Geheimen Staatspolizei bei dieser Finanzierungsabwicklung gegenüber der allgemeinen Finanzverwaltung, sondern auch gegenüber dem Finanzministerium. Dieses Ministerium hatte haushaltsrechtlich im Grunde genommen keinen wirksamen Einfluß auf die Gestapo, die sich insofern »autonom« finanzierte.

3.3

Personal

Um zu Analysen von Lebenswelten in Organisationen zu kommen, hat sich die Untersuchungsperspektive nicht nur auf Strukturen und Kommunikationswege zu konzentrieren, sondern muß sich gerade mit den Mitgliedern befassen. Beim Beschreiben des geheimpolizeilichen Personals wird versucht, Belege zu berücksichtigen, die Einblick in das Zugehörigkeitserleben zur Gestapo skizzieren. Über die biographischen Anmerkungen zum Personal hinaus, sind auch die Handlungsanweisungen zu erschließen, die einen Einblick in die Maßstäbe von Auswahl und Rekrutierung geben können und sie sind unter dem Aspekt des »Erlebens von Zusammengehörigkeit« zu bewerten. Im einzelnen wird das Führungspersonal, das ministerielle Personal, die Polizeibeamten, das »sonstige Personal« sowie weibliche Angehörige und Auslandsagenten und -agentinnen untersucht. Für das Führungspersonal geschieht die Darstellung anhand von Kurzbiographien; für das andere Personal wird auf veröffentlichte (Kurz-) Biographien v e r w i e s e n . 8 9 Abgeschlossen wird der Untersuchungsabschnitt mit allgemeineren Bewertungen des Personals und Anmerkungen zur Personalpolitik der Geheimen Staatspolizei. Ein Exkurs behandelt aus systematischen Gründen in diesem Abschnitt den Auslandseinsatz der Geheimen Staatspolizei.

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3.3.1

Entwicklungsdynamik der geheimpolizeilichen Arbeits- und Lebenswelt

Führungspersonal

Die biographischen Notizen versuchen einen Einblick in Herkunftsmilieus, in die schulische und universitäre Ausbildung sowie Tätigkeiten und Mitgliedschaften in nationalsozialistische Organisationen zu geben. Soweit nachweisbar, werden auch die persönlichen Verbindungen zur nationalsozialistischen Führung berücksichtigt. 1. Hermann Göring, geb. 12.01.1893, gest. 15.10.1946 (Suizid im Nürnberger Alliierten Gefängnis); im 1. Weltkrieg Jagdflieger und seit 1922 Mitglied der NSDAP und Führer der SA (Sturmabteilung), er galt daher als "Alter Kämpfer"; Studium der Geschichte und der Volkswirtschaft an der Universität München von 1922 bis 1923.90 Abgeordneter des Deutschen Reichstages seit 1928 und Reichstagspräsident seit 1932. Seit April 1933 im Amt des Preußischen Ministerpräsidenten (und zugleich kommissarischer Preußischer Innenminister). Göring schrieb am 17. Februar 1934 allen preußischen Polizeibeamten vor: "... im Notfall ohne zögern zu schießen. Jeder Polizist muß von dem Gedanken durchdrungen sein, daß Untätigkeit ein schwererer Fehler ist als ein in Ausführung von Befehlen begangener Irrtum." 91 in weiteren Polizeianweisungen bemerkte Göring: "... jede Kugel, die jetzt aus dem Lauf einer Polizeipistole geht, ist meine Kugel. Wenn man das Mord nennt, dann habe ich gemordet, das alles habe ich befohlen, ich decke das, ich trage die Verantwortung dafür, und ich habe mich nicht zu s c h e u e n . "92 Neben diesen Anweisungen und Bemerkungen zum polizeilichen Töten, hat Göring die Geheime Staatspolizei als Polizeibehörde des nationalsozialistischen Staates planmäßig entworfen und r e a l i s i e r t . 9 3 2. Rudolf Diels, der erste Chef der Gestapo^^, steuerte bei der Umorganisierung der Politischen Polizei der Weimarer Republik zur Geheimen Staatspolizei sein - unter dem sozialdemokratischen Innenminister Severing erworbenes - bürokratisches Wissen sowie sein Fachwissen über die staatlich institutionalisierte Beobachtung/Erfassung und Bekämpfung der Linksparteien bei. Diels wurde 1903 als Kind einer großbäuerlichen Familie im Taunus geboren. Er studierte in Marburg Rechtswissenschaften. Sein Referendariat hat er von 1920 bis 1924 in verschiedenen Provinzverwaltungen absolviert. 1930 wurde er als »Hilfsarbeiter und Referent« für politische Ausschreitungen, Spionageabwehr, Landesverrat, Waffen- und Sprengstoffsachen im Preußischen Innenministerium in Berlin angestellt. Anschließend erfolgte die Ernennung zum Dezernenten für »Linksradikalismus« in der Politischen Abteilung des Innenministeriums. Seit März 1932 war Diels förderndes Mitglied der SA und am 22. Februar 1932 wurde er zum Leiter der Politischen Polizei im Polizeipräsidium Berlin ernannt. Am 26. April 1933 (nach dem Erlaß des Gesetzes über die Errichtung eines Geheimen Staatspolizeiamtes) wurde Diels Leiter dieses Amtes mit dem Sitz in Berlin, in der Alexanderstr. 5-6. Im Oktober 1933 ließ der Innenminister Göring ihn »fallen«.95 Nach der Rückkehr aus der Tschechoslowakei wurde er am 29. November 1933 erneut zum Leiter des Geheimen Staatspolizeiamtes berufen. Seine Ernennung zum Vizepolizeipräsidenten von Berlin erfolgte am 23. November 1933. Im März 1934 wird Diels »Inspekteur der Geheimen Staatspolizei«. Am 21. April 1934 wurde Diels in den einstweiligen Ruhestand versetzt und zugleich zum Regierungspräsidenten von Köln ernannt. Himmler folgte dann Diels im Amt des

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»Inspekteurs der Gestapo«. Auf »eigenen Wunsch« wurde Diels am 1. September 1936 als Regierungspräsident nach Hannover versetzt. 1942 wurde Diels zum Generaldirektor und Vorstandsvorsitzenden der Reichswerke AG für Binnenfahrt »Hermann Göring« ernannt. 1943 heiratete er eine Nichte und Schwägerin von Göring. Im Herbst 1943 und im Frühjahr 1944 wurde Diels von der Geheimen Staatspolizei wegen angeblicher hochverräterischer Beziehungen zum Ausland verhaftet und verhört. Nach der Kapitulation 1945 wird er interniert und vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg (zunächst als Zeuge der Anklage) verhört. Die "Entnazifizierung beziehungsweise Spruchkammerverfahren überstand Diels mit derselben Taktik sowie mit einem Massenaufgebot von bestellten und anderen Entlastungszeugen einigermaßen unbeschadet, wenn auch leicht angeschlagen. Seit 1945 lebte er als »Regierungspräsident zur Wiederverwendung« zurückgezogen auf seinem Bauernhof in der Nähe von Hannover bzw. in seinem Geburtsort Berghausen im Taunus." 96 Diels stirbt am 18. November 1957 an den Folgen eines Jagdunfalls. 3. Der Altonaer Polizeipräsident Paul Hinkler löste Diels im Amt des Leiters des Gestapa für ca. 15 Tage im November 1933 ab. Paul Hinkler wurde am 25. Juni 1892 in Berlin geboren. Nach dem Besuch des Gymnasiums und einer Ausbildung am Lehrerseminar nahm er als Kriegsfreiwilliger (im Rang eines Offiziers) am 1.Weltkrieg teil. 1918 erkrankte Hinkler an "Nervenzerrüttung" und schied als 60%-Kriegsbeschädigter aus dem Heer aus. Bereits seit 1921 übte er Tätigkeiten für die NSDAP aus und trat 1922 in die NSDAP ein (Mitgliedsnr. 5942). Hinkler galt daher als »Alter Kämpfer« und war mit Hitler persönlich bekannt. Bis 1929 arbeitete er als Magistratsassessor in Freyburg a.U.. Von 1926 bis 1931 war er Gauleiter der NSDAP in Halle/ Merseburg und organisierte hier die Sturmabteilung der NSDAP. 1931 ist er aufgrund parteiinterner Differenzen als Gauleiter beurlaubt worden. Hinkler war von 1928 - 1933 Mitglied des Preußischen Landtages und seit 1932 NSDAP-Fraktionsgeschäftsführer; 1936 wurde Paul Hinkler auch Mitglied des Reichstages. Am 25. März 1933 wurde er zum Polizeipräsidenten von Altona (Hamburg) ernannt Diese Funktion hatte er, mit der Unterbrechung im November 1933, bis zum Jahr 1939 inne. 1939 wurde Hinkler Polizeipräsident in Wuppertal. Die Berufung zum Leiter des Gestapa ging auf den damaligen »Kommissar z.b.V.« im Preußischen Innenministerium und späteren Leiter der Ordnungspolizei Polizeigeneral, Kurt Daluege, zurück.97 4. Heinrich Himmler ist seit dem 21. April 1934 auch »Inspekteur der Geheimen Staatspolizei«, ernannt durch Hermann Göring. Er wurde am 07.10.1900 in Lindau geboren; sein Vater war dort Gymnasialdirektor. Nach dem Besuch der Gymnasien in München und Landshut trat er 1917 in die Armee ein und wurde 1918 Fahnenjunker. 1924 Schloß er sein Studium der Landwirtschaft an der Universität München ab. Seit 1928 war Himmler »Reichsführer SS« (Sturmstaffel). Am 9. März 1933 wurde er kommissarischer Polizeipräsident von München. Im Herbst 1933 erreichte Himmler, daß er sukzessive in allen deutschen Ländern - außer in Preußen - Kommandeur der Politischen Polizei wurde. Im Dezember 1934 ist Himmler Mitglied des Ältestenrates des Reichstages geworden und Mitglied der Akademie für Deutsches Recht.98 1933 läßt Himmler das erste Konzentrationslager in Dachau bei München errichten. Am 17. Juni

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1936 wurde er »Chef der Deutschen Polizei« und 1939 »Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums«.^ 1942 übernahm Himmler die Leitung der Sicherheitspolizei bzw. des Hauptamtes. Im Februar 1942 gründete Himmler das »SSWirtschafts-und Verwaltungshauptamt« (SS-WVHA). Die Abteilung D dieses Amtes koordinierte auch die Zwangsarbeit von KZ-Häftlingen in den Rüstungsbetrieben. Hitler ernannte Himmler im Jahr 1943 zum Reichsinnenminister. Nach dem Attentat auf Hitler im Juli 1944, erfolgte die Ernennung Himmlers zum Befehlshaber eines Ersatzheeres. Unmittelbar vor Kriegsende versuchte Himmler über den Leiter des schwedischen Roten Kreuzes, Verbindungen zu den Alliierten aufzunehmen. Er bot dem amerikanischen General Eisenhower einen separaten Frieden im Westen an und war der Meinung, daß die (westlichen) Alliierten ihn als Staatsoberhaupt einer NS-Regierung akzeptieren würden. Als Hitler von Himmlers Absichten erfuhr, entließ er ihn am 28. April 1945 aus allen Ämtern. Himmler hat nach Kriegsende versucht, unter falschem Namen unterzutauchen. Durch britische Soldaten wurde er festgenommen und in ein Gefängnis nach Lüneburg verbracht, wo er am 23.05.1945 Suizid beging. 5. Reinhard Heydrich wurde am 07.03.1904 in Halle geboren. Sein Vater war Konservatoriumsdirektor in Halle, seine Mutter ausgebildete Klavierlehrerin. Ab 1914 besuchte er das Reformgymnasium in Halle und am 30. März 1922 meldete er sich als Rekrut bei der Kriegsmarine in Kiel. Aus der Marine wurde er Ende April 1931 aufgrund eines Ehrengerichtsverfahrens - welches Heydrich u.a. "charakterloses Verhalten" bescheinigte - e n t l a s s e n . 100 Am 14. Juni 1931 begegneten sich Heydrich und Himmler zum ersten Mal; einen Monat später wird Heydrich Mitglied in der SS und organisiert in München den SD (Sicherheitsdienst), den Nachrichtendienst der NSDAP.101 Am 19. Juli 1932 wurde Heydrich zum Leiter des Sicherheitsdienstes ernannt. Zum kommissarischen Leiter der Abt. IV im Münchner Polizeipräsidium ist er am 9. März 1933 berufen worden, während Himmler am gleichen Tage Kommandeur der Politischen Polizei in Bayern wurde. Zusammen mit Himmler organisierte Heydrich - mit Unterstützung der Bayerischen Politischen Polizei - den ersten Terror gegen die jüdische B e v ö l k e r u n g . 102 Heydrich folgte Himmler nach Berlin und wurde am 20. April 1934 zum Leitungsstellvertreter der Gestapo Preußens ernannt. Am 26. Juni 1936 ist Heydrich »Chef der Sicherheitspolizei« in Berlin und leitet gleichzeitig das »Hauptamt Sicherheitspolizei«, das für die Kriminalpolizei und für die Geheime Staatspolizei zuständig ist. Am 29. September 1941 wurde Heydrich mit der Geschäftsführung des Protektorates Böhmen und Mähren beauftragt Auf ihn wird am 27. Mai 1942 ein Attentat verübt, an deren Folgen er am 4. Juni 1942 in Prag stirbt. "Heydrich expired of his wounds on June 4 and a veritable hecatomb followed as the Germans took savage revenge, after the manner of the old Teutonic rites, for the death of their hero. According to one Gestapo report, 1.331 Czechs, including 201 women, were immediately excecuted."103 Am 10. Juni 1942 ermordete die Sicherheitspolizei des Protektorates unter der Leitung des Hauptmanns der Schutzpolizei, Max R o s t o c k 104^ im Ort Lidice 172 Männer und 195 Frauen wurden in das Konzentrationslager Ravensbrück d e p o r t i e r t . 105

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6. Am 4. Oktober 1903 wird Ernst Kaltenbrunner in Ried/Österreich als Sohn einer Rechtsanwaltsfamilie geboren worden. Seine Schulausbildung erfolgte in Linz. 1926 promovierte er an der Universität in Graz (Dr. jur.) und ließ sich anschließend als Rechtsanwalt nieder. Kaltenbrunner war in Österreich Mitglied einer schlagenden studentischen Verbindung und Mitglied im ersten österreichischen nationalsozialistischen Studentenbund; er trat 1932 in die NSDAP und SS ein. Wegen Verdachts der Verschwörung gegen die Regierung Dollfuß wurde Kaltenbrunner 1934 verhaftet und zu sechs Monaten Haft verurteilt. Kaltenbrunner verlor nach der Haft seine Zulassung als Rechtsanwalt, wurde aber zum Führer der SS in Österreich ernannt. Er war persönlich bekannt mit SeyssInquart, der nach dem Anschluß Österreichs zum Regierungschef ernannt wurde. Kaltenbrunner wurde am 12.3.1938 zum Staatssekretär für öffentliche Sicherheit und zum SS-Gruppenführer ernannt. Seit 1938 ist er Mitglied des Deutschen Reichstages. Im Januar 1943 übernahm er die Leitung des RSHA in Berlin. 1941 wird Kaltenbrunner zum Generalleutnant der Polizei ernannt. Ende 1944 versuchte er erfolglos mit dem USamerikanischen Geheimdienst Kontakt aufzunehmen und wurde zum Kriegsende in Altaussee (Österreich) durch die Amerikaner verhaftet. Das Nürnberger Internationale Militärgericht verurteilte ihn wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zum Tode. Kaltenbrunner wurde am 16. Oktober 1946 durch den Strang hingerichtet. 7. Heinrich Müller (auch genannt: »Gestapo-Müller«) war in der Zeit von 1939 1945 Amtsleiter im RSHA, dort zuständig für das Amt IV (Gestapo). Er gehört zum geheimpolizeilichen Führungspersonal, obwohl er das RSHA selbst nie leitete. Müller wurde am 28. April 1900 in München geboren, sein Vater war Gendarmeriebeamter. Nach einer Lehre als Flugzeugmonteur nahm er als Unteroffizier am 1. Weltkrieg teil. Nach dem Krieg trat er in den Dienst der bayerischen Polizei ein und arbeitete in der Abteilung IV der Polizeidirektion München (Politische Polizei). Als Sachbearbeiter war er für die »kommunistischen Bewegungen« zuständig. 1933 wurde Müller zum Kriminalinspektor ernannt und somit enger Mitarbeiter von Heydrich. In der polizeilichen Hierarchie war Müller bis 1937 zum Oberregierungs- und Kriminalrat und in der SS-Hierarchie zum SS-Obersturmbannführer aufgestiegen. Erst im Jahre 1939 wurde Müller der Beitritt zur NSDAP gestattet. Der Grund für diesen späten Parteieintritt wurde seitens der Parteiführung mit der Vermutung begründet, daß Müller in der Zeit vor 1933 die Nationalsozialisten im Rahmen seiner polizeilichen Tätigkeit bekämpft habe. Himmler und Heydrich sollen an ihm besonders den blinden Gehorsam und seine bedingungslose Bereitschaft zur skrupellosen Beseitigung politischer Gegner geschätzt haben. Müller wurde am 9. November 1941 zum SS-Gruppenführer und Generalleutnant der Polizei ernannt. Er war unmittelbar für die Ermordung von Juden im Konzentrationslager Auschwitz verantwortlich, ein von ihm unterzeichneter Befehl ordnete die Einlieferung und Ermordung von Juden an (der Befehl galt für den 31. Januar 1943). Müller wurde am 29. April 1945 letztmalig im Führerbunker in Berlin gesehen.

54 3.3.2

Entwicklungsdynamik der geheimpolizeilichen Arbeits- und Lebenswelt

Polizeibeamte in der Gestapo

Es waren insbesondere Polizeibeamte, die die Funktionsfähigkeit des Gestapo-Apparates garantierten und die Gestapo-Praxis basierte auf berufspolizeilichem Wissen und Methoden. Grundlagen für diesen Abschnitt sind die veröffentlichten Personalentwicklungen der Geheimen Staatspolizei von Berlin, in den Staatspolizeistellen Frankfurt am Main, Hamburg, Düsseldorf und Hannover. Diamant hat die Personalsituation der Geheimen Staatspolizei in Frankfurt am Main (einschließlich der Außenstellen) umfassend dokumentiert. Er benennt 208 Gestapo-Beamte (einschl. Verwaltungsbeamte und einschl. der Gestapo-Außenstellen Wiesbaden, Wetzlar, Limburg). Diese Personalangaben beruhen auf einer Liste des Hess. Hauptstaatsarchivs in Wiesbaden. 108 Erfaßt wurde das Personal für den Zeitraum von 1933 bis 1945; die Zahlenangaben können daher nicht als absolut im Sinne einer Gesamtpersonalstärke bewertet werden. Von diesen Gestapo-Beamten waren 109 ausgebildete Kriminalpolizeibeamte (=52,4%) in den Diensträngen vom Kriminaldirektor bis zum Kriminalassistenten; davon waren 21 Beamte (=19,2%) zum Schutzpolizisten ausgebildet worden. Diamant konnte aufgrund der Quellenlage für Frankfurt am Main nachweisen, daß nur fünf Beamte bereits vor 1933 bei der Abteilung der Politischen Polizei gearbeitet hatten. Die hier nicht berücksichtigten Beamten waren direkt von der SS bzw. vom SD oder als Beamte der allgemeinen Verwaltungslaufbahn zur Gestapo nach Frankfurt am Main versetzt worden. Über das Personal der Hamburger Geheimen Staatspolizei können nur einige Details der Personalentwicklung wiedergegeben werden, die durch Fangmann et al 109 bei einer allgemeineren Untersuchung der "Hamburger Polizei im 3. Dritten Reich" verwertet wurden. Die »Nazifizierung« innerhalb der Hamburger Polizei vollzog sich nach ihren Erkenntnissen am schnellsten bei der Staatspolizei Hamburg; deren Umbenennung in Geheime Staatspolizei Hamburg allerdings erst 1935 erfolgte. 1933 verfügte die Hamburger Politische Polizei über 70 Beamte, die durch die Einstellung von 12 Hilfspolizisten und durch als "zuverlässig geltende Beamte" der Schutz- und Kriminalpolizei verstärkt wurde. Die Mehrheit der bisherigen Beamten der politischen Polizei wurden durch NSDAP-, SA- und SS-Männer unmittelbar nach der Machtübernahme im Jahr 1933 ersetzt. Ende 1936 verfügte die Geheime Staatspolizei in Hamburg über 200 Beamtenstellen (ohne Angestellte und sonstigem Personal). 67 Beamte der Schutzpolizei waren bis 1936 zur Geheimen Staatspolizei »abkommandiert« und konnten von der Geheimen Staatspolizei aufgrund neuer Stellenzuweisungen etatmäßig übernommen werden. Bis Mitte Mai 1933 wurde die Hamburger Staatspolizei von dem NSDAP-Mitglied und Leiter des Ermittlungsdienstes der Hamburger NSDAP-Gauleitung, Milewski-Schroeden, geleitet; dieser wurde durch den Hauptmann der Schutzpolizei Walter Abraham abgelöst Auf Abraham folgte Ende Oktober 1933 der 1902 in Hamburg geborene »Führer des Sturmbanns I der 28. SS-Standarte«, Bruno Streckenbach.HO Das Sachgebiet zur Bekämpfung des Marxismus und Kommunismus wurde durch den Kriminalkommissar Peter Kraus geführt. Über Kraus wurde bereits 1931 in einer Polizeifachzeitung berichtet, daß er "im Gaubüro der NSDAP ein und aus geht." 111 Polizeiinspektor Behrmann und

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Kriminalkommissar Will (ehemaliges SPD-Mitglied) leiteten ebenfalls wichtige Sachgebiete bei der Geheimen Staatspolizei. Kommissar Will wurde dadurch bekannt, daß er verschiedene Hamburger Gewerkschaftler - mit denen er persönlich bekannt war verhaftete und sie zu Zuträger- und Spitzeldiensten erpreßte. Mit Wirkung vom 23. Oktober 1933 wurde die Abteilung der politischen Polizei beim Polizeipräsidium in Düsseldorf dem Regierungsbezirk Düsseldorf unterstellt und als Staatspolizeistelle benannt. Die Düsseldorfer Staatspolizeistelle untergliederte sich in die Außenstellen Wuppertal, Düsseldorf, Mönchengladbach/ Rheydt und in die Grenzstellen Emmerich, Kaldenkirchen und Cleve. H 2 Mann hat im Rahmen seiner Untersuchungen zur Gestapo Düsseldorf festgestellt, daß Angaben zum Personal und zur Personalstärke der Staatspolizeistelle Düsseldorf nicht überliefert sind. Nach einer Schätzung des ehemaligen stellvertretenden Leiters der Staatspolizeistellen Koblenz und Düsseldorf, KarlHeinz Hoffmann, soll die Personal stärke um 100 gelegen haben. Mann selbst schätzt die Personalstärke unter Berücksichtigung der damaligen Bevölkerungsdichte auf ca. 200 Angestellte und Beamte. Nach dem Geschäftsverteilungsplan der Staatspolizeistelle Düsseldorf können u.a. folgende Polizeibeamte genannt werden 113; Leiter der Staatspolizeistelle: Vertreter im Amt: Leiter der Hauptgeschäftsstelle: Leiter der Personalstelle: (u.a.) Leiter der Kraftfahrdienststelle: Juristische Abt.: Exekutiv Abteilung III (Kl): Exekutiv Abteilung III (K 2): Exekutiv Abteilung III (K 3): Exekutiv Abteilung III (K 4): Archiv

Regierungsrat Murray Kriminal-Polizeirat Maslak und Gerichtsass. Bovensiepen 114 Kriminalassistent Funk Kriminalkommissar Bach Kriminalassistent Gorius Kriminalassistent Heinzelmann Kriminalkommissar Blaesing Kriminalkommissar Bach Kriminalkommissar Vogt Kriminalkommissar Schaefer Kriminalsekretär Broer

Das Polizeipräsidium Hannover hatte wie das Berliner Präsidium, eine Abteilung I A. Hier war auch die Abteilung der Politischen Polizei angesiedelt, zu deren Zuständigkeitsbereich das Stadtgebiet von Hannover und die gesamte Provinz Hannover g e h ö r t e . 1 Am 10. Mai 1933 wurde die Abt. 1 A in eine Staatspolizeistelle umgewandelt. Die Anschrift der hannoverschen Geheimen Staatspolizei lautete: "Staatspolizeileitstelle Hannover, Hardenberg str. 1 (Polizeipräsidium)." Zum Leiter der Staatspolizeistelle Hannover wurde der politische Sachbearbeiter beim Regierungspräsidenten, der Landrat von Philipsborn, wohnhaft in Hannover, Haarstr. 8, ernannt. 116 Von Philipsborn wurde 1891 geboren und stammt aus einer alten Offiziers- und Beamtenfamilie. Er studierte Rechtswissenschaften und wurde 1932 zur Bezirksregierung Hannover versetzt. Nach seiner Tätigkeit als Staatspolizeistellenleiter wurde Philipsborn nach Trier versetzt. 117 Ende 1933 folgte ihm im Amt Dr. Werner Voß. Voß wurde 1881 als Sohn eines Rittergutbesitzers in Gera geboren und war seit 1902 Offizier. Nach dem Jura-Studium

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Entwicklungsdynamik der geheimpolizeilichen Arbeits- und Lebenswelt

und Kriegsteilnahme war er in den Jahren 1921 - 1923 beim Berliner Polizeipräsidium beschäftigt. 1924 wurde er aus dem Staatsdienst entlassen und war bis 1934, oft am Rand des Existenzminimums, als Schriftsteller und Kaufmann tätig. 1933 wurde er als Regierungsrat bei der Regierung in Schleswig a n g e s t e l l t . ! ^ i m Sommer 1934 wurde Voß seines Amtes enthoben und in Schutzhaft genommen: Angeblich hatte er »abfallige Äußerungen« u.a. über den Reichspropagandaminister Goebbels gemacht. Ebenso soll er "staatsfeindliches Material zur persönlichen Verwendung gegen Vorgesetzte und Führer gesammelt haben." Am 1.10.1934 wurde Voß in den Ruhestand versetzt.!^ Zum Leiter des Außendienstes wurde der Kriminalkommissar Bührmann berufen. Am 30.6.1936 zählte die Hannoversche Geheime Staatspolizei 42 (Beamten-) Planstellen. Von diesen 42 Beamten waren 28 (= 66,6%) vor 1933 bei der Abteilung der politischen Polizei in der Hardenbergstr. 1 tätig. Diese Beamte wiederum waren fast vollständig in der Zeit vor 1933 mit der Bekämpfung des »Linksextremismus« beauftragt. 17 Beamte wurden am 10.5.33 in die Staatspolizeistelle übernommen, die anderen 11 Beamten folgten bis Ende 1933. Am 1.12.1933 wurden sieben SS-Männer der Staatspolizei stelle in Hannover zugeteilt. 120 Beamte des Geheimen Staatspolizeiamtes in Berlin in den Jahren von 1933 bis 1934, höhere Beamte der Politischen Polizei vor 1933 und Beamte des Preußischen Innenministeriums von 1932 bis 1934 sind jetzt Gegenstand der Untersuchung. Diese Auswahl erfolgt aufgrund der Quellenlage, sie ist daher nicht umfassend und basiert auf der Grundlage der noch existierenden Geschäftsverteilungspläne der Politischen Polizei bzw. der Geheimen Staatspolizei J 2 1 Von 65 Beamten hatten 46 (=70,76%) eine Polizeiausbildung absolviert; von den 46 Beamten wurden 6 Beamte (=13,04%) bei der Schutzpolizei ausgebildet und 40 Beamte sind zum Kriminalkommissar ausgebildet worden. Nur bei diesen beiden Kategorien kann von Polizeibeamten im eigentlichen Sinne gesprochen werden. Die anderen Beamten wurden in der Regel im Rahmen ihrer allgemeinen Verwaltungsjuristenausbildung (oder -Verwendung) in den Polizeidienststellen eingesetzt. Graf kommt zu bei seiner Personalanalyse zu folgenden Ergebnissen: Fast die Hälfte aller o.g. Beamten der Geheimen Staatspolizei waren als Soldaten am Ersten Weltkrieg beteiligt. Ebenfalls fast 50% hatten - in der Regel - vor ihrer Polizeiausbildung ein juristisches Studium (teilweise abgebrochen, teilweise mit einem »Doktorat« beendet) absolviert. Hinsichtlich der Dauer der Tätigkeit bei der Geheimen Staatspolizei ist festzuhalten, daß fast die Hälfte der Beamten (= 32) noch nach dem 30. September 1939 in diesem Amt beschäftigt waren. Von der anderen Hälfte arbeitete ca. ein Drittel (11 Beamte) in anderen Organisationsbereichen der Geheimen Staatspolizei. Für 43 Beamte (= 66,15%), die bereits während der Leitung durch Diels beim Geheimen Staatspolizeiamt beschäftigt waren, war es eine Beschäftigung auf Dauer. Rund 26% dieser Beamten waren vor 1933 (illegal) Mitglied der NSDAP oder in anderen nationalsozialistischen Fachschaften bzw. anderen NS-Organisationen. Unter dem Aspekt der Informationssammlung und -auswertung (Erfahrungen im Nachrichtendienst) ist festzuhalten, daß ca. 66% der Kriminalbeamten und 10% der Verwaltungsbeamten nicht nur am Ersten Weltkrieg teilgenommen hatten, sondern auch in diesem Zeitraum Erfahrungen im sicherheitspolizeilichen Einsatz gesammelt hatten.

Personal

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3.3.3 Weibliche Angehörige der Geheimem Staatspolizei sowie Auslandsagenten Unten wird noch näher ausgeführt, daß zum logistischen Personal der Geheimen Staatspolizei auch Frauen gehörten. Grundsätzlich arbeiteten Frauen bei der Geheimen Staatspolizei als Sekretärinnen oder Dolmetscherinnen. Frauen in Leitungsfunktionen sind im Rahmen dieser Untersuchung nicht bekannt geworden. Allerdings haben Frauen, die als Agentinnen und Informantinnen gearbeitet haben, einen relativen Einfluß auf bestimmte geheimpolizeiliche Entscheidungen gehabt. Nur eine zeitgenössische und journalistische Veröffentlichung nimmt explizit Stellung zum Komplex »Frauen in der Geheimen Staatspolizei«. 122 Aus dieser Veröffentlichung ist folgende Kennzeichnung und Bewertung der Tätigkeit der Frauen in der Geheimen Staatspolizei entnommen: "The Womens' Branch of the Gestapo today has tousands of agents operating not only in Germany but through out the whole of Occupied Europe and in neutral countries. Originally these women were intended to perform only duties connected with the sorting out of the men and women of anti-Nazi sympathies, to make long and detailed reports of the activities of suspects and generally to act a gleaners of information. But the day has long since passed. The women are now so organised and have accomplished so many varied taks - often tasks which even the most brutalised German man would have hestitated to undertake - that they have definitely won for themselves a high place in the Gestapo organization. Now they work in the closest harmony with the official secret service of Germany and are accredited agents-women spies in every sense of the word, as well as ferrets in the homes of ordinary people in G e r m a n y . " ^23 Namentlich wird Carola Limbach erwähnt, die als Leiterin des »Bundes Deutscher Mädchen« fungierte und für die Gestapo arbeitete. Andere zeitgenössische Veröffentlichungen gehen besonders auf die Tätigkeit von Frauen als Agentinnen der Geheimen Staatspolizei ein. Einige dieser Frauen waren dem konsularischen/diplomatischen Personal zugehörig oder als Journalistinnen tätig. Namentlich sind benannt: Mrs. Ignatz Griebl, seit 1922 in den USA, verheiratet mit Dr. Ignatz Griebl. Ignatz Griebl war befreundet mit dem deutschen Consul in New York, B o r c h e r s . 124 Unter der Auflistung von "590 Propagandisten, Agenten, Spitzeln und Spione der Nazis im A u s l a n d e " 125 werden als Agentinnen genannt: Frau Aschenborn, Mitglied des nationalsozialistischen "Kolonialen Frauenbundes", Agentin der ehemaligen deutschen Kolonie Südwestafrika; Frau Rohde, Agentin in der ehemaligen Kolonie Ostafrika; Sophie Droszt, genannt "La Belle Sophie", deutsche Militär- Spionin; Greta Oswald, Militärspionin; Gräfin Rödern, Gestapo-Agentin in Paris und war im Saarland als Korrespondentin des "Deutschen Nachrichtenbüros" tätig; Irene de Versi, Militärspionin in Paris, Marokko und Algerien; Margarete Vockrodt, Amtswalterin der Deutschen Angestelltenschaft in Paris; Frau Winckel, Frauenschaftsleiterin der NSDAP in Paris; Minni Zinnow, Mitarbeiterin des Spions Bernhuber; Marlene Riggemeyer, deutsche Agentin in Italien; Frau Ricken, Mitglied der N.S. Frauenarbeitsgemeinschaften Ortsgruppe Bern/Schweiz; Frau Schlenker, Sonderbeauftragte der Gestapo, 1934 in Schaffhausen wegen Spitzelei verhaftet; Gertrud Zetsche, Tochter eines Universitätsprofessors in Bern und Leiterin des »Bundes Deutscher Mädchen«, Ortsgruppe Bern/Schweiz; Frl. Lewitt, frühere

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Korrespondentin des »Deutschen Echo« in Madrid/Spanien; Margarit Stein, Spionin in Spanien; Edith Karlebach, Agentin der Gestapo in der Schweiz und an einer Ermordung beteiligt; Anna Vittrichova, Agentin der Gestapo in der Schweiz; Betty Aschenbrenner, Krankenschwester in Agentin in Nord- und Südamerika; Maria Kahle, Schriftstellerin und Agentin in Nord- und Südamerika sowie Frau Groskopf und Karoline Parpart, Gestapo-Spitzel in Saarbrücken. Die SS verfügte über weibliche Angestellte und setzte diese Frauen für Verwaltungsarbeiten ein. Frauen gehörten dem SS-Stabs- und Nachrichtenkorps an und wurden dort als Nachrichtenhelferinnen beschäftigt. Direkt für die Geheime Staatspolizei in Berlin arbeitete z.B. die Kanzleiangestellte Arndt im Büro von Heinrich Müller, Chef des Amtes IV im RSHA. Weibliche Angestellte arbeiteten auch in den Stäben der mobilen Tötungskommandos in Osteuropa. 126 Auch jüdische Frauen haben Informationen an die Geheime Staatspolizei weitergegeben. Sie wurden dazu von der Gestapo erpresst, ihnen wurden verschiedene Privilegien gewährt, sie waren teilweise bewaffnet, besaßen spezielle Ausweispapiere und erhielten Prämien für ihre Informationen. 127

3.3.4

Exkurs: Auslandsarbeit der Geheimen Staatspolizei

In Ergänzung der obigen Darstellung zur Organisation der Geheimen Staatspolizei, seien aufgrund des systematischen Zusammenhangs - an dieser Stelle noch einige Anmerkungen zur Organisationsstruktur des Auslandsagenteneinsatz gemacht. Seehof hat 1935 die Rekrutierungspolitik der Geheimen Staatspolizei für den Agenteneinsatz wie folgt beschreiben: "Das Gros der Auslandsagenten, die einfachere Aufträge durchzuführen haben, wird unter den Kriminalbeamten gewählt; hin und wieder werden auch Überläufer der antifaschistischen Parteien zum Agentendienst herangezogen. Ein bestimmter kleiner Teil der Agenten wird unter den Ausländern rekrutiert. Die Gestapo versucht auch Agenten unter den politischen Emigranten zu werben." 128 Die Leitung der »Auslandsarbeit« lag direkt bei Himmler und Heydrichl29 u n ( j e j n Stab von ca. 20 Mitarbeitern arbeitete ihnen zu. Dieser Stab bestand aus Offizieren der Reichswehr und polizeilichen Nachrichtenbeamten. Diese Stabstelle war zugleich Sammelstelle für alle auflaufenden ausländischen Nachrichten. Der Stab verfügte über eine große "Kartothek" in der systematisch die eigenen Agenten, die (bekannten) Agenten der fremden Mächte, die Aufenthaltsorte der Emigranten und die Orte der ausländischen Hitlergegner schnell auffindbar verzeichnet waren: "Zehntausende Fotos der Emigranten und ausländische Gegner des Hitlerregimes als auch der ausländischen Agenten und Spione ergänzen die Kartothek, der auch eine reiche Fingerabdrucksammlung angegliedert ist. Der Spezialstab verfügt über mehrere geheime Rundfunkanlagen von höchster technischer Vollkommenheit Er besitzt eine Chiffirierabteilung. Die Chiffren und Schlüssel der Gestapo werden monatlich gewechselt, bei großen Auslandsaktionen werden die Chiffren sogar wöchentlich geändert. Die Auslandsagenten sind in besonderen Inspektionen zusammengefaßt, die ihren Sitz in den jeweiligen Grenzstädten haben. Wir haben bisher folgende Gestapo-Inspektionen festgestellt: Für die Arbeit in Frankreich: Freiburg

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und Saarbrücken, früher Zweibrücken; für Belgien und Holland: Aachen; die drei Inspektionen sind der Oberinspektion Köln unterstellt; für die Tschechoslowakei: Plauen, Schlandau; beide unterstellt der Oberinspektion Dresden; für Österreich: Passau, Rosenheim und Kempten, alle drei unterstellt der Oberinspektion München; für den Osten: Gleiwitz, Breslau, Frankfurt an der Order, Danzig, Königsberg und Tilsit; diese sechs Inspektionen sind direkt dem Berlin-Spezialstab unterstellt; für Skandinavien: Rostock und Lübeck. Welcher Oberinspektion die skandinavischen Inspektionen untergeordnet sind, konnte bis zur Drucklegung des Buches [1935, Anm. H.J.H.] nicht festgestellt werden. Die Arbeiten in Italien und Jugoslawien wird von der Oberinspektion in München mit geleitet, die Arbeit in England untersteht einer eigenen Oberinspektion in Hamburg. Die Arbeit gegen die Sowjetunion und in den überseeischen Ländern wird direkt von der Berliner Zentrale g e f ü h r t . " 130 Q j e Arbeit der Agenten und Agentinnen der geheimen Staatspolizei ist vertikal gegliedert gewesen, d.h. dem einzelnen Agenten bzw. der Agentin war nur der direkte Vorgesetzte und der Verbindungsmann im Ausland bekannt. Persönliche Verbindungen zu den erwähnten Inspektionen bestanden grundsätzlich nicht. Nur die jeweiligen Leiter haben persönlichen Kontakt mit der nächsthöheren Dienststelle gehabt. Der Sitz des Stabes in Berlin war nicht in der Gestapo-Zentrale eingerichtet, sondern getarnt als Exportfirma in der Nähe des Berliner Bahnhofs Friedrichstraße. Jede Inspektion hatte einen »Überwachungsdienst«, der die Agentinnen und Agenten im Auslandseinsatz kontrollierte. Die Ziele der Personalüberwachung sind beschreibbar mit: Kontrolle der Agentenarbeit, Kontrolle des dienstlichen und gesellschaftlichen Verkehrs der Agenten sowie Überwachung ihrer finanziellen Ausgaben. Zweimal wöchentlich erhielten die Inspektionen Überwachungs- und Kontrollberichte. Die Überwachungsdienste sind wiederum von einem »besonderen Überwachungsdienst« kontrolliert worden.131 Die Besoldung der ausländischen Gestapo-Agenten erfolgte in der jeweiligen Landeswährung. Die Auszahlungen übernahmen entweder die jeweiligen Presseattachées der deutschen Botschaften oder Auslandsvertretungen deutscher F i r m e n . 1 3 2

3.3.5

Sonstiges Personal

Wie schon ausgeführt, zählten nicht nur Polizeibeamte und Polizeiverwaltungsbeamte zum Personal der Geheimen Staatspolizei, sondern neben SS-Männern, auch logistisches Personal. Die Funktion dieses - in der Regel im Angestelltenstatus arbeitende - Personal, bestand in der Erledigung von Fahrdiensten, Schreibdiensten, Übersetzungsdiensten und es hatte Fernmeldemittel zu warten und zu beschaffen. Dieses Personal ist mitunter auch Zeuge von Folterungen und Tötungen durch Beamte der Geheimen Staatspolizei geworden. Bei der Geheimen Staatspolizei in Frankfurt a.M.'33 W aren zehn Kraftfahrer angestellt. Diese hatten zugleich SS-Funktionen und waren später auch Angehörige verschiedener »Einsatzgruppen«. Die Fahrbereitschaft der Frankfurter Gestapo wurde durch drei »Technische Obersekretäre« geleitet, die u.a. für die Organisation des Fahrdienstes sowie Wartung und Pflege der Fahrzeuge verantwortlich waren. Sie waren

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zugleich in der SS und gehörten später zu den mobilen Tötungskommandos (»Einsatzgruppen«). Sieben Beamte bzw. Angestellte arbeiteten in der Fernschreibstelle der Frankfurter Gestapo, die Leitung dieser Stelle oblag einem Obersekretär und SS-Untersturmführer. Schreibdienste, Schutzhaftsachbearbeitung, Telefondienste, Auskunftsdienste und Pressearbeiten wurden bei der Frankfurter Gestapo u.a. durch 30 weibliche Angestellte erledigt; weiterhin waren sieben Dolmetscher beschäftigt Abschließend seien beispielhaft noch weitere Personen genannt, die ebenfalls zum logistischen Personal der Geheimen Staatspolizei gehörten und am geheimpolizeilichen Töten mitgewirkt haben. Dr. Albert Widmann arbeitete im Angestelltenverhältnis als Chefchemiker im Kriminaltechnischen Institut des Reichskriminalamtes in Berlin. Er hatte die für das medizinische Töten benötigten toxischen Mittel wie Gas, Luminal, Morphium, Blausäure etc., für den ehemaligen Oberbereichsleiter in der Kanzlei von Adolf Hitler, Werner Blankenburg, beschafft. 134 Blankenburg bekam am 30. März 1942 das Kriegsverdienstkreuz II. Klasse verliehen, weil er "den kriegswichtigen Sonderauftrag auf so breiter Basis und mit dem befohlenen T e m p o " 135 erledigte. Blankenburgs Auftrag war die Organisation der Tötung von 1.700.000 Menschen in den Lagern Sobibor, Belzec und Treblinka. So rekrutierte sich das Personal der Geheimen Staatspolizei zum überwiegenden Teil aus Beamten der Kriminalpolizei, aber auch Beamte mit einer schütz- oder verwaltungspolizeilichen Ausbildung wurden Angehörige der Geheimen Staatspolizei. Darüber hinaus arbeiteten Juristen und SS-Männer bei der Gestapo. Bei der Personalanalyse des Geheimen Staatspolizeiamtes für den Zeitraum von 1933 - 1934 (Amtsleitung Rudolf Diels) ist oben festgestellt worden, daß 43 Beamte (von 65) noch nach dem 30. September 1939 bei der Geheimen Staatspolizei bzw. angegliederten Organisationseinheiten beschäftigt waren. D.h. für 66,15% dieser Beamten war es eine langjährige Tätigkeit, ohne daß ein Wechsel in andere Verwaltungsbereiche stattgefunden hatte.

3.3.6 Rekrutierung des Gestapo-Personals Hermann Göring hat den (Personal-) Zustand der preußischen politischen Polizei nach dem 30. Januar 1933 wie folgt kommentiert: "Sehr schlimm sah es in der politischen Polizei aus. Hier stand ich fast überall nur den Vertrauensleuten der Sozialdemokraten, den bestbewährten Elementen und Kreaturen des Herrn Severing gegenüber. Sie bildeten die berüchtigte IA-Abteilung (Politische Polizei). Mit ihr konnte ich im damaligen Zustand so gut wie nichts anfangen. Zwar waren die allerschlimmsten Elemente schon unter meinem Vorgänger Bracht ausgemerzt worden. Aber jetzt galt es ganze Arbeit zu tun. Wochenlang arbeitete ich persönlich an der Umgestaltung, und schließlich schuf ich allein und aus eigener Entschließung und eigener Überlegung das "Geheime Staatspolizeiamt". Jenes von den Staatsfeinden so sehr gefürchtete Instrument, das in erster Linie mit dazu beigetragen hat, daß heute von einer kommunistischen und marxistischen Gefahr in Deutschland und Preußen keine Rede mehr sein kann.1,136 Über die Personalauswahl für die Geheime Staatspolizei berichtet Göring weiter: "Ohne Rücksicht auf Dienstalter zog ich die fähigsten Beamten in das Geheime Staatspo-

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lizeiamt, unterstellte es einem der befähigtesten jungen Beamten, den ich hatte, und bin in meiner Auffassung bis zum heutigen Tage immer wieder bestärkt worden, daß ich hier die richtigen Männer ausgesucht habe. Die Arbeitsleistung des Ministerialrates Diels und seiner Leute wird immer ein Ruhmesblatt bleiben in der Geschichte dieses ersten Jahres des deutschen Aufstieges. Aufs tatkräftigste wurde ich hierbei unterstützt von der SS und SA. Ohne ihren Einsatz, ohne ihre Hilfe hätte ich nicht so rasch und so tatkräftig der Staatsfeinde Herr werden können." 137 Black beschreibt das Anforderungsprofil eines Führers in der Geheimen Staatspolizei (bezogen auf Ernst Kaltenbrunner) wie folgt: "To run this key apparatus, Himmler needed a man who possessed Heydrichs' fanaticism and who was capable of furthering the interests of the RSH A against other agencies of the Reich. He did not need a policeman or an administrator, of whom he had plenty in the Gestapo, the Kripo, and the administrator department of the RSHA. He needed a fighter, who could hold his own in the incessant struggles that wracked the internal politics of the Reich; and he needed an ideological soldier, who would shrink from no task that the Führer might order. Finally, he needed an ideological administrator, who, through personnel policy and trainings programms, would work toward that desired fusion of the SS mentality into the executive power of the police." 138 Zum "neuen Typ" der Gestapo-Beamten, die nach Diels zur Geheimen Staatspolizei kamen, merkt der Historiker Friedrich Zipfel retrospektiv an: "Gescheiterte Existenzen im eigentlichen Sinne dieses Wortes finden wir unter diesen Leuten kaum, wohl aber eine Reihe ehrgeiziger Männer, die ein Gefühl der Deklassierung in sich getragen haben mögen: Begabte, denen in der Nachkriegszeit aus wirtschaftlichen Gründen die Universitäten verschlossen bleiben mußten, freiberufliche Akademiker, die durch die Wirtschaftskrise schwer getroffen waren, ..., überalterte Assessoren, die der allgemeinen Not ihres Standes durch den Eintritt in die im Aufbau befindlichen neuen Behörden mit ihren mutmaßlich günstigen Aufstiegsbedingungen zu entrinnen versuchten." '39 Bezogen auf das Verhältnis zwischen der staatlichen Polizei und der SS als Parteiarmee, war es Hitlers und Himmlers erklärte Absicht, diese Organisationen miteinander zu »verschmelzen«. Daher sind zur weiteren Charakterisierung des Gestapo-Personals auch Ausführungen aufschlußreich, die sich auf SS-Männer beziehen: "Die Herausbildung eines wirklich verbindlichen Typs ist der Reichsführung der SS nie gelungen: es gab Verbrecher und Idealisten in der SS, Dummköpfe und Männer von intellektuellem Rang. Es gab die,..., die gehorchten und kämpften. Es gab die, die planten, Zukunftsvisionen hatten, Befehle gaben, deren Ausmaß sie sehr wohl übersahen. Es gab die, die mehr oder minder zufällig dabei waren; die, die opportunistisch sich anhängten an eine Formation, die ihren Gliedern Macht und Ansehen gab; die die Beute und gesetzloses Leben wollten. Es gab Werkzeuge und zynische Gewaltmenschen. Und es gab solche, die einfach gepreßt waren. Der Orden konnte Tausende, Hunderttausende disziplinieren. Sie als Einzelmenschen ändern konnte er nur langsam. Aber er benutzte jeden, der in seine Reihen trat. Die Sadisten ebenso wie die Träumer." 141 Abschließend soll noch auf einen wichtigen Umstand im Zusammenhang mit der Personalpolitik der Geheimen Staatspolizei aufmerksam gemacht werden. In einem

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Schreiben des Preußischen Innenministeriums an die Oberpräsidien der Länder weist der Inspekteur der Geheimen Staatspolizei (Himmler) auf "freie Stellen" bei der Gestapo hin und fordert Mitteilung über geeignete Beamte. 142 In diesem Zusammenhang ist folgender Ausschnitt von besonderer Bedeutung: "Eine Abschrift von dem Herrn Inspekteur der Geh. Staatspolizei erstatteten Bericht ist mir vorzulegen, damit bei Versetzungen von Beamten innerhalb des staatlichen Polizeiverwaltungs-Dienstes ein Rückgriff auf die für die Verwendung in der Geh. Staatspolizei vorgeschlagenen Beamten vermieden wird."143 Die vorstehenden Ergebnisse zur Dauer der Tätigkeit bei der Geheimen Staatspolizei und dieser Beleg weisen darauf hin, daß die Tätigkeit bei der Geheimen Staatspolizei grundsätzlich mehrere Jahre andauerte, ohne daß ein Wechsel in andere polizeiliche Arbeitsbereiche erfolgte. Ebenfalls war ein Austausch von Beamten der Geheimen Staatspolizei durch andere Polizeibeamte nicht vorgesehen bzw. wurde mittels solcher administrativen Anweisungen ausdrücklich verhindert. Dies hatte zur Folge, daß diese Polizeibeamten außerhalb der geheimpolizeilichen Arbeitswelt kein Tätigkeitsfeld mehr hatten. Das administrativ festgelegte Anforderungsniveau, welches ein Polizeibeamter erfüllen mußte, um bei der Geheimen Staatspolizei zu arbeiten, kann beispielhaft einem »Antrag des Gestapa an den preußischen Ministerpräsidenten vom 24.3./24.5.1934 betr. Anstellungsgrundsätze« 1 4 4 entnommen werden. Für Beamte und Angestellte des Geheimen Staatspolizeiamtes galt folgendes: Ein "Höchstmaß an Spannkraft und Ausdauer, an Fleiß und Leistungen" und "jederzeitiges rückhaltloses Eintreten für die nationalsozialistische Regierung." 14 ^ Diese Grundsätze galten auch für die Auswahl des Nachwuchses der Geheimen Staatspolizei (also für die Staatspolizeistellen in den Ländern): "Nach diesem Grundsatz muß sich auch die Auswahl des Nachwuchses für die gesamte Geheime Staatspolizei in Anbetracht ihrer Bedeutung und zur Erhaltung der Schlagkraft dieses Machtinstrumentes [sie!] unter allen Umständen richten."14^ Hervorzuheben ist, daß das rückhaltlose Eintreten für die nationalsozialistische Regierung von allen Staatsbeamten gefordert wurde. Auch die Analyse der übrigen Anstellungsgrundsätze läßt nicht den Schluß zu, daß sich besonders brutale, einfältige oder auch intelligente Polizeibeamte für den geheimpolizeilichen Dienst qualifizierten. Zwei Jahre später formulierte Himmler die Anforderungen und die Aufgaben des geheimpolizeilichen Personals deutlicher: "Wir werden unserer Gegner nur Herr werden, wenn wir in diesem neuen Apparat die beiden Komponenten, durch die Deutschland groß geworden ist, die beiden Tätigkeiten, die wir kennen und besitzen, zusammenbinden und miteinander vermählen, nämlich Soldatentum und Beamtentum. Ich weiß sehr wohl, daß man eine Geheime Staatspolizei nicht nur aus Soldaten aufbauen kann. Ich weiß aber ebensosehr, daß es unmöglich ist, sie nur auf der beamtlichen Grundlage aufzubauen. Die Bekämpfung krimineller Verbrechen erfordert keine weltanschauliche Einstellung und keine soldatische Haltung. Die Bekämpfung eines politischen Gegners, der nach einem nicht einjährigen, sondern hundertjährigen Plan taktiert und heute als Gelehrter mit einer wissenschaftlichen Theorie zur Zersetzung des Staatsrechts, morgen als Partisane, übermorgen als Spion, am nächsten Tage als Anarchist, an einem anderen Tage durch die

Europäisierung

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Weltpresse, wieder an einem anderen Tage durch ein außenpolitisches Bündnis oder eine Mächtegruppierung auftritt, ist, soweit es die polizeiliche Seite betrifft, nur von einem soldatischen Korps, das alles Können eines Beamtentums hat, möglich. Nur ein solcher Apparat wird fähig sein, diesen fanatischen, überzeugten Gegner zu bekämpfen, der ebenso fanatisch und ebenso überzeugt von der Weltanschauung unseres Staates ist. Eide allein genügen dafür nicht... ."147 Bemerkenswert ist hier die Verschränkung zweier Berufsfelder, die die Angehörigen der Geheimen Staatspolizei für ihre Aufgaben im besonderen Maße qualifizieren sollen. Es ist die Kombination von Soldaten- und Beamtentum und es ist der Kampf, den es gilt aufzunehmen und zu bestehen. Wobei einfachere moralische Verpflichtungen (z.B. Eidesleistungen) offensichtlich nicht ausreichen. Soldatentum wie auch das Beamtentum stellen sich als Konzeptionen dar, deren Mitglieder sich über die exklusive Zugehörigkeit definieren. Dadurch wird den Mitgliedern dieser Berufsfelder die Wahrnehmung von »Nichtdazugehörigen« ganz entscheidend erleichtert. Soldaten- und Beamtentum sind Figurationen, die intern auch das Aufeinanderangewiesensein im besonderen Maße betonen, die Mitglieder werden stets zum gruppenloyalen Verhalten verpflichtet und die Leitungen erwarten kontinuierlich auch affektive Zustimmungen. In einer solchen Lebenswelt wird dann auch »Kampf« möglich, besonders dann, wenn mehr oder weniger erfolgreich eine Bedrohung suggeriert werden kann. In diesem Sinne sind Soldaten leidenschaftsvoll, denn sie sind als Mitglieder an ihre Organisation kognitiv, affektiv und psycho-motorisch gebunden. Quasi als Gegenstück repräsentiert sich das Beamtentum, indem zwar auch »Pflicht« und »Pflichterfüllung« das Verhalten dominiert. Allerdings gelten Beamte als weniger leidenschaftsvoll in ihrer Aufgabenerledigung. Beamte haben es in der Regel erfolgreich gelernt, nach unpersönlichen Anweisungen zu handeln. Sie sind Normen verpflichtet und regeln Sachverhalte nach ihrer subjektiven Ethik, die im Selbstbild rational und objektiv ist.

3.4

Europäisierung

In diesem Abschnitt wird die Dynamik des europäischen Entwicklungsprozesses im Überblick skizziert und es werden die Konsequenzen dieser Entwicklungsdynamik für das Erleben der geheimpolizeilichen Arbeitswelt aufgezeigt. Im vorstehenden Abschnitt ist die Organisation des Auslandsagenteneinsatzes bereits erläutert worden. Den Anlaß für den Überfall der Deutschen Armee auf Polen im Jahr 1939 lieferte und initiierte die Geheime Staatspolizei mit einen Überfall auf den »Sender Gleiwitz« an der polnischen Grenze. 148 Für diesen Anlaß wurde "ein Dutzend Männer" aus einem Konzentrationslager geholt und durch Angehörige der Geheimen Staatspolizei mit Giftspritzen getötet. Den Getöteten sind Uniformen des deutschen Grenzdienstes und der polnischen Armee angezogen worden, um so für die Öffentlichkeit einen polnischen Überfall auf den deutschen Sender darzustellen. Unter dem Tarnbegriff »Unternehmen Tannenberg« 149 w u r d e der deutsche Überfall auf Polen durch den Generalstab der deutschen Wehrmacht geplant. Hierfür wurden fünf

Entwicklungsdynamik der geheimpolizeilichen Arbeits- und Lebenswelt

64

Armeen vorgesehen, jeder Armee ist eine »Einsatzgruppe« zugeordnet worden. Darüber hinaus wurde auf direkten Befehl Himmlers eine »Einsatzgruppe z.b.V.« (zur besonderen Verwendung) gegründet, die aus Angehörigen der Sicherheitspolizei bestand und vom SS-Obergruppenführer von Woyrsch als »Sonderbefehlshaber der Polizei« geführt w u r d e . 150 D i Einsatzgruppen hatten in Polen - im Rücken der deutschen Armee - die Aufgabe, "idle reichs- und deutschfeindlichen Elemente in Feindesland rückwärts der fechtenden Truppe" zu bekämpfen. Diese Aufgabe bekamen die »Einsatzgruppen« nach Abstimmung mit dem Oberkommando des Heeres. Faktisch bedeutete diese bürokratische Formulierung die Tötung von Menschen, die nach monopolistischer Definitionsmacht der Angehörigen der »Einsatzgruppen« in Polen als reichs- oder deutschfeindlich galten. In diesem Zusammenhang ist auch der sogenannte Kommissarsbefehl zu erwähnen, der Auftrag zur systematischen Ermordung von Funktionären der Kommunistischen Partei sowie von Angehörigen der polnischen Intelligenz. Die Tötungen durch Gestapo-Angehörige in der Organisationsform der »Einsatzgruppen« dokumentiert die erste Stufe zur europäischen Ausdehnung der deutschen Geheimen Staatspolizei. Darüber hinaus sind eine Vielzahl von Gestapo-Dienststellen und Vernichtungslager in Polen eingerichtet worden. Durch deutsche Tötungen und Vertreibungen reduzierte sich der Anteil der jüdischen Bevölkerung in Polen in den Jahren 1939 bis 1945 von 3.350.000 auf 50.000. 152 Im Frühjahr 1940 okkupierte die deutsche Armee Norwegen. 153 Josef Terboven 154 wurde am 24.4.1940 als Reichskommissar mit Zuständigkeiten für alle deutschen Dienststellen in Norwegen eingesetzt. 155 Nach einer Anweisung der deutschen Sicherheitspolizei erließ der norwegische Polizeiminister Jonas Lie am 10. Januar 1942 die Weisung, die Ausweise der bereits registrierten norwegischen Juden mit einem »J« zu versehen. Zu ersten Verhaftungen und Deportationen von Juden in Norwegen kam es am 23. Oktober 1943 durch die norwegische Geheimpolizei unter Leitung von Karl Marthinsen. Unterstützt wurden die Verhaftungen und Deportationen von der Osloer Polizei und Angehörigen der norwegischen "Germanse SS-Norge." Die 532 verhafteten Juden wurden per Schiff nach Stettin und am 1. Dezember 1942 zum Vernichtungslager Auschwitz transportiert. Das Reichssicherheitshauptamt in Berlin steuerte die Deportationen fernschriftlich über die Gestapoleitstellen in Oslo und Stettin. Der Anteil der jüdischen Bevölkerung reduzierte sich in Norwegen in den Jahren 1939 bis 1945 durch Vertreibungen, Tötungen und Deportationen um 50 % (d.h. von 2.000 im Jahr 1939 auf 1.000 im Jahr 1945).156 Zeitgleich mit der norwegischen Okkupation erfolgte die Besetzung Dänemarks. Der ehemalige hessische Landespolizeipräsident und spätere Leiter der Rechtsabteilung der Geheimen Staatspolizei, Dr. Werner Best,157 wurde im November 1942 »Bevollmächtigter« für Dänemark. Am 18. September 1943 wurde die Deportation der dänischen Juden angeordnet. Dr. Best sah sich allerdings nicht in der Lage, die Deportationen mit eigenem Personal zu realisieren. Er forderte daher aus Berlin "Polizei, Soldaten und Schiffe" 158 an. Die deutsche Polizei traf in Dänemark in ungenügender Stärke ein und "während der ganzen Nacht [vom 1. zum 2. Oktober 1943, Anm. H.J. H.] gingen deutsche Polizeibeamte ausgerüstet mit Adressenlisten, von Tür zu Tür, um Juden festzunehe

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Später wurden 477 verhaftete Juden in das Lager Theresienstadt deportiert. In den Jahren von 1939 bis 1945 wurden ca. 1.000 dänische Juden durch die Deutschen deportiert bzw. g e t ö t e t . 160 men."159

Unter der Codebezeichnung »Fall Gelb« wurde der deutsche Überfall auf die Niederlande vorbereitet und am 10. Mai 1940 überschritten die ersten deutschen Soldaten die niederländische Grenze. Im Jahre 1939 wohnten 140.000 Juden in den Niederlanden, davon 60% in Amsterdam. Nach Hilberg ist der Ausrottungsprozeß der Juden in den Niederlanden hinsichtlich Rücksichtslosigkeit und Brutalität, nur mit dem im deutschen Reich zu vergleichen. Klaus Barbie, später Leiter der Geheimen Staatspolizei in Lyon, war 1940 Angehöriger der Abt. VI im RSHA (Nachrichtendienst) und folgte der deutschen Armee unmittelbar nach Holland. 161 Barbie wurde dem SD-Chef in Den Haag unterstellt und wenig später der »Zentralstelle für jüdische Auswanderung« in Amsterdam zugeteilt. Im Oktober 1940 wurden in den Niederlanden die ersten diskriminierenden Maßnahmen gegen Juden verfügt. Ab Weihnachten 1940 veränderten sich diese Maßnahmen in Form einer systematischen physischen Gewaltanwendung gegenüber Juden durch holländische Nationalsozialisten, die durch niederländische Kollaborateure unterstützt w u r d e n . 162 Tod eines SA-Mannes wurde am 12. Februar 1941 zum Anlaß genommen, das jüdische Viertel in Amsterdam abzuriegeln und ein über drei Wochen dauerndes Pogrom zu initiieren. Ein südlicher Stadtteil von Amsterdam ist am 19. Februar 1941 auf Veranlassung von Barbie abgesperrt worden. Hier sind 425 Juden verhaftet und in das Konzentrationslager Mauthausen transportiert worden. Später ließ Barbie über 300 jüdische Jugendliche in Amsterdam verhaften und in Konzentrationslager abtransportieren, wo sie durch Experimente in den Vergasungswagen getötet wurden. 163 Gegen Ende 1942 wurde die niederländische Polizei " g e z w u n g e n " , 164 a n der Ergreifung der Niederländischen Juden mitzuwirken. Auch zu diesem Zweck wurde die niederländische Polizei in ihrer Organisation verändert. 165 Einem Zwischenbericht des Höheren SS- und Polizeiführers beim Reichskommissar für die besetzten niederländischen Gebiete an Himmler, datiert vom 24. September 1942, ist zu entnehmen, daß "bis jetzt... mit den strafweise nach Mauthausen abgeschobenen Juden zusammen 20.000 Juden nach Auschwitz in Marsch gesetzt"166 wurden. Im Jahr 1945 lebten von 140.000 Juden (Stand: 1939) in den Niederlanden nur noch 20.000.167 1940 wurden in Luxemburg mit Hilfe der Geheimen Staatspolizei 335 jüdische Betriebe aufgelistet, davon wurden 75 Betriebe für "arisierenswert" befunden. Von 3.000 im Jahr 1939, lebten 1945 noch 1.000 Juden in L u x e m b u r g . 168 500 j u ( j e n wurden zunächst in das Lódzer Ghetto und später zur Tötung nach Kulmhof transportiert. 310 Luxemburger Juden wurden in der Zeit von 1942 bis 1944 nach Theresienstadt transportiert. Der Militärbefehlshaber in Belgien, von Falkenhausen, ordnete im Oktober 1941 eine Sperrstunde an und schränkte damit die Bewegungsfreiheit für Juden in den Städten ein. Im Juni wurde das Tragen des Judensterns angeordnet und Tausende von Juden wurden unter Mitwirkung der Geheimen Staatspolizei zur Zwangsarbeit bei der Organisation Todt verpflichtet. 169 Von der Abt. IV der Geheimen Staatspolizei arbeitete Obersturmführer Asche, Straub, Erdmann und Weidmann in Belgien. Bis zum 11. November 1942 wur-

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den aus Belgien 15.000 jüdische Manna-, Frauen und Kinder deportiert. Erst die weiteren Deportationen wurden von der belgischen Regierung mit Protestnoten kommentiert. Viele tausend Juden fanden Zuflucht in belgischen Institutionen und Wohnungen. Insgesamt wurden bis zum September 1944 25.000 Juden nach Auschwitz deportiert. Auch die Franzosen befanden sich seit dem 10. Mai 1940 mit Deutschland im Kriegszustand. Am 14. Juni rückten Truppen der deutschen 18. Armee in Paris ein. Im Gegensatz zur Okkupation Polen war das Oberkommando der Wehrmacht bei der Besetzung Frankreichs nicht an einer Begleitung von SS und Gestapo interessiert. Daraufhin verkleideten sich Angehörige der Geheimen Staatspolizei mit Uniformen der militärischen Geheimen Feldpolizei und waren so beim Einmarsch in Frankreich dennoch präsent. Seit 1935 hatte der nationalsozialistische Sicherheitsdienst und die Geheime Staatspolizei über ihre französischen Agenten systematisch Informationen über Frankreich und besonders über Paris gesammelt. In Berlin sind "riesige Dokumentationen" über die französische Verwaltung, über kulturelle, kirchliche, künstlerische, wirtschaftliche und politische Organisationen entstanden. So war die Geheime Staatspolizei über die "regionalen Gebräuche, über das Verhalten der Einwohner, ja über das Privatleben der wichtigsten Persönlichkeiten auf dem laufenden" 171; faktisch bewegte sich die Geheime Staatspolizei auf vertrautem Boden. Die Angehörigen der Geheimen Staatspolizei wurden in Paris von SSStandartenführer und Befehlshaber der Sicherheitspolizei, Dr. phil. Helmuth Knochen, geführt und eingesetzt. 172 Die deutsche Militärverwaltung konnte bis März 1942 erfolgreich die Ansprüche der Sicherheitspolizei auf Autonomie zurückdrängen; erst seit April 1942 erreichte die Sicherheitspolizei ihre verwaltungsmäßige Unabhängigkeit in den besetzten französischen Gebieten. 173 Die Geheime Staatspolizei traf in Frankreich auf die größte jüdische Gemeinde im westlichen Länderabschnitt; in Frankreich lebten 270.000 Juden, davon 200.000 in Paris. Bis März 1942 konnte Adolf Eichmann für die Deportationen keine »Transportkapazitäten« zur Verfügung stellen, die französischen Juden wurden zunächst im Land interniert. 174 So begannen die systematischen Deportationen erst im Frühjahr 1942. Der erste Zug in Richtung Auschwitz verließ Frankreich am 27. März 1942. Am 5. Mai 1942 besucht Heydrich Paris und führte mit dem französischen Polizeipräsidenten, Bousquet, Verhandlungen über die Deportationen der internierten Juden im besetzten Teil Frankreichs. In diesem Zusammenhang regte Bousquet an, die Juden aus dem unbesetzten Teil doch auch zu deportieren. 175 Heydrich stimmte dem zu, denn "es sei alles nur eine Frage der Transportkapazität." 176 Bis zum 2. September 1942 wurden nach einer Aufstellung des Untersturmführers Ahnert, 18.000 Juden aus den besetzten und 9.000 Juden aus den unbesetzten Gebieten Frankreichs deportiert Lyon gehörte zum unbesetzten Frankreich; hier war seit Dezember 1942 Klaus Barbie als Leiter der Geheimen Staatspolizei eingesetzt gewesen. Aufgrund seiner Methoden ist Barbie als "Schlächter von Lyon" bekannt worden. In den Jahren der deutschen Besetzung in Frankreich wurden 70.000 Juden aus Frankreich vertrieben bzw. deportiert und ermordet. In diesem Zusammenhang ist auch die SS-Division »Das Reich« in Oradour-sur-Glane zu erwähnen. Am 10. Juni 1944 ermordete diese Division unter Mitwirkung des Polizeibeamten Heinz Barth die gesamte Bevölkerung des Ortes. 177

Europäisierung

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Insgesamt sind 29.600 Zivilisten während der deutschen Besetzung Frankreichs von der Wehrmacht und SS, der Gestapo und dem Sicherheitsdienst ermordet worden. Italien war ein mit Deutschland verbündetes Land. Hilberg stellt fest, daß die "ersten italienischen Judenverordnungen ... ihrem Erscheinungsbild nach nicht minder durchgreifend [ waren] als irgendeine von den Deutschen ersonnene Maßnahme, doch die Italienische Regierung versäumte es, ihre eigenen Verordnungen zu befolgen und überhaupt erst in Kraft treten zu lassen." 178 ] n italien lebten ca. 50.000 Juden, davon waren 37.100 italienische Staatsbürger und 10.000 hatten eine ausländische Staatsbürgerschaft. Sie stellten damit ca. ein Prozent der italienischen Bevölkerung dar. 179 Die deutsche Geheime Staatspolizei hatte ab 1938 zwei Hauptquartiere in Italien und ihr Enfluß auf Organisation und Aufgaben der italienischen Polizei stieg kontinuierlich an: "It is uncertain whether the German infiltration into the sphere an offices of the Italian police was the outcome of a demand Mussolini, or whether it was imposed on the Italian Government by the Nazi leaders. The fact remains that the Gestapo penetrated to the very roots of the Fascists police organization, attempting to reorganize it on the German model. Very probably the growing Gestapo influence in Italy made itself felt in the unexpected and sudden change in the Fascits policy towards the Jews. Himmler looked with satisfaction at the expulsion order of the Italian Government of March 1939 barring all foreign Jews from Italy. As the Gestapo interference in Italy grew, the Italian Political Police lost ground until it ceased to exist as an independent organ for the defence of the state." 1 80 Bis zum Sturz Mussolinis - am 25. Juli 1943 - akzeptierte die italienische Regierung dennoch kaum Vorschriften hinsichtlich Stigmatisierung, Diskriminierung, Vertreibung und Internierung der Juden von der in Italien anwesenden deutschen Geheimen Staatspolizei. Die italienische Haltung gegen über den Juden war paradox: "Italian Jews could be arrested for no apparent cause in their own country, while their government did everything in its power to protect them in German-occupied areas. ... Nothing demonstrates the paradox more clearly than the exceptional measures of the Italian army, Foreign Ministry, and entire diplomatic corps to protect all Jews in Italian-occupied territories. Italy occupied much of Greece in 1941, part of Croatia at about the same time, and eight departments in southern France in November 1942. In all areas, military and diplomatic personnel, often without instructions or coordination, acted similarly. They resorted to every imaginable scheme and subterfuge to resist repeated German demands for the deportation of Jews. They ignored Mussolini's directives, occasionally with his tacit consent. They neglected to pass on instructions, made orders deliberately vague and imprecise, invented absurd bureaucratic excuses, lied, and totally misled the Germans." 181 Diese relative Stärke der Regierung Mussolini bei der Durchsetzung der Nichtverfolgung von Juden wurde erst deutlich, als sie gestürzt wurde. Noch bevor eine Nachfolgeregierung im September 1943 in Italien durch die Deutschen eingesetzt wurde, wies das RSHA alle in- und ausländischen Dienststellen fernschriftlich an, daß Juden verschiedener Nationalitäten sofort in Deportationsmaßnahmen einzubeziehen seien und Italien führte diese Liste an. 182 i m Rahmen einer vorbereiteten Verhaftungsaktion wurden in Rom in der Nacht vom 15. auf den 16. Oktober 1943 von verschiedenen

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deutschen Polizeiregimentern 1.259 Juden verhaftet, davon wurden am 18. Oktober 1943 tausend nach Auschwitz deportiert. Insgesamt wurden aus Italien 7.500 Juden deportiert und weniger als 800 kehrten zurück. Auch in der Slowakei, in Kroatien, Bulgarien, Rumänien und Ungarn hatten Angehörige der deutschen Geheimen Staatspolizei ihre Büros eingerichtet. In Kroatien und der Slowakei konnte die Geheime Staatspolizei nur bedingt ihre Vorhaben realisieren. Die Regierungen dieser beiden Staaten erfanden Instrumente zum Schutz von Juden, wie z.B. »Schutzbriefe« und »Ehrenarier« und verhinderten dadurch Deportationen. Auf Widerstände stieß die Geheime Staatspolizei auch in den anderen Balkanstaaten. Hier betrachtete man die Juden als "politisches Faustpfand", d.h. man machte die Initiierung und Durchführung von "antijüdischen Maßnahmen" von vorteilhaften politischen Zusagen durch die Deutschen abhängig. Der Handlungsrahmen der Geheimen Staatspolizei war durch diesen politischen Bedingungsrahmen entsprechend begrenzt. In den Jahren von 1939 bis 1945 wurden dennoch 3.000 Juden aus Bulgarien deportiert bzw. getötet. Die folgenden Zahlen über Tötungen und Deportationen sprechen für sich und dokumentieren trotz der genannten einschränkenden Rahmenbedingungen den Einfluß der Gestapo in diesen Ländern - trotz Widerstände und Vorbehalte - zum Ausdruck: Rumänien 350.000, Tschechoslowakei 271.000, Jugoslawien 63.000. Die in Nordost-Griechenland lebenden 5.000 - 6.000 Juden wurden territorial von Bulgarien einverleibt und der Rest des griechischen Territoriums wurde in eine deutsche und italienische Zone aufgeteilt. So lebten 13.000 Juden in der italienischen und ca. 55.000 Juden in der deutschen Zone. Nach der Einführung eines Zwangsarbeitssystems für Juden in der deutschen Zone, wanderten viele Betroffene in die italienische Zone aus. Trotz deutscher Aufforderung, stoppten die Italiener nicht den Flüchtlingsstrom. Die Deportationen mußten demzufolge auf die deutsch-griechische Zone beschränkt bleiben. Ab 1943 wurden die Deportationen durch die RSHA-Angehörigen Hauptsturmführer Wisliceny, Alois Brunner und dem Leiter der Sicherheitspolizei, Kriminalkommissar Paschleben, von Saloniki aus beginnend, organisiert. 183 Der Erfassungs- und Deportationsprozeß wurde innerhalb weniger Monate mit den üblichen und aus der Sicht der Gestapo »bewährten« Verfahren realisiert Nach der Ausgabe von Judensternen durch die jüdische Gemeinde wurden die Juden von Saloniki gezwungen, in ein Ghetto unter Beachtung verschiedener Auflagen umzuziehen: Es war verboten, das Ghetto zu verlassen, verboten war auch die Benutzung der Straßenbahnen sowie die Nutzung öffentlicher Telefone und private Telefone wurden durch die griechische Post abgeklemmt. Insgesamt wurden aus Griechenland, Albanien und Rhodos mehr als 60.000 Juden deportiert, davon wurden in den deutschen Vernichtungslagern 48.000 ermordet. Die Politische Polizei in Ungarn "was led by a number of relatively moderate individ u a l s " ^ ; was allerdings nur für die Zeit vor der deutschen Okkupation galt. Die Angehörigen der ungarischen Politischen Polizei sahen ihre Aufgaben eher im Schutz der ungarischen Aristokratie und arbeiteten an einer Informationssammlung über links- und rechtsextremistische Parteien in Ungarn. Dieses Verständnis und der Aufgabenbezug veränderte sich nach der deutschen Besetzung schlagartig. "After the German occupation, the functions of some of these units in the Ministry of the Interior underwent a radical

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change; they were reoriented towards the solution of the Jewish q u e s t i o n . "185 Die Leitung der Sektion Vll/b (Abteilung für Öffentliche Sicherheit im ungarischen Innenministerium) wurde von Péter Hain wahrgenommen. Hain hatte in einem benachbarten Departement vor dieser Zeit u.a. als Leibwächter für das ungarische Staatsoberhaupt, Admiral Horthy, gearbeitet und ihn auf vielen Reisen - auch nach Deutschland - begleitet. Aus dieser Zeit stammen seine Verbindungen zur deutschen Geheimen Staatspolizei: "It was in this capacity that Hain accompained Horthy on his many trips abroad and became the Governor's official counselor in 1939. While in Kiel, Germany in 1938, Hain met General Hubert of the Vienna Gestapo, "whom he thereafter regulary informed of political events in Hungary." It was a reward for his long and faithful services to the Gestapo that the Germans entrusted him with the Department's reorganization."^ Di ungarische Politische Polizei wurde unter Hain in "State Security Police (Àllambiztonsâgi Rendészet)" umbenannt, organisatorisch aus dem Innenministerium ausgegliedert und dem Staatssekretär Blaky direkt unterstellt. Das Hauptquartier wurde von Budapest nach Svábhegy verlagert, wo bereits die deutsche Geheime Staatspolizei und das Eichmann-Sonderkommando ihre Dienststellen hatten. e

Ungarn war das einzige Land, das bis März 1944 von Deportationen verschont blieb; bis zu diesem Zeitpunkt hatten 750.000 Juden in Ungarn ü b e r l e b t . D i e ersten antijüdischen Maßnahmen gab es in Ungarn allerdings seit 1941. Es wurden sog. Ost-Juden aus der Karpartenukraine deportiert und jugoslawische Juden in Novi Sad erschossen. Seit 1939 gab es in Ungarn "pro-deutsche" Ministerpräsidenten dj e die Einrichtung von Polizei und SS-Dienststellen im Land zuließen. Aufgrund einer Vielzahl von deutschen polizeilichen Dienststellen in Ungarn, mußte am 19. März 1944 ein Höherer SS- und Polizeiführer (Dr. Otto Winkelmann) ernannt werden. Hilberg weist darauf hin, daß die Deportationen in allen europäischen Ländern mehr oder weniger geheim verliefen, zumindest ist der Ausschluß der Öffentlichkeit in der Vorbereitungsphase geplant und aufgrund der Deportationen zur Nachtzeit auch bei der Realisierung versucht worden. Die ungarischen Massendeportationen wurden dagegen in aller Öffentlichkeit - "vor den Augen der ganzen Welt" - von der deutschen Geheimen Staatspolizei mit Unterstützung der ungarischen Staatssicherheitspolizei vorgenommen. Nach der aus anderen Ländern bekannten und von der Geheimen Staatspolizei durchgesetzten Pflicht zum Tragen eines »Judensterns«, wurden die ungarischen Juden ab April 1944 in fünf Zonen »konzentriert« und dann deportiert. Bereits im Juli 1944 waren die Deportationen von 437.402 Juden u.a. in Vernichtungslager beendet worden. Eichmann kümmerte sich persönlich um die Organisation der Deportationen der ungarischen Juden. Den Abschluß der Deportationen in Ungarn bildeten die Todesmärsche; auch hier wurde die deutsche Geheime Staatspolizei von der ungarischen Polizei kooperativ unterstützt: "Eichmann hatte keine Ruhe, solange auch nur ein einziger ungarischer Jude am Leben war.... Am Morgen des 20. Oktober klopfte die ungarische Polizei an die mit einem Stern gezeichneten Türen und nahm alle arbeitsfähigen Männer ... zwischen 16 und 60 Jahren fest. ...In den folgenden Tagen wurden die Festnahmen auf Frauen zwischen 16 und 40 Jahren ausgedehnt, und bis zum 26. Oktober war das Zwangsarbeiterkontingent auf 25.000 Männer und 10.000 Frauen angewachsen. Ende

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des Monats wurden die Trecks in Marsch gesetzt. Ohne Verpflegung schleppten sich die Arbeitssklaven bei Schnee, Regen und Hagel mehr als 150 km weit zur österreichischen G r e n z e . " 1 8 9 D j e Todesmärsche zum Arbeitseinsatz in Richtung Österreich wurden bis zum 4. Mai 1945 fortgesetzt, zu dieser Zeit erreichten die Amerikaner die Stadt Gunskirchen. Die Überlebenden dieser Märsche glichen nach Augenzeugenberichten "lebenden Skeletten". Dienststellen der deutschen Geheimen Staatspolizei befanden sich auch in Estland, Lettland und Litauen sowie in vielen Städten der UdSSR. Hilberg gibt den Rückgang der jüdischen Bevölkerung mit folgenden Zahlen an: 1939 lebten in dem Gebiet der UdSSR einschl. der Baltenstaaten 3.264.500 Juden und im Jahr 1945 waren es nur noch 2,5 Millionen. Unter dem Aspekt der Europäisierung der Geheimen Staatspolizei sind folgende Konsequenzen für das Erleben der geheimpolizeilichen Praxis bedeutsam: Erstens: Die Geheime Staatspolizei als Organisation hat im Zusammenhang mit der Europäisierung einen Autonomieschub gegenüber anderen Staatsinstitutionen (z.B. des Auswärtigen Amtes und des Militärs) erfahren. Während die Agenten und Agentinnen der Geheimen Staatspolizei vor 1939 die jeweiligen Einrichtungen und Liegenschaften des Auswärtigen Amtes im wesentlichen für ihre Logistik und Kommunikation nutzte, war sie auf diese zunehmend weniger angewiesen. In den europäischen Hauptstädten und sonstigen strategisch wichtigen Orten beschlagnahmte die Geheime Staatspolizei für sich eigene Objekte und wurde vom Auswärtigen Amt relativ unabhängig. Zweitens: Für die Angehörigen der Geheimen Staatspolizei, die sich im Rahmen ihrer Berufsverwendung auf eine lokale oder regionale Polizeipraxis einstellten, bedeutete die Europäisierung zunächst die Chance, europaweit einen Arbeitsplatz zugewiesen zu bekommen. Dieses bedeutete für die Gestapo-Angehörigen einen Prestigezuwachs z.B. gegenüber den Angehörigen des Auswärtigen Amtes; nur diesen waren bislang langfristige Arbeitsaufenthalte im Ausland vorbehalten. Der Informationsfundus in der RSHA-Zentrale potenzierte sich. Die geheimpolizeiliche Informationssammlung beschränkte sich nicht nur aus nationale Karteien und Dossiers, sondern sie bekamen zunehmend paneuropäische Dimensionen. Die unten noch dargestellten geheimpolizeilichen Omnipotenzphantasien haben hier eine ihrer empirischen Grundlagen. Drittens: Der Europäisierungsprozeß der Geheimen Staatspolizei ist auch die Konfrontation mit vielfältigen Formen des Widerstandes gewesen. Geheimpolizeiliche Strategien zur Begegnung dieses Widerstandes waren einerseits die Nutzung des jeweiligen Informationsfundus der lokalen Polizeibehörden sowie andererseits die Aufforderung an lokale, regionale und nationale Polizeieinrichtungen, sich zur Zusammenarbeit mit der deutschen Geheimen Staatspolizei zu entschließen. Dieser Aufforderung zur Kooperation bzw. Kollaboration kamen in unterschiedlicher Ausprägung alle Polizeien nach.

Anmerkungen

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Anmerkungen

1 vgl. hierzu die internationale Bibliographie zu Kriegsverbrechen von Tutorow 1986, p. 243 pp.; vgl. auch Snyder 1976, p. 114/115 2 Buchheim 1965, S. 98 3 vgl. Kehr and Langmaid 1982, p. 258 pp. 4 vgl. Haug 1986 5 Best 1937, S. 132 - 138; hier: S. 136 6 vgl. Buchheim 1964, S. 33. Die Untersuchung von Graf (1983) hat die Entwicklung innerhalb der Preußischen Politischen Polizei in Berlin zum Schwerpunkt, während die Untersuchung von Aronson (1971) die Entwicklung innerhalb des Landes Bayern betont. 7 vgl. Graf 1983, S. 319; Hermann Göring hatte den damals 30-jährigen Oberregierungsrat bereits am 1. Februar 1933 von seinen eigentlichen Aufgaben im Preußischen Innenministerium entbunden und ihn mit dem staatspolizeilichen »Erfassen« von Kommunisten und Sozialdemokraten beauftragt; vgl. Schattenfroh und Tuchel 1987, S. 67 8 vgl. Graf 1983, S. 414, Dokument 12 9 vgl. Preuß. Gesetzsammlung 1933, Nr. 29, ausgegeben am 27.4.33; als Abdruck in: Diamant 1988, S. 352 und Ministerialblatt für die Innere Verwaltung 1933, S. 503 - 510; als Abdruck in: ders., S. 353/354 das Weisungsrecht läßt sich explizit weder im Gesetzestext noch in den Ausfuhrungsbestimmungen finden. Graf datiert das Weisungsrecht auf den 26. Juni 1933. Er stützt sich dabei auf ein Schreiben von Diels an Daluege (Chef der Ordnungspolizei), worin Diels ausdrücklich eine allgemeine Weisungsbefugnis der Zentralbehörde der Politischen Polizei gegenüber allen Landes-, Kreis- und Ortspolizeibehörden beansprucht; vgl. Graf 1983, S. 138. 11 der Geschäftsverteilungsplan vom 19. Juni 1933 ist als Dokument Nr. 12a bei Graf 1983, S. 415/416 zu finden 12 vgl. Graf 1983, S. 418 - 423, Dokumente 13, 14 und 15 Graf interpretiert diesen Vorgang als das Schaffen eines "Gegengewicht(es) zu Himmler und der SS", da dieser zwischenzeitlich in allen Ländern als »Inspekteur der Politischen Polizei« fungiate und entsprechend seinen Einfluß auf die Landespolizeibehörden gesichert hatte; vgl. ders., S. 145 vgl. ders., S. 140 - 142; nach Graf waren die Umstände dieser Flucht mit Stand 1983 nicht vollständig geklärt. Es gibt viele Erklärungen von unterschiedlichen Stellen und Personen zu diesem Sachverhalt, wobei besonders das eher gegnerische Verhältnis von Diels zur SS betont wird. Diels selbst erklärt in seiner Rechtfertigungsschrift, daß er in Karlsbad gewesen sei; vgl. Diels 1950, S. 335 nach Graf erfolgte die Ernennung zum Vizepolizeipräsidenten im wesentlichen aus versorgungsrechtlichen Gründen, vgl. ders., S. 141 16 vgl. Schattenfroh und Tuchel 1987, S. 71 vgl. Diels 1950, S. 168; nach der Bewertung durch Tuchel und Schattenfroh sind diese Zahlen jedoch zu niedrig gegriffen, vgl. dies., S. 71 zur Organisationsgeschichte des SD, vgl. Browder, in: VierteljahrsheftefiirZeitgeschichte, 27. Jg. 1979, S. 299 - 324 19 vgl. Schattenfroh und Tuchel 1987, S. 98 20 vgl. dies., S. 80 21 die ersten Konzentrationslager wurden beieits in den Jahren 1933 und 1934 errichtet, vgl. hierzu eine Aufstellung der Konzentrationslager in Preußen bei Schattenfroh und Tuchel 1987, S. 113 22 vgl. dies., S. 91 23 Buchheim 1964, S. 55 24 ders., S. 56 - 58; die Umorganisation von anderen ordnungspolizeilichen Dienststellen wird beschrieben bei Neufeldt et al 1957 25 vgl. Schattenfroh und Tuchel 1987, S. 103; die Autoren stellen fest, daß eine Organisationsund Strukturgeschichte des RSHA nicht vorliegt, Zuständigkeiten und Aufgabenfelder können daher nicht genau eingegrenzt werden. Wesentlich ist die Tatsache, daß die SS jetzt staatlich

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legitimiert wurde und hoheitliche Aufgaben erfüllen konnte. vgl. Rürup 1987, S. 109 ff. 27 vgl. die Kurzbiographie bei Stockhorst 1967, S. 56; Best war von 1942 - 1945 Reichsbevollmächtigter in Dänemark. Ergänzend dazu, Wistrich 1983, S. 21/22; Best wurde 1948 in Dänemark zum Tode verurteilt, später zu fünf Jahren Haft begnadigt und 1951 aus der Haft entlassen und arbeitete als Rechtsberater im Stinneskonzem in der Bundesrepublik; vgl. auch die biographische Studie von Herbert 1991 Alfred Six wurde 1906 in Mannheim geboren, Jurist, seit 1938 ordentlicher Prof. an der Universität Königsberg: ab 1939 auch an der Universität Berlin, 1941 Leiter der Einsatzgruppe Β (Tötungen in der Sowjetunion), 1948 wg. Kriegsverbrechen zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt und 1952 aus der Haft entlassen, vgl. Stockhorst 1967, S. 365; bei Wistrich 1983 keine Angaben, bei Stockhoret 1967 keine Angaben; Ohlendorf wurde in Hoheneggelsen bei Hildesheim geboren; er studierte Jura und Wirtschaftswissenschaften in Göttingen und Leipzig. 1941 Chef der Einsatzgruppe D (Süd-Ukraine) und verantwortlich für die Tötung von mindestens 90.000 Menschen. Im April 1948 wurde er in Nürnberg zum Tode durch den Strang verurteilt; vgl. Wistrich 1983, S. 200/201 zur Person von Nebe keine Angaben bei Stockhorst 1967; nach Angaben bei Wistrich 1983, S. 195: gelernter Kriminalbeamter, Verfasser eines kriminalistischen Standardwerkes. 1935 Chef des Preuß. Landeskriminalamtes, seit 1937 Chef des Reichskriminalamtes. Leiter der Einsatzgruppe Β von Juni bis November 1941. Seine Einsatzgruppe ermordete in dieser Zeit nachweislich 45.467 Menschen. Nebe war beteiligt an der Erfindung der Gaskammerwagen und arbeitete angeblich mit dem Widerstandskreis um Oberst Oster zusammen. Er wurde am 16. Januar 1945 verhaftet und am 2. März 1945 vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt; am 21. März in Berlin hingerichtet. 3 ' Angaben zur Person weder bei Stockhorst 1967 noch bei Wistrich 1983 32 vgl. Schriftstück von Heydrich (Aktenzeichen I V 1 Nr. 720 II / 39 -151) vom 14.12.1939 als Abdruck bei Schattenfroh und Tuchel 1987, S. 105 33 vgl. dies., S. 106; hier keine vollständige Darstellung aller Referate der Geheimen Staatspolizei 34 vgl. die Verordnung der Geheimen Staatspolizei der Staatspolizeileitstelle Düsseldorf v. 07.09. 1939 (Aktenzeichen: - Der Leiter - g - 505/39g), aus: Abelshauser et al 1985, S. 428 - 429 u.H.a. HStA Düsseldorf, RW 36 - 38, Bl. 13 35 2u den einzelnen Personen und der Praxis der sog. Einsatzgruppen bzw. der HSSPF vgl. Birn 1986 und Buchheim, in: Vierteljahrshefte zur Zeitgeschichte, 11. Jg., Stuttgart 1963, S. 362 - 391; vgl. auch Krausnick 1989 und Hilberg 1990 36 Aufstellung ist übernommen von Schattenfroh und Tuchel 1987, S. 107/108 37 vgl. dies., S. 108 "Erleichtert wurden diese Namensänderungen für die Angehörige der Gestapo, denen man von ihrer Behörde im Frühjahr 1945 in großer Zahl falsche Personalausweise ausgestellt wurden, so daß sie untertauchen oder auch ins Ausland flüchten konnten."; vgl. Oppitz 1976, S. 58 u.H.a. Schüle, in: Vierteljahrshefte Kr Zeitgeschichte, 9/1961, S. 440 ff. 39 Eichmann (ohne Ortsangabe und Erscheinungsjahr) S. 414 ff, zit. nach: Schattenfroh und Tuchel 1987, S. 108 40 Fraenkel 1984, S. 21 41 vgl. Majer 1987 und Stange 1987; hier: Majer 1987, S. 77 42 ebd. 43 die offizielle Bezeichnung dieses Gesetzes lautet: »Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich« v. 24.3.1933, RGBl. I, 141; Majer weist nach, daß dieses Gesetz formell wie materiell illegal war und insbesondere Geist und Buchstaben der Weimarer Reichsverfassung widersprach 44 Black 1984, p. 176 45 Majer 1987, S. 77 46 dies., S. 93 47 ebd. ebd. 49 Majer 1987, S. 94 26

Anmerkungen

50 ebd. 51 ebd. 52 vgl. Kirchberg, in: Rebentisch und Teppe 1986, S. 141 - 152, hier: S. 144 5 3 Diese Rechtskategorien erlauben die Einteilung der Verwaltungsakte in solche, die endgültige Geltung haben (unanfechtbare) und in solche, die anfechtbar sind, d.h. der Verwaltungsgerichtsweg kann in Anspruch genommen werden. 54 PrOVGE 94, S. 134 f. zit. bei Kirchberg, aaO, S. 149 55 ders., S. 149/150; die im Zitat in Anführungszeichen gesetzten Wörter sind aus dem Text des genannten Urteils zitiert 56 Bedeutsam erscheint hier die Art da-juristischen Formulierung in dem Sinne, daß nicht definierte - unbestimmte - Rechtsbegriffe (wie z.B. mittelbare Gefahr, Verbreiten von Meinungen, Unzufriedenheit mit der neuen Ordnung der Dinge etc.) seitens des Gerichtes verwendet wurden. Die Auslegung dieser Begriffe wurde der Geheimen Staatspolizei überlassen und war somit der richterlichen (inhaltlichen/materiellen) Prüfung oder Kontrolle nicht zugänglich. 57 vgl. PrOVGE 96, S. 83, zit. bei Kirchberg, aaO, S. 151; bei diesem Urteil wurde die Geheime Staatspolizei als eine sog. Sonderpolizeibehörde angesehen, die in ihrem Handeln nicht den Bestimmungen des Preußischen Verwaltungsrechtes unterliegt 58 in Anführungszeichen gesetzte Wörter sind zit. aus dem Urteil v. 19.3.1936, PrOVGE 97, S. 103; zit. nach Kirchberg, aaO, S. 151 Es muli in diesem Zusammenhang noch einmal betont werden, daß diese Verfügungen auf polizeilicher Beurteilung und Wahrnehmung (juristisch als Bestandteil des »Ermessens« verstanden) von Situationen basierten. Solche Verfügungen beruhten auf subjektiven Wahrnehmungen/ Bewertungen und konnten unter dem Aspekt des verwaltungsgerichtlich zugestandenen extensiven Ermessenspielraums auch willkürlich sein. 60 vgl. Schmitt 1933, S. 17 61 vgl. hierzu Kirchberg, aaO, S. 142/143 62 Schweder 1937; im folgenden beziehe ich mich auf diese Schrift 63 ders., S. 187 Juristisch betrachtet, fallt auch hier die Anhäufung von Undefinierten Begriffen wie das »Staatsgefährliche« auf. Dadurch, daß die Begriffe nicht definiert werden, geben sie einen Interpretationsoder Auslegungsspielraum für die Definition einer Handlung als »staatsgefährliches Delikt« und folgend auch für die Auswahl der zur Abwehr anzuwendenen Mittel und Methoden. Die Definitionsmacht liegt hier bei derselben Institution, welche auch für die Bekämpfung der »Gefahr« zustandig ist, nämlich bei der Geheimen Staatspolizei. 65 vgl. Hilberg 1990, Bd. 2, S. 1026 66 Bramstedt 1945, p. 111 67 vgl. hierzu: Kraus und Kulka 1963; zuerst unter dem tschechischen Titel »NOCA MLHA « erschienen (oJ.) übersetzt für die deutsche Fassung von Hanna Tichy. Dieses Werk kennzeichnet die ökonomischen Zusammenhänge zwischen den Massenvemichtungen und den Profiten. Die dort dokumentierten Profite (S. 289 ff.) sind allerdings als Einnahmen des WVHA ausgewiesen; vgl. auch: Goldin, in: Present Tense, March-April 1988, p. 28 ff. 68 Dehilotte 1940, S. 11 69 Arendt 1986, S. 662 70 dies., S. 661 71 Bramstedt 1945, p. 112 72 vgl. Adler 1974, S. 491/492 und Hilberg 1990, Bd. 2, S. 1020 73 vgl. Adler 1974, S. 492/493 74 vgl. ders., S. 592 7 5 vgl. ders., S. 593 (Abdruck des Merkblattes der Vugesta) am 26. Feb. 1943 wendete sich der SS Brigadeführer Huber von der Geheimen Staatspolizei Wien an SS-Obergruppenführer Wolff, um für sich die "Übertragung von fünf Teppichen" zu beantragen, vgl. ders., S. 596 77 vgl. Jüdisches Museum Frankfurt am Main 1990, S. 21

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Entwicklungsdynamik der geheimpolizeilichen Arbeits- und Lebenswelt

vgl. ders., S. 157 Office of Military Government for Germany, United States, Finance Division - Financial Investigation Section (OMGUS) 1985 (nachfolgend OMGUS 1985) Office of Military Government for Germany, United States, Finance Division - Financial Investigation Section (OMGUS) 1986 (nachfolgend OMGUS 1986) 81 OMGUS 1985, S. 24 82 vgl. ders., S. 23 83 vgl. ders., 171 84 vgl. ebd. 85 vgl. hierzu Koch 1988 86 zur Kurzbiographie von Pohl vgl. Wistrich 1983, S. 208; Pohl war Mitglied des »Freundeskreises Himmler« 87 vgl. Hilberg 1990, Bd. 2, S. 1028 88 vgl. ders., S. 1017 89 im Rahmen dieser Untersuchung ist als veröffentlichte Literatur kein Werk bekannt geworden, welches eine vollständige Personalliste der Geheimen Staatspolizei zum Gegenstand hätte. Veröffentlicht sind unvollständige, teilweise umfangreichere Listen aufgrund von Archivarbeiten über die Gestapo Frankfurt (Diamant 1988), Leipzig (ders., 1990) und Berlin (Graf 1983). Personaldaten lassen sich u.a. im Β DC, in der Wehrmachtsauskunftsstelle in Berlin, im Bundesarchiv und in den Haupt- und Staatsarchiven der Länder erschließen; ein Uberblick über die Personalakten in den verschiendenen Archiven findet sich bei: Nachweis der im Bundesgebiet erfaBten Personalunterlagen von Polizei- und SS-Formationen, in: Der Archivar, Vol. 6 1953, S. 139 - 150; Sie unterliegen zum Teil aber noch den restriktiven Veröffentlichungsbestimmungen der Archive; vgl. dazu: Pereis, in: Frankfurter Rundschau vom 23.4.1992, S. 17; für strafrechtliche Ermittlungen im Zusammenhang mit Nazi-Verbrechen und Einsatzgruppen wurde als umfassendere Quelle die Wehrmachtsauskunftsstelle in Berlin genutzt; Mitteilung des KHK a.D. Bernhard D., im Interview am 1.8.91 in Leer [Tonbandprotokoll] die Angaben zur Ausbildung nach: Degener 1935, S. 508 zit. nach Delarue 1964, S. 40 u.H.a. Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof, Protokolle und Dokumente, 42 Bände, Nürnberg 1947 - 1949, 8.1.1946, S. 178, Dok. PS 2324 92 zit. nach Delarue 1964, S. 40/41 unter Hinweis auf die vorgenannte Quelle 93 vgl. auch Biographien über H. Göring von: Fraenkel u. Manvell 1964 sowie Overy 1986; die Verantwortlichkeit für die »Realisierung« relativiert sich, bei einem Vergleich der Organisationspläne der Politischen Polizei im Berliner Polizeipräsidium (Weimarer Republik) und dem ersten Geschäftsverteilungsplan der Geheimen Staatspolizei. 94 so der Untertitel seines Buches »Lucifer ante portas«; die folgenden biographischen Anmerkungen finden sich bei Graf 1983, S. 317 - 329, andere Quellen sind besonders gekennzeichnet 95 Graf stellt fest, daß sich "aktenmäßig" der Aufenthalt Diels im Oktober/November 1933 in der Tschechoslowakei nicht klären läßt (S. 140). Fest steht nur, daß Paul Hinkler für Diels zum Chef des Gestapa ernannt wurde. Vgl. auch Diels eigene Darstellungen, in: Diels 1950, S. 330 - 335 96 ders., S. 328 9 7 alle zur Biographie genannten Daten nach Graf 1983, S. 355 - 356; vgl. auch Degener 1935, S. 688 98 alle Daten nach: Degener 1935, S. 682/ 683 99 vgl. Schattenfroh und Tuchel 1987, S. 101 100 v g i die ausführliche Biographie über Heydrich von Aronson 1971, S. 9 - 66; hier: S. 35 101 vgl. auch die Heydrich-Biographie von Calie 1982 und die Bemerkungen von Brissaud 1975, S. 18 - 45 über die Tätigkeit Heydrichs als Chef des SD 102 Vgi Aronson 1971, S. 122; so wurden durch Heydrich auch die »Gegner-Kategorien« zum ersten Mal aufgestellt: A) Gesinnungsgegner, B) Rassengegner, C) Einzelpersonen, die mit "Tat oder durch Unterlassung gegen die soziale oder wirtschaftliche Neuordnung verstoßen hatten"; 79

Anmerkungen

ders., S. 123 103 vgl Shirer 1973; dort das Kapitel: » The death of Heydrich and the end of Lidice«, S. 991 -994; hier: S. 991 '04 Max Rostock wurde 1951 wegen seiner Verbrechen in Prag zum Tode verurteilt 105 vgl. Shirer 1973, S. 992 106 alle Daten und Bewertungen nach Wistrich 1983, S. 151/152; vgl. auch Stockhorst 1967, S. 225 107 Vgi a u c i) seine Studie zur Geheimen Staatspolizei Leipzig, Fftn. 1990 108 vgl. Diamant 1988, S. 307 - 344 109 vgl. Fangmann et al 1987; im folgenden beziehe ich mich auf diese Studie 110 vgl. Giordano 1990, S. 139 und 143 111 Fangmann et al 1987, S. 57 112 di e folgenden Daten sind der Studie von Mann 1987, hier: S. 147, entnommen I n d e r s . , S . 149- 151 u.H.a. auf den Geschäftsverteilungsplan der Geheimen Staatspolizei in Berlin vom 31. März 1934 ' vgl. Giordano 1990, S. 143; Bovensiepen wurde nach seiner Tätigkeit in Düsseldorf zur GestapoZentrale nach Berlin versetzt und organisierte die Deportation von 35.000 Juden aus Berlin. Bovensiepen "erkrankte rechtzeitig und wurde für verhandlungsunfähig erklärt." ' vgl. Mlynek, in: Historisches Museum Hannover 1981, S. 65 1 v g l . ders., S. 66 u.H.a. ein Schriftstück vom 10.5.1933 der Staatspolizeistelle Hannover Aktenzeichen I. 14/05/58 117 die Daten sind dem Aufsatz von Mlynek, aaO, S. 69 entnommen; bei Stockhorst 1967 ist »Philipsborn« nicht erwähnt 11® Werner Voß ist bei Stockhorst 1967 nicht erwähnt 119 vgl. Mlynek, aaO, S. 70 12° vgl. ders., S. 69 u.H.a. auf Akten im Β DC 121 vgl. Graf 1983, S. 392 - 398 122 Baxter 1943 123 ders., S. 18 124 Friends of democracy 1942, S. 26 125 Seehof 1935, S. 301 ff; im folgenden beziehe ich mich auf diese Veröffentlichung 126 vgl. Schwarz, in: Wobbe 1992, S. 197 - 227 127 vgl. Der Spiegel 43/1992, S. 172: »Was hätte ich getan?« - Ein jüdischer Emigrant bricht mit einem Tabu der Holocaust-Forschung; siehe auch die Spiegel -Veröffentlichungen 44/1992, S. 128 - 146 und Der Spiegel 45/1992, S. 178 - 192 (auszugsweise Vorabveröffentlichung aus: Wyden 1993) 128 Seehof 1935, S. 88/89 129 vgl. ders., S. 85 130 ders., S. 85/86 1 3 1 vgl. ders., S. 87 132 vgl. ebd. 133 vgl. Diamant 1988, S. 328/329; die weiteren Daten beziehen sich auf diese Darstellung 134 vgl. Klee 1987, S. 15 -17 1 3 5 vgl. ders., S. 15 136 Göring 1934, S. 87/88. 137 ders., S. 88 1 3 8 Black 1984, p. 131 1 3 9 Zipfel, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands, Bd. IX/X. Tübingen 1961, S. 288, zit. nach Schattenfroh und Tuchel 1987, S. 82 140 Für die Sicherheitspolizei galt in diesem Zusammenhang ein Erlaß von Himmler (v. 23.06.38), welcher auch ein Antragsrechts zur Aufnahme in die SS einräumte, u.a. mit der Bedingung "wenigstens 3 Jahre in der Sicherheitspol. unter der Führung des RFSS Dienst geleistet und sich

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Entwicklungsdynamik der geheimpolizeilichen Arbeits- und Lebenswelt

bewährt (zu) haben". Später erfolgten weitere Bestimmungen, auch die verfolgten den Zweck, alle Polizeibeamten der Ordnungspolizei und Sicherheitspolizei in die SS aufzunehmen. Ab 1942 wurde eine gegenläufige Politik betrieben, vermutlich geleitet von der Vorstellung, daß der (Ordens-) Charakter der SS (i.S. einer Elite, mit entsprechenden Ansprüchen bezogen auf Zugehörigkeitsmerkmale und der bedingungslosen Unterwerfung unter bestimmte Disziplinvorstellungen) verwässert wurde. Zusammenfassend stellt Buchheim fest, daß innerhalb der Ordnungspolizei "ein gewisser Druck zum Eintritt in die SS ausgeübt wurde". Für die Sicherheitspolizei stellt er fest, daß "bei Himmler der Wunsch bestanden (habe, in den späteren Jahren [ca. 1942 - 194S, Anm. HJ.H.J) nur noch solche Personen zum Eintritt in die SS zu veranlassen, die ihm dafür geeignet erschienen"; Buchheim 1979, hier: Kapitel "Die personelle Verschmelzung der SS und der Polizei", S. 101 - 113; vgl. auchrWerle 1989, S. 485 - 487 141

Paetel, in: Vierteljahrsheft für Zeitgeschichte, 2. Jahrgang, Stuttgart 1954, S. 1 - 33; hier: S. 25; Auf Hannah Arendts Charakterisierung von Adolf Eichmann sei verwiesen, die ihn als »normalen Menschen« mit einem in einer Bürokratie geforderten »Pflichtgefühl« zu verstehen sucht. Das Neue an ihrer Charakterisierung war, daß sie - anders als die vorgenannten Bewertungen und Einschätzungen - weder ideologisch argumentiert noch allgemeinere Mythen (z.B. Sadismus der Täter) zur Erklärung mobilisierte. 142 vgl. Nds. Haupt- und Staatsarchiv Hannover, Akte Hann. 122a VIII 430e, Blatt 212; das Schreiben trägt das Aktenzeichen II Β 1579 III/34 v. 19. November 1940 143 ebd. 144 V gi G r a f ]983 i s. 424, Dok. 16; das Dokument stellt ein Schreiben des Geheimen Staatspolizeiamtes vom 24.3.1934 dar und ist mit einem Begleitschreiben von Heydrich vom 25.5.1934 dem Preußischen Ministerpräsidenten, Hermann Göring, vorgelegt worden. 145 ebd. 146 vgl. ebd. 147 Himmler, H., Rede des Reichsfiihrers-SS vor den Preußischen Staatsräten - 5. März 1936 im Haus der Flieger, o.O., oJ., S. 26/27; archiviert im Institut für Zeitgeschichte, München, unter KK 267 148 vgl. Brissaud 1975, S. 207 ff. 149 vgl. Lichtenstein und Spieß 1989 150 vgl. Krausnick 1989, S. 27/28 151 vgl. ders., S. 29 152 vgl. Hilberg 1990, Bd. 3, S. 1116 153 vgl. Ringdal, in: Takala und Tham, 1989, S. 90 - 110 154 zur Kurzbiographie Terbovens, vgl. Wistrich 1983, S. 271 155 vgl. Hilberg 1990, Bd. 2, S. 583; im folgenden beziehe ich mich auf Hilberg 1990, Bd. 2; andere Quellen sind gesondert ausgewiesen 156 vgl. Hilberg 1990, Bd. 3, S. 1116 zur Biographie über Werner Best, vgl. Herbert 1991; zur Praxis der Geheimen Staatspolizei in Dänemark, vgl. ders., S 429 ff.; vgl. auch Yahil, in: Wiener Library Bulletin 1962, p. 73 pp. 158 Hilberg 1990, Bd. 2, S. 589/590 159 ders., Bd. 2, S. 593 160 vgl. Hilberg 1990, Bd. 3, S. 1116 161 vgl. Bower 1984, S. 24 162 vgl. zur Kollaboration in den Niederlanden: Mok 1990 163 vgl. ders., S. 29 164 zit. nach Hilberg 1990, Bd. 2, S. 622 165 (je,, prozeß der " Reorgani satie van het Franse en het Nederlandse politieapparaat gedurende de Tweede Wereldoorlag" ist aus niederländischer Sicht beschrieben bei: Fijnant 1979, S. 256 - 295 166 als Abdruck in: de Jong 1966, S. 378; vgl. auch die Dokumentation der Judenverfolgung ders., S. 353 - 412 167 vgl. Hilberg 1990, Bd. 3, S. 1116

Anmerkungen

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vgl. ders., Bd. 3, S. 1116 169 Vgi ,j e r S i Bd 2, S. 638; die Organisation Todt wurde 1938 von dem Namensgeber, Fritz Todt, gegründet. Sie sollte den Straßenbau für das deutsche Reich und später in den besetzten Gebieten sicherstellen; auch für Planung und Bau des sog. Westwalls war diese Organisation zuständig. Zum Arbeitseinsatz wurde im wesentlichen der Reichsarbeitsdienst verpflichtet, im Zuge der Besetzung Westeuropas wurden auch Zwangsarbeiter aus den jeweiligen Gebieten zur Arbeitsleistung gezwungen; vgl. Wistrich 1983, S. 274 - 276 170 vgl. Delarue 1979, S. 206 171 ders., S. 207/208 172 vgl. Wistrich 1983, S. 158 173 Vgi ebd 174

vgl. Hilberg 1990, Bd. 2, S. 669 ^ französischen Kollaboration vgl. Hirschfeld und Marsh 1991 und die Aufsätze des französischen Historikers Henri Amouroux, in: Der Spiegel, Nr. 20/1990, 21/1990 und 22/1990 176 Zitat von Heydrich, zit. nach Hilberg 1990, Bd. 2, S. 670 177 vgl. Rosh und Schwarberg 1988 178 Hilberg 1990, Bd. 2, S. 702 179 vgl. ders., Bd. 3, S. 1116 und Zuccotti 1987, p. 5 180 Bramstedt 1945, p. 55/56 181 Zuccotti 1987, p. 74/75 182 vgl. Hilberg 1990, Bd. 2, S. 711 183 vgl. ebd. 184 Braham 1981, p. 405 »85 ebd. 186 ders., p. 406 187 vgl. Hilberg 1990, Bd. 2, S. 859 188 vgj deifj^ S. 861; Hilberg unterscheidet zwischen "prodeutschen" Ministerpräsidenten und "Kollaborateuren wider Willen" und zählt zu den erstgenannten: Imredy, Bardossy, Sztojay und Szalasi; zu den Kollaborateuren: Teleki, Kailay und Lakatos 189 ders., S. 923

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Soziogenese der Geheimen Staatspolizei: Partizipation an und Monopolisierung von Machtquellen

Die geheimpolizeiliche Praxis hat den Handlungsspielraum der Verfolgten massiv beeinträchtigt. Wenn individuelle Handlungsspielräume durch Dritte beeinträchtigt werden können, liegt eine spezifische Machtbalance vor. Machtbeziehungen lassen sich analysieren, indem nach der Verfügung bzw. Verfügungschancen einzelner Menschen oder Menschengruppen über Machtquellen gefragt wirdJ Vor diesem Hintergrund verstehe ich die Gestapo-Praxis als (eine erste) Partizipation an und zunehmende Monopolisierung von Machtquellen. Eine solche Analyse ist ohne Berücksichtigung der Verflechtungszusammenhänge zwischen den Angehörigen der Gestapo und den Verfolgten nicht möglich. In diesem Kapitel wird die Gestapo-Praxis zunächst unter der These von Veränderungen der Machtbalancen analysiert, um dann im 6. Kapitel den Entwicklungsprozeß der Gestapo in der Wirkungsbedeutung für die Verfolgten zu analysieren. Die Entwicklungsdynamik der Geheimen Staatspolizei habe ich bisher unter dem Aspekt von Strukturelementen des geheimpolizeilichen Aktionsrahmens untersucht und damit sind die Rahmenbedingungen der geheimpolizeilichen Arbeitswelt skizziert. Perspektivisch habe ich dabei die Geheime Staatspolizei von »außen« beschrieben. Dieser Rahmen bleibt jetzt im Hintergrund. Folgend stelle ich eine Perspektive von »innen« her, um so die Praxis der Geheimen Staatspolizei soziogenetisch zu erschließen. Notwendigerweise ist nunmehr auch ein erster Bezug zu den Verfolgten herzustellen. Oben habe ich die These aufgestellt, daß die Entwicklung der Geheimen Staatspolizei (auch) einen spezifischen Machtveränderungsprozeß zwischen Regierenden und Regierten kennzeichnet. Um dieses belegen zu können, gilt es, empirische Nachweise für den Prozeß an sich, und für die Machtveränderungen zu erbringen. Dazu analysiere ich verschiedene »Praxisverfahren«. Die gefundenen Belege werden in ihrer Bedeutung für Machtveränderungen in Zwischenergebnissen zusammengefaßt und abschließend diskutiert. Unter dem Begriff »Praxisverfahren« werden Handlungsweisen von Angehörigen der Geheimen Staatspolizei verstanden, die einerseits in formalisierte Verfahren unterscheidbar sind, und in solche, die auf Innovationen der Geheimen Staatspolizei beruhen. Diese sind nicht formalisiert und gehörten auch nicht zum Handlungsrepertoire der bereits untersuchten deutschen Politischen Polizeien. Diese Handlungsweisen werden in ihrer Bedeutung und Wirkung für die Verfolgten untersucht. Zugleich wird der arbeits- und lebensweltliche Aspekt dieser Praxis nicht unterschlagen, d.h. es soll festgehalten werden, was für das Erleben dieser Praxis für die Gestapo-Angehörigen bedeutsam erscheint.

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Soziogenese der Geheimen Staatspolizei

Mit diesem Ansatz ist es möglich, die geheimpolizeiliche Praxis systematisch zu erschließen und sie anschließend vor dem Hintergrund von Machtveränderungen zu bewerten. Dabei gehe ich von der Annahme aus, daß sich diese Verfahren als zunehmende (geheimpolizeiliche) Partizipation an Machtquellen deuten lassen, die ihren Abschluß in der Monopolisierung von Machtquellen findet Elias hat darauf aufmerksam gemacht, daß bei der wissenschaftlichen Reflexion menschlicher Beziehungen das Problem der Macht "oft genug verdeckt"^ wird. So ist es nach Meinung von Elias unzulässig, jede mögliche Form der Machtausübung nur auf eine Machtquelle zurückzuführen, etwa auf militärische oder wirtschaftliche Machtquellen. Tatsächlich gibt es verschiedene Machtquellen mit jeweils "polymorphen Charakter". Machtquellen in diesem Sinne sind Ressourcen, die menschliche Dispositions- und Handlungsspielräume potentiell ermöglichen. Diese versetzen Menschen in die Lage, ihre Verhaltensweisen und Lebensgestaltung nach ihren eigenen (und grundsätzlich selbstgewählten) Vorstellungen und Entscheidungen - in Abhängigkeit zu den jeweiligen Gruppenbezügen - einzurichten. Die (auch staatliche) Partizipation oder Verfügung über solche Dispositionsspielräume tangiert immer Menschen und erweist sich als Struktureigentümlichkeit jeder menschlichen Beziehung. In diesem Sinne sind Menschen stets miteinander verbunden. Machtbeziehungen sind nicht statisch, sie entwickeln und verändern sich; diese Beziehungen stellen sich als Prozesse dar.3 Die jeweils unterschiedliche Verfügungschance über die andere Person ist dabei das dynamische Element in solchen Beziehungen. Wer die größeren Verfügungschancen (höhere Machtrate) zu einem bestimmten Zeitpunkt erreicht, ist in der Lage, den eigenen oder Gruppenwillen auch gegen Widerstreben durchzusetzen.^ Personen mit einer geringeren Machtrate können die eigenen (auch perspektivischen) Verhaltensweisen in einem geringeren Maße aufgrund eigener Entscheidungen bestimmen und einrichten. Was hier exemplarisch beschrieben ist, ist auf menschliche Gruppierungen (bzw. Figurationen) übertragbar. Solche Monopolisierungsbestrebungen bezogen auf Machtmittel und/oder Machtquellen gehören zu den »Hauptantrieben« sozialer Prozesse. 5 Zu den Machtquellen zählen im einzelnen: Anwendung von physischer Gewalt, das Beschaffen von Existenzmitteln, die Gestaltung der affektiven Bindungen und letztlich die Handhabung von Wissen.^ Auch »Recht«, im Sinne von staatlichen Rechtsgarantien, über »Rechte« zu verfügen und diese ggf. über entsprechende Instanzen einfordern zu können, wird hier als bedeutsame Machtquelle verstanden. Im »Recht« spiegeln sich damit die hier zu untersuchenden Kategorien bzw. Aspekte der Machtquellen. Die Legalisierung der Gestapo-Praxis wurde durch nationalsozialistisches Richterrecht, durch nationalsozialistisch motivierte Neuinterpretation des bestehenden Rechts und durch Schaffung von neuen Rechtsfiguren ermöglicht. Die Inhalte dieser Machtquellen werden hier zunächst definiert und die Relevanz für eine Analyse der Praxis der Geheimen Staatspolizei herausgestellt. Gebrauch physischer Gewalt: Im abendländischen Bereich waren Menschen in früheren Zeiten im Grundsatz einem erhöhten Risiko unterworfen, Opfer einer Gewalttat zu werdend Zur Eindämmung der Gewalttaten - zunächst zum Schutz von Kaufleuten - reagierten damals Regierende mit der Institutionalisierung von sogenannten "Straßenreitern"

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und "Streifen".** Elias hat in seinen Untersuchungen zum Monopolmechanismus darauf hingewiesen, daß es nur für Gesellschaften in neuerer Zeit typisch ist, einen bestimmten Stand der (Gewalt-) Monopolausbildung erreicht zu habend Für diese Gesellschaften (und zeitlich ihnen nachfolgende) ist die Ausbildung eines Steuermonopols und des Monopols der physischen Gewaltsamkeit von besonderer Bedeutung, die sich nach langen Ausscheidungskämpfen konkurrierender Territorialherren herausgebildet haben. Die Ausbildung dieser »Schlüsselmonopole« hat konstituierende Bedeutung für Staatenbildungsprozesse. Andererseits haben sie Auswirkungen auf den Affekthaushalt und damit auch auf die Zivilisierung der Menschen. Elias skizziert diesen Zusammenhang wie folgt: "Gesellschaften ohne stabiles Gewaltmonopol sind immer zugleich Gesellschaften, in denen die Funktionsteilung relativ gering und die Handlungsketten, die den einzelnen binden, verhältnismäßig kurz sind. Umgekehrt: Gesellschaften mit stabileren Gewaltmonopolen [sind Gesellschaften,]... in denen die Handlungsketten, die den Einzelnen binden, länger und die funktionellen Abhängigkeiten des einzelnen Menschen von anderen größer sind. Hier ist der Einzelne vor dem plötzlichen Überfall, vor dem schockartigen Einbruch der körperlichen Gewalt in seinem Leben weitgehend geschützt; aber er ist zugleich selbst gezwungen, den eigenen Leidenschaftsausbruch, die Wallung, die ihn zum körperlichen Angriff des Anderen treibt, zurückzudrängen."! 1 Letztlich wird "die Bedrohung, die der Mensch für den Menschen darstellt... durch die Bildung von Gewaltmonopolen einer strengeren Regelung unterworfen und wird berechenbarer".^ Zusammenschlüsse von Menschen, die sich auf unterschiedlichen Ebenen und in unterschiedlichen Gesellschaftstypen vollziehen können, stellen im Grundsatz Einheiten dar, "die den Gebrauch von physischer Gewalt in den Beziehungen ihrer Angehörigen zueinander einer verhältnismäßig scharfen Kontrolle unterwerfen, während sie zugleich ihre Angehörigen auf den Gebrauch von physischer Gewalt in Beziehung zu Nichtangehörigen vorbereiten und sie in vielen Fällen dazu ermutigen." 13 Die primäre Funktion solcher menschlicher Einheiten "ist also der Schutz vor physischer Vernichtung durch andere oder die physische Vernichtung von a n d e r e n . " Staatsgesellschaften beauftragen, legitimieren und bilden Menschen aus, die solche Schutz- und Vernichtungsfunktionen stellvertretend für alle Gesellschaftsmitglieder wahrnehmen. Die Armee ist in moderneren Staatsorganisationen für den Schutz und die Vernichtung von Menschen nach außen zuständig, die Polizei wirkt entsprechend nach innen. Die Geheime Staatspolizei ist in diesem Sinne eine - an administrativen Standards aus- und eingerichtete - soziale Einheit gewesen. Bei der Analyse von Macht- und Abhängigkeitsbeziehungen zwischen Geheimer Staatspolizei und den Verfolgten sind also die Bedingungen und Richtlinien zu untersuchen, aus denen sich der Beleg für diese Aufgabe entnehmen ließe. Für die psychogenetische Analyse sind dann diese Handlungsanweisungen oder andere Bedingungen für eine solche Aufgabe/Funktion in ihrer Bedeutung für das Entstehen eines spezifischen Zusammengehörigkeitsgefühls in der geheimpolizeilichen Arbeits- und Lebenswelt zu untersuchen. Zur Kennzeichnung der Machtquelle »Gebrauch physischer Gewalt« ist folgendes bedeutsam: Sofern der Gebrauch physischer Gewalt sich in der Hand von solchen "Spezialistengruppen" befindet, vermag sich für die Menschen in dieser Gesellschaft die

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Chance ergeben, daß ihr Alltag berechenbarer wird. Sie vermögen dann das Leben zur Verwirklichung ihrer Ziele einzurichten. Dies ermöglicht die Ausbildung einer längerfristigeren Lebensplanung. Die über dieses Monopol (relativ erfolgreich^) verfügenden (staatlichen) Instanzen sind demzufolge in Lage, die Ausbildung einer solchen relativ gesicherten Lebensführung zu gewährleisten oder aber auch zu einer, für die Menschen weniger berechenbaren Lebensführung beizutragen. Im ersten Fall wird die weitere »Zivilisierung« erreicht und im anderen Fall, z.B. durch die größere Verbreitung von Gewalttaten durch die staatlichen Monopolinstanzen, wird ein Beitrag zur »Dezivilisierung« geleistet. Beschaffen der Existenzmittel: Unter der Machtquelle »Beschaffen von Existenzmitteln« wird das Mobilisieren derjenigen Ressourcen verstanden, die für die Existenzgründung und -entwicklung notwendig und erforderlich sind. Für diese Untersuchung mag es genügen, daß eine Bestimmung dieser Machtquelle im Zusammenhang mit den notwendigen Existenzmitteln in einer Industriegesellschaft vorgenommen wird. Ein Zugang zur Definition dieser Machtquelle ist in Anlehnung an die Konzeption von M a s l o w ^ möglich. Nach diesem psychologisch-individualistisch ausgerichteten Konzept^ lassen sich in hierarchischer Gliederung physiologische Grundbedürfnisse, Sicherheits- und Schutzbedürfnisse, Achtungs- (Ich-) bezogene Bedürfnisse und Bedürfnis nach Selbstverwirklichung unterscheiden. Die Erfüllung des in der Hierarchie jeweils tiefer stehenden Grundbedürfnisses ist notwendige Voraussetzung für die Befriedigung des höher stehenden Bedürfnisses. Zu den physiologischen Grundbedürfnissen zählen Bedürfnisse, die auf die Erhaltung des Lebens ausgerichtet sind (ζ. B. Nahrung, Erholung). In der Hierarchie folgend sind Bedürfnisse nach Schutz und Sicherheit vor physischen, psychischen und ökonomischen Gefahren, wie z.B. Kleidung und Wohnung, zu nennen. Weiterhin die sozialen Bedürfnisse, die die notwendigen Verbindungen und Kontakte zu anderen Menschen (Gruppenzugehörigkeit, Sympathieaustausch und Akzeptiertsein) beinhalten. Die Ich-bezogenen - bzw. Achtungsbedürfnisse (z.B. Wertschätzungsmotive wie Selbstachtung, Selbstvertrauen, Kompetenz, Akzeptanz durch andere, Ansehen etc.) setzen die Hierarchie fort. Auf der höchsten Stufe findet sich die »Selbstverwirklichung durch Selbstentfaltung«. Für die Bestimmung der Machtquelle "Beschaffen der Existenzmittel" kann in Verbindung mit der maslowschen Bedürfniskonzeption folgendes angenommen werden: Erstens: Unter "Beschaffung" ist festzuhalten, daß Menschen diese Bedürfnisse in einer arbeitsteiligen Gesellschaft in der Regel durch käuflichen Erwerb oder durch Eigenproduktion befriedigen können. Sie können also relativ frei auf dem Markt diese Existenzmittel beschaffen. Besonders in entwickelteren Gesellschaften ist bei einer solchen Bedürfnisbefriedigung noch zu berücksichtigen, daß im Grundsatz für mehr oder weniger Menschen eine Auswahl von verschiedenen Möglichkeiten besteht (z.B. Art und Beschaffenheit der Kleidung, Größe und Lage der Wohnung, Auswahl und Menge von verschiedenen Nahrungsmitteln usw.). Zweitens: Zu den physiologischen Grundbedürfnissen sowie den Sicherheits- und Schutzbedürfnissen gehören u.a. Nahrung, Wohnung, Kleidung. Für die Realisierung sozialer Bedürfnisse (z.B. Herstellen von notwendigen Verbindungen und Kontakt-

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aufnähme zu anderen Menschen) sind Möglichkeiten gekoppelt, selbstgewählt Kontakte und Verbindungen mit anderen Menschen - und zwar an jedem beliebigen Ort - aufnehmen zu können. Die Erfüllung dieser Bedürfnisse setzt Freizügigkeit der Menschen voraus, d.h. die Abwesenheit von restriktiven Aufenthalts-, Kontakt- und Kommunikationsvorschriften. Ein selbstgewählter Umgang mit anderen Menschen ermöglicht darüber hinaus auch die Befriedigung von anderen menschlichen Bedürfnissen, wie z.B. die Achtungsbedürftiisse. Die Existenzmittel können daher definiert werden als diejenigen Ressourcen, deren Inanspruchnahme eine Bedürfnisbefriedigung im jeweils gesellschaftlichen Rahmen ermöglicht. Dabei wird davon ausgegangen, daß der Zugang zur Inanspruchnahme mehr oder weniger frei ist und jedem Menschen in der jeweiligen Gesellschaft qua Existenz zugestanden wird. Gestaltung der affektiven Bindungen: Affektive Bindungen haben für Menschen eine existentielle Bedeutung. Über affektive Beziehungen und Bindungen findet eine Selbstdefinition statt und Menschen definieren sich zu anderen. Diese Form von Bindung haben Menschen nicht nur zu- und untereinander, sondern affektive Bindungen entwickeln sich auch zu Staatsgesellschaften Und anderen menschlichen Gruppierungen.20 Menschen sind auch in der Lage, ihre Affekte an Symbole^l und Objekte zu binden. Bei der Untersuchung der affektiven Bindungen wird der Blick auf eine besondere Art von Verflechtung gelenkt. Unter diesen Bindungen soll hier das Streben und Realisieren nach selbstgewählten Kontakten, nach Kommunikation, Akzeptanz und Zugehörigkeitsgefiihlen zu und von anderen Menschen verstanden werden. Dieses Streben realisiert sich nur durch und über andere Menschen. Die so erforderliche und erlangte Befriedigung ist also "von vornherein auf andere Menschen gerichtet" und "in sehr hohen Maße auch von anderen Menschen abhängig. "22 Zur Bedeutung und Funktion der affektiven Bindungen führt Elias aus: "Diese emotionalen Bindungen der Menschen aneinander durch die Vermittlung symbolischer Formen haben für die Interdependenz der Menschen keine geringere Bedeutung als die zuvor erwähnten Bindungen aufgrund zunehmender Spezialisierung. In der Tat sind die verschiedenen Typen der affektiven Bindungen unabtrennbar. Die emotionalen Valenzen, die Menschen, sei es direkt durch face-to-faceBeziehungen, sei es indirekt durch die Verankerung in gemeinsamen Symbolen, aneinander binden, stellen eine Bindungsebene spezifischer Art dar. Sie verknüpfen sich in mannigfacher Weise mit Typen der Bindung, die eine andere, weniger von der Einzelperson ausgehende Interdependenzebene repräsentieren Diese Verankerung individueller Valenzen in solch großen gesellschaftlichen Einheiten hat sehr oft die gleiche Intensität wie die Verankerung in einer geliebten Person. Auch in diesem Fall wird das einzelne derart gebundene Individuum aufs tiefste erschüttert, wenn die geliebte Gesellschaft zerstört oder besiegt wird, an Wert und an Würde verliert."23 Affektive Bindungen können graduell unterschiedlich ausgeprägt sein und es sind abhängige Bindungen. Die Abhängigkeiten ergeben sich (auch) aus dem Entwicklungsgrad der jeweiligen Staatsgesellschaft.24 im Grundsatz kann angenommen werden, daß sich in Gesellschaften mit längeren Interdependenzketten, potentiell höhergradige affektive Bindungen entwickeln können. Unter einem höheren Grad einer affektiven Bindung ist hier z.B. die Entwicklung eines Solidaritätsgefühls, das Mitfühlen mit anderen und

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Mitleidsempfindungen gemeint. Werden unter Zwang oder Gewalt affektive Bindungen verändert, negiert oder zerstört, kommt es zu schweren, kaum heilbaren seelischen Schädigungen. Werden affektive Bindungen unter Zwang oder Gewalt verändert, geht dieses auch mit der Konstitution von Angst einher. Dieses ist hier bedeutsam, "da die Bewirtschaftung der menschlichen Ängste zu den bedeutendsten Quellen der Macht von Menschen über Menschen gehört, entwickeln sich auf dieser Basis Herrschaftssysteme in Hülle und Fülle."25 Machtstärkere Gruppierungen können die affektiven Bindungen machtschwächerer Figurationen in verschiedener Art und Weise beeinflussen, also auch gegen ihren Willen verändern. Für diese Studie sind diejenigen Beeinflussungen von besonderer Relevanz, die die in relativer Autonomie gewählte Gerichtetheit (auf Subjekte und Objekte) und das Erleben (Kontakte, Kommunikation, Verarbeitung) von affektiven Bindungen negieren. Handhabung von Wissen: Wissen ist ein menschliches Orientierungsmittel erster Ordnung. Kenntnisse, Informationen und Erlebensverarbeitung sind entscheidend vom Standard des Wissens in einer Gesellschaft abhängig und menschliche Wahrnehmungen werden mit Hilfe von Wissensbeständen g e d e u t e t . 2 6 Die Partizipation und Nutzung an und von Wissensquellen wird in entwickelteren Gesellschaften zunehmend öffentlicher. Das bedeutet, daß im Grundsatz nur noch relativ wenige Spezialisten über Wissensbestände völlig autonom verfügen können. Je mehr Menschen über Wissensbestände verfügen, um so mehr sind sie auch in der Lage, perspektivisch zu leben. In solchen Gesellschaften vermag sich eher eine Tendenz zu einer längerfristigeren Denk-, Handlungs- und Lebensperspektive auszubilden. In Rahmen der Möglichkeit zur vorausschauenden Lebensplanung können sich Interdependenzketten der Menschen verlängern. Dies wiederum ermöglicht auch die Ausbildung eines eher zivilisierten Habitus. Von Menschen also, die es potentiell lernen, sich zunehmend selbst zu k o n t r o l l i e r e n . 2 7 Bestandteile des Wissens sind Informationen und Kenntnisse. Menschliche Orientierungen sind von Informationen und Kenntnissen abhängig. Soll die menschliche Orientierung beeinträchtigt oder in bestimmter Art und Weise ausgerichtet werden, dann ist z.B. die systematische (staatliche) Kontrolle über die gesellschaftlichen Informationsquellen ein Weg, dieses zu realisieren. Wenn es gelingt, ein Monopol in diesem Bereich zu erreichen, wird eine Ausgangsbedingung dafür geschaffen, daß Menschen in einer mehr oder weniger gesteuerten Realität leben. Diese Realitätskonstruktion beeinflußt entsprechend die Kommunikation und Wahrnehmungsinterpretation. In Staatsgesellschaften mit einem größeren Machtunterschied (d.h. Verfügungschance) zwischen Regierenden und R e g i e r t e n ^ vermögen sich die Regierenden als die machtstärkere Gruppierung auch deshalb entwickeln (und mehr oder weniger dauerhaft in dieser Position zu verbleiben), wenn sie diese Machtquellen systematisch monopolisieren. Struktur der soziogenetischen Analyse: Vorstehend sind Machtquellen definiert worden und die hier untersuchungsleitende These ist eingangs erläutert worden. Die Analyse der geheimpolizeilichen Praxis hat in diesem Kontext Bedeutung als empirischer Beleg für den geheimpolizeilichen Partizipations- und Monopolisierungsprozeß der Machtquellen. Die Praxis der Geheimen Staatspolizei kann unterschieden werden in Verfahren der Zuarbeit und verschiedenen Zwangs- und Gewaltanwendungsverfahren,

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die hier als Gestapo-Praxis im engeren Sinne verstanden wird. Zunächst wird die Zuarbeit von Medizinern, des Militärs, der Wirtschaft, der Diplomatie, die Zuarbeit von einigen Soziologen und Raumplanern und zuletzt, dennoch von grundsätzlicherer Bedeutung, die Zuarbeit der Justiz skizziert. Dazu bietet sich folgende Vorgehensweise an: Bei der Darlegung der Bedeutung des Wissens als menschliches Orientierungsmittel ist darauf aufmerksam gemacht worden, daß besonders ein freier Zugang zu den gesellschaftlichen Informationsquellen die Voraussetzung für eine menschliche Orientierung bildet. Entsprechend ist zu untersuchen, mit welchen Methoden die Geheime Staatspolizei Informationen gewinnen konnte und wie diese von ihr verarbeitet wurden. Die Gestapo-Praxis läßt sich ausschließlich innerhalb der oben dargelegten Organisationsgrenzen nicht realitätsadäquat verstehen. Denn zu den professionellen Standards der Gestapo-Angehörigen gehörten auch Kenntnisse und Erfahrungen bezogen auf die der Zuarbeit, die durch andere Organisationen oder Institutionen oder auch Angehörige verschiedener Wissenschaftsgebiete geleistet wurde. Diese Strukturen gilt es zu analysieren. Hier ist es notwendig, noch eine grundsätzlichere Anmerkung zu diesen Verfahren zu machen: Die Untersuchung dieser Strukturen geschieht nicht in der Absicht, einerseits sämtliche Zuarbeitsverfahren darzustellen zu wollen, um somit (implizit) einen Beitrag zur Entlastung der Geheime Staatspolizei zu leisten. Zuarbeit ist von so vielen Akteuren geleistet worden, daß hier auch wieder der gesetzte Untersuchungsrahmen eine Auswahl und damit die Reduktion auf Beispiele einfordert. Ich will verdeutlichen, daß die Geheime Staatspolizei in einem (Arbeits- und Kommunikations-) Geflecht von verschiedenen Ministerien, Behörden und Instituten tätig war. Hier ist die Gestapo - nach Quellen- und Literaturlage - diejenige Institution gewesen, die forderte, anwies und Vorschläge einholte und die zuarbeitenden Institutionen unterstützten und legalisierten diese Praxis. Mitunter ist die Gestapo in diesem Feld aber auch auf »vorauseilenden Gehorsam« bei einigen Akteuren gestoßen. Diese Verfahren sind somit spezifische Kooperationen, die mit dem Begriff der »Zuarbeit« bezeichnet werden. Der Begriff verdeutlicht besser als »Kooperation«, die dominierende Stellung der Geheimen Staatspolizei und mitunter die deutliche Subsidarität der zuarbeitenden Institutionen. Damit ist allerdings nicht ausgedrückt, daß die Geheime Staatspolizei - wie oben angedeutet - in jedem Fall kraft eines administrativen Anweisungsverfahrens die »Zuarbeit« erzwingen mußte. Bei der Untersuchung der Gestapo-Praxis im engeren Sinne soll der Frage nachgegangen werden, welche (geheimpolizeilichen) Methoden angewendet worden sind und welche Wirkungen damit verbunden waren. Dabei reduziert sich die Vorgehensweise bei der Beantwortung dieser Frage nicht auf die einfache Aufzählung verschiedener Methoden, sondern es wird eine systematische Definition bzw. Kategorisierung einzelner Gestapo-Methoden versucht.

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4.1

Monopolisierung von Informationsquellen

Deutsche Politische Polizeien verfügten bereits vor der Existenz der Geheimen Staatspolizei über einen nicht-öffentlichen Informationsfundus. Ziel der geheimpolizeilichen Informationsgewinnung war die konspirative Erhebung von Daten zum privaten und öffentlichen Alltag von »Zielpersonen« (ein Begriff aus dem geheimpolizeilichen Sprachgebrauch). Insbesondere sollten Daten gesammelt werden, die es ermöglichten, bestimmte Verhaltensweisen als »staatsgefährliche Handlungen« oder »Bestrebungen« zu definieren, um einschlägige Tatbestandsmerkmale damit zu belegen. Bei den historischen Vorläuferinnen der Geheimen Staatspolizei hat es zwei unterscheidbare Verfahren von Informationssammlung gegeben. Zu unterscheiden ist zwischen einer strafrechtlich orientierten Informationssammlung im Rahmen von justitiellen Ermittlungsverfahren und den Verfahren, die - wie am Beispiel der Politischen Polizei in Hamburg nachgewiesen wurde - der Gewinnung von Informationen zu politischen Einstellungen, der Alltagsbewältigung und über bestimmte »Verkehrskreise« dienten. Von der Geheimen Staatspolizei wurden - zumindest in der Frühphase - beide Verfahren praktiziert. Die Geheime Staatspolizei, die die administrative Zuständigkeit für »politische Delikte« zugewiesen bekam, setzte somit die traditionelle strafrechtlich orientierte Tätigkeit der bisherigen deutschen Politischen Polizeien fort. Hier soll das von der Geheimen Staatspolizei neu entwickelte Informationsgewinnungsverfahren näher untersucht werden. Der Justitiar der Geheimen Staatspolizei, Dr. Werner Best, differenzierte die staatspolizeiliche Tätigkeit allgemein in die Bereiche, »Erforschung« und »Bekämpfung« von staatsfeindlichen B e s t r e b u n g e n . ^ ^ Den Bereich der »Erforschung« untersuche ich anhand folgender Fragestellungen: 1. Wie hat die Geheime Staatspolizei ihre Informationen erworben? 2. Wer war oder wurde Gestapo-Informant und welche Qualifikationen mußte ein Informant haben? 3. Wie wurden diese Informationen verarbeitet bzw. ausgetauscht und welche Ziele wurden damit verfolgt? Als interne Informationsbeschaffer fungierten die Beamten des Außendienstes der Geheimen Staatspolizei. Sie organisierten - neben der Planung und Durchführung von exekutiv-polizeilichen Handlungen (z.B. Hausdurchsuchungen, Festnahmen, Beschlagnahmen) - auch die Informationsgewinnung. Die jeweiligen Anlässe für die exekutiven Handlungen konnten aufgrund der Rechtsdefinition des »Staatsgefährlichen« Fakten und/oder Mutmaßungen sein. Die Fakten oder Einschätzungen konnten auch auf eigene Wahrnehmungen bzw. Ermittlungen basieren. Dabei griff die Gestapo sowohl auf eigene Akten, aber auch auf Akten von NSDAP-Dienststellen zurück. Bei der Informationsbeschaffung war die Geheime Staatspolizei mit anderen Behörden (z.B. das Preußische Finanzamt, die staatlichen Devisenstellen, die Hauptzollämter, die Reichsanstalt für Arbeits-

Monopolisierung von Informationsquellen

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Vermittlung, Deutsche Reichspost etc.) verbunden bzw. arbeiteten diese Behörden der Gestapo zu. Zugleich stand die Gestapo mit den anderen staatlichen und nichtstaatlichen Nachrichtendiensten - z.B. mit dem NSDAP-Sicherheitsdienst (SD) - in Verbindung und tauschte Daten aus.30 Von besonderer Bedeutung für die Informationsgewinnung der Gestapo waren die Informationen des »Blockwarts«. Dieser hatte Mobilisierungs- und Kontrollfunktionen hinsichtlich der Förderung der nationalsozialistisch-orientierten politischen Tätigkeit. Er war gemäß einer Anweisung der NSDAP für "nicht mehr als 10 Parteigenossen''^! zuständig und hatte innerhalb seines Bereiches »Gegner und Feinde« der nationalsozialistischen Idee zu kennen.32 Außerdem ist er verpflichtet worden, solche Beobachtungen zu melden, die im Sinne der NSDAP nur ungenau mit dem Begriff »notwendig« definiert waren. Die Empfänger der Blockwart-Meldungen waren die jeweils örtlich zuständigen NSDAP-Gauleitungen, die diese Erkenntnisse an die Gestapo weitergaben. Zur Erfassung und Dokumentation dieser Meldungen führte der Blockwart auch Karteikarten über Juden bzw. politische Gegner.33 Neben der ständigen Aktualisierung seiner Kartei, hatte er auch Befragungen bei NSDAP-Mitgliedern zu übernehmen. Der von der NSDAP erstellte Fragebogen zielte auf die Erhebung von politischen Einstellungen der (nicht nationalsozialistischen) Nachbarschaft ab.34 Die Ergebnisse dieser Fragebogen dienten auch zur Erstellung von bestimmten »Listen«. Diese Listen wurden dann u.a. an die Geheime Staatspolizei und an NS-Organisationen (z.B. SA und SS) weitergegeben. Mittels dieser Listen und in Kooperation mit den Angehörigen der genannten Organisationen war die Geheime Staatspolizei in der Lage, gezielt Sachbeschädigungen, Plünderungen und Pogrome vorzubereiten und zu realisier e n d Neben diesen behördlichen bzw. parteilichen Informationsquellen arbeiteten für die Geheime Staatspolizei auch Informanten. Sie wurden von der Geheimen Staatspolizei unterschieden in: V-Leute Vertrauensleute, die meist der NSDAP oder einer ihrer Gliederungen angehörten. Α-Leute Agenten, die nicht Parteimitglieder zu sein brauchten, die aber als zuverlässig galten und gelegentlich bezahlt wurden. Z-Leute Zubringer, fest besoldete Denunzianten, die außerdem noch spezielle Prämiengelder erhielten. Η-Leute Helfershelfer, Gelegenheitsdenunzianten, die häufig persönliche Feindschaften auf diese Weise austrugen. U-Leute Unzuverlässige, die gelegentlich Spitzeldienste leisteten oder aber selbst unter Überwachung standen.36 Diese Informanten und Informantinnen sind z.B. von der Frankfurter Gestapo (Abt. II/N) in Form von bestimmten Karteikarten erfaßt worden.37 Weyrauch versucht in einer Studie die Frage zu beantworten, welche Personen sich besonders als Informanten für die Geheime Staatspolizei qualifizierten. Nach Auswertung der Informationskartei der Frankfurter Geheimen Staatspolizei kommt er zu folgender Kategorisierung ("main groups of Gestapo informants'^); "a. foreign citizens residing in Germany, the largest identifiable

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group; b. Germans who had a record of political opposition to the Nazi regime; c. a small group of persons whose ethnic origin or religious affiliation characterized them as outsiders.."39 Die grundlegenden Merkmale bzw. Egenschaften der mit der Gestapo zusammenarbeitenden Informanten ("basic Characteristics of Confidential Collaboration") beschreibt Weyrauch wie folgt: "Confidential informants, as seen from the perspective of the police, must not fall into either of two extremes. They must neither openly embrace the ideology or value preferences of the established powers, nor must they be a member of a remote outgroup. The persons who could be of potential value to the police are relatively inconspicuous and not too dissimilar from people one is familiar with. Although they may be stigmatized, they may share an unconscious identification with the dominant culture. They may belong to a suspicious group of persons, or at least to a group treated with disfavor, but they must have retained a cultural link with the members of the secret police and the population at large. "40 Zur geheimpolizeilichen Informationsgewinnung kann zusammenfassend gesagt werden: Die Geheime Staatspolizei verfügte auch über Informationen bzw. Daten, die nicht von ihnen selbst ermittelt worden sind. Angehörige anderer staatlicher Behörden und Einrichtungen sowie von Organisationen oder Gliederungen der NSDAP haben Informationen an die Geheime Staatspolizei gegen Entgeld oder gegen Annahme anderer Leistungen weitergeben. Informationen bekam die Gestapo zudem von direkt oder indirekt angestellten Spitzeln. Die Handlungsgrundlage für den behördlichen Datenaustausch beruhte auf einfachen Vereinbarungen zwischen der Geheimen Staatspolizei und den anderen informationsübermittelnden Behörden.41 Diese verwaltungsinternen Vereinbarungen waren öffentlich nicht bekannt. Der NSDAP-Blockwart wirkte als Instanz politisch-sozialer Kontrolle. Er war autorisiert, Verhaltensweisen willkürlich als nonkonform zu definieren und diese an die NSDAP - Gauleitung zu melden. Dieses Informationsgewinnungsverfahren schränkte als subtiles Überwachungsverfahren ganz entscheidend das öffentliche und private Leben der so überwachten Menschen ein. Es ergab sich somit für die Beobachteten ein Zwang zur »unauffälligen« Lebensführung. Die Gestapo-Spitzel wiesen keine besondere Charakteristik auf, d.h. potentiell war jeder bzw. jede als Informant bzw. eine Informantin für die Gestapo geeignet. Als wesentliches Kriterium galt lediglich, daß diese potentiellen Informanten in der Bevölkerung relativ unverdächtig erscheinen mußten und sie sollten mit den geheimpolizeilichen »Zielpersonen« einen völlig "normalen" Umgang pflegen. Informationsbearbeitung und -auswertung: Die mittels der oben genannten Informationsgewinnungsverfahren erlangten Daten wurden durch die Geheime Staatspolizei bearbeitet. Himmler hatte als »Inspekteur der Gestapo« am 9. Juli 1934 eine umfassende Führung von »Personalakten« (Gestapo-Akten) angeordnet.42 Es gab Karteien in den einzelnen Staatspolizeistellen und eine Hauptkartei beim Geheimen Staatspolizeiamt in Berlin (ab 1939 Reichssicherheitshauptamt, Abt. IV). Unterschieden wurden hier zwei Kategorien: Zum einen nach Personen, die allgemein-politisch und zum anderen nach Personen, die spionagepolizeilich »in Erscheinung getreten waren«. Eine Gestapo-Akte hatte folgenden Aufbau und Inhalt:

Monopolisierung von Informationsquellen

1. 2.

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Vorgänge (Anzeigen, Berichte, Vermerke etc.), die die Einordnung in die oben genannten Kategorien ermöglichten zusätzlich war diesen Vorgängen zuzufügen: - Vertraulich erfaßte oder amtlich hergestellte Lichtbilder - Schriftvergleichsproben oder Formeln der Schriftvergleichsproben - Strafanzeigen - Einlieferungsanzeigen (sog. Festnahmeanzeige bei Enlieferung in ein Gefängnis etc.) - Anordnungen über Verhängung oder Aufhebung der Schutzhaft - Abschriften der Vernehmungsprotokolle - sonstige Feststellungen jeder Art, sofern sie für die Beurteilung des Betreffenden von Bedeutung sind, über Verbindungen Aufschluß geben, Ermittlungsergebnisse pp.43

Bis 1935 wurden so überwiegend die tatsächlichen oder per Definition erklärten politischen Gegner und Gegnerinnen der NSDAP erfaßt. Ein Erlaß von Heydrich vom 5. Februar 1936 intensivierte die Erfassung und Auswertungsmöglichkeiten von Akten und Karteien. Neben den obigen Angaben zur Person, war auch der aktuelle Aufenthaltsort zu ermitteln und aktenmäßig zu erfassend Die Erstellung dieser sog. Α-Kartei dauerte über ein Jahr und mußte aufgrund der unterschiedlichen Auslegung des Begriffes »Staatsfeinde« neu überarbeitet werden.45 Auch die Überarbeitung verlief nicht im Sinne von Heydrich, so ordnete er am 7. Juli 1938 eine neues Verfahren an. Danach gab es: G r u p p e 1 (= A 1) erfaßte die Personen, bei denen eine besondere Gefährlichkeit oder Bedeutung angenommen wurde (ausdrücklich sollten z.B. ausländische Journalisten hier nicht erfaßt werden, da sonst ihre Festnahme als Hinweis auf eine bevorstehende Mobilisierung gewertet werden könnte). G r u p p e 2 (= A 2) Personen, die zeitgleich zur Mobilmachung festgenommen werden müssen. G r u p p e 3 (= A 3) Personen, die nach der Mobilmachung oder bei einer sonstigen schweren Gefahr der Sicherheit festgenommen werden müssen oder in die Überwachung aufgenommen werden müßten.46 Diese Gruppeneinteilung war Grundlage für einen »Schnellbrief« vom 28. September 1938. Diese Handlungsanweisung sah die Deportation dieser Personen aus den südlichen bzw. südwestlichen Gebieten des Reiches in das Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar vor. Die Häftlinge aus den nördlichen und westlichen Gebieten sowie aus Mitteldeutschland sollten in das Konzentrationslager Sachsenhausen bei Berlin deportiert werden.47 Am 1.1.1939 bestand die Hauptkartei der Geheimen Staatspolizei in Berlin aus 1.980.558 Personalkarten und 641.497 Personalakten, die während des Krieges von bis zu 250 Personen bearbeitet wurden.48 Neben der Verarbeitung der Daten in Form von Akten und Karteien, waren sie auch als Grundlage für die »Lageberichte« notwendig. Die Lageberichte sind vom Sicherheitsdienst der NSDAP initiiert worden und waren

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von 1934 bis 1939 schematisch gegliedert. Unter dem Abschnitt »weltanschauliche Gegner« fand sich auch die Kategorie »Gegner/Judentum« und andere wie: »Marxismus, Liberalismus, Freimaurer, politische Kirchen und Rechtsbewegungen«.49 Die Gestapo berichtete seit der Jahreswende 1933/34 in zweiwöchentlicher oder monatlicher F o l g e t Nach kontroversen Diskussionen über die möglichen Auswirkungen dieser Berichte sofern sie in "unbefugte" Hände kämen -, hatte die Geheime Staatspolizei nur noch ausschließlich über die »weltanschaulichen Gegner« zu berichten und die Regierungspräsidien hatten wieder zur »allgemeinen Stimmung in der Bevölkerung« und zu Wirtschaftsfragen Stellung zu nehmen.51 Nach der Institutionalisierung der Geheimen Staatspolizei und des Sicherheitsdienstes im Reichssicherheitshauptamt im Jahre 1939 wurde die Gliederung und Form dieser Berichte verändert. Wöchentlich wurden mehrere Berichte verfaßt, um jeweils auch die aktuelle Kriegslage bzw. deren Auswirkungen erfassen zu können. Dies Verfahren wurde bis zum Ende des Krieges beibehalten. Mit diesen Lageberichten sollte die »öffentliche Meinung« erfaßt werden. Die Berichte sollen - zumindest in Auszügen auch Hitler persönlich erreicht haben.52 Die Informationen wurden zentral im Geheimen Staatspolizeiamt in Berlin (ab 1939 im Reichssicherheitshauptamt) gesammelt^ u n d systematisch in Form von Karteien, Akten oder sonstigen Dateien verarbeitet. Die Zentrale in Berlin hatte die alleinige Entscheidungsgewalt über die Art der Auswertung und Verwendung der Daten. In diesem Sinne verfügte die Geheime Staatspolizei monopolistisch über diesen Informationsfundus, sie konnte autonom entscheiden, wem sie wie und welche Informationen übermittelte. Diese Monopolisierung der Informationsgewinnung geschah im doppelten Sinne. Denn im Zuge ihrer Entwicklung hatte es die Gestapo auch erreichen können, an allen sonstigen (staatlichen und nicht-staatlichen) Informationsquellen auf der bürokratischen Ebene zugeschaltet zu werden, um folgend den Datenfluß und die Inhalte nach ihrem Bedarf zu steuern und zu verwenden.

4.2

Zuaibeit von Medizinern

Medizinisches Personal hat an der Tötung von Millionen Menschen mitgewirkt. Ärzte und medizinisches Hilfspersonal taten dieses in Vergasungs- und anderen Tötungseinrichtungen.54 Das nationalsozialistische Euthanasie-Programm, das das systematisch-medizinische Töten von Behinderten und anderen körperlich oder geistig Erkrankten bedeutete, stand unter dem Motto: "The syringe belongs in the hands of a physician."55 Die Mediziner mußten ihre Tötungen planen und sorgfältig vorzubereiten. Zunächst war der Kreis der Betroffenen zu definieren, sie waren dann systematisch zu erfassen, zu konzentrieren und erst dann konnten sie getötet werden. Besonders die erstgenannten Tötungsvorbereitungen, die Definition der betroffenen Menschen, konnten ohne die Geheime Staatspolizei nicht realisiert werden. Mediziner und die Angehörigen der Geheimen Staatspolizei waren unter diesem Aspekt aufeinander angewiesen, die Interessen waren kompatibel, ein kooperatives Zusammengehen lag also nahe.

Zuarbeit von Medizinern

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Mit folgendem Zitat - aus einer Studie über die medizinische Fakultät der Reichsuniversität Posen - kann die Zuarbeit durch universitäre Mediziner gekennzeichnet werden: "Es wäre jedoch ein Irrtum anzunehmen, daß sich die Mitwirkung der Reichsuniversität am Okkupationsregime auf die traditionell akademischen Bereiche - Lehrbetrieb, Forschung und Publikation - beschränkte. Es liegen uns beschämende Zeugnisse vor, daß deutsche "Gelehrte" der Reichsuniversität keine Bedenken empfanden, sich an den Mordexzessen der SS und der Gestapo, wenn nicht als unmittelbare Helfer, so als profitierende Komplizen, zu beteiligen."56 In der Zeit vom Dezember 1946 bis Juli 1947 verhandelte der I. Amerikanische Militärgerichtshof in Nürnberg gegen 23 Ärzte, Offiziere und Verwaltungsbeamte. Ihnen ist zur Last gelegt worden, an Menschenversuchen und Tötungen in Konzentrationslagern, Forschungsinstituten und Krankenhäusern beteiligt gewesen zu sein bzw. getötet zu haben.57 Als Beispiel für die institutionaliserte Zusarbeit ist das KaiserWilhelm-Institut (KWI) in Berlin zu nennen. Das »Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik« wurde bis 1942 von Dr. Eugen Fischer^ geleitet. Fischer beschrieb im Jahr 1931 die Aufgaben der Eugenik wie folgt: "Es liegt im Begriff der Eugenik, die Verbindung zwischen den Ergebnissen der Erblehre und den praktischen Maßregeln der Bevölkerungspolitik herzustellen. "59 Fischers Assistent, Dr. Dr. Joseph Mengele, belieferte ihn mit anthropologischem und genetischem "Material" [Körperteile von getöteten Häftlingen, Anm. H.J.H.] aus dem Konzentrationslager Auschwitz.^ Fischer war nach 1931 als Regierungsberater im damaligen Sachverständigenrat für Bevölkerungs- und Rassenpolitik tätig. In diesem Zusammenhang plante er die Zwangssterilisation von »Mischlingskindern«, den sogenannten »Rheinlandbastarden«. Das waren Kinder deutscher Frauen und afrikanischer bzw. asiatischer Männer, die als Kolonialsoldaten von den Franzosen und Briten im Rheinland als Besatzungstruppen (1920 und 1927) eingesetzt waren.61 im Zusammenhang mit Zwangsterilisierungen ist eine Kooperation zwischen Angehörigen der Geheimen Staatspolizei und universitären Medizinern belegt: "Die "unerwünschte Fortpflanzung" dieser Kinder und die "Gefahr der Rassenmischung" hatten schon seit 1920 staatliche Behörden beschäftigt, die nunmehr [1933, Anm. H.J.H.] keine Hinderungsgründe für die Realisierung ihrer vorgedachten Maßnahmen sahen. Da eine Sterilisierung der Kinder und Jugendlichen nicht nach dem "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" vom 14. Juli 1933 begründet werden konnte, entsandten Gestapo und Innenministerium in geheimer Aktion Gutachterkommissionen nach Wiesbaden, Ludwigshafen und Koblenz, die die Kinder nach einer zwangsweisen Vorführung und Untersuchung zur Operation an Krankenhäuser - die Universitätsklinik in Bonn und das Ev. Krankenhaus in Köln-Sülz überwiesen. Eugen Fischer und sein Assistent Wolfgang Abel (geb. 1905) nahmen als anthropologische Gutachter die rassische Bewertung der Kinder vor."62 Der Mediziner, Ernst Robert Grawitz^ arbeite als »Reichsarzt SS und Polizei« eng mit Himmler zusammen und war zuständig für die Genehmigung von Menschenversuchen. Zwei Sachverhalte sollen die Kooperationen bei Menschenversuchen belegen: 1943 sollten die Hepatitisforschungen intensiviert werden. In einem Brief an Himmler schreibt Prof. Dr. Grawitz u.a. folgendes: "Reichsführer! Der Generalkommissar des

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Führers, SS-Brigadeführer Prof. Dr. Brand, ist an mich herangetreten mit dem Ersuchen, bei der von ihm wesenüich geförderten Erforschung der Ursachen der ansteckenden Gelbsucht (Hepatitis epidemica) durch Zur-Verfügung-Stellung von Häftlingsmaterial behilflich zu sein. ... Zum Vorantreiben der Erkenntnisse, die sich bisher nur auf Überimpfungsversuche von Mensch auf Tier stützen, wäre nunmehr der umgekehrte Weg, nämlich die Überimpfung der erzüchteten Virusstämme auf den Menschen erforderlich. Mit Todesfällen muß gerechnet werden.... "64 Auch ein anderes Anliegen hatte der Reichsarzt »SS und Polizei« entsprechend des Wunsches eines Antragstellers erfüllen können. Der Mitarbeiter von Prof. Dr. Kurt Gutzeit^S, Dr. Arnold Dohmen, hatte das Anliegen, (getötete) Jugendliche und Kinder für weitere Hepatitisforschungen benutzen zu dürfen. Grawitz kam diesem Anliegen nach und wies den Lagerarzt des KL Auschwitz an, elf Kinder und Jugendliche zu töten und anschließend an Dr. Dohmen zu überstellen. Die Überstellung der Leichen erfolgte am 11. August 1943.^6 Ein ministerieller Erlaß vom 1.3.39 - initiiert von Reinhard Heydrich im Reichssicherheitshauptamt - sicherte den »Rassenhygenikern« "polizeilichen Schutz und Unterstützung" zu. Dem Reichskriminalamt oblag in diesem Zusammenhang die Feststellung des »Mischlingsgrades«. Dieser Erlaß schrieb den Angehörigen des Reichskriminalamtes vor, sich streng an die »Rassendiagnosen« der »Rassenhygenischen und Bevölkerungsbiologischen Forschungsstelle des Reichsgesundheitsamtes« (Direktor Dr. Dr. Ritter 67 ) zu halten. 68 Im Jahr 1938 wurde ein Erlaß des Reichsinnenministers »Zur Bekämpfung der Zigeunerplage« herausgegeben. Um diesen Erlaß polizeilicherseits umzusetzen, bedurfte es Kategorien für die Zurordnung. Die polizeilich-rassistische Einordnung dieser Verfolgtengruppe geschah nach den von Ritter gesetzten Kriterien. In der Praxis war allerdings die Polizei nicht in der Lage, die »Zigeuner« jeweils zu erkennen und einzuordnen. Entsprechend wurde die polizeiliche Arbeit von Ritter und anderen Angehörigen seiner Forschungsstelle unterstützt. Sie waren bei polizeilichen Razzien vor Ort und sie nahmen an Verhören in den Büros der Kriminalpolizei teil. Der Reichskriminaldirektor Nebe und Ritter hatten regelmäßig in Berlin Besprechungskontakte, um die gemeinsamen Anliegen abzustimmen. Ritter und Nebe sollen in Berlin auch Deportationen von »Zigeunern« in Konzentrationslager abgesprochen haben.® Noch ein letzter Beleg soll für das direkte Zusammenarbeiten gegeben werden. An der schon erwähnten Reichsuniversität Posen wurde das Anatomische Institut von Prof. Dr. Hermann Voss7*) geleitet. Voss bestellte bei der Geheimen Staatspolizei "zunächst frische Leichen "nur" für Unterrichtszwecke, zum Weiterverkauf ihrer Knochen, zu anthropologischen Gipsabdrücken" und ging bald "zum Experimentieren in der Hinrichtungsstätte selbst über. ,.." 71 Voss und sein Assistent, Dr. Robert Herlinger, "standen also mit Kanülen und Sezierbesteck neben der Guillotine der Posener Gestapo."7-^ Diese wenigen Hinweise belegen die Zuarbeit durch universitäre bzw. in der staatlichen Gesundheitsverwaltung angestellten Medizinern. Versucht man sich den Interessenslagen zu nähern, dann kann für die Angehörigen der Geheimen Staatspolizei folgendes angemerkt werden: Auch den Angehörigen der Geheimen Staatspolizei ist es nicht verborgen geblieben, daß sie unmittelbar Beiträge zu einer universitären Wis-

Zuarbeit des Militärs

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senschaft leisten konnten. So konnten sie ihre Tötungen von Menschen für die Medizinforschung doppelt legitimieren. Die erste Legitimation ergab sich aus dem staatlichen Auftrag, bestimmte Menschen aus bevölkerungspolitischen Gründen zu töten; die zweite ergab sich aus einer ungewöhnlichen Nachachtung durch eine gesellschaftlich höherstehende Profession, die berufsmäßig dem »Heilen« verpflichtet war. Für die Angehörigen der Geheimen Staatspolizei haben die Tötungen einen doppelten Zweck gehabt. Nach Mitscherlich ist es für Ärzte "fast dasselbe, ob man den Menschen als "Fall" sieht, oder als Nummer, die man ihm auf den Arm tätowiert. "73 Dies ist ein Indiz für die professionell-emotionale Distanz, die Ärzte und Ärztinnen während ihrer Berufsausübung wohl haben müssen. Bei den hier beispielhaft angeführten Medizinern handelt es sich um Männer (unterstützt auch von Assistentinnen), die in einer eigenen wissenschaftszentrierten und realitätsbildenden Welt lebten.^ Es entspricht einem professionell-medizinischen Bedürfnis, auch exklusive Versuche machen zu können, um so die Einzigartigkeit der eigenen Forschung (somit auch der eigenen Person) in der akademischen Fachwelt darzustellen. Hierzu zählen offensichtlich Versuche und Tests an gesunden und/oder gerade getöteten Menschen.Tötungen im Namen der Wissenschaft und/oder des Staates vorzunehmen, führt zur Minderung von individuellen Schuldgefühlen bei den Handelnden. Entsprechend ist es naheliegend, daß gerade solche (auch karriereorientierten) Mediziner der Geheimen Staatspolizei zuarbeiteten, da diese die Garantin für die schnelle und erfolgreiche Befriedung ihrer beruflichen, wissenschaftlichen und kaniereorientierten Interessenslagen war. Neben der hohen Befriedigungschance von Eitelkeiten, konnten auch ärztliche Omnipotenzgefühle durch die Zuarbeit mit der Geheimen Staatspolizei ausgelebt werden. Waren Ärzte bislang überwiegend in ihren Praxen und Labors tätig, konnten sie jetzt beim Vollzug von Staatsaufgaben (z.B bei polizeilichen Razzien und Verhören) mitwirken. Sie konnten sich kreativ und aktiv verhalten, also ganz gegensätzlich zu ihrem gelernten Berufsverhalten, welches im Grundsatz reaktiv und auf den Einzelfall bezogen ist. Sie wurden, um einen Begriff von Lifton und Markusen zu benutzen, zu strategisch denkenden »biological managers«.^

4.3

Zuarbeit des Militärs

Die Zuarbeit von Angehörigen der Reichswehr/Wehrmacht^ soll am Beispiel der »Einsatzgruppen«^ dargestellt werden. Der Begriff »Einsatzgruppen« ist im administrativen Schriftverkehr erst seit dem 30. Mai 1938 verwendet worden, nachdem Hitlers Entschluß bekannt wurde, die Tschechoslowakei "durch eine militärische Aktion zu z e r s c h l a g e n . "79 Das Personal für die Einsatzgruppen wurde aus der Ordnungspolizei, Sicherheitspolizei, dem Sicherheitsdienst (SD) und Angehörigen der Geheimen Staatspolizei^ rekrutiert. So setzten sich die Einsatzgruppen aus "SS-Führer[n] bzw. Kriminalpolizeibeamte[n] mit eher überdurchschnittlichen Talenten, Ambitionen und Ausbildungsvoraussetzungen, die allerdings schon frühzeitig zur NS-Bewegung gefunden hatten",81 zusammen. Eine Einsatzgruppe bestand aus zwei bis vier Einsatzkommandos von je 120 - 150 Männern. Der Personalhöchststand aller Einsatzgruppen wird mit 2.700 Männern angegeben. Nach

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Soziogenese der Geheimen Staatspolizei

nationalsozialistischem Sprachgebrauch, hatten die Einsatzgruppen "staatspolizeiliche M a ß n a h m e n " * ^ z u bewältigen. In diesem Sinne hatten die Angehörigen der Einsatzgruppen in den von der Wehrmacht besetzten europäischen Gebieten, die "neue Ordnung gegen jeden Angriff und jede Störung" zu schützen, sie hatten alle »reichsfeindlichen Personen« festzunehmen und Sicherstellungen vorzunehmen, »reichsfeindliche Einrichtungen« aufzulösen und die jeweiligen Dienststellen der Kriminal- und Staatspolizei zu besetzen. Die Geheime Staatspolizei wurde im Gegensatz zu anderen geheimdienstlichen Organisationen, als die kompetentere und professionellere eingeschätzt. Ein Beispiel aus den Niederlanden belegt dies: "So schnell auch in Holland durch die Einsetzung des Reichskommissars die vollziehende Gewalt auf diesen überging und die Polizei unter Führung eines Höheren SS- und Polizeiführers nach den generellen Arbeitslinien des Reichsführers SS und Chef der deutschen Polizei arbeitsmäßig eingesetzt wurde, kam in Holland der Einsatz fast zu spät, da die unter Führung der Abwehrstellen des Heeres getätigte Arbeit naturgemäß mangels erfahrungsmäßiger Sachkenntnis die politischen Emigranten, die polizeilich wichtigen Dokumente, Archive usw. nicht in dem Umfange erfaßte, wie es bei sofortigem Einsatz der Staatspolizei mit derem umfangreichen Material und Kenntnis möglich gewesen wäre. "83 Hilberg bezeichnet die Einsatzgruppen und ihre »Kommandos« mit Recht nach ihren Handlungen: als "mobile T ö t u n g s e i n h e i t e n . " ^ 4 Bis zum 20. Dezember 1942 hatten die Einsatzgruppen 363.211 Juden ermordet. Rechnet man die durch andere Polizeieinheiten Ermordeten hinzu, kommt man auf die Zahl von 500.000.85 Hilberg merkt an, daß sich die Einsatzgruppenangehörigen nur sukzessiv an das "routinemäßige Töten" gewöhnen konnten. Unter dem Befehlsbegriff »Juden«, verstanden die Einsatzgruppen zunächst nur Männer. Zu Massenerschießungen, auch von Frauen und Kindern, kam es erst ab August 1941.86 Wehrmachtsangehörige arbeiteten den polizeilichen Tötungseinheiten in verschiedener Weise zu. Da die Einsatzgruppen "ohnehin im Rücken" der Wehrmacht^ operierten, wurden sie mitunter auch mit militärischen Aufgaben konfrontiert. Ein Militärbefehlshaber beauftragte z.B. das Einsatzkommando 12, ein von "Partisanen und Heckenschützen unsicher gemachtes Gebiet zu säubern. "88 Grundsätzlich stellt Hilberg fest, daß "die Wehrmacht... mit den Einsatzgruppen in einem Ausmaß zusammen [arbeitete], das die in der OKH-RSHA-Absprache IOKH = Oberkommando des Heeres, Anm. H.J.H.] garantierte Minimalunterstützung bei weitem übertraf. Diese Zusammenarbeit war um so bemerkenswerter, als die Sicherheitspolizei kaum mehr als eine zähneknirschende Duldung ihrer Tötungsmaßnahmen erwartet hatte. "89 Im einzelnen sind Meldungen und Stellungnahmen der Angehörigen der Einsatzgruppen belegt wie: Die "Wehrmacht [hat] erfreulich gute Einstellung gegen die Juden", die Beziehungen zu den Militärbehörden seien "ausgezeichnet" und der Leiter der Einsatzgruppe A, Dr. Stahlecker, berichtete, daß seine Beziehungen zur 4. Panzerarmee "sehr eng, ja fast herzlich" seien.90 Dieses "herzliche Einverständnis" wirkte sich auf die Zuaibeit beim geheimpolizeilichen Töten aus. Hilberg nennt Beispiele: "In Dshankoj auf der Krim hatte der Bürgermeister ein Konzentrationslager für Juden errichtet, ohne jemanden darüber in Kenntnis zusetzen. Nach einiger Zeit kam es in dem Lager zu einer Hungers-

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not und drohten Seuchen auszubrechen. Der Ortskommandant wandte sich an die Einsatzgruppe D mit der Bitte, die Juden zu töten; doch die Sicherheitspolizei wies sein Ersuchen mit der Begründung ab, sie habe nicht genügend Personal. Nach einigem Hin und Her willigte die Wehrmacht ein, das Gebiet von ihrer Feldgendarmerie absperren zu lassen, so daß ein Kommando der Einsatzgruppe die Exekutionen vornehmen konnte. In Simferopol, der Hauptstadt der Krim, entschied der Kommandeur der 11. Armee kurzerhand, daß die Erschießungen bis Weihnachten abgeschlossen zu sein hätten. Mit Hilfe von Soldaten, Fahrzeugen und Treibstoff der Wehrmacht gelang es Einsatzgruppe D, ihre Tötungsmaßnahmen wunschgemäß abzuschließen, so daß die Truppe Weihnachten in einer judenfreien Stadt feiern konnte. "91 Die Wehrmacht drängte und unterstützte die im systematischen Töten von unbewaffneten Menschen versierten Einsatzgruppen, noch mehr Menschen außerhalb ihrer »Zuständigkeit« zu e r m o r d e n . 92 Dieses war insbesondere dann der Fall, wenn mit dem durchorganisierten Töten auch militärische Ziele (z.B. eine Stadt »judenfrei« machen) erreicht werden konnten. Im Zuge der Tötungen durch die Einsatzgruppen verloren zunehmend die Männer in den Führungsfunktionen der W e h r m a c h t ^ ihre (ersten) Bedenken gegen das - ihrer Meinung nach - »unmilitärische Töten« und kooperierten. Die Zuarbeit der Wehrmacht vollzog sich auf unterschiedlichen bürokratischen Ebenen. Auf der ministeriellen Ebene können die Abstimmungen, die normal-bürokratischen Absprachen im Rahmen der üblichen Zusammenarbeit von Behörden, genannt werden; die von Hilberg dokumentierten "Minimalabsprachen" belegen dieses. Die Zuarbeit in den besetzten Gebieten erfolgte ansonsten im Rahmen von personellen und logistisch-unterstützenden Maßnahmen.

4.4

Zuarbeit der Wirtschaft

Bei der Klärung der Frage von geheimpolizeilichen Kooperationen mit der Wirtschaft sind zwei Fragestellungen bedeutsam. Erstens: Gab es persönliche Beziehungen und/oder Kontakte zwischen Angehörige der Geheimen Staatspolizei und der Wirtschaft? Zweitens: Welche geheimpolizeilichen Maßnahmen sind im Wirtschaftssektor (einschl. der besetzten Gebiete) getroffen worden? Zunächst einige methodische Anmerkungen zur Vorgehensweise in diesem Abschnitt: Der Nationalsozialismus wird hier nicht im Sinne eines Totalitarismusmodells mit einer zentralisierten Kommandowirtschaft und auch nicht als monolithischer Staat, in den Händen Hitlers bzw. einer Nazi-Clique, verstanden wird. Daraus folgt, daß die Phase des regierenden Nationalsozialismus in Deutschland als ein polykratisches System gesehen wird, als eine Lebenswelt also, in dem es mehrere Machtzentren mit jeweils sich verändernden Machtraten gibt. In den Anmerkungen zum figurationssoziologischen Ansatz ist dieses entsprechend ausgeführt worden. Der Begriff »Wirtschaft« wird im allgemeineren Sinne verstanden, es zählen dazu Angehörige von Unternehmen, wirtschaftliche Interessensverbände, Banken und Großagrarier. Es ist eingangs notwendig, die Entwicklung der Wirtschaft im Nationalsozialismus kurz zu skizzieren. Im Rekurs auf H ü t t e n b e r g e r 9 4 stellt sich das Naziregime als »Pakt« oder

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»Allianz« dar. Dieser Pakt wurde durch ein Beziehungsgeflecht^5 von drei Gruppierungen gebildet, die aus dem »Nazi-Block«, der »Großwirtschaft« und der Reichswehr bestanden. Im Jahre 1936 kam eine vierte Gruppierung hinzu, die als »SS/SD/ Gestapo-Komplex« bezeichnet werden kann.96 Ab 1936 kann daher auch von einer wirtschaftlichen Neuorientierung gesprochen werden. Hierzu gehört auch die Intensivierung des systematischen Entzugs von jüdischen Vermögen.97 Im weiteren Verlauf der Entwicklung war der »SS/SD/Gestapo-Komplex« zumindest gegenüber der Reichswehr machtstärker geworden. Einen Beleg dieser Überlegenheit, vermag sich in der Anfang 1938 von der Geheimen Staatspolizei initiierten »BlombergFritsch-Affäre«98 finden. Und zum Ende des Jahres 1938 hatte die Geheime Staatspolizei im Verbund mit dem SD und der Schutzstaffel (SS) "die Kontrolle über die Durchführung der antijüdischen Politik erlangt. Nach diesem Überblick kann jetzt die Frage nach den persönlichen Beziehungen bzw. Kontakten zwischen der Geheimen Staatspolizei und der Wirtschaft untersucht werden. Bereits zu Zeiten der Weimarer Republik hatte sich in Berlin ein sogenannter »Keppler-Kreis« gebildet. Dieser Kreis setzte sich aus Männern des Wirtschaftsbereiches zusammen und hatte in erster Linie eine politisch-gesellschaftliche Funktion und nicht etwa wirtschaftlich. Die MännerlOl dieses Kreises trafen sich in unregelmäßigen Abständen zu Besprechungen. Zu diesen Besprechungen wurde jeweils eingeladen. So ist dieser Kreis für eine Eingabe an den Reichspräsidenten Hindenburg verantwortlich, die dafür plädierte, Hitler bereits vor 1933 zum Kanzler zu ernennen. Der Keppler-Kreis hatte einen wesentlichen Anteil daran, daß die Einwände der Großindustrie als wichtigster Gruppe der Konservativen gegen Hitler weitgehend überwunden werden konnten. Der »Keppler-Kreis« versöhnte letztendlich die Wirtschaft mit dem Nationalsozialisten. Aus diesem Kreis ging der sogenannte »Freundeskreis Himmler« hervor. Die Zusammensetzung und die Ziele erklärt Vogelsang wie folgt: "Im Freundeskreis waren nun nicht nur die Industrie und die in ihre Geschäfte verflochtenen Großbanken vertreten. Er wurde durch die Hereinnahme von Beamten der Reichsministerien und von höheren SS-Führern zu einer Gruppe umgestaltet, in der sich die Privatwirtschaft mit der Bürokratie und der Partei verband. Das von den Nationalsozialisten eingeführte System der Vermischung und Verdopplung der Kompetenzen durch die Neueinrichtung von Partei- und Staatsämtern erhielt durch den Freundeskreis damit eine weitere, wenn auch nicht auf Gesetzes- oder Befehlswege eingeführte und durch die Abgrenzung einer Kompetenz ausgestattete Variante.... Der Unternehmer [durfte] gewiss sein, daß sich seine Geschäfte mit dem Hinweis auf die Meinung der Beamten und SS-Führer leichter abwickeln lassen w ü r d e n . " ^ Über die in diesen Kreis entstandenen Verflechtungen sind auch verschiedene (tatsächliche und geplante) Arbeits- und Anstellungsverhältnisse in der Wirtschaft zustande gekommen. So war der Privatsekretär von Friedrich Flick und Generalbevollmächtigte des Flickkonzerns, Otto Steinbrinck, zugleich SS-Brigadeführer und ein Vertrauter H i m m l e r s 103 u n ( j j m Jahre 1942 sollte ein SS-Angehöriger Personalchef der Braunkohle-Benzin AG w e r d e n . 104 1939 waren von den 52 größten deutschen Aktiengesellschaften 14, also etwas über

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ein Viertel, mit leitenden Männern im »Freundeskreis Himmler« vertreten. Darüber hinaus hatten die anderen Freundeskreismitglieder Aufsichtsratsfunktionen in verschiedenen Unternehmungen; faktisch waren sämtliche Wirtschaftssparten vertreten. Im einzelnen können als Firmen hervorgehoben werden: IG Farben, Vereinigte Stahlwerke AG, Reichswerke AG für Erzbergbau und Eisenhütten »Hermann Göring«, VIAG Vereinigte Industrieunternehmungen, Dresdner Bank AG, Deutsche Bank AG, Wintershall AG, Siemens-Schuckertwerke AG, Braunkohle-Benzin AG, Commerz- und Privatbank AG, Deutsch-Amerikanische Petroleumgesellschaft AG, Feiten und Guilleaume Carlswerk AG, Allianz und Stuttgarter Verein Versicherungs AG, Rheinmetall-Borsig AG. 1 0 5 Dieser Freundeskreis tagte nicht öffentlich und in unterschiedlicher Zusammensetzung. Vor einzelnen Zusammenkünften wurde besonders eingeladen. Dieser Kreis stellte sich als "ein exklusiver Zirkel dar", ihm zugehörig zu sein, gehörte zum "guten Ton" in den Wirtschaftskreisen. Die besondere Bedeutung dieses Kreises liegt in seiner doppelten Funktion: Himmler sicherte sich auf der einen Seite die notwendige Resonanz für seine Maßnahmen in der Wirtschaft. Die Unternehmensvertreter andererseits, sicherten sich über die Zugehörigkeit zum Freundeskreis und über die Person Himmler, Einfluß auf die Führungsspitze von Partei und Staat. Da Himmler zu den wenigen Personen gehörte, die jederzeit ungehinderten Zugang zu Hitler hatte, war auch ein Kommunikationskanal vorhanden, der z.B. für Aufträge und Unternehmensübernahmen eine entscheidende Bedeutung hatte. Die Mitglieder spendeten dem Freundeskreises jährlich rund eine Million Reichsmark. 106 Die Verwendung dieser Gelder ist nicht genau geklärt, sie scheinen in die Kassen der SS geflossen zu sein. 107 Aufgrund US-Amerikanischer Ermittlungen gegen den Konzern IG - Farben ist bekannt, daß in diesem Zusammenhang ein »Sonderkonto S« beim Bankhaus J.H. Stein in Köln unterhalten wurde. Von hier sind Gelder auf das Konto des Reichsführers SS, Nr. 30/6640/41 bei der Dresdner Bank in Berlin überwiesen w o r d e n . 108 Als Nachweis für die Verfahren der Überweisungen bzw. den damit verbundenen "Dank" des Reichsführers sei folgender Brief zitiert, den der SSBrigadeführer Kurt von Schröder an den IG-Faiben Konzern schickte: " Herrn Geheimrat Schmitz, do I.G. Farbenindustrie AG, Berlin. Sehr geehrter Herr Geheimrat! Ihre Gesellschaft hat in den vergangenen Jahren auf meine Bitte dem Reichsßhrer-SSflir seine besonderen Aufgaben jeweils einen Betrag von RM 100.000.- zur Verfügung gestellt. Ich erlaube mir daher, auch in diesem Jahr an Sie die Bitte zu richten, den gleichen Betrag wiederum ßr den Reichsßhrer-SS auf das Sonder-Konto "5" beim Bankhaus j.H. Stein in Köln, zu überweisen und wäre Ihnen ßr die Erßllung dieser Bitte außerordentlich dankbar. Wie Sie wissen, hat der Reichsführer diese Unterstützung immer besonders anerkannt und Sie können seines Dankes gewiß sein. "109

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Es ist noch anzumerken, daß sich die Zuarbeit der Wirtschaft nicht auf das »Großkapital« reduziert. Besonders der mittelständische jüdische Einzelhandel sah sich "bereits in den ersten Monaten des Naziregimes einer festorganisierten und wirkungsvollen Boykottbewegung ausgesetzt." 1 ^ Die Ziele dieser Aktion waren klar: Die jüdischen Ladenbesitzer sollten zur Aufgabe ihres Ladens/Betriebes veranlaßt werden bzw. sollten zum Verkauf gezwungen werden. Begünstigte dieser Verfahren sollten die sog. "Alten Kämpfer" und "verdiente Partei- und Volksgenossen" sein. Dabei war es aus der Sicht der Begünstigten unbestritten, daß diese Verkaufsgeschäfte nicht unter den Bedingungen des Marktes abgeschlossen wurden, d.h. die realen Werte für die Betriebe und Objekte sind nicht gezahlt worden. 111 Wenn auf weitere Kooperationen zwischen den Angehörigen der Geheimen Staatspolizei und der Wirtschaft aufmerksam gemacht werden soll, dann muß auch wahrgenommen werden, daß die Unternehmer - mehr als andere Gesellschaftskreise - vom Wirtschaftsaufschwung und der Aufrüstung profitierten. Gleiches gilt für die Zeit des Krieges. H 2 Im Jahr 1936 wurden von der Geheimen Staatspolizei im verstärkten Maße Juden überwacht, die eine Auswanderung vorbereiteten. In diesem Zusammenhang wurden die staatlichen Finanzämter angewiesen, "die Augen offen zu halten und alle Fälle zu melden, in denen auffallende Einkäufe von Inventar oder Berufsmaterialien eine bevorstehende Auswanderung vermuten ließen."H3 Geheimpolizeiliche Tätigkeiten gegen im Wirtschaftsbereich tätige Juden, gründeten sich immer auf zwei Interessenslagen. Die Angehörigen der Geheimen Staatspolizei richteten ihre Maßnahmen gegen »Staatsfeinde«; die arisch-etablierteren Wirtschaftsvertreter hingegen sahen in diesen Juden einen Marktkonkurrenten. Über Maßnahmen der Geheimen Staatspolizei 1 konnten hier in nicht- kaufmännischerweise Marktanteile wettgemacht werden. Nämlich, "wenn es aufs letzte ging, verschmähten es auch die seriösen Herren in den Direktorien international renommierter Großunternehmen nicht, sich die Terrormaßnahmen der Gestapo zunutze zu machen, um die jüdischen "Vertragspartner" mürbe zu machen." Dr. Emil Georg von Strauß gehörte bis 1933 zum Vorstand der Deutschen Bank und wurde dank seiner Beziehungen zu Göring 1934 zum Vizepräsident des Reichstages ernannt. Von Strauß hatte persönliche Kontakte auch zu Hitler, Goebbels und zum Reichsbankpräsidenten Schacht. Der Direktor der Deutschen Bank, Alfred Kurzmeyer, unterhielt Verbindungen zum Leiter des SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamtes, Oswald Pohl, sowie zu verschiedenen Leitern von Konzentrationslagern. Karl Ritter von Halt, Mitglied des Vorstandes der Deutschen Bank war Mitglied des Himmler-Kreises und wurde 1937 von Himmler zur Inspektion des Konzentrationslagers Dachau eingeladen. Im Jahre 1939 besuchte Ritter von Halt das Konzentrationslager Oranienburg. Die oben beschriebenen Expansionsprozesse gelten auch für die Dresdner Bank. 115 Ihre Filialen sind als Spionage- und NS-Propagandastellen genutzt worden. 116 So trat die Stabsstelle des Stellvertreters des Führers mit der Bitte an die Vorstände der Deutschen Banken heran, diese mögen das ausländische Bankenpersonal anweisen - unter Nutzung der bestehenden Geschäftskontakte -, die jeweiligen Gesprächspartner von den "Vorzügen des Nazi-Regimes aufzuklären". Das Vorstandsmitglied der Dresdner Bank,

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Carl Goetz, stellte im Zusammenhang mit dem Ersuchen eine Personalliste für verschiedene Länder zusammen. Carl Goetz war es auch, der 1937, nach Rücksprache mit der Geheimen Staatspolizei in Berlin, die Entlassung des Leiters der Deutsch-Südamerikanischen Bank in Chile, Otto Egg, veranlaßte, weil dieser angeblich an der "Verbreitung jüdischer Emigrantenliteratur" teilgenommen haben soll. 1 ^ Die Funktion der Geheimen Staatspolizei im Zusammenhang mit der Durchsetzung von wirtschaftlichen Interessenslagen beschreibt Barkai wie folgt: "Die Methoden des auf die jüdischen Besitzer ausgeübten Drucks änderten sich von Zeit zu Zeit, von dem mit physischer Gewalttätigkeit verbundenen Boykott uniformierter SA- und SS-Männer vor den Läden bis zum administrativen Entzug öffentlicher Aufträge durch lokale Behörden. In besonders "hartnäckigen" Fällen wurde durch die Gestapo und KZ-Haft etwas kräftiger nachgeholfen." 118 Verschiedene Einzelfälle sind im Zuge alliierter Ermittlungen gegen deutschen Großbanken bekannt geworden. So wurde der Teilhaber einer Berliner Brauerei durch die Geheime Staatspolizei unter Androhung seiner Verhaftung aufgefordert, berechtigte Schadensersatzforderungen gegen die Dresdner Bank zurückzunehmen. Auch im Auslandsgeschäft betrachtete der Vorstand der Dresdner Bank die Geheimen Staatspolizei als zulässiges Mittel für den Erwerb von Mehrheitsbeteiligungen. In Österreich, der Tschechoslowakei und den Niederlanden arbeitete die Dresdner Bank mit einem Gestapo-Agenten namens Dr. Rajakowitsch zusammen. In der nationalsozialistischen Sprache wurde dieser systematische Wirtschafts- und Existenzentzug mit dem Begriff »Arisierung der deutschen Wirtschaft« bezeichnet. Dieser Prozeß wurde allerdings nicht nur von der Geheimen Staatspolizei kontrolliert. Diese Vorgänge wurden aus den Büros der »Gauwirtschaftsberater« überwacht, allerdings mit enger Unterstützung (d.h. im wesentlichen Datenaustausch) durch die örtlichen Industrieund Handelskammern, durch die Finanzämter und lokalen Regierungsstellen. In diesem Zusammenhang wurde von jedem jüdischen Betrieb eine Akte angelegt. Aus dieser Akte ließ sich die aktuelle Geschäftslage des Betriebes entnehmen. Grundlage dieser Akte stellten Berichte der Handelskammer, der Finanzbehörde oder Stellungnahmen von eingeschleusten V-Männern dar. Die administrative Bearbeitung wurde allerdings von der Geheimem Staatspolizei vorgenommen. So erließ das Geheime Staatspolizeiamt Verfügungen, mit denen jüdische Vermögen "eingezogen" w u r d e n ^ ^ u n ( j s ¡ e führte die Sachbearbeitung bei den von ihr selbst erzwungenen Auswanderungsabsichten von Juden durch: "In der Praxis sah das so aus, daß der auswandernde Jude wie an einem laufenden Band ausgeplündert wurde. Wenn er den Saal betrat, sah er vor sich eine lange Tischreihe mit zehn oder zwölf Schaltern hinter denen je ein Gestapobeamter saß. Im Augenblick des Eintritts war er noch deutscher Staatsbürger, im Besitze einer Wohnung, vielleicht auch eines Geschäftes, eines Bankkontos, einiger Ersparnisse. So wie er von Schalter zu Schalter ging oder - besser gesagt - geschoben wurde, wurde ihm eines nach dem anderen abgenommen, und als er den Saal am anderen Ende verließ, war er ein staatenloser Bettler mit einem einzigen Besitzobjekt in der Hand: dem Auswanderungspaß. An dem ersten Schalter mußte er seine Einreisepapiere ins Ausland vorzeigen, an einem anderen ... seine Auswanderungsabgabe bezahlen, wieder an einem anderen wurde die "Arisierung" seines Geschäfts

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oder seiner sonstigen Objekte besiegelt, dann mußte er nachweisen, daß er keine Schulden im Inland zurücklasse, seine Steuenrückstände begleichen, seine Wohnung übergeben, seine Gas- und Elektrizitätsrechnungen bezahlen, und dann bekam er seinen Paß fix und fertig ausgestellt. "120 Einige Daten sollen den systematischen Verdrängungsprozeß der Juden aus der Wirtschaft und dem Erwerbsleben skizzieren. 1935 wurden noch 70.000 - 80.000 jüdische Firmen geschätzt, im April des Jahres 1938 waren es nur noch knapp 40.000.121 1933 waren 48,1% aller jüdischen Einwohner beruflich tätig gewesen, im Mai 1939 waren es nur noch 15,6%. Im gleichen Jahre wurden als "berufslose Selbständige" 107.850 jüdische Erwerbspersonen gezählt, das waren 71% aller Juden über 14 Jahre. In der statistischen Kategorie "Handel und Verkehr" waren 1939 noch 18,9% gegenüber 61,3% im Jahr 1933 tätig; entsprechend waren über 2/3 aller deutschen Juden im Jahr 1939 ohne wirtschaftliche Betätigung. Das übrige Drittel der meist mittellosen Juden wurde bereits im »Arbeitseinsatz« beschäftigt, "einer Vorstufe der später über alle arbeitsfähigen Juden verhängten Zwangsarbeit in der Kriegswirtschaft." 122 Nach einem Erlaß des Präsidenten der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitsversicherung hatten die lokalen Arbeitsämter umzusetzen, daß "die arbeitslosen Juden in speziellen Gruppen, abgesondert von der "Gefolgschaft", in privaten und öffentlichen Unternehmen" beschäftigt werden. Diese Gruppen wurden zu den schmutzigsten und schwersten Arbeiten in den Unternehmungen herangezogen. Dieses arbeitsamtliche Verfahren wurde durch die örtliche Geheime Staatspolizei überwacht." 123 in diesem Prozeß wurden nicht nur Juden über ihre Arbeitskraft ausgebeutet, sondern es gelangten viele Firmen, sowohl innerhalb des "Altreiches" wie auch in den besetzten Gebieten 124 ¡ n die Hände des »arischen Unternehmertums«. Mit der Besetzung Polens wurde diese Politik verändert. Bei den übernommenen Chemieunternehmungen sollen lediglich die Direktionsposten mit IG-Farben-Personal besetzt werden. Die Eigentumsrechte sollten nicht in den Firmenbesitz übergehen. Dennoch wurde diese Politik auf Grund der Verflechtungen zwischen dem Chef der deutschen Polizei, Himmler, und des Unternehmens der IG-Farben durchbrochen. Barkai belegt dieses: "Direktor von Schnitzler [IG-Farben], der den einmarschierenden Truppen sofort nachgefolgt war, gelang es trotzdem, die Besitzrechte zu erwerben, in engem Kontakt und Übereinstimmung mit Himmler bzw. dem SS-Brigadeführer Greifelt, der in Polen die Bestätigungsinstanz aller derartigen Transaktionen war. Hier begann bereits die neue Interessengemeinschaft von IG-Farben mit der SS, die sich bald darauf in Auschwitz und anderen Lagern so einträglich b e w ä h r t e . " 1 2 5 In der Einleitung ist schon daraufhingewiesen worden, daß der Lagerkommandant Höß - quasi im Nebenamt - einen Industriekomplex in unmittelbarer Nachbarschaft des Konzentrationslager betreute. Vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg ist auch die Beschäftigung von Hunderttausenden von Lagerhäftlingen in Betrieben und Unternehmungen der IG-Farben, Krupp, Hick und anderer Großfirmen verhandelt worden. Diese Arbeitsverhältnisse sind als Menschenschinderei zu bezeichnen, weil es hier um Verhältnisse ging, die "nicht einmal durch rein wirtschaftliche Rationalität beschränkt [war], da die schnell verschlissene Arbeitskraft leicht zu ersetzten war." 126

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Deutsche Firmen, u.a. die zum Flickkonzern gehörende Dynamit-Nobel AG, Rheinmetall-Borsig, BMW und Daimler-Benz, Messerschmitt, Junkers, Heinkel, Siemens, Volkswagen, AEG und Telefunken, hielten sich Lagerhäftlinge als billige Arbeitskräfte. Die Arbeitskräfte wurden auf Antrag von der SS zur Verfügung gestellt und die Verpflegungsrationen (in Kalorien) von der Geheimen Staatspolizei festgelegt. 127 i q . Farben zahlte drei bis vier R e i c h s m a r k 128 ρ Häftlingstag an die SS, wobei die Häftlinge nicht entschädigt wurden. Um nur geringe Lohnkosten zu haben, verlagerten verschiedene Firmen ihre Produktionsstätten in die unmittelbare Nähe der Lager. Diese Geschäftsverbindungen führten u.a. dazu, daß Besprechungen zwischen Vertretern der Unternehmen und der Geheimen Staatspolizei "vor Ort", d.h. in Konzentrationslagern, geführt wurden. Vor Ort wurden auch gemeinsame Weihnachtsfeiern veranstaltet. Mitunter war die Geheime Staatspolizei auch direkt an finanziellen Transaktionen beteiligt. Belegt ist auch die Kooperation mit der Böhmischen Unions-Bank (BUB), die wiederum eng mit der Deutschen Bank zusammenarbeitete. Die Berg- und Hüttengesellschaft in Prag ist im Jahr 1942 ein Tochterunternehmen der Deutschen Bank geworden und wurde nach den Bestimmungen des deutschen Rechts rekonstruiert. Bei der Kapitaleinlage von insgesamt 75 Millionen Reichsmark (RM) unterstützte die Geheime Staatspolizei die BUB: "Das Kapital wurde mit 75 Millionen RM angesetzt und dann um weitere 50 Millionen RM, die von der Deutschen Bank, Berlin, übernommen wurden aufgestockt. Das Paket von 33 Millionen RM, bestehend aus den ursprünglich in französischem Besitz befindlichen Aktien sowie einem kleineren Anteil, der der BUB von der Gestapo (Vermögensamt Prag) zugespielt worden war, wurde ebenfalls Eigentum der Deutschen Bank, B e r l i n . " 129 j)j e 0 b e n gestellten Fragen können nunmehr beantwortet werden: Γ 0

Aufgrund des »Freundeskreises Himmler« sind exklusive persönliche Kontakte zwischen der Führungsspitze deutscher Wirtschaftsunternehmungen und der Geheimen Staatspolizei möglich geworden. Diese Kontakte führten u.a. zu Arbeits- und Angestelltenverhältnissen von SS-Angehörigen in Wirtschaftsunternehmungen. Es ist evident, daß aufgrund solcher Verbindungen Kommunikationswege entstehen, die im eigentlichen Sinne des Wortes, von "direkter" Natur waren. Eine Trennung von geheimpolizeilichen und wirtschaftlichen Daten und die Verarbeitung sowie Weitergabe dieser Daten war im Grunde nicht möglich und auch nicht beabsichtigt. Die Angehörigen der Geheimen Staatspolizei waren an der finanziell-administrativen Bearbeitung im Verbund mit Steuer- und Versorgungsbehörden an den von ihnen selbst erzwungenen Auswanderungen von Juden aus Deutschland beteiligt. Die Geheime Staatspolizei besaß das Bearbeitungs- und Anweisungsmonopol im Einzug von jüdischem Vermögen. Weiterhin haben Angehörige der Geheimen Staatspolizei bei Boykottmaßnahmen der SA mitgewirkt Sie sind an Verfahren beteiligt gewesen, in denen der Verkauf von Geschäften, Betrieben und Firmen von jüdischen Besitzern an das »arische« Unternehmertum erzwungen wurde. Auch in diesem Zusammenhang ist von den Angehörigen der Geheimen Staatspolizei psychische und physische Gewalt angewendet worden. Die Angehörige der Geheimen Staatspolizei haben an der Ausplünderung der deutschen und europäischen Juden mitgewirkt und diese fast immer auch erst ermöglicht.

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Gemeinsame Unternehmungen der Geheimen Staatspolizei und deutschen Unternehmen im Sinne des Gewerberechts (als juristische Person) gab es nicht. Allerdings wird nicht der Auffassung von Barkai gefolgt, der das Verhältnis zwischen dem deutschen Unternehmertum und dem nationalsozialistischen Herrschaftssystems mit "sleeping partners" 130 gekennzeichnet hat. Er kennzeichnet damit die Wirtschaftsbeziehungen, in welcher ein Partner als "stiller Teilhaber" fungiert und der andere sich allein aktiv verhält. Es sind Belege aufgeführt worden, die die aktiven Verhaltensweisen der Angehörigen der Wirtschaft z.B. bei der Häftlingszuweisung für Betriebe, Partizipation am Vermögen jüdischer Geschäftsleute und die Inkaufnahme und Akzeptanz von geheimpolizeilichen Terrormaßnahmen dokumentieren. Das Verhältnis zwischen der Geheimen Staatspolizei und der Wirtschaft stellt sich daher als Verbund zwischen bilanzierenden machtstarken Gruppierungen dar und weniger als eine Geschäftsbeziehung zwischen Auftraggeber und Subunternehmer

4.5

Zuarbeit der Diplomatie

Das Reichsaußenministerium in Berlin war in unmittelbarer Nachbarschaft zur Reichskanzlei in der Wilhelmstraße gelegen. Gemäß administrativer Tradition wurde das Reichsaußenministerium von anderen Behörden oder Ministerien an Entscheidungen oder Angelegenheiten beteiligt, wenn diese sich auf die auswärtigen Beziehungen auswirken konnten. Unter diesem Aspekt besaßen die Angehörigen des Außenministeriums ein Informationsprivileg gegenüber allen anderen staatlichen Verwaltungen. Unabhängig von dieser Kommunikationsvorschrift und Informationsvorteilen sollen hier - wie auch schon in den anderen Skizzen zu Verfahren der Zuarbeit - im besonderen Maße die personellen Verflechtungen zwischen der Geheimen Staatspolizei und dem Auswärtigem Amt sowie die konkrete Zuarbeit aufgezeigt werden. Oben ist dargelegt worden, wie die Angehörigen des konsularischen und diplomatischen Corps für die Geheime Staatspolizei direkt oder indirekt Informationen sammelten und übermittelte. Auch auf die logistische Unterstützung der Geheimen Staatspolizei durch diplomatische und konsularische Dienststellen bei der Abwicklung der finanziellen Angelegenheiten der Auslandsagenten ist hingewiesen worden. Hier konnte auch nachgewiesen werden, daß das Auswärtige Amt verschiedene Auslandsspionageprojekte der Geheimen Staatspolizei finanzierte und als Gegenleistung die geheimpolizeilichen Informationen auswerten konnte. 131 Die nachfolgende Skizze bezieht sich auf die Zuarbeit von Angehörigen des Reichsaußenministeriums, seit Joachim von R i b b e n t r o p l 3 2 i m Jahr 1938 zum Reichsaußenminister ernannt wurde. Hitler und von Ribbentrop kannten sich seit 1932 und hatten nach 1933 auch private Kontakte in Berlin. Von Ribbentrop war kein Berufsdiplomat. Er wurde aufgrund seiner Verbindungen zu Hitler im Jahr 1936 zum deutschen Botschafter in London ernannt. Nach seiner Ernennung zum Reichsaußenminister richtete von Ribbentrop im Reichsaußenministerium unter der Leitung von Vico von BülowSchwantel33 innerhalb des offiziellen Referates »Deutschland« eine Dienststelle ein,

Zuarbeit der Diplomatie

103

welche die Verbindungen zwischen dem Reichsaußenministerium in den Parteidienststellen der NSDAP im Reich sicherstellen sollte. Zum Geschäftsbereich dieser Dienststelle gehörten u.a. "so komplizierte Probleme, wie sie sich aus der Judenverfolgung, der Parteipropaganda durch die Auslandsvertretungen und die Zusammenarbeit mit der Gestapo und dem Nachrichtendienst Himmlers ergaben." 134 Diese Dienststelle vermittelte u.a. "geheime technische Abkommen zwischen der Gestapo und der Polizei Italiens, Jugoslawiens und F i n n l a n d s . " 135 Das Ziel war, "eine gut organisierte antisowjetische Politische Polizei aller europäischer Staaten, natürlich unter deutscher Führung", zu schaffen und dabei "sollte [Berlin] das Zentrum einer polizeilichen Abwehrftont aller zivilisierten europäischen Staaten gegen politisches Verbrechertum werden." 136 Bei der Darstellung der Verflechtungen zwischen dem Reichsaußenministerium und der Geheimen Staatspolizei muß berücksichtigt werden, daß das Ministerium als bislang besonders privilegierte Organisation zunehmend an Bedeutung und Einfluß verlor. Dieser Macht- und Einflußverlust hängt direkt mit der deutschen Besetzung der europäischen Gebiete zusammen. Beginnend mit dem Überfall auf Polen im Jahr 1939, wurden die deutschen Botschaften in den besetzten Gebieten überflüssig und ihre Diplomaten abberufen. 1371940 unterhielt Deutschland diplomatische Beziehungen zu über vierzig Staaten, zwei Jahre später, im Jahr 1942, waren es nur noch 22 Staaten und das Auswärtige Amt "leistete ... fast nur noch anderen Dienststellen des Dritten Reiches Hilfestellung."138 Die Hilfsdienste erstrecken sich vor allem auf die Unterstützung des Reichssicherheitshauptamtes in Berlin: "So hielt beispielsweise Himmlers Reichssicherheitshauptamt engen Kontakt mit dem Auswärtigen Amt in allen Fragen der Deportation politischer Gefangener aus den besetzten Gebieten nach Deutschland, der Erschießung von Geiseln, der Ermordung von Kriegsgefangenen und der Rekrutierung von "Freiwilligen" der Waffen-SS aus nicht reichsdeutschen Gebieten. Beamte des Auswärtigen Dienstes nahmen an Besprechungen teil, die sich mit der Rekrutierung ausländischer Arbeitskräfte, der Beschlagnahme von Wirtschaftsgütern und Bodenschätzen aus den besetzten Gebieten, der Verteilung der Zwangsarbeiter auf das Reichsgebiet und der Durchführung von Schauprozessen befaßten."139 Von Ribbentrop folgte mit Beginn der Kriegshandlungen mit seinem Sonderzug stets dem Zug Hitlers. 140 So wurde das Auswärtige Amt in Berlin faktisch durch den Staatssekretär von Weizsäcker geleitet Seit dem 7. Mai 1940 gab es im Reichsaußenministerium eine weitere neue Dienststelle mit der Bezeichnung »Deutschland/ Inland«. Diese Dienststelle wurde von Martin Luther geleitet Auch er war auch kein Berufsdiplomat. Luther hatte verschiedene Berliner NSDAP-Parteifunktionen inne und wurde zunächst »persönlicher Sachbearbeiter« bei von Ribbentrop, bevor er Karriere als Abteilungsleiter im Auswärtigen Amt machte. Während des Krieges kommunizierte von Ribbentrop "sehr häufig direkt" mit dieser Abteilung »Deutschland/Inland«. Staatssekretär von Weizsäcker wurde davon nicht immer informiert. Ab Mitte des Jahres 1941 "umgab ein dichter Schleier des Geheimnisses alle Arbeiten dieser Abteilung" und "für das Auswärtige Amt von der Gestapo, der SS und dem RSHA einlaufende Meldungen wurden sofort an Luther geleitet" 141

104

Soziogenese der Geheimen Staatspolizei

Luther vertrat das Reichsaußenministerium bei interministeriellen Besprechungen mit dem RSHA und verfaßte am 28. September 1942 ein Memorandum mit folgendem Inhalt: "Der Außenminister wies mich heute telefonisch an, die Evakuierung der Juden aus den verschiedenen europäischen Ländern weitgehend zu beschleunigen, da es eine erwiesene Tatsache sei, daß die Juden sich überall in antideutsche Propaganda verwickeln lassen und für Sabotage und Gewaltakte verantwortlich sind. Nach einem kurzen Gespräch über die in Gang befindliche Deportation der Juden aus der Slowakei, Kroatien, Rumänien und anderen besetzten Gebieten befahl der Außenminister, daß wir auch an die Regierungen von Bulgarien, Ungarn und Dänemark herantreten sollen, um auch dort Evakuierungen e i n z u l e i t e n . " 142 Die Koordination solcher Maßnahmen des Reichsaußenministeriums erforderten eine enge Abstimmung mit dem RSHA. Zu diesem Zweck ermöglichte das Auswärtige Amt auch die Akkreditierung von über siebzig RSHA-Angehörigen als "getarnte Polizeiattachés" an den deutschen Botschaften, Gesandtschaften und Konsulaten. Ihr offizieller Status war der eines Handelsattachés oder eines »wissenschaftlichen E x p e r t e n « " . 143 Neben dieser Personalerweiterung in den Gesandtschaften des Auswärtigen Dienstes durch Angehörige der Geheimen Staatspolizei, wechselte geheimpolizeiliches Personal auch auf der ministeriellen Abteilungsleiterebene in den Dienst des Auswärtigen Amtes. So wurde im Jahr 1943 zum Beispiel Prof. Dr. Otto Six, Leiter des Amtes II - Gegnererforschung - im RSHA zum Leiter der Kulturabteilung im Auswärtigen Amt ernannt. 1944 wurde im Auswärtigen Amt unter dem Gesandten Rudolf Schleicher eine »Antijüdische Aktionsstelle« gegründet. Diese Dienststelle sollte "die antisemitische Informationsaibeit im Ausland stärken und intensivieren, und zwar durch Koordinierung aller mit antisemitischer Informationsarbeit befaßten Experten und durch die Intensivierung der Zusammenarbeit des Auswärtigen Amtes mit den antisemitischen Dienststellen außerhalb des M i n i s t e r i u m s . " ^ So wurde eine Anweisung erlassen, nach der alle Auslandsmissionen einen Beamten, "möglichst den Kulturattaché", zum »Spezialisten für Judenfragen« zu ernennen hatten. Zur gleichen Zeit unterrichtete die Dienststelle »Inland« des Auswärtigen Amtes das RSHA über Methoden zur Deportation der Ostjuden. Die Zuarbeit des Auswärtigen Amtes unterlag einer eigentümlichen Dynamik. In dem Maße, wie sich das Reichsgebiet in Europa erweiterte, reduzierte sich der vorher privilegiert-politische und reale Einfluß der Angehörigen des Reichsaußenministeriums, der Diplomatie. So wie sich der Einfluß und die Bedeutung reduzierte, nahm der Einfluß der Geheimen Staatspolizei - auch auf der ministeriellen Ebene - zu. Die Kompetenzen der Geheimen Staatspolizei als eine deutsche Binnenbehörde erweiterten sich auf die besetzten Gebiete und degradierte die ehemaligen administrativen Monopolinhaber zu Beratern. Das Know-How und die Verbindungen des Auswärtigen Amtes wurden jetzt für die geheimpolizeiliche Praxis, namentlich für die Erfassung, Konzentration und Deportationen von Juden und anderen genutzt. Die Zuarbeit des Auswärtigen Amtes für die Geheime Staatspolizei drückte sich aber nicht nur in dieser Form der Unterstützung aus. Personal der Geheimen Staatspolizei wechselte sogar in die Dienste des Auswärtigen Amtes. Unter diesem Aspekt kann in diesem Fall nicht nur von einer Zuarbeit gesprochen werden, son-

Zuarbeit von Wirtschaftswissenschaftlern, Soziologen und Planern

105

dem diese Art des Austausches von Wissen, Personal und Methoden ist treffender mit dem Begriff Verschränkung zu kennzeichnen, wobei die Geheime Staatspolizei eines stetigen Machtzuwachs erfuhr.

4.6 Zuarbeit von Wirtschaftswissenschaftlern, Soziologen und Planern Wirtschaftswissenschaftler, Soziologen und Planungsexperten haben der Geheimen Staatspolizei in unterschiedlicher Weise - direkt oder indirekt - zugearbeitet. Viele Wirtschaftswissenschaftler wurden "nicht müde, immer wieder die immaterielle Auffassung von Wirtschaft zu betonen" 145 u n d legitimierten damit auch das nationalsozialistische Wirtschaftsstrafrecht mit dessen drakonischen Strafandrohungen. Der Gestapo oblag es dann, »Wirtschaftsverbrecher« zu verfolgen und zu bestrafen. Soziologen halfen mit, die »Feinderkennung« im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie auf eine wissenschaftliche Grundlage zu stellen. In ihren bevölkerungswissenschaftlichen Arbeiten kartierten Planungsexperten bestimmte Wohngebiete, in denen »Untermenschen« wohnten und erleichterten damit die geheimpolizeilichen Vorbereitungen für die Deportationen. Die wirtschaftwissenschaftliche Betonung und Begründung der Wirtschaft als »Immaterielles« lieferte u.a. Hans Buchner. In seinem Grundriß aus dem Jahre 1932 definiert er: "»Wirtschaft« ist für den Nationalsozialisten ein um höherer Ziele wegen angestrebter Verrichtungszweck, ein System von zielbezogenen Mitteln, von gliedhaften, organischen Zusammenhängen, die nicht nur naturwissenschaftlich, empirisch also, sondern erkenntnismäßig, willenhaft gefaßt, bewußt wertbetont ihren Systembegriff in der völkischen, bluts- und lebensgebundenen Ganzheit finden." Diese Wirtschaftstheorie speiste sich bruchstückhaft aus verschiedenen (historischen) Theorieansätzen und verstand sich als »Bollwerk« gegen den Marxismus und in zweiter Linie als Antiliberalismus.147 Mit der Abkehr und Ablehnung des Marxismus und Liberalismus wurden in der Wirtschaftswissenschaft ordnungspolitische Überlegungen entworfen, die die Etablierung eines Wirtschaftssystems zwischen zentraler kollektivistischer Planwirtschaft einerseits und dezentraler, allein auf Marktkonkuirenz basierender Wirtschaftsordnung andererseits ermöglichen sollte.!4** 1935 erschienen Otto Lorenz' »Zwölf Thesen zu einer neuen Wirtschaftswissenschaft«, die als Hintergrund für eine neue Wirtschaftstheorie gelten sollten. In den Thesen finden sich folgende Feststellungen: Wirtschaft gilt als Teilgebiet des menschlichen Gemeinschaftslebens und dieses sei "blutsmäßig bedingt". Das wirtschaftliche Leben Einzelner auf Kosten der Gemeinschaft "ist parasitär." Das Volk trage als Gemeinschaft die Wirtschaft, die "Lehre von unserer Wirtschaft muß deshalb eine Volkswirtschaftslehre sein." Insofern gilt die Volkswirtschaftslehre als politische Wissenschaft und daher "muß [sie, Anm. H.J.H.] von politischen Wertungen ausgehen."!^ i n diesem Zusammenhang gilt Gottfried Feder als »Hausökonom der Faschisten«, der bereits 1919 in seinem »Manifest zur Brechung der Zinsknechtschaft« zwischen dem Eigentum der Nicht-Juden und dem Besitz jüdischer Bürger unterschied. 150 Der Ökonom Thomas Steinle behauptete, daß nach germanischer Auffassung der Entstehungsgrund für Eigentum nicht nur an Macht gebunden sei, "sondern vor allem

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Soziogenese der Geheimen Staatspolizei

an die sittliche B e r e c h t i g u n g . " 151 Jüdisches Eigentum konnte es nach dieser Auffassung nicht geben und die »Arisierung der Wirtschaft« wurde vor dem Hintergrund einer solchen Sichtweise legitimiert. Die Bemühungen, die nationalsozialistische Programmatik bzw. Ideologie in die Wirtschaftswissenschaften zu integrieren, wirkte sich folgend auch auf die Gestaltung des Wirtschaftsrechts und insbesondere des Wirtschaftsstrafrechts aus. Die Wirtschaft galt in der Fachdisziplin und Ideologie nicht als Selbstzweck, sondern als Diener des »völkischen G e m e i n s c h a f t s l e b e n s « . 152 Entsprechend wurden vielfältige Steuerungs- und Überwachungselemente geschaffen, die diese besondere Funktion der Wirtschaft sicherstellen sollten. Das Wirtschaftstrafrecht war neben anderen ein solches Instrument. In diesem Strafrechtsbereich kann eine Trennungslinie gezogen werden "zwischen dem unverdächtigen, einer Art technischem Alltagsstrafrecht..., das hinsichtlich seiner Sanktion nicht allzu einschneidend war und Verhaltensweisen erfaßte, die entweder generell aus ökonomischen Gründen zu unterbinden waren und einem harten, extrem weiten und brutaliserten Strafrecht, das stellenweise gänzlich aus der Justiz herausgelöst und auf die Polizei übertragen worden war." 153 Zu dem Wirtschaftsstrafrecht gehören u.a. die Gesetze gegen Wirtschaftsspionage und -sabotage, das Fremdvolkstrafrecht und die Kriegswirtschaftsverordnung. Die Tatbestände im Wirtschaftsstrafrecht zeichneten sich auf der Tatbestandsebene durch Generalklauseln, Gemeinwohlklauseln und Blankettgesetzel54 aus. Dies sind Rechtsfiguren, die eine unbestimmte Vielzahl von möglichen Verhaltensweisen erfassen, ohne den definitiven Einzelfall zu beschreiben. Mangels spezialgesetzlicher Regelungen konnten somit (alle) Verhaltensweisen bei entsprechender Definition strafrechtlich relevant werden und waren damit auch polizeilich und justitell verfolgbar. Die Verfolgung von »Wirtschaftsverbrechen!« war wiederum Aufgabe der Geheimen Staatspolizei. Handlungen der Wirtschaftsverbrecher wurden nicht nur als kriminell definiert, sondern sie hatten auch aufgrund der von den Wirtschaftswissenschaften definierten »Volksschädlichkeit« eine staatsfeindliche Dimension. Dies war der wesentliche Beitrag der Wirtschaftswissenschaften zur Arbeit der Geheimen Staatspolizei. Auch Soziologen arbeiteten der Geheimen Staatspolizei zu. Ab 1933 zeichnete sich zum ersten Mal in Deutschland ein Berufsfeld für Soziologen außerhalb der Universität ab. 155 obwohl viele Soziologen 1933/34 gezwungen waren, Deutschland zu verlassen, bekannten sich bereits 1935 mehr Wissenschaftler zur Soziologie als jemals zuvor. Der gewählte »Führer« der Deutschen Soziologen, Hans Freyer aus Leipzig, definierte das Selbstverständnis der Soziologie als »Gesellschaftstechnik«. Soziologie wurde nunmehr als »Waffe« verstanden und sie hatte der "Feinderkennung" zu dienen. Dies ist lediglich die allgemeinere Funktionsbeschreibung der damaligen »Deutschen Soziologie«. Die konkrete Zuarbeit von einigen Soziologen soll anhand personeller und institutioneller Verflechtungen und Unterstützungen skizziert werden. Im Zusammenhang mit der Neudefinition der deutschen Soziologie ist von dem Soziologen Andreas Pfenning ausdrücklich die Forderung nach einer »Sicherheits- und Polizeisoziologie« 156 aufgestellt worden.

Zuarbeit von Wirtschaftswissenschaftlern, Soziologen und Planem

107

Nach 1933 wurden viele neue soziologische Institute gegründet So entstand das »Institut für Kultur- und Universalgeschichte« und die »Staatliche Forschungsanstalt« in Leipzig (Leitung Hans Freyer) und andere Leipziger Institute wie z.B. die Institute für Raumforschung, Südost-Europa und Kolonialgeographie. Das Institut für Landwirtschaftliche Betriebslehre bekam aufgrund ihrer Neuausrichtung eine wichtige Bedeutung für die Nationalsozialisten. Der Soziologe Ipsen leitete in Königsberg ein bevölkerungswissenschaftliches Institut, in Berlin stand Hans Günther der »Anstalt für Rassenkunde, Völkerbiologie und ländliche Soziologie« vor und in Hamburg wurde eine »Forschungsstelle für das Überseedeutschtum« g e g r ü n d e t . 157 Verschiedene Soziologen eigneten sich nunmehr empirische Spezialkenntnisse an und konnten sich so für bestimmte Forschungsaufträge empfehlen. Andere, wie zum Beispiel der Statistiker Richard Korherr, arbeiteten direkt bei der Geheimen Staatspolizei; er wurde 1940 im RSHA angestellt und mit Leitungsaufgaben b e t r a u t 158 Zwei Soziologen stehen für die Kopplung von akademischer und politisch-administrativer Laufbahn und geben ein Beispiel für die Art der Zuarbeit von Raumordnung und Soziologie. Heinrich Harmjanz war als Sachbearbeiter im Reichswissenschaftsministerium tätig, hatte einen Lehrstuhl in Frankfurt am Main, leitete zugleich mehrere Forschungsinstitute und "riß große Forschungsprojekte an s i c h " . 159 Der Amtsleiter im RSHA (bis zum 20.8.1941 Führer des Einsatzkommandos »VK Moskau/Sk 7c« der »Einsatzgruppe B«160), pi-0f ¡ ^ Alfred Six, institutionalisierte zugleich die Auslandswissenschaften an der Berliner Universität. Er wurde Dekan der neugegründeten 8. Fakultät (Auslandswissenschaften) und Präsident des »Wissenschaftlichen Instituts für A u s l a n d s w i s s e n s c h a f t e n « . 161 Mitarbeiter von Six im R S H A - A m t VII hatten Lehraufträge an der Fakultät für Außenpolitik und Auslandskunde. Im Jahreslagebericht 1938 des Sicherheitsdienstes der SS heißt es explizit: "Der junge Philosoph [Arnold] Gehlen wurde von Leipzig nach Königsberg versetzt und wurde zusammen mit dem Germanisten Lugowsky und dem Historiker Pleyer ein wirksamer Faktor zur politischen Aktivierung der P h i l o s o p h i e . "162 Ein Geheimpapier der Gestapo Düsseldorf bestätigt dem Düsseldorfer »Institut für Ständewesen«, daß dieses "maßgeblichen Einfluß auf die Vorarbeiten zum ständischen Aufbau im Dritten Reich" genommen habe. Als Beweismittel in den Nürnberger Prozessen wurde u.a. ein »Fahndungsbuch«, herausgegeben von dem Leipziger »Süd-Ost-Europa Institut«, verwendet, welches u.a. 4000 Namen jugoslawischer Bürger nannte, die beim Überfall auf Jugoslawien sofort verhaftet werden sollten. Dieses Buch wurde nach Erkenntnissen der Alliierten Richter tatsächlich von der Geheimen Staatspolizei in Jugoslawien für die Verhaftungen und Deportationen verwendet Andere Soziologen forschten zunehmend konspirativ. Der Vorsitzende der »Nord- und Ostdeutschen Forschungsgemeinschaft« wies in einem Rundschreiben ausdrücklich daraufhin, daß "die Deutschen Forschungsgemeinschaften ... unter Ausschluß der Öffentlichkeit tätig sein müssen und daß über ihr Bestehen, ihren Aufbau und ihre Tätigkeit nichts bekannt werden darf, wie die uns vorgeordneten Ministerien neuerdings wieder betont h a b e n . " 163 Di e Schrift des Grazer Dozenten Hermann Ibler (»Des Reiches Südgrenze«) ist von der Geheimen Staatspolizei als »streng geheim« eingestuft worden. Die Soziologin Elisabeth Noelle fertigte einen Bericht über die in den USA entwickelte

Soziogenese der Geheimen Staatspolizei

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Gallup-Methode an, für den sie in den 40er Jahren eigens in die USA reisen konnte. Andere Soziologen traten zu dieser Zeit als Spezialisten für "Anthropologie, ... Rassenkunde, Asozialenforschung, Sippenkunde usw." 164 a u f So arbeiteten Soziologen am »Institut zur Erforschung der Judenfrage« mit, Karl Heinz Pfeffer saß u.a. im Sachverständigenbeirat des »Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands« unter Leitung von Hans Frank und Hans-Joachim Beyer leitete den Aufbau der »ReinhardHeydrich-Stiftung«. Diese institutionellen und personellen Verflechtungen zwischen Soziologie, Raumplanung und Geheimer Staatspolizei sollen zuletzt noch an einem Fallbeispiel exemplifiziert werden. Am Beispiel der Hamburger »Hochschularbeitsgemeinschaft für Raumforschung« 165 kann die Zuarbeit der akademischen Soziologie bzw. Landesplanung in einem anderen Feld nachgewiesen werden, auch wenn in der hier verwendeten L i t e r a t u r l 66 nicht explizit die Geheime Staatspolizei als Institution benannt wird. Die oben dargestellten Verflechtungen und die Praxis lassen es als zulässig erscheinen, dieses Beispiel als durchaus repräsentativ anzusehen. Die Hamburger Soziologische Fakultät erfuhr nach 1933 einen Machtzuwachs, indem sie eine faktische Aufwertung als akademisches Fach erfuhr: Soziologie wurde 1934 in Hamburg als Promotionsfach z u g e l a s s e n . 167 Mit dem Soziologen und späteren Dekan der philosophischen Fakultät, Prof. Dr. Andreas Waither, ist die Abwendung der akademischen Soziologie von der Tlieoriediskussion und die Hinwendung zur "empiristischen S o z i a l f o r s c h u n g " 168 j Hamburg verbunden. Das soziologische Seminar unte- der Leitung von Walther bekam nach 1933 nicht nur sehr umfangreiche Sachmittel und Personalstellen zugewiesen, sondern auch verschiedene Behördenaufträge. 169 Die durch Walther betriebene Ausrichtung der akademischen Hamburger Soziologie in Richtung »Sozialforschung« erfolgte unter Akzeptanz der nationalsozialistischen Ordnungsvorstellungen. Walther akzeptierte in den Dissertationen Anmerkungen wie: "Über die Ausmerzung der Juden können wir nur aus Übersichten etwas entnehmen" und "Es ist noch unbekannt, was ... mit den Polen geschieht." 171 Walther selbst verfaßte eine Studie zur Großstadtsanierung, "wo die Kategorie "Abweichendes Verhalten" identisch ist mit Formen von Nicht-Konformität mit der NS-Praxis und wo vollständige Integration, völlig unsoziologisch, als anzustrebender Zustand ausgegeben wird."172 n

Mit Unterstützung des soziologischen Seminars richtete Waither eine Forschungsgruppe mit der Bezeichnung »Notarbeit 51« ein.173 Die »Notarbeit 51« finanzierte sich aus der »Akademikerhilfe der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft«, die wiederum Forschungen über die Devianz in den einzelnen Hamburger Stadtteilen erstellte. 174 Diese Arbeiten sind an die "Planungsstrategen zur quasi-polizeilichen Auswertung" weitergegeben worden. Mit diesen Studien und kartierten Darstellungen wiesen die Soziologen diejenigen Hamburger Stadtteile aus, in denen Behinderte, Fürsorgezöglinge, Hilfsschulkinder, Kriminelle und »Asoziale« wohnten. Sie lieferten damit die empirischen Grundlagen für die nationalsozialistische Bevölkerungs- und Sozialpolitik, die sich dann u.a. durch geheimpolizeiliche Deportationen realisierte. 175 Als Quellen für diese Forschung wurden auch Akten der Polizei benutzt. Der Wirtschaftswissenschafter und Mitarbeiter in dieser Forschungsgruppe, Paul Schulz-Kiesow, merkt dazu an: "In den Jahren 1934/35 wurde am Soziologischen Seminar eine von der Deutschen

Zuarbeit der Justiz

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Forschungsgemeinschaft finanzierte Gruppenarbeit von zwölf Akademikern durchgeführt, welche die Untersuchung sozialer Krankheitserscheinungen in Groß-Hamburg zum Gegenstand hatte. Auf Grund von Akten der verschiedensten Sozialbehörden und der Polizei wurde vor allem die räumliche Ballung der untersuchten Krankheitserscheinungen festgestellt und kartographisch verzeichnet. Durch diese Arbeit wurde die Zuarbeit von Universität und Landesplanung eingeleitet." 176 Solche Verwaltungs- bzw. Forschungsvorhaben setzen gemeinsame Besprechungen und Absichts- und Zielerklärungen voraus. Somit ist davon auszugehen, daß die Ziele der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik allen Beteiligten bekannt war, und daß mit dem - auch von dem Soziologen Waither verwendete - Begriff des »Ausmerzens«, das Töten von Menschen gemeint war. 177

4.7

Zuaibeit der Justiz

Die Ausschaltung der Justiz als Kontrollinstanz der nationalsozialistischen Administration und der Geheimen Staatspolizei ist oben dargestellt worden. Hier werden einige Beiträge der z i v i l e n 178 Justiz nach 1933 skizziert, die als Zuarbeit gelten können. Zunächst sind einige Rechts- und Strafvorschriften sowie neue »Rechtsfiguren« Gegenstand der Betrachtung, die für die geheimpolizeilichen Aktionen von besonderer Bedeutung waren. Weiterhin werden am Beispiel der »Schutzhaft« die Verflechtungen zwischen Geheimer Staatspolizei und der ministeriellen Justiz dargestellt. Die Justiz institutionalisierte nach 1933 Sondergerichte. Eine Beschreibung der Aufgaben und Funktion der Sondergerichte unter dem Aspekt der geheimpolizeilichen Zuarbeit schließt hier den zweiten Untersuchungsabschnitt zur Justiz ab, um dann unten mit den Konsequenzen dieser Zuarbeit - beschrieben als »Soziologie des Rechtsentzugs« - fortzufahren. Zum systematischen Vorgehen und zur Einordnung der Zuarbeit der Justiz ist auch hier Fraenkels Theorie zum »Doppelstaat« angezeigt, die bereits oben für die Analyse des administrativen Handlungsrahmens gewählt wurde. Während der »Maßnahmenstaat« als Herrschaftssystem der "unbeschränkten Willkür und Gewalt, das durch keinerlei rechtliche Garantien eingeschränkt ist" definiert wird, stellt sich der »Normenstaat« als das "Regierungssystem" dar, "das mit weitgehenden Herrschaftsbefugnissen zwecks Aufrechterhaltung der Rechtsordnung ausgestattet ist, wie sie in Gesetzen, Gerichtsentscheidungen und Verwaltungsakten der Exekutive zum Ausdruck gelangen." 179 Zum Verhältnis von »Maßnahmenstaat« und »Nonnenstaat« merkt Fraenkel an: "Bei der Beurteilung des nur allzu häufigen Versagens und der nur allzu seltenen rechtsstaatlichen Bewährung des Normenstaates sollte nicht übersehen werden, daß er in einer vergifteten Atmosphäre tätig ist. Mehr und mehr verstärkt sich auch in der Bürokratie die Tendenz, die innere Anpassung des Normenstaates an den Maßnahmenstaat als Beweis für die Durchdringung des Dritten Reichs mit nationalsozialistischem Geist zu begrüßen. Weit davon entfernt, eine Abart des Rechtsstaats darzustellen, ist der Normenstaat eine unerläßliche Ergänzung des Maßnahmenstaates und kann nur in diesem Licht verstanden werden. Da Maßnahmenstaat und Normenstaat ein interdependentes Ganzes darstellen

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Soziogenese der Geheimen Staatspolizei

(d.h. den »Doppelstaat«), ist eine isolierte Betrachtung des Normenstaates ebensoweinig zulässig wie eine isolierte Betrachtung des Maßnahmenstaates. " 180 Die Justiz gilt qua ihrer traditionellen Aufgabe als diejenige staatliche Instanz, die die Nonnen »verarbeitet«, ihre Richter »schaffen« Recht durch die Auslegung der Normen und die Rechtswissenschaft kommentiert und legitimiert diese vor dem Hintergrund ihrer Wissenschaftlichkeit. In diesem Sinne repräsentierte die Justiz den Nonnenstaat, wobei die Geheime Staatspolizei - wie oben schon dargelegt - als das prominente »Organ« des Maßnahmenstaats gilt. Entscheidend bei der Untersuchung sind - Fraenkel hat darauf hingewiesen -, die Interdependenzen dieser beiden Systeme. Das von Fraenkel 1940181 eingeführte Paradigma des »Nebeneinander« und zugleich »Miteinander« zweier Systeme im nationalsozialistischen Staat hat bis heute Relevanz für die Analyse des Nationalsozialismus. Dieses Paradigma bildet den Hintergrund, wenn in der aktuellen Forschung das Verhältnis von Justiz und Polizei als ein "antagonistisches Verhältnis" zweier Apparate beschrieben wird, "in dem einmal Anpassung und Kooperation, das andere Mal die Konflikte ü b e r w o g e n . " 182 Diese Charakterisierung weist auf den Umstand hin, daß auch bei dieser Skizze von Zuarbeit, realistischerweise die Konflikte und Kooperationen mit der Geheimen Staatspolizei (oder auch der Polizei allgemein) über den Zeitraum von zwölf Jahren gesehen werden m ü s s e n . 1 8 3 Das Verhältnis zwischen Justiz und Polizei blieb - bei ausschließlicher Betrachtung der materiellen Rechtsgrundlagen - wie zum Beispiel Straf- und Polizeirecht - über die Jahre relativ stabil, d.h. viele dieser Rechtsgrundsätze sind nicht aufgehoben worden, einige neue Rechtsgrundsätze sind hinzugekommen und bestehende sind neu »ausgelegt« worden. Der nationalsozialistische Polizeirechtler Theodor Maunz erkennt den Umbau des Verhältnisses zwischen Justiz und Polizei folglich auch eher auf der organisatorischen Ebene: "Vom Organisatorischen, nicht vom Materiellen her, erfolgte der Umbau. Das im Augenblick Notwendige und Zweckmäßige überwog das Streben nach einem System einheitlicher Sätze. In einem Stadium rasch wechselnder Situationen mußte das entschlossene Zugreifen nach situationsgebundenen, örtlichen Bedürfnissen wichtiger erscheinen als das peinliche Klammem an ausgefeilte Rechtssätze. So ist das materielle Polizeirecht zunächst von sekundärer Bedeutung gewesen." 184 Dieser Umbau erfolgte auf einer stabilen Grundlage, denn Polizei und Justiz zeichneten sich durch eine "prinzipielle Loyalität und Akzeptanz des nationalsozialistischen Staates und seiner Z i e l e " 185 aus. Beide arbeiteten in der Zeit des Dritten Reichs wie gewohnt zusammen, so gab es z.B. die »Amtshilfe« und die Zusammenarbeit bei der Ermittlung von Straftaten. Über die Dauer von zwölf Jahren kann das Verhältnis von Justiz zur Polizei im allgemeinen und zur Geheimen Staatspolizei im besonderen mit den Schlagworten: »Konkurrenz und Kooperation« 186 beschrieben werden. Unter dem Aspekt der »Konkurrenz« erreichte die Geheime Staatspolizei den Zugewinn an Kompetenzen durch Kompetenzverzicht der Justiz, ohne daß es andererseits der Justiz möglich war, bisherige polizeiliche Kompetenzen zu übernehmen. Unter »Kooperation«, die hier als Zuarbeit beschrieben wird, läßt sich die Unterstützung auf der polizeilichen Aktionsebene, z.B. mit dem Schaffen von neuen Rechtsgrundlagen und -figuren sowie auch das Nichthandeln, der Nichtwiderspruch und der Nichtwiderstand der Justiz subsumieren.

Zuarbeit der Justiz

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4.7.1 Neue Rechtsgrundlagen und Rechtsfiguren für die Geheime Staatspolizei Die Notverordnung zum Schutz von Volk und Staat vom 28. Februar 1933 gilt sowohl für den Maßnah men Staat als auch für den Normenstaat als "Verfassungsurkunde". 1 87 Sie beschreibt allgemeine Ziele, die mit dieser Verordnung erreicht werden sollen, begrenzt zugleich die Handlungsrechte der Bürger und Bürgerinnen und erweitert den Handlungsrahmen des Staates. Dieses war die erste juristische Konstruktion des Normenstaats für den Maßnahmenstaat, in direkter Anknüpfung und Berufung auf die Verfassung der Weimarer Republik, denn sie stützte sich auf den Artikel 48 Abs. 2 der Weimarer Verfassung. Mit dieser Verordnung war in Deutschland der "zivile A u s n a h m e z u s t a n d " geschaffen worden, der bis zum Ende des Dritten Reichs galt. Diese Verordnung war für die Geheime Staatspolizei rechtliche Auftragsgrundlage und zugleich Ermächtigungsvorschrift. Damit sind vielfaltige und sehr unterschiedliche Handlungen und Aktionen der Geheimen Staatspolizei zunächst gerechtfertigt und später von Gerichten durch Bestätigung dieser Interpretation legalisiert worden. Diese Rechtsvorschrift ist im Jahr 1940 durch einen Runderlaß des Reichssicherheitshauptamtes ergänzt worden. Darin heißt es u.a.: "Die Rechtsgültigkeit staatspolizeilicher Anordnungen ist nicht davon abhängig, daß die Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat vom 28. Februar 1933 als Rechtsgrundlage für diese Anordnungen angezogen wird, da sich die Befugnis der Geheimen Staatspolizei zur Durchführung aller Maßnahmen, die zur Erfüllung ihrer Aufgaben erforderlich sind, nicht aus einzelnen Gesetzen und Verordnungen, sondern aus dem Gesamtauftrag herleitet, der der Deutschen Polizei im allgemeinen und der Geheimen Staatspolizei im besonderen im Zuge des Neuaufbaues des nationalsozialistischen Staates erteilt worden ist." 189 Dieser Definition des politisch-polizeilichen Gesamtauftrages zeitlich vorausgegangen war der Wegfall verwaltungsgerichtlicher Kontrollen. Darüber hinaus galt die Geheime Staatspolizei seit dem sogenannten 3. Gestapo-Gesetz vom 10.2.1936 als Sonderbehörde und war damit keine Polizeibehörde im Sinne des Polizeirechts m e h r . 190 1933 teilten Gerichte noch nicht durchgängig die Rechtsauffassung der Geheimen Staatspolizei, die besagte, daß ihre Maßnahmen - egal gegen welche Personen sie sich richteten - durch die Reichstagsbrandverordnung gedeckt seien. Denn die Präambel der Verordnung rechtfertigte lediglich Maßnahmen gegen Kommunisten. Ministerialdirektor Crohne vom preußischen Justizministerium versuchte dieser engen Auslegung einiger Gerichte entgegenzuwirken, indem er schrieb: "Ebenso verfehlt, wie geistlose Wortklauberei, ist aber die Auslegungsweise, die sich an die Überschrift eines Gesetzes klammert. Diese will nur die Veranlassung des Gesetzes bezeichnen, kann aber nie wesentlicher Bestandteil des Gesetzestextes selbst werden, vor allem wenn die Gesetzesworte selbst einen Begriff, den die Überschrift bringt, nicht enthalten." 191 Dieser Deutung schlossen sich noch nicht alle Gerichte an und die Geheime Staatspolizei sammelte daher diese »abweichenden« Gerichtsentscheidungen und beschwerte sich bei Freisler, dem Leiter der Abteilung für Strafrechtspflege im Reichsjustizministerium.

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Ministerialdirektor Crohne antwortete auf diese Beschwerde mit der Anweisung an alle Staatsanwaltschaften, sämtliche Rechtsmittel einzulegen, um solchen »Fehlentscheidungen« zu b e g e g n e n . 192 Das Kammergericht Berlin entwickelte daraufhin in einem Urteil vom 17.5.35 die Rechtsfigur der »mittelbaren kommunistischen Gefahr«, erweiterte so die eigenüiche Zweckbestimmung der Reichstagsbrandverordnung und legalisierte mit Richterrecht die Maßnahmen der Geheimen Staatspolizei. Bei der Begründung der Aburteilungen von Kommunisten knüpften Oberlandesgerichte und das Reichsgericht eigentümlicherweise an die Rechtsprechung des Reichsgerichts aus der Weimarer Zeit an, obwohl mit der Verordnung vom 28.2.1933 und dem Ermächtigungsgesetz vom 24.3.1933 die Verfassung der Weimarer Republik faktisch außer Kraft gesetzt w u r d e . 193 Mit der Rechtsfigur der »mittelbaren kommunistischen Gefahr« legalisierte die Justiz Maßnahmen der Geheimen Staatspolizei auch gegen die »Bekennende Kirche« und gegen Impfgegner, die Innere Mission sowie gegen protestantische Krankenpflegevereine. 194 Die Rechtsfigur der »staatspolizeilichen Anordnung« war ebenfalls neu. Die Reichstagsbrandverordnung befreite die Polizei von den inhaltlichen Schranken des Preußischen Polizeiverwaltungsgesetzes, dennoch hatten »Anordnungen« der Polizei - auch die der Geheimen Staatspolizei - den Rechtscharakter einer »Polizeiverordnung« oder »Polizeiverfügung« im Sinne der §§ 24 und 40 dieses Gesetzes. Maßnahmen der Geheimen Staatspolizei waren damit auch verwaltungsgerichtlich überprüfbar. Verwaltungsgerichte konnten sowohl die materielle Zulässigkeit solcher Anordnungen als auch das formale Verfahren prüfen und somit geheimpolizeiliche Anordnungen für wirksam bzw. unwirksam erklären. In Altona hatte ein Sondergericht im April 1935 die Ungültigkeit des polizeilichen Verbots der Vereinigung von »Ernsten Bibelforschern« erklärt, weil die polizeiliche Anordnung des Verbots als Rechtsverordnung nicht in der Preußischen Gesetzessammlung veröffentlicht war. Dies schrieb der § 35 des Preußischen Polizeiverwaltungsgesetzes vor. Einen ähnlichen Sachverhalt hatte das Sondergericht Breslau zu beurteilen und kam mit gleicher Begründung zum selben E r g e b n i s . 195 Dies veranlaßte Ministerialdirektor Crohne Kontakt mit dem Reichsinnenministerium aufzunehmen. Das Reichsinnenministerium erklärte daraufhin, daß die Veröffentlichung vergessen worden war. Das Innenministerium vertrat die Ansicht, es müsse "von der unbestreitbaren Tatsache ausgegangen werden, daß sich in mehr als zweijähriger Verwaltungsübung auf der Grundlage der VO. zum Schutze von Volk und Staat auf Grund revolutionären Rechts die Rechtsfigur der »staatspolizeilichen Anordnungen« entwickelt habe, die sowohl nach Inhalt und Form als auch nach der Art der Verkündung nicht an den Maßstäben der geltenden Polizeigesetze gemessen werden könne. "196 in diesem Zusammenhang würde das Reichsinnenministerium es begrüßen, wenn das Reichsjustizministerium "in geeigneter Form der ... unrichtigen Rechtsauffassung der Sondergerichte Altona und Breslau entgegentreten würde." 197 Crohne veröffentlichte daraufhin einen Artikel, der in der Zeitschrift »Deutsche Justiz« und rügte darin, "daß Richter aus derart formellen Gründen freisprechen" und mit ihrem Urteil eine "Mißachtung des ausdrücklich kundgetanen Willens der nationalsozialistischen Staatsführung" zum Ausdruck brächten."198 Crohne

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bestätigte dabei auch die Rechtsfigur der »staatspolizeilichen Anordnungen«, die nicht in das hergebrachte Schema »Polizeiverordnung« oder »Polizeiverfügung« gepreßt werden kann, "weil es sich um ein eigenartiges, aus den politischen Bedürfnissen einer Übergangszeit geborenes Gebilde h a n d e l t . " 1 9 9 Mit dieser Rechtsfigur schuf die Justiz eine Bestimmung, die auf der Ebene der ministeriellen Rechtsauslegung solche geheimpolizeilichen Handlungen erlaubte, die nach den nicht außer Kraft gesetzten formellen Rechtsgrundsätzen rechtswidrig waren. Dies geschah zu einem Zeitpunkt als das »3. Gestapo-Gesetz« noch nicht in Kraft war, welches dann mit Gesetzescharakter bestimmte, daß "materielle Verfügungen... staatspolizeilichen I n h a l t s " 2 0 0 nicht mehr der verwaltungsgerichtlichen Nachprüfung unterliegen. Aus dem Kanon von neuen strafrechtlichen Verordnungen im Jahr 193320! ist die »Verordnung des Reichspräsidenten zur Abwehr heimtückischer Angriffe gegen die Regierung der nationalen Erhebung« vom 2 1 . 3 . 1 9 3 3 (sogenannte Heimtückevero r d n u n g 2 0 2 ) hervorrzuheben. Mit dieser Verordnung wurden Maßnahmen der Gestapo legalisiert, die "weit in den Alltagsbereich"203 ¿er Menschen reichten und zugleich die Zuaibeit der Justiz - hier: der Rechtsprechung - charakterisiert. Die Heimtückeverordnung sollte den Schutz der Regierung Hitler sowie den der nationalsozialistischen Verbände bezwecken. § 1 der Verordnung stellte den unbefugten Besitz und das Tragen von nationalsozialistischen Uniformen durch Nichtmitglieder der NSDAP unter Strafe, während § 3 den Tatbestand der sogenannten »Greuelpropaganda« enthielt. Damit wurde unter Strafe gestellt, wer "vorsätzlich eine unwahre oder gröblich entstellte Behauptung tatsächlicher Art aufstellt oder verbreitet, die geeignet ist, das Wohl des Reiches oder eines Landes oder das Ansehen der Reichsregierung oder einer Landesregierung oder der hinter diesen Regierungen stehenden Parteien oder Verbände schwer zu s c h ä d i g e n . " 2 0 4 Bei der justitiellen Feststellung eines "schweren Schadens" konnte sogar Zuchthausstrafe verhängt werden. Ein Sondergericht subsumierte unter diese Bestimmung auch die Äußerung, daß der Reichskanzler "von Stadt zu Stadt" fliege und "von der Partei unterhalten" werde. In der Begründung erläuterte das Gericht, daß diese Äußerung die "unwahre Behauptung" enthalte, daß der "Führer nicht arbeite, sondern spazierenfliege" und verurteilte auf der Grundlage dieser V e r o r d n u n g . 2 0 5 o a s Gesetz über die Verhängung und den Vollzug der Todesstrafe vom 2 9 . 3 . 1 9 3 3 2 0 6 ermöglichte, daß Taten mit Todesstrafe geahndet werden konnten, obwohl zum Zeitpunkt der Tatbegehung diese im Gesetz nicht angegeben war. Damit waren per Gesetz die elementaren Grundsätze des Rückwirkungsverbots und des Grundsatzes »nulla poena sine lege« mißachtet. Marinus van der Lübbe, der im Zusammenhang mit dem Reichstagsbrand festgenommen worden war, sollte mit Hilfe dieses Gesetzes mit dem Tode bestraft werden. Die Juristen des Reichsgerichts argumentierten, daß das Rückwirkungsverbot sich ausschließlich auf die Strafbarkeit einer Handlung beziehen würde, nicht aber auf die Strafzumessung. Insofern war die Verhängung der Todesstrafe für Brandstiftung als bloße Änderung der Strafzumessung z u l ä s s i g . 2 0 7 ¡ n anderen Auslegungsverfahren mußten auch Satzungen zu Gunsten von nationalsozialistischen Organisationen geändert werden, weil sonst der »Bestand des Staates« gefährdet sei. 1936 schrieb dann ein Gericht u.a. in die Urteilsbegründung: "Zum Schutz der öffentlichen Ordnung und Sicherheit gehört im heu-

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tigen Staat auch die Wahrung der allgemeinen Belange der völkischen Gemeinschaftsordnung, Grenzen für behördliche Eingriffe in private Rechte könne es nicht mehr g e b e n . " 2 0 8 Zwischen Polizei und Justiz, Rechtswissenschaft und Rechtsprechung bestand Einigkeit, daß "politische Angelegenheiten der Nachprüfung durch Gerichte entzogen s e i e n . " 2 0 9 Die ministerielle Justiz, die diese neuen Rechtsgrundsätze und -figuren kreierte, muß im Verflechtungszusammenhang mit einflußreichen akademischen Juristen und ihren Schriften gesehen werden. Denn häufig wurden die Rechtsbegründungen, -Interpretationen und -kommentierungen aus den Schriften und anderen Äußerungen dieser Rechtswissenschaftler von Richtern direkt in die Urteilsbegründungen übernommen. Damit erschienen ihre Urteile als »wissenschaftlich« legitimiert und prägten (sofern es sich um Obergerichte handelte) zusammen mit den akademisch tätigen Juristen die »herrschende Meinung« der Jurisprudenz. Als einflußreichster nationalsozialistischer Jurist und Hochschullehrer ist Carl Schmitt zu nennen, der der »Reichsfachgruppe Hochschullehrer« des nationalsozialistischen Rechtswahrerbundes vorstand. Schmitt war Herausgeber verschiedener Fachzeitschriften und juristischer Schriftenreihen. Zugleich war er der akademische Lehrer verschiedener nationalsozialistischer Strafrechtslehrer (z.B. von Ernst Forsthoff, Ernst Rudolf Huber und Theodor Maunz), für die er als "der Vordenker der »neuen« Staatsrechtslehre" galt.210 Schmitt rechtfertigte in seiner Schrift »Der Führer schützt das Recht« mit juristischen Argumenten die Mordaktionen der Gestapo und SS an Röhm und von Schleicher. Im Jahr 1934 wurde dann ein Amnestiegesetz für Verbrechen im Zusammenhang mit dem sogenannten »Röhm-Putsch« erlassen und die Tötungsverbrechen waren damit legalisierten Schmitt führte u.a. antisemitistisches Denken in die Rechtswissenschaft ein, indem er in seiner schon oben zitierten Schrift »Staat, Bewegung, Volk« 1933 schrieb: "Ein Artfremder mag sich noch so kritisch gebärden und noch so scharfsinnig bemühen, mag Bücher lesen und Bücher schreiben, er denkt und versteht anders, weil er anders geartet ist, und bleibt in jedem Gedanken in den existentiellen Bedingungen seiner Art."212 Ab 1936 verfaßte Schmitt »völkerrechtliche« Schriften, u.a. kreierte er die Rechtsfigur des völkerrechtlichen »Großraums« und behauptete, daß das neue deutsche Völkerrecht eine Ausstrahlung in den "mittel- und osteuropäischen Raum hinein" habe und daß "Einmischungen raumfremder und unvölkischer Mächte" mit Hilfe dieses neuen Rechts zurückgewiesen werden müssen.213 Ab 1936 unterstützte und rechtfertigte er in seinen Schriften »völkerrechtlich«, die Vorbereitungen zum militärischen Vemichtungsfeldzug214 u n d den Verbrechen der Einsatzgruppen und anderen mobilen geheimpolizeilichen Tötungskommandos in Osteuropa.

4.7.2

Einfluß- und Kompetenzverzicht der Justiz am Beispiel der Schutzhaftpraxis

Die Akzeptanz der geheimpolizeilichen Schutzhaftpraxis durch die Justiz ist neben den dargestellten Rechtsgrundlagen und -figuren ein weiterer bedeutsamer Verflechtungszusammenhang, der die Zuarbeit der Justiz. Die Rechtsfigur der »Schutzhaft« ist keine

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Erfindung nationalsozialistischer Juristen, sie ist bereits im Preußischen Polizeiverwaltungsgesetz vom 1.6.1931 zu finden und hatte historische Vorläufer in anderen Polizeigesetzen.215 Auch im Preußischen Polizeiverwaltungsgesetz war sie zeitlich begrenzt (Freilassung spätestens nächsten Tage nach der Festnahme) und es galt der Richtervoibehalt. Der Begriff »Schutzhaft« läßt nicht die Unterdrückung und Qual erkennen, der ein »Schutzhäftling« während seines Aufenthalts in einem Konzentrationslager bzw. Polizeigefängnis ausgesetzt war. Die Geheime Staatspolizei verstand sich "nicht nur als ein von der Justiz getrennt wirkendes Instrument zur Ausschaltung politischer Gegner auf außernormativen Wege, sondern auch als ein Instrument zur Korrektur der Rechtspflege, die in ihren Augen das Gebot der Stunde nicht begriff und den Wünschen der Führung bei der Verwirklichung politischer Ziele nicht gerecht wurde: nicht nur deshalb, weil die Justiz bei ihrer Tätigkeit an »unzureichende« Normen gebunden war, deren Anpassung den Ereignissen und Forderungen stets hinterher hinkte, sondern weil sie die Gesetze vielfach noch ohne Ansehen der Person anwandte, ohne zwischen Anhängern und Gegnern des Regimes zu unterscheiden, und die Gesetze nicht so auslegte, daß sie der politischen Zielsetzung e n t s p r a c h e n . "216 Diese These zum Verhältnis von Gestapo und Justiz kennzeichnet die Ausgangsposition für Konkurrenzen und Kooperationen. In den ersten Jahren des Dritten Reichs verstand sich die Justiz noch nicht durchgängig als »Panzertruppe der R e c h t s p f l e g e « . 2 1 7 Für die Justiz war die »Schutzhaft« ein rein formal-rechtliches Problem, welches lediglich durch die massenhafte A n w e n d u n g 2 1 8 ihren Bereich tangierte und ihn zu beschneiden drohte. Die systematische Verhängung der »Schutzhaft« ohne Kommentierung zuzulassen, bedeutete für die Justiz den Verlust von Einfluß und Macht Offiziell sah die (ministerielle) Justiz darin eine Vermischung der Funktionen von Polizei und Justiz und versuchte, eine Klärung zwischen den Aufgaben der Geheimen Staatspolizei und den Funktionen der Gerichte zu erreichen. Der Reichsinnenminister Frick legte in seinem Erlaß vom 9.1.1934 explizit dar, daß die Schutzhaft "nicht als Strafe, d.h. als Ersatz für eine gerichtliche oder polizeiliche Strafe"219 angeordnet werden darf. Die Praxis entsprach nicht der Erlaßlage, so wurde z.B. in Bayern auch Schutzhaft wegen "Trunksucht, Mißhandlung der Ehefrau, Fangen von Singvögeln, Holzfrevel, Unterschlagung von Organisationsgeldern, unsittlichem Lebenswandel, grobem Unfug, Arbeitsscheue u.a."220 angeordnet und vollzogen. Hier lagen der Anordnung von Schutzhaft Verhaltensweisen zu Grunde, die strafrechtlich relevant waren und insofern als Konsequenz die Einleitung eines strafrechtlichen Verfahrens hätten haben müssen. Die Schutzhaft war damit Ersatz für eine Kriminalstrafe. Der Eingriff der Geheimen Staatspolizei in den Monopolbereich der Justiz war damit offensichtlich. Wie versuchte die Justiz, diesen Eingriff abzuwehren und welche Ziele hatten ihre Bemühungen? Faktisch konnte die Justiz auf die Verhängung und Dauer von »Schutzhaft« keinen Einfluß nehmen, insbesondere wenn es sich bei den Betroffenen um geheimpolizeilich definierte »Staatsfeinde« handelte. Allerdings waren die Gründe für die Verhängung von Schutzhaft häufig - wie oben gezeigt - auch Straftaten. Entsprechend des Legalitätsprinzips der Strafprozeßordnung hatte die Justiz - namentlich die Staatsanwaltschaft -

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diese Straftaten leitend (als »Herrin des Ermittlungsverfahrens«) zu erforschen. Die Polizeiangehörigen - im Status der »Hilfsbeamten der Staatsanwalt« - waren Adressaten ihrer Weisungen. Der bayerische Justizminister Frank beschwerte sich 1934 beim Reichsjustizministerium, da er die mißbräuchliche Verhängung der Schutzhaft in seinem Zuständigkeitsbereich abstellen wollte. Die Justiz wünschte, daß die Gestapo "alle polizeilich ermittelten Straftaten zur strafrechtlichen Verfolgung" an sie abzugeben hatte. Die Gestapo war daran interessiert, Kenntnis über alle bei der Justiz anhängigen »politischen« Verfahren zu bekommen. Die Justiz versuchte weiterhin zu erreichen, Beschuldigte gegen die ein richterlicher Haftbefehl ergangen und zugleich auch »Schutzhaft« von der Gestapo verhängt worden war, in Untersuchungshaft genommen werden konnten, um sie so in ihrem Einflußbereich zu behalten. Und schließlich wollte die Gestapo sichergestellt wissen, daß sie bei Aufhebung oder Aussetzung des Haftbefehls seitens der Justiz informiert wird, um das Schutzhaftverfahren anstelle des Justizverfahrens wieder anlaufen lassen zu können. Im Oberlandesgerichtsbezirk Naumburg (Saale) kam zuerst eine Übereinkunft im Sinne der Gestapo zustande. Dort hatten die Justizbehörden, "die Entlassung von Landesverratsverdächtigten aus der Untersuchungshaft rechtzeitig der Gestapo mitzuteilen, ihr bei Zeitdruck den Betroffenen sogar »zuzuführen« und die Akten zu übergeben." Wenig später galt für alle Justizbehörden Deutschlands eine Anordnung des Reichsjustizministers Gürtner, nach der Richter bei einer Ablehnung eines Haftbefehls "gegen einen wegen Hoch- oder Landesverrats oder ähnlicher staatsgefährlicher Verbrechen von der Polizei vorläufig festgenommenen und ihm vorgeführten Täter ... vor der Entlassung des Täters die vorführende Polizeibehörde von seinem Beschluß zu verständigen und ihr Gelegenheit zu geben, selbst Verwahrungsmaßnahmen zu treffen." Im April 1935 bestimmten dann die »Richtlinien zum Strafverfahren«, daß Staatsanwaltschaften dann die Gestapo bei einer Entlassung aus der Untersuchungshaft zu unterrichten hatten, wenn es sich bei den Entlassenen z.B. um Ausländer, Zigeuner oder um eine staatsfeindliche Person handelte. Mit solchen Anweisungen nahm die Justiz billigend die Ausübung von Polizeijustiz in Kauf und legalisierte sie durch Akzeptanz. Der Justitiar der Geheimen Staatspolizei gab am 18. Februar 1937 einen Runderlaß heraus, den das Reichsjustizministerium ihren Generalstaatsanwälten "zur Kenntnis und Beachtung" bekannt gab, in welchem weitere Informationspflichten der Staatsanwaltschaft gegenüber der Gestapo festgeschrieben wurden. Die Staatsanwaltschaften wurden angewiesen, alle Ermittlungsersuchen in politischen Strafsachen über die Gestapo zu leiten und ihr darüber hinaus von allen eingegangen »politischen« Strafanzeigen zu berichten. Die Gestapo garantierte andererseits noch im Jahr 1935 nicht die Abgabe "sämtlicher Straftaten an die Justiz." Auf einer Besprechung im Reichsjustizministerium wurden die Generalstaatsanwälte darauf hingewiesen, daß sich die Staatsanwaltschaft "ihre Initiative nicht von der Polizei vorschreiben lassen" dürfe. In einem konkreten Fall wurde die Staatsanwaltschaft deshalb nicht tätig, weil "die Staatspolizei erklärt, es sei eine politische Sache und stehe in ihrem Ermessen, wie weit sie der Staatsanwaltschaft Kenntnis gebe." Im Mai 1939 beschwerte sich der Generalstaatsanwalt von Naumburg erneut beim

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Reichsjustizministerium über die Gestapo, da sie nicht nur "Ermittlungsersuchen der Staatsanwaltschaft äußert säumig erledigt und von ihr selbständig bearbeitete Verfahren sehr verspätet an die Staatsanwaltschaft abgegeben [habe], sondern sich auch derartig als Herr des Verfahrens gefühlt hat, daß sie, ohne Verbindung mit dem zuständigen Staatsanwalt zu nehmen, selbständig in dessen Ermittlungen eingriff, die Herausgabe der Vorgänge längere Zeit hindurch verweigerte und von der Weitergabe an die Staatsanwaltschaft ganz absah, wenn sie es für angebracht hielt." Dieses dokumentiert den Kompetenzverlust der Staatsanwaltschaft gegenüber der Geheimen Staatspolizei. Das Reichsjustizministerium sammelte solche Fälle und beschloß im Sommer 1939, daß solche Berichte zur Weitergabe an die Gestapo nicht geeignet seien, da sie "unnötige Schärfen" enthalten würden. Das Reichsjustizministerium war mit generellen Vorstößen gegenüber der Gestapo zurückhaltend geworden. Diese Zurückhaltung ist nicht nur Beispiel für die indirekte Unterstützung der Geheimen Staatspolizei, sondern darüber hinaus auch bedeutsam für den nächsten Schritt und das grundsätzliche Ziel der Gestapo, die Staatsanwaltschaft weiter sukzessive auszuschalten, um sie selbst zu ersetzen. Ein »zurückhaltendes« Reichsjustizministerium förderte damit diesen Prozeß. Im Januar 1939 regte Heydrich über den Chef der Staatskanzlei bei Hitler an, durch die Gestapo auch eidliche Vernehmungen durchführen zu lassen, damit sollten ihr auch richterliche Kompetenzen zugestanden werden. Die "Tatsache, daß der kriminalpolizeiliche Schlußbericht oftmals von der Staatsanwaltschaft wörtlich in die Anklageschrift übernommen "221 werde, galt für Heydrich nicht nur als Beispiel für die Sorgfalt der Polizei auf der Ebene der Beweiszusammenstellung, sondern auch als Argument dafür, noch schneller Urteile und ihre Vollstreckung zu organisieren.222 Best kommentierte als Justitiar der Geheimen Staatspolizei diese Entwicklung mit den Worten: "Die Umkehrung des früheren Verhältnisses zwischen der Polizei und der Staatsanwaltschaft ist bereits soweit gediehen, daß mit guten Gründen die Frage ernsthaft erwogen wird, ob nicht die Polizei, deren Kriminalbehörden bereits die Verbrechensverfolgung bis zu dem Augenblick, in dem die Anklage formuliert werden kann, durchführen, auch noch die Erhebung und Vertretung der Anklage übernehmen soll." Später vertrat tatsächlich der Leiter der Gestapoleitstelle Prag in einem Prozeß die Anklage.223 Die zunehmende Akzeptanz der Geheimen Staatspolizei durch die Justiz - hier bislang am Beispiel des Verhältnisses zur Staatsanwaltschaft und den Reaktionen der ministeriellen Justiz dargestellt - läßt sich auch auf anderen Feldern der Rechtspflege nachweisen. Die von der Justiz letztlich akzeptierte Hoheit der Polizei im Bereich der Ermittlungssteuerung und Verhängung von Schutzhaft in politischen Strafsachen führte dazu, daß sich der Druck auf die allgemeine Justiz bzw. die Richter erhöhte, »effektiver« im Sinne der nationalsozialistischen Rechtsvorstellungen zu urteilen, d.h. auch höhere Strafen zu verhängen. So erklärte der Staatssekretär im Reichsjustizministerium Freisler, "ein uneinheitliches Strafmaß und eine »aus dem Rahmen fallende Milde« [würde] die Gefahr [erzeugen], daß die Aufgabe der Justiz, Rechtspflege zu üben, von anderen Stellen mitergriffen wird. Es ist nicht gut, wenn jemand wegen einer Tat, für die er verurteilt worden ist, nach Verbüßung der gerichtlichen Strafe, ohne daß irgend etwas anderes hinzugekommen ist, weiter in einer Haft bleibt, die ihm als verlängerte Strafhaft

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erscheint. ... Wenn die staatlichen Organe über das Strafmaß und den Erfolg des Strafvollzuges verschiedener Ansicht sind, liegt es nahe, daß dann das andere Sicherheitsorgan sagt, es habe auch das Seinige zu tun.... Ich meine, daß die richterliche Aufgabe der Strafzumessung viel stärker in unerfreulicher Weise dadurch eingeengt wird, daß der Täter... in einer gleichsam verlängerten Strafhaft bleibt, als dadurch, daß man sich das richtige Strafmaß ü b e r l e g t . " 2 2 4 Deutlich wird, daß nach der justitiellen Akzeptanz der Polizeijustiz ein weiterer Kompetenzverzicht seitens der Justiz durch das Verhängen von höheren Strafen kompensiert werden sollte. Damit trat die Justiz auch hier in Konkurrenz zur Geheimen Staatspolizei. Durch ihre Nichtkritik an den geheimpolizeilichen Aktionen und die Übernahme von geheimpolizeilichen Definitionen in die Urteilsbegründungen, verfolgte sie letztlich dasselbe Ziel mit ähnlichen Mitteln, sie wählte für die Dauer und Schwere ihrer Strafen die Maßstäbe der Gestapo. 1939 hatte dann der Reichsjustizminister Gürtner auch keine Einwendungen mehr gegen Maßnahmen der Gestapo, soweit sie "präventiver Natur" waren. Damit wurde seitens Justiz der geheimpolizeilichen Definitionsmacht und ihrer Anwendung weiterer Vorschub geleistet. Himmler und sein Publikationsorgan »Das schwarze Korps« übten regelmäßig Urteilskritik, beleidigten betroffene Richte" und brachten so die Justiz in Rechtfertigungszwänge. Um der Urteilskritik zu begegnen forderte der Hamburger Generalstaatsanwalt Rothenberger von der ministeriellen Justiz: "Voraussetzung für eine wirksame Abhilfe sei daher eine durch und durch nationalsozialistische Personalpolitik. Dazu gehörte z.B. die ständige Fühlungnahme der Justizbehördenchefs mit allen politischen Stellen, engster organisatorischer Anschluß an diese politischen Stellen, Politisierung und Aktivierung des Richterstandes, Aufklärung der Öffentlichkeit über Justizfragen durch Vorträge, taktvolle Dienstaufsicht und Besprechung von grundsätzlichen Fehlern in Urteilssprüchen mit den jeweiligen Richtern, Menschenführung in größtem Ausmaß und alles, was damit zusammenhänge." Diese Vorschläge erzielten nicht die gewünschte Wirkung und die öffentliche Kritik hielt an. Beschwerden der Justiz - mitunter direkt bei Himmler vorgetragen - blieben im Ergebnis fruchtlos. Die Strafrechtspflege der Justiz wurde nicht nur durch die geheimpolizeiliche »Schutzhaft« und Urteilskritik ergänzt, sondern auch durch "verfahrenslose" polizeiliche Exekutionen »korrigiert«. Bis zum Kriegsbeginn wurden die polizeilichen Tötungen gegenüber der Justiz mit Selbstmord, Erschießung »auf der Flucht« oder »nach Widerstand« begründet. Mit Beginn des Krieges soll Hitler - nach Aufzeichnungen Gürtners Himmler angewiesen haben, die Ordnung im Innern "mit allen Mitteln" aufrechtzuerhalten. In der Folge wurden die »Grundsätze der inneren Staatssicherheit während des Krieges« herausgegeben und in den erläuternden »Durchführungsbestimmungen« präzisierte Heydrich, "daß die Betreffenden in Fällen, "die hinsichtlich ihrer Verwerflichkeit, ihrer Gefährlichkeit oder ihrer propagandistischen Auswirkung" hervorstächen, "ohne Ansehen der Person durch rücksichtslosestes Vorgehen (nämlich durch Exekution) ausgemerzt" werden s o l l t e n . " 2 2 5 von diesem Erlaß hatte die Justiz offiziell keine Kenntnis. Als in der Presse über die Durchführung einer Exekution berichtet wurde, bat das Justizministerium die Gestapo um Auskunft. Die Gestapo gab den Rat, "der

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Justizminister möge sich wegen der Erschießungen unmittelbar mit dem Führer in Verbindung setzen." Gürtner versuchte auch hier eine justizförmige »Klärung« herbeizuführen, scheiterte insofern, als er über den Chef der Reichskanzlei erfuhr, daß Hitler persönlich Erschießungen angeordnet hätte. Entsprechend erschöpften sich die weiteren Aktivitäten des Reichsjustizministeriums im Sammeln der Fälle von polizeilichen Exekutionen. Eine Liste von 18 Exekutionen - vom 6.9.1939 bis zum 20.1.1940 von der Polizei ausgeführt226 . dokumentiert die unterschiedlichen Begründungen mit denen Exekutionen gerechtfertigt wurden. Zumindest in acht Fällen versuchte das Reichsjustizministerium, den Nachweis eines »Führerbefehls« für die Exekution zu erlangen, weil es sich hier um bereits zu Haftstrafen verurteilte und damit im Gewahrsam der Justiz befindliche Häftlinge handelte. Himmler rechtfertigte dann öffentlich - in Form einer Bekanntmachung - die Exekutionen. In allen Fällen seien die Verurteilten während der Einlieferung in die zuständige Strafanstalt »auf der Flucht« bzw. im »Zusammenhang mit Widerstandsleistungen« erschossen worden. Auch in anderen Fällen wurde das Justizministerium mit Beschwerden aus den eigenen Reihen über polizeiliche Exekutionen konfrontiert, denn Tötungen durch die Gestapo wurden intern "als offenes Mißtrauen gegen die Justizverwaltung gewertet. "227 Aufgrund einer Meldung im »Völkischen Beobachter« vom 13. August 1940 forderte Hitler die »Überstellung« eines durch den Volksgerichtshof wegen »landesverräterischer Fälschung« und landesverrätischer Volksverleumdung« zu lebenslangem Zuchthaus verurteilten Stickereizeichners an die Gestapo. Reichsjustizminister Gürtner nutzte diese Gelegenheit, um den Chef der Reichskanzlei auf eine vom Reichsjustizministerium vor Monaten eingebrachte Strafrechtsänderungsverordnung aufmerksam zu machen, die bei diesen Delikten ein justizformiges Todesurteil ermöglicht. Im Vorfeld der »Verordnung des Ministerrats über die Strafrechtspflege gegen Polen und Juden« vom 4.12.41228 ließ das Reichssicherheitshauptamt durch die örtliche Polizei ab 1940 Handzettel in polnischer und deutscher Sprache an die zur Zwangsarbeit im »Reich« Gezwungenen aushändigen. Den Zwangsarbeitern wurde bei »schweren Verstößen« gegen die Arbeitsdisziplin, Konzentrationslager, und bei Geschlechtsverkehr mit Deutschen, die Todesstrafe angedroht. Mit einem geheimen Erlaß wurden die Staatspolizeistellen angewiesen, diese Verstöße entsprechend zu ahnden. Die Geheime Staatspolizei exekutierte zu dieser Zeit diejenigen, die gegen diese Handzettelanweisung verstoßen hatten und ging dann dazu über, andere zu exekutieren, die solche Handlungen nicht begangen hatten.229 Verschiedene Generalstaatsanwälte beschwerten sich in diesem Zusammenhang beim Reichsjustizministerium und forderten die "Einführung klarer Bestimmungen"230> u m dj e geheimpolizeilichen Exekutionen zu legalisieren und das Ansehen der Justiz nicht weiter durch die Gestapo-Exekutionen zu gefährden. Auch ein Gespräch zwischen Himmler und dem Staatssekretär Schlegelberger brachte am 22. Juni 1941 keine Klarstellung. Himmler bejahte gegenüber Schlegelberger lediglich, daß die Justiz für strafbare Handlungen zuständig sei. Himmler kritisierte dann weiter, daß ihn die Rechtsprechung gegen die polnischen Zwangsarbeiter nicht befriedige. Schlegelberger bat Himmler daraufhin um direkte Unterrichtung in solchen Fällen und sicherte ihm zu, selbst "das hiernach etwa Erforderliche [zu] veranlassen."231

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Abschließend sollen noch zwei Beispiele für die sukzessive Hinnahme von illegalen Handlungen der Geheimen Staatspolizei durch die Justiz genannt werden, die auch für die unten untersuchten Habitusveränderungen bei den Gestapo-Angehörigen von besonderer Relevanz sind. Es ist die justitielle Akzeptanz der strafrechtlichen Nichtverfolgung von Straftaten und die daraus folgende Hinnahme von geheimpolizeilichen Folterungen. Himmler forderte am 28. März 1935 vom Reichsjustizministerium die Anerkennung und strafrechtliche Nichtverfolgung von gewaltsamen Vernehmungsmethoden (Folterungen). Gürtner lehnte das Ansinnen Himmlers mit Hinweisen auf die Rechtslage ab und führte aus: "Bei dieser Rechtslage ist es nicht angängig, einem Teil der Polizeibeamtenschaft stillschweigend die Erlaubnis zur Erpressung von Aussagen durch körperliche Mißhandlung der Häftlinge zu e r t e i l e n . "232 Weiter stellte er fest, daß den erpreßten Aussagen in den Urteilen keinerlei Beweiswert zu kommen würde. Die Hamburger Staatsanwalt ermittelte zu diesem Zeitpunkt gegen zwei GestapoBeamte, die folterten. Heydrich schickte diese und andere Akten mit ähnlichen Sachverhalten an das Reichsjustizministerium und bat, diese Verfahren "bis zur grundsätzlichen Entscheidung durch den Führer a u s z u s e t z e n . " 2 3 3 Eine grundsätzliche Regelung durch Hitler erfolgte nicht, so daß sich die Justiz auch hier in einem Dilemma befand. Sie hatte Kenntnis von strafbaren Handlungen erlangt, sich allerdings darauf beschränkt, die Rechtslage lediglich darzustellen und ansonsten abzuwarteten. Erst am 11. Oktober 1935 ergab sich für die Justiz insofern eine Klärung: Hitler ordnete an, zwei in Berlin inhaftierte Gestapo-Beamte freizulassen und die strafrechtlichen Ermittlungen e i n z u s t e l l e n . 2 3 4 Damit war für das Reichsjustizministerium präjudiziell, daß weitere Verfahren gegen Gestapo-Beamte schwer zum Abschluß zu bringen waren. Dennoch wurden danach weitere Verfahren eingeleitet, zum Beispiel im Januar 1936 in Duisburg als ein Gefangener angeblich im Polizeigefängnis Selbstmord verübte. Vor diesem Hintergrund argumentierte Himmler im Schriftverkehr mit dem Reichsjustizministerium, daß sich die Beamten lediglich nach seinen Anweisungen verhalten hätten, indem sie dem Verstorbenen fünf Stockhiebe versetzten, und bat aus diesen Gründen um Einstellung des Ermittlungsverfahrens. Damit war die Justiz mit der geheimpolizeilichen »verschärften Vernehmung« konfrontiert, also mit Handlungen, die strafrechtlich Nötigungen, Erpressungen und Körperverletzungen darstellten. Dieses war mittlerweile für die Justiz kein größerer Konflikt, denn: "Für die Justiz war das Problem, daß die mit ungesetzlichen Mitteln erzwungenen Aussagen bei der Feststellung des Tatbestandes wesentlich zentraler und für ihre Tätigkeit von unmittelbarerer Bedeutung als die Strafverfolgung prügelnder Gestapob e a m t e r . "235 so wies das Reichsjustizministerium in der Folge die Staatsanwaltschaften an, daß beim Verdacht von Straftaten - begangen durch Gestapo-Beamte - die Verfahren an die Zentralstaatsanwaltschaften abzugeben seien, um so die Möglichkeit zu schaffen, die Fälle vorher zu besprechen. Am 4. Juni 1937 wurde dann bei der Besprechung im Reichsjustizministerium unter Beteiligung des Ministerialdirektors Crohne, den Staatsanwälten von der Zentralanwaltschaft Joél und von Haacke, den GestapoAngehörigen SS-Standartenführer und Ministerialrat Best, Oberregierungsrat Möller sowie einigen Generalstaatsanwälten beschlossen, daß die »verschärfte Vernehmung« wie

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folgt von der Justiz "technisch" gehandhabt werden sollte: "Wenn bei der Staatsanwaltschaft eine entsprechende Anzeige gegen einen Gestapobeamten einging, sollte sie sich von der betreffenden Staatspolizeistelle die Genehmigung zur Anwendung dieser Maßnahme durch das Geheime Staatspolizeiamt vorlegen lassen. ... Dem Verletzten war dann einfach da- formelle Bescheid zu erteilen, daß nach dai Ermittlungen keine strafrechtliche Handlung vorliege. Stellte sich heraus, daß die Genehmigung fehlte, war beschleunigt zu ermitteln und an die Zentralstaatsanwaltschaft zu berichten; auch in Fällen zweifelhafter Zulässigkeit sollte ein Bericht an diese Stelle eingereicht werden. "236 Die Schutzhaftpraxis der Geheimen Staatspolizei ist ein Beispiel par exellence, um zu dokumentieren, daß die staatsanwaltschaftliche und ministerielle Justiz das Eindringen der Gestapo in ihren Kompetenz- und Einflußbereich zuließ. Zwar wehrte sich die Justiz mit bürokratischen Mitteln gegen die Schutzpraxis, ohne allerdings in ihren Argumentationen diejenigen zu berücksichtigen, die unter den Qualen der GestapoSchutzhaft litten. Insofern relativieren und reduzieren sich die Bemühungen der staatsanwaltschaftlichen und ministeriellen Justiz um Verrechtlichung der Schutzhaft auf die justizmäßige Regelung eines faktischen Unrechtszustands von Dauer sowie dessen Legalisierung.

4.7.3 Sondergerichte der Justiz Sondergerichte wurden aufgrund einer Verordnung vom 21. März 1933 zunächst in 26 Oberlandesgerichtsbezirken eingerichtet. Sie waren zuständig für Verstöße gegen die »Reichstagsbrand- und Heimtückeverordnung«. Sondergerichte wurden mit Berufsrichtern besetzt, die meist von Landgerichten abgeordnet wurden.237 Diese Richter haben "mindestens 11.000 Menschen, doppelt so viel wie das oberste scheinjustitielle Terrorinstrument Hitlers, der Volksgerichtshof (VGH) in Berlin, mit tödlichen Verdikten belegt."238 Mit den Sondergerichten erfüllte sich der »konservative Reformwunsch« nach einem »kurzen Prozeß«.239 i n den Sondergerichtsverfahren war weder ein Eröffnungsbeschluß vorgesehen, der die Anklageberechtigung überprüfte, noch gab es eine gerichtliche Voruntersuchung. Die Verteidigung durfte keine Beweisanträge stellen, den Umfang der Beweisaufnahme bestimmte das Gericht nach Gutdünken und gegen das Urteil gab es keine Rechtsmittel. Für die Richter an den Sondergerichten entfiel somit die Notwendigkeit, die komplexen formellen prozessualen Vorschriften zu beachten. Revisionsverfahren waren nicht zulässig. Vor dem Hintergrund der von der NSJurisprudenz neu entwickelten Rechtsauslegungsmethodik, z.B. die » Tätertyp-Lehre«240 und der »teleologischen Gesetzesauslegung«, wurden die Richter an den Sondergerichten von "subtile[n] Erwägungen zur Auslegung des Tatbestandes und der genauen Subsumtion des Tatbestandes"^ 1 entbunden. Bereits kurze Zeit nach der Einrichtung der Sondergerichte wurde gefordert, die Zuständigkeit auf Teile der allgemeinen Kriminalität auszuweiten. Erst fünf Jahre später - mit Beginn des Jahres 1938 -, bekamen die Sondergerichte neue Zuständigkeiten. Fast alle neu geschaffenen Straftatbestände in der Zeit von 1938

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bis 1945 sahen die verfahrensmäßige Zuständigkeit durch Sondergerichte vor. Darunter fielen verschiedene Verordnungen und Gesetze, die mit den Kriegsvorbereitungen im Zusammenhang standen, z.B. das absichtliche Abhören ausländischer Sender, welches in der » V o l k s s c h ä d l i n g s v e r o r d n u n g « 2 4 2 a i Verbrechen definiert war, Delikte nach der » G e w a l t v e r b r e c h e r v e r o r d n u n g « 2 4 3 sowie Handlungen, die als Delikte im Zusammenhang mit »Wehrkraftzersetzung« verstanden werden konnten. Diese Verordnungen und Gesetzesveränderungen enthielten als Gemeinsamkeit neue bzw. veränderte Strafzumessungen, aus Gefängnisstrafen wurden Zuchthausstrafen, aus Zuchthausstrafen wurden bei sondergerichtlich festgestellten »schweren Fällen«, Todesstrafen und die »Gewaltverbrecherverordnung« sah durchweg die Todesstrafe als obligatorische Sanktion v o r . 2 4 4 Der Leiter der Berliner Justizpressestelle definierte 1 9 4 0 , dem Sprachgebrauch der Geheimen Staatspolizei folgend, die Gruppen, für die die Sondergerichte zuständig sein sollten: "1. Der politische und militärische Staatsfeind, 2. Der Wirtschaftsparasit, 3. Der Volksschädling, 4. Der destruktive Außenseiter, 5. Der Schmarotzer im A l l t a g s l e b e n . " 2 4 5 Die Staatsanwaltschaften erhielten vom Reichsjustizministerium das Recht auch dann vor Sondergerichten "anzuklagen", wenn "die sofortige Aburteilung durch das Sondergericht mit Rücksicht auf die Schwere oder Verwerflichkeit der Tat, wegen der in der Öffentlichkeit hervorgerufenen Erregung oder wegen ernster Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder S i c h e r h e i t " 2 4 6 begründet werden konnte. Entsprechend entwickelten die Staatsanwaltschaften "zu den Sondergerichten eine stärkeres Vertrauen als zur ordentlichen G e r i c h t s b a r k e i t " 2 4 7 u n c ) machte großzügig von einer Anweisung des Reichsjustizministeriums Gebrauch, die ermöglichte alle Fälle normaler Kriminalität vor außerordentlichen Gerichten anzuklagen. Der Anteil der Verurteilungen durch Sondergerichte im Verhältnis zu denen durch ordentliche Gerichte Verurteilte erhöhte sich e n t s p r e c h e n d . 2 4 8 s

Sondergerichte wurden mit einem Erlaß des Führers vom 8.10.1939 auch in den sogenannten besetzten Gebieten in Osteuropa eingerichtet. Die Sondergerichte in Polen "hatten zwar deutsches Recht anzuwenden, nahmen es damit allerdings nicht so genau, sondern wichen, wenn Polen angeklagt waren, in großzügiger Auslegung und »zweckentsprechender Fortbildung« des Strafrechts von den Gesetzen ab."249 ¡ n einem Aufsatz der Zeitschrift Deutsches Recht hob der Staatsanwalt Thiemann aus Posen hervor, daß die Sondergerichte unzählige Verurteilungen wegen Landfriedensbruchs mit Waffen ausgesprochen hätten und in "vielen Fällen hätten sie auf Todesstrafe e r k a n n t . "250 ¡ Zusammenhang mit dem sogenannten »Bromberger Blutsonntag«251 wurden durch die Einsatzgruppe IV mehrere hundert Menschen getötet und "1050 polnische Zivilisten als »zusätzliche Geiseln ... von den übrigen Internierten getrennt« inhaftiert und dem Sondergericht »zur Aburteilung zur Verfügung g e s t e l l t . " 2 5 2 Freisler kam nach Bromberg, "um zu hören, ob das tags zuvor eingesetzte Sondergericht schon Urteile gefallt habe."253 Nach einem Tagesbericht des »Sonderreferats Tannenberg« der Einsatzgruppe IV konnte das Sondergericht nicht tätig werden, weil "keine abzuurteilenden Täter mehr vorhanden w a r e n . "254 Trotz dieser Meldung der Einsatzgruppe wurden im Zusammenhang mit dem »Bromberger Blutsonntag« bis zum Jahresende durch dieses Sondergericht "von 168 Angeklagten 100 zum Tode verurteilt, 10 zu lebenslangem m

Zuarbeit d e r J u s t i z

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Zuchthaus, 23 zu zeitigen Zuchthausstrafen von zusammen 195 Jahren, 14 zu Gefängnisstrafen von insgesamt 69 1/2 Jahren und 21 f r e i g e s p r o c h e n . "255 Ergänzend zu den Todesurteilen durch Sondergerichte in Osteuropa müssen noch diejenigen genannt werden, die als sogenannte »NN-Verfahren« (Nacht- und N e b e l a k t i o n e n ) 2 5 6 u n t e r strengster Geheimhaltung von der Geheimen Staatspolizei, den Sondergerichten und dem Volksgerichtshof angeordnet und in Kooperation mit der jeweils örtlichen Polizei durchgeführt worden. Zu diesen Massenverurteilungen sind als »deutschfeindlich« definierte Zivilisten aus den besetzten Gebieten in Nord- und Westeuropa in KZ-ähnliche Lager des »Altreichs« deportiert worden, wobei jeweils die Angehörigen der Betroffenen nicht informiert wurden. Für Angeklagte aus den französischen Gebieten war das Sondergericht Köln, bei Angeklagten aus Belgien und den Niederlanden das Sondergericht Dortmund, für Norwegen das Sondergericht in Kiel und für alle anderen Länder die Sondergerichte in Berlin zuständig. Das Reichsjustizministerium behielt sich Ergänzungen der örtlichen Zuständigkeiten und die Beauftragung von weiteren Sondergerichten in bestimmten Fällen vor. Die sondergerichtlichen Verhandlungen wurden in der Regel direkt in den Gefangenenlagern (z.B. Esterwegen und Papenburg) geführt. So urteilte das Sondergericht Essen im März und April 1944 im Lager Esterwegen 1578 Angeklagte ab.257 Alle »NN-Verfahren« wurden von der Justiz im Herbst 1944 abgebrochen, die ausländischen Gefangenen wurden der Geheimen Staatspolizei übergeben, ohne daß der Stand des Verfahren eine Rolle gespielt hätte. Die Gestapo überstellte dann die Gefangenen in Konzentrations- und Vernichtungslager. Insgesamt sprach die NS-Justiz in den Kriegsjahren 1940 bis 1945 15.000 Todesurteile aus.258 Wer waren die Richter der Sondergerichte und was motivierte sie für eine solche Tätigkeit? Für den Volksgerichtshof hatte das Reichsjustizministerium das Vorschlags- und Hitler das E m e n n u n g s r e c h t . 2 5 9 Damit war es möglich, "besondere Sachkunde auf dem Gebiete der Abwehr staatsfeindlicher Bestrebungen und besondere Vertrauen s Verbundenheit mit den politischen Lebenskräften des Volkes ins Gewicht fallen zu lassen "260 o i e Richter für die Sondergerichte wurden aus der ordentlichen Justiz rekrutiert, hier besaßen alsbald 80% der Angehörigen das NSDAP-Parteibuch.2^ 1 "i m Krieg wird die Personalreserve durch Einberufungen zum Militär jedoch dünn. So gelangen auch etliche weniger linientreue Amtsträger in die Sonderjustiz. Diese Posten sind begehrt, sie schützen noch am ehesten davor, zur Wehrmacht und an die Front eingezogen zu werden. Wie der Präsident des Volksgerichtshofs Freisler sich in einer Ergebenheitsadresse an Hitler ausdrücklich als »Soldat des Führers« definiert, hat gleichermaßen ein Großteil der Justizjuristen bei den regionalen Sondergerichten »Tapferkeit« lieber an der »inneren Front« bewiesen. Ist es doch allemal angenehmer, in der »Panzertruppe der Rechtspflege« zu kämpfen und den Feind in Gestalt wehrloser Angeklagter mit den Waffen der Justiz unschädlich zu machen. Kein Jurist war gezwungen, in der Sondeijurisdiktion m i t z u m a c h e n . " 2 6 2 Durch die Sondergerichte verfügte die Justiz somit über eine Einrichtung, die den geheimpolizeilichen Sprachgebrauch und die Bewertungsmaßstäbe der Gestapo kopierte. So wie die Maßnahmen der Geheimen Staatspolizei keiner Kontrolle unterlagen, waren

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die Entscheidungen der Sondergerichte revisionssicher, allenfalls Hitler konnte als »oberster Gerichtsherr« Entscheidungen der Sondergerichte verändern. Die Staatsanwaltschaften hielten gerade die Sondergerichte für die geeignetsten Justizinstitutionen, um ihre Bereitschaft und Mitwirkung an der nationalsozialistischen Verbrechensbekämpfung zu dokumentieren. Entsprechend klagten sie zunehmend vor Sondergerichten an. Die Richter der Sondergerichte urteilten und verurteilten in kürzester Zeit. In ihren Verfahren brauchte keine Zeit für Sichtweisen oder Beweisanträge der Verteidigung aufgewendet werden und der zulässige Strafrahmen wurde extensiv, im Sinne der Verhängung von Höchststrafen, ausgenutzt. Am Beispiel des Zustandekommens der Todesurteile des Sondergerichts im Zusammenhang mit dem »Bromberger Blutsonntag« läßt sich belegen, daß Sondergerichte selbst in Fällen, die die Gestapo als "abgeschlossen" und "geklärt" vor dem Hintergrund ihrer Massentötungen definierte, noch agierte, um die Maßnahmen der Geheimen Staatspolizei durch weitere Todesurteile zu ergänzen. Daran läßt sich zeigen, daß die Justiz mittels ihrer Sondergerichte willens und in der Lage war, wie die Gestapo zu operieren. Die Zuarbeit der Justiz vollzog sich auf der Ebene der Rechtssetzung, des Kompetenzverzichts und der Rechtsanwendung. Auf der ersten Ebene konnte ein justizbürokratisch-juristischer Akzeptanz- und Zustimmungsprozeß nachgezeichnet werden, in dem die faktischen geheimpolizeilichen Maßnahmen als Verwaltungshandeln mit normativer Wirkung gewertet wurden. Mit neuen Rechtsfiguren legalisierte die ministerielle Justiz aus Anlaß von staatsanwaltschaftlichen Einwendungen - die Maßnahmen der Geheimen Staatspolizei. Dies hatte eine doppelte Wirkung: Rechtswidrige Maßnahmen wurden nachträglich gerechtfertigt und das Legalisieren präjudizierte die zukünftigen geheimpolizeilichen Handlungen. Später wurden diese Rechtsfiguren legitimiert, indem sie zur »herrschenden Meinung« wurden und entsprechend Eingang in die Urteilsbegründungen fanden. Die zweite Ebene der Zuarbeit ist die des justitiellen Kompetenzverzichts. Im Rahmen der Schutzhaftverfahren nutzte die Geheime Staatspolizei auch Gefängnisse, Zuchthäuser und Bewachungspersonal der Justiz für ihre Zwecke. Die geheimpolizeiliche Nutzung der justitiellen Infrastruktur ermöglichte auch das massen- und dauerhafte Festsetzen und -halten von »Staatsfeinden«. Durch die Schutzhaftverfahren war es möglich, ohne justizjuristische Handlungskontrolle dauerhafte Freiheitsbeschränkungen zu vollziehen und sogar Urteile der Justiz zu korrigieren. Die »Inschutzhaftnahmen«, die selbst nach Freisprüchen im Strafverfahren - häufig noch in den Gerichtssälen - angeordnet wurden sowie die Exekutionen, belegen die - jeweils mit geheimpolizeilichen Präventionsnotwendigkeiten begründete - Gestapo-Justiz. Die fehlende strafrechtliche Sanktionierung seitens der Gestapo im Zusammenhang mit ihren Vernehmungs- und Exekutionstätigkeiten, kennzeichnet die andere Dimension des durch Kompetenzverzicht zugestandenen Handlungsfeldes der Gestapo. Die Rechtsanwendung der Sondergerichte ist dann das Beispiel für den Transfer von geheimpolizeilichen Denk- und Sichtweisen sowie Bewertungsmaßstäben in den Bereich der Justiz. Die bislang höchste Zahl von Todesurteilen von zivilen Gerichten im Deutschland des 20. Jahrhunderts wurden von den Sondergerichten verhängt. Die Justiz

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ermöglichte nicht nur die Gestapo-Justiz, sondern nahm in Gestalt der Sondergerichte selbst den Charakter einer Justiz-Gestapo an. Die Justiz-Gestapo stellt sich als prozessuales Ergebnis des Verflechtungszusammenhangs zwischen Maßnahmen- und dem Normenstaat dar. Die Justiz hat sich - mitunter zwar widerstrebend - an die Geheime Staatspolizei angepaßt. Ihre Zuarbeit bedeutete auf den verschiedenen Ebenen nicht nur einfache Unterstützung der Gestapo-Praxis, sondern hatte eine grundsätzlich strukturierende Wirkung für den geheimpolizeilichen Handlungsrahmen.

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Eine Beschränkung der Analyse auf geheimpolizeiliche Organisationsgrenzen bzw. Zuständigkeitsbereiche kann nicht der Vielfalt der Verfahren der Geheimen Staatspolizei gerecht werden. Die Geheime Staatspolizei stellt sich in dieser Hinsicht gerade nicht als eine isolierte Polizeibehörde dar, sondern als eine Organisation mit vielfältigen Kontakten, Verbindungen und Verflechtungen auf verschiedenen Ebenen zu anderen staatlichen und privaten Institutionen. Zugleich ist an verschiedenen Stellen die grundsätzliche Legitimationsbedeutung dieser Verflechtungen, der Machtzuwachs der Gestapo und im besonderen Maße die Legalisierung der Praxis aufgrund der justitiellen Zuaibeit beschrieben worden. Auch in diesem Untersuchungsabschnitt stehen geheimpolizeiliche Verfahren im Mittelpunkt. Hier soll die Frage untersucht werden, welche geheimpolizeilichen Methoden angewendet worden sind und welche Wirkungen damit verbunden waren. Dabei reduziert sich die Vorgehensweise bei der Beantwortung dieser Frage nicht auf die einfache Aufzählung verschiedener Methoden, sondern es soll eine systematische Definition bzw. Kategorisierung einzelner Gestapo-Methoden versucht werden. Nach nationalsozialistischer Definition hatte die Polizei - durch präventives und repressives Handeln -, den "Volkswillen auf allen Gebieten" durchzusetzen. Unter dem Gesichtspunkt des oben erläuterten Führerprinzips war die Polizei im allgemeinen und die Geheime Staatspolizei im besonderen aufgefordert, diese »Willensdurchsetzung« zu realisieren. Dieses tat die Geheime Staatspolizei im Rahmen von administrativ-polizeilichen Verfahren in Kombination mit psychisch-physisch-technischer Gewaltanwendung mit dem Ziel, die Verfolgten einzuschüchtern und zu verunsichern, sie zu verletzen und zu töten. Das Selbstverständnis zur Aufgabe und Funktion der Geheimen Staatspolizei ist bereits dargelegt worden. Dort ist auch nachgewiesen worden, daß die juristische Sprache die tatsächliche Praxis verschleierte und nur einzelne Begriffe (z.B. »Ausmerzung«) die Dimension bzw. die Rigorosität der Gestapopraxis andeutete.263 Meyers Lexikon aus dem Jahr 1940 führt zu den Aufgaben der nationalsozialistischen Polizei aus: "Aufgaben der nat.-soz. P. [Polizei] sind Herstellung und Erhaltung einerseits der von der Führung gewollten Ordnung (Ordnungs=P.), andererseits der Sicherheit von Volk und Staat (Sicherheits=P.); demnach nicht nur Gefahrenabwehr im individualist. Sinn, sondern Durchsetzung des Volkswillens auf allen Gebieten, die nicht besonderen Organen von

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Partei und Staat vorbehalten sind. Die Aufgaben der P. werden entweder vorbeugend erfüllt (Präventiv=P.) oder strafverfolgend (Repressiv=P. ,..)." 2 ^ 4 Unter dem Begriff der »präventiven« Methoden der Gestapo können die geheimpolizeilichen Informationsgewinnungsverfahren, aber auch die verschiedenen Zuarbeitsverfahren, subsumiert werden. In diesem Untersuchungsabschnitt sollen geheimpolizeiliche Methoden beschrieben werden, die in ihrer Dimension »repressiv« waren. 2 ^ Als Kategorien für verschiedene Methoden werden hier »Vorladungen«, »Freiheitsentzug«, »Physische und psychische Folter« und »Töten der Verfolgten« gewählt.

4.8.1 Vorladungen zur Geheimen Staatspolizei Zu den moderneren administrativ-polizeilichen Verfahren gehört die »Vorladung« einer Person zur »Dienststelle«. Ziel dieses Verfahrens ist es, die von der Polizei initiierte Gesprächsführung über einen relevanten Sachverhalt mit einer direkt oder indirekt involvierten Person. Diese Person kann sich in der polizeilich definierten Rechtsposition eines Zeugen oder Beschuldigten befinden. Auch die Geheime Staatspolizei verwendete das Institut des »Vorladens«. Vorladungen wurden in der Regel postalisch zugestellt. In der Praxis vermieden die Angehörigen der Geheimen Staatspolizei, den Vorladungsvordruck vollständig auszufüllen, d.h. den vorgeladenen Personen war weder der Grund der Vorladung (Sachverhalt) noch ihre Rechtsposition (Zeuge oder Beschuldigter) bekannt. So wurde z.B. Albert Christel in Frankfurt eine Vorladung zur Staatspolizeistelle in Frankfurt am Main zugestellt, dem er nur ein ihm unbekanntes Aktenzeichen und den Zeitraum seines Erscheinens entnehmen konnte. 2 ^ Unter Nichtbekanntmachung des konkreten Anlasses und unter Verweigerung der Kennzeichnung der Rechtsposition wurden die so Vorgeladenen in eine Situation der Unsicherheit und Unbestimmtheit versetzt, mit entsprechenden Gefühlen der Verunsicherung. So waren die vorgeladenen Personen nicht einmal in der Lage, die Zeitdauer ihrer Vorladung abzusehen, ebenso ungewiß war es, ob sie die geheimpolizeiliche Dienststelle überhaupt wieder verlassen konnten. Armin Schmidt hat als Angestellter 1933 bei der Frankfurter Jüdischen Gemeinde gearbeitet; er schildert seine Vorladung zur Dienststelle der Frankfurter Geheimen Staatspolizei: "Dann stieg man die steilen Hintertreppen in der Bürgerstraße hoch und kam schließlich vor eine geschlossene Eisentüre, der zur Seite ein Schalter angebracht war, an dem man seine Vorladungskarte abgab, ohne den Beamten richtig zu sehen. Wurde man hereingelassen, dann Schloß sich die Eisentüre hinter einem, und man wurde in das Bürozimmer zur Vernehmung gebracht, in dem immer mindestens zwei Beamte zur gegenseitigen Bewachung anwesend waren. Ich wurde durch meine Arbeit oft vorgeladen und gestehe, daß ich jedesmal aufgeatmet habe, wenn ich die Gestapo verlassen konnte." 2 ^ Zu den psychischen Wirkungen der Vorladungen zur Geheimen Staatspolizei merkt der Psychologe Kurt Bondy im Jahr 1943 an, der selbst Verfolgter der Geheimen Staatspolizei war: "Am demoralisierendsten wirkt die Ungewißheit über die Dauer der Verhaftung ... Man sucht zu vergessen. Die Vergangenheit wird allmählich ungewiß und nebelhaft, das Bild von Familien und Freunden verschwommen... Hier sind die Wurzeln

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der Hoffnungslosigkeit, Apathie, Gleichgültigkeit, Verzweiflung, des Mißtrauens des Egozentrismus. "268

4.8.2 Freiheitsentzug durch die Geheime Staatspolizei Unten wird auf die - selbst für Angehörige der Geheimen Staatspolizei überraschende Flut von Strafanzeigen aus der Bevölkerung näher eingegangen. Diese Anzeigenflut aus der Bevölkerung stellte eine Informationsquelle dar, aus der sich der konkretere Anlaß für ein geheimpolizeiliches Verfahren ergeben konnte. Die Geheime Staatspolizei verfügte über Beamte im Außendienst, die auf der Grundlage ihrer Wahrnehmungen und Vermutungen, Personen festnehmen konnten. Es waren in der Regel diese Beamten, die im direkten Kontakt mit den verschiedenen Informanten und Informantinnen standen. So wurde basierend auf solchen Informationen, z.B. Kurt Soostmann im Winter 1933 beim Geldabheben für seine emigrierte Familie in einer Frankfurter Bank verhaftet und ohne weiteres Verfahren in ein Konzentrationslager transportiert.269 D¡ e KPD-Funktionäre Georg Engel und Heinrich Weingärtner wurden am 18. Dezember 1933 auf dem Frankfurter Hauptbahnhof durch die Geheime Staatspolizei verhaftet, nachdem ein Informant den Transport von Flugblättern verraten hatte.270 Dj e Festgenommen sind in »Schutzhaft« genommen worden. Der Begriff »Schutzhaft«271 ist euphemistisch und bis heute emotional besetzt. Tatsächlich verbirgt sich hinter diesem juristisch-polizeilichen Begriff, die erste Stufe der geheimpolizeilichen Gewaltverfahren. Über das Schutzhaftverfahren waren Angehörige der Geheimen Staatspolizei in der Lage, Menschen willkürlich zu verhaften und sie in ein Gestapo-Gefängnis zu sperren. In diesem Sinne ist das geheimpolizeiliche Instrument der »Schutzhaft« als ein zentrales Element im nationalsozialistischen Terrorsystem anzusehen.272 1933 konnten die exekutiv-polizeilichen Organisationen bzw. Gerichte verschiedene Haftarten anordnen bzw. durchsetzen. Dazu gehörten im einzelnen: 1. die »vorläufige Festnahme« nach dringendem Tatverdacht nach einem Verbrechen, 2. »Zwangsgestellung« zur Polizeiwache zwecks Feststellung der Personalien, 3. die »besondere polizeiliche Haft« nach der Verordnung des Reichspräsidenten vom 4.2.1933 bei Verdacht des Hochverrats und anderen politischen Delikten, 4. »Schutzhaft« durch die Geheime Staatspolizei, 5. »polizeiliche Vorbeugehaft« durch die Kriminalpolizei und 6. » Sicherheitsverwahrung« auf Anordnung des Gerichts nach einer verbüßten Freiheitsstrafe^ Sofern Personen durch die Geheime Staatspolizei mittels eines ausgestellten Schutzhaftbefehls in Schutzhaft oder in polizeiliche Vorbeugehaft genommen wurden, sind diese nach der »Vernehmung« grundsätzlich in ein Konzentrationslager deportiert worden.274 Die Gestapo ordnete auch dann Schutzhaft an, wenn nach justitiellen Verfahren sich die Unschuld der Beschuldigten herausstellte oder sich geheimpolizeiliche Verdachtskon-

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struktìonen als nicht haltbar erwiesen. Die geheimpolizeiliche Anordnungs- und Durchsetzungskompetenz der Schutzhaft war im Sinne der Erfordernisse des »Normenstaats« mit der Verordnung des Reichspräsidenten »zum Schutz von Volke und Staat« vom 28. Februar 1933 legalisiert. Das Recht auf Anordnung dieser Schutzhaft im Land Preußen hatten die Landes- und Kreispolizeibehörden, die Regierungs- und Oberpräsidenten und seit dem 26. April 1933 auch das Geheime Staatspolizeiamt in Berlin. Am 11. März 1934 gab Göring die Anweisung, daß Schutzhaft nur noch vom Geheimen Staatspolizeiamt oder von den Regierungs- und Oberpräsidien angeordnet werden dürfe; nach einer Schutzhaftanordnung durch die Regierungs- und Oberpräsidien hatte das Geheime Staatspolizeiamt spätestens nach dem siebten Tag diese Anordnung zu bestätigen. Im Umkehrschluß bedeutete dieses, daß bei einer Nichtbestätigung der Anordnung die Schutzhaft nicht verlängert werden durfte. Ein Erlaß des Reichsinnenministers Frick vom 12. April 1934 definierte den Sinn und Zweck der Schutzhaft. Danach diente "die Schutzhaft nur dem eigenen Schutz des Häftlings" und die Anordnung bzw. Durchsetzung sei nur zulässig, bei "unmittelbarer Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und O r d n u n g . "275 Offensichtlich um Rechtssicherheit zu suggerieren, schrieb dieser Erlaß auch vor, daß jeder Häftling spätestens 24 Stunden nach der Festnahme einen Schutzhaftbefehl erhalten soll, in dem die Gründe für die Schutzhaft aufgeführt sein sollen.

4.8.3 Physische und psychische Folter In geheimpolizeilichen Gefangnissen folterte das polizeiliche Personal die Vorgeladenen und Schutzhäftlinge. Die Folterungen wurden aber nicht nur hinter Gefängnismauern vom polizeilichen Personal vorgenommen, sondern auch in den normalen Dienstzimmern. Sekretärinnen, Kraftfahrer und andere Mitarbeiter der Geheimen Staatspolizei konnten die Folterungen akustisch miterleben. Sekretärinnen hatten im Beisein der frisch Gefolterten, die erpressten Geständnisse zu s c h r e i b e n . 2 7 6 Diese geheimpolizeilichen Praktiken sind mitunter in den Urteilsschriften gegen Angehörige der Geheimen Staatspolizei zu finden und beruhen in der Regel auf Zeugenaussagen der Verfolgten. So wurde im November 1943 wurde die Jüdin Emmi Meyerfeld zur Dienststelle der Frankfurter Gestapo in der Lindenstraße vorgeladen und durch den Kriminalsekretär Albert Heinrich vernommen: "In der Lindenstraße wurde sie von dem Angeklagten [Kriminalsekretär Albert Heinrich] allein empfangen. Dieser warf ihr vor, mit Mayer, einem Arier, Geschlechtsverkehr ausgeübt zu haben. Die Zeugin stritt dieses ab. Zu einer förmlichen Vernehmung kam es zunächst nicht. Die Zeugin wurde nach kurzer Zeit in den Keller geführt und später in das Polizeigefängnis in Frankfurt/M. gebracht. Nach zwei bis drei Tagen wurde sie dem Angeklagten zur Vernehmung vorgeführt. Der Angeklagte fragte sie, ob sie zu Mayer geschlechtliche Beziehungen unterhalte. Die Zeugin verneinte es. Da schrie er sie an: "Sie Judenhure, geben Sie es doch zu, Sie verderben sich sonst alles mit mir." Dann schlug er sie heftig ins Gesicht. Als die Zeugin bei ihrer Aussage blieb, drohte er ihr, sie werde lebenslänglich ins KZ kommen. Auch

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drohte er ihr, er werde sie aus dem Fenster hinauswerfen. Die Zeugin blieb jedoch bei ihrer Aussage. "277 Der Kriminalsekretär Heinrich vernahm in Frankfurt auch eine Frau Mildner in seinem Dienstzimmer wegen Verdachts des Lebensmitteltausches: "Die Zeugin weigerte sich, das Protokoll zu unterschreiben. Da schlug sie der Angeklagte mit dem Handrücken ins Gesicht. Als sich die Zeugin erneut weigerte zu unterschreiben, schrie sie der Angeklagte an: "Sie Judenhure, ich werfe sie zum Fenster hinunter." Die Zeugin erwiderte: "Tun Sie, was Sie nicht lassen können, ich unterschreibe nicht." Dann versetzte ihr der Angeklagte einen Fußtritt ins Gesäß, daß sie ins Nebenzimmer stürzte. Dann wurde sie wieder ins Polizeigefangnis gebracht. Dort zeigt sie ihren Mitgefangenen, u.a. der Zeugin Η. , die Stelle., wohin sie der Angeklagte getreten hatte. Sie hatte noch vier Wochen an den Folgen des Fußtrittes zu leiden. Später wurde sie in das KZ Auschwitz v e r b r a c h t . "278 Ein Strafverteidiger berichtet nach seinem Besuch eines Mandanten im Gefängnis der Geheimen Staatspolizei in Frankfurt a.M.: "Der Mensch, den ich wenige Tage später im ... Untersuchungsgefängnis vorfand, war ein körperlich schwer mißhandeltes Wesen, dessen Anblick wirklich erschütterte. Das Gesicht dick geschwollen, blau und grün verfärbt, ein Auge geschlossen, die Lippen aufgesprungen und die Nase verquollen, konnte R. nur ganz unverständlich lallen ..."279 Die Geheime Staatspolizei verfügte über Foltergeräte. Dr. Werner Best nahm in einem Aufsatz zur Politischen Polizei im Dritten Reich auch zu den »technischen Mitteln« der Geheimen Staatspolizei Stellung; lapidar führte er 1937 dazu aus: "Die technischen Mittel einer Politischen Polizei sind die gleichen wie die jeder modernen Kriminalpolizei und jedes modernen Überwachungs= und Sicherheitsdienstes. Sie im einzelnen darzustellen, gehört nicht h i e r h e r . " 2 8 0 Gertrud Frank, festgenommen von der Leipziger Geheimen Staatspolizei wegen angeblicher »kommunistischer Umtriebe«, berichtet über ihre Folterungen im Jahr 1944: "... Oben an der Decke war ein Rohr befestigt. Zunächst Schloß man meine Fesseln noch enger zusammen. Man knipste das Licht aus und ließ mich so eine Weile in dem finsteren Raum allein. SS-Mann Laue mit Bleistift und Block kam mit noch einem anderen herein. Ich bekam einen Knebel in den Mund und ein nasses Tuch um den Hals. Der Kleine band mir beide Hände auf dem Rücken zusammen und zog mich an einem Strick langsam an das an der Decke befindliche Rohr. Sie ließen mich hängen, machten den Raum finster und gingen hinaus. Beide kamen dann wieder herein und sagten mir, wenn ich reden wollte, ließen sie mich wieder herunter. Ich schwieg. Sie ließen mich am Strick herunter, zogen mich aus, banden meine Beine zusammen und hängten mich umgekehrt an die Decke, mit dem Kopf nach unten. Plötzlich ging die Tür auf, und mein Mann wurde, mit einem Knebel im Munde wie ich hereingeführt. Er mußte zusehen, wie man mich weich machen wollte, man schlug um so mehr auf mich ein ... plötzlich krachte ich auf den Boden. Der Strick war gerissen. Man schleifte mich hinaus..."281 Foltermethoden, gehörten tatsächlich "zum normalen Handwerk der Gestapo", obwohl sie allgemein als Ausnahmen hingestellt werden. Diese falsche Bewertung hat sich auch deshalb so verfestigen können, weil "es an leicht zugänglichen Beweisen für das Gegenteil mangelt." Diese Folterungen sind daher nur einzelnen "sadistisch veranlagten"

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Gestapo-Beamten angelastet w o r d e n . 2 8 2 Die Beweise für die Alltäglichkeit der Folter, die in ihrer Art identisch "in jedem Gestapo-Gefángnis in jeder Stadt E u r o p a s " 2 8 3 angewendet worden sind, sind in unterschiedlichen Dokumenten belegt. Auch sind Nachweise für Folterungen in Gerichtsakten zu finden, doch aufgrund ihrer europaweiten Streuung wurden sie noch nicht zusammenfassend a u s g e w e r t e t . 2 8 4 Bekannt geworden sind daher Einzelfalle: Mrs. Churchill ist so "ein Zehennagel nach dem anderen ausgerissen" worden, um sie zu einer Aussage zu bewegen; dem Staffelkapitän Yeo Thomas sind langsam die Hoden zerquetscht worden und man ließ ihn im eiskalten Wasser fast ertrinken, "während Stenotypistinnen und Sekretärinnen des Gestapo-Gefängnisses z u s a h e n . " 2 8 5 Angewendet wurden diese Methoden "ohne Unterschied bei den Verhören der Gefangenen und Verdächtigen in den Gestapodiensts t e l l e n . " 2 8 6 ziel dieser Foltermethoden war nicht nur das Erpressen eines Geständnisses. Vielmehr sollten die Verfolgten auch ihr Wissen über andere Personen preisgeben. Vor dem Internationalen Militärgerichtshof zu Nürnberg listete der französische Lehrer und Hauptmann Labussière folgende Foltermethoden der deutschen Geheimen Staatspolizei auf: "1. Ochsenziemer. 2. Badewanne: Der Gefolterte wurde zuerst mit dem Kopf in eine mit kaltem Wasser gefüllt Badewanne bis zur Erstickung getaucht. Daraufhin unterzog man ihn künstlicher Atmung. Wenn er nicht aussagte, wurde diese Behandlung mehrfach wiederholt. Mit den nassen Kleidern verbrachte er die Nacht in einer kalten Zelle. 3. elektrischer Strom: Die Pole wurden zuerst an die Hände, dann an die Füße, die Ohren und endlich einer in den After und der andere an das Ende des männlichen Gliedes angebracht. 4. Zerschmetterung der Hoden mittels einer dazu hergestellten Presse. Das Abdrehen der Hoden war häufig. 5. Aufhängen: Der Patient wurde mit Handfesseln auf dem Rücken fest gebunden, ein Haken an den Handfesseln befestigt, und mittels einer Rolle wurde das Opfer hochgezogen. Zu Beginn zog man ihn hoch und ließ ihn ruckweise herunterfallen. Schließlich ließ man ihn längere oder kürzere Zeit hängen. Sehr oft waren die Arme ausgerenkt Ich habe im Lager den Leutnant Lefèvre gesehen, der den Gebrauch beider Arme eingebüßt hatte, da er über vier Stunden auf diese Art aufgehängt worden war. 6. Verbrennungen mittels einer Lötlampe oder Streichhölzern. Am 2. Juli kam im Lager mein Kamerad Laloue, Lehrer in Cher, an, der den größten Teil dieser Folter in Bourges erlitten hatte. Er hatte einen ausgerenkten Arm und konnte infolge des Aufhängens keinen einzigen Finger der rechten Hand bewegen. Er hatte sowohl den Ochsenziemer als auch die Elektrizität ertragen. Er war mit Streichhölzern gebrannt worden. Man hatte ihm unter sämtlich Finger- und Fußnägel abgeschnittende Streichhölzer hineingestoßen. Seine Handgelenke und Knöchel wurden mit Wattebändern umwunden. Diese, wie auch die Streichhölzer, wurden angezündet. Während alles brannte, stach ihn ein Deutscher mehrere Male mit einem spitzen Messer in die Fußsohle, während ihn ein anderer mit einem Ochsenziemer schlug. Durch die Phosphorbrandwunden waren einige Finger bis zum zweiten Glied abgefressen. Geschwüre, welche sich gebildet hatten, sprangen von selbst auf und retteten ihn so vor einer Blutvergiftung. "287 Der Tagesablauf von Jean Nocher, der im Lyoner Gestapogefängnis »Monüuc« unter anderem von B a r b i e r e gefoltert wurde, sah wie folgt aus: "Für ihn und seinen

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Mitgefangenen begann der Tagesablauf um halb acht Uhr morgens mit Mißhandlungen und Beschimpfungen durch das bewaffnete deutsche Wachpersonal. Aus seiner Isolierung wurde er nur erlöst, wenn er einmal einen Blick auf die anderen Gefangenen werfen konnte, die allerdings einen fürchterlichen Anblick boten, wenn sie zerschunden und verschwollen von einem nächtlichen Verhör zurückgebracht wurden. Zum Waschen mußte sich Nocher in einer langen Reihe anstellen, um schließlich die jedem Gefangenen zustehenden drei Minuten am Waschbecken zu verbringen. Seine Zelle wimmelte von Ungeziefer, es gab wenig Wasser und kaum etwas zu essen. Aus den Nachbarzellen konnte er das Gewimmer der geschundenen Vernehmungsopfer h ö r e n . " 2 8 9 Die Vernehmungszimmer der Geheimen Staatspolizei in Lyon waren wie folgt ausgestattet: "Deren Ausstattung bestand aus einer oder zwei Badewannen, einem Tisch mit Lederriemen, einem Gasofen, Schürhaken, die in den Öfen zum Glühen gebracht wurden, und grobzinkigen elektrischen Folterinstrumenten. Die Badewannen waren abwechselnd mit eiskaltem und kochendem Wasser gefüllt. "290 André Frossard wurde von der Geheimen Staatspolizei in Lyon ausgezogen und seine Handgelenke wurden nach innen an die Fersen gefesselt: "Dann steckte man ihm einen Stock zwischen seinen verkrümmten Armen hindurch. Barbie und seine Helfer legten den Stock quer über die Wanne und stießen den daran hängenden Gefangenen unter Wasser. »Dann rissen sie mich an den Haaren wieder hoch und ließen mich um den Stock rotieren wie um eine Achse«. Frossard wäre bei dieser Behandlung fast ertrunken, aber die Verhörspezialisten holten ihn mit Fußtritten und Faustschlägen wieder ins Leben zurück. "291 Bereits bei der Verhaftung wurde durch die Gestapo-Beamten in der Regel mit einem Stock geprügelt; so sollte erreicht werden, daß die Betroffenen bereits vor dem Verhör erniedrigt und betäubt waren. "Es ist schwer, ruhig gefaßt und aufrecht zu sein, wenn das Gesicht blutüberströmt ist, die Augen zugequollen, die Lippen geschwollen und die Vorderzähne ausgeschlagen sind; wenn man bei jedem Wort, daß man zu sagen wagt, wieder geschlagen, wenn man bei jedem Versuch, sich aufzurichten, wieder zusammengetreten wird, dann ist es außerordentlich schwer, Haltung zu bewahren. "292 Weitere Gestapo-Foltermethoden verbargen sich hinter dem Begriff der »Verschärften Vernehmung«: Diese Folterungen wurden in einer zur »Geheimen Reichssache« erklärten Handlungsanweisung von Heinrich Himmler vom 12. Juni 1942 definiert.293 i m einzelnen sind als Foltermethoden genannt worden: "... einfachste Verpflegung (Wasser und Brot), hartes Lager, Dunkelzelle, Schlafentzug, Ermüdungsübungen aber auch ... Verabreichung von Stockhieben (bei mehr als 20 Stockhieben muß ein Arzt beigezogen w e r d e n ) . " 2 9 4 w a r vorgeschrieben, daß diese Folterungen nicht durch den vernehmenden Beamten vorgenommen werden durften. Bei den Folterungen, mußten nach dieser Anweisung "mindestens zwei Beamte anwesend sein."295 Geheimpolizeiliche Folterhandlungen wurden in »Verfahrensweisen« eingebettet und sind so formalisiert worden. Nicht die Handlungen, aber der Ablauf wurde teilweise vorgeschrieben, z.B. durch die Anwesenheit von Sekretärinnen, einer Mindestzahl von Beamten und die Hinzuziehung eines Arztes. Dadurch wurde eine Komplizenschaft hergestellt, die allen an Folterverfahren beteiligten Täter »Normalität« vermittelte. Diese

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Normalität wurde durch Aufrechterhaltung und Anknüpfung an bekannte bürokratische Rituale inszeniert.

4.8.4 Töten der Verfolgten Die psychogenetische Analyse von Angehörigen der Geheimen Staatspolizei erfolgt vor dem Hintergrund der Fragestellung, unter welchen Bedingungen die Gestapo-Angehörigen das Töten akzeptierten. Systematische Voraussetzung für eine solche Analyse ist die Beschreibung des Tötens auf der Handlungsebene. In diesem Untersuchungsabschnitt werden insbesondere Motivationen, die individuellen Rechtfertigungsformen und Strategien der Verarbeitung des Tötens noch nicht berücksichtigt, da ich dies der psychogenetischen Anlayse der Täter zurechne und weiter unten behandeln werde. Die Folterungen der Geheimen Staatspolizei kulminierten im Töten. Die Mißhandlungen während der Verhöre waren oft so schwer, daß diese Personen anschließend in den Gefängniszellen starben. Häufig schnitten sich die Mißhandelten in den Zellen die Pulsadern auf oder erhängten sich. Russische Zwangsarbeiter mußten bei der Gestapo in Frankfurt am Main die toten Häftlinge aus den Gestapo-Haftzellen h o l e n . 2 9 6 Folgende Beispiele können das Ausmaß des geheimpolizeilichen Tötens nur andeuten: In den Jahren von 1939 bis 1940 sind von den im wesentlichen aus Polizeibeamten bestehenden Einsatzgruppen ca. 60.000 bis 80.000 Menschen überwiegend in Polen getötet worden.297 Am 20. September 1933 wurde der als Mörder des Nationalsozialisten Horst Wessel zu einer Gefängnisstrafe verurteilte Adi Höhler durch bewaffnete GestapoBeamte vom Geheimen Staatspolizeiamt in seine Strafanstalt zurücktransportiert. Dieser Transport wurde durch mehrere SA-Männer angehalten. Ohne Widerstand seitens der Gestapo-Beamten brachten die SA-Angehörigen Ali Höhler in ihre Gewalt und töteten ihn in der Nähe von Frankfurt/Oder.298 Gegen Ernst Thälmann, Vorsitzender der KPD, wurde im Jahr 1933 ein Ermittlungsverfahren wegen Verdacht des Hochverrats geführt. Obwohl er im Berliner Gestapo-Gefängnis gefoltert wurde, konnten keine hinreichenden Beweise "gewonnen" werden, die für eine Verurteilung zum Tode ausgereicht hätten. Daraufhin wurden von der Geheimen Staatspolizei Thälmanns Stellvertreter bzw. andere KPD-Funktionäre, darunter John Schehr (Thälmanns Stellvertreter und Mitglied des Preußischen Landtages bzw. des Reichstages seit 1932), Rudolf Schwarz (führender Mitarbeiter im Zentralkommitee (ZK) des Kommunistischen Jugendverbandes), Erich Steinfurth (u.a. Mitglied des Preußischen Landtages) und Eugen Schönhaar (Mitarbeiter im ZK-Sekretariat) festgenommen.299 Auf der Fahrt vom Geheimen Staatspolizeiamt zum Columbia-Haus (Name des ersten Berliner Gestapo-Gefängnisses^OO) WUrden diese vier Männer im Januar 1934 durch die begleitenden Gestapo-Beamten erschossen; sie sollen angeblich einen »Fluchtversuch« unternommen haben. Am Nachmittag des 30. März 1945 wurden zwölf Menschen von Beamten der Kasseler Gestapo aus dem Zuchthaus Wehlheim geholt. Mit Stricken gefesselt, wurden sie zum Friedhof KasselWehlheim geführt und dort von den Gestapo-Beamten mit Maschinenpistolen erschossen und in einem Massengrab verseharrt.301

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Im Reichssicherheitshauptamt wurden die Massenmorde in den verschiedenen Konzentrationslagern organisiert: "Über die Gesamtzahl der Personen, die vom nationalsozialistischen Regime in die K L eingeliefert worden sind, liegt bis jetzt zuverlässiges Material nicht v o r . " 3 0 2 p y r die Tötungen der Gestapo im Rahmen der Einsatzgruppen bzw. für die Polizeibattaillone gilt diese Aussage ebenso. Allerdings kann eine gewisse Anzahl von Verfolgten der Gestapo aufgrund der als »Erfolgszahlen«, die an die jeweiligen Hauptquartiere übermittelten Zahlen über Erschießungen, »Strafaktionen« und »Bandenbekämpfungen«, ermittelt werden. Einige Beispiele für geheimpolizeiliches Töten: Auf Weisung des RSHA ließ die Gestapo in Frankfurt am Main 1941 einen transportablen Galgen bauen. Mit diesem Galgen zogen die Beamten der Geheimen Staatspolizei "durch ganz Hessen." Lediglich vier Morde mittels des Galgens sind aktenmäßig nachgewiesen, sie sollen hier kurz dokumentiert werden: Im Jahr 1942 wurden die polnischen Staatsbürger Josef Ochmanek, Wladislaw Kaczmarek und Eduard Severyn in Waldstücken bei Frankfurt, Wiesbaden bzw. Wetzlar ohne richterliches Urteil hingerichtet. Ein vierter Pole wurde 1945 in einem Arbeitslager bei Heddernheim gehängt. 303 Bei der Ermordung von Wladislaw Kaczmarek mußten andere polnische Staatsbürger den Galgen bedienen und die Bretter bei der Galgenkonstruktion so entfernen, daß die Strangulation erfolgen konnte, anschließend mußten sie dann auch die Leiche vom Galgen abnehmen. Bei der Einlieferung der Leiche in das anatomische Institut in Gießen wurde der Sarg geöffnet und bei Wladislaw Kaczmarek wurden Lebenszeichen festgestellt. Der Leiter der Gestapo Frankfurt erteilte daraufhin den Befehl, den Sarg mit der Person Kaczmarek in ein Waldgelände zu fahren. Hier ordnete er die Tötung durch Kopfschuß an. Die Schilderung des Mörders: "Da der Pole auf dem Rücken lag, ging ich mit der Pistole ganz dicht an das Opfer heran, um so im Sarg einen Genickschuß mit folgendem Gnadenschuß anbringen zu können. Nach dem ersten Schuß zuckte das Opfer zusammen. Danach habe ich, auf Befehl, den zweiten Schuß als Gewißheit a b g e f e u e r t . " 3 0 4 Die folgenden Skizzen zum geheimpolizeilichen Töten basieren auf Erkenntnissen verschiedener Gerichtsverfahren nach 1945. Sie stehen auch als Beispiel für die Häufigkeit des geheimpolizeilichen Tötens und Folterns sowie geben Einblicke in die »Bereitschaften« der Täter, dieses zu tun. Diese Beispiele dienen als Grundlage für die unten folgende Untersuchung von Veränderungen in den Verhaltens- und Empfindungsstandards der Täter. Der Frankfurter Kriminalsekretär der Geheimen Staatspolizei, Heinrich Baab, wurde wegen Mordes, Freiheitsberaubung im Amt und Körperverletzung im Amt durch ein Frankfurter Gericht zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt. Das Gericht sah es als erwiesen an, daß Baab in den Jahren 1940 - 1944 sich in 55 Fällen des Mordes, in 21 Fällen des versuchten Mordes, in 29 Fällen der Körperverletzung im Amt, in 5 Fällen der Aussageerpressung und in 22 Fällen der Freiheitsberaubung im Amt schuldig gemacht habe. Die Große Strafkammer in Meiningen (ehemalige DDR) verurteilte den Kriminalsekretär der Staatspolizeistelle Frankfurt am Main, Rudolf Thorn, geb. 14.12.1902 in Arborn/ Dillkreis, am 11. März 1950 wegen Verbrechen nach "Kontrollrat Gesetz Nr. 10 und Kontr. Dir. 38" zu elf Jahren Zuchthaus. 305 Heinz Barth, geb. 1921,

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Sohn eines preußischen Bahnbetriebsassistenten, aufgewachsen in einer Kleinstadt, lernte nach seiner Grundschulausbildung Kaufmann. Heinz Barth wurde 1939 zur Polizei eingezogen. Er erhielt eine Polizeiausbildung (ab 1. Januar 1943 Leutnant der Schutzpolizei) und nahm als Angehöriger der SS-Division »Das Reich« an Tötungen in Oradour-sur-Glane/Frankreich teil. Er ermordete in diesem Ort eine nicht mehr angebbare Zahl von Männern, Frauen und Kindern. Gerichtlich nachgewiesen sind die Morde an dem bettlägrigen Rentner Pierre Giroux, an Henriette Joyeux (22 Jahre alt) und an ihrem Sohn René (sechs Monate und 17 Tage alt) .306 Das Gerichtsprotokoll vermerkt folgende Einlassung von Barth: "Und wir, die Polizeieinheiten mußten dann diese Menschen erschießen. So war das organisiert. Das hielt ich damals für g e r e c h t . " 3 0 7 Wilhelm Wagner, geb. 1906, war bis zu seiner Pensionierung in den sechziger Jahren Polizeibeamter des Landes Bayern. Der Polizeimeister a.D. wurde am 19. Dezember 1988 durch das Schwurgericht beim Landgericht Nürnberg zur einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Ihm wurde nachgewiesen, daß er im August 1942 in der polnischen Stadt Wieliczka bei Krakau "aus eigener Vollmacht und ohne Anweisung seiner V o r g e s e t z t e n " 3 0 8 e ine kranke Jüdin in ihrem Bett sowie einen blinden Uhrmacher erschossen hatte. Einen weitere Person hatte Wagner "auf der Straße niedergestreckt." Im Rahmen der Gerichtsverhandlung ist Wagner gefragt worden, warum der Sicherheitsdienst und einige Gendarmen schon vor dem Eintreffen des offiziellen Erschießungskommandos mit der Exekution begonnen hätten. Der Angeklagte Wilhelm Wagner antwortete: "Denen ist halt langweilig g e w o r d e n . " 3 0 9

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Akzeptanz und Unterstützung der geheimpolizeilichen Praxis

Nach der Analyse der Verfahren und Methoden unter Berücksichtigung der Auswirkungen auf die Verfolgten ist nunmehr zu fragen, warum die Gestapo faktisch (und/oder vermeintlich) als »allgegenwärtig« wahrgenommen wurde und warum sie - aus polizeilicher Sicht - entsprechend »effektiv« war? In diesem Zusammenhang merkt Hilberg zum bürokratischen Vernichtungsapparat an: "Im nationalsozialistischen Deutschland war ein in der Geschichte beispielloser Vernichtungsprozeß in Gang gekommen. Der bürokratische Apparat einer ganzen Nation war in diesem Prozeß verwickelt, und seine Leistungskraft wurde noch durch ein Klima verstärkt, das die Eigeninitiative von Behörden und Dienststellen auf allen Ebenen förderte. ... Einer der auffallendsten Aspekte des deutschen Verwaltungsapparats war sein geringer Personalbestand, namentlich in jenen Gebieten außerhalb des Reichs, in denen der Großteil der Opfer zu vernichten war. Dieses sparsam eingesetzte Personal hatte zudem eine verwirrende Vielfalt von Verwaltungsvorgängen zu erledigen. Bei näherem Hinsehen entpuppte sich die Vernichtungsmaschinerie gar als ein lockere Organisation von Teilzeitkräften. Es gab bestenfalls eine Handvoll Bürokraten, die ihre gesamte Arbeitszeit antijüdischen Aktivitäten widmen konnten. ... selbst ein Experte wie Eichmann hatte zwei Aufgabengebiete: die Deportation von Juden und die Rücksiedlung von Volksdeutschen; die Einsatzgruppen hatten nicht nur Juden, sondern auch Zigeuner, russische Politkommissare und

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Partisanen zu erschießen; und ein Lagerkommandant wie Höß, betreute nebenher einen in unmittelbarer Nachbarschaft seiner Gaskammern gelegenen Industriekomplex."310 Es erstaunt also die »Effektivität« der Vernichtungsbürokratie im Verhältnis zum tatsächlich eingesetzten Personal. Dieses scheint zwar auch eine Konsequenz von Organisationsstrukturen zu sein, aber wohl auch eine Folge der Unterstützung von »außen«.3H Hilberg definiert diese Unterstützer in einem aktuellen Werk mit den Begriffen: »Helfer, Gewinner und Schaulustige« und versteht sie Zuschauer des Vernicht u n g s p r o z e s s e s . 3 1 2 Allerdings wissen wir wenig über diese Menschen und ihre Motive. Gellately kritisiert daher zu Recht, daß eine Sozialgeschichte des Terrors im Zusammenhang mit dem deutschen Nationalsozialismus nicht vorliegt, denn der gesamte "soziale Kontext blieb unbeachtet."^ Gellately stellt die These auf, "daß die Gestapo gerade deshalb so effektiv war, weil sie auf eine große Zahl von Menschen zurückgreifen konnte, die entweder direkte Mitglieder bzw. Angehörige waren oder die sich der Politischen Polizei verpflichtet f ü h l t e n . 14 jch folge dieser These und untersuche die Informationsweitergabe und die sonstige Unterstützung der Geheimen Staatspolizei. Hannah Arendt hat in ihrer Untersuchung zu den Elementen und Ursprüngen totalitärer Herrschaft darauf hingewiesen, daß in der ersten Phase des Entwicklungsprozesses totalitärer Systeme Denunziationen sehr viel häufiger sind, als Berichte von Geheima g e n t e n ^ 15 sie begründet diesen Befund mit der Feststellung, daß sich totalitäre Systeme auch immer als Systeme der Massenbewegung darstellen und Denunziationsbereitschaften schon aus diesem Grund »normal« wären. Diese Begründung aus der Theorieperspektive des Totalitarismus soll hier nicht weiter vertieft werden. Wichtig erscheint allerdings, daß Denunziationen mit zu den konstituierenden Merkmalen totalitärer Herrschaftssysteme zu gehören scheinen. Damit weist Arendt auf eine spezifische Verhaltensweise hin, die den Bereich der Beziehungsorganisation der Menschen untereinander dramatisch verändert. Wer denunziert, tut etwas zur Unterstützung des Systems. Wer Gegenstand einer Denunziation wird ist grundsätzlich ein Auffälliger oder wird als Gegner des Systems wahrgenommen und als solcher »behandelt«. Denunziation wirkt somit in der Regel zum Denunzierten und zum Denunzianten (beim Bekanntwerden der Denunziation) zwischenmenschlich trennend und beziehungsbrechend. Solidariätsverhalten und -gefühle oder auch einfachere Standards der Verbundenheit und Mitmenschlichkeit schrumpfen beim Denunzianten. Die Denunziationsbereitschaften sollen hier unter dem Blickwinkel von Entzivilisierungstendenzen untersucht werden. Unter Denunziationen werden informationsübermittelnde Verhaltensweisen verstanden, die freiwillig entweder direkt an Angehörige der Geheimen Staatspolizei oder indirekt an Angehörige nichtstaatlicher (z.B. NS-Einrichtungen) auch über Dritte an die Gestapo herangetragen werden. Der Inhalt mag dabei auf eigene oder fremde Wahrnehmungen bzw. Vermutungen beruhen, wobei der Gegenstand nicht wahr sein muß. Denunziation ist an keine besondere Form gebunden und Quellen müssen nicht benannt werden. Das Merkmal der Freiwilligkeit ist dabei das entscheidende. Denn Denunziationsverhalten mag zwar das Indiz einer Massenbewegung zu sein, setzt aber letztlich den Vorsatz des Akteurs voraus. Mit anderen Worten: Es offenbaren sich am Phänomen der Denunziation auch Prozesse, die das "allmähliche Erkalten der Beziehung zu Men-

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schen"316 deutlich werden lassen. Leo Schwering, Verfolgter der Geheimen Staatspolizei, kommentiert die Denunzianten im Verhältnis zur Geheimen Staatspolizei: "Der Denunziant - Schoßkind der Gestapo: Warum, so muß man fragen, spielte der Denunziant dort eine so entscheidene Rolle? Sehr einfach: Die Geheime Staatspolizei war auf seine »Mitarbeit« angewiesen. Er war ihr lebensnotwendiger Zutreiber. Denn rein verwaltungsmäßig gesehen, war sie [die Geheime Staatspolizei, Anm. H.J.H.] weder geschickt noch erfinderisch. Jedes private Detektivbüro arbeitete besser, das könnte mehrfach aus der Praxis belegt werden. Niemals wäre einem nur einigermaßen Detektiv so viel entgangen wie diesen Bütteln. Auf ihre eigene Findigkeit angewiesen, hätten sie ihre Unfähigkeit bald offenbaren müssen. Der Denunziant bewahrte sie vor dieser Bloßstellung."317 Wer in der Zeit von 1933 bis 1945 Mitmenschen bei der Geheimen Staatspolizei denunzierte konnte im Grundsatz davon ausgehen, daß die Geheime Staatspolizei die Informationen - sei es in Form einer Strafanzeige, sei es in der Form eines Telefonanrufes oder auf andere Weise - aufnehmen würde und Verfolgungsmaßnahmen im Sinne des Denuzianten einleiten wird.318 Allerdings hatte selbst die Polizei nicht mit so einer ungeheuren Bereitschaft zur Denunziation gerechnet, sie war sogar gezwungen bzw. angewiesen worden, Maßnahmen gegen die Denunziation einzuleiten. Ein Fallbeispiel aus Nordeutschland mag dieses veranschaulichen: Im Frühjahr 1934 startete die NSDAP, den sogenannten »Muckerer-Feldzug«. Hintergrund dieser Maßnahme der NSDAP war die Zunahme von kritischen Stimmen aus der Bevölkerung zu Einzelmaßnahmen von Partei und Regierung gewesen.319 Dj e Stapostelle Harburg-Wilhelmsburg schrieb dazu am 1.6.34: "Im verflossenen Monat mußte von der Staatspolizeistelle ganz besonders scharf gegen Mießmacher und Nörgler vorgegangen werden. Im engen Zusammenarbeiten mit der P.O. ... [Politischen Organisation, Anm. HJ. H.] der NSDAP ist es der Staatspolizeistelle gelungen, mehrere ganz üble Gerüchtemacher, die sich nicht etwa nur in den Kreisen, die der Partei feindlich gegenüber gestanden haben oder noch heute stehen, sondern auch in den Kreisen der Partei befinden, dingfest zu machen. "320 Dieser Feldzug gegen die »Miesmacher« löste offensichtlich ein Ausmaß an Denunziationen aus, daß die Berliner Zentralinstanzen zum Reagieren gezwungen waren. Das Geheime Staatspoizeiamt in Berlin gab ein vom 7.5.34 datiertes Schreiben heraus, in dem auf eine Verfügung des Preußischen Justizministers vom 21.3.1934 verwiesen wird. Im diesem Schrieben heißt es: "Unter Bezugnahme auf die Verfügung, die der Preußische Justizminister vom 21.3.1934 ... zur Bekämpfung des Denunziantentums erlassen hat, ersuche ich ergebenst, die Polizeibehörden anzuweisen, gegen die leichtfertige Erstattung ungerechtfertigter Anzeigen ... vorzugehen. Es muß mit allem Nachdruck dafür gesorgt werden, daß die des deutschen Volkes und nationalsozialistischen Staates unwürdige Erscheinung des Denunziantentums verschwi ndet. " 321 Die Konfrontation mit staatspolizeilichen Maßnahmen bedeutete für die Denunzierten mindestens Existenzbedrohung und fast immer Existenzvernichtung. Da die Denunzianten dieses in Kauf genommen haben - häufig war es sogar die entscheidene Motivlage -, interpretiere ich das denunziatorische Verhalten gegenüber der Geheimen Staatspolizei als Akzeptanz bzw. Nachachtung einer Tötungsorganisation. Die Geheime

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Staatspolizei war in der Bevölkerung als brutal bekannt.322 Auch Heinrich Himmler wußte um und sprach über dieses Image: 1936 verglich er in einer Rede im »Haus der Flieger« die bayerische Politische Polizei der Weimarer Republik mit der Geheimen Staatspolizei und stellte dabei fest: "Diese Abteilung war verhaßt, so wie wir heute verhaßt sind, ..."323 Einer Studie zur Geheimen Staatspolizei in Cuxhaven ist zu entnehmen, daß die Angehörigen der Geheimen Staatspolizei durchaus offen agierten und mit dem Einverständnis der Bevölkerung rechnen konnten. Die Cuxhavener Dienststelle lag in der Bahnhofstraße, es war die Hauptverkehrsstraße des Ortes: "In diesem Parteihaus war die Gestapodienststelle. Als ich im Sommer 1944, den Tag kann ich nicht mehr angeben,... meine Tochter A. in ihrer Wohnung besuchte, sah ich wie ein junger Mann von den Gestapobeamten Priebe zu seiner Dienststelle gebracht wurde, anscheinend zum Verhör. Vor der Haustür fragte der junge Mann den Priebe [ein Gestapobeamter, Anm. H.J.H.], nach welcher Seite er gehen sollte. Daraufhin bekam er sofort anstatt einer Antwort von Priebe mit der Faust mehrere Schläge auf den Kopf und zwar so stark, daß diesem die Mütze vom Kopf ins Treppenhaus flog."324 "Weiter habe ich des öfteren gesehen, daß Priebe Gefangene aus dem Amtsgerichtsgefangnis, wo die Gefangenen für die Gestapo untergebracht waren, nach der Gestapodienststelle brachte. Hierbei fuhr Priebe selbst mit dem Fahrrad und die Gefangenen mußten zu beiden Seiten neben ihm laufen. Hierbei handelte es sich zur Hauptsache um Ausländer." Zur Cuxhavener Gestapoaußenstelle gehörten bis zum Jahr 1938 nur zwei Beamte, später kam ein weiterer Beamter hinzu. Dennoch ordneten diese drei Beamten in den Jahren 1943/44 51% (= 204) und 1944/45 66.05% (= 323) aller Festnahmen in Cuxhaven an.325 Unter diesem Aspekt erhält das Anzeigeverhalten der Bevölkerung eine besondere Bedeutung, da es sich hier um empirische Belege für die Rücknahme der Beziehungen zu Menschen handelt. Das Attribut entzivilisierend bedeutet hier, daß Denunzianten nicht nur ihre Mitleidsempfindungen zurücknahmen bzw. diese nicht im höheren Maß entwickelt waren, sondern daß sie bewußt Handlungen unternahmen, die die Existenzvernichtung der denunzierten Person billigend einschloß. Hier soll das Anzeigeverhalten - als eine von mehreren Denunziationsvarianten - auf der Grundlage einer Aktenstudie vorgestellt werden. Der Historiker Reinhard Mann hat das Anzeigeverhalten der Bevölkerung anhand der Akten der Düsseldorfer Geheimen Staatspolizei für die Jahre von 1933 bis 1945 untersucht, um auch Aussagen zu nonkonformen Reaktionen und Verhaltensmuster der Großstadtbevölkerung im Dritten Reich machen zu k ö n n e n . 3 2 6 Es ist anzumerken, daß die hier genannten Zahlen nicht die absoluten Höchstwerte von Anzeigen oder Tätigkeiten darstellen, sie beruhen auf ausgewählten und nicht vollständigen A r c h i v m a t e r i a l i e n . 3 2 7 Am Beispiel der Düsseldorfer Geheimen Staatspolizei konnte Mann nachweisen, daß die häufigste Ursache für ein Tätigwerden im Sinne von geheimpolizeilicher Informationsüberprüfung, ohne daß eine Akte angelegt wurde, seitens der Gestapo tatsächlich die Anzeigen der Bevölkerung darstellen.328 Ein Drittel dieser Anzeigen führte dann zur Erstellung eines geheimpolizeilichen Vorgangs (Aktenanlage, Karteikartenerfassung). 127 (15%) Vorgänge gingen auf Beobachtung der Gestapo selbst

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bzw. durch eingesetzte Spitzel zurück. Informationen durch andere Kontrollorgane führten zu 139 (17%) Vorgängen. Nur 57 (7%) Vorgänge beruhten auf Informationen durch andere staatliche Behörden bzw. Einrichtungen und lediglich 52 (6%) Vorgänge wurden durch Informationen durch NS-Organisationen veranlaßt. In diesem Zusammenhang ist das Ergebnis über die Art der Anzeigenerstattung interessant. Man könnte annehmen, daß zum Denunzieren auch immer die Anonymität des Anzeigenerstatters oder der Anzeigenerstatterin gehört, da möglicherweise Angst beim Denunzianten vor Repressionen seitens der Denunzierten bestehen könnte. Mann hat nun aber nachgewiesen, daß lediglich drei Prozent der Anzeigen bei der Düsseldorfer Geheimen Staatspolizei anonym erstattet worden sind. 85% der Anzeigen wurden in schriftlicher oder mündlicher Form erstattet, so daß bei der Geheimen Staatspolizei der Name der Denunziantin oder des Denunzianten nicht nur informell bekannt war, sondern auch aktenkundig gemacht wurde. Die Aktenanalyse hat weiter ergeben, daß 37% der Anzeigen bei der Geheimen Staatspolizei zur »Bereinigung privater Konflikte« erstattet worden sind. Diesem Prozentsatz stehen 24% (Anzeigenerstattung aufgrund systemloyaler Einstellung) bzw. 39% (Anzeigenerstattung ohne Angabe von Gründen) gegenüber. Die Fallgruppe »Bereinigung privater Konflikte« kann untergliedert werden in Fälle von "Ehestreitigkeiten, Liebesaffaren, Familienkräche, Erbschaftsstreitigkeiten, geschäftliche/berufliche Konkurrenz und Nachbarschaftsstreit." Konfliktbeteiligte haben hier die gegnerische Konfliktpartei soweit als lästig empfunden, daß ihn die "Gestapo aus der Welt schaffen" sollte. Die Dynamik der Anzeigenerstattung in den Jahren von 1933 bis 1944 zeigt ein systematisches Ansteigen des Anzeigeverhaltens. 1935 wird der erste große Zahl mit 16 Anzeigen erreicht, nach einem Absinken im Folgejahr wird die Spitze im Jahr 1941 erreicht, mit jeweils 37 Anzeigen. Im Jahr 1944 gingen lediglich vier Anzeigen bei der Geheimen Staatspolizei ein.329 Dj e Akzeptanz der Geheimen Staatspolizei als Tötungsorganisation erfolgte somit in den ersten Jahren nur zögerlich. Sie stieg an, in dem Jahr als Heinrich Himmler als »Chef der Deutschen Polizei« ernannt wurde und erreichte im dritten Kriegsjahr den höchsten Stand. Die Denunzianten und Denunziantinnen haben in der Regel mit Denunzierten zusammengelebt oder auch gearbeitet. Sie haben zur Konfliktlösung vorsätzlich eine Tötungsorganisation in Anspruch genommen, ohne allerdings den wahren Grund ihres Konflikts zu nennen. Bei der bekannt exzessiven Auslegung des »Staatsgefährlichen« seitens der Geheimen Staatspolizei konnten die Denunzianten sichergehen, daß ihren Informationen fast immer nachgegangen wurde.330 D¡ e intention der Informierenden lag in diesen Fällen nicht in der Konfliktlösung, sondern in der Konfliktbeendigung auch durch Inkaufnahme der geheimpolizeilichen Tötung des Konfliktgegners. Die Schriftstellerin Helga Schubert hat zehn Denunziationsfälle331 dokumentiert. Eine 46-jährige Frau hat den ihr bekannten und früheren Vorgesetzten Dr. Karl Goerdeler am 12. August 1944 bei der Schutzpolizei denunziert und dafür eine Million Reichsmark erhalten. Eine andere Frau und ihre Töchter haben kurz vor Kriegsende zwei auf der Flucht befindliche Gestapo-Angehörigen gebeten, ihren geschiedenen Ehemann »wegzuschaffen«. Die Gestapo-Angehörigen töteten den Ehemann. Der Arzt, Dr. Alois

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G., betreute im Jahr 1943 eine schwangere Patientin, die mit einem Obersturmbannführer der Hitlerjugend verheiratet war. Dr. G. kommentierte die Schwangerschaft seiner Patientin mit den Worten, daß sie "Mut habe", sich "jetzt noch ein Kind zuzulegen." Die Patientin meldete es der Gestapo. Dies hatte eine Verhandlung vor dem Volksgerichtshof in Berlin zur Folge. Freisler verurteilte als Vorsitzender Dr. G. zum Tode, er wurde am 1. November 1943 mit dem Fallbeil hingerichtet. Noch ein letztes Beispiel für das Töten als Folge von Denunziationen: Ein Hufschmied aus Ottersweiler wurde wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt, weil er den Stefan Könninger aus Ottersweiler wegen Äußerungen, die angeblich wehrkraftzersetzenden Charakter hätten, bei der Gestapo denunziert hatte. Die Gestapo leitete ein kriegsgerichtliches Verfahren gegen Könninger ein. Das Zentralgericht des Heeres verurteilte ihn am 12.7.1944 zum Tode, vollstreckt wurde das Urteil am 21. August 1944.332 Einige Denunziationen sind nach 1945 in der DDR und der Bundesrepublik strafrechtlich verfolgt worden. Eine im Januar 1965 veröffentlichte Statistik der DDR mit den Titel »Die Haltung der beiden deutschen Staaten zu den Nazi- und Kriegsverbrechen« dokumentiert als »verurteilte hervorzuhebende Personengruppe«, "2426 Personen, die als Denunzianten oder Spitzel (mit Ausnahme der berufsmäßigen Spitzel der Gestapo und des SD) dem Naziregime dienten. "333 Die faktisch erfahrene Allgegenwärtigkeit der Geheimen Staatspolizei basierte nicht zuletzt auf der Bereitschaft zur Denunziation von Vielen aus der Bevölkerung. Es waren diese Anzeigen, die mehrheitlich den Grund für ein Tätigwerden der Düsseldorfer Geheimen Staatspolizei gaben. Dabei war das Ausmaß der Anzeigebereitschaft tatsächlich so hoch, daß die Gestapo Anzeigen zurückgewiesen hat.334 $ 0 dokumentiert dieses Denunziationsverhalten nicht nur das Ausmaß von gesellschaftlicher Akzeptanz, Nachachtung und Unterstützung, sondern Denunziationen verhalfen den Angehörigen der Geheimen Staatspolizei zu einem höheren Maß an faktischer Legitimität Dies hatte auch Konsequenzen für die Selbstbewertung der Gestapo-Beamten und für die Bewertung ihrer Organisation. Die Bevölkerung verhielt sich gegenüber der Gestapo engagiert und distanzierte sich nicht oder kaum. Diese Akzeptanz und die nicht erbrachte Distanzierung wurde so zur wichtigsten Machtquellen der Geheimen Staatspolizei. Eine Zeitzeugin, deren Vater zu 64 Gestapo-Verhören bestellt wurde und in diesem Zusammenhang mehrfach inhaftiert wurde, antwortet auf meine Frage: Was hat Menschen vom Denunzieren abgehalten? "Trotzdem: Wir haben einfach Glück gehabt, nicht alle »Volksgenossen«, darunter auch überzeugte Nazis, haben denunziert - möglicherweise einfach, um Scherereien aus dem Wege zugehen. Wie lebensgefährlich eine Denunziation war, wußte schließlich jeder. Das hat manche sicher zurückschrecken lassen."335

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4.10 Zwischenergebnis Inwieweit stellt sich die geheimpolizeiliche Praxis als eine qualitativ sich stets verändernde Partizipation und folgend als Monopolisierung von Machtquellen dar? Diese These überprüfe ich nunmehr anhand der vorstehenden Belege im Kontext zu den Machtquellen in der Reihenfolge: »Gebrauch physischer Gewalt«, »Beschaffen der Existenzmittel«, »Gestaltung der affektiven Bindungen« und »Monopolisierung der Informationsquellen«. Gebrauch physischer Gewalt: Die Anwendung physischer und psychischer Gewalt kennzeichnet die Praxis der Gestapo. Die teilweise selbst entwickelten Folter- und Tötungsmittel sowie deren Anwendung, dokumentieren die Bereitschaft der GestapoAngehörigen zum Verletzen und Töten. Diese Befunde weisen auf die spezifische Entwicklung zur rational-technischen Gewaltanwendung hin, die auch charakteristisch für die Zivilisationsgeschichte ist und sich über eine zunehmende Distanzierung der Erfinder von ihren Tötungsmitteln einerseits sowie der Anwender von ihren Opfern andererseits, nachzeichnen läßt.336 Di e Gewaltanwendung der Geheimen Staatspolizei vollzog sich innerhalb eines Gemeinwesens im Regierungsauftrag. So ist die geheimpolizeiliche Gewaltanwendung im Kontext zu einer »sozialtechnischen Erfindung des Menschen« - des staatlichen Monopols physischer Gewaltsamkeit - zu diskutieren. Nach einer These von Elias sind Gesellschaften, in denen sich stabilere Gewaltmonopole ausgebildet haben, auch immer Gesellschaften, in denen Menschen in längerfristigeren Perspektiven denken und leben können. Hier bilden sich längere Handlungsketten zwischen den Menschen. Im besonderen Maße sind Menschen in Gesellschaften mit einem stabileren Gewaltmonopol vor plötzlichen Einbrüchen physischer Gewaltanwendung g e s c h ü t z t e r . 3 3 7 oben habe ich aufgezeigt, daß europaweit Menschen, die den (willkürlichen) geheimpolizeilichen Definitionsprofilen entsprachen, gerade nicht vor schockartigen Einbrüchen physischer Gewalteinwirkung geschützt waren, sondern Adressaten dieser staatlichen Gewaltanwendung waren und damit zu Verfolgten wurden. Die Polizei in der Weimarer Republik war zum Ende der 20er Jahre alltäglich mit Straßenkämpfen, die mit Schußwaffen geführt wurden und in deren Verlauf auch getötet wurde, k o n f r o n t i e r t . 3 3 8 Hier sind Konflikte von bewaffneten Männern in Rahmen von Privatarmeen ausgetragen worden. In der Endphase der Weimarer Republik kann aufgrund der Existenz und Praxis von nichtstaatlichen und kämpfenden Armeen somit nicht vom Vorhandensein eines stabileren staatlichen Gewaltmonopols gesprochen werden. Und der Beginn des »Dritten Reichs«, die Phasen von 1933 bis 1934, von nicht staatlich legitimierter physischer Gewaltanwendung geradezu gekennzeichnet. Verschiedene Organisationseinheiten der NSDAP (z.B. Stahlhelm, SA, SS und die daraus rekrutierte nichtstaatliche - »Hilfspolizei«) verübten öffentlich Gewalttaten gegen Personen und Sachen. Damit geht einher, daß die potentiell zivilisierenden Wirkungen eines stabileren Gewaltmonopols auf den Habitus der (im Einflußbereich des staatlichen Gewaltmonopols lebenden) Menschen nicht zur Wirkung kamen. Besonders in den größeren Städten, in denen die Straßenkämpfe den Alltag dominierten, waren Menschen nicht in der Lage

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langfristig zu planen oder zu handeln. Die Handlungsketten der Menschen war entsprechend kurz. Unter diesem Gesichtspunkt war der Grad der Zivilisierung Deutschlands weit geringer, als daß das Wort »Durchbrechungen« im Zusammenhang mit dem staatlichen Gewaltmonopol339 vermuten läßt. Vor diesem Hintergrund lassen sich folgende Schlußfolgerungen ziehen: Die nur bedingt vorhandene Ausprägung von staatlicher Gewaltmonopolisierung in Deutschland (zu Zeiten der Weimarer Republik) löste sich nach 1933 weiter auf: das wenig »Stabile« zerfiel weiter. Nicht nur, daß die Monopolisten der physischen Gewaltsamkeit ihren eigentlichen »Schutzauftrag« in einen Terrorauftrag - also in exzessive Gewaltanwendung gegen das eigene Volk - verkehrten, sie verbündeten sich auch mit anderen Experten (z.B. Soldaten), die Waffen bedienen konnten und Erfahrungen in Techniken des Verletzens und Tötens hatten. Die von der Geheimen Staatspolizei Verfolgten waren gezwungen, ihre bisher mehr oder weniger berechenbare Lebensplanung aufzugeben und/oder völlig zu verändern. Ihre Lebensplanung ist aufgrund der nunmehr weniger kalkulierbaren physischen Gewaltanwendung durch den Staat - repräsentiert durch die Gestapo sowie den zuarbeitenden Einrichtungen und Denunzianten - perspektivisch kürzer geworden. Insbesondere mußten die Verfolgten Energien aufgewenden und Verhaltensweisen ändern, um den staatspolizeilichen Gewalttaten auszuweichen. Daß dies für die Betroffenen im Zuge der Entwicklung der Geheimen Staatspolizei ein zunehmend aussichtsloser werdendes Unterfangen war, verstärkt noch die Dramatik der Verhaltensänderungen und ist ursächlich für die tieferen seelischen Schädigungen der Überlebenden. Zur geheimpolizeilichen Gewaltpraxis gehörte das Töten. Im Grundsatz mußte jeder und jede aufgrund der Vorladungspraxis und dem damit zusammenhängenden rechtlosen Status der Vorgeladenen sowie der bekanntermaßen fehlenden strafrechtlichen Sanktionierung der Gestapoangehörigen damit rechnen, bei der Frequentierung einer geheimpolizeilichen Dienststelle auch getötet zu werden. Die potentielle und faktische Gewaltanwendung hat folgende Wirkungen gehabt: Die Verunsicherung hinsichtlich der perspektivisch veränderten Lebensplanung war Auslöser für konkrete Angstvorstellungen. Diese Vorstellungen gründeten sich auf die Tatsache, daß weder Anlaß und Zeitpunkt noch Dauer und Ausmaß der Konfrontation mit der Geheimen Staatspolizei bekannt war. Andererseits diente die geheimpolizeiliche Gewaltanwendung nicht nur der Verunsicherung und Angsterzeugung, sondern erfüllte auch den Zweck der »Ausmerzung«, der Vernichtung. Die geheimpolizeiliche Praxis steht somit für die systematische Anwendung physischer Gewalt. Sie monopolisierte diese Machtquelle, indem sie in einem Verbund von anderen Gewaltanwendern wirkte, wobei sie das Definitions- und Anweisungsmonopol zur Gewaltanwendung erreichte. Beschaffen der Existenzmittel: Unter der Machtquelle »Beschaffen der Existenzmittel« sind Mobilisierungschancen verstanden worden, die für die Sicherung und Entwicklung der menschlichen Existenz im Kontext der Gesellschaft objektiv und subjektiv notwendig und erforderlich erscheinen. So schränkte z.B. die Zuarbeit für die Geheime Staatspolizei durch die Wirtschaft, die kaufmännische Tätigkeit von Juden zunächst ein

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(Boykottaufrufe, Kaufvorschriften für Juden). Später wurde den jüdischen Ladenbesitzern, Händlern und Bankiers vollständig die ökonomische Existenz genommen (sog. »Arisierung der Wirtschaft«), Entsprechend konnten die Grundbedürfnisse wie z.B. Wohnung, Kleidung und Nahrung aufgrund des reduzierten oder völlig fehlenden Einkommens nur eingeschränkt oder gar nicht mehr befriedigt werden. Dies betraf aber nicht nur kaufmännisch Selbständige, sondern z.B. auch Beamte, die durch das »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« entlassen wurden sowie auch jüdische Rechtsanwälte und Ärzte, die nur noch Juden als Klienten bzw. Patienten haben durften. Solche Vorschriften für einen bestimmten Kunden-, Patienten- oder Klientenkreis haben nicht nur eine ökonomische Dimension und entsprechend eine Relevanz für die Machtquelle »Existenzsicherung«, sondern sie sind zugleich restriktive Kommunikationsund Kontaktvorschriften. Das vorgeschriebene und auch von der Gestapo überwachte »Tragen von Judensternen« machte optisch die Gruppierung der Stigmatisierten deutlich. Die Ausweise von Juden sind auf Anweisung der Gestapo kooperativ von den ausstellenden (Ordnungs- und Polizei-) Behörden mit dem Namenszusatz »Sarah« - für Frauen - und »Israel« - für Männer - verändert worden. Das bedeutete Entindividualisierung und das Herstellen von Gesichtslosigkeit für die Betroffenen. Zur dieser Sichtbarmachung der »Nicht-Dazugehörenden« kam durch die Veränderung der Namen eine Stigmatisierung im Rechtsverkehr mit dauerhaften und unmittelbaren Konsequenzen hinzu. Werden Menschen gezwungen, unter diesen Bedingungen zu leben, wird nicht nur in die freie Wahl ihrer sozialen Kontakte eingegriffen: Das Vorschreiben bestimmter Kommunikations- und Sozialkontakte im Kontext mit einer relativ erfolgreich durchgesetzten geheimpolizeilichen Kontrolle - unterstützt von von Denunzianten und Denunziantinnen - bedeutet, besonders für betroffene Erwachsene unter dem Aspekt der Ich-bezogenen und Achtungsbedürfnisse, eine stetige und auf Dauer angelegte Verletzung. Die qualitativen und quantitativen Chancen zur Erlangung von Existenzmitteln und zur Befriedigung der damit zusammenhängenden Bedürfnisse reduzierten sich für die als »Staatsfeinde« angesehenen Verfolgten sukzessiv. Beginnend mit Stigmatisierungen auf der Sprachebene reduzierten sich die Beschaffungs- und Befriedigungsmöglichkeiten dieser Menschen proportional zum Entwicklungs- und Entfaltungsprozeß der Geheimen Staatspolizei. Zunächst wurden Begrenzungen der Erwerbsquellen von Existenzmitteln durchgesetzt. Später wurden diese nicht nur quantitativ reduziert, sondern auch qualitativ. Die Chancen zur selbstbestimmten Kommunikations- und Kontaktaufnahme reduzierten sich ebenfalls. Im Zuge der Gestapoentwicklung und auch aufgrund der Zuarbeit durch das Auswärtige Amt, gelang es der Geheimen Staatspolizei nicht nur im deutschen Reichsgebiet, die Kommunikationskontakte zu überwachen und zu beeinflussen, sondern in fast ganz Europa. Für diejenigen, die ins Exil gezwungen wurden, bedeutete der Auslandsaufenthalt nicht die Abwesenheit von der Verfolgung durch die deutsche Geheime Staatspolizei und ihren Denunzianten und Denunziantinnen: Die europäischen Zentren der Emigranten und Emigrantinnen waren zugleich Zentren der Geheimen Staatspolizei. Gestaltung der affektiven Bindungen: Die Geheime Staatspolizei hat auch intensiv die

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Ausrichtung und das Erleben der affektiven Bindungen dominiert und sie vor dem Hintergrund ihre Ziele verändern können. Von der Geheimen Staatspolizei sind in Deutschland (später in Europa) umfassendere Informations-, Kommunikations- und Kontaktvorschriften nicht nur initiiert und »erlassen« worden, sondern konnten aufgrund der umfassenderen Bespitzelung, Überwachung und Unterstützung aus der Bevölkerung - aus der Sicht der Gestapo - sogar relativ erfolgreich durchgesetzt werden. Selbstgewählte und von positiven Emotionen getragene Kontakte reduzierten sich für die Verfolgten quantitativ und qualitativ. Die jeweilige »Verankerung« der Menschen - in der Regel ist dies der engere Beziehungskreis - wurde durch die Konfrontation mit geheimpolizeilichen Verfahren schwächer und löste sich auf. Dieser Verlust von Selbstbewertung über frei gewählte und/oder emotional fundierte Sozialkontakte wurde ganz traumatisch von Eltern in der Beziehung zu ihren Kindern (z.B. Trennung bei der Ankunft im Konzentrationslager) und natürlich auch umgekehrt empfunden. Trotz Diskriminierungen und Stigmatisierungen hatten sich Juden in Deutschland vor 1933, z.B. im Gewerbebereich, im Finanzgewerbe und teilweise in intellektuellen Professionen (Medizin, Physik etc.), etablieren können. Viele Juden fühlten sich in der Tat zweifellos und völlig selbstverständlich als Deutsche.340 £>ie Gefühlsvalenzen der späteren geheimpolizeilich Verfolgten waren auch an Symbole geknüpft. In diesem Fall an Deutschland. Die Intensität von Bindungen an Symbole ist kaum geringer als an Personen, d.h. sie können auch mit ähnlich traumatischen psychischen Konsequenzen erschüttert und zerstört werden. Die deutsche Geheime Staatspolizei beeinträchtigte, veränderte und verhinderte somit auch die Bindung an das affektivbesetzte Symbol »Deutschland«. So veränderte (verkürzte) die Gestapo nicht nur die Interdependenzketten im Bereich der face-to-face-Beziehungen. Zu erleben wie sich der eigene Staat - repräsentiert durch die Angehörigen der Geheimen Staatspolizei - gegen die eigene Person wendet, hatte die Rücknahme von Identifikationsintensitäten zu diesem Staat zur Konsequenz. Für die Verfolgten verliert dann das Symbol an "Wert und Würde" und mangels (freiwilliger) alternativer Identifikationsmöglichkeiten kommt es zu Erschütterungen. Dies haben auch diejenigen erfahren, die bereits emigriert waren und im Ausland aufgrund ihrer deutschen Herkunft als »enemy alien« interniert wurden.341 Monopolisierung der Informationsquellen: Abschließend sollen noch die geheimpolizeilichen Partizipations- und Monopolisierungsvorgänge unter dem Aspekt der »Monopolisierung der Informationsquellen« bewertet werden. Die Relevanz dieser Machtquelle ergibt sich aus ihrer Bedeutung für die menschliche Orientierung. Informationen (Wissen) haben einen nicht unwesentlichen Anteil für das Entstehen von Realitätsvorstellungen und für qualifizierte Entscheidungs- sowie Beurteilungsprozesse. Die Verfahren der Geheimen Staatspolizei schränkten auf zwei Ebenen, die (freie) »Handhabung von Wissen« ein: Nach 1933 ist sowohl die Mitwirkung wie auch der Zugang zu Bibliotheken und Medien eingeschränkt worden. Wissensquellen sind geächtet oder vernichtet worden (öffentliche Bücherverbrennungen, Zensur) und der Besitz bestimmter Literatur ist unter Strafe gestellt worden. Die Geheime Staatspolizei hat auch hier das jeweils Erlaubte und Verbotene definiert, die Einhaltung des Vorgeschriebenen aufgrund vieler Informationen

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aus der Bevölkerung mehr oder weniger »erfolgreich« kontrolliert. Sie hat Ermittlungen eingeleitet, durchgeführt und auch physische Gewalt angewendet. Neben der restriktiven Veränderung des Zugangs, der Nutzung und des Spektrums der öffentlichen Wissensquellen hat die Geheime Staatspolizei andere (staatliche und private) Informationsquellen für sich - zuletzt monopolistisch - nutzen können. Auf der ministeriellen Ebene tauschten die Angehörigen der Geheimen Staatspolizei institutionalisiert Informationen aus, erwarben neue Daten und sicherten sich neue Datenzugänge, z.B. in turnusmäßigen Besprechungen mit dem Außen-, Propaganda- und Kultusministerium. Informationsbetreffende Direktiven der Geheimen Staatspolizei sind in den benachbarten Ministerien im geheimpolizeilichen Sinne realisiert worden. Um informelle Informationen zu gewinnen, hat die Geheime Staatspolizei zunehmend den Parteinachrichtendienst (SD) in Anspruch genommen. Diese Zusammenarbeit war ab 1936 - mit der Ernennung des Reichsführers SS zum Chef der Polizei - legalisiert und wurde mit der Gründung des RSHA in Berlin 1939 auch institutionalisiert. Zusammen mit diesem Nachrichtendienst verfügte die Geheime Staatspolizei über ein internes Kommunikationsnetz. Darüber hinaus wurden die Angehörigen der Geheimen Staatspolizei von einer bis zum heutigen Tage unbekannten Zahl von - teilweise bezahlten, teilweise aus anderen Gründen verpflichteten - Spitzeln über die Alltagsbewältigung der Menschen und über tatsächlich oder vermeintliches abweichendem Verhalten informiert. Die Gestapo hatte aber auch Zugang und Zugriff auf die Daten von verschiedenen Reichsbehörden und -einrichtungen wie Post, Krankenkassen, Arbeitsämter etc.. Die von den nationalsozialistischen Blockwarten gewonnenen Informationen gingen ebenfalls in das Verarbeitungssystem der Geheimen Staatspolizei ein. Und durch die relativ hohe Anzeigebereitschaft gelangten insbesondere »private« Kommunikationsinhalte an die Geheime Staatspolizei. Im Rahmen der Europäisierung und der Darstellung des Personals der Geheimen Staatspolizei ist auch auf die europaweite Ausdehnung dieses Informationsnetzes hingewiesen worden und die zentrale Informationssammel- und -auswertungsstelle ist in ihren Techniken beschrieben worden. Damit partizipierte die Geheime Staatspolizei zunächst an bestehenden Informationsquellen, sie beeinflußte systematisch Daten- und Informationswege, manipulierte Informationen und schuf dann ein eigenes und nicht kontrollierbares Informations- und Kommunikationsnetz. Sie war stets in der Lage, von staatlichen und Parteidienststellen Informationen abzurufen. Die Geheime Staatspolizei hatte darüber hinaus auch das Auswertungsmonopol der Daten und verfügte über Art und Umfang der Informationsaufbewahrung und -weitergäbe.

Anmerkungen 1 2 3

vgl. hierzu: Gleichmann, in: Heckmann und Winter 1983, S. 547 - 554 Elias 1986, S. 96 vgl. ders., S. 98

Anmerkungen

4

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vgl. Weber 1972, S. 28; Weber definiert Macht als, "jede Chance, in einer sozialen Beziehung den eigenen Willen durchzusetzen, gleichviel worauf dieses Chance beruht." 5 vgl. Elias, in: Schäfer 1986, S. 237; explizit nennt Elias die Monopolisierungsbestrebungen bezogen auf Produktionsmittel, Orientierungsmittel, Organisationsmittel und Mittel der physischen Gewalt 6 vgl. auch Gleichmann, in: Heckmann und Winter 1983, S. 547 - 554; hier S. 547/548 7 vgl. Elias 1990a, S. 16 8 vgl. Danker 1988, S. 404/405; vgl. auch Raeff, in: Hinrichs 1986, S. 310 - 343 9 vgl. Elias 1980 (2. Bd.), S. 142 Ό die Ausscheidungskämpfe hat Elias am Beispiel Frankreichs ausführlich in den Phasen der "frühen Konkurrenzkämpfe im Rahmen des Königreichs", vgl. ders., S. 160 - 179, der Phase der "Stärkung der zentrifugalen Kräfte", ders., S. 180 - 204 und letztlich mit der Phase der "letzten, freien Konkurrenzkräfte und die endgültige Monopolstellung des Siegers" beschrieben; vgl. ders., S. 204 - 221 11 ders., S. 321 12 ders., S. 352 13 Elias 1986, S. 151 14 ders., S. 151/152 entwickeltere Gesellschaften mit einer Rechtsverfassung schreiben diesen Spezialisten der physischen staatlichen Gewaltsamkeit genau vor, wann sie körperliche Gewalt anwenden dürfen und wann sie töten dürfen; Rechtsstaaten zeichnen sich durch eine erfolgreiche Sanktionierung des Mißbrauchs dieser Rechte aus. Es sei darauf hingewiesen, dafi selbst in pazifizierteren Gesellschaften die Erwartung eines »friedlichen Todes im Bett« eine trügerische sein kann (vgl. Elias 1990 (a), S. 78 - 80), denn die "Zivilisierung der Monopolisten" ist ein "ungelöstes Problem" (vgl. ders., Ffm. 1990 c, S. 126) das staatliche Monopol der physischen Gewaltsamkeit wird im Alltag durchbrochen: Beispielhaft ist auf die Durchbrechungen mittels der Duellkämpfe schon eingegangen worden. Siehe auch die Anmerkungen von Elias zur "Zersetzung des staatlichen Gewaltmonopols in der Weimarer Republik", aus: Elias 1989, S. 282 - 299. Nach einem Bericht eines Zeitzeugen, der zu Beginn der 30er Jahre in Berlin als Polizeibeamter eingesetzt war, gehörten polizeiliche Einsätze aus Anlaß von "Schießereien zwischen Anhängern der KPD und der NSDAP" zum Polizeialltag (Interview mit dem Inspekteur der Niedersächsischen Schutzpolizei a.D. Werner Hilpert, am 11.9.1990 in Hannover); vgl. hierzu auch die Untersuchung zur preußischen Schutzpolizei von Leßmann 1989 17 vgl. Maslow 1977, S. 74 - 105 18 zur Kritik an dieser Konzeption vgl. u.a. Sprenger 1992, S. 43 ff. 19 vgl. Elias 1986, S. 151 20 vgl. Siberski 1967 21 vgl. Elias 1986, S. 150 22 ders., S. 147 23 ebd. 24 vgl. ders., S. 151/152 25 Elias 1990a, S. 57 26 vgl. Elias 1990, S. 11 27 vgl. Elias 1990b, S. 128/129 28 vgl. Elias 1986, S. 70/71 29 vgl. Best, in: Frank 1937, S. 417 - 430, hier: S. 421 vgl. die Darstellung des Handlungsprogramms der Geheimen Staatspolizei am Beispiel der Düsseldorfer Gestapo, bei Mann 1987, S. 156 - 176; die Zusammenarbeit mit dem SD wurde 1939 durch die Gründung des RSHA institutionalisiert 3 * vgl. ders., S. 163; da- Blockwart ist nach 1936 in "Blockleiter" umbenannt worden und war Hann in gleicher Funktion zuständig für 40 - 60 Haushalte 32 ebd., der Inhalt ist einem "Rundschreiben (Nr. 32) Der Obersten Leitung der Politischen Organi-

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Anmerkungen

sation vom 19. Juli 1933, gez. Ley", 113 Seiten (im Bundesarchiv Sammlung Schumacher/375, S. 56-85) entnommen. 33 vgl. Mann 1987, S. 163 34 Diese Fragen lauteten u.a.: " 1. Wieviel und welche politischen Gegner wohnen in ihrer Nachbarschaft? 2. Wieviel Juden und Freimaurer wohnen in Ihrem Hause, oder in der Nachbarschaft, und wie heißen diese? 3. Wie sind die Geschäftsleute Ihrer Umgebung uns gegenüber eingestellt? 4. Welche Volksgenossen können wir zu unseren Zellenversammlungen einladen?"; vgl. ders., S. 164 ein Beispiel aus dem Jahr 1939: "Rheinland-Westfalen: Nach und nach werden immer mehr Einzelheiten über die Judenpogrome und die Nazi-Räubereien bekannt. In Aachen wurde die SA und die SS am 9. November nach Hause geschickt mit dem ausdrücklichen Befehl, sich am langen Turm in Zivil einzufínden. Und wenn sie "wie die Räuber aussähen", aber jeder habe zu erscheinen. Diese Kolonne hat sich dann ans Werk begeben. Voran ging die Gestapo, die die Listen sorgföltig vorbereitet hatte. Jedes Geschäft war vorgemerkt. Hinter der Gestapo kamen die Stoßtrupps und dahinter "sorgte die Polizei für Ordnung." aus: Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei (Sopade) 1980, S. 1334 Aufstellung ist übernommen von Diamant 1988, S. 22 37 die Karteikarten haben die Größe von 6 χ 9 cm und waren farblich unterschiedlich gestaltet: Rosafarbene Karteikarten enthielten die Personalien der V-Leute, eine (Personal-) Nr. und Bemerkungen zur politischen Einstellung des V-Mannes. Blaue Karteikarten wiesen nur die Personal-Nr. und Angaben über Eingangsdaten von abgegebenen Berichten auf. Braune Karteikarten enthielten die Namen und nannten die Quelle von Personen, die in Berichten von V-Leuten genannt wurden; vgl. ders. 1988, S. 21/22 38 vgl. Weyrauch, in: Columbia Journal of Transnational Law, 24, 1986, p. 553 - 596 39 ders., S. 570 40 ders., S. 586 41 vgl. Mann 1987, S. 162 42 vgl. Schattenfroh und Tuchel 1987, S. 125 43 ebd.; beispielhaft sei die Gestapo-Akte von Dr. Salomon Herzfeld erwähnt, die in Kopie im Leo-Baeck-Institute, N.Y., unter der Archivbezeichnung »HERZFELD, SALOMON, FAMILIE - 28597 K« einsehbar ist. Diese Akte dokumentiert u.a. den Umfang der Postkontrolle durch die Geheime Staatspolizei Essen, die darauf beruhenden Berufsbeschränkungen, die Zuarbeit des Finanzamtes Essen bei der Ausstellung eines Passes für Dr. Herzfeld, verschiedene Berichte, die von Gestapo-Angehörigen über öffentliche Reden des Dr. Herzfeld angefertigt wurden und schließlich zu einem »Redeverbot« für Dr. Herzfeld führten (Blatt 29 und 29a der Akte). 44 Heydrichs Erlaß vom 5. Februar 1936 hatte u.a. folgenden Wortlaut: "Die Aufgabe der Politischen Polizei besteht in dem Schutz des Staates. Diese Aufgabe bedingt, daß die Politische Polizei nicht nur über das Wirken der Staatsfeinde, sondern auch über ihren Aufenthalt genaustem unterrichtet ist, daß jederzeit die Möglichkeit besteht, im Falle außergewöhnlicher Ereignisse (Kriegsfall) alle Staatsfeinde oder gegebenenfalls auch die Staatsfeinde bestimmter Richtungen im gesamten Reichsgebiet schlagartig in Schutzhaft nehmen zu können. Ich ordne daher an: 1) Die Staatspolizeistellen und die Politischen Polizeien der Länder erfassen karteimäßig (= A-Kartei) umgehendst alle Staatsfeinde, die - um nur ein Beispiel anzuführen - im Kriegsfälle unbedingt in Schutzhaft genommen werden müssen. 2) Staatsfeinde im Sinn dieser Anordnung sind alle jene Personen, von denen ohne weiteres zu vermuten steht, daß sie sich gemäß ihrer früheren politischen Einstellung und Tätigkeit oder auf Grund ihrer jetzigen Einstellung als Hetzer oder Aufwiegler, als Saboteure oder Nachrichtenagenten oder in ähnlicher, die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdende Weise betätigen.", zit. nach Schattenfroh und Tuchel 1988 u.H.a. Nordrhein-Westfälisches Hauptstaatsarchiv, Düsseldorf, RW 35/7 fol. 4 ff. Heydrich schrieb an alle Staatspolizeistellen, daß im Verhältnis zur Einwohnerzahl Preußens (nur) 0,04788% der Bevölkerung erfaßt wurden und in den anderen Ländern die Quote 0,10435% betragen würde. Dieses hätte eine gleichzeitige Verhaftung von ca. 46.000 Personen (19.000 in Preußen und 27.000 in den anderen Ländern) zur Folge gehabt; vgl. dies., S. 127/128 u.H.a. Bundesarchiv R 58/264, fol. 275 ff; mit Stand vom 17. Mai 1939 betrug die Einwohnerzahl im Land Preußen 41.655.252 Personen, vgl. Statistik des Deutschen Reichs 1943, S. 8 46 4

vgl. Schattenfroh und Tuchel 1988, S. 128/129 7 vgl. dies., S. 129 u.H.a. Nordrhein-Westfálisches Hauptstaatsarchiv, Düsseldorf, RW 35/7, n. fol.

Anmerkungen

vgl. dies., S. 126; Ein Großteil der Berliner Akten ist bei einem Bombenangriff am 3.2.1945 vernichtet worden, darüber hinaus haben Gestapo-Beamte auch Akten in dieser Zeit selbst vernichtet; Die Akten der Frankfurter Geheimen Staatspolizei sind bei Kriegsende vollständig verbrannt worden, die Anzahl der in Frankfurt am Main angelegten Akten schätzt Diamant auf ca. 20.000; im Staatsarchiv in Würzburg lagern 18.000 Aktrai der Geheimen Staatspolizei Würzburg; vgl. Diamant 1988, S. 21; vgl. auch Nachweis der im Bundesgebiet erfaßten Personalunterlagen von Polizei- und SS-Formationen, in: Der Archivar, Vol. 6 1953, S. 139 - 150 49 vgl. Kulka, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 32. Jahrgang, Stuttgart 1984, S. 582 - 624, hier: S. 590; siehe auch Boberach 1984 50 vgl. Kulka, aaO, S. 594 51 vgl. ders., S. 595 52 vgl. ders., S. 591/592; Kulka bemerkt zum Aspekt der wissenschaftlichen Verwertbarkeit dieser Berichte: "Ein besonderer Vorteil dieses Quellenmaterials liegt darin, daß man mit sein«' Hilfe durchgehende Entwicklungslinien überprüfen kann. Es ermöglicht eine Darstellung der chronologischen Entfaltung, indem es eine Fülle nuancenreicher Details bietet, die die Schwankungen in der Haltung der Bevölkerung belegen, wie Phasen der Unterstützung des Regimes und der kritischen Distanz zu ihm, der abnehmenden und der zunehmenden Feindseligkeit den Juden gegenüber; auch das Verhältnis der Bevölkerung zur jeweiligen Judenpolitik und zu den Maßnahmen des Regimes gegen die Juden können wir überprüfen, ebenso die die Ablehnung bzw. Zustimmung oder Gleichgültigkeit, mit der die verschiedenen Teile der Bevölkerung den antijüdischen "Einzelaktionen" auf der Ortsebene gegenüberstanden."; ders., S. 599 53 zum Aspekt der ausschließlichen Berichterstattung an das Gestapa in Berlin und die formulierten Widerstände der Regierungs- bzw. Oberpräsidien der Länder vgl. Graf 1983, S. 146 54 Klee 1990, S. 13 55 Lifton and Markusen 1988, p. 99 56 Goguel 1984; zit. nach: Beiträge zur Nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik 1989, S. 16 vgl. hierzu die Veröffentlichung der damaligen Prozeßbeobachter, Mitscherlich und Mielke 1962; vgl. ebenso: Lifton 1988; Lifton unternimmt den Versuch, die Psyche dieser Arzte zu analysieren und ihre Tötungsbereitschaften zu erklären. Als dokumentarischen Uberblick über die Medizin auch im Nationalsozialismus, vgl. Ärztekammer Berlin 1989; Medizinische Experimente werden bei Hilberg 1990, Bd. 2, S. 1001 -1013 beschrieben; grundsätzliches zum Verhalten der "Medical Profession" findet sich bei Brieger, in: Friedländer and Milton 1980, S. 141 - 150. Der Alltag einer deutschen medizinischen Fakultät wird am Beispiel der Universität Hamburg beschrieben, bei: Busche et al, in: Krause et al 1991, S. 1257 - 1384; die Folgen fur die Opfer und den aktuellen Stand der "Entschädigung" stellt Ernst Klee in einem Essay dar, vgl. DIE ΖΕΓΤ Nr. 38, 14. September 1990, S. 91 Fischer, geb. 1874, studierte Medizin, Volkskunde, Ur- und Frühgeschichte und Naturwissenschaften in München, Berlin und Freiburg; er promovierte (1898) und habilitierte sich (1900) in Anatomie und Anthropologie. Diese Schriften waren Grundlage fur sein Hauptwerk "Die Rehoboter Bastards und das Bastardisierungsproblem beim Maischen". Fischer war Direktor im KWI von 1927 - 1942. Er beschäftigte sich mit "Bastardstudien" bis in die letzten Tage des Bestehens des KWI im Jahr 1945: Fischer gilt in der Bundesrepublik als "Nestor der Humangenetik"; vgl. Bergmann et al, in: Ärztekammer Berlin (Hg.) 1989, S. 121 -142; hier: S. 127 59 ders., S. 98 60 ebd. 61 vgl. dies., S.132 und die Studie von Oguntoye 1991 62 ebd., im Originalzitat finden sich verschiedene - hier nicht berücksichtigte - Quellenhinweise; Himmler erteilte in diesem Fall sein Einverständnis: Er genehmigte, "daß 8 zum Tode verurteilte Verbrecher in Auschwitz (8 zum Tode verurteilte Juden der polnischen Widerstandsbewegung) fur die Versuche verwendet werden", ebd. Prof. Dr. Grawitz war bis Mitte der 30er Jahre, Chefarzt der Inneren Klinik am Krankraihaus Westend in Berlin; später höchster Ärztefunktionär der SS und Präsident des Deutschen Roten Kreuzes; 1945 beging er Suizid. Angaben nach Leyendecker und Klapp, in: Ärztekammer Berlin (Hg.) 1989, S. 261 - 293; hier: S. 270

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Anmerkungen

dies., S. 268 65 zur Kurzbiographie siehe Ärztekammer Berlin (Hg.) 1989, S. 308 66 vgl. Abdruck der "Uberstellungslieferung", ebd. S. 309 67 Ritter leitete nach 1945 mehrjährig das Gesundheitsdezemat der Stadt Frankfurt am Main; die historische Erforschung ist hier noch nicht abgeschlossen. Die Stadt Frankfurt finanziert derzeit ein Projekt zur Erforschung der Geschichte der "NS-Sozial- und Gesundheitspolitik in Frankfurt am Main" 68 vgl. Ärztekammer Berlin (Hg.) 1989, S. 194/195 6 9 die Angaben dieses Absatzes beziehen sich auf einen bislang nicht veröffentlichen Vortrag von Dieter Schiefelbein am 8.2.91 in Frankfurt am Main. Schiefelbein arbeitete zu der Zeit im Auftrag des Holocaust-Memorial in Washington in Frankfurt a.M. 70 zur Kurzbiographie siehe: Beiträge zur Nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik, aaO, S. 18/19; in der DDR erhielt Hermann Voß den Ehrentitel "Hervorragender Wissenschaftler des Volkes"; er ist zusammen mit Robert Herlinger Verfasser eines Standardwerkes zur Anatomie, welches jeweils zeitgleich in der DDR und der Bundesrepublik verlegt wird, vgl. Ärztekammer Berlin (Hg.) 1989, S. 312 71 Beiträge zur Nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik, aaO, S. 62 72 Beiträge zur Nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik, aaO, S. 63 73 so faßte Alexander Mitscherlich seinen Eindruck nach der Beobachtung des Ärzteprozesses 1947 zusammen; vgl. Aly und Pross, in: Ärztekammer Berlin (Hg.) 1989, S.12 - 15; hier: S. 12 74 vgl. hierzu die Posener Tagebuchaufzeichnungen des Prof. Dr. Voss, als Teilabdruck in: Beiträge zur Nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik, aaO, S. 21 - 60 Robert Herlinger veröffentlichte nach 1947 verschiedene Fachaufsätze mit dem Hinweis, daß er bestimmte Versuche an "acht männlichen Leichen" vornehmen konnte, verbunden mit der Anmerkung, daß ihm die Leichen nach "40 - 80 Sekunden nach dem Tode zur Blutentnahme und Laparotomie zur Verfügung" standen; vgl. Beiträge zur Nationalsozialistischen Gesundheitsund Sozialpolitik, aaO, S. 63 76 Lifton and Markusen 1988, p. 100 77 die Reichswehr wurde 1935 in »Wehrmacht« umbenannt, vgl. Kershaw 1989, S. 107 7® die Führer der Einsatzgruppen finden sich in tabellarischer Ubersicht bei Krausnick 1989, S. 360 - 364; eine Ubersicht über die Offiziere der Einsatzgruppen und Kommandos findet sich bei Hilberg 1990, Bd. 2, S. 301 79 vgl. Krausnick 1989, S. 15 ders., S. 27/28; am Beispiel der "Einsatzgruppe A", hat Hilberg die Personalzusammensetzung einer Einsatzgruppe dargestellt: 340 Männer Waffen-SS, 172 Kraftfahrer, 18 Verwaltungsbeamte, 35 Angehörige des SD, 41 Beamte der Kriminalpolizei, 89 Beamte der Gestapo, 87 Männer der Hilfspolizei, 133 Ordnungspolizeiangehörige, 13 weibliche Beschäftigte, 51 Dolmetscher, 3 Femschreibkräfte und 8 Funker; vgl. Hilberg 1990, Bd. 2, S. 303 81 vgl. Wilhelm 1981, S. 281 82 Krausnick 1989, S. 17 Schreiben: "Der Chef der Sicherheitspolizei und des SD" vom 2. Juli 1940, Aktenzeichen: 53355/40. Als Fotokopie unter: Staatliche Pressestelle Hamburg (Hg.), Institution des Verbrechens - Das Zusammenwirken von Sicherheitspolizei und Sicherheitsdienst im NS-Staat, archiviert im YIVO - Institute for Jewish Research, New York City 84 Hilberg 1990, 2. Bd., S. 287 85 vgl. ders., S. 312 86 ders., S. 307 8 7 vgl. ders., S. 313 und 314, hier sind Landkarten über die Positionen der mobilen Tötungseinheiten dokumentiert 88 ebd. u.H.a. ein Dokument der 11. Armee Ic/AO (Abwehr III), gezeichnet Stabschef Wöhler, an Einsatzgruppe D, 8. August 1941 89 Hilberg 1990, 2. Bd., S. 313/315

Anmerkungen

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vgl. ders., S. 315 1 ders., S. 318 u.H.a. auf einen Bericht eines Major Teichmann v . l . Jan. 42 und ein Affidavit vom Leiter des Sonderkommandos 1 lb, Werner Braune, vom 8. Juli 1942; es sei angemerkt, daß diese Tötungsaktionen mit keinem Wort im Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht Erwähnung finden, vgl. Schramm, Bd. 3, 1982, S. 184 - 192 (Lageberichte des OKH vom 2. und 3. Januar 1942) und S. 484 - 489 (Lageberichte des OKH vom 8. und 9. Juli 1942) 92 vgl. Hilberg 1990, S. 318 der »Kriegseinsatz« in den östlichen Gebieten ist als »Kreuzzug« (vgl. Mayer 1989) bzw. als Vernichtungskrieg geplant und durchgeführt worden. Aufgrund dieser Kriegsführung haben deutsche Offiziere einen rapiden Ansehens- und Machtverlust erlitten; vgl. Gleichmann, in: Seifert 1992, S. 98 94 vgl. Hüttenberger 1976, S. 417 - 442 9 5 das System der Wirtschaft wird auch als "Beziehungswirtschaft" bezeichnet, vgl. Bracher 1969, S. 362 96 vgl. Kershaw 1989, S. 107; im Jahr 1936 wurde auf dem NSDAP-Parteitag im September ein "Vieijahresplan" beschlossen, da' u.a. eine zunehmende Aufrüstung (Waffenproduktion) vorsah, vgl. ders. S. 110; diese Entwicklung war auch mit einem Personalwechsel verbunden: Reichsbankpräsident Schacht war bis 1936 die dominierende Wirtschaftspersönlichkeit. 1936 wurde Goring Beauftragte' für den Vieijahresplan. 97 vgl. Kershaw 1989, S. 111 und Broszat 1976, S. 370 - 380 98 zu dieser "Affare" vgl. Broszat 1976, S. 363 - 370 99 Kershaw 1989, S. 119 Der Keppler-Kreis bildete sich in den Jahren 1931/1932. Wilhelm Keppler, Inhaber einer fotomechanischen Fabrik in Ebersbach (Bayern) galt als ein wirtschaftlicher Berater Hitlers (ab 1931); er ermöglichte die Verbindung zwischen Hitler und dem IG-Farben-Konzem; vgl. Broszat 1976, S. 78 und Vogelsang 1972; im folgenden beziehe ich mich auf diese Studie O l vgl. die tabellarische Ubersicht der Mitglieder des Freundeskreises Keppler/Himmler (mit Dauer ihrer Zugehörigkeit) für die Jahre 1932 bis 1945 (ders., S. 157) und die Kurzbiographien der Mitglieder (ders., S. 160 - 168) 1°2 ders., S. 133/134 103 vgl. Barkai, in: Geschichte und Gesellschaft 15 (1989), S. 227 - 247, hier: S. 236 104 vgl. Vogelsang 1972, S. 137 105 ders., S. 134/135 vgl. die "Ubersicht über das Spendenaufkommen des Freundeskreises", S. 158 107 vgl. ders., S. 137 108 vgl. OMGUS 1986, S. 171 109 ebd. 110 Barkai, aaO,S. 231 111 vgl. ders., S. 231/232 112 ders., S. 228 1 ' 3 Barkai, Α., Vom Boykott zur "Entjudung" - Der wirtschaftliche Existenzkampf der Juden im Dritten Reich 1933 - 1945, Ffin. 1988, S. 117 114 Baikai weist daraufhin, daß sich in den erhalten gebliebenen Gestapoakten in Düsseldorf "eine Fülle von Material zu diesem Thema" befindet und aus Gründen des Datenschutzes eine Veröffentlichung derzeit erschwert ist; vgl. Barkai, aaO, S. 237; ich folge im weiteren dieser Darstellung 115 vgl. OMGUS 1986, S. VII 116 vgl. Barkai, aaO, S. 94 ff. 117 vgl. ders., S. 97 und 328 11 8 ders., S. 232 119 vgl. den Abdruck einer solchen Verfügung des Geheimrai Staatspolizeiamtes vom 3. Oktober 1941 bei, Barkai 1988, S. 197; das Deutsche Reich war jeweils Nutznießer dea- eingezogenen Vermögen 9

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Anmerkungen

ders., S. 166 vgl. Barkai, aaO, S. 232 122 die Zahlen beruhen auf einer Volkszählung im Mai 1939; vgl. Barkai 1988, S.168/ 169; vgl. auch Herbert 1991 123 Vgi Barkai 1988, S. 173; zu dai »Methoden und dem Ausmaß der Plünderungen des Privaten und Öffentlichen Eigentums in den besetzten Ländern« siehe auch die veröffentlichte Dokumentation im Zweiten Teil des 2. Bandes: Steiniger 1957, S. 304 ff 24 1