Die Freiheit der Gläubigen: Umstrittene Tendenzen der Frömmigkeit in den Anfängen von Chassidismus und Pietismus 9783847098201, 9783899719321, 9783862349326

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Die Freiheit der Gläubigen: Umstrittene Tendenzen der Frömmigkeit in den Anfängen von Chassidismus und Pietismus
 9783847098201, 9783899719321, 9783862349326

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Kirche – Konfession – Religion

Band 58

Herausgegeben vom Konfessionskundlichen Institut des Evangelischen Bundes unter Mitarbeit der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen von Walter Fleischmann-Bisten und Reinhard Hempelmann in Verbindung mit Hans-Martin Barth, Andreas Feldtkeller und Gury Schneider-Ludorff

Patrick Wulfleff

Die Freiheit der Gläubigen Umstrittene Tendenzen der Frömmigkeit in den Anfängen von Chassidismus und Pietismus

V&R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-89971-932-1 ISBN 978-3-86234-932-6 (E-Book) Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Sprecherrats des Exzellenznetzwerks Aufklärung – Religion – Wissen der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Ó 2012, V&R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Druck und Bindung: CPI Buch Bücher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitel I: Hinführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ziel der Untersuchung: ›Frömmigkeit‹ . . . . . . . . . Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anmerkungen zur Schreibweise von Orten, Namen etc.

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Kapitel II: … mich treiben die Gräuel um, die in Israel getan werden … Zentrale chassidische Frömmigkeitsmerkmale aus der Sicht ihrer Gegner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Gegner der Chassidim: Mitnaggedim und Maskilim . . . . . . . 2. Die Quellen: ›Plattform‹, Stil und Geschichte der gegnerischen Schriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Merkmale chassidischer Frömmigkeit in den gegnerischen Schriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Konventikeltum oder : Die Angst der Etablierten vor der Separation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Die neue Gemeindeordnung und die Zersetzung der Gesellschaft: Zaddikismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Wider Talmud-Tora und die Gesetze: Abkehr von traditionellen Wissensformen und Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Simcha: Die Freude der Chassidim . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Kawwanna: Gottesdienst immer und überall, nicht aber zu festgelegten Zeiten; außerdem: das Pfeifenrauchen der Chassidim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6 Das absonderliche Gebetsgebaren der Chassidim . . . . . . . . 4. Zusammenfassende Hinweise und Ausblick . . . . . . . . . . . . . .

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6 Kapitel III: Weg von der Polemik: Innenansichten . . . . . . . . . . 1. Anleitung und Erbauung: Die chassidischen frömmigkeitstheologischen Schriften . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Frömmigkeitstheologische Quellen des frühen Chassidismus und ihre Anliegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Adressaten der frömmigkeitstheologischen Quellen . . . . . 2. Die Frömmigkeitsmerkmale in den frömmigkeitstheologischen Quellen des frühen Chassidismus . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Konventikeltum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Die chassidischen Oberhäupter – Männer mit Ru’ach haKodesch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Abkehr von traditionellen Wissensformen . . . . . . . . . . 2.3.1 Das chassidische Oberhaupt – ein am ha’aretz? . . . . 2.3.2 Der traditionelle jüdische Bildungskanon in den frühen frömmigkeitstheologischen Quellen des Chassidismus . 2.4 Gewiss war’s nicht umsonst! Freude und Gleichmut . . . . . 2.5 Kawwanna . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6 Das absonderliche Gebetsgebaren der Chassidim . . . . . . Zwischenresümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kapitel IV: ›Ausführliche Beschreibung des Unfugs der Pietisten‹. Pietistische Frömmigkeitsmerkmale aus gegnerischer Sicht . . . . . . . 1. Die Quellen: Stil und Geschichte der Zeugnisse des Streites um die rechte Frömmigkeit des ausgehenden 17. Jahrhunderts . . . . . . . 2. Die Gegner der ›Pietisterey‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der ›Unfug der Pietisterey‹: Spezifika pietistischer Frömmigkeit aus orthodoxer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Sectirer, Conventualn und Unruhestiffter – Ansichten einer neuen kirchenkritischen Gemeinschaftsform . . . . . . . . . . . 3.2 Aufrührer gegen die Autoritäten der Kirche . . . . . . . . . . . 3.2.1 … Hans omnis wol wolte Lehrer werden … ›Laien‹ im Pietismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Geringschätzung der Sakramente und anderer Zeichen der sichtbaren Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Antiintellektualismus und Heiligung . . . . . . . . . . . . 3.2.4 Hertzensgebet und singen mit dem Hertzen: die Rolle von Gebet- und Gesangbüchern bei den frühen Pietisten . . . . 3.3 Entzückung und Begeisterung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Pietistische Lebensführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1 Perfektionismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3.4.2 Weltflucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.3 Tätiges Christentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Indifferentismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitel V: ›Gründliche Beantwortung Deß Unfugs der Pietisten‹. Fromm sein aus pietistischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verwendete Quellen und ihre Motivation . . . . . . . . . . . . . . . 2. ›Fromm sein‹ aus pietistischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . 2.1 »… daß Pietismus, als eine sondere Secte angeführet / nichts als ein blosses Gedicht seye« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Aufrührer wider die Autoritäten? . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Das ›geistliche Priestertum‹: die Rolle der Laien im Pietismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Die Sakramente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Die pietistische Kritik am akademischen Betrieb . . . . . . 2.2.4 Freies Gebet vs. »Gebetsformulen« . . . . . . . . . . . . . 2.3 Entzückung und Begeisterung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Der neue Mensch – pietistische Lebensführung . . . . . . . . . 2.4.1 Bruch mit dem bisherigen Leben: Erleuchtung und Wiedergeburt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2 Ein »Heiliges Leben« führen: Weltflucht und Askese vs. Wirken in der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.3 Perfectio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 »Wird dadurch der libertinismus eingeführet …«. Verräter an der lutherischen Orthodoxie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitel VI: Resümee, oder : Tendenzen des Frommen in der Neuzeit . Pietismus, Chassidismus und die Krise der Frömmigkeit . . . . . . . Tradition oder Avantgarde? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Hochschätzung religiöser Erfahrung als Kennzeichen neuzeitlicher Frömmigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Popularisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Individualisierung der Frömmigkeit: das religiöse Ich . . . . . . . 4. Weltflüchtig und doch innerweltlich . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Danksagung

Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um meine geringfügig überarbeitete Dissertation, die 2010 von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der RuhrUniversität Bochum angenommen wurde. Keine solche Arbeit wird ohne Hilfe und Unterstützung fertig gestellt. Dass die Freiheit der Gläubigen in den drei Jahren von 2006 bis 2009 entstehen konnte, verdanke ich einer Reihe von Menschen. Allen voran gilt meine Dankbarkeit meiner verehrten Doktormutter Professorin Dr. Ute Gause. Sie betreute nicht nur das Werden der Arbeit von den ersten Notizen bis zum fertigen Manuskript in der Tat mütterlich, sondern stand auch in allen anderen Belangen des (nicht nur wissenschaftlichen) Lebens als Ansprechpartnerin bei einem Kaffee zur Verfügung. Ohne sie wäre das Projekt weder begonnen noch beendet worden. Ebenso zu Dank verpflichtet bin ich Professorin Dr. Susanne Talabardon, die mir zu jeder Zeit bei Fragen zum Chassidismus, zur hebräischen Sprache und zum Judentum allgemein mit Rat und Tat zur Seite stand. Sehr viel verdanke ich außerdem dem Exzellenznetzwerk Aufklärung – Religion – Wissen der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Zunächst danke ich Professor Dr. Udo Sträter, seinerzeit Sprecher des Exzellenznetzwerkes. Er investierte viel Zeit in Gespräche mit mir, um Schwierigkeiten bei der Anlage des Projektes, aber auch Details – und waren sie noch so detailliert – zu klären. Sodann gilt mein Dank dem wissenschaftlichen Koordinator Dr. Rainer Godel, der bei organisatorischen, aber auch personellen Fragen immer Antworten parat hatte oder sie einzuholen vermochte. Auch erhielt ich im Rahmen des Graduiertenkollegs durch das Netzwerk von 2006 bis 2009 ein Stipendium, das mein Forschen überhaupt erst möglich machte. Zudem wurde die Drucklegung der Arbeit mit Mitteln des Graduiertenkollegs überaus großzügig unterstützt. Weiterhin bin ich dankbar für die vielen Gespräche und Begegnungen mit den Mitstipendiatinnen und Mitstipendiaten, die uns das Graduiertenkolleg möglich machte. Auch die Arbeit in dem kleinen ›Hebräischzirkel‹, den Dr. Anna

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Danksagung

Briskina-Müller, Ramona Wöllner und ich in Halle / Saale konstituierten, wird mir in guter Erinnerung bleiben. Viele Menschen haben dabei geholfen, die Anzahl von Druckfehlern möglichst gering zu halten, indem sie Zeit und Aufmerksamkeit in das Korrekturlesen einzelner Teile der Dissertation investiert haben. Stellvertretend für alle möchte ich meinen Vater Harald Wulfleff nennen, der nur das erste Kapitel lesen konnte, bevor er starb. Ihm ist dieses Buch gewidmet.

Kapitel I: Hinführung

Einleitung Bereits relativ kurze Zeit, nachdem der Pietismus, »die bedeutendste Frömmigkeitsbewegung des Protestantismus nach der Reformation«1, mit Philipp Jakob Speners Wirken in Frankfurt von der ersten Hälfte der 1670er Jahre an als sozial abgrenzbare Bewegung verortbar wurde, begann sich Widerstand zu formieren. Diese Opposition, die dann vor allem von den Leipziger Unruhen um August Hermann Francke, Andreas Achilles und Johann Kaspar Schade an laut wurde, rieb sich allerdings kaum an ›novatorischen‹ theologischen Konzeptionen, wie man angesichts der genannten Beteiligten, die allesamt Studierende oder schon Graduierte der Theologie waren, zunächst vermuten könnte. Vielmehr stellt sich bei aufmerksamer Lektüre der Schriften, die auf beiden Seiten im Zusammenhang der immer weitere Kreise ziehenden Unruhen gleichermaßen in großer Zahl entstanden, heraus, dass der Streit sich meist an Aspekten des praktischen Frömmigkeitslebens entzündete. Hier, auf dem Gebiet teilweise alltäglicher Glaubensvollzüge, nicht auf der Ebene eher theoretisch-theologischer Reflexionen, entspann sich ein Streit erheblichen Ausmaßes. Vergleichbares lässt sich über den osteuropäischen Chassidismus sagen, der dem Pietismus vielfach als verwandt bezeichnet wurde2 : Auch der Chassidismus, der als »movement of religious revival« im zweiten Viertel des 18. Jahrhunderts entstand3, wurde vornehmlich wegen der »Gräuel […] die in Israel getan wer1 Martin Brecht, Einleitung, in: Martin Brecht (Hg.), Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert 1993, 1 – 10, hier: 1. 2 Vgl. u. a. Johannes Wallmann, Der Pietismus, Göttingen 2005, 21; Peter Schicketanz und Gert Haendler, Der Pietismus von 1675 bis 1800, Berlin 2001, 21; auch Arthur Green weist darauf hin, dass »hasidism is a typical revival or revitalization movement«, vergleichbar etwa mit »the Great Awakening, Methodism« u.s.f., Arthur Green, Early Hasidism: Some Old / New Questions, in: Ada Rapoport-Albert (Hg.), Hasidism Reappraised, London u. a. 1996, 441 – 446, hier : 443. 3 David Assaf, Art. Hasidism: Historical Overview, in: Gershon David Hundert (Hg.), The

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Hinführung

den«, aufgrund von sich von der traditionellen Interpretation unterscheidenden praktischen Zugängen angegriffen, weniger wegen abweichender theologischer Konzeptionen. Der vorliegende komparatistische Ansatz wendet sich dieser praktischen Frömmigkeit beider Bewegungen zu. Hiermit wird, wie skizziert, ein Charakteristikum in den Blick genommen, das unter den Zeitgenossen für außerordentlichen Furor sorgte. Offensichtlich handelt es sich demnach bei den von der jeweiligen orthodoxen Gegenseite angefochtenen Merkmalen pietistischer bzw. chassidischer Frömmigkeitspraxis um Akzentsetzungen, durch die sich die Frömmigkeitsbewegungen markant von der sie umgebenden Tradition abhoben. Folglich zielt die Studie in das Zentrum der Suche nach Bestimmungskriterien von Pietismus und Chassidismus – vermutlich eher, als es die Frage nach dem theologisch Neuen tut: Gerade im theologischen Bereich wurde sowohl dem Pietismus4 als auch dem Chassidismus5 von der Forschung attestiert, dass sie wenig innovativ waren. Das Pietistische bzw. das Chassidische, dies ist zu vermuten, liegt in den praktischen Realisierungen, in der Frömmigkeitspraxis, vor. Was hierbei die ›boundary markers‹ des spezifisch Pietistischen und Chassidischen sind, das zeigen die Schriften, welche die Gegner der Bewegungen im 17. resp. 18. Jahrhundert verfassten. Die literarischen Hinterlassenschaften dieses Streites um das rechte ›Fromm-sein‹ jedenfalls liegen als Quellen zur Erforschung von Pietismus und Chassidismus gleichermaßen vor. Sie bieten die Grundlage für einen Zugang, der dem Problem des Historikers, durch die Interpretation einer Quelle immer nur mittelbar auf die praktisch-rituellen Vollzüge zugreifen zu können, diskurstheoretisch begegnet. Über zentrale Bestimmungskriterien beider Bewegungen im Einzelnen hinaus bietet ein solcher Ansatz, der auf systematische Weise zwei ›Phänomene‹ in den Blick nimmt, die zwar aufgrund der Feststellung eher oberflächlicher Parallelen schon mehrfach als »verwandt« bezeichnet wurden, sich jedoch schon von ihrem Entstehungskontext her erheblich unterscheiden6, wesentlich mehr : YIVO Encyclopedia of Jews in Eastern Europe, Bd.1, New Haven u. a. 2008, 659 – 670, hier : 659; Assaf bietet einen hervorragenden Überblick über die historische Entwicklung der Bewegung. 4 Vgl. etwa Hartmut Lehmann, »Absonderung« und »Gemeinschaft« im frühen Pietismus. Allgemeinhistorisch und sozialpsychologische Überlegungen zur Entstehung und Entwicklung des Pietismus, in: Pietismus und Neuzeit 4 (1977 / 78), 54 – 82, hier : 62; 64. 5 Etwa Gershom Scholem schreibt in seinem zum Klassiker avancierten Übersichtswerk aus dem Jahr 1957, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Frankfurt a. M. 1967, 370: »Andererseits aber ist ebenso erstaunlich, daß diesem Ausbruch mystischer Religion keine entsprechenden fundamental neuen religiösen Gedanken, keine neue Theorie der mystischen Erkenntnis gegenüberstehen. Wenn man mich fragen würde, was die neue Lehre dieser [chassidischen, d. Vf.] Mystiker sei, […] so würde ich um eine Antwort einigermaßen verlegen sein.« 6 Darauf, dass Pietismus und Chassidismus unterschiedlichen Religionssystemen entspringen, braucht wohl kaum hingewiesen werden. Allerdings unterscheidet sich natürlich auch die

Ziel der Untersuchung: ›Frömmigkeit‹

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Wenn auch freilich nur schlaglichtartig7 lassen sich, indem konkrete Parallelen herausgearbeitet werden, Tendenzen des Frommen in der Neuzeit, mithin im Zeitalter der Aufklärung, aufzeigen – in einem über Religionsgrenzen ebenso wie Kultur- und Territorialgrenzen hinausgehenden Bezugsrahmen.

Ziel der Untersuchung: ›Frömmigkeit‹ Dass eine Untersuchung, die sich der spezifischen Frömmigkeit zweier Phänomene wie Pietismus und Chassidismus vergleichend zuwendet, mit der Bestimmung des zugrunde liegenden Frömmigkeitsbegriffes beginnen muss, liegt nahe. Eine trennscharfe Definition für diesen im modernen Sprachgebrauch häufig pejorativen, fast immer aber diffusen Begriff8 Frömmigkeit zu bestimmen, stellt keine leichte Aufgabe dar – nicht nur, weil die deutsche Begrifflichkeit in ihrer inhaltlichen Reichweite eine Vielzahl von Synonymen umfasst, sondern auch, weil der Begriff der Alltagssprache entstammt und nie zu einem religionswissenschaftlichen Fachwort mit einem klar bestimmten Bedeutungshorizont umgeprägt worden ist. Das führt dazu, dass »nicht jeder, der von Frömmigkeit spricht«, dasselbe meint9. Zumindest muss also die Bandbreite dessen, was gemeint sein kann, wenn von Frömmigkeit die Rede ist, aufgezeigt werden. Eben diese Bandbreite wird deutlich, wenn man versucht, Frömmigkeit zu paraphrasieren. So zeigt sich, dass Frömmigkeit, um angemessen erfasst zu werden, gleich drei lateinische Stämme umgreift: ›Pietas‹, ›devotio‹ und ›religio‹ beschreiben im Verein etwa das, was Frömmigkeit meinen kann10, wobei jeder dieser Begriffe wiederum jeweils eine relativ weite Spanne umfasst: Religiöses Pflichtgefühl und Ergebenheit, eine auf der Religion basierende Haltung, sozusagen ein religiöser Habitus (v. a. ›pietas‹ und ›devotio‹ beschreiben diesen Bereich) auf der einen Seite, auf der anderen die praktische Umsetzung hiervon (v. a. ›religio‹ meint diesen frömmigkeitspraktischen, oftmals kultischen bzw.

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Situation in den deutschen Ländern des ausgehenden 17. Jahrhunderts deutlich von der Situation in Südosteuropa, in der der Chassidismus gut 50 Jahre später entsteht – nicht nur in wirtschaftlicher, sondern auch in soziokultureller Hinsicht. Interessant wäre es, auch noch andere Parallelerscheinungen wie den katholischen Jansenismus hinzuzunehmen. Vgl. Walter Sparn, Art. Frömmigkeit. II. Fundamentaltheologisch, in: RGG4 3, 389; vgl. ebenso Manfred Seitz, Art. Frömmigkeit. II. Systematisch-theologisch, in: TRE 11 (1983), 676. Hans-Jürgen Greschat, Art. Frömmigkeit. I. Religionsgeschichtlich, in: TRE 11 (1983), 671; auch Lucian Hölscher wagt hier letztlich in seiner historisch angelegten Studie keine präzise Bestimmung sondern weist lediglich auf den notwendig weiten Begriff hin; vgl. ders., Geschichte der protestantischen Frömmigkeit in Deutschland, München 2005, 25. Sparn, Art. Frömmigkeit, 389.

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Hinführung

liturgischen Bereich) – wobei zu betonen ist, dass diese Aufschlüsselung nur die Hauptbedeutungen der lateinischen Begriffe bezeichnet. Über diese Hauptbedeutungen hinaus kommt es zu weit reichenden Überschneidungen, wenn die Nebenbedeutungen miteinander verglichen werden. Eine scharfe Trennung ist nicht möglich. Etwas anders ausgedrückt: Frömmigkeit bezeichnet hier einerseits Ausdrucksformen gelebter Religiosität, die objektiv – und zwar auch aus der Außenperspektive – (er-)fassbar und somit auch beschreibbar sind. Die Nähe zu den Begriffen des religiösen Brauchtums (im alltäglichen Bereich) oder des Ritus (im eher liturgischen Bereich) ist hier offensichtlich. Andererseits korrespondiert sie nach diesem unspezifischen, alltäglichen Verständnis gerade auf Seiten des Individuums mit bestimmten Gefühlsqualitäten, die meist subjektiver Natur sind. Von Frömmigkeit wird allgemein dann gesprochen, »wenn Religion als Bewusstsein, Haltung und Praxis fest in der Alltagswelt des Menschen verankert ist«11. Besonders das Moment des Alltäglichen spielt hierbei eine bedeutende Rolle. Dass allerdings Kategorien wie Gefühlsqualitäten, Bewusstsein oder Haltung nur schwer direkt greifbar sind – und das nicht nur ex post, sondern ebenso schon in der zeitgenössischen Darstellung – liegt auf der Hand.12 Bereits hier ergeben sich nicht unerhebliche methodische Probleme gerade hinsichtlich der zu verwendenden Quellen. Erschwerend tritt hinzu, dass die Praxis der Frömmigkeit in einem solch offenen Verständnis sich nicht einmal auf »einen Teilbereich der Lebenswelt eingrenzen«13 lässt, wenn nach spezifischen Elementen oder Motiven im beschriebenen Sinne alltäglicher Frömmigkeit beider Bewegungen gesucht werden soll. Diese erste Annäherung an das Untersuchungsfeld, die sich in der Gegenüberstellung des Frömmigkeitsbegriffes mit den drei nicht ganz deckungsgleichen ›Synonymen‹ pietas, devotio und religio auf allgemeiner, unspezifischer Ebene bereits als recht umfassend erweist, wird in der Frömmigkeitskonzeption Berndt Hamms konkretisiert14, die gerade durch ihre quellenanalytische Ausrichtung prädestiniert ist für den angestrebten, über Religionsgrenzen hinausgehenden, komparatistischen Ansatz. 11 Peter Cornehl, Frömmigkeit – Alltagswelt – Lebenszyklus. Propädeutische Notizen, in: WPKG 64 (1975), 388 – 401, hier : 392. 12 Hölscher, Geschichte der protestantischen Frömmigkeit, 12 f weist zwar auf das Problem hin, bietet aber keinen konkreten Vorschlag zur Lösung. 13 Friedrich Wintzer, Art. Frömmigkeit. III. Praktisch-theologisch, in: TRE 11 (1983), 685. 14 Vgl. zu der im Folgenden beschriebenen Konzeption, die Hamm seit den späten 70er Jahren ausgearbeitet hat: Berndt Hamm, Frömmigkeit als Gegenstand theologiegeschichtlicher Forschung. Methodisch-theologische Überlegungen am Beispiel von Spätmittelalter und Reformation, in: ZThK 74 (1977), 464 – 497; ders. Was ist Frömmigkeitstheologie? Überlegungen zum 14. bis 16. Jahrhundert, in: Hans-Jörg Nieden und Marcel Nieden (Hgg.), Praxis Pietatis. Beiträge zu Theologie und Frömmigkeit in der Frühen Neuzeit, Stuttgart 1990, 9 – 45.

Ziel der Untersuchung: ›Frömmigkeit‹

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Zunächst ist festzustellen, dass auch Hamm einen ähnlich weiten, ja sogar noch weiter gefassten Frömmigkeitsbegriff, als es die kurze Annäherung oben vermuten lässt, entwickelt hat, der »theoretischen Entwürfen ebenso wie praktischen Realisierungen, seelischen Regungen, Stimmungen und Vorstellungen ebenso wie äußeren, zähl- und messbaren Verhaltensweisen, individuellen und elitären Impulsen ebenso wie weit verbreiteten und massiv auftretenden Erscheinungsformen, Artikulationen einer bewussten Spiritualität oder reflektierten Theologie ebenso wie Haltungen einer unbewussten religiösen Mentalität, sozialen und regionalen Verschiedenheiten ebenso wie lebensweltlichen Unterschieden, etwa zwischen der Frömmigkeitsäußerung einer sozialen Bürgerelite und der Frömmigkeitspraxis einer Dorfbewohnerschaft«15

gerecht zu werden versucht. Von Frömmigkeit ist hiernach immer dann zu sprechen, »wenn es – entweder auf der Theorieebene programmatischer Überlegung und gezielter Anleitung oder auf der Ebene der praktischen Realisierung – um die Verwirklichung bestimmter religiöser Glaubensweisen, Verkündigungen, Lehren, Ideen, Wertvorstellungen, Sorgen und Hoffnungen im konkreten Lebensvollzug durch eine bestimmte Lebensgestaltung geht. Konstitutiv für Frömmigkeit (»pietas« oder »devotio«) ist immer das Moment des aneignenden Vollzugs von Religion durch eine formgebende Gestaltung des Lebens – wobei diese Umsetzung von Religion in Lebensgestaltung beispielsweise als Meditationspraxis eines Mönchs, als Rosenkranzgebet einer Bürgersfrau oder als Altarstiftung einer Dorfgemeinde ihren Ausdruck finden kann.«16

Genau dieser »Vollzug« durch eine »formgebende Gestaltung des Lebens« im Sinne alltäglich gelebter Religion steht nach der beschriebenen Zielsetzung im Zentrum des Interesses der vorliegenden Untersuchung. Trotz der oftmals pejorativen Verwendung einerseits und der terminologischen Diffusität andererseits soll also der Begriff Frömmigkeit Verwendung finden. Dies ist zum einen der geschilderten möglichen Bandbreite dessen, was er bezeichnen kann, geschuldet: Gerade im Vorfeld einer komparatistischen Studie darf das Blickfeld nicht allzu sehr eingeengt werden. Zum anderen mangelt es aber auch an echten Alternativen. ›Synonyme‹ wie etwa vita spiritualis, Spiritualität, Religiösität oder religiöse Lebenspraxis17 sind 15 Hamm, Frömmigkeitstheologie, 10 f. 16 Ebd. 17 In anderen Sprachen stehen eine Vielzahl »besondere[r] Termini zur Verfügung«, die das »breite Spektrum von Phänomenen bezeichnen«, wie etwa »piet¦, spiritualit¦, pratique r¦ligieuse, vie r¦ligigieuse[…]«; vgl. Hansgeorg Molitor, Frömmigkeit in Spätmittelalter und früher Neuzeit als historisch-methodisches Problem, in: Horst Rabe, Hansgeorg Molitor und Hans-Christoph Rublack (Hgg.), Festgabe für Ernst Walter Zeeden zum 60. Geburtstag am 14. Mai 1976, Münster 1976, 1 – 20; hier: 2.

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Hinführung

eben keine wirklichen Synonyme von Frömmigkeit. Oftmals bezeichnen sie nur bestimmte Ausschnitte dessen, was Frömmigkeit meinen kann; wo sie wiederum ein ähnlich weites Spektrum bezeichnen wie Frömmigkeit, entstehen vergleichbare Probleme.

Methodik Wie aber nähert man sich einem derart komplexen Phänomen? Wo zeigt sich das Spezifische, das Eigenartige der beiden Bewegungen, die ja keineswegs in einem luftleeren Raum und aus dem Nichts entstanden, sondern sich in einer zu bestimmenden Weise zu einer bestimmten Tradition verhielten? Bereits eingangs wurde darauf hingewiesen, dass zu dem Zeitpunkt, da die, in ihren Anlagen oft auf wesentlich frühere Frömmigkeitsrichtungen gründenden, Bewegungen sozial greifbar wurden, sich eine Gegnerschaft zu bilden anfing. In zahlreichen Schriften versuchten die Vertreter der lutherischen Orthodoxie bzw. des osteuropäischen orthodoxen Rabbinismus, die im Entstehen begriffenen Erneuerungsbewegungen zu bekämpfen, indem sie aufzeigten, worin in ihren Augen deren Hauptfrevel bestanden. Hier werden von Zeitgenossen, die die Entstehung der neuen Bewegungen erlebten, aus einer beschreibenden Außenperspektive spezifische Frömmigkeitsmerkmale vorgestellt, die sich in das jeweilige traditionelle Bild nicht ohne weiteres einfügen ließen. So lassen sich mit der Zielsetzung einer vergleichenden Perspektive diejenigen Merkmale pietistischer bzw. chassidischer Frömmigkeit herausarbeiten, die tatsächlich als typisch pietistisch oder typisch chassidisch bezeichnet werden können – zumindest aus der Sicht ihrer Gegner, welche diese »Gräueltaten« (hebr. N95F9N) als diejenigen Merkmale aufzählten, durch welche sich die Bewegungen von ihrer jeweiligen Tradition unterschieden. Insofern bietet die vorliegende Studie einen neuen systematischen Zugang, der bei der Idee ansetzt, dass sich die typische Frömmigkeitspraxis am ehesten dort äußert, wo sie von den Zeitgenossen als Beleg für die untypischen, gar frevlerischen Verstöße gegen die traditionelle Ordnung angeführt wird: Genau hier wird in den gegnerischen Beschreibungen das Eigengeprägte der praktischen Seite von Frömmigkeit greifbar, verstanden als die Summe verschiedener Einzelmerkmale, welche die gegnerischen Schriften als ›Freveltaten‹ anführen.18 In Kapitel II werden so Zentrale chass18 Insofern wird eine gänzlich andere Quellengruppe in den Blick genommen, als sie beispielsweise von Ulrike Gleixner in ihrer Arbeit zur Anthropologie der Frömmigkeit des württemberger Pietismus verwendet. In Pietismus und Bürgertum. Eine historische Anthropologie der Frömmigkeit, Göttingen 2005 konzentriert sie sich auf die Selbstzeugnisse (Tagebuch, Autobiographie, Lebenslauf etc.) pietistischer Frauen, Männer und Kinder, die sich durch das Schreiben »pietistisch vergesellschafteten« (15). Wenn auch in der vorlie-

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idische Frömmigkeitsmerkmale aus der Sicht ihrer Gegner herausgearbeitet; Kapitel IV entwickelt entsprechend Pietistische Frömmigkeitsmerkmale aus gegnerischer Sicht. Beide Kapitel bieten zunächst eine Charakterisierung jener Gegner, um erste Grenzziehungen zu ermöglichen hinsichtlich der Frage, wer sich überhaupt als Nichtchassid (bzw. im Rückschluss als Chassid) oder Nichtpietist verstand und was ihn hierfür auszeichnete. Anschließend wird der Blick auf die vielfältigen vertretenen Formen bzw. Gattungen der behandelten Quellen gerichtet, welche z. T. erheblich variieren. Durch diese vielfältigen Quellencorpora wiederum, die zudem auch eine längsschnittartige Grundlage bieten, indem sie sich über einen Zeitraum von bis zu 30 Jahren erstrecken, wird gewährleistet, dass die herausgearbeiteten Frömmigkeitsmerkmale nicht nur den Phänotypen einer biografisch (da auf wenige führende Persönlichkeiten zentrierten), zeitlich oder auch geografisch eng begrenzten Frömmigkeit darstellen, sondern tatsächlich als Merkmale einer allgemeinen Frömmigkeit bezeichnet werden können. Allerdings sind solche rein äußerlichen Merkmale von Frömmigkeit freilich nicht als die Frömmigkeit zu bezeichnen. Die gegnerischen Schilderungen bilden nur in eingeschränkter Weise die Praxis ab oder lassen auf diese schließen. Frömmigkeit aber umfasst, wie aufgezeigt, einen wesentlich weiter reichenden begrifflichen Horizont. Es muss unterschieden werden zwischen der Darstellung der Praktizierung jener ›Gräueltaten‹ und den eventuell auf den ersten Blick nicht ersichtlichen frömmigkeitlichen Bezügen. Die aus den ›Antipietistica‹ und ›Antichassidica‹, deren Perspektive ja immer eine kritische und polemisch verzerrende, ergo zu ›entmythologisierende‹ ist, herausgearbeiteten Merkmale müssen deshalb im Lichte chassidischer beziehungsweise pietistischer Quellen ›gegengeprüft‹, analysiert werden. Aus dem Diskurs der unterschiedlichen Perspektiven wird deutlich, dass Frömmigkeit kein Objektivum ist, sondern immer das Konstrukt einer Interpretationsgemeinschaft. Auch hier ist wiederum eine einschränkende Auswahl aus der Vielzahl von Quellen, die den Bereich Frömmigkeit berühren, notwendig. Interessant sind natürlich, wo vorhanden, diejenigen pietistischen bzw. chassidischen Schriften, die auf die gegnerischen Polemiken reagieren, welche also beispielsweise gegnerische Vorwürfe zu entkräften suchen. Derartige Quellen liegen für die Pietismuskontroverse in großer Zahl vor. Von chassidischer Seite dagegen fehlen sie beinahe völlig. Hinzu kommen Schriften, die Berndt Hamm in seiner Frömmigkeitskongenden Arbeit das anthropologische Moment der Vergesellschaftung der beiden Bewegungen nicht vornehmliches Interesse ist, wäre in Anlehnung an die These Gleixners von einer Vergesellschaftung durch das pietistische Schreiben, sozusagen von innen heraus, die Frage interressant, inwiefern die Zuschreibungen von außen von Beudeutung für die Vergesellschaftung von Pietismus und Chassidismus waren.

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zeption (s. o.) der »Theorieebene programmatischer Überlegung und gezielter Anleitung« zuordnet. Über die praktische Frömmigkeit hinausgehend öffnet Hamm hierdurch den Blick auf einen Bereich, den er als »Frömmigkeitstheologie« bezeichnet, eine ›Mischkategorie‹, die zwischen den häufig getrennten Ebenen der reflexiven (Hoch-)Theologie einerseits und der praktischen Frömmigkeit andererseits vermittelt. Sie zeigt auf, dass die unter Umständen nur als ›Sonderfälle‹ interpretierbaren Phänomene, die in den gegnerischen Schilderungen auftauchen, ein gemeinsames Movens haben können, das zudem noch – gerade hinsichtlich der problematischen Quellenlage der Frömmigkeitsgeschichte ist dies bedeutsam – vielfach in Form veröffentlichter und allgemein zugänglicher Dokumente bis in die Gegenwart schwarz auf weiß vorliegt. Vor allem angesichts des angestrebten Vergleiches zweier Frömmigkeitsbewegungen wird mit derartigen anleitenden Texten eine interessante Quellengruppe einbezogen, die zeigt, dass Frömmigkeit im beschriebenen Sinne häufig eben nicht nur eine Sache des Einzelnen, sondern Gemeinschaftssache ist: Es kann auch die Rede sein von der Frömmigkeit der Vielen, ohne dass die zweifellos bedeutenden Leitfiguren ausgeblendet werden. Zudem ermöglichen die pietistischen bzw. chassidischen frömmigkeitstheologischen Texte, die dieser Ebene der Anleitung zur praktischen Frömmigkeit zuzuordnen sind, auch einen Blick – wenn auch einen idealtypischen – auf das, was oben bereits als kaum greifbar, aber zur Frömmigkeit gehörend beschrieben wurde: Indem die »Theorieebene praktischer Anleitung« in den Blick genommen wird, wird aufgezeigt, wie jene »seelischen Regungen, Stimmungen und Vorstellungen«19 bzw. das, was oben als religiöse Haltung oder religiöser Habitus bezeichnet wurde, zumindest nach Ansicht der Anleitenden auszusehen hatten. Es ist anzunehmen, dass die beiden Frömmigkeitsbewegungen, die im Zentrum des Interesses dieser Untersuchung stehen, hier eher mehr als weniger – oder zumindest anderes – anbieten als die »theologische Landschaft des Jahrhunderts vor der Reformation«, die Hamm besonders interessiert20, da sich zum einen die medialen Möglichkeiten des 15. Jahrhunderts erheblich von denen des 17. bzw. 18. Jahrhunderts unterscheiden, zum anderen aber auch der Grad der Alphabetisierung der Bevölkerung sich stark veränderte. Keine direkte Beachtung finden hierbei jene Konzeptionen, die ausschließlich das spirituelle Leben der Studenten der Theologie bzw. der Geistlichen im Blick haben, obwohl sie streng genommen auch diesem frömmigkeitstheologischen Bereich zuzuordnen sind. Sie stellen, wenn auch sicherlich von großer Bedeutung für die Frömmigkeitsgeschichte beider Bewegungen, im Zusammenhang

19 S. Anm. 14. 20 Hamm, Frömmigkeitstheologie, 11.

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der vorliegenden Studie lediglich einen Sonderbereich dar, weshalb an dieser Stelle nur auf einschlägige Literatur verwiesen wird.21 Der Bereich der Frömmigkeitstheologie darf aus genannten Gründen auch im Rahmen dieser komparatistischen Untersuchung nicht ausgeblendet werden, da gerade in der Anleitung zu praktischer, evtl. gar alltäglicher Frömmigkeit, Motive zu vermuten sind, die als ›einendes Band‹ die beiden Frömmigkeitsbewegungen Pietismus und Chassidismus jeweils zusammenhalten und beide somit wiederum untereinander vergleichbar machen. Zudem bieten sie mit ihrem »vielgestaltigen und ungemein quellenreichen Typ[s] einer ganz und gar frömmigkeitsorientierten Theologie«22 eine höchst interessante Vergleichsgrundlage. Weiterhin bietet besonders die Analyse frömmigkeitstheologischer Quellen und hier wiederum v. a. deren formaler Merkmale (etwa Sprache, Adressat, Thema, Stil, Textsorte, Auflagenstärke, Preis…) eine Antwort auf die Frage, von wessen Frömmigkeit eigentlich die Rede ist – und gerade diese Frage ist hinsichtlich der meist biografisch orientierten kirchengeschichtlichen, aber auch die Geschichte des Judentums behandelnden Forschung von höchstem Interesse, wenn nämlich die Frömmigkeit einer ganzen Bewegung untersucht werden soll und eben auch die Rede von alltäglicher Frömmigkeit oder Alltagsreligion ist. Wen beispielsweise sprechen die pietistischen frömmigkeitstheologischen Texte an: Personen, die generell als »anleitungsbedürftig gelten«? Die »hartnäckigen Sünder«?23 Oder ist, wenn man vom Grundgedanken der Spenerschen Collegia pietatis ausgeht, vor allem eine bereits im Glauben gefestigte »Elite« in ecclesia angesprochen? Das Gleiche gilt für den osteuropäischen Chassidismus: Hier wäre die Frage nach den Adressaten etwa an die berühmten chassidischen Legenden24 zu richten, die ein prägendes Element chassidischer Frömmigkeitstheologie darstellen, indem sie erzählerisch chassidische Frömmigkeitsideale vermitteln – ist hier die breite, durch alle Schichten reichende Gemeinde, die gesamte chassidische Kehila, angesprochen? Oder nur 21 Für den Pietismus ist hier Chi-Won Kang, Frömmigkeit und Gelehrsamkeit. Die Reform des Theologiestudiums im lutherischen Pietismus des 17. und frühen 18. Jahrhunderts, Gießen 2001, anzuführen, der darauf hinweist, dass die pietistische Konzeption des Theologiestudiums im Zusammenhang von pietas und eruditio steht; vgl. ebd., 58. 22 Hamm, Frömmigkeitstheologie, 11. 23 Ebd., 13. 24 Neben den »klassischen« Editionen von Martin Buber, wie Die Erzählungen der Chassidim, Zürich 91984, oder Schriften zum Chassidismus, München und Heidelberg 1963, gibt es eine Vielzahl von Editionen, welche chassidische Erzählungen überliefern, und die fast immer um die unglaublichen Geschichten einzelner Zaddikim kreisen. Ein (sehr) kleine Auswahl: Die Erzählungen des Rabbi Nachman von Bratzlaw; übersetzt von Michael Brocke, München und Wien 1985; Wolf Pascheles (Hg.), Sippurim. Eine Sammlung jüdischer Volkssagen, Erzählungen, Mythen, Chroniken, Denkwürdigkeiten und Biographien berühmter Juden. 2 Bde, Hildesheim und New York 1976; Ludwig Wächter, Das verzauberte Pferd. Erzählungen aus der Welt des Chassidismus, o.O. 1988.

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ein kleiner Kreis innerhalb derselben?25 Gerade mit der Frage nach dem Adressatenkreis der frömmigkeitstheologischen Texte von Pietismus und Chassidismus liegt es sodann nahe, auch einen genuin pietistischen bzw. chassidischen »Stil der Frömmigkeitstheologie« bzw. einen »modus loquendi«26 zu vermuten, wie ihn Hamm für die Zeit zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert festgestellt hat. Adressierung und »modus loquendi« der frömmigkeitstheologischen Texte wiederum weisen die Intention der Sprecher, der Anleitenden aus: Soll die fromme Lebensgestaltung Trost in schlechter Zeit, im ›irdischen Jammertal‹ bieten? Soll hierdurch eine neue religiöse Elite geformt werden? Soll durch eine veränderte Lebensführung gar eine Weltveränderung / -verbesserung angestoßen werden? Frömmigkeit bedeutet somit, dies sei noch einmal verdeutlicht, nicht nur den konkreten Vollzug, sondern muss vielmehr auch programmatische Äußerungen erfassen, um die hinter der Frömmigkeit stehende Intentionalität greifbar machen zu können. In Hinsicht auf den Chassidismus widmet sich das III. Kapitel derartigen anleitenden Quellen. Im V. Kapitel wird ein Corpus von Quellen präsentiert, das sich aus pietistischen Schriften, die sich direkt mit den antipietistischen Angriffen auseinandersetzen, und frömmigkeitstheologischen Schriften zusammensetzt. Beide Kapitel stellen somit die Hauptkapitel dar, in denen die aus den gegnerischen Schilderungen extrahierten Frömmigkeitsmerkmale von seiten der Frömmigkeitsbewegungen selbst hinterfragt werden. Dass hierbei vor allem Schriften der ›Väter‹ beider Bewegungen bemüht werden, liegt vor allem in ihrer allgemeinen Bedeutung für Pietismus bzw. Chassidismus begründet. Hier den Schwerpunkt auf Quellenmaterial zu legen, das aus der Feder unbekannterer Pietisten bzw. Chassidim stammt, wäre sicherlich spannend und gewinnbringend, würde jedoch den Fokus der Arbeit noch einmal verschieben, da die Anlage dann eher Einzelstudiencharakter haben müsste. Auch hinsichtlich der beiden Frömmigkeitsbewegungen allerdings müssen notwendig Eingrenzungen erfolgen: Die Begriffe Pietismus und Chassidismus bezeichnen Bewegungen, deren »räumliche, zeitliche, gesellschaftliche, geistige […] Erstreckung […] schlechterdings erstaunlich«27 ist. Der Untersuchungszeitraum soll sich deshalb nur über die bereits mehrfach benannte Zeit erstre25 Vgl. hierzu etwa die Veröffentlichungsgeschichte der ersten chassidischen Legendensammlung, der Schibche haBescht: 1814 zunächst in der heiligen Sprache Hebräisch erschienen, wurde sie bereits im Folgejahr auch in der Volkssprache der Ostjuden (Jiddisch) veröffentlicht; vgl. 71 ff. 26 Ebd., 16; gemeint ist z. B. die Wendung von einem gelehrten Stil hin zu einem v. a. affektiven, anschaulichen und an die Lebenswirklichkeit der Adressaten angepassten Duktus. 27 Brecht, Einleitung, 1 (vgl. Anm. 1); während die Anwendung des Begriffes Pietismus auf gegenwärtige Phänomene stark umstritten ist, schreibt Assaf über den Chassidismus, dass »it has continued to exist without interruption up to the present day.« Assaf, Hasidism, 659.

Anmerkungen zur Schreibweise von Orten, Namen etc.

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cken, in der sich Pietismus bzw. Chassidismus als sozial fassbare Bewegungen etablierten. Dies ist, wie eingangs angeführt, zudem die Zeit der massivsten Widerstände seitens der jeweiligen Orthodoxie. Für den Pietismus sind dies die circa 30 Jahre von Speners Einführung seines Collegium Pietatis in Frankfurt (1670) über die Leipziger Unruhen 1689 / 90 bis hin zur Etablierung des hallischen Pietismus durch die ersten Gründungen der Franckeschen (bzw. Glauchaschen) Anstalten gegen 1700. Es wird vor allem der innerkirchliche Pietismus behandelt. Die vielen Verzweigungen, die sich bei der über einzelne Erwähnungen hinausgehenden Miteinbeziehung des separatistischen Pietismus ergäben, würden den Rahmen der Studie bei weitem überschreiten. Schwieriger ist es, den Untersuchungszeitraum für den jüdischen Chassidismus anhand konkreter Jahreszahlen abzustecken. Dies ist nicht nur den weniger klar abgesicherten Beziehungsgefügen, den personalen Netzwerken der Frühzeit des Chassidismus geschuldet, sondern vor allem der Eigenart chassidischer Geschichts- und Lehrschreibung, mithin der quellengeschichtlichen Lage (siehe hierzu Kapitel II / III). Zwar ist vornehmlich die Rede von der Zeit des Wirkens und Lehrens Israel Ben Eliezer Ba’al Schem Tovs (ca. 1700 – 1760), des vor allem posthum hierzu stilisierten Gründers des Chassidismus, sowie seiner direkten ›Nachfolger‹, wie etwa Dov Bär, des ›Großen Maggids‹ (ca. 1700 – 1772); beide haben jedoch zu Lebzeiten kein Buch verfasst, in dem sie der Nachwelt ihre Lehren direkt überliefert hätten. Alles, was über diese Anfangszeit vorliegt, entstammt teilweise erheblich späterer Zeit und machte dementsprechend einen nicht unerheblichen Traditions- und Kanonisierungsprozess durch. Die frühesten Quellen, die uns über chassidisches Frommsein überliefert sind, entstammen gegnerischen Federn. Über den Untersuchungszeitraum lässt sich deshalb nur vage feststellen, dass die chassidische Frühzeit »vom zweiten Viertel des 18. Jahrhunderts« (Assaf) bis in die 1780er / 90er Jahre in den Blick genommen werden soll. Einige Quellen sind allerdings nochmals 20 Jahre jünger.

Anmerkungen zur Schreibweise von Orten, Namen etc. Grundsätzlich ist es in der historischen Forschung wie etwa der Kirchengeschichte nicht ganz einfach, konsequent an einer Schreibweise fest zu halten, da die zugrundeliegenden Quellen öfters – zuweilen sogar innerhalb eines Schriftstückes mehrfach – ihre Schreibweise variieren. Einfache Beispiele hierfür sind etwa unterschiedliche Schreibweisen des Namens Philipp Jakob Speners, den man auch als Philipp Jacob Spener findet, oder die vielfältigen Schreibweisen der Stadt Frankfurt (Franckfurt, Franckfurth usw.). Nicht selten kostet es deshalb einige Überwindung, die von solchen Variationen vornehmlich

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betroffenen Personen- oder Ortsnamen konsequent in heutiger Schreibweise wiederzugeben. Dennoch soll dies bei Nennungen im Fließtext der Fall sein; in wörtlich zitierten Passagen dagegen bleibt der frühneuzeitliche Buchstabenund Zeichenbestand bewahrt. Während geringfügige Abweichungen bei der Schreibweise mittel- und westeuropäischer Personen- und Ortsnamen in gewissen Grenzen vielleicht gerade noch hinnehmbar wären (Franckfurth beispielsweise kann wohl soeben geographisch zugeordnet werden), muss in denjenigen Bereichen, denen hebräische oder jiddische Quellentexte zugrunde liegen, eine klare Systematik Verwendung finden. Grundsätzlich werden hebräische oder jiddische Quellen in Übersetzung zitiert. Meist wird die hebräische oder jiddische Passage, in Klammern folgend oder in der Fußnote, angegeben. Wo englischsprachige Übersetzungen zugrunde gelegt wurden, wird aus der englischen Übersetzung (in englischer Sprache) zitiert. Wo eigene Übersetzungen Verwendung finden, erfolgen Zitate auf Deutsch. Hebräische Namen werden in der heute gängigen Form transkribiert – so, wie sie aus der modernen (Forschungs-)Literatur bekannt sind (8MB, um nur ein Beispiel anzuführen, wird dementsprechend in der im Deutschen üblichen Weise mit Mose wiedergegeben). Dasselbe gilt für Begriffe, die, etwa mangels eines brauchbaren deutschen Äquivalentes, aus dem Hebräischen übernommen und lediglich transkribiert werden. In den meisten solcher Fälle wird im Zusammenhang der ersten Nennung eine inhaltliche Übersetzung gegeben. Die Transkription solcher verwendeter hebräischer oder jiddischer Begriffe erfolgt eher an deutschen Lesegewohnheiten orientiert als an den Vorgaben einer strengen Transliteration, um den Lesefluss, etwa durch diakritische Zeichen, nicht zu stören. Ein besonderes Problem stellen hierüber hinaus die Ortsnamen dar : Mit wechselnden Grenzverläufen – es sei nur an die drei ›Teilungen‹ Polens 1772, 1793 und 1795 erinnert – nahmen nicht selten Orte unterschiedliche Namen an. In den chassidischen Quellen (beispielsweise den Legenden) tauchen zudem Orte mit jiddischen Namen auf, die sich von den Namen in der Landessprache unterscheiden, auch variieren mitunter die jiddischen Bezeichnungen untereinander.28 Wo vorhanden, werden in solchen Fällen die im Deutschen bekannten Namen verwendet, bisweilen auch die in der englischsprachigen Forschungsliteratur üblichen.

28 Vgl. ausführlicher Gedalyah Nigal, The Hasidic Tale, Oxford u. a. 2008, vif.

Kapitel II: … mich treiben die Gräuel um, die in Israel getan werden … Zentrale chassidische Frömmigkeitsmerkmale aus der Sicht ihrer Gegner

»An irgendeinem Ort lebten einmal drei gelehrte Brüder, die alle dreie gottesfürchtig waren. Aber nur zwei von ihnen waren dem Bescht ergeben, während der dritte zu seinen Gegnern zählte. Und immer, wenn der Bescht in diese heilige Gemeinde kam, war er zu Gast bei den beiden und fragte jedes Mal nach dem Wohl des dritten Bruders. Wieder einmal, als er an einem Donnerstag in jene Gemeinde kam und noch bevor er zu seiner gewohnten Bleibe ging und die Leute nach dem dritten Bruder fragte: »Was macht mein Mitnagged?«, da riefen sie im Glauben, ihn damit froh zu stimmen: »Er liegt auf dem Krankenbett und kann schon nicht mehr reden! Der Rav aber entgegnete, man müsse zu ihm gehen und ihn auf seinem Krankenbett besuchen! […]«1

Dieses Beispiel aus der chassidischen Legende zeigt, dass die Chassidim mit ihren zum Teil recht eigenwilligen Frömmigkeitsformen nicht überall mit offenen Armen begrüßt worden sind. Während allerdings die angeführte Erzählung damit endet, dass der ›Mitnagged‹ des Bescht geheilt wird und vermutlich (die Legende schweigt darüber!) zum überzeugten Chassid wird, standen die frühen Chassidim vielerorts einer etablierten Opposition gegenüber, die nicht zu überzeugen war, wenn sie ihre Pfründe durch die neu aufkommende Bewegung in Gefahr meinte und die stattdessen zur Wahrung ihrer Interessen oftmals schwere Geschütze ins Feld führte, wie unten gezeigt werden soll. Anhand derjenigen Schriften, welche diese etablierte Opposition bzw., um 1 Karl E. Grözinger (Hg., Übers.), Die Geschichten vom Ba’al Schem Tov. Schibche haBescht. 59ü AM @F5 =;5M LHE. Teil I Hebräisch mit deutscher Übersetzung, Wiesbaden 1997, 200 f; im Folgenden wird grundsätzlich aus dieser Ausgabe zitiert, durch Nennung des Titels (Schibche haBescht) und der Nummer der Erzählung – in diesem Fall H249. Eine andere (übersetzte) Ausgabe der Schibche haBescht ist diejenige von Dan Ben-Amos und Jerome R. Mintz: In Praise of the Baal Schem Tov [Shivhei ha-Bescht]. The Earliest Collection of Legends about the Founder of Hasidism, Bloomington, London 1970. Diese Episode, die den frühen bescht’schen Chassidismus in Opposition zum etablierten Judentum zeigt, ist in den Schibche haBescht keineswegs die einzige; weitere Erzählungen, welche die den Chassidim entgegengebrachte Feindschaft belegen, sind etwa H52, H53, H103, H104, H139, (H148), H159, H174, H197, H204, H234a), H244, H248, H252, H268.

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Zentrale chassidische Frömmigkeitsmerkmale aus der Sicht ihrer Gegner

genau zu sein, die Oppositionen, verfassten, um sich gegen die Ketzer2 zu wehren, soll von außen her ein erster Blick auf die frühen Chassidim geworfen werden: In kompakter Form werden uns hier eben jene zentralen Motive chassidischer Frömmigkeit deutlich vor Augen geführt, welche die Zeitgenossen als diejenigen Merkmale verstanden, durch welche sich die Chassidim von ihnen selbst hinsichtlich ihres Verständnisses von gelebter Religiosität unterschieden – und dies natürlich nicht eben im Guten. Diese hervortretenden Merkmale der chassidischen Frömmigkeit, im Sinne Hamms3 sowohl den rituellen als auch den alltäglichen Bereich, ebenso aber auch Verhaltensweisen und Einstellungen betreffend, sind es, die in den gegnerischen Schriften zur Begründung für die Beund Verurteilungen der »neuen Sekte«4 angeführt werden. Um der Forderung gerecht zu werden, dass ein vielgestaltiger Frömmigkeitsbegriff nur mit einem vielgestaltigen Quellenkorpus erarbeitet werden könne, wird hiermit eine nach Dubnow erst in der modernen Chassidismusforschung5 wieder beachtete Quellengattung in den Fokus gerückt6, die für die Aufgabenstellung dieser Arbeit allerdings aus einem weiteren Grund unentbehrlich ist: Jene Schriften, die vor allem7 von den frühen 1770er Jahren an verfasst und veröffentlich wurden, sind die ältesten uns überlieferten (ausführlichen) Zeugnisse (nicht nur) über die Frömmigkeit der Chassidim überhaupt.8 Vielfach sind diese Traktate inhaltlich sehr oberflächlich angelegt und treffen den eigentlichen, den ›genotypischen‹ Kern des chassidischen Anliegens nicht,9 was nicht zuletzt in der Natur ihrer Absicht liegt: Häufig handelt es sich um reine Polemiken, die ihren eigentlichen Inhalt oft gut zu verbergen wissen und gegen den Strich gelesen werden müssen. Aufgrund des polemischen Duktus diese Quellengattung nicht zu beachten, ihr mithin den Quellenwert für die Fröm2 3 4 5

6 7

8 9

Semir Arizim, #4, 43. Vgl. Anm. 76. Vgl. I.1.1 Als die die frühen Chassidim m. W. erstmals in Semir Arizim bezeichnet werden; vgl. II.1.3. Simon Dubnow als der »Begründer der historischen Chassidismusforschung« noch nutzt die Fülle der Materialien; vgl. das dritte Kapitel (v. a. §§ 18 – 24) von Simon Dubnow, Geschichte des Chassidismus. Erster Band, Königstein / Taunus 1982; ebenso die »Dritte Beilage. Sammlung von Dokumenten zum Religionsstreit in den Jahren 1772 – 1798«, ebd., S. 322 ff. Vgl. I.1.1. Auch vor diesen ersten wohl organisierten Feldzügen gegen die Chassidim gab es schon Äußerungen über das auffällige Wesen chassidischer Frömmigkeit; jedoch handelt es sich um sporadisch auftretende Meinungsäußerungen Einzelner (wenn auch nicht unwichtiger Persönlichkeiten), bei denen jedoch z. T. nicht einmal sicher belegt werden kann, ob es sich tatsächlich um Angriffe gegen die bescht’schen Chassidim handelt; vgl. etwa Elijah Judah Schochet, The Hasidic Movement and the Gaon of Vilna, Northvale, New Jersey 1994, 27 ff. Vgl. I.2.1.1; II.1.3. Vgl. Naftali Lowenthal, Art. Mitnaggedim, in: Tzvi M. Rabinowicz (Hg.), The Encyclopedia of Hasidism, London 1996, 318 f, hier: 319.

Die Gegner der Chassidim: Mitnaggedim und Maskilim

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migkeitsforschung abzusprechen, hieße, eine selten vorhandene Beschreibung der chassidischen Frühzeit aus der Außenperspektive, wie sie uns hier vorliegt, zu ignorieren. Mit ihrer Hilfe sollen vornehmlich die phänotypischen, also beschreibbaren Merkmale chassidischer Frömmigkeit herausgearbeitet werden. Sie aus chassidischer Perspektive inhaltlich zu überprüfen, zu unterfüttern und zu ergänzen wird im Anschluss hieran die Aufgabe sein, wenn die chassidischen Quellen zur Frömmigkeit behandelt werden [Kapitel III]. Auch zeigt sich durch diese Zugangsweise, wem sich die chassidische Bewegung überhaupt entgegenstellte bzw. wer sich ihr entgegenstellte: Die nicht eben unwichtige Frage etwa nach der Orthodoxie wird auf diese Weise in den Blick genommen, was wiederum Rückschlüsse auf die eigentlichen (eventuell oppositionellen) Ideale der Bewegung zulassen wird. Nicht zuletzt ist aber gerade in diesem Zusammenhang ein Zugang, der am »Offensichtlichen« einer Außenperspektive ansetzt, auch aus komparatistischer Sicht interessant: Da Chassidismus und Pietismus gleichermaßen nicht in luftleerem Raum entstanden, entging beiderlei Entstehen und Etablierung keineswegs den Augen ihrer Umwelt. Indem jene Schriften, welche die Befürchtungen eben dieser Umwelt abbilden, in den Blick genommen werden, treten Parallelen über die einzelnen Bewegungen hinaus deutlich hervor, die aus der jeweiligen Innenperspektive heraus undeutlich bleiben müssten.

1.

Die Gegner der Chassidim: Mitnaggedim und Maskilim

Vor der eigentlichen Quellenanalyse (II.2 bzw. II.3) soll zunächst ein (zugegeben kurzes) ›Autorenportrait‹ der Gegner entworfen werden, das bei der nicht unwichtigen Einordnung der Quellen helfen soll. Hierbei werden einzelne Autoren der ausgewählten antichassidischen Schriften vorgestellt; vor allem aber sollen die beiden Richtungen, denen sie zuzuordnen sind, aufgezeigt werden. De facto entstammen die ältesten mehr oder weniger unverändert durch die Zeitläufte überlieferten Zeugnisse, welche die Frömmigkeit der Chassidim beschreiben, gegnerischen Federn (bzw. Druckplatten). Jedoch darf keinesfalls angenommen werden, dass sich der neu aufkommenden Bewegung ein gleichsam monolithischer Block entgegen gestellt hätte, mithin undifferenziert von ›den Gegnern‹ der Chassidim die Rede sein kann. Vielmehr können die Autoren der Quellen, die im Folgenden dazu dienen sollen, die prägenden Motive chassidischer Frömmigkeit herauszuarbeiten, in die zwei großen Richtungen der Mitnaggedim und der Maskilim differenziert werden, die sich wiederum, mit dem späteren Aufkommen Zweitgenannter, untereinander unversöhnlich gegenüberstanden. Den Reihen der Mitnaggedim oder Mitnagdim (nach aschkenasischer

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Zentrale chassidische Frömmigkeitsmerkmale aus der Sicht ihrer Gegner

Sprechweise zuweilen auch ›Misnagdim‹, hebr. A=76DNB), was zunächst einmal nichts anderes bedeutet als ›Gegner‹ (in diesem Sinne wird der Begriff auch in der eingangs zitierten Erzählung verwendet), einem Begriff, der zunächst zur Bezeichnung der dem traditionellen, rabbinischen Judentum angehörenden, nicht-chassidischen Juden diente10, entstammen die frühesten Zeugnisse einer vehementen und vor allem organisierten Gegnerschaft der neuen Bewegung. Die im Folgenden behandelten Quellen entstanden allesamt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, zu der Zeit, als die ausgesandten Anhänger R. Dov Bärs von Miedzyrzecz, dem ›Großen Maggid‹, dem designierten Nachfolger des Bescht (vgl. I.2.1.1), das chassidische Zentrum allmählich von Podolien und der Ukraine nordwärts nach Volhynien, Weißrussland und v. a. Litauen verlagerten und versuchten, auch in Wilna, dem Zentrum der litauischen traditionellen Gelehrsamkeit, Fuß zu fassen.11 Wilna nun kann, da von hier alle der in drei Wellen12 (1772, 1781, 1796) stattfindenden Angriffe gegen die Chassidim ihren Ausgang nahmen, als das mitnaggedische Zentrum par excellence angesehen werden. Eine, wenn nicht die zentrale Rolle spielte hierbei der Gaon R. Elijah ben Salomo Zalman (1720 – 1797), der zwar kaum persönlichen Kontakt zu den Chassidim pflegte und ihre Bräuche nur vom Hörensagen und aus ihren eigenen handschriftlichen Notizen gekannt haben wird,13 jedoch die eingeleiteten Maßnahmen gegen die neue Bewegung maßgeblich beeinflusste. Bei R. Elijah oder ›dem Wilnaer Gaon‹ (häufig wird auch nur sein Akronym HaGRA [hebr.: 4’’L68] verwendet: Ha Gaon Rabbi / Rabbenu Elijahu), kann angesetzt werden, um das mitnagdische Wesen, welches den sich gerade etablierenden Chassidim so zu schaffen machte und sie zeitweilig sogar zurückzudrängen / zu beherrschen vermochte, zu verstehen: Der Gaon war »among the host of talmudical scholars in whom Vilna so richly abounded in the seventeenth and eighteenth centuries the greatest luminary […]. Among so many religious leaders of the period, whose erudition and authority had earned them the title of Gaon, or ›Eminence,‹ he was the Gaon par excellence. In range of knowledge, profundity of learning, intellectual grasp and originality of research, he towered not only above all his contemporaries but also above all rabbinic scholars of five centuries before him; and he has not been surpassed or even approached since. He was a remarkable

10 Vgl. Art. Mitnaggedim, in: EnJ, CD-ROM Edition; hier wird auch die spätere Verwendung des Begriffes für eine eigene Richtung – vor allem im litauischen Bereich – aufgezeigt. 11 Mordecai L. Wilensky, Hasidic-Mitnaggedic Polemics in the Jewish Communities of Eastern Europe: The Hostile Phase, in: Gershon David Hundert (Hg.), Essential Papers On Hasidism. Origins to Present, New york 1991, 244 – 271; hier : 244. 12 Das Bild der ›drei Wellen‹, in denen die Polemiken gegen die Chassidim von Wilna her über deren Köpfen zusammenschlugen, prägte Dubnow, Geschichte; vgl. hier das 3. Kapitel. 13 Vgl. Schochet, Hasidic Movement, 8.

Die Gegner der Chassidim: Mitnaggedim und Maskilim

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phenomenon, intellectually and spiritually […] based […] upon his unchallenged supremacy as an exponent of the Tora and the Talmud.«14

Dieser Anführer nun, auch wenn er als Einzelphänomen oder »Wunder« bezeichnet wird, repräsentiert das orthodoxe, rabbinische ›Establishment‹, gegen das sich die Chassidim durchsetzen wollten. Auch wenn der Gaon, was zu seiner Zeit und in seinem Umfeld nicht eben üblich war, über weit gefächerte Interessen und Fähigkeiten verfügte, die sich von Geschichte und Geografie über Mathematik, Astronomie und Anatomie bis hin zur Pädagogik erstreckten15, so war doch sein Hauptgebiet und Lebensinhalt Talmud-Tora. Gesegnet mit einem phänomenalen Gedächtnis16 etablierte er sich bereits in jungen Jahren zu einer unbestrittenen Anlaufstelle für Fragen und Unklarheiten betreffend die religiösen Gesetze für alle jüdischen Gemeinden in Ost- und Mitteleuropa17. Trotz seiner Bemühungen, das über Jahrhunderte entwickelte System des ›Pilpul‹ durch eine neue Methode zur Exegese beider Talmudim, die weniger auf der traditionellen Dialektik als vielmehr auf philologogischen Erkenntnissen fußte, zu ersetzen, ist er als »treuerer Repräsentant des Rabbinischen Judentums« anzusehen »als die großen Theologen des Mittelalters«18. Unbeeindruckt von jedweder Prägung durch die Jeschivah bestand R. Elijah »upon the punctilious observance of the minutiae of all rabbinical laws and regulations, and even in cases where the Shulhan Aruk was more lenient than the Talmud he insisted upon the superior authority of the latter.«19

Allem, was diesem autoritären Regulativ der Talmudim widersprach, versuchte nun das orthodoxe aschkenasische Judentum Litauens, namentlich Wilnas, entgegen zu gehen. Die »eifrige und autoritäre Leitung«20 der ›Mitnaggedim‹ gegen den »Aussatz«21 des Chassidismus übernahm hierbei der ›Vilner‹ Gaon. Keinesfalls jedoch soll dies heißen, dass die im Folgenden zu behandelnden Quellen von dem Gaon stammen. Vielmehr ist tatsächlich nur eine Minderheit der Texte mit seiner Unterschrift versehen, obwohl sie häufig an Signaturen nicht mangeln; meist berufen sich die Autoren jedoch auf die Autorität des 14 Israel Cohen, Vilna. Facsimile Edition with an introduction by Esther Hautzig, Philadelphia und Jerusalem 1992 (5752), 211; auf den folgenden Seiten finden sich weitere Informationen über das »Wunderkind« und seine Vita; vgl. auch Schochet, Hasidic Movement, 147 ff. 15 Cohen, Vilna, 214. 16 Vgl. ebd., 213. 17 Vgl. ebd., 216. 18 Ebd., 219. 19 Ebd., 223. 20 Ebd., 228. 21 Semir Arizim, #7, 59; vgl. Anm. 76.

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Zentrale chassidische Frömmigkeitsmerkmale aus der Sicht ihrer Gegner

Gaon22. Auch sind nicht alle der Schriften auf seine Initiative hin entstanden, sondern tragen verschiedene Namen. Diese sind jedoch meist von der Prägekraft R. Elijahs maßgeblich beeinflusst, was daran deutlich erkennbar ist, dass sie sich, wo möglich, expressis verbis auf seine Autorität stützen. Alle Autoren etwa der weiter unten beschriebenen Sammlung Semir Arizim in den Blick zu nehmen würde, so es überhaupt möglich ist, den Rahmen dieser Untersuchung sprengen und wäre darüber hinaus auch nicht notwendig, da die Leitlinie der Tradition mit ›dem‹ Gaon aufgezeigt ist. Als eine weitere Quelle wird ein deutschsprachiger Aufsatz von Israel Löbel Beachtung finden. Löbel wurde möglicherweise (seine Lebensdaten sind unbekannt) in Sluzk / Slutsk geboren bzw. verbrachte dort seine Kindheit. Später wurde er Prediger in Mogilew23. Löbel wurde zum Gegner der Chassidim, als sein Bruder Mitglied der »Secte« wurde. Er reiste mit der Erlaubnis eines Anhängers des Wilnaer Gaons und der anderen großen litauischen Gemeinden von 1781 – dem Jahr der ›zweiten Angriffswelle‹ gegen die Chassidim – an durch Polen, um gegen die »Secte« zu predigen, wie er selbst statuiert.24 Ein anderer Mitnagged, von dem zwei Briefe in das Quellenkorpus aufgenommen wurden und der an dieser Stelle noch kurze Erwähnung finden soll, ist Abraham ben David Katzenellenbogen (Anfang des 18. Jahrhunderts – nach 1787). Dieser dem bekannten Geschlecht der Katzenellenbogen entstammende Enkel von Ezekiel Katzenellenbogen (ca. 1670 – 1749), welcher zeitweilig Rabbiner in Altona / Hamburg / Wandsbeck war, lernte bereits 1726 in Wilna das damals gerade 6 Jahre alte Wunderkind Elija ben Salomo Zalman, den späteren Gaon, kennen und unterrichtete diesen einige Monate. 1746 zum Rabbiner von Sluzk berufen, wurde er 1760 Rabbi von Brest-Litowsk.25 Abraham Katzenellenbogen beteiligte sich zum einen an der Veröffentlichung des Cherem von 1781 in Selwa (vgl. 1.3) und formulierte hierzu einen ergänzenden Aufruf26 ; zum anderen führte er eine Disputation mit R. Levi Jizchak von Berdichev (1740 – 1810), einem der wichtigsten chassidischen Charaktere in der Generation nach dem Tod Dov Bärs. Diese Disputation fand scheinbar zunächst 22 So. etwa die meisten der Schreiben von Semir Arizim; vgl. Anm. 76. 23 Esther Liebes, Art. ›Loebel, Israel‹, in Encyclopedia Judaica, CD-ROM Edition. 24 Israel Löbel, Glaubwürdige Nachricht von der in Polen und Lithauen befindlichen Sekte: Chasidim genannt, in: Sulamith, eine Zeitschrift zur Beförderung der Kultur und Humanität unter der jüdischen Nation, 2 (1807), 308 – 333; hier: 317ff; nach Dubnow, Geschichte 2, 172 diskutiert er mit Schne’ur Salman, der in Löbels Aufsatz zu R. Salomon entstellt wird. 25 Zu seinen Lebensdaten vgl. den Eintrag ›Abraham ben David Katzenellenbogen‹, in der gerade bei schwierig zu ermittelnden Personen hilfreichen ›jewishencyclopedia‹: http:// www.jewishencyclopedia.com/view.jsp?artid=135&letter=K#381; Stand: Februar 2008. 26 Vgl. 4’’BKN @9@4 ’5 ,499@F: 7=L=B ,KE=L5 @M 85L ,C6=695@D=J4K A8L54 ’L @M AL;-:9L?, in: Mordecai Wilensky, Hasidim and Mitnaggedim. A study of the controversy between them in the years 1772 – 1815, Jerusalem 1970, 115 – 118.

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mündlich in der östlichen Warschauer Vorstadt Praga statt; später rühmten sich beide, die Argumente des jeweiligen Gegenspielers »in durchschlagender Weise widerlegt zu haben.«27 Während Abraham Katzenellenbogen später die Disputation fortsetzen wollte, weigerte sich jedoch Levi Jizchak und forderte ihn seinerseits auf, den Streit schriftlich auszutragen. Das Schreiben, das Abraham Katzenellenbogen 1784 hierauf an Levi Jizchak richtete, ist uns erhalten geblieben28. In dieser kurzen Vorstellung einzelner Charaktere aus dem mitnaggedischen Lager sind nur einige herausragende Persönlichkeiten aus dem Kreis der Subskribenten der einzelnen später zitierten Quellen aufgeführt. Die meisten der mitnaggedischen Schreiben sind auf Gemeindeebene verfasst worden und stellen somit eher das Werk eines Autorenkollektivs als eines Einzelnen dar, auch wenn u. U. in den Listen der Unterzeichner bekannte Namen genannt werden. Die zweite Gruppe von Autoren, deren Schriften aufgrund ihrer antichassidischen Äußerungen in das Quellenkorpus aufgenommen wurden, entstammen dem der ersten Gruppe sozusagen diametral gegenüber stehenden Lager der Maskilim, der Anhänger der Haskala, der jüdischen Aufklärung. Auch in ihren antichassidischen Äußerungen wird deutlich, dass die Interessen der (deutschen) jüdischen Aufklärung ganz andere waren als die des orthodoxen polnisch-litauischen Judentums. Die Haskala, jene »nachgeholte, späte Aufklärung«, welche »viel in wenig Zeit schaffen« musste und die deshalb mit ihren »verlangten Änderungen in der jüdischen Welt nachgerade revolutionär wirken musste«29, war zwar eine »religionsnahe und religionsfreundliche Aufklärung«30, wollte aber den »Stellenwert der Religion und der Rabbiner im jüdischen Leben« durch Aufklärung und Bildung relativieren31 und demokratisieren – mit dem Ziel der Integration der Juden in die bürgerliche Mehrheitsgesellschaft. Gerade dieses Streben nach Integration einerseits und Demokratisierung des Wissens andererseits – überhaupt auch die Pluralisierung der Wissensbestände, von der Begrenzung auf Talmud-Tora weg, hin zu »säkularem« Wissen – markieren den Ausgangspunkt, von dem aus die Maskilim argumentierten. Dass diese Anliegen mit denen des traditionellen Milieus der Mitnaggedim wenige Überschneidungen aufwiesen, ist nachvollziehbar. Dass sie dem chassidischen Wesen regelrecht unversöhnlich 27 Dubnow, Geschichte, 245. 28 Vgl. »(7’’BKN) 5Mü=7L5B K;J= =9@ ’L@ C6=95D@D=JK A8L54 ’L @M 9NL6=4«, in: Wilensky, Hasidim and Mitnaggedim, 123 – 131; die Antwort Levi Jitzchaks ist, so es je überhaupt eine gab, leider nicht erhalten. 29 Christoph Schulte, Die jüdische Aufklärung. Philosophie, Religion, Geschichte, München 2002, 18 f. 30 Ebd., 43. 31 Vgl. ebd.

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entgegenstanden, ist umso offensichtlicher. Und so sind ihre Äußerungen über die Juden der ›Wälder Litauens‹ – ob Chassidim oder Mitnaggedim, spielt hierbei keine Rolle – auch entsprechend abfällig. Von Seiten der Haskala wird im Folgenden der Blickwinkel zweier Maskilim auf die Chassidim und ihre Bräuche untersucht werden, die vermutlich in etwa Zeitgenossen waren. Über das Leben Salomon Maimons, oder, wie sein eigentlicher Name lautete, Salomo ben Jehoschua, wissen wir auf den ersten Blick recht viel. Bei genauerem Hinsehen jedoch zeigt sich, dass das Wissen über sein Leben, welches allgemein bekannt ist, zu weiten Teilen seiner eigenen Autobiografie entstammt. Darüber hinaus sind nur noch einige wenige Äußerungen über die Vita des erst spät zur deutschen Haskala stoßenden in verschiedenen Briefwechseln, etwa zwischen Immanuel Kant, seinem Freund Markus Herz und Salomon Maimon selbst32, erhalten, außerdem noch eine nur mäßig seriöse Biografie von dem mutmaßlichen Freund Maimons, Sabattia Wolff, welche wiederum zur Hälfte lediglich Maimons eigene autobiografische ›Lebensgeschichte‹ exzerpiert und nur einige hierüber hinaus reichende ›Rhapsodien‹ aus seinem Privatleben anführt33. Maimon, der später von Kant und Mendelssohn für seine bemerkenswerten Aufsätze wissenschaftlich geadelt werden sollte34, wurde vermutlich im Jahr 1753 als Sohn eines Gelehrten, der den väterlichen Hof übernommen hatte und später verschiedene Rabbinerstellen ausfüllte, und einer »sehr lebhafte[n], zu allen Geschäften aufgelegten Frau«35 in Sukoviburg nahe der Stadt Mirz in polnisch-

32 Vgl. etwa die Briefe ## 197, 198, 204, 205, 207 zwischen April und Juni 1789, in: Ernst Cassirer (Hg.), Briefe von und an Kant. Erster Teil: 1749 – 1789, Berlin 1922. 33 Sabattia Joseph Wolff, Maimoniana. Oder Rhapsodien zur Charakteristik Salomon Maimon’s. Aus seinem Privatleben gesammelt von Sabattia Joseph Wolff, Berlin 1813. Angeblich lernte Wolff viel über Maimon aus Maimons Munde selbst, aber auch viel durch dessen Verhalten; darüber hinaus ist noch »nöthig zu bemerken, daß ich dabei auch nicht das Mindeste zu affectiren beabsichtige«. Tatsächlich versucht Wolff, nicht nur seine Bewunderung für Maimon auszudrücken, sondern lässt auch ahnen, dass Maimon ein nicht eben einfacher Charakter gewesen sein wird. 34 Kant etwa schreibt am 26. Mai 1789 über das Manuskript, das ihm Markus Herz im Auftrag Salomon Maimons zusandte: »[…] Ich war schon halb entschlossen, das Mskrpt. sofort, mit der erwähnten ganz gegründeten Entschuldigung [Kant mangelte es an Zeit], zurückzuschicken; allein ein Blick, den ich darauf warf, gab mir bald die Vorzüglichkeit desselben zu erkennen und, daß nicht allein niemand von meinen Gegnern mich und die Hauptfrage so wohl verstanden, sondern nur wenige zu dergleichen tiefen Untersuchungen so viel Scharfsinn zu besitzen möchten, als Herr MAIMON, und dieses bewog mich, seine Schrift bis zu einigen Augenblicken der Muße zurückzulegen […].«; Cassirer, #205. 35 Salomon Maimon, Salomon Maimon’s Lebensgeschichte. Von ihm selbst geschrieben und herausgegeben von K. P. Moritz, Berlin 1792, 25; in: Valerio Verra (Hg.), Salomon Maimon Gesammelte Werke. Band 1, Hildesheim 1965; aus dieser Ausgabe wird im Folgenden zitiert.

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Litauen geboren.36 Schon früh wurde er durch seinen Vater an die Tora herangeführt, die er mitsamt der rabbinischen Kommentare bearbeitete; nur unwesentlich später studierte er auch Talmud, zwischen seinem 7. und 10 Lebensjahr bei einem Lehrer in Mirz37; in seiner Lebensgeschichte erinnert er sich etwa 20 Jahre später an die Brutalität und Beschränktheit des polnisch-jüdischen Erziehungssystems. Nicht zuletzt deshalb – neben seinem nach eigenem Bekunden schon früh erwachten Interesse an ›säkularem‹ Wissen – hat das Thema Bildung ihn sein Leben lang begleitet. Schon sehr früh wurde Salomon als »talmudisches Wunderkind« gehandelt und als solches auch erfolgreich von verschiedenen rabbinischen Würdenträgern getestet, unter anderem von R. Raphael Kohen, einem litauischen Talmudgelehrten, der später zum Gegner der Haskala im Allgemeinen und Maimons im Besonderen avancierte.38 Gerade dieses Zeugnis spricht dafür, dass einer Karriere als A?;-7=B@N, als Thora-Gelehrter, an sich nichts im Wege gestanden hätte. Auch wurde Maimon traditionell mit elf Jahren mit einem nur unwesentlich älteren Mädchen verheiratet und zog – gezwungenermaßen – zu seiner Frau und seiner Schwiegermutter, um mit dieser einen erbarmungslosen Krieg zu beginnen39. In den folgenden Jahren versuchte er, seiner Familie durch die Übernahme verschiedener Hauslehrerstellen in der Umgebung von Mirz den Unterhalt zu ermöglichen. Nach einer Episode am chassidischen Hof von R. Dov Bär in Meseritz (Miedzyrzez), über deren Dauer er sich ausschweigt40, verließ er Frau und Sohn und zog weiter nach Westen, u. a. weil er seine »Lieblingeneigung [!] zum Studium der Wissenschaften« in seinem Wohnort nicht genug befriedigen konnte41 und gelangte »mit einem ziemlich starken Barte, in zerrissener schmutziger Kleidung« und mit einer »hebräischen, jüdischdeutschen, polnischen und russischen Sprache«42 nach Königsberg, um dort zum ersten, keineswegs jedoch letzten Mal mit Mitgliedern des aufgeklärten, westeuropäi36 Abraham P. Socher, The Radical Enlightenment of Solomon Maimon. Judaism, Heresy, and Philosophy, Stanford 2006, 21. 37 Vgl. hierzu Maimon, Lebensgeschichte, die Kapitel 3 und 4. 38 Vgl. Socher, Radical Enlightenment, 24 f. 39 Vgl. das »eilfte« Kapitel mit der sprechenden Überschrift »Meine Verheirathung im eilften Jahre macht mich zum Sklaven meiner Frau, und verschafft mir Prügel von meiner Schwiegermutter. Ein Geist mit Fleisch und Blut«, Maimon, Lebensgeschichte, 99 ff. 40 Tatsächlich kann über die Dauer seines Aufenthaltes nur spekuliert werden: In seinem 19. Kapitel der Lebensgeschichte, das im Folgenden den Kern des Interesses bilden wird, »Maimon depicts himself as a briefly curious outside observer of the movement, but his experience as a disaffeted young man on a selfdescribed ›pilgrimage‹ to the court of Rabbi Dov Baer, the Maggid of Mezeritch, at the age of 18 or 19, may have been longer and more typical than he later wished to acknowledge.«, Socher, Radical Enlightenment, 29. 41 Maimon, Lebensgeschichte, 259. 42 Maimon, Lebensgeschichte, 262.

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schen Judentums zusammenzutreffen. Später reiste er weiter nach Berlin, traf mit Moses Mendelssohn43 zusammen, korrespondierte mit Imanuel Kant und anderen Großen der Aufklärung – und konnte doch nicht Fuß fassen als Mann, der die besten Jahre seines Lebens »in den littauischen Wäldern, entblößt von jedem Hülfsmittel zur Erkenntnis der Wahrheit«44 verbringen musste – offensichtlich repräsentiert diese ständig wiederkehrende Figur, wohl als eine etwas eigene Form einer captatio benevolentiae zu verstehen, das Lebensgefühl Maimons, der sich von der polnisch-jüdisch-aschkenasischen Tradition zwar löste45 und der Aufklärung zuwandte, seinen Wurzeln aber immer mit einer Art HassLiebe verbunden blieb und in Deutschland nie ganz ankam.46 Trotz seines »Hauptzweck[s], die Wahrheit zu erreichen«47, trotz seines »Genie[s], seines Scharfsinn[s] und Fleiß[es]« blieb er letztlich immer »einer der rohesten polnischen Juden«, als der er von Markus Herz bei Kant 1789 vorgestellt wurde48, was scheinbar auch seine zeitlebens ungünstige wirtschaftliche Situation49 zu belegen scheint – obwohl es an Möglichkeiten nicht mangelte, war er doch spätestens nach der Veröffentlichung seiner Autobiografie 1792, in der er es natürlich keinesfalls versäumte, an das Lob Kants zu erinnern, einem breiten Publikum bekannt. Mit diesem Jahr jedoch hatte seine Karriere ihren Zenit bereits überschritten. Dies trifft Socher in seiner lapidaren Formulierung: »He was discussed in the salons, Goethe and Schiller corresponded about it [seine Lebensgeschichte], and it virtually invented the subsequent genre of Haskala autobiography. […] Maimon continued to write and publish for another seven years, until his death in 1800 at the age of 47.«50

Keinesfalls darf dies so interpretiert werden, dass Maimon sich nach dem Erfolg seiner Lebensgeschichte völlig in sich zurückgezogen hätte: Nach seinem Tod wurden nicht wenige zur Veröffentlichung bereite Manuskripte gefunden.51 Jedoch, sein Tod mit gerade 47 Jahren auf dem schlesischen Landsitz des Adeligen »Herrn K.« (Adolf Kalkreuth)52, seines letzten Mäzens, geschah weitestgehend 43 Vgl. hierzu etwa Wolff, Maimoniana, 115. 44 Cassirer, #198 [Maimon an Kant am 7. 4. 1789]. 45 Und angeblich sogar mit dem Gedanken spielte, zu konvertieren, wenn Wolff, Maimoniana, 84 Glauben zu schenken ist. 46 Was bereits 1813 angemerkt und mit »aus seinem Privatleben« gesammelten Rhapsodien belegt wurde: vgl. etwa die Episode, die Wolff über den konvertierten Berliner Maler Seliger berichtet, welcher mit seinen ostjüdischen Geigenmelodien Maimon immer wieder zu »Thränen« rührte; Wolff, Maimoniana, 88. 47 Maimon an Kant, Cassirer, #198. 48 Herz an Kant, Cassirer, #197. 49 Vgl. etwa Wolff, Maimoniana, 80. 50 Socher, 3. 51 Vgl. die letzte, unpaginierte Seite in Wolff, Maimoniana. 52 Wolff, Maimoniana, 81.

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von der Öffentlichkeit unbemerkt, zudem ausgeschlossen von der jüdischen Gemeinde, die seinen Leichnam scheinbar ohne Ehren bestattete – bis heute ist unbekannt, wo genau Salomon Maimon begraben liegt.53 Eine weitere Beschreibung des Chassidismus des 18. Jahrhunderts aus maskilischer Sicht erfolgt in einem Aufsatz von Jakob Calmanson oder, wie er sich selbst in diesem Aufsatz einführt, Jacques Calmanson. Über Jakob Calmanson allerdings ist relativ wenig bekannt, selbst seine Lebensdaten sind ungewiss: Vermutlich lebte er zwischen 1722 und 1811. Sein Vater war Rabbiner in Grubeschow (poln. Hrubieszow)54, er entstammt also, wie Maimon, dem traditionell ostjüdischen Kontext. Seine aufklärerischen Ansichten und Zielsetzungen gewann er vermutlich auf seinen Studienreisen nach Deutschland und Frankreich, wo er auch die Fähigkeiten für seine Anstellung als Leibarzt des letzten polnischen Königs, Stanislaw II. August Poniatowski (er regierte von 1764 bis zu seiner Abdankung 1795) sowie die sprachlichen Fähigkeiten für seine beratende Funktion für die preußische Annexionsregierung erworben haben wird. Bekannt wurde er vornehmlich in der Zeit der preußischen Eroberungen (die im eigentlichen Sinne keineswegs nur preußische, sondern ebenso russische sowie österreichische Eroberungen waren), aus der auch der zu behandelnde Aufsatz stammt. Die hierin formulierten aufklärerischen Ideen zur Verbesserung der Lage der jüdischen Bevölkerung fanden zum Teil Aufnahme im Judenreglement von 1797. Andere größere Werke sind von ihm nicht überliefert.55 Mit dieser ersten Annäherung an die zweifache Gegnerschaft wurde, ausgehend von knappen biografischen Skizzen der Autoren, deutlich, dass diese Autoren der ausgewählten antichassidischen Texte, die im folgenden Abschnitt genauer in Augenschein genommen werden sollen, keineswegs von demselben Ausgangspunkt aus ihre Beobachtungen über die Chassidim formulierten und ihre Urteile fällten. Stattdessen unterscheiden sich Interessen und Zielsetzungen von Mitnaggedim und Maskilim z. T. erheblich voneinander, wenn sie die chassidischen Frevler ins Visier nehmen: Zwar kamen Mitnaggedim und Maskilim gleichermaßen von der aschkenasisch-jüdischen Tradition her und beurteilten die Chassidim nach den hier maßgeblichen Wertmaßstäben, die vor allem in rabbinischer Bildung betanden. Die Maskilim jedoch legten, selbst wenn sie, wie etwa Maimon dem polnisch-litauischen Kontext entstammten und über talmudische Bildung verfügten, ihren (Be-)Wertungen hierüber hinaus

53 Vgl. Socher, 50 f. 54 Vgl. Moshe Landau, Art. ›Calmanson, Jacob‹, in: EnJ, CD-ROM Edition. 55 Die angegebenen Informationen stammen hauptsächlich aus Marcin Wodcinski, Haskalah and Hasidism in the kingdom of Poland. A History of Conflict, Oxford 2005, 27 ff.

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Zentrale chassidische Frömmigkeitsmerkmale aus der Sicht ihrer Gegner

aufklärerische Maßstäbe zugrunde, die sie auf ihren Reisen nach Westeuropa erlangt hatten. Dies schlägt sich auch in der Gattung, im Duktus – und in der Adressierung der Texte nieder :

2.

Die Quellen: ›Plattform‹, Stil und Geschichte der gegnerischen Schriften

Die älteste Quelle, die in den folgenden Abschnitten zitiert wird, um daraus die zentralen Merkmale chassidischer Frömmigkeit – oder zumindest das, was die Gegner als solche ansahen – herauszuarbeiten, ist das im Jahre 1772 veröffentlichte Schreiben A=L9J N95L;9 A=J=LF L=B:56. Semir Arizim weCharbot Zurim (›Vernichtung der Tyrannen und steinerne Schwerter57) lässt sich kaum als ein einheitliches, geschlossenes Werk beschreiben; vielmehr handelt es sich um eine Zusammenstellung von sieben Einzeltexten (:-4 A=5N?), die im Laufe des Jahres 1772 – also dem Todesjahr des Maggids und dem Jahr der ersten polnischen Teilung – in verschiedenen Städten polnisch-Litauens veröffentlicht wurden. Den inhaltlichen Kern des Druckes aber stellt die hier im Druck erschienene Deklaration des 1772 zum ersten58 (aber nicht letzten) Mal über die Chassidim ausgerufenen Cherem (AL;), des großen Bannfluches, dar, nebst den verhängten Sanktionen. Den Anlass für diesen schweren Schritt bot die Ausbreitung der »Sekte« (hier m. W. zum ersten Mal mit der Bezeichnung N? – Sekte) über ihr Ursprungsgebiet Südostpolens hinaus und ihre Etablierung in vielen litauischen Städten: Solange die chassidischen Gruppen sich nur in ihren Ursprungsgebieten – Podolien und der Ukraine – aufgehalten hatten, hatte sich ihnen auch keine organisierte Gegnerschaft entgegengestellt.59 Ausschlaggebend waren nun wohl die Versuche 56 M.W. gibt es zwei moderne Editionen: Zum einen die von Simon Dubnow herausgegebene Sammlung ›Chassidiana. A=7=E;8 N? @F N976DN8 =5N? [Schriftstücke der Gegner über die Sekte der Chassidim], Jerusalem 1961 / 62 [5722]; zum anderen die neuere, kommentierte Edition von Mordecai Wilensky, aus der im Folgenden zitiert wird; vgl. Anm. 47; das Dokument findet sich hier auf den Seiten 37 – 69. 57 Bereits der Titel dieser Schrift bereitet Kopfzerbrechen: Während Dubnow, Geschichte, 247, für das prägnante L=B: die an sich schlüssigere, aber unüblichere Übersetzung ›Vernichtung‹ wählt, entscheidet sich Wilensky, Polemics, 246, für das häufigere, aber inhaltlich m. E. unpassendere ›Gesänge‹. 58 Ob es sich tatsächlich um den ersten Ausruf des Cherem handelt, ist nicht völlig sicher ; unter Umständen erfolgte ein erster Ausstoß bereits 1757; hierfür allerdings gibt es keine seriösen Belege, vgl. Wolf Zeev Rabinowitsch, Lithuanian Hasidism from its Beginnings to the Present Day, London 1970, Chapter 1; hier v. a. 6. 59 Wilensky, Polemics, 244.

Die Quellen: ›Plattform‹, Stil und Geschichte der gegnerischen Schriften

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einiger Chassidim, nicht zuletzt auch in Wilna, jenem oben skizzierten Zentrum der traditionellen Gelehrsamkeit Osteuropas, zunächst im Geheimen (so auch der ständig wiederkehrende Vorwurf), Fuß zu fassen. Vermutlich waren sie von dem Maggid zu diesen missionarischen Versuchen angestiftet worden.60 Die Vorgänge sind im Einzelnen aus dem Schreiben Semir Arizim selbst jedoch schwer nachzuvollziehen – nur eine Rekonstruktion anhand der vor allem über die Schreiben 4 und 9 willkürlich verstreut angeführten Geschehnisse gewährt Einsichten: So lässt sich vermuten, dass gegen Ende des Jahres 1771 in Wilna eine Seuche wütete, die viele Kinder das Leben kostete. Schnell gab es eine Untersuchung, da zwischen dem Strafgericht der Seuche und dem »Gräuel, das in Israel getan wird« (@4LM=5 8NMFD8 85F9N8)61 ein Zusammenhang vermutet wurde: Weil die Gemeinde gegen die Frevler der Sekte und ihre Taten nicht eingeschritten war, wurden »junge Ziegenböcklein von den Hirten weggenommen und starben zu hunderten, entwöhnt von der Milch und entfernt von der Brust« ([…]N94B 9B? 9NB)62. So wurde ein Gericht einberufen, das die Freveltaten der Chassidim en d¦tail untersuchen und sich um angemessene Maßnahmen kümmern sollte; zudem sollte die Bevölkerung aufgeklärt werden über die Vorgänge, damit sich die Bewegung nicht »verbreiten möge über ihren Ursprung hinaus, von ihrer trüben und verdorbenen Quelle, über das ganze Land«63. Schnell stellte man fest, dass das chassidische Konventikel in Wilna in erster Linie von zwei Köpfen maßgeblich angeführt wurde: Zum Einen von R. Chajim, einem Prediger ; vor allem aber von R. Issar, »einem der Großen in ihrer Gesellschaft«64. Während die beiden in der späteren chassidischen Geschichtsschreibung keine weitere Rolle spielen, wird als Drahtzieher im Hintergrund immer wieder Mendel von Minsk65 angeführt, der durchaus eine gewisse Bekanntheit erlangte.66 Neben ihren Frömmigkeitsfreveln, zu denen ich später kommen werde, hatte vor allem Mendel von Minsk zudem den Gaon Elija persönlich beleidigt.67 Für beides nun sollten die Anführer exemplarisch bestraft werden: Die Obersten der Sekte wurden festgenommen und sogleich gab R. Chajim nach, nahm die ihm auferlegte Buße an (er sollte den Gaon persönlich 60 Vgl. ebd.; in den Quellen jedoch taucht der Name Dov Bärs, des Maggids, an keiner Stelle auf, nicht einmal der Sitz seines Hofes wird angeführt. 61 Semir Arizim, #4, 37. 62 Ebd., 41. 63 Ebd., #4, 42. 64 Ebd., 43. 65 Ebd. 66 Höchstwahrscheinlich handelt es sich um Menahem Mendel von Vitebsk, 1730 – 1788; vgl. zu ihm o. N., Art. Menahem Mendel of Vitebsk, in: Tzevi M. Rabinowicz (Hg.), The Encyclopedia of Hasidism, Northvale 1996, 310. 67 So soll Mendel von Minsk über den Gaon gesagt haben, dieser »sei Lüge, seine Weisung sei Lüge und sein Glaube sei Lüge«; Semir Arizim, #9, 65.

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Zentrale chassidische Frömmigkeitsmerkmale aus der Sicht ihrer Gegner

um Verzeihung bitten und für seine Frevel in Anwesenheit eines Minjan Buße tun) und akzeptierte »den Ausstoß für sich selbst«68 ; auch R. Issar musste öffentlich widerrufen und wurde eine Woche im Regierungsgefängnis, der »Festung« (LJB5 4@?8 N=5)69 eingekerkert. Zudem musste er eine Prügelstrafe über sich ergehen lassen – die der Gaon, der mit den Frevlern gerne so verfahren wäre wie der Prophet Elias mit den Baals-Propheten70, noch als zu milde ansah. Nach diesen Verurteilungen und dem Ausschluss der Chassidim aus dem Hause Israels durch den Cherem war »sofort Schluss mit Scheidung und der Verbreitung des Karliner Minjans, und sofort lösten sie sich von der Hand des Minjans«71. Das hier mit finaler Geltung von mitnaggedischer Seite erklärte Ende der Sekte (»es war kein Chassid mehr hier, nur in Antikli«72) muss natürlich relativiert werden, das zeigt die Geschichte des Chassidismus – beispielsweise aber ist auch ein Brief »von der Gemeinde Wilna an die Gemeinde Brody betreffend die Verbrennung des Heftes Semir Arizim usw.« von 1773 Zeugnis dafür, dass die Chassidim keinesfalls sofort ihre Gemeinschaft auflösten: »In diesem Schreiben loben die Vorsteher von Wilna die Obersten der Gemeinde Brody wegen des Druckes des Heftes ›Semir Arizim we Charboth Zurim‹. Dieses Heft, das in Alexnitz, welches nahe bei Brody liegt, im Jahre 1772 gedruckt wurde, erregte den Zorn der Chassidim und sie bemühten sich, es zu vernichten. Aus diesem Brief erfahren wir, dass die Chassidim von Grodno das Heft verbrannt haben.«73 Jedoch wurde »der Seuche« des Chassidismus wohl tatsächlich zumindest für einige Zeit wirksam Einhalt geboten. Zusammen mit diesem Gerichtsurteil wurden Schreiben an die wichtigsten Gemeinden Litauens und Weißrusslands versandt, durch die die adressierten Gemeinden aufgefordert wurden, es der Wilnaer Gemeinde gleichzutun und die Chassidim aus den Gemeinden auszustoßen. Anbei wurden weitere Informationen über die gerichtliche Untersuchung in Wilna einerseits und die Ergebnisse andererseits mitgeliefert.74 Soweit zu den Vorgängen des Jahres 1772. Der schmale Band Semir Arizim weCharboth Zurim wurde gegen Ende des Jahres 1772 auf der Basis dieser verschiedenartigen Schriftstücke, die hier von 4 bis : durchnummeriert sind, in der Gemeinde Alexniz / Oleksiniec (I=DEKF@475) – 68 69 70 71 72 73

Ebd. Ebd., 66. Zitiert in Dubnow, Geschichte, 190. Ebd., 65. Ein Vorort Wilnas, ebd., 66. Wilensky, Hasidim and Mitnaggedim, J’’;9FB: ELüD9K8 NH=LM L575 =79L5 @8K@ 4D@=9 @8KB NL6=4, hier aus dem Vorwort [495B], 70. 74 Vgl. etwa den auf Jiddisch verfassten Aufruf 5 (44ff); zudem die Anschreiben 8 (62ff) und 9 (64ff). 75 Semir Arizim, 36; zum Thema Transkription von hebräischen Ortsnamen vgl. Kap. I, Anmerkungen zur Schreibweise von Orten, Namen etc.

Die Quellen: ›Plattform‹, Stil und Geschichte der gegnerischen Schriften

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welches sehr weit im Süden liegt, beinahe schon zu Wolhynien und Galizien zu zählen ist – anonym zusammengestellt und besteht zum einen aus dem großen Bannfluch aus Wilna, der in 4 5N? erstmals genannt wird und der in der Proklamation 5 5N? auf Jiddisch nochmals ausführlich dargelegt wird, zudem in einem »in gereimter Prosa« abgefassten Schreiben (6 5N?), einem Sendbrief aus Wilna an die Gemeinde Brest, der auch diese heilige Gemeinde dazu aufruft, sich dem Wilnaer Bann anzuschließen (7 5N?) – dieses Schreiben ist als eines der wenigen sogar (u. a.) vom Gaon R. Elija unterzeichnet76 – und zwei an die anderen litauischen Gemeinden versandten Rundschreiben, die die Ergebnisse der Wilnaer Untersuchung nochmals zusammenfassen und auch ihre verhängten Strafen verkünden (9 ,8 A=5N?). Bei dem letzten angefügten Textstück : handelt es sich um Verordnungen, die in der kleinen Gemeinde Lesznow / Brody verabschiedet wurden, um eine Handhabe gegen die scheinbar auch im Bezirk Brody unerwünschten Chassidim zu haben.77 Der Duktus der Streitschrift ist enorm polemisch gehalten, was die oben angeführten Zitate nicht einmal ansatzweise zu illustrieren vermögen. Es bedeutet einen nicht unerheblichen Aufwand, hier die Spreu vom Weizen zu trennen und die interessanten Beschreibungen der chassidischen »Gräueltaten« von den vielen relativ inhaltsleeren Schmähungen zu scheiden. Hierbei zeigen sich wiederum die Send- und Rundschreiben aus Wilna als besonders schwierig, während beispielsweise die Verordnungen der letztangeführten Schrift wesentlich leichter als Antwort der (noch) mächtigeren mitnaggedischen Mehrheitsgemeinde auf jene Frevel der Chassidim zu verstehen sind – zumal die einzelnen Verbote, die genannt werden, sehr konkret formuliert sind. Alles in allem handelt es sich bei dieser ersten Streitschrift gegen die chassidische Bewegung also um eine Antwort auf eine konkrete causa, nämlich das zunächst erfolgreiche Eindringen chassidischer Prediger – R. Chajim und R. Issar – in Wilna, aber vermutlich, das lassen die Rundschreiben und die erlassenen Sanktionen ahnen, ebenso in anderen litauischen und weißrussischen Gemeinden. Einen ebenso konkreten Anlass haben die anderen mitnagedischen Schriften, auf die im Folgenden zurück gegriffen wird: 1780 / 81 erschien das erste chassidische Buch im Druck, die 8L9N8 @F GE9= 5KF= N97@9N. Wie der Name bereits verrät handelt es sich bei Toldot Ja’akov Joseph al haTora des Jakob Josef um eine an den Paraschiot orientierte Homiliensammlung. Jedoch, mit den Worten Dubnows, handelt es sich auch bei dem ersten chassidischen Buch um die »Antwort des Chassidismus auf die Verfolgungen von 1772«78, welches »mit 76 Vgl. Semir Arizim, #7, 61: 88’’@: ’M ’9B5 ’=@4 und entsprechend Anm. 41. 77 Vgl. zu dieser kurzen formalen Beschreibung Dubnow, Geschichte, 321. 78 Dubnow, Geschichte, 224. Vgl. zu Toldot Ja’akov Joseph ausführlicher in Kap. III.

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seiner scharfen Sprache« einen »gewaltigen Eindruck« machte79 , kurzum, Jakob Josef hielt sich mit seiner Kritik gegen die Rabbiner nicht eben bedeckt und sorgte damit für große Empörung, die sich in den von 1781 an entstehenden mitnaggedischen Schriften entlud und die eine ähnlich große Welle schlugen wie jene Ereignisse, auf die Semir Arizim neun Jahre zuvor Bezug nahm. Während damals jedoch die Untersuchungen der eifernden Mitnaggedim lediglich vereinzelt Manuskriptteile (so ist in Semir Arizim nur die Rede von nicht weiter bestimmten 7= A=5N?, ›Handschriften‹) ans Tageslicht brachten, die zudem von den Chassidim nur im Geheimen gehandelt worden waren, »kam indessen die Seuche erneut zum Ausbruch und breitete sich mit noch stärkerer Kraft in allen […] Ländern der Zerstreuung aus«80 – nunmehr jedoch mithilfe eines regelrechten Manifestes. Kurzentschlossen berief die Wilnaer Gemeindeleitung eine Versammlung ein und entschied, die – offensichtlich doch immer noch auch in Wilna vertretenen – Chassidim erneut in den Bann zu stellen. Bereits am 20. Av 1781 rief man in der Wilnaer Hauptsynagoge und einigen anderen Synagogen den Cherem aus. Das Schreiben, das verlesen wurde, enthält wie die Proklamation neun Jahre früher neben dem Bannfluch in aller Form81 auch die hier interessierenden Schilderungen, für welche Gräueltaten die Strafe erfolgte. Darüber hinaus allerdings wurden die Bannflüche, die bis dahin inhaltlich eher allgemein gehalten waren – die Rede war im höchsten Fall von den Chassidim –, verschärft, indem nun auch alle ›Kollaborateure‹ ausgeschlossen wurden: »Da nun die Sektierer in Acht und Bann getan und aus der Gemeinde Israels ausgesondert und ausgeschlossen sind, ist es selbstverständliche Pflicht, keinen Umgang mit ihnen zu pflegen und sich auch in keine Unterhaltung mit ihnen einzulassen. […] Eine weitere Folge der Exkommunikation ist, dass es allen hiesigen Einwohnern […] verwehrt ist, den Sektierern Wohnungen zu vermieten. Wer aber diese Vorschrift übertreten wird, soll selbst der Acht und dem Bann verfallen, und alle Flüche und Verwünschungen mögen über sein Haupt kommen.«82

Abgesehen von einigen polemischen Entgleisungen ist der in jiddischer Mundart verlesene Cherem – im Verhältnis zu Semir Arizim – ungewöhnlich sachlich 79 Ebd., 226; vgl. hier und v. a. in der ersten Anmerkung auch die Vermutung Dubnows, dass die wirklich brisanten Stellen erst nach dem Cherem von 1772 durch den Autor Ja’akov Joseph in sein bis dahin nur in Manuskriptform vorliegendes Buch eingefügt worden seien. 80 Ebd., 229, zitiert Dubnow aus dem 4D@=9 AL;, vgl. Wilensky, Hasidim and Mitnaggedim, 103. 81 »[…] zu welchem Zwecke sie [die Gemeindeoberhäupter] den erwähnten großen Cherem erneuert haben, nämlich den des Josua ben Nun sowie den, der im Formelbuch enthalten ist. Auch mögen allerorten die Sonderbünde […] von allen Flüchen und Verwünschungen getroffen werden, die im Leviticus und im Deuteronomium aufgezählt sind.« 4D@=9 AL;, übersetzt in Dubnow, Geschichte, 230. 82 Ebd., 231.

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gehalten. Es knüpft inhaltlich an den letzten Cherem an (»Allen ist der große Cherem bekannt, der in unseren Gemeindesynagogen gegen alle diejenigen, die sich selbst den Namen Chassidim beigelegt haben[…]«83), erneuert ihn und dehnt ihn aus auf diejenigen, die die Chassidim unterstützten.84 Nachdem der Cherem in Wilna verkündet worden war, bemühten sich die Wilnaer Oberen, die »Sekte der Verführer und Verlocker« auch andernorts in Litauen bekannt zu machen und die dortigen Gemeinden dazu zu überzeugen, sich dem Wilnaer Bann anzuschließen und die chassidischen Konventikel zu bekämpfen. Hierzu versah man zwei nicht weiter bezeichnete Vertreter, R. David und R. Josua Seliq, mit einem Aufruf, der neben vielen anderen auch die Unterschrift des Gaon trägt. Mit diesem Schreiben, betitelt in der von Wilensky edierten Version schlicht und einfach mit 4D@=99 @8K @M 4L9K-@9K (Aufruf der Gemeinde Wilna)85, ausgerüstet, bereisten R. David und R. Josua Seliq die Hauptgemeinden Litauens, um auch diese gegen die Chassidim einzunehmen und die Gemeinden über die Frevler und ihre Taten ›aufzuklären‹. Unnachahmlich schildert Dubnow die Geschehnisse, die hierauf folgten, als sei er dabei gewesen: »Mit dieser Proklamation ausgerüstet, auf der neben den Namen der bedeutendsten Wilnaer Rabbiner auch der des Gaon prangte, begaben sich die zwei Sendboten auf den Weg, und schon zwei Wochen später hallte ganz Litauen von dem durch sie erweckten Kampfruf wider. Die Sendboten konnten darauf verzichten, die bedeutendsten litauischen Gemeinden der Reihe nach zu besuchen, da die Rabbiner und weltlichen Oberhäupter der vier Hauptgemeinden Brest, Grodno, Pinsk und Sluzk gerade damals anlässlich des Jahrmarktes zu Selwa in dieser im Bezirk Grodno gelegenen Stadt zusammengekommen waren. […] der Chassidismus war inzwischen für das ganze Land zu einer so aktuellen Frage geworden, dass die nunmehr in Selwa versammelten Gemeindevertreter einstimmig beschlossen, die leidige Angelegenheit ohne Aufschub auf die Tagesordnung zu setzen. […] Jede der Hauptgemeinden hatte mit der Sektiererplage schon seit langem im eigenen Bereich zu tun […].«86

Die Versammlung in Selwa entschied sich dafür, sich dem Wilnaer Bann anzuschließen und dies ohne Umschweife öffentlich zu verkünden. Darüber hinaus sollten die jeweiligen Gemeinden, deren Vertreter in Selwa allesamt anwesend 83 4D@=9 AL;, zitiert in Dubnow, Geschichte, 229. 84 Der jiddische Text des 4D@=9 AL; vom 20. Menachem-Av ist ediert in Wilensky, Hasidim and Mitnaggedim, 102ff; Dubnow bietet eine beinahe vollständige Übersetzung, die lediglich auf einige der inhaltlich zu vernachlässigbaren Lobpreisformeln verzichtet; vgl. Dubnow, Geschichte, 229 ff. 85 Der hebräische Text wurde in die Edition Wilenskys aufgenommen; vgl. Wilensky, Hasidim and Mitnaggedim, 106ff (vgl. aber auch das Vorwort 105 f); eine umfangreiche Übersetzung bietet wiederum Dubnow, Geschichte, 232 ff. 86 Dubnow, Geschichte, 235 f.

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waren, entsprechende Aufrufe erhalten. Diese Rundschreiben87 – das erste wurde in den Bezirk Grodno, zu dem auch Selwa gehörte, verschickt – sind in Stil und Inhalt eine Mischung aus polemischen Schilderungen der »Gräueltaten« (N95F9N), Lobpreisausschüttungen über die heiligen Männer, die dagegen mit dem oben genannten Schreiben eingeschritten waren (»ein Schreiben, das von den Fürsten der heiligen Gemeinde Wilna und deren Geonim, den Leuchten der Diaspora, vom weisen und wahren Gaon, unserem frommen und göttlichen Meister Elia, sein Licht möge leuchten[…]«88) und Maßnahmen und Verboten gegen die Sekte. Sie zeigen, dass auch im Laufe der vergangenen neun Jahre sich die Vorwürfe kaum verändert, sondern im besten Fall verlagert haben. Wie gesagt handelt es sich bei den genannten Schreiben um Sendschreiben bzw. Rundbriefe. Über ihre Tradition scheint es bisher keine detaillierten Untersuchungen zu geben, Dubnow widmet dieser Frage in seiner Geschichte des Chassidismus in der dritten Beilage (»Dokumente zum Religionsstreit«) leider nur einige wenige Zeilen, um zu bemerken, dass ihm die genannten Sendschreiben neben weiteren Quellen zum Religionsstreit der Zeit zwischen 1772 und 1796 in erster Linie durch zwei handschriftliche Sammlungen übermittelt wurden: So nennt er die »handschriftliche Aktensammlung« A=@=E? N95M;B, wiederum also eine Sammlung mit einem polemisierenden Titel (Gedanken der Narren); hier sind elf Dokumente enthalten, unter ihnen das bis hierher noch nicht angeführte Schreiben des R. Abraham Katzenellenbogen an den Zaddik Levi Jizchak von Zelechow, welches die schriftliche Fortsetzung des wohl um 1781 mündlich begonnenen Disputes zwischen dem Mitnaged Katzenellenbogen und dem Zaddik Levi Jizchak darstellt.89 Die Narrengedanken wurden, den Angaben Dubnows zufolge, erst im Jahre 1860 wohl von einer älteren Sammlung – oder den einzelnen Schriftstücken – abgeschrieben.90 Die zweite Sammlung, der wir verschiedene Dokumente über den Religionsstreit verdanken, A=FM9H L5M, (etwa Zerstörung / Zerschmetterung der Frevler91), beginnt, anders als die Narrengedanken, bereits bei dem Religionsstreit 87 Vgl. 4’’BKN @9@4 M7; M4L ,499@F: 7=L=5 :L?98M 4D79L6 @8K AL;-:9L?, 112 f; ,4’’BKN @9@4 ’6 ,499@F: 7=L=B KED=H @8K AL;-:9L;, 114 f; 4’’BKN @9@4 ’5 ,499@F : 7=L=B ,KE=L5 @M 85L ,C6=95@D=J4K A8L54 ’L @M AL ;-:9L ?, 115ff, in: Wilensky, Hasidim and Mitnaggedim; das erst- und das letztgenannte Schreiben finden sich in weiten Teilen übersetzt in Dubnow, Geschichte, 237 ff. 88 […] 4D@=99 K’’K7 A=D:9L8B A=K=7J D9M@ L;5D 5N? 9=D=F 84LB@ 8=8 A9=8, Wilensky, Hasidim and Mitnaggedim, 112. 89 Vgl. Dubnow, Geschichte, 322 f; zu R. Katzenellenbogen vgl. oben, II.1.2; der genannte Brief an Lvi Jitzchak von Zelechov findet sich bei Wilensky, Hasidim and Mitnaggedim: 5Mü=7L5B K;J= =9@ ’L@ 96=95D@D=J4K A8L54 ’L @M 9NL6=4, 122ff; vgl. auch die teilweise Übersetzung bei Dubnow, Geschichte, 246 ff. 90 Zu allen Angaben vgl. Dubnow, Geschichte, 322 f. 91 Dieser Titel wird in William Zeitlin, Bibliotheca Hebraica Post-Mendelssohniana. Bi-

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der frühen 70er Jahre und datiert bis in die späten 90er, hierunter beispielsweise das oben genannte Schreiben über die Maßnahmen der Gemeinde Brody oder Protokolle von Zeugenaussagen, die im Rahmen von Untersuchungen im Jahre 1774 auf jiddisch angefertigt wurden und die später noch genauer untersucht werden sollen.92 Die wichtigsten der Schriften sind in der Edition von Wilensky enthalten. Zu der Gruppe der genannten mitnaggedischen Schriften kommt noch eine weitere Quelle hinzu, deren äußere Form von den bisher vorgestellten nicht eben unerheblich differiert, obwohl sich ihr polemischer Duktus stilistisch nicht sonderlich von jenen unterscheidet: Bei dem Textstück Glaubwürdige Nachricht von der in Polen und Lithauen befindlichen Sekte: Chasidim genannt, handelt es sich, anders als bei den bisher zitierten Quellen, um einen in deutscher Sprache veröffentlichten Aufsatz, der zudem in der vorliegenden Form in der Zeitschrift Sulamith, eine Zeitschrift zur Beförderung der Kultur und Humanität unter der jüdischen Nation veröffentlicht wurde, also einer gänzlich anderen Quellengattung zuzurechnen ist als die beschriebenen Briefe und Sammlungen derselben. Allerdings ergibt sich hier eine interessante Nahtstelle zwischen den beiden antichassidischen Lagern: Die Zeitschrift Sulamith versteht sich als literarisches Organ der Haskala und verfolgt selbst eben deren Ziele – nicht zuletzt die Bildung, Emanzipation und Integration der jüdischen Nation.93 Der Autor der Glaubwürdigen Nachricht, R. Israel Löbel, stammt jedoch m. E. klar aus dem orthodoxen Lager und ist mit seinen Anliegen eher Mitnagged als Maskil: Sein Aufsatz soll zwar aufklären, jedoch nicht im Sinne der Maskilim. Vielmehr argumentiert Löbel gut mitnaggedisch-orthodox und nennt in erster Linie die Religionsfrevel der Chassidim gegen die Gesetze. Jedoch tauchen in der Glaubwürdigen Nachricht darüber hinaus auch maskilische Begriffe und Motive auf – eine große Rolle spielen beispielsweise der Begriff Vernunft, das Verhältnis zu den Naturwissenschaften (explizit: Medizin) oder die Frage nach dem chassidischen Moralsystem. bliographisches Handbuch der neuhebräischen Literatur, Leipzig 21891 – 95,436 aufgeführt als im Druck erschienen unter dem Titel A=FM9H L5M LB4B, Maamar Scheber Poschim, mit der Beschreibung »Streitschrift über die Chassidim, Lemberg, 1869. 88. (32p.)« 92 Vgl. Dubnow, Geschichte, 325 ff. 93 So beschreibt Wolf, einer der beiden Herausgeber der Zeitschrift, im programmatischen Vorwort (»Inhalt, Zweck und Titel dieser Zeitschrift«) des ersten Bandes ganz im Sinne der jüdischen Aufklärer : »Wer gestehet mir nicht gerne ein, dass alle diese Wahrheiten in der Religion enthalten sind? Ja, in ihr liegen alle die wohlthätigen Lehren, die das Glück des Menschen begründen […] Mit linder Warnung und mit ernster Strenge bezeichnet sie uns den Pfad, den wir auf unserer Pilgerschaft zu wandeln haben; wie wir uns nur durch einen reinen und unbefleckten Lebenswandel und durch strenge Sitten zu derjenigen moralischen Höhe emporschwingen können, die der ächten Kultur und wahren Aufklärung nothwendig zur Grundlage dienen muss […]«; in: Sulamith 1 (1806), 7 f.

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Löbel selbst nennt die Beweggründe für das Verfassen des Aufsatzes, der nach eigenen Angaben bereits 1799 einmal veröffentlicht wurde94 : »Ich, der ich damals eine Rabbinerstelle zu Moholyw bekleidete, und um mich und neben mir diese abscheuliche Pest so zu sagen, endemisch werden sah, wäre schon von der Pflicht, die ich hatte, meiner Gemeinde ein Präservativ zu reichen, hinlänglich aufgefordert worden, wenn mich auch nicht noch eine andere und nähere Pflicht besonders dazu bewogen hätte, öffentlich aufzutreten […]; nämlich die pflichtgemäße Liebe zu meinem Bruder, den die heuchlerische Sekte mir raubte. Es war mein einziger Bruder, ein äußerst rechtschaffener und gelehrter Bruder, den sie in ihre Schlinge gezogen hatten.«95

Der polemische Duktus des Aufsatzes lässt sich also auch hier durch die persönliche Involviertheit erklären. Die Glaubwürdige Nachricht lässt sich in fünf Teile gliedern: In einem ersten Abschnitt bietet Löbel einen kurzen Überblick über die Geschichte des Chassidismus, vornehmlich des beschtschen Chassidismus. Hierbei bietet er im Großen und Ganzen beinahe ausschließlich historisch falsche Informationen – beispielsweise setzt er den Beginn des Wirkens des Bescht mit dessen Todesjahr 1760 an, um ihn fünfzehn Jahre später sterben zu lassen.96 Im zweiten Abschnitt befasst sich Löbel mit der chassidischen Literatur und den Dogmen, die er in diesen formuliert gefunden zu haben meint97; auch hier lässt er nicht eben große Sorgfalt walten, was die Chronologie der Ereignisse angeht.98 Der dritte Absatz enthält eine Liste der Männer und ihrer Schriften, die sich gegen die »Frevler« stellten99. Der vierte und fünfte Teil des Aufsatzes beschreibt den Kampf Löbels gegen die Chassidim, namentlich »den famosen Rabbi Salomon Witeyst«, augenscheinlich den Zaddik, dem sich sein Bruder verpflichtet hatte: Zunächst schildert Löbel eine Diskussion zwischen ihm und R. Salomon Witeyst, in welcher er allgemein Rechenschaft verlangt wegen der verbotenen Gründung einer Sekte und schließlich deren Ausrottung fordert – beidem kann selbstverständlich R. Salomon nichts entgegensetzen und wurde »durch dieses freimüthige Gespräch, aus welchem er gegen alle Vermuthung sah, wie sehr mir ihre Intriguen[!] und Kabalen bekannt sind, so aufgebracht, daß, nachdem er trotz aller angestellten Versuche keine Hoffnung mehr hatte, mich auf seine Seite zu 94 Löbel, Nachricht, 308, Anmerkung. 95 Löbel, Nachricht, 317. 96 Vgl. ebd. 308 – 313. Gerade angesichts der vielen historischen Ungenauigkeiten wird das grundsätzliche Problem bei der Arbeit mit polemischen Quellen deutlich: Teils wollen sie nicht korrekt sein, teils können sie es schlichtweg nicht; vielleicht möchte Löbel an dieser Stelle dramatisieren – vielleicht ist er jedoch auch einfach deer chassidischen Geschichtsschreibung aufgesessen. 97 Hier führt er vor allem die »allgemeine Sündenvergebung« für »wirklich begangene« und noch »zu begehende Sünden« und den angeblich gesatzten Separatismus der Sekte an. 98 Vgl. ebd., 313 ff. 99 Vgl. ebd., 316 f.

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bringen, er mir die größte Rache schwur, welche er zum Theile auch ausgeübt hat […].«100

Eben mit dieser Rache, die Löbel laut seinem Bericht erfahren musste, beschäftigt sich der letzte Abschnitt des Aufsatzes: Löbel begann nach diesem Sieg über den Witeyster Zaddik eine ›Informationsreise‹ »in die Gegend […], wo die Sekte am stärksten ist«, um seine Schriften wieder die »Pest« zu verbreiten und, ähnlich R. David und R. Josua Seliq, den Gesandten der Versammlung zu Selwa 1781, um »unschuldige und verwarlosete Sklaven, aus dem Labyrinth des Verderbens in eine gute bürgerliche Freiheit zu versetzen«101 und »diese Menschen noch, ihres Namens und der frommen Larve wegen, welche sie vors Gesicht nahmen […] und sie dort öffentlich ans Licht zu stellen.«102 Dass er von den mittlerweile weit verbreiteten Chassidim auf diesem ›Kreuzzug‹ nicht eben gerne aufgenommen wurde, verwundert nicht. Laut eigenen Bekundens bewirkte Löbel durch seine Tätigkeit 1799 ein Verbot der Zusammenkünfte der Chassidim im russischen und im österreichischen Teil des aufgeteilten ehemaligen polnischen Königreiches.103 Die Tatsache, dass er seine Glaubwürdige Nachricht auf Deutsch veröffentlichte, wird vor allem diesen Adressaten geschuldet sein: Er wollte die deutschsprachigen Behörden involvieren. Auch der Maskil Salomon Maimon möchte mit seiner schlicht und einfach Salomon Maimon’s Lebensgeschichte104 genannten Autobiografie seine Leser »informieren«. Sein Leserkreis erschließt sich indirekt durch zwei Beobachtungen: Zum einen schreibt Maimon, dessen Muttersprache Jiddisch war und der sich als Talmudist bestens in der Heiligen Sprache zurechtfand, seit er nach Westeuropa gelangte, nur noch deutsch. Zum anderen wird dadurch, dass er nicht nur über das ostjüdische Umfeld, dem er entstammte, in allem Umfang informiert, sondern auch das Judentum im Allgemeinen darstellt, deutlich, dass er keineswegs nur für ein (deutsch-) jüdisches Publikum schrieb, sondern auch für ein christliches. Hierbei kam ihm vermutlich zugute, dass er für die Veröffentlichung seiner Autobiografie, »die den leidvollen Weg von ärmsten Verhältnissen zu Wissen, Bildung und Aufklärung beschrieb« in der »damalige[n], 100 101 102 103 104

Ebd., 329. Ebd. Ebd., 330. Ebd., 333. Eine vollständige Ausgabe seiner Autobiografie ist enthalten in Valerio Verra (Hg.), Salomon Maimon. Gesammelte Werke, Band 1, Hildesheim 1965; darüber hinaus gibt es eine neuere Ausgabe, die von Zwi Batscha herausgegeben wurde: Salomon Maimons Lebengeschichte. Von ihm selbst geschrieben und herausgegeben von Karl Philipp Moritz, Frankfurt am Main 1984. Zitate werden im Folgenden aus der Werke-Ausgabe von Valerio Verra angeführt.

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empfindsame[n], gemütsbewegte[n]« Epoche eine »denkbar günstig[e]« Zeit wählte.105 Dies wird ihm, der, wie oben gezeigt, immer in finanziell prekärer Situation lebte, nicht ungelegen gekommen sein, war er doch »bis zum Erscheinen der ›Lebensgeschichte‹ […] nur dem kleinen Kreis der philosophisch Interessierten bekannt.« Jedoch erwies sich »ihr sofortiger Breitenerfolg […] als nur kurzlebig«106. Allerdings war der finanzielle Erfolg auch Maimons eigentliches Ziel nicht: Vielmehr, hier lassen die »spärlichen Quellen« nur Mutmaßungen zu, ist Wahrheitssuche das erklärte Ziel Maimons, wie Batscha subsumiert – und »Wahrheitsliebe das Leitmotiv seiner ›Lebensgeschichte‹«107. Mithin also ein ähnliches Motiv, wie es etwa in den mitnaggedischen Schriften immer wieder auftaucht. Jedoch ist Maimon, anders als die Mitnaggedim, deren Schriften oben vorgestellt wurden, hierbei keiner Tradition verhaftet, sondern verpflichtet sich, in seinen »Erzählungen und Beschreibungen, der Wahrheit, sie mag zum Vortheil oder Nachtheil meiner Person, Familie, Nation oder sonstigen Verhältnisse ausfallen, getreu zu bleiben.«108 Um dieser Wahrheit willen hat er Nation, Vaterland und Familie verlassen und will nach eigenem Bekunden deshalb keinesfalls um »geringfügiger Motive halber, der Wahrheit etwas vergeben«109. Deshalb hielt es Maimon »für Pflicht diese Lebensgeschichte in dieser Rücksicht pragmatisch zu behandeln, und nichts auch an sich geringfügiges, welches aber in Ansehung [s]einer Bildung von Folgen war, wegzulassen.«110 Salomon Maimons Lebensgeschichte dient aber nicht nur seinen Lesern zur Information, sondern auch ihm selbst, wie er in den letzten Zeilen des Vorwortes zum zweiten Teil feststellt, als Rechenschaftsbericht über sein eigenes Leben: »Außerdem soll meine Lebensgeschichte gleichsam mein Inventarium seyn, worinn so wohl, wie viel ich meiner Bestimmung näher gekommen, als dasjenige was noch dazu mangeln möchte, aufs Treuste eingetragen worden und zur Erkenntnis meiner selbst, wie auch zur möglichen Verbesserung dienen.«111

So folgt die auf zwei Bände angewachsene Lebensgeschichte letztlich der Chronologie des Lebens von Maimon: Von der Geschichte seiner Familie (Des Großvaters Oekonomie) über seine Jugendzeit (Erste Jugenderinnerungen), Erinnerungen an Privaterziehung und Selbststudium bis hin zu seinen ersten Anstellungen, seiner Reise nach Deutschland und seinen Erlebnissen in der so anderen Welt rekapituliert er sein zurückliegendes Leben, wobei er immer 105 106 107 108 109 110 111

Batscha, Lebensgeschichte (Nachwort), 337 f. Ebd., 338. Ebd., 339. Lebensgeschichte, 296. Ebd., 299. Ebd., 301. Ebd., 302.

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wieder geschickt informierende Exkurse zu einzelnen Themenbereichen (z. B. über Jüdische Schulen112 ; Kurze Darstellung der jüdischen Religion von ihrem Ursprung bis auf die neuesten Zeiten113 ; vgl. auch die einleitende Analyse der polnischen Gesellschaft114 ; vor allem aber auch seine (wohlgemerkt erste in deutscher Sprache überhaupt!) Darstellung von Kabbala: Ich studiere die Kabbala […]115) einflocht, die für die Berliner Leser zwar vielleicht geografisch nicht allzu fern, dabei aber doch so fremd waren, dass sie auf diese durchaus den Reiz des Exotischen ausüben konnten, was Einfluss gehabt haben wird auf die Verkaufszahlen seiner Lebensgeschichte, welche »was widely read and remarked upon by both his jewish and gentile contemporaries.«116 »His autobiography was even more influential and set the pattern and standard fort the next century. It has been quoted and referred to often in historical studies of the period but rarely interpreted with care.«117 Stilistisch können diese Exkurse durchaus mit Wörterbuchartikeln verglichen werden. Mit anderen Worten: Mit Salomon Maimons Lebensgeschichte liegt ein Zeugnis der Zeit vor, dass auch an dieser Stelle von höchstem Interesse und keineswegs als reine Polemik abzutun ist, wie es auf den ersten Blick scheinen mag: Obwohl Maimon aus der Sicht des westeuropäischen Aufklärers auf seine litauische Vergangenheit, sein Leben in den »Wäldern Lithauens«, zurückblickt, besitzt sein ›Rechenschaftsbericht‹ durchaus einen nicht zu unterschätzenden Quellenwert, der in einer Arbeit zur Frömmigkeit des Chassidismus nicht fehlen darf. Besonders hinsichtlich des in diesem Zusammenhang interessanten 19. Kapitel Auch eine geheime Gesellschaft, und daher ein langes Kapitel liefert Maimon »seinem Leser mehr als einen Augenzeugenbericht, er analysiert diese Bewegung, ihre Aktivitäten und Eigenarten […].«118 Obwohl sich Maimon, die Lebensgeschichte bezeugt es, gegen den Chassidismus und für die Haskala entscheidet, diffamiert er ersten keineswegs, auch wenn es zu einigen ironischen Spitzen kommt: Dies ist der Stil, in dem die ganze Lebensgeschichte gehalten ist – auch die Selbstbeschreibungen Maimons sind durch und durch ironisch, ganz im Stil des Schelmenromans. Hier wird noch einmal deutlich, für welches Publikum Maimon schreibt: Nicht der philosophisch Interessierte, sondern der zur Unterhaltung Lesende ist angesprochen. So ist der Duktus durchweg – also auch in den oben genannten informierenden Exkursen – kurzweilig erzählend und einfach, wobei das wichtigste Stilmittel der Wechsel zwischen den beiden Stil112 113 114 115 116 117 118

Ebd., 43. Ebd., 150. Ebd., 1. Ebd., 126. Socher, Maimon, 3. Ebd., 16. Schulte, 149.

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ebenen »der gelehrten, wissenschaftlichen Abhandlung« auf der einen Seite und »dem Stil der literarisch ambitionierten Selbstdarstellung mit Mitteln und Zitaten der zeitgenössischen Groteske […]«119 auf der anderen ist. Maimon will aufklären, aber er will auch unterhalten. Trotz seines (selbst-) ironischen Stils darf, so muss man festhalten, keinesfalls der Quellenwert seiner Lebensgeschichte als zeitgenössischer Bericht unterschätzt werden. Ganz als Vertreter der Interessen polnisch-jüdischer Aufklärung erweist sich Jaques bzw. Jakob Calmanson in seinem Essais sur l’¦tat actuel des juifs de Pologne, et leur perfectibilit¦. Den in Varsovie, le 6. Juillet 1796 zunächst in französischer Sprache veröffentlichten Aufsatz widmete er nach der nunmehr dritten und somit letzten Teilung Polens dem preußischen Zuständigen für das annektierte Polen, Graf Hoym120, der auch, als Abgeordneter eines ›aufgeklärten« Staates, der beste Ansprechpartner für seine Absichten zu sein scheint. Diese Absichten nun entsprechen genau jenen typisch maskilischen Motiven. Seine Schilderung des ¦tat actuel liefert eine Analyse des traurigen Zustandes der polnischen Judenheit: »Il est triste pour l’humanite de voir une nation consid¦rable, jusqu’ici priv¦e de Patrie et supportant la rigueur de Gouvernemens, sans en partager les avantages accord¦s partout aux autres Citoyens. Le malheureux people Juif semble ne connaitrte que la Loy qui punit, mais non celle qui prot¦g¦. […] Les Juifs sont des homes. Ils peuvent et doivent Þtre amen¦s — l’etat des autres peoples. C’est une verit¦ importante que j’ai tach¦ de developper dans l’ouvrage que je prens la libert¦ des presenter — V.E. […].«121

Diesen Zustand zu verbessern nimmt sich Calmanson zum Ziel, er möchte auch für die polnischen Juden »le bonheur Social«, das für die anderen Bürger gilt, herstellen und festigen.122 Hierzu möchte er zunächst Menschen vorstellen, deren »existence est une ¦spece de ph¦nomÀne en histoire comme en morale.«123 Und wahrhaftig, seine Analyse zeigt, dass die Situation der polnischen Juden auch Ende des 18. Jahrhunderts noch seinesgleichen sucht: Sie werden fast zur gleichen Zeit mit Streicheleien und Beschimpfungen, mit Gefallen und Grausamkeiten bedacht, sie werden mit »beschämenden Ketten« (chaines honteuses) und kurz darauf mit »schmeichelhaften Privilegien« (privilÀges flateurs) belegt.124 Gerade weil die Juden nur Feinde haben, möchte Calmanson nicht ihr allgemeines, verfälschtes Bild darstellen, sondern er möchte zeigen, »qu’ils sont 119 Ebd., 133. 120 Jaques Calmanson, Essai Sur l’¦tat actuel des Juifs de Pologne, et leur perfectibilit¦, Warschau 1796. 121 Calmanson, Vorwort. 122 Ebd. 123 Ebd., 1. 124 Ebd.

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r¦ellement.«125 Mithin, er möchte aufklären über die vielen Vorurteile der christlichen Mehrheitsgesellschaft den Juden gegenüber ; aber er setzt nicht nur bei der gesellschaftlichen Majorität an, sondern geht auch mit den jüdischen Sekten, die er für jene Vorurteile verantwortlich macht, hart ins Gericht. Dementsprechend stellt der erste Teil seiner Schrift über den l’¦tat actuel des Juifs tatsächlich eine Schilderung der verschiedenen jüdischen ›Konfessionen‹ dar : Ausgehend von einem Kapitel über die jüdische Religion im Allgemeinen (De la Religion des Juifs en g¦n¦ral, S. 9ff) folgen einzelne Abschnitte über die Sekte der Karaiten (§1, De la secte des Karaimes ou Karaites, 11ff), die Sekte der Chassidim (§2, De la secte choside, 14ff), der Franckisten (§3, Secte JudaicoChretienne, institu¦e par Frenck, S. 16ff) und auch einzelne institutionelle Einrichtungen der polnischen Judenheit, wie etwa dem Cherem (§4, 23)126. Im zweiten Teil (Essai de reforme relativement aux Juifs, de Pologne)– mit eigener Paginierung – schlägt Calmanson dagegen konkrete Reformmaßnahmen vor, die vor allem an den vorher skizzierten institutionellen Einrichtungen ansetzen – dem Cherem, dem Medizinwesen, den Rabbinen, dem jüdischen Wohlfahrtssystem, dem Schulsystem oder, ganz oberflächlich, dem äußeren Erscheinungsbild der Juden. In diesem Zusammenhang ist natürlich vor allem, eher als Calmansons aufklärerische Reformvorschläge, seine Schilderung der Sekte der Chassidim von Interesse: Sie erklärt er zu einem Hauptgrund für die derzeitige traurige Situation der Juden in Polen, da sie sich mit all ihren negativen Eigenschaften »mit größerer Geschwindigkeit ausbreitet, als es ihre schwachen Anfänge andeuteten, und die schon mit ihrem zerstörerischen Gift fast alle Synagogen infiziert hat.127 Calmanson plädiert deshalb dafür, »dass die Regierung schnelle und wirksame Maßnahmen« ergreifen solle, »um sich dem Fortgang einer Sekte entgegenzustellen, die gefährlich ist aufgrund ihrer Prinzipien, die noch gefährlicher ist durch die Ergebnisse, die sie produziert […]«128.

125 Ebd., 2. 126 Etwas unverständlich ist die Organisation innerhalb seiner Schrift: Während die Beschreibung des Cherem noch Kapitel 1 zugeordnet wird, sind die Abschnitte über die weiteren geistlichen und auch weltlichen Einrichtungen über die Kapitel 2 und 3 verteilt; vgl. ebd., 26 ff. 127 Ebd., 15. 128 Ebd.

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3.

Zentrale chassidische Frömmigkeitsmerkmale aus der Sicht ihrer Gegner

Merkmale chassidischer Frömmigkeit in den gegnerischen Schriften

Im kommenden Abschnitt wird nun ein genauerer Blick auf jene »Gräuel, die in Israel getan werden«129 geworfen. Es sollen also eben jene Phänomene aufgezeigt werden, die die Mitnaggedim und die Maskilim in ihren Schriften gegen die Chassidim, oder wie sie auch verunglimpfend in einem Wortspiel genannt wurden, die Chaschudim130, anführen und die sie – vor allem die Mitnaggedim – dazu bewegen, sich in das »Kleid der Rache zu hüllen und vom Eifer für Gott Zebaoth bewegt die besagten Frevler auszujäten […]«131. Bereits hier wird die oben skizzierte Weite des Frömmigkeitsbegriffes ausgereizt, wenn die spezifischen Motive chassidischer Frömmigkeit (eben jene Gräuel) aus der Außenperspektive geschildert werden: Es werden eben jene »praktischen Realisierungen, seelischen Regungen, Stimmungen und Vorstellungen« angeführt, die oben noch bezugslos unter den Begriff »Frömmigkeit« gefasst wurden. Hierdurch werden, und erst hier wird nun die ganze Tragweite des Begriffes fassbar, einzelne Merkmale nebeneinander gestellt, die strukturell ganz unterschiedlichen Feldern entstammen. Sie müssen später bei der Suche nach gemeinsamen Motivationen wieder zusammen geführt werden (Kapitel III).

3.1

Konventikeltum oder: Die Angst der Etablierten vor der Separation

Vor allem in den mitnaggedischen Schriften taucht ein Vorwurf an die Chassidim immer wieder auf, und dies gehäuft in exponierter Anfangsstellung: Die chassidische Sekte betreibe die Spaltung des Hauses Israel. Mit dem Vorwurf des bewusst betriebenen Schismas seitens der »Frevler« hängt die Beschreibung der »neuen Gemeindeordnung« durch die Etablierung des Systems des Zaddikismus eng zusammen. Da hiermit jedoch weitere Aspekte von spezifisch chassidischer Frömmigkeit in enger Verbindung stehen (vgl. 1.4.2), werden beide Aspekte hier einzeln behandelt. Bereits 4 5N? von Semir Arizim führt bei der Beschreibung »der Gräuel, die in Israel getan werden« als erstes an, dass die Chassidim, die sich in Wilna zu etablieren versuchten, »die Schwäche unserer Gemeinde132 verstärken« und einen »Bruch« 129 Semir Arizim #4, 37. 130 Semir Arizim, #7, 59 während 7=E;, der Begriff, der den Chassidim zur Selbstbezeichnung dient, fromm, treu bedeutet, meint die hier verwendete Paronomasie 79M; verdächtig oder verdächtigt. 131 Semir Arizim, #5, 45. 132 Vermutlich handelt es sich hier um eine Anspielung auf die Auflösung des Wa’ad arba arzot, des Vierländer-Wa’ad, im Jahre 1764.

Merkmale chassidischer Frömmigkeit in den gegnerischen Schriften

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bewirken, »weit gebrochen durch das Bestehende hindurch, das Bestehende der Welt, durch die Weisung und den Gottesdienst133 hindurch […]«134. Auch 5 5N? setzt seine Beschreibung der Freveltaten mit der Feststellung ein, dass »in der Mitte unseres Volkes erneut135 Sekten und Bünde aufgetaucht sind, die von der einheitlichen und gerechten Gemeinde abfallen […]«136. Eben hier wird der Verfasser von 5 5N? jedoch auch konkreter, als es der des ersten Schriftstückes ist, wenn er schreibt, dass »A=M7; A=68D=B ý=: C?4B M499 ü==@ 86=5@F: 4=7« (jidd.: »dieselben Leute, die neue Bräuche einführen«), sich, »gegen die heilige Gemeinschaft absperrend, eigene Emporen, besondere Minjanim« errichten und es ablehnen, »in den für die Allgemeinheit bestimmten Bet- und Lehrhäusern die Andacht zu verrichten […]«137. Mit demselben Argument wird der ernste Schritt des Bannes, der im zweiten Schreiben von Semir Arizim ausgerufen wird, begründet: »Eben im Hinblick darauf, dass heutzutage unsere Gemeinde das größte Zentrum des Landes […] ist, […], haben wir es für unsere Pflicht gehalten, die Initiative zu ergreifen […], weshalb wir auch diesen Aufruf in alle Ecken und Enden des Siedlungsbereiches Israels versenden wollen, auf dass über den Häuptern jener Frevler allenthalben die Hornklänge der Bannflüche, der Ächtung und Exkommunikation erschallen […] und sie daran gehindert werden, […] sich von der Allgemeinheit abzusondern und in irgendeiner Klause oder in ein eigenes, nicht für die Gesamtheit bestimmtes Bethaus zurückzuziehen.«138

Auch das fünfte Schreiben hält fest, dass sich die Chassidim »von der Allgemeinheit ausschließen«, denn »in der ganzen Stadt gründen sie Gesellschaften […], Versammlungshäuser und Lehrhäuser«139. Sehr konkret fasst das sechste Textstück (9) die Geschehnisse in Wilna zusammen, die sich im Winter 1772 zwischen dem Chassid R. Mendel von Minsk und R. Issur einerseits und dem Wilnaer Gaon andererseits zutrugen (vgl. hierzu 4.1.3): Nachdem aber R. Issur, einer der »Sektierer«, wegen seiner Verleumdung des Gaons – er hatte über ihn gesagt: »er [der Gaon] ist Lüge, seine Weisung ist Lüge und sein Glaube ist Lüge«140 – festgenommen worden war, sei, so der »Chronist« des Schriftstückes,

133 Vgl. hierzu 1.4.3 und 1.4.6. 134 Semir Arizim, #4, 37. 135 D. h. nach den Sabbatianern des 17. Jahrhunderts und den sich auf diese berufenden Frankisten; vgl. einführend etwa das 8. Kapitel: Sabbatianismus und mystische Häresie, in: Gershom Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Frankfurt 1980, 315 – 355. 136 Semir Arizim, #5, 45. 137 Ebd. 138 Ebd., Übersetzung hier: Dubnow, Geschichte, 200. 139 Semir Arizim, #8, 62. 140 Semir Arizim, #9, 65.

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Zentrale chassidische Frömmigkeitsmerkmale aus der Sicht ihrer Gegner

»sofort Schluss [gewesen] mit Scheidung und der Verbreitung des Karliner Minjans, und sofort lösten sie sich von der Hand des Minjans […]«141. Der großen Angst vor einer Spaltung der bereits geschwächten Gemeinden durch die Einführung eigener Gebets- und Lehrhäuser auch noch durch die Chassidim142 begegnete man mit deutlichen und unmissverständlichen Verboten gegenüber den »Abweichlern«. Exemplarisch für diese rigorosen Regeln sind uns im siebten Schriftstück von Semir Arizim (:) die Verbote überliefert, die die kleine, aber »heilige Gemeinde Lesnow« (59DMF@) ausrief, welche, wie es in der blumigen Sprache dieses Textes heißt, in vorbildlicher Weise »einen Zaun gemacht hat um die Sekte der Narren«143. So heißt es etwa im ersten Verbot: 4. In unserer Gemeinde dürfen keinerlei Minjanim abgehalten werden, es sei denn im Hause des Talmudgelehrten R. Joel und in dem für Zureisende bestimmten Gasthof. Hiervon abgesehen sollen alle in den bestehenden Bet- oder Lehrhäusern die Andacht verrichten […].144

Selbst (5.) »in dem der großen Synagoge angeschlossenen Stübl soll man es unterlassen, Minjanim zu halten, es sei denn, dass einige ausnahmsweise die Morgenandacht versäumen […].«145

Um die außergemeindlichen Aktivitäten zu reglementieren wird nach Schabbatausgang der Sekte verboten, sich beim Gemeindevorbeter – offenbar einer der Oberen der Chassidim Lesnows, worauf die sechste Regel schließen lässt, die verbietet, eben diesen Vorbeter als »Maggid«146 zu titulieren – zu treffen.147 Aber auch 1781 bleibt der Vorwurf bestehen, wenn an den 1772er Cherem angeknüpft wird, der gegen »diejenigen, die sich selbst den Namen Chassidim beigelegt haben […] und sich zu Sonderbünden zusammenschließen«148 gerichtet ist – ebenso wie in den Aufrufen zur Teilnahme am Bann gegen die 141 Ebd. 142 Insgesamt war es in Osteuropa durchaus üblich, dass Kabbalisten oder besonders fromme Asketen eigene Minjanim bildeten. 143 Semir Arizim, #:, 67. 144 Ebd., 67 f.; Übersetzung Dubnow, Geschichte, 202. 145 Ebd., 68. 146 7=6B bedeutet so viel wie Bote, Verkündiger – oder Prediger ; in letztgenannter Form wird der Begriff als Ehrenbezeichnung verwendet für jene Prediger, die »functioned as a kind of »non-establishment intelligentsia«, having much of the learning and influence of the regular scholars but largely without their connections in the upper strata of Jewish society«; Haim Hillel Ben-Sasson, Art. Maggid. The Maggid as preacher, in: EnJ, CD-Rom-Edition. 147 Semir Arizim, #:, 68. 148 Übers. Dubnow, Geschichte, 229; im Originaltext ist die Rede von N9L95;; vgl. Wilensky, Hasidim and Mitnaggedim, 102.

Merkmale chassidischer Frömmigkeit in den gegnerischen Schriften

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Chassidim, etwa in jenem des Bezirkes Grodno, in dem es lobend über das Eingreifen der Wilnaer Gemeinde heißt: »Nachdem man in der erwähnten heiligen Gemeinde [Wilna] die Wurzel dieser giftund wermutsprühenden Sekte entdeckt hatte, warf man sich dort kraftvoll in die Bresche, um den Missstand zu beheben und die Konventikel der Heuchler auszuschaben, damit der Grind in der dortigen Gemeinde Israels nicht weiter um sich greife.«149

Auch in den anderen Aufrufen werden ähnliche Töne angeschlagen, immer wieder150 tauchen die Bezeichnungen Sekte (N?) oder, wie Dubnow übersetzt, Sonderbünde (8L95;) auf, wobei auffällt, dass die Stellung dieser Bezeichnungen innerhalb der Schreiben durchweg exponiert, d. h. ganz zu Beginn, oft mit einleitender Funktion, angeführt wird. Auch in den maskilischen – deutschsprachigen – Beschreibungen erfolgt die Charakterisierung der Bewegung durchweg als »Secte«.151 Bereits eingangs wurde darauf hingewiesen, dass in den mitnaggedischen Schriften der Vorwurf des Schismas gegen die Chassidim durchweg bereits in den ersten Zeilen angebracht wird. Hieran wird deutlich, welcher Eindruck von der in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts stark anwachsenden Bewegung auf das orthodoxe Umfeld besonders prägend gewesen sein muss. Gleichzeitig bildet sich aber auch ab, dass vor allem die Mitnaggedim dieser in ihren Augen drohenden Gefahr große Bedeutung beigemessen haben müssen – sonst hätten ja auch andere der vielen ›Gräuel‹ zuerst genannt werden können: Mit der Befürchtung, das ›Haus Israel‹ könne weiter an Einfluss und Stärke verlieren, wenn es durch die stark wachsende Anhängerschaft152 der ›Sekte‹ zu einer Abspaltung großer Gemeindeteile kommen sollte, zeigt sich die polnisch-litauische jüdische Welt trotz ihrer rigorosen Maßnahmen von ihrer verletzlichen Seite: Besonders unter dem Eindruck der 1764 erfolgten Auflösung des zentralen jüdischen polnisch-litauischen Verwaltungsorgans des ›Vierländer-Wa’ads‹ in Polen, des Verbandes der Hauptgemeinden Litauens sowie der Bezirksverbände der Gemeinden durch die polni149 Übers. Dubnow, Geschichte, 238. 150 So etwa noch im Aufruf R. Katzenellenbogens zum Cherem, übers. in Dubnow, Geschichte, 239; 241 oder im Brief desselben an Levi Jitzchak, Übers. ebd., 246. 151 Vgl. etwa Löbel, bereits in der Überschrift seiner Glaubwürdigen Nachricht; vgl. ebenso Calmansons Überschrift – »De la Secte Choside« – oder die Überschrift des maßgeblichen neunzehnten Kapitels aus Maimons Lebensgeschichte: »Auch eine geheime Gesellschaft« […], was wiederum vor allem der Terminologie 8L95; entsprechen würde. 152 Vgl. etwa Löbel, Glaubwürdige Nachricht, 309: »dieses und mehres verschaffte dem nunmehrigen Rabbi, Israel Balschem, in kurzer Zeit, das heißt, in weniger als zehn Jahren [aufgrund der falschen Zeitangaben Löbels ist hiermit die Zeit um ca. 1770 – 75 gemeint], mehr als zehntausend Anhänger.«

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Zentrale chassidische Frömmigkeitsmerkmale aus der Sicht ihrer Gegner

sche Regierung153, aber auch durch die Befürchtung der Nähe der Bewegung zu frankistischen oder sabbatianischen Gruppen ist verständlich, dass die Befürchtung, auch die nunmehr letzte verbliebene maßgebliche jüdische Institution nach der Außerkraftsetzung aller ›Supra-Kehila Organisationen‹154 des nach wie vor in ständiger Bedrängnis befindlichen osteuropäischen Judentums, die örtliche Kehila, die Ortsgemeinde, könnte geschwächt werden oder gar in Auflösung begriffen sein, derart große Wellen schlug. Auch das Bemühen, eine Zusammenarbeit zwischen den Gemeindebezirken, wie sie in der Quellenanalyse oben beschrieben wurde (vgl. die Schriften der ›zweiten Angriffswelle‹), herzustellen ist mit dieser Befürchtung des Schismas, die offensichtlich in den meisten der Kehilot schwelte, zu erklären. Die Angst vor der Gefahr, die aus einer weiteren Schwächung der Gemeinden hervorgehen könnte, erklärt sich von selbst, wenn ein Blick auf die Bedeutung der örtlichen Kehila für ihre Mitglieder geworfen wird: Die jüdische Bevölkerung war von der mehrheitlichen Bevölkerung isoliert – durch staatliche Gesetze und eigene Entscheidung gleichermaßen, was sich nicht zuletzt auch in Calmansons Essai zeigte. Dies bedeutete, dass alle Bedürfnisse durch das jüdische Gemeinwesen allein befriedigt werden mussten. Hierfür bildeten sich innerhalb der Kehilot Institutionen heraus, welche die notwendigen Funktionen eines eigenen ›Staates im Staat‹ zu erfüllen hatten, zur Verwaltung einer eigenen, wenn auch nicht hermetischen, Gesellschaft innerhalb des eigentlichen Staates. Somit stellte die Kehila für ihre Mitglieder weitaus mehr dar als eine reine rituelle und rechtliche Verwaltungseinheit: Sie verband die jüdischen Menschen zu einer wirklichen Gemeinschaft, die sich gegen eine oftmals feindliche Welt zu behaupten hatte.155 Das vehemente Vorgehen gegen die Bewegung wird auch der gefühlten Bedrohung dieser Gemeinschaft – zumal von innen heraus – geschuldet gewesen sein.

153 Vgl. hierzu Simon Dubnow, Die Geschichte des jüdischen Volkes in der Neuzeit. Die zweite Hälfte des XVII. und das XVIII. Jahrhundert, Berlin 1930, §21. 154 Als »Supra-Kehilah Organizations« bezeichnet Jacob Katz jene Institutionen, die von Mitte des sechzehnten bis zur zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in (Ost-)Europa »blühten« und welche die Ortsgemeinden in größere zentrale Verwaltungseinheiten zusammenfassten, die u. a. rituelle und jurisdiktionelle Verfügungsgewalt besaßen; vgl. Tradition and Crisis. Jewish Society at the End of the Middle Ages, New York 1993, 103 ff. 155 Vgl. hierzu Katz, Tradition, 65 ff.

Merkmale chassidischer Frömmigkeit in den gegnerischen Schriften

3.2

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Die neue Gemeindeordnung und die Zersetzung der Gesellschaft: Zaddikismus

Sehr eng mit dem Vorwurf des Schismas ist eine dennoch einzeln anzuführende Beobachtung verwandt: An vielen Stellen innerhalb der gegnerischen Schriften trifft man auf Formulierungen, die Hinweise darauf geben, wie der oben im Zusammenhang des Schismas noch reichlich vage angeführte Vorwurf des Konventikeltums weiterzudenken ist: Zum Teil in vorsichtigen Andeutungen, zum Teil expressis verbis werden Beschreibungen formuliert, die vermuten lassen, dass auch den Gegnern bewusst war, dass die Chassidim ihrer Gemeinschaft eine neue Ordnung zugrunde gelegt hatten. Hierbei erweisen sich die (späteren) maskilischen Schriften durchweg als die konkreter beschreibenden, während die mitnaggedischen Schriften eher im Bereich der Anspielungen bleiben: Angesichts der Tatsache, dass sich etwa (nicht nur!) Maimon auf seine eigene Erfahrung beruft, die er kurze Zeit vor der ersten mitnaggedischen Angriffswelle gegen die junge Bewegung gemacht haben muss, trennt sich hier auf interessante Weise die »gegnerische« Perspektive in eine Innen- und eine Außensicht. Dies gilt es bei den folgenden Beschreibungen zu bedenken. In Semir Arizim zeigt der Autor bereits des ersten Schreibens klar, dass die Hauptvorwürfe nicht gegen eine anonyme Menge gerichtet sind, sondern dass es vielmehr für die Gräueltaten der Chassidim in Wilna einige wenige Hauptverantwortliche gibt, in erster Linie den »Kopf« (M4L) der Sekte: »Er ist ein Hetzer und Anstifter, der unter uns Sünde auf Sünde hinzufügt, was der Mehrzahl bekannt geworden ist in der Zeugenvernehmung […], Issar ist sein Name, sein Name verwelke […]«156. Dieser Issar nun, der im Folgenden noch als falscher Prophet usw. bezeichnet wird und dessen Name mehrfach durch eine Paronomasie entstellt wird157, soll gemeinsam mit R. Mendel von Minsk »einer der Großen in ihrer Gesellschaft«158 gewesen sein. Diese beiden Oberhäupter sind es auch, die vom ersten Bannfluch 1772 als einzige nachweislich betroffen sind – von einer großen Zahl Verstoßener ist an keiner Stelle die Rede, immer werden (bis auf die Verbote der Gemeinde Lesnow in Semir Arizim, #:) lediglich diese beiden Namen angeführt. Die weiteren Charakterisierungen von R. Issar und R. Mendel von Minsk gehen alle in die Richtung, beide vor allem als Betrüger zu stigmatisieren:

156 Semir Arizim, #4, 43. 157 Der eigentliche Name des Oberhauptes der Wilnaer Chassidimgemeinschaft lautet einfach LE=4; hieraus wird durch die – in einer vokallosen Schrift nicht eben aufwändige – Einfügung eines Waw L9E=4, was wiederum eine klare Bedeutung hat: »Verbot«. 158 Ebd.

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Zentrale chassidische Frömmigkeitsmerkmale aus der Sicht ihrer Gegner

»Und wir [das im Vorhergehenden beschriebene Richterkollegium] haben ihn [R. Issar] ausgeforscht, um seine Frevel genau zu bestimmen […], welche das Werk der Betrügereien waren, die er und sein Rabbi [R. Mendel von Minsk] tun, die Worte der Schande und des Spottes sprechen und sagen, dass ein Wunder mit der rechten Intention [8D9?] möglich sei. Und danach wurden uns einige ihrer Taten klar, die sie für jeden festgesetzt haben, es sind Werke der Betrügereien […].«159

Das Ziel dieser Betrüger derweil ist dem Autor von Semir Arizim nach eigenem Bekunden auch bewusst; sie versuchen, eine Gruppe von Leichtgläubigen an sich zu binden: »Und ihr Charme spannt ein Netz, und sie sind Seelenjäger und lauern auf Blut, Blut in beiden Bedeutungen, sowohl was das Irreführen und Abweichen vom Weg der Tora angeht […].«

Eine große Verlockung hierbei besteht den Aussagen des Autors nach in der Gewährung der Vergebung der Sünde von den Anhängern durch die Obersten.160 Hierüber hinaus, so der Vorwurf, wollen die Obersten der Sekte ihre Anhänger zu ihrem eigenen Wohl ausnutzen, nachdem sie diese an sich gebunden haben: »[…] als auch, was das Blut der Mitgiften von ihren Schülern, jung an Jahren, angeht, die ihr Geld auf Reisen durchbringen, unnötige Reisen und Verlockungen, von Stadt zu Stadt, mit Ausgaben für Zerstreuung und Mahlzeiten […] und die Kabbalisten [das sind die Obersten] lohnen die Absonderung von der Tora, während sie bekannt und berühmt sind.«161

Bereits diesem ältesten Zeugnis über die ›Freveltaten‹ der Chassidim lassen sich demnach Andeutungen über eine neue Gemeindeordnung entnehmen, welche vielleicht eher als Herrschaftsform denn Gemeindeordnung zu beschreiben ist und die dem System der Kehila natürlich nicht unerheblich widersprach.162 Deutlicher noch wird diese Gemeinschaftsform in den maskilischen Schriften beschrieben. Hier wird auch – anders als in den mitnaggedischen Schriften, die durchweg nur die im Bereich der jeweiligen Kehila bekannten Namen anführen – die ganze Bewegung auf den Bescht zurückgeführt, der hierdurch einerseits zum Gründer der Bewegung stilisiert wird, andererseits aber auch zum Idealmodell der späteren Oberhäupter der einzelnen Gemeinschaften der Sekte:

159 Semir Arizim, #8, 63; vergleichbare Formulierungen finden sich auch in #9, 66. 160 Semir Arizim, #9, 65. 161 Semir Arizim, #8, 63; der Vorwurf, die Oberhäupter würden ihre Anhänger zu sich wallfahrten lassen und sich somit finanziellen Schwierigkeiten auszusetzen taucht auch bei Maimon, Lebensgeschichte auf, 212. 162 Vgl. zu Aufbau und Organisation der Kehila bzw. Gemeinde die m.W. aktuellste Beschreibung in Gershon David Hundert, Jews in Poland-Lithuania in the Eighteenth Century. A Genealogy of Modernity, Berkeley 2004, 79 ff.

Merkmale chassidischer Frömmigkeit in den gegnerischen Schriften

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»Ein gewisser Kabbalist, mit Namen Rabbi Joel[!] Baalschem, wurde durch einige glückliche Kuren, die er durch seine medicinischen Kenntnisse und Taschenspielerkünste bewerkstelligte, zu dieser Zeit sehr berühmt, indem er vorgab, dieses alles nicht durch natürliche Mittel, sondern blos durch Hülfe der Kabbala Maschiith (die praktische Kabbala) und den Gebrauch der heiligen Namen bewerkstelligt zu haben […] Er war auch auf Nachfolger in seiner Kunst bedacht. Unter seinen Schülern waren einige, die seine Profession ergriffen […].«163

Auch Maimon betont in seiner Lebensgeschichte, dass die »hohen Obern« der Chassidim bestrebt sind, andere Menschen an sich zu binden. Um Mitglied zu werden etwa habe man »nichts mehr nöthig, als sich an die hohen Obern zu wenden, und eo ipso gehöre [man] schon als Mitglied zu dieser Gesellschaft.«164 Auch das Ausgeliefertsein der einfachen Menschen gegenüber diesen Oberhäuptern beschreibt Maimon in seiner unnachahmlich-ironischen Art: »Er [der potentielle Chassid] habe nicht einmal nöthig […] diesen hohen Oberen von seinen moralischen Schwächen, seiner bisher geführten Lebensart u. dergl. zu melden, indem diesen hohen Obern nichts unbekannt sey ; sie durchschauten das menschliche Herz, und entdeckten alles, was in seinen geheimen Falten verborgen sey ; sie könnten das Zukünftige vorher sagen, und das Entfernte gegenwärtig machen.«165

Maimon freut sich nach der Beschreibung des chassidischen Gemeindeprinzips durch den jungen Chassid, den er getroffen hatte, außerordentlich darauf, auch eine Pilgerfahrt zu einem der »hohen Obern« zu machen166 und kommt an den Hof Dow Bärs, des Großen Maggids. Hier folgt in seiner Lebenserinnerung eine detailreiche Darstellung – die ausführlichste und expliziteste Darstellung eines Zaddik-Hofes der Frühzeit von gegnerischer Seite überhaupt – dessen, was er am Hof Dow Bärs erlebte: Nach seiner Beschreibung etwa gab es keine Möglichkeit, kurzfristig einen der hohen Obern treffen zu können, stattdessen gab es ›Gruppenaudienzen‹ zu einem für solche Anlässe besonderen Zeitpunkt, einem Sondermahl an Schabbat, »bey welcher Gelegenheit [man] das Glück haben würde, diesen heiligen Mann von Angesicht zu Angesicht zu sehn, und die erhabensten Lehren aus seinem Munde zu hören […]«167. Und so erlebt Maimon ein »drittes Schabbatmahl«, in dessen Verlauf er durch den großen Maggid wunderbare Erkenntnisse zu erlangen glaubt und auch einige der die Gefühle bewegenden Praktiken der Chassidim kennen lernt, wie etwa »eine feyerliche den Geist erhebende Melodie« aus dem Munde des Zaddiks oder das Aufrufen 163 164 165 166

Maimon, Lebensgeschichte, 217 f. Ebd., 226. Ebd. Ebd., 231: »Meine Einbildung wurde durch diese Beschreibungen aufs höchste gespannt, und ich wünschte folglich nichts so sehnlich, als das Glück zu haben, Mitglied dieser ehrwürdigen Gesellschaft zu werden […].« 167 Ebd., 231 f.

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Zentrale chassidische Frömmigkeitsmerkmale aus der Sicht ihrer Gegner

aller »Neuangekommenen bey ihren Nahmen, und den Nahmen ihrer Wohnörter«, obwohl dieser die »Nahmen« der für ihn fremden Anwesenden ja gar nicht kennen konnte.168 Während Maimon erst nach einer von ihm nicht näher bestimmten Zeit die Strukturen der Gemeindeordnung zu durchblicken lernt und seine hohe »Meinung gegen diesen Obern und die ganze Gesellschaft überhaupt nachzulassen« beginnt, ist Israel Löbel von Anfang an entschiedener Gegner der chassidischen Bewegung – aus oben angeführten Gründen. Wie Maimon bestimmt auch er den Bescht in seiner Glaubwürdigen Nachricht als erstes und gleichsam prototypisches Oberhaupt der Sekte, mit allen negativen Eigenschaften, die auch etwa in Semir Arizim oder bei Maimon angeführt werden: Narzissmus und damit verbundene Herrschsucht, Betrugsabsicht gegenüber den ihm hörigen Anhängern und fehlende echte Kenntnisse und Fähigkeiten, die durch allerhand Taschenspielertricks, mit denen das abergläubige Volk getäuscht werden soll, kompensiert werden.169 Explizit nennt Löbel die zweifache Hauptaufgabe der ›Hohen Obern‹: Sie sollen ihren Anhängern »das ewige Leben verschaffen« und »das zeitliche erhalten«.170 Aber auch die Beschreibung der ›Residenz‹ und des herrschaftlichen Verhaltens des Oberhauptes, welches Löbel besucht, um über die ›Herausgabe‹ seines Bruders zu verhandeln, deckt sich mit derjenigen Maimons: »Kaum erfuhr dieser [R. Salomon], daß ich in seiner Residenz angelangt war, als er mich schon zu sich rufen ließ, und mich sehr despotisch anredete […].«171

Neben den bereits bei Maimon und Löbel genannten Beschreibungen172 führt Calmanson eine Beobachtung über das chassidische Gemeinschaftsleben an, die sonst nirgends auftaucht:

168 Ebd., 232 f. 169 »Zwischen den Jahren 1760 bis 1765 machte sich zu Miedzyborz in der Ukraine ein jüdischer Rabbiner, Namens Israel bekannt und äußerst merkwürdig. Er war herrschsüchtig , hatte aber aus Mangel an talmudischen und anderen Kenntnissen wenig Hoffnung, sich durch überlegene Einsichten auf andere einen besonderen Einfluß zu erwerben, und sich dadurch selbige unterwürfig zu machen. Er schlug daher einen andern Weg ein: er wurde ein Geisterbeschwörer; daher sein Name Balschem. Jetzt gab er vor, die Kunst Geister zu beschwören zu besitzen […].«, Löbel, Glaubwürdige Nachricht, 308 f. 170 Ebd., 316; ebenso 327. 171 Ebd., 319. 172 Calmanson formuliert sogar in sehr ähnlichem Duktus: »[…] et doit son origine — un Rabin fanatique, qui abusant de la cr¦dulit¦ du peuple toujours ignorant, toujours ¦pris du merveilleux, eut l’art de le faire passer pur proph¦te. Il pr¦tendoit gu¦rir toutes les maladies par la cabale.« Essai, 14; vgl. zur Ausnutzung der Anhänger durch die Oberhäupter S. 15: »õ ce double ¦gard on est forc¦ d’admirer l’adresse avec laquelle ils favent mettre — profit, l’enthousiasme inconsequent des dupes qu’ils on s¦duits […].«

Merkmale chassidischer Frömmigkeit in den gegnerischen Schriften

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»Tous leurs biens sont en commun, & presque toujours — la disposition de leurs Chefs, dont ils se sont form¦s la plus haute id¦e […].«173

Diese Beobachtung einer gemeinschaftlichen Vermögensverwaltung bringt en passant zwischen mehreren Sätzen, die von Verachtung gegenüber den unaufgeklärten Chassidim überfließen, eine bewundernde Note ins Spiel, die jedoch keine weitere Beachtung erfährt – welche aber bei genauerem Hinsehen umso interessanter ist: Mit dem Aspekt der Gütergemeinschaft wird ein Moment eingeführt, das ein etwas anderes Licht auf die einzelnen Gemeinschaften und ihre Oberhäupter fallen lässt und welches auch in Calmansons Essai überrascht, da ansonsten nur von dem »Tyrannischen Imperium« (empire tyrannique) oder der »Autorität« (autorit¦) der Oberhäupter bzw. der »Despoten« (despotes) die Rede ist.174 Hinter diesem kleinen Hinweis jedoch steht ohne Frage ein Zugeständnis an eine sehr innige Gemeinschaftsform.175 Fasst man all diese Charakterisierungen der chassidischen Gemeinschaftsform zusammen, so ergibt sich ein interessantes Bild: Die chassidischen Gemeinden gliedern sich personell, nicht lokal, d. h. nach den Aussagen ihrer Gegner halten sich ihre Oberhäupter (A=M4L) gewöhnlich in einer ›Residenz‹ auf, in der sie von ihren Anhängern besucht werden. Diese wiederum können, wie das Beispiel Maimons zeigt, fernab von ihrem Rebbe wohnen, u. U. sogar hierüber hinaus einer anderen jüdischen Kehila angehören. Anlass für eine »Wallfahrt« bieten weltliche und geistliche Fragestellungen, für deren Einlösung die ›Hohen Obern‹ gleichermaßen zuständig sind, ob es nun um eine persönlich bewegende Tora-Exegese (siehe Maimon) oder um Krankenheilung (ausführlich etwa bei Löbel dargestellt) geht. Wundertaten, so auch der Verfasser von Semir Arizim, sind diesen Männern (und evtl. auch ihren Anhängern) hierbei durch ihre Intentionalität (8D9?) – verbunden mit Kenntnissen der praktischen Kabbala – ohne weiteres möglich. Konkret werden in den meisten der Fälle, in denen es um die Wunder der ›Hohen Obern‹ geht, medizinische Beispiele angeführt. Diese Gemeinschaftsform nun ruft, so ist zu vermuten, zweierlei Befürchtung bei den Gegnern der Chassidim wach: Zum einen ist wörtlich die Rede davon, dass die neben der Kehila wichtigste Institution der Familie in Gefahr sei – etwa durch die unnötige Verschwendung der ökonomischen Grundlage junger Familien, der Mitgiften, wie oben beschrieben, indem die jungen Väter ihre Familien verlassen176 oder sogar durch die Unterstellung homosexueller Praktiken 173 Calmanson, Essai, 14 f. 174 Ebd., 15. 175 Jedoch ist dieses allein bei Calmanson angeführte Merkmal mit Vorsicht zu genießen wie alle Ausführungen über die Chassidim, da der ganze Paragraf mit seinen vielen Fehlern zu belegen scheint, dass Calmanson mit den Chassidim nicht sehr vertraut war; vgl. hierzu Wodcinski, Haskala and Hasidism, 31. 176 »Viele haben all ihr Hab und Gut, Frau und Kind verlassen, um dem Nichtsnutzigen

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Zentrale chassidische Frömmigkeitsmerkmale aus der Sicht ihrer Gegner

innerhalb der chassidischen Gemeinschaften177; zum anderen und vor allem aber stellte die chassidische Gemeinschaftsform dem traditionellen Prinzip der rabbinischen Leitung der Kehila ein neues Ideal von Führerschaft entgegen, das den gegnerischen Schilderungen nach am ehesten in der Terminologie Max Webers als Herrschaftsverhältnis von charismatischem Herrscher und beherrschter Gruppe beschreibbar scheint (dieses Charisma ist es wohl auch, was Calmanson beschreibt, vgl. Anm. 191), da die chassidische Gemeinde – in den Worten Webers die »angebbare Gruppe«178 – ihren ›Hohen Obern‹ »Annerkennung« entgegenbringt; »aus Begeisterung oder Not und Hoffnung« entsteht, siehe die Bezeugung Maimons, »eine gläubige, ganz persönliche Hingabe.«179 Diese Hingabe, so Mitnaggedim und Maskilim unisono, liegt nun in der Erfüllung jenes Doubles von weltlichen und überweltlichen Belangen, mit denen sie sich an ihre Oberhäupter wenden; die Herrschaft wiederum stützt sich offensichtlich ausschließlich auf ihr Charisma, verstanden als »außeralltägliche […] geltende Qualität einer Persönlichkeit [des jeweiligen »Hohen Obern«] […], um derentwilllen sie als mit übernatürlichen oder übermenschlichen oder mindestens spezifisch außeralltäglichen, nicht jedem anderen zugänglichen Kräften oder Eigenschaften [begabt] oder als gottgesandt oder als vorbildlich und deshalb als ›Führer‹ gewertet wird. […] darauf allein, wie sie tatsächlich von den charismatisch Beherrschten, den ›Anhängern‹, bewertet wird, kommt es an.«180 Dass eine rein charismatisch begründete Herrschaft Argwohn oder gar Abscheu bei der rabbinischen Elite hervorrief, die ihren Machtanspruch – der darüber hinaus längst nicht so weit reichte, wie der der »Hohen Obern« der Chassidim – auf den »Glauben an die Legalität gesatzter Ordnungen und des Anweisungsrechts«181 und die Tradition gleichermaßen gründeten, verwundert nicht, zumal sie in bewusster Distanzierung – wieder ein Schisma! – von diesen beiden Grundlagen der rabbinischen Vormachtstellung bestand. Hierbei ist jedoch vor allem die vermeintliche Abkehr von den Gesetzen, den mündlichen sowie den schriftlichen, ein Vorwurf, der immer wieder angebracht wird:

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nachzugehen, wie dies durch das unlängst erschienene, ihre Fäschungen entschleiernde neue Buch zu ihrer Schande aller Welt offenbar geworden ist […]«, Cherem Wilna, Übers. in Dubnow, Geschichte, 230; es sei erinnert, dass auch Maimon so verfuhr! Semir Arizim, #9, 65: »7’’5 =DH5 8798 :’’F9 NL9?: 5?MB5 4Bü ’=8 A8B 7;49«; aufgrund der Singularität dieses Vorwurfs sei darauf hingewiesen, dass es durchaus möglich ist, dass es sich hierbei um einen Vorwurf handelt, der rein zu Verunglimpfung der Bewegung dienen soll; hierfür spricht etwa auch die Formulierung »Und einer von ihnen […]«. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Tübingen 1972, 122. Ebd., 140. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 140. Ebd., 124.

Merkmale chassidischer Frömmigkeit in den gegnerischen Schriften

3.3

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Wider Talmud-Tora und die Gesetze: Abkehr von traditionellen Wissensformen und Vernunft

Die Grundlagen, auf welche die Rabbiner (nicht nur in Osteuropa) ihre Autorität gründeten, waren ihre profunde Kenntnis und Gelehrsamkeit in den schriftlichen und mündlichen Gesetzen. Indem sie nun den Anführern der neuen Bewegung hierin jedwede Kenntnis absprachen, versuchten sie, diese in Abgrenzung von sich selbst als ›am ha’aretz‹, als dem ›Landvolk‹ Angehörende, kurzum: als Ungebildete zu diffamieren, um ihnen somit die ihres Wissens einzige Begründung von Herrschaft zu nehmen – hierin aber wohl die wirkliche (charismatische) Herrschaft der »Hohen Oberen« verkennend. »Es wurde aber in den neuchaßidäischen Kreisen Ton, über die Talmudisten zu spötteln. Weil diese sich über das ungelehrte Haupt des neuen Ordens [d. i. der Bescht] lustig machten, der einen Anhang hatte, ohne der zünftigen Genossenschaft anzugehören; ohne in Talmud und Zubehör eingeweiht zu sein, setzten die Chaßidäer den Wert des Talmudstudiums herab, daß es nicht imstande sei, ein wahrhaft gotterfülltes Leben zu fördern.«182

Die Beschreibung, die Heinrich Graetz in seiner Geschichte der Juden über die (nicht vorhandene) ritualgesetzliche Bildung und Gelehrsamkeit der Chassidim liefert, scheint direkt den Schriften der Gegner entnommen zu sein: Auch hier ist einer der Hauptvorwürfe die vor allem aus mitnaggedischer Sicht völlig unverständliche Haltung der Chassidim gegenüber den die jüdische (Exil-)Gesellschaft stabilisierenden, gar konstituierenden Gesetzen: Das oben angeführte Schisma ging nicht allein durch die jüdischen Kehilot, sondern war »weit gebrochen durch das Bestehende hindurch, das Bestehende seit Ewigkeiten, durch die Weisung und den Gottesdienst hindurch« – die gesamte Tradition scheint angesichts jener ›Frevler‹ bedroht.183 Tatsächlich ist die »Geringschätzung der Weisung« (8L9N @9ü5) ein schwerwiegender Vorwurf, der nicht allein in Semir Arizim sehr häufig auftaucht: Von der Beschreibung der Chassidim als Landvolk (IL48 AF184) und der Bezeichnung des obersten Chassids in Wilna (jener Issar) als Goj (=96185) über die bereits erwähnte »Geringschätzung der Tora und des Talmud186 bis hin zur Beleidigung 182 Heinrich Graetz, Geschichte der Juden. Vom Beginn der Mendelssohnschen Zeit (1750) bis in die neueste Zeit (1848), Leipzig 21900, 100. 183 Semir Arizim, #4, 37; vgl. auch die erläuternde Anmerkung 5: »8@=HN89 8L9N8 79B=@ :A=79BF8 =DM5 A=MKDNB« 184 Siehe oben; Semir Arizim, #7, 59. 185 Semir Arizim, #4, 38. 186 Vgl. etwa Semir Arizim, #7, 59: A79B=@5 üFB@ 7=BN A8=H5 L96M C89 ,LK=F @? N’’N C=@ü5B9; ebenso #8, 62 und an anderen Stellen.

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Zentrale chassidische Frömmigkeitsmerkmale aus der Sicht ihrer Gegner

der Tora187 reicht das Spektrum recht weit, das der Vorwurf im ersten mitnaggedischen Schreiben umfasst. Aber auch in den späteren Schriften der zweiten Angriffswelle tauchen ähnliche schwerwiegende Beschuldigungen auf. So ist etwa in der Erneuerung des Wilnaer Cherem von 1781 wieder die Rede davon, dass der einzige Zweck der Verführer sei, »dass sich ihre Opfer von der Beschäftigung mit unserer heiligen Tora abwenden und sich ganz ihrem verfälschten, heuchlerischen Gottesdienst hingeben […]«188. Im 4L9K @9K, dem Wilnaer Aufruf an die anderen großen Gemeinden polnisch-Litauens zum Anschluss an den Bann gegen die Chassidim, wird die Befürchtung der NichtChassidim auf den Punkt gebracht: »Urplötzlich werden die Zelte der mündlichen Tora, behüte Gott, der Verheerung anheim fallen, noch ein Augenblick, und unseren Augen wird auch das Licht entrückt sein, das vom Pergament der schriftlichen Tora ausgeht […]«189. In dieselbe Richtung gehen auch die Fragen, die Abraham Katzenellenbogen in seinem Brief vom 8. Tammus 1784 an Levi Jizchak, das Zelechower Chassidim-Oberhaupt, richtet: »Wahrheit blüht aus der Erde hervor, und die Gerechtigkeit blickt vom Himmel herab […] Wodurch haben sich unsere Väter vergangen, daß sich ein Teil unserer Zeitgenossen von ihnen abgewandt hat und sich weigert, den herrlichen, bewunderungswürdigen Geonim, den königlichen Meistern zu folgen, die die Welt durch vortreffliche Satzungen und einleuchtende Bräuche umzirkelt haben? Wer ist der und wo ist der, der es in seinen Sinn nehmen kann, sich nach einer anderen Seite zu wenden, auf eigene Faust zu handeln und die von den Altvorderen gezogenen Grenzen zu verletzen?«190

Von mitnaggedischer Seite ist die Abkehr vom Studium der Tora – der mündlichen sowie der schriftlichen –, mithin also aus traditioneller Sicht der Wissensform par excellence, der Hauptvorwurf. Hierin stimmt auch Calmanson zu, geht aber noch darüber hinaus: »Cette Secte qui se soutient encore, rejette l’¦tude des Loix; affecte une ignorance que jadis on reprochoit comme un vice, aux membres qui la composent, & dont aujourd’hui elle — fait une vertu; ne connoit qu’une etude, celle de la Cabale, dont pourtant elle ignore & les calcules & les resultants; recommande la vie contemplative comme le seule pour laquelle l’homme soit fait […].«191

Seine Feststellung, die Sekte lehne das Studium der Gesetze ab, knüpft mit dem Hinweis, jene Unwissenheit sei ihnen »damals wie ein Laster« vorgeworfen worden, mit hoher Sicherheit an Semir Arizim – oder die späteren Ausrufe des Bannfluches – an; interessant ist jedoch der unscheinbare Nachsatz, die Sekte 187 188 189 190 191

Semir Arizim, #8, 63. Übers. in Dubnow, Geschichte, 230. Übers. ebd., 233. Übers. ebd., 246. Calmanson, Essai, 14.

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hätte aus dieser Unwissenheit »fait une vertu«. Unwissenheit als Tugend? Als Beispiel für diesen Sachverhalt führt Calmanson an, die Mitglieder der Sekte kennten kein Studium »celle de Cabale«, und selbst dieses würden sie nur betreiben, wo es nicht um die ›wissenschaftlichen‹ (les calculs; les r¦sultats), sondern rein um die mystisch-kontemplativen Aspekte der Kabbala gehe. Darüber hinaus wird die kabbalistische Wissenschaft nach Calmanson von den Chassidim nur dafür verwendet, um das »tyrannische Imperium« der Oberhäupter aufrecht zu erhalten, da sie ihr »unique appui de leur autorit¦« sei192 und hiermit die neuen Gesetze begründet werden könnten. Auch bei Maimon finden sich Bemerkungen in gewohnter Ironie über die ›beschauliche‹ Lebensweise der Sekte, die sich, so Maimon, derart schnell ausbreiten konnte, weil sie mit ihren Lehren den »Weg zur Seligkeit erleichtern sollte, indem sie das Fasten, das Nachtwachen, und beständiges Studium des Talmud nicht nur für unnütz, sondern sogar für die zur ächten Frömmigkeit nöthige Heiterkeit des Gemüths als schädlich ausgab […].«193 Wenn auch in der ihm eigenen ironischen Weise, so doch mit scharfem Blick, analysiert Maimon im Weiteren die Argumente, mit denen sich die Chassidim gegen ihre mitnaggedischen Gegner wandten und mit denen sie sich gegen deren Beharren auf der Tradition entgegenstellten: »Die Hauptsachen, die sie angriffen, waren 1) der Missbrauch der rabbinischen Gelehrsamkeit, die, anstatt die Gesetze so viel als möglich zu simplificieren, und jedem kenntlich zu machen, dieselben immer noch mehr verwirt und unbestimmt seyn läßt; die ferner sich bloß mit dem Studium der Gesetze beschäftigt […], statt daß sie hauptsächlich sich mit der Ausübung derselben beschäftigen sollte, da doch das Studium selbst nicht Zweck, sondern blos Mittel zu Ausübung ist; und die endlich bey der Ausübung selbst bloß auf das äußere Ceremoniel, und nicht auf den moralischen Zweck Rücksicht nimmt […].«194

Wieder einmal wird hier deutlich, dass Maimon mit seiner Lebensgeschichte keine Polemik gegen die »Geheime Gesellschaft« verfasst hat, dass es sich vielmehr um einen Rechenschaftsbericht handelt, der an alles und jeden dieselben hohen Ansprüche stellt – an ihn selbst ebenso wie an die Chassidim und die jüdische Orthodoxie Litauens. Jeder wird seinem harten Urteil unterworfen: hier nun das litauische Rabbinertum, das von den Chassidim fordert, ihm sein Studium der Gesetze, das es als Selbstzweck betreibt, nachzutun. Ausnahmsweise geht Maimon hier als Vertreter der Haskala d’accord mit den Chassidim, beide wollen die Tradition von unnötigem Ballast und gelehrter Selbstherrlichkeit befreien – jedoch liegt der nicht eben unerhebliche Unterschied in der 192 Ebd., 15. 193 Maimon, Lebensgeschichte, 211 f. 194 Ebd., 219 f.

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Begründung: Maimon beruft sich auf die Vernunft als Kriterium, wenn er etwa alle Gesetze, die »jetzt von keinem Gebrauche sind, der Opfer, der Reinigung und dgl.«195 als entbehrlich auffasst; die Chassidim aber beriefen sich, so Maimon, in ihrer Kritik der Betonung der mitnaggedischen Gelehrsamkeit auf die mystischen Fähigkeiten eines jeden Menschen. Als eines der vielen Beispiele führt er die adhoc-Exegese des Maggids an, die ihn bei seinem ersten Zusammentreffen mit dem »Hohen Oberen« noch so sehr beeindruckt hatte.196 Lehren müssen nach chassidischer Vorstellung »ex tempore« verkündet werden, um als göttlich und somit untrüglich aufgefasst zu werden.197 Die Brücke zwischen den Vorwürfen von Mitnaggedim und Maskilim schlägt wieder einmal Israel Löbel, wenn er einerseits feststellt, dass der Bescht an einem »Mangel an talmudischen und andern Kenntnissen« litt198 und andererseits (leider wieder ein falscher zeitlicher Zusammenhang!) das Gründungsdokument der Chassidim, das Testament des Bescht (»Zewaoth ribasch«; siehe hierzu Kap. III) für die Anhänger der Sekte verbiete, »ihre Geisteskräfte auf irgend eine Weise zu vermehren. Ja, sollten sich bei denselben hervorstechende Geistesfähigkeiten äußern, so will er [der Bescht], daß es ihre Pflicht sey, sie nach Möglichkeit zu ersticken und zu unterdrücken.« So sind seines Erachtens den Chassidim beide Schwächen zu eigen: Weder verfügen sie über die traditionell hoch angesehenen Wissensformen von Talmud-Tora, noch betonen sie, wie die Maskilim, die Notwendigkeit des Einsatzes der eigenen Vernunft, der über das orthodoxe Gesetzesstudium hinaus geht, indem sie die eigene Verantwortlichkeit – siehe bei Maimon – im Zusammenhang der Aktualisierung des Überkommenen u. U. über die reine Gesetzestreue stellen. Es bleibt festzuhalten, dass sich Mitnaggedim und Maskilim einig sind, dass die Chassidim sich nicht viel Mühe geben, die rituellen Gesetze einzuhalten, es »tut ihnen nicht sehr leid um ihre Übertretungen von Gesetzen«199 – es wird sogar angeführt, dass es chassidisches Dogma sei, die Gesetze zu missachten. Gerade von Seiten der jüdischen Aufklärer wird dem der Vorwurf hinzugefügt, dass auch die Vernunft der einzelnen Chassidim zugunsten der Herrschaft ihrer »Hohen Obern« über ihre Anhänger nicht eben gefördert wird. Dass die spekulative, mystische Seite der kabbalistischen Wissenschaft dem einhelligen 195 Ebd. 196 »Jeder von uns sollte irgend einen Vers aus der heiligen Schrift hersagen. Es sagte jeder seinen Vers. Darauf fing der hohe Obere an eine Predigt zu halten, der die besagten Verse zum Text dienen mußten, so daß, obschon es aus ganz verschiedenen Büchern der heiligen Schrift hergenommene unzusammenhängende Verse waren, er sie dennoch mit einer solchen Kunst verband, als wenn sie ein einziges Ganzes gewesen wären […]«; Maimon, Lebensgeschichte, 233. 197 Ebd., 227. 198 Löbel,Glaubwürdige Nachricht, 308 f. 199 Semir Arizim, #7, 59.

Merkmale chassidischer Frömmigkeit in den gegnerischen Schriften

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Urteil der Gegner nach die einzige Wissenschaft ist, die die Chassidim ernsthaft betrieben, darf deshalb nicht weiter verwundern.

3.4

Simcha: Die Freude der Chassidim

Über den chassidischen Umgang mit den Gesetzen und den Traditionen über die bloße »Geringschätzung« hinaus schreibt der Verfasser von Semir Arizim: »[…], sich zu amüsieren über ihre Tage in der Weisung, […] und, Gott behüte!, um die Allgemeinheit zu kränken, bloß immer mit Spott und Freude, denn sie sprechen der Traurigkeit die Einzigartigkeit ab, und, Gott behüte!, dem Bedauern, gegen ein Gesetz verstoßen zu haben, damit man nicht in die Hände der Traurigkeit gerät!«200

Das Motiv der Freude taucht an nicht wenigen Stellen innerhalb des Korpus’ der gegnerischen Quellen auf, hierbei vor allem (aber nicht ausschließlich!) im Zusammenhang mit der geschilderten »Geringschätzung« der Gesetze: Gerade in dieser Konstellation scheint sich ein regelrechtes chassidisches Gegengewicht zum Ernst der Einhaltung der rituellen Gesetze abzuzeichnen: »Freude« wird hier durch die Verfasser von Semir Arizim zu einem spezifischem Ausdruck chassidischer Frömmigkeit stilisiert, der in einem engen Verhältnis mit dem Vorwurf der Abkehr von der Tradition steht, hierüber aber weit hinaus geht, was auch aus obigem Zitat ersichtlich wird. Hier nun wird eine mitnaggedische Erklärung angeboten, die dieses Verhältnis spezifiziert, die beschreibt, warum »Spott« (K9;M) und »Freude« (8;BM) von den Chassidim so stark betont würden: Die schwierige Einhaltung der rituellen Vorschriften kann nicht immer glücken, dem Versagen folgt dementsprechend häufig die Enttäuschung. Dies, so der Verfasser des ersten Schreibens von Semir Arizim, sei den Chassidischen Vorstellungen nach aber nicht von Vorteil, wenn es um die individuelle Frömmigkeit ginge. »Freude«, so scheint es, ist eine wichtige chassidische Einstellung, um die rechte Frömmigkeit auszuleben. Wieder liegt die Betonung darauf, dass hier ein markanter Bruch zwischen der Orthodoxie und der ›Sekte‹ bestehe: Die Frömmigkeit des Einzelnen kann sich nach der Vorstellung der ›Sektierer‹ in Studium und Einhaltung der Gesetze nicht erschöpfen, da so der Weg zwangsläufig »in die Hände der Traurigkeit« (N95JF =7=@) führen muss. Doch Simchah hat auch einen Eigenwert, der über die Überwindung des »Bedauern[s], gegen ein Gesetz verstoßen zu haben« hinausgeht, wenn es im Folgenden heißt »[…] immer lärmend mit Spott, Scherz und Freude preisend.«201 Hier ist die Verbindung zur Negation der Trauer im Falle der Gesetzesübertre200 Semir Arizim, #4, 38. 201 Ebd., 41.

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tung nur mehr sehr locker durch den Vorsatz gegeben (8M97K8 8L9N8 =7B9@ C=:5B). Die Chassidim entlarven, so scheint es, nicht nur die Trauer als falsche Frömmigkeit, sondern führen ihre Opposition – Simcha – als Ideal ein. Angesichts der »Geringschätzung« von Talmud-Tora und der beschriebenen (durch die Mitnaggedim vermuteten) Verbindung zur chassidischen Simcha verwundert es jedoch wenig, dass diese Einstellung – an der an sich auch aus mitnaggedischer Sicht nichts Verwerfliches sein kann – von den Mitnaggedim als Irrweg diffamiert wird. So wird auch an jenen Stellen, an denen der Zusammenhang zu Bitul-haTora (Geringschätzung der Tora) nicht hergestellt wird, Simcha dennoch negativ konnotiert, indem es etwa mit »Spott« (s. o.), spotten (5F@)202, »Witz« (@9N=8)203 oder »sich selbst preisen« (@@8N8)204 kombiniert wird. Auch Formulierungen wie »ihre Sprache der Schlüpfrigkeit« (N9K@K@; AD9M@)205 scheinen in diesen Kontext zu gehören. Israel Löbel erklärt sich (und seinen Lesern) die fehlende Traurigkeit der Chassidim mit dem »Moralsysteme dieser Sekte«, von welchem er sogleich »folgende Probe« gibt: »Hat einer derselben eine Sünde begangen, oder will er sie noch begehen, so kann er sich von seinem Oberhaupte völlig Absolution versprechen, ohne einer Sinnesänderung und Besserung des Lebenswandels zu bedürfen.«206

Haben Gesetzesübertretungen einen solchen Stellenwert, so ist verständlich, dass eine Verfehlung keine Gewissensbisse (oder gar Ängste vor dem GilgulNeschama) hervorrufen muss. Aber auch bei Löbel ist von Freude als wegweisender Einstellung der chassidischen Frömmigkeit zu lesen. An seinen Diskussionspartner R. Salomon (s. o. die Quellenbeschreibung) richtet Löbel folgenden Vorwurf: »Und wie abscheulich sind nicht eure besondern Lehren, die ihr zu wiederholten Malen in mehrern eurer Schriften vortraget, daß sich keiner anders zum Liebling Gottes hinaufschwingen könne, als durch Schmausen und Jubeln. Nicht wahr? dieß allein wäre schon hinlänglich, die Schädlichkeit der Existenz eurer Sekte zu beweisen?«207

Genießen und fromm sein scheinen auch angesichts der Gebote aus chassidischer Sicht keine Widersprüche zu sein. Das ergibt auch die Analyse Maimons, der in der Abkehr von asketischen Übungen die augenscheinlichste Abgrenzung der »neuen« Chassidim von den »alten« Chassidim, den kabbalistischen Zirkeln im Osteuropa des 16. / 17. Jahrhunderts, sieht: 202 203 204 205 206 207

Vgl. etwa Semir Arizim, #7, 59. Ebd, #8, 62. Ebd. Ebd., #4, 37. Löbel, Glaubwürdige Nachricht, 313. Ebd., 326; vgl. auch die vergleichbare Formulierung über die Zaddikim, 329.

Merkmale chassidischer Frömmigkeit in den gegnerischen Schriften

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»Aber um diese Zeit warfen sich einige darunter zu Stiftern einer neuen Sekte auf. Diese behaupteten: die wahre Frömmigkeit bestehe keinesweges in Kasteyung des Körpers, wodurch zugleich die Seelenkräfte geschwächt, und die zur Erkenntniß und Liebe Gottes nöthige Seelenruhe und Heiterkeit zerstört werde; sondern umgekehrt, man müsse alle körperlichen Bedürfnisse befriedigen, und von allen sinnlichen Vergnügungen, so viel als zur Entwicklung unsrer Gefühle nöthig sey, Gebrauch zu machen suchen, indem Gott alles zu seiner Verherrlichung geschaffen habe.«208

Maimons Wissen nach ist für die Chassidim »die Heiterkeit des Gemüths« »zur ächten Frömmigkeit nöthig«.209 Asketische Übungen sowie Talmudstudium stehen dem allerdings im Wege oder sind wenigstens unnötig. Voll bitterer Ironie nennt der Maskil Maimon die Chassidim »Aufklärer«, wenn er gegenüber den überladenen orthodoxen Forderungen den heiteren Gottesdienst der Chassidim und den Weg dorthin beschreibt.210 Erst nachdem Maimon schon längere Zeit am Hofe Dow Bärs verbracht hat, geht ihm die Lust an der Freude verloren; gegen Ende seines Kapitels über die »geheime Gesellschaft« spricht er vom »zynischen Wesen« der »Gesellschaft« und »ihrer Ausschweifung in der Fröhlichkeit«211, das er noch mit einer üblen Beispielgeschichte zu illustrieren vermag, an deren Ende das Bonmot des Maggids in tatsächlich zynischem Widerspruch zum Erzählten steht: »Nun Brüder, dient Gott mit Freuden!«212 Welche Begründung auch immer herangeführt wird, die Beobachtung der chassidischen Heiterkeit ist allen Gegnern – Mitnaggedim wie Maskilim – gemein. Hier wird Frömmigkeit tatsächlich als Haltung, als »formgebende Gestaltung des Lebens«213 greifbar, die auch nicht durch »einen Teilbereich der Lebenswelt eingegrenzt« ist: Durch die Häufigkeit und Vielfalt der Nennungen dieser spezifischen Haltung und die variierenden Erklärungen muss es sich um ein nicht eben unwichtiges Element chassidischer Frömmigkeit handeln, das offenbar nicht nur den rituellen, sondern auch den alltäglichen Bereich des chassidischen Lebens im 18. Jahrhundert prägte und mit dem sich die chassidische Gemeinde von der jüdischen Umwelt abhob.

208 209 210 211 212 213

Maimon, Lebensgeschichte, 208. Ebd., 212. Ebd., 212. Ebd., 234. Vgl. hierzu Seite 234 f. Hamm, Frömmigkeitstheologie, 10 f.

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Zentrale chassidische Frömmigkeitsmerkmale aus der Sicht ihrer Gegner

3.5

Kawwanna: Gottesdienst immer und überall, nicht aber zu festgelegten Zeiten; außerdem: das Pfeifenrauchen der Chassidim

Wie oben bereits anhand der gegnerischen Behauptungen gezeigt wurde, befreiten sich die Chassidim, zum Entsetzen der Nichtchassidim, kurzerhand vom »Joch der Tora«214, nicht zuletzt also von der Bindung an die Mitzwot, welche auch im osteuropäischen Exil das einende Band des jüdischen Lebens darstellten. Wie aber kamen die Chassidim dazu, Traditionen, die z. T. seit Jahrhunderten bestanden, aufzugeben, bzw. was setzten sie an ihre Stelle? Worin bestand nach chassidischer Auffassung ein rechter, von Simcha geprägter Gottesdienst, wenn nicht in der Einhaltung der Gebote und der überkommenen Gottesdienstform? Was sorgte dafür, dass die Chassidim ständig guter Dinge waren, dass ihre Freude bzw. Heiterkeit nicht nur den Zeitgenossen auffiel, sondern auch heute noch regelrecht ›legendär‹ ist?215 Die Antwort ist in den frühen gegnerischen Schriften zu finden und wird in einem einzigen Wort gebündelt: Kawanna. Kawanna (8D9?) wird bereits in Semir Arizim als chassidisches Spezifikum angeführt: R. Issar, R. Mendel und ihre Begleiter hatten in ihren Verhören behauptet, dass »ein Wunder [ihnen] mit der rechten Kawwana […] möglich sei.«216 Was an dieser Stelle217 lediglich als chassidische Erklärung für die ›Wundertaten‹ der »Hohen Obern« angeführt wird, ist darüber hinaus aber auch die Erklärung für eine ganze Reihe von Vorwürfen der Mitnaggedim gegen die Chassidim bzw. für einige ihrer auf den ersten Blick ziemlich skurril klingenden Beobachtungen chassidischer Frömmigkeitspraxis, die z. T. zusammenhangslos und en passant in den Text eingestreut sind: »Und immer stellen sie sich vor den Gebeten zwei Stunden hin und tun nichts, bis zur Zeit des Schema-Gebetes […].«218

214 Semir Arizim, #4, 38. 215 Vgl. etwa die vielen heiteren chassidischen Legenden, die auch im 20. Jahrhundert noch immer wieder auf reges Interesse stießen: Neben den »klassischen« Editionen von Martin Buber, wie Die Erzählungen der Chassidim, Zürich 91984, oder Schriften zum Chassidismus, München und Heidelberg 1963, gibt es eine Unzahl von Editionen, welche chassidische Erzählungen überliefern, und die fast immer um die unglaublichen Geschichten einzelner Zaddikim, allen voran denen des Bescht, kreisen. Eine (sehr) kleine Auswahl: Die Erzählungen des Rabbi Nachman von Bratzlaw; übersetzt von Michael Brocke, München und Wien 1985; Wolf Pascheles (Hg.), Sippurim. Eine Sammlung jüdischer Volkssagen, Erzählungen, Mythen, Chroniken, Denkwürdigkeiten und Biographien berühmter Juden. 2 Bde, Hildesheim und New York 1976; Ludwig Wächter, Das verzauberte Pferd. Erzählungen aus der Welt des Chassidismus, o. O. 1988 u.v.m. 216 Semir Arizim, #8, 63. 217 Vgl. aber auch #9, 66: .@976 79E9 84@HD9 8@976 8D9? 8:5 218 Ebd., #4, 38.

Merkmale chassidischer Frömmigkeit in den gegnerischen Schriften

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»[…] und beenden ihre Tage mit dem Heraustreiben von Rauch aus ihren Mündern.«219 »Auch scheuen sie nicht, die Gesandten Gottes zu lästern, zu beschimpfen und zu schmähen, indem sie die für das Lesen des Schema und die Andacht festgesetzte Zeit nicht einhalten […].«220 »Wie oft treten uns heutzutage solche eingefleischten Frevler, solche Verräter an Israel, entgegen, zuchtlos, wie sie sind, sich um das ewige Leben nicht kümmernd, den ganzen Tag in Gesang verbringend […].«221

Die Liste der angeführten Zitate soll nur als Beispiel für die Menge an scheinbar unzusammenhängenden Exempeln für die chassidischen Frevel dienen und ließe sich noch erweitern. Doch inwiefern sind nun die scheinbare Untätigkeit vor den Gebeten, das exzessive Pfeiferauchen, der mangelnde Ernst, wenn es um die Einhaltung der Gebetszeiten geht oder die Hervorhebung des Gesangs der Chassidim zusammenzubringen? Ein Zusammenhang lässt sich mithilfe der Analyse Salomon Maimons durch den Begriff der Kawwanna herstellen: Kawwanna, verstanden als Absicht, Intention oder Andacht, stellt offensichtlich ein grundlegendes Prinzip chassidischer Frömmigkeit dar, von dem aus viele der einzelnen Elemente verständlich werden; sie ist das mystische Movens des Chassidismus. Sein »Gottesdienst bestand in einer freywilligen Entkörperung, d. h. Abstrahirung ihrer Gedanken von allen Dingen außer Gott, ja sogar von ihrem individuellen Ich, und in Vereinigung mit Gott; woraus eine Art von Selbstverläugnung bey ihnen entstand, so daß sie alle in diesem Zustande unternommenen Handlungen nicht sich selbst, sondern Gott zuschreiben.«222

Hieraus lassen sich vermutlich auch die polemischen Äußerungen auflösen, die oben genannt wurden: Eine solch inbrünstige Andacht, die alles Umgebende vergessen macht, ist nicht ohne Aufwand herzustellen. Deshalb, so kann man an dieser Stelle nur vermuten, treffen sich die Chassidim zwei Stunden vor den Gebeten und tun scheinbar nichts: Sie bereiten sich auf ihre selbstverleugnende Kawwanna vor, die sie für ihr Gebet brauchen. Wenn nun irgendwann die Chassidim, so kann weiter gedacht werden, ihre Andacht vorbereitet haben, muss das in rechter Intention, mit rechter Andacht gesprochene Gebet gut – d. h. wirksam – werden. Hier ist nun – konsequenterweise – auch die Zeit zweit219 Ebd.; aber auch an anderer Stelle wird das Pfeiferauchen der Chassidim erwähnt. 220 Ebd., #5, 45; vgl. hierzu auch Katzenellenbogen an Lvi Jitzchak, übers. in Dubnow, Geschichte, 249: »Denn in Missachtung der Vorschrift, derzufolge man sich kurz vor der Andachtszeit nicht in halachische Erörterungen einlassen dürfe, damit sich diese nicht übermäßig hinziehen, stehen sie in ihrem Übermut nicht an, vorsätzlich die für das Lesen des Schema […] und das Morgengebet festgesetzte Zeit zu überschreiten […]«. 221 Ebd., 46. 222 Maimon, Lebensgeschichte, 221.

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Zentrale chassidische Frömmigkeitsmerkmale aus der Sicht ihrer Gegner

rangig, ein Gebet in Kawwanna kann somit auch zu anderen als den vorgeschriebenen Zeiten gesprochen werden. Jedoch ist diese reine Intention, verbunden mit der »freywilligen Entkörperung« äußerst schwer zu erlangen, was Maimon zeigt: »Da es aber mit einer solchen Abstraktion sehr schwer hielt, so bemühten sie sich durch allerhand mechanische Operationen (Bewegungen und Schreyen) sich in diesen Zustand, wenn sie durch andre Vorstellungen aus demselben herausgekommen waren, wieder zu versetzen, und sich darin, während der ganzen Andachtszeit, ununterbrochen zu erhalten. Es war lustig anzusehn, wie sie oft ihr Beten durch allerhand seltsame Töne und possierliche Bewegungen (die als Drohungen und Scheltworte gegen ihren Gegner, den leidigen Satan, der ihre Andacht zu stören sich bemühe, anzusehen waren) unterbrachen, und wie sie sich dadurch so abarbeiteten, daß sie gemeiniglich bey Endigung des Betens ganz ohmmächtig niederfielen.«223

Wirklich verständlich wird die Bedeutung der Kawwanna für die chassidische Frömmigkeit auch innerhalb der gegnerischen Schilderungen erst, wenn – exemplarisch – Pfeiferauchen und Gesang in den Blick genommen werden: Auch sie können – wie letztlich jede Handlung – Gottesdienst sein, so in rechter Kawwanna getan. In gewohnt ironischer Überspitzung findet sich ein Beispiel hierfür wiederum bei Maimon: »Einige einfältige Männer aus dieser Sekte antworteten zwar, wenn man sie, da sie den ganzen Tag über mit der Pfeife im Munde müßig herumgingen, fragt, woran sie doch zur Zeit dächten? »wir denken an Gott!«224

Auch das für die Chassidim in der mitnaggedischen Wahrnehmung scheinbar typische »ganztägige Singen« ist, in Kawwanna getan, vermutlich als Gottesdienst aufzufassen, auch wenn er aus mitnaggedischer Sicht als zuchtloser Müßiggang beschrieben wird – und angesichts der Vernachlässigung von Talmud-Tora auch nicht anders aufgefasst werden kann. Mit Kawwanna, so scheint es, setzen die Chassidim ihr Gegengewicht zu den orthodoxen Werten, aus dem vermutlich auch ihre Freude erklärbar wird: In der richtigen Absicht getan können selbst das Rauchen der Pfeife und das Singen ein Dienst an Gott sein. Hierfür aber, und darin liegt vermutlich die Angst vor dem Autoritäts- und gar Identitätsverlust der Orthodoxie, sind die traditionellen Frömmigkeitsformen (-pflichten), über die die jeweilige Elite der Kehilot verfügte, nicht der einzige gangbare Weg, die Grundlagen der jüdischen Gesellschaft sowie der Herrschaftsverhältnisse scheinen in Gefahr, denn: Mit Kawwanna kann jeder einen Gottesdienst vollbringen, indem er das, was er gut kann, mit der rechten Intention tut. Mit Kawwanna wird, in Abgrenzung von der 223 Maimon, Lebensgeschichte, 222. 224 Ebd., 223.

Merkmale chassidischer Frömmigkeit in den gegnerischen Schriften

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Gemeinde, nicht nur die Individualisierung vorangetrieben, sondern es wird auch einem (keineswegs nur rituellen) Libertinismus der Weg bereitet.

3.6

Das absonderliche Gebetsgebaren der Chassidim

Unter den konkreten Vorwürfen jedoch kommt der Hinweis auf das von den orthodoxen Vorschriften abweichende Gebet der Chassidim mit Abstand am häufigsten vor. Hierbei wiederum ist die Bandbreite der konkret benannten Vorwürfe recht groß. Zwei Aspekte chassidischen Betens, die von mitnaggedischer Seite angeführt werden, wurden bereits genannt: Das unorthodoxe, lockere Verhältnis der Chassidim zu den vorgeschriebenen Gebetszeiten wurde im vorhergehenden Abschnitt mutmaßlich mit dem Grundprinzip chassidischer Frömmigkeit, Kawwanna, begründet, und durch die Erklärungsversuche Salomon Maimons wurde auch schon angedeutet, dass auch das berühmte ekstatische Gebet der Chassidim u. U. mit Kawwanna assoziiert – und evtl. erklärt – werden kann. Doch erschöpfen sich die Beschuldigungen nicht in der Feststellung der Nichteinhaltung der Gebetszeiten, und bei genauerem Hinsehen wird auch das ekstatische Gebaren der Chassidim während der Gebete nicht allein durch Kawwanna bzw. den Kampf »gegen ihren Gegner, den leidigen Satan« zu erklären sein. Insgesamt kristallisieren sich aus den mitnaggedischen Quellen vier Vorwürfe deutlich heraus, die innerhalb des absonderlichen Verhaltens der Chassidim während des Gebetsgottesdienstes angeklagt werden: Der Verstoß der Chassidim gegen die vorgeschriebenen Gebetszeiten wurde in anderem Zusammenhang bereits ausreichend behandelt. Hierüber hinaus jedoch fallen drei weitere Beschuldigungen auf, die sogar wesentlich schwerer wiegen, was aus der Häufigkeit ihrer Nennung zu schließen ist: das ekstatische, »wahnsinnige« Gebaren während der Gebete, die Abänderung des Ritus und die Einflechtung von jiddischen Teilen in die heiligen hebräischen Gebete. Alle drei Beschuldigungen sollen im Folgenden kurz skizziert werden, so, wie sich der Sachverhalt den Gegnern darstellte. Als das am meisten Aufsehen erregende, mithin auch am häufigsten genannte Merkmal der Gebete der Chassidim stellt sich – nicht nur in Semir Arizim – das zweifelsohne auffällige Gebaren der Chassidim dar, auf das mit einem Zitat aus Maimons Lebensgeschichte bereits verwiesen wurde. Was nun Maimon als »mechanische Operationen« bezeichnet, die dafür sorgen sollten, die Konzentration (Kawwanna) auch wider die Ablenkungen des Anklägers aufrecht zu erhalten, das wird an tatsächlich sehr vielen Stellen angemerkt, wobei die Qualität der Schilderungen zwischen (zumindest ex post) kaum verständlichen, regelrecht kryptischen Andeutungen über empörte Hinweise bis hin zu aus-

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Zentrale chassidische Frömmigkeitsmerkmale aus der Sicht ihrer Gegner

führlichen Darstellungen der Gräueltaten während der heiligen Gebetsgottesdienste changiert. Was aber erlebten die Mitnaggedim, wenn sie gemeinsam mit den Sektierern beteten? Worin bestanden jene ›Gräuel‹, die immer wieder proklamiert werden? Die Schilderungen in Semir Arizim gehören vor allem jener Gruppe der Andeutungen an, die nur mit einer gewissen Portion exegetischer Fantasie entschlüsselt werden können, jedoch sind auch klare Bezeichnungen der besonders großen Auffälligkeiten zu finden: »[…] und auch ihr Gebet ist ein Gräuel […], [sie sind]leichtfertig mit ihrem Gebet wie einer der Nichtsnutze, denn es ist ein verschrobenes Geschlecht [Deut 32,20], und sie wälzen sich vor der Bundeslade des Herrn herum […], ihre Köpfe nach unten und ihre Füße nach oben […] und das ganze Volk ist gebunden an ihre Stimmen, an ihre starken Stimmen und ihren Lärm im Gebet und von welchem die Stadt zerrissen wird [entfernte Anlehnung an 1. Kön 1, 40b].«225

Oder »[…] und sie brüllen auch während des Gebetes Schemone Esre [in der] Sprache des fremden Volkes in vielfältiger Weise, und benehmen sich wie im Wahn […].«226

Ebenso »Furchtbar sind ihre andersartigen Stimmen, aber eine volle Stimme deklamiert lärmend, um sich abzunutzen […], ihre Taten erscheinen wie [unwahrscheinliche] Visionen, Räder […], die Höchsten nach unten und die Untersten nach oben.«227

Bis hierher kann nur vermutend zusammengefasst werden, was so absonderliches während der gemeinsamen Gottesdienste geschehen sein wird : Zum einen müssen die Chassidim – gegen den Brauch – laut gebetet haben, wobei ›laut‹ angesichts der Schilderungen vermutlich eine nicht unerhebliche Untertreibung ist. Jedoch muss ihr Lärm über ein reines lautes Beten hinausgegangen sein, denn auch Maimon schildert ja in seiner Autobiografie, dass sie sich unter anderem des »Schreyens« bedienten, um ihre angestrebte »Entkörperung« (Kawwanna) zu erlangen bzw. zu erhalten. Weitaus spektakulärer aber noch als das »Schreyen« der Chassidim müssen jene »unwahrscheinlichen Visionen« gewesen sein, die die Mitnaggedim zu erleben gezwungen wurden : Unter 8@FB@ A=D9N ;N9 8üB@ A=D9=@F kann nur zu verstehen sein, dass die Chassidim innerhalb des Gebetsraumes (zeitlich und örtlich verstanden) Purzelbäume gemacht haben müssen! Tatsächlich zeigen die an siebter Stelle in Semir Arizim überlieferten Verbote der Gemeinde Lesnow im Bezirk 225 Semir Arizim, #4, 40 f. 226 Semir Arizim, #7, 59. 227 Semir Arizim, #8, 60; ebenso #9, 65: 8@FB@ A=D9N;N9 8üB@ A=D9=@F

Merkmale chassidischer Frömmigkeit in den gegnerischen Schriften

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Brody, was gemeint ist, wenn sie festlegen, dass bei den chassidischen Gastmählern (an denen auch nur zwei der Sektierer teilnehmen durften), den dritten Sabbatmahlen, die ›Frevler‹ nicht »wie es ihr Brauch ist, nach Narrenart Purzelbäume schießen, umherhüpfen und tanzen«228 dürfen. Zudem wird hier »jenen berüchtigten Männern [verwehrt], ihre Stimme beim Beten übermäßig zu erheben, da der Gottesdienst hierdurch gestört wird.«229 Am deutlichsten und ausführlichsten beschreibt Avraham Katzenellenbogen in seinem Brief an Levi Jizchak, was er selbst erlebte, wenn er sein Gegenüber fassungslos nach dem Grund für dieses sonderbare Gehabe fragt: »[…] Unsere Meister, g. A., haben gelehrt: Wer seine Stimme beim Beten vernehmbar macht, gehört zu den Kleingläubigen, und wer seine Stimme beim Beten erhebt, gehört zu den falschen Propheten. Sie [die Sektierer] aber brüllen wie beutegierige Löwen […], sie wollen das ganze Erdenrund erzittern lassen, alle Mitanhörenden in Schrecken versetzen und so den Anschein erwecken, als ob sie heiliger und reiner seien […]. Je mehr sie sich also wild und verrückt gebärden, wie Ziegenböcke hüpfen, hopsen und springen, sich nach rechts und links biegen, sich bis zur Erde beugen, bald in die Tiefe herabsinken, bald emporschnellen, sich bald gen Himmel wenden, bald wieder in den Abgrund stürzen und dem Herrn in der Höhe gleichsam Beifall klatschen […].«230

R. Katzenellenbogen muss zwar zugeben, dass auch der große R. Akiba einst, »in einer Ecke zurückgelassen und in einer anderen wiedergefunden«231 wurde, jedoch geschah dies, als R. Akiba allein war ; die Chassidim dagegen legten dieses wunderliche Verhalten vor versammelter Gemeinde an den Tag, um, so Katzenellenbogen, »durch ihr Benehmen das Volk, insbesondere die Frauenwelt, zu erschüttern und zu betören«232. Die Erklärung, die Katzenellenbogen anbietet, mag eine Verkürzung sein (was die Analyse der chassidischen Quellen zeigen wird). Fakt aber ist, dass das chassidische Beten mit seinen »mechanischen Operationen« in den polnischlitauischen Gemeinden enorm aufgefallen sein muss, sonst hätte es keine derart hohen Wellen geschlagen, die einen so vielfältigen literarischen Niederschlag gefunden haben. Auch kann es sich kaum um ein Einzelphänomen gehandelt haben, wenn hiervon unter anderem in Semir Arizim (Wilna), bei Katzenellenbogen (der von seinen Erlebnissen in der Warschauer Vorstadt Praga berichtet) und Maimon (Meseritz) gleichermaßen zu lesen ist. Zudem ist durch diese drei Zeugen eine gewisse Längsschnittartigkeit gewährleistet. Jedoch ist den Mitnaggedim nicht nur das ekstatische Tanzen, Purzelbäume schlagen und Brüllen der Sektierer während der Gebetsgottesdienste aufgefallen. 228 229 230 231 232

Semir Arizim, #:, 68, Übers. Dubnow, Geschichte, 202. Ebd., 203. Katzenellenbogen an Lvi Jitzchak, Übers. Dubnow, Geschichte, 248. Ebd. Ebd.

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Zentrale chassidische Frömmigkeitsmerkmale aus der Sicht ihrer Gegner

Vielmehr kamen sie nicht umhin festzustellen, dass die Abtrünnigen auch den in den osteuropäischen Gemeinden üblichen aschkenasischen Ritus gegen den sephardischen austauschten (»und prägen so die von den hervorragenden Meistern des Gesetzes in diesen Ländern geprägten Andachtsordnungen willkürlich um«233), wogegen sie vehement einschritten.234 Zu allem Überfluss führten die Chassidim mit dem sephardischen Ritus einen anderen als den typischen aschkenasischen Siddur ein, nämlich den Lurianischen.235 Ähnlich dem Sachverhalt des ekstatischen Gebarens fragt auch hier Katzenellenbogen Levi Jizchak nach dem Grund. Leider ist keine Antwort des Zaddiks erhalten: »Wie kamen sie darauf, den alten Ritus, den von unseren heiligen Vätern hierzulande festgesetzten Text der Gebete abzuschaffen und sich statt dessen für einen anderen Weg, den sephardischen Ritus zu entscheiden? […] Wie sehr möchte ich darüber belehrt werden, was den Vorzug dieses Textes bildet, auf welche Weise sich ein Weg offenbart haben mochte, der den größten Geonim unbekannt und verborgen geblieben ist, und durch welches Unheil sich die Sektierer bedroht sahen, daß sie, anders als alle unsere Brüder in Israel, einen neuen Ritus einführen zu müssen glaubten?«236

Zu der Abänderung des Ritus aber kommt noch ein weiteres Vergehen: Die heiligen hebräischen Gebete wurden durch ›Ergänzungen‹ verstümmelt bzw. unterbrochen, offensichtlich in der jiddischen Volksprache: Auf diese »Störungen der Gebete durch Wörter in der Sprache des fremden Volkes« wird an mehreren Stellen hingewiesen.237 Eine genauere Bestimmung dessen, was gemeint ist, geben die gegnerischen Quellen aber nicht her ; es kann an dieser Stelle lediglich vermutet werden, dass es sich um Fürbittengebete gehandelt haben mag, die in der Sprache des ostjüdischen Volkes eingeflochten wurden, weil in den wenigen konkreten Hinweisen auf die zeitliche Einordnung (etwa Semir Arizim, #7, 59) dieser »Störungen der Gebete durch Wörter in der Sprache des fremden Volkes« innerhalb des Gebetsgottesdienstes bemerkt wird, dass die Chassidim während des Schemoneh Esre (8LMF 8D9BM) durch ihre Unterbrechungen gestört hätten. Das Schemone Esre nun, einer der Hauptbestandteile des zweiten Hauptteils des täglichen jüdischen Gottesdienstes, enthält eine »Anzahl von Bitten, die die wichtigsten Bedürfnisse des einzelnen und der Gesamtheit

233 Semir Arizim, #5, 45. 234 Vgl. hierzu etwa die Verbote in Semir Arizim, #5, 47: ü=D ý=: L4ü LD==K :4 4ü=MH9 ,N=:D?M48 8@HN8 ;E9DB 9D@M 68DBB C==: 9J 8DMB A9@M9 E; […] =’’L48 =K@48 @M L97=E8 ý9NB C==: 9J @@HNB C=6F99 L7; ebd., #:, 5,4. 235 Vgl. ebd. 236 Katzenellenbogen an Levi Jizchak, Übers. Dubnow, Geschichte, 247. 237 Etwa Semir Arizim, #7, 59; #9, 65; #8, 62; auch mögen jene Hinweise, die Katzenellenbogen als »dergleichen Erfindungen mehr« bezeichnet, in dieselbe Richtung gehen; vgl. Katzenellenbogen an Levi Jizchak, Übers. Dubnow, Geschichte, 248.

Zusammenfassende Hinweise und Ausblick

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betreffen.«238 Im ›Achtzehngebet‹ oder der Tefila, wie das Bittgebet auch genannt wird, sind also am ehesten weitere persönliche (und eventuell deshalb jiddische?) Bitten zu vermuten. Hinsichtlich des chassidischen Betens lässt sich zusammenfassend zweierlei feststellen, wenn der Blick aus gegnerischer Seite auf diesen Gegenstand geworfen wird: Für die Mitnaggedim stellte es in erster Linie einen Verstoß gegen die Tradition und somit gegen die Festen der ostjüdischen Gesellschaft dar, wenn Ritus, Siddur und Wortlaut einzelner Gebete verändert wurden. Auch das ekstatische Beten mit Schreien, Tanzen, Purzelbäumen u. dgl. wurde angeprangert, weil die Tradition es nicht vorsah (siehe das angeführte Zitat Katzenellenbogens, der den Talmud gegen das chassidische Beten ins Feld führt); darüber hinaus aber, so vermuten Katzenellenbogen und Maimon unisono, sind die Aufsehen erregenden ekstatischen Zustände der Sektierer dem individuellen Narzissmus geschuldet. Die »einfältigen Männer aus dieser Sekte«, wie Maimon sie nennt, möchten im Mittelpunkt stehen. Dies ist es, wovon Maimon spricht: »Es ist auch nicht zu leugnen, daß, so gegründet ein solcher Gottesdienst an sich seyn mag, er auch eben so sehr dem Mißbrauche unterworfen sey.«239

4.

Zusammenfassende Hinweise und Ausblick

Natürlich dürfen die auf den vergangenen Seiten beschriebenen Phänomene mitnichten als ›die chassidische Frömmigkeit‹ bezeichnet werden. Vielmehr, es sei an dieser Stelle noch einmal an die Zielsetzung des Kapitels erinnert, wurde durch die Augen der Gegner der Chassidim ein Blick auf das geworfen, was diesen als typische Äußerungen der chassidischen Frömmigkeit aufgefallen ist, das, was die Mitnaggedim, aber auch die Maskilim als nicht orthodox (oder der aufklärerischen Vernunft entsprechend) verstanden. Tatsächlich wurden durch diese Zugangsweise letztlich nur Phänomene aufgezeigt – man könnte auch von den ›Manifestationen des Frommen‹ sprechen, welche im Urteil der Zeitgenossen des frühen Chassidismus als die Hauptfrevel wahrgenommen wurden, derer sich die Chassidim schuldig machten. Die Quellen, aus denen diese einzelnen Phänomene herausgearbeitet wurden, sind, dies zeigte die formale Quellenanalyse (vgl. II.1.3), stark polemisierenden, überspitzenden Charakters. Die Verfasser der Schriftstücke werden nicht müde zu betonen, dass es sich um ›Frevel‹, um ›Gräueltaten‹, kurzum: um einen schweren »Bruch des Hauses Israel […], weit gebrochen durch das Bestehende 238 Ismar Elbogen, Der jüdische Gottesdienst in seiner geschichtlichen Entwicklung, Hildesheim 1962, 15; vgl. zum 8LMF 8D9BM auch §7 von Kapitel I. 239 Maimon, Lebensgeschichte, 222 f.

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Zentrale chassidische Frömmigkeitsmerkmale aus der Sicht ihrer Gegner

hindurch« handelt – keinesfalls aber würden sie das Beobachtete als diskutable, neue Frömmigkeitsformen ansehen. Diese herausgearbeiteten Frömmigkeitsformen – oder ›Frevel‹, ›Gräueltaten‹ usf. – können als ›Phänotypen‹, als die empirisch greifbare Form der spezifischen chassidischen Frömmigkeit bezeichnet werden, die Hinweise zu geben vermögen auf die ›genotypische‹ Frömmigkeit. Die phänotypische Seite, die Seite der Merkmale, zeigt, an welcher Stelle eine Analyse der chassidischen Frömmigkeit ansetzen muss. So wird der Blick auf das Konventikeltum, auf die neue Gemeindeordnung, auf den Umgang der Chassidim mit dem die jüdische Gemeinde schlechthin konstituierenden Schriftenkanon, auf den Zusammenhang von Freude und Frömmigkeit, auf den Alltagsgottesdienst in Kawwanna und auf das besondere Gebetsverhalten zu richten sein. Indem diese Phänomene als Steine des Anstoßes für die Nichtchassidim aus den gegnerischen Schriften herausgearbeitet wurden, wurden die typischen Merkmale aufgezeigt; sie gilt es im Folgenden anhand der chassidischen Schriften in den Blick zu nehmen und zu analysieren. Es muss erst noch begründet werden, warum es sich eben nicht nur um die ›Gräuel‹ der Sektierer handelt, sondern um die spirituelle Lebenspraxis einer Frömmigkeitsbewegung. Bereits an dieser Stelle aber können einige allgemeine Schlüsse wohl durchaus gezogen werden: In den Vorwürfen an die Chassidim wird, zumindest aus der geschilderten Außenperspektive, deutlich, dass der frühe Chassidismus sich scheinbar von den äußeren Heilsmitteln und Ordnungen abwendet, welche die traditionelle Kehila definierten, konstituierten und gegenüber der oft feindlichen Umwelt stabilisierten. In der Abkehr der Chassidim von der überkommenen Gemeindeordnung, von der Konzentration auf das Studium von Talmud und Tora und die »Weisungen der Väter«, welche die Gegner feststellen, in ihrer Absonderung und ihrer Verweigerung von intellektueller Bildung – ob es nun um die Geringschätzung von talmudischem Wissen (Mitnaggedim) oder Vernunft (Maskilim) geht – bilden sich Merkmale einer chassidischen Alternativkonzeption von Frömmigkeit ab, hier freilich negativ konnotiert und als Frevel dargestellt. Hierdurch zeichnen sich allerdings bereits Leitlinien ab, die eine erste Einschätzung einer spezifisch chassidischen Frömmigkeit ermöglichen: Ob die Chassidim tatsächlich jene »Schranken einrissen« oder nicht, kann an dieser Stelle noch nicht gesagt werden; jedoch lassen die Vorwürfe ihrer Gegner darauf schließen, dass die Chassidim wenigstens anders gewichteten, indem sie die ›klassischen‹ –von ihrer Warte aus äußerlichen – Formen überschritten oder umdeuteten. Es liegt nahe, hier eine Wende hin zu mystischen Formen an zu nehmen: Das Zusammenspiel der formulierten zentralen Merkmale Geringschätzung von Talmud-Tora, Kawwanna und Simcha, aber auch die ersten Hinweise auf die neue Gemeindeordnung und das ungewöhnliche Gebetsgebaren erscheint, ins

Zusammenfassende Hinweise und Ausblick

75

Positive gewendet, geradezu paradigmatisch für die Definition, die Gershom Scholem seinem Standardwerk über Die Jüdische Mystik zugrunde legt: »Die mystische Religion sucht also den Gott, der ihr in den spezifischen religiösen Vorstellungen der Gemeinschaft entgegentritt, in der sie sich entwickelt, aus einem Objekt des Wissens und der Dogmatik zu einer neuen und lebendigen Erfahrung zu machen. Sie sucht darüber hinaus diese Erfahrungen in einer neuen Weise zu interpretieren.«240

Ohne nun den ›orthodoxen Gott‹ zu jenem »Objekt des Wissens und der Dogmatik« und der Äußerlichkeit machen zu wollen ist hinter den von den Gegnern bezeichneten Gräueltaten, die von diesem traditionellen Weg abweichen und die als libertinistische ›Beimischungen‹ der Chassidim aufgefasst werden können, wohl am ehesten das mystische Bedürfnis zu verstehen, durch die individuellen Möglichkeiten, welche durch Kawwanna geschaffen sind, die Nähe Gottes herzustellen, wenn nicht mit Schweigen und Meditation, dann mit »Schreyen« und Purzelbäumen. Vielleicht ließe sich der Chassidismus aus der Sicht der Gegner sogar als eine jüdische Form eines ›mystischen Spiritualismus‹ bezeichnen. Nicht nur die Abkehr von den überkommenen Frömmigkeitsformen, sondern auch die aufgezeigten neuen Merkmale lassen das mystische Ziel der cognitio dei experimentalis, das jeder Gläubige auf ganz individuelle Art zu erreichen suchen muss, vor Augen treten. Dies äußert sich in der (dem Urteil Maimons nach allerdings nur scheinbar) persönlichen Beziehung zwischen dem Chassid und seinem jeweiligen »Hohen Obern« ebenso wie in der Individualisierung des Gottesdienstes durch Kawwanna, in jenem persönlichen Hochgefühl (Simcha) im alltäglichen spirituellen Leben genauso wie im gefühlvollen, ekstatischen Beten während des Gebetsgottesdienstes nebst den individuellen Bittgebeten zwischen den heiligen Worten des Schemone Esre. Dieses offensichtlich handlungsorientierte mystische Streben nach individueller Erfahrung, nach ›religiösem Gefühl‹ oder ›religiösem Fühlen‹, kurzum: nach einer anderer Wahrnehmung der Gottesbeziehung, scheint ein zentrales Merkmal chassidischer Frömmigkeit zu sein. Auch in der Individuation, die sich in den gegnerischen Schriften im Vorwurf des Separatismus und des in Kawwanna getanen alltäglichen Gottesdienstes äußert, spiegelt sich vermutlich dieses mystische Bestreben wider. Über die Qualität dieser Individuation jedoch kann an dieser Stelle noch recht wenig gesagt werden, da die Rolle der »Hohen Obern« (etwa hinsichtlich der dies- und jenseitigen Heilsvermittlung) als Repräsentanten der neuen Gemeindeordnung noch nicht bestimmt ist. Somit kann auch der in den gegnerischen Schriften so offen zu Tage tretende neuzeitliche Begriff der Individua-

240 Scholem, Die jüdische Mystik, 11.

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Zentrale chassidische Frömmigkeitsmerkmale aus der Sicht ihrer Gegner

tion letztlich noch nicht sicher als Merkmal der chassidischen Frömmigkeit verzeichnet werden. Ob das Streben der Chassidim nach einer Vertiefung von Glauben und Glaubensleben, das sich in den Vorwürfen abzuzeichnen scheint, in Abkehr von der Tradition erfolgt oder als Erweiterung zu verstehen ist, welche »die Quelle der religiösen Erkenntnis und Erfahrung, die in seinem eigenen Herzen entspringt, als gleichberechtigte Erkenntnisquelle neben die Offenbarung stellt«241, muss die Analyse der chassidischen Quellen zeigen. Das Urteil der Gegner jedenfalls fällt hier eindeutig aus.

241 Ebd., 10.

Kapitel III: Weg von der Polemik: Innenansichten

1.

Anleitung und Erbauung: Die chassidischen frömmigkeitstheologischen Schriften

Im Zusammenhang der Fragestellung interessieren in erster Linie diejenigen Quellen, die anleitenden oder erbaulichen Charakters sind und in denen somit hinsichtlich der vorgestellten Merkmale ein Frömmigkeitsideal greifbar wird: die chassidischen frömmigkeitstheologischen Schriften. Im Folgenden nun wird zunächst die ›materiale‹ Grundlage, die Quellen selbst, in den Blick genommen, bevor anschließend die vorgestellten Frömmigkeitsmerkmale von chassidischer Perspektive aus untersucht werden. Welche Quellengattungen also stehen zur Verfügung? Welche von diesen werden dem Anspruch gerecht, durch konkrete Anleitung oder Darstellung von Idealen einen Frömmigkeitstypus zu entwickeln?

1.1

Frömmigkeitstheologische Quellen des frühen Chassidismus und ihre Anliegen

Wie bereits mehrfach betont, beginnt die Verschriftlichung der chassidischen Lehre erst in den 1780er Jahren – vorher verfügte die Bewegung, die bis dahin nicht zuletzt aufgrund dieser Tatsache als Bewegung nur durch die gegnerischen Zeugnisse (s. o.) greifbar ist, nur über eine mündliche Tradition; aus der Zeit des beschtschen Chassidismus liegen keine unmittelbaren Zeugnisse vor, die aus frömmigkeitsgeschichtlicher Sicht von Interesse sind. Üblicherweise wird die überlieferte chassidische Literatur, die sich von den 1780er Jahren an explosionsartig entwickelte1, in zwei Hauptgruppen klassifiziert: Homiliensammlungen, die meistens ihren Ursprung in den Predigten der 1 Vgl. Glenn Dynner, Men of silk. The Hasidic conquest of Polish Jewish Society, Oxford 2006, 199.

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Weg von der Polemik: Innenansichten

Zaddikim haben, und welche ethische, kabbalistische und originär chassidische Lehren enthalten einerseits und die berühmten Erzählungen andererseits.2 M. E. lässt sich im Zusammenhang der Frömmigkeitsliteratur eine weitere eigenständige Gattung ausmachen: Die Aphorismensammlungen, welche bereits kurz nach Veröffentlichung der ersten Homiliensammlungen aus diesen kompiliert wurden, sich durch ihre kurze, prägnante Form jedoch von diesen unterscheiden. Alle drei Gattungen sind durch ihre praktische Ausrichtung im Zusammenhang der Fragestellung von Interesse, da es sich bei ihnen um den gedruckten Niederschlag von durch Zaddikim didaktisch für ein spezifisches Publikum (vgl. 1.2) »zurechtgeschneiderten« Lehren handelt, durch welche die Verbreitung und Intensivierung des chassidischen Weges überhaupt erst möglich wurde3, denn die reine ›oral tradition‹ der ersten Überlieferungsstufe war durch die z. T. weiten Pilgerreisen der Chassidim zu ihren Zaddikim nicht mehr hinlänglich, die schriftliche Fixierung der Lehren begann und erfuhr ab den 1780er Jahren eine gewisse Normierung durch Drucke.4 Drei der fr ü hesten chassidischen Werke, darunter das erste chassidische gedruckte Buch ü berhaupt, stammen von Jakob Josef haKohen aus Polonnoye (gest. 1782): Sein Hauptwerk, die Toldot Jakob Josef al haTora (8L9N8 @F GE9= 5KF= N97@9N), erschien 1780 erstmals in Mie˛dzybûrz5 und erfuhr seitdem unzählige Auflagen. Es folgten Ben Porat Josef (Koretz 1781) und Zafnat Pane’ach (auch Koretz, 1782). Das vierte Werk Jakob Josefs, das im Druck erschien, war Ketonet Passim (1866). Auch wenn letzteres über achtzig Jahre nach dem Tod Jakob Josefs erschien, ist davon auszugehen, dass es sich dennoch um ein authentisches Werk handelt.6 Als Hauptwerk und erstes chassidisches Buch überhaupt, das zur Zeit seiner Veröffentlichung die Bewegung enorm stärkte und stabilisierte, interessiert an dieser Stelle vor allem Toldot Jakob Josef, zumal es in Aufbau und Stil gleichsam prototypisch für die Menge der homiletischen chassidischen Literatur steht.7 Das Buch ist als homiletischer Kommentar zur Tora angelegt und folgt den wöchentlichen Abschnitten (Paraschiot Bereschit bis Wesot Habracha), wobei alle fünf Bücher Mose (Bereschit – Dewarim) behandelt werden. Auch die 2 Vgl. Gedaliah Nigal, New Light on the Hasidic Tale and its Sources, in: Ada RapoportAlbert (Hg.), Hasidism reappraised, London 1996, 345 – 353; hier: 345. 3 Dynner, Men of Silk, 198; sprechend ist der von Dynner gewählte Untertitel seines sechsten Kapitels: Marketing Hasidism. 4 Vgl. ebd., 201. 5 Jedoch ist Mie˛dzybûrz als Ort der Erstveröffentlichung umstritten; vgl. Samuel H. Dresner, The Zaddik. The Doctrine of the Zaddik According to the Writings of Rabbi Yaakov Yosef of Polnoy, Northvale, N.J. 1994, 247, v. a. Anm. 21. 6 Ebd., 250. 7 Hinzu kommt, dass die anderen Bücher Jakob Josefs weniger umfangreich sind und viele der bereits in Toldot geäußerten Ideen nur aufgreifen und ausbauen; zu diesen vgl. ebd., 249.

Anleitung und Erbauung: Die chassidischen frömmigkeitstheologischen Schriften

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übergeordnete Struktur der Mosebücher wird beibehalten und macht die zugrundeliegende Ordnung kenntlich. Es ist ungeklä rt, inwiefern die vorliegenden Abschnitte, die der Einteilung in die Paraschiot entsprechen, ihren Ursprung in den Predigten Jakob Josefs haben, die dieser etwa zum dritten Schabbatmahl hielt : Auch in den Schibche haBescht (s. u.) wird erwä hnt, dass Jakob Josef bei der Se’udah Schelischit (dem traditionellen dritten Schabbatmahl) Musar predigte (N=M=@M 879FE5 LE9B ýL75 =B ;@ LB4M 8’8@: @’D8 5L8B A=BFH 8B ? =NFBM).8 Die Abschnitte sind jedoch derart dicht, dass die Homilie als Grundform kaum anzunehmen ist. Das Hauptanliegen des Werkes ist die ewige Einhaltung der Mitzwot – auch derjenigen, die bereits Ende des 18. Jahrhunderts von vielen Juden als evtl. nicht mehr zeitgemäß angesehen wurden.9 Ohne erkennbare Systematik und oftmals kryptisch behandelt er diese Thematik auf vielen Gebieten (die »innere Bedeutung der Tora«, Torastudium um seiner selbst willen usw.).10 Neben den Lobpreislegenden (Schibche haBescht) und dem Werk Degel Machane Ephraim des Bescht-Enkels Mosche Chaim Ephraim von Sudilkov11 stellt das Werk auch eine der Hauptquellen zur Erschließung der Lehren des Bescht dar, da Jakob Josef in extenso seinen Lehrer zitiert und dies auch sehr gewissenhaft markiert: In der Regel leitet er alle Lehren des Bescht mit der Formel »ich habe von meinem Lehrer gehört« (etwa =L9BB =NFBM) ein; aber auch indirekte Zitate (=L9B AM5 =NFBM) zeigen seine Prägung durch den Lehrer.12 Hierdurch wird die vorher nur wenigen zugängliche Lehre des Gründungsvaters zumindest theoretisch allen zugängig,13 worin auch das Hauptanliegen Jakob Josefs in allen seinen Werken zu vermuten ist.14 Gerade angesichts dieser Feststellung fällt auf, dass Jakob Josef den Namen seines Lehrers nur in der Erstausgabe nennt – und dies nur ein einziges Mal, auf der Rückseite des Titelblattes.15 8 9 10 11 12 13 14

15

Zitiert ebd., 304. Vgl. ebd., 248. Vgl. ebd., 249. Das Buch wurde durch Mosche Chaim Ephraims Sohn Jakob Jechiel 1810 in Koretz veröffentlicht; eine hebräische Ausgabe ist online abrufbar unter http://www.hebrewbooks.org/ 3723; Stand November 2009. Für ausführliche Informationen vgl. ebd., 245 f. Vgl. ebd., 64. Diese Annahme wird gestützt durch die Feststellung, dass er in seinem zweiten Werk, Ben Porat Josef, im Anhang einen Brief veröffentlicht, den der Bescht an seinen Schwager Gerschon Kutower geschrieben hatte und in dem der Messias dem Bescht im Gespräch verspricht, zu kommen, sobald Beschts Lehren verbreitet seien; vgl. ebd., 65., aber auch Simon Dubnow, Geschichte des Chassidismus in zwei Bänden (1), Königstein / Ts. 1982, 105 ff.; dieser bietet auch eine Übersetzung des gesamten Briefes. Ebd., 161., Anm. 2.

80

Weg von der Polemik: Innenansichten

Auf der Basis dieser von Jakob Josef angeführten Zitate entstand die oben eingeführte Gattung, die noch Beachtung finden soll: die anleitende Aphorismensammlung. Wie die meisten der frühen chassidischen Werke ist auch Toldot Jakob Josef im Zusammenhang mitnaggedischer Kritik entstanden und der Autor reagiert seinerseits auf die Umstände seiner Zeit durch zum Teil harsche Kritik vor allem am Rabbinat, wodurch er wiederum regelrechte Entrüstungsstürme hervorrief. Dieser Sachverhalt der Kritik an der Gemeindeführung ist als weiteres Hauptanliegen Jakob Josefs zu verstehen. Wie oben bereits angedeutet, ist Toldot als Produkt eines relativ langen Bearbeitungsprozesses zu verstehen und enthält somit die Zeitkritik über viele Jahre hinweg16, mit der Jakob Josef keinesfalls hinter dem Berg hält. Ohne weiteres kann man Dubnow zustimmen, der Toldot Jakob Josef als »in der Hauptsache polemisch« bezeichnet:17 Wie oben beschrieben ist der zweite Wilnaer Cherem von 1781 gegen die Chassidim als Antwort auf die Veröffentlichung von Toldot Jakob Josef im Jahr zuvor zu verstehen; letztlich führte er zur Verbrennung des Buches in Krakau, Wilna und Brody.18 Dies ist nicht zuletzt etwa der harten Wortwahl Jakob Josefs geschuldet, der die zeitgenössischen (mitnaggedischen) Rabbiner als »Judenteufel« oder »Schädlinge im Weingarten Israels« bezeichnete19 oder ihnen mangelnde Kenntnisse vorwarf20 – also der mitnaggedischen Ausdrucksweise in den oben zitierten Schriften keineswegs nachstand. Aber auch in den späteren mitnaggedischen Schreiben findet die Aufregung um das Werk ihren Niederschlag: »I write you regarding the book which has reached your land in the month of Menahem Av, 1718[sic!], which the rav of the community of Polnoy, Yaakov Yosef, has written. It contains moral teachings and novel expositions which the hasidim expound from the weekly portion of Torah at the third meal of the Sabbath, according to their custom. It represents a new way which they have learned from their teacher, called Israel Baal Shem (who claims that his teacher was Ahiya Hashiloni), regarding whom he writes, ›Iheard-from-my-teacher.‹ His purpose is to entice all Israel to walk in the path of our holy Torah, the path of our ancient ones (may their memories be for a blessing). Their main goal is to destroy the study of Torah, whether it be Talmud or Kabbalah, which they aver are not at all necessary… He calls this book Bet Yaakov Yosef (sic!) [which is

16 Ebd., 159 f. belegt anhand einiger Beispiele, dass viele der Predigten bereits einige Jahre vor der Veröffentlichung in schriftlicher Form vorgelegen haben müssen; vgl. auch die Bestätigung dieser Annahme durch Dresner, The Zaddik, 245. 17 Dubnow, Geschichte, 162. 18 Vgl. Dresner, The Zaddik, 68. 19 Zitiert in Dubnow, Geschichte, 163. 20 So bezichtigt er etwa im Abschnitt Nasso die Rabbiner der Unkenntnis u. a. in den Halachot der Schechitah.

Anleitung und Erbauung: Die chassidischen frömmigkeitstheologischen Schriften

81

printed] without any ›approval.‹ I shall quote for you some passages – you may read them without end – which are fit to be burned …«21

So verwundert es nicht weiter, dass keines der Werke des Toldot, wie Jakob Josef auch wegen der Autorschaft seines Hauptwerkes genannte wurde, die seinerzeit üblichen Unbedenklichkeitserklärungen (Haskamot) der jeweiligen Autoritäten erhielt.22 Insgesamt, so das Urteil Dubnows, unterscheiden sich die in Toldot Jakob Josef und den anderen Werken überlieferten Predigten Jakob Josefs kaum »von den sonstigen uns aus jener Zeit bekannten Erzeugnissen der gleichen Gattung: Es ist dasselbe Über- und Durcheinander von Bibelversen und Stellen aus dem Talmud, den Midraschim und dem Sohar, ein Gewirr von ausgeklügelten Fragen und spitzfindigen Antworten, kurz ein Tohuwabohu, aus dem gleich Inseln aus dem Meeresschaum hie und da festgeformte Aussprüche und Lehrsätze ragen, die einen Zugang zu den Grundgedanken des Ganzen eröffnen.«23 Es sollte noch erwähnt werden, dass alle homiletischen Werke Jakob Josefs in hebräischer Sprache verfasst wurden (siehe hierzu weiter unten). Auch der Gattung der Homiliensammlungen zugehörig ist ein anderes zentrales frühes Werk, das, ebenso wie Toldot Jakob Josef, nach seiner Veröffentlichung nicht eben kleine Kreise zog: das Buch No’am Elimelech (ý@B=@4 AFD) des Elimelech von Lejask (Lyzhansk). Auch No’am Elimelech ist als homiletischer Kommentar zur wöchentlichen Toralesung angelegt und somit in die Paraschiot unterteilt. Es wird generell als chassidischer Klassiker24 bezeichnet und erfuhr seit seiner posthumen Veröffentlichung 1788 durch Eleazar, Elimelechs Sohn, mehr als 50 Auflagen. Die zentrale Bedeutung des Werkes wird jedoch auch deutlich, wenn die nichtchassidischen Reaktionen, die es hervorrief, beachtet werden. Etwa schreibt der bereits zitierte »Unterrabbiner von Nowogrodeck in Lithauen«, Israel Löbel: »Das abscheulichste Buch dieser Art rühret indessen von einem andern Oberhaupte Rabbi Melech zu Lezanst her. Es heißt Noam Hamelech[!]. In diesem Buche wird außer der Generalabsolution von Sünden, welche Israel Balschem an Bedingungen knüpfte, die vielleicht nicht jeder halten konnte oder wollte, eine neue vorgeschlagen, wodurch man der Verdammung noch leichter entgehen kann. […]«25

21 Dresner, The Zaddik, 67 zitiert aus dem zweiten Schreiben mit dem Namen Zemir Arizim; eine Edition bietet der zweite Band von Mordecai Wilensky (Hg.), Hasidim and Mitnaggedim. A study of the controversy between them in the years 1772 – 1815 (1), Jerusalem 1970; hier : 189 – 227. 22 Dresner, The Zaddik, 247. 23 Dubnow, Geschichte, 161. 24 Vgl. den Eintrag von Tzvi M. Rabinowicz, Art. Elimelekh of Lejask, in: Tzvi M. Rabinowicz (Hg.), The encyclopedia of Hasidism, Northvale, NJ 1996, 111 – 112. 25 Löbel, 315.

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Weg von der Polemik: Innenansichten

In der zitierten Stelle, welche die zeitgenössische Rezeption des Buches belegt, spielt Löbel auf die differenzierte Entfaltung der Vorstellung des Zaddikismus in Noam Elimelech an, durch die Elimelech mit seiner Predigtsammlung ein chassidisches Hauptwerk von zentraler Bedeutung schuf, auf das kurz eingegangen werden muss.26 Das 1787 erstmals erschienene Werk enthält über die Predigten zu den Paraschiot hinaus die Abhandlung Likkutei Schoschanim. Im Anhang des Buches sind zudem Briefe beigefügt, etwa ein Schreiben des Herausgebers Eleazar an seinen Vater Elimelech, der sog. ›heilige Brief‹ (M7K8 NL64). Er ist als Hirtenbrief an eine Gemeinde konzipiert und als Verteidigung der Zaddikim zu verstehen.27 Bekannt als der »creator of ›practical zaddikism‹« stellt Elimelech mit seinem Werk No’am Elimelech die theoretische Grundlage für diese neue Gemeinschaftsform zur Verfügung, nach der der ›Gerechte‹, konträr zur traditionellen Vorstellung vom Zaddik als rein spirituellen Führer, Aufgaben der Führerschaft in allen Bereichen des Lebens zu erfüllen hat: »The zaddik had to live in the dialectical tension between the spiritual life of devekuth (devotion) and the pragmatic, materialistic requirements of society«28 (vgl. hierzu III.2.2). Aufgrund ihrer frühen Veröffentlichung (Toldot Jakob Josef) und ihrer großen Bedeutung (Noam Elimelech) auch über die Frömmigskeitsfrage hinaus werden die genannten Homiliensammlungen im Folgenden exemplarisch für die Menge der frühen Sammlungen dieser Gattung stehen, obwohl sie bei weitem nicht die einzigen Werke sind, in welchen die Schabattpredigten der Zaddikim tradiert wurden. Eine andere Gattung, die ihren Ausgang nicht zuletzt in den Werken Jakob Josefs nahm, sind die Kompilationen von Aussprüchen der Zaddikim, vor allem des Bescht. Auch die Titel innerhalb dieser Textgruppe sind Legion und entstanden bis ins 20. Jahrhundert hinein bzw. entstehen immer noch in mehr oder weniger neuen Zusammenstellungen, weshalb vor allem ein einzelnes Werk betrachtet werden soll: das ›Testament des Ba’al Schem‹, Zava’at haRivasch (M’’5=L8 N499J LHE)29. Wie oben bereits erwähnt, markierte Jakob Josef die Stellen, an denen er seinen Lehrer, den Bescht, zitiert, sehr gewissenhaft. Schon früh machten sich 26 Vgl. zum Folgenden ausführlicher Esther (Zweig) Liebes, Art. Elimelech of Lyzhansk, in: Cecil Roth (Hg.), Encyclopaedia Judaica, Jerusalem 1971 – 1974, 661 – 663. 27 Vgl. Louis Jacobs, Hasidism and the Dogma of the Decline of the Generations, in: Ada Rapoport-Albert (Hg.), Hasidism reappraised, London 1996, 208 – 213; hier : 211. 28 Liebes, Art. Elimelech of Lyzhansk, 662. 29 Es wird, wo nicht explizit angegeben, aus der englischen Übersetzung von Jacob Immanuel Schochet zitiert: Jacob Immanuel Schochet (Hg.), Tzava’at Harivash. The Testament of Rabbi Israel Baal Shem Tov. English Translation with Introduction, Notes and Commentary by Jacob Immanuel Schochet, Brooklyn, N.Y. 1998.

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Chassidim daran, diese Zitate des Bescht aus den Predigtsammlungen zu extrahieren und zu bündeln. Hierüber hinaus enthalten sind zudem viele Äußerungen des Großen Maggid. Wie auch die Gegner erkannten, entstand auf diese Weise gerade mit dem »Testament des Bescht« eine regelrechte Anleitung zur rechten chassidischen Frömmigkeit, also eine Form von Frömmigkeitstheologie schlechthin: »[…] daher machte er [der Bescht] sogleich auf die reichsten Juden seiner Gegend Jagd. Um sie in sein Interesse zu ziehen, ließ er ein Werk zu Kortschick und Zulkiew drucken. Dieses erklärte er für das Gesetzbuch seiner Parthei. Es war das Symbol, woran seine Anänger erkannt wurden, und wodurch sie sich nicht bloß von den Christen und anderen Religionsgenossen, sondern auch von den rechtgläubigen Juden unterscheiden sollten. Durch dieses Buch, das voll der abscheulichen Grundsätze ist, riß er seine Sekte von der jüdischen Nation ganz ab, und machte unter beiden die größte Spaltung.«30

Jedoch enthält der recht schmale Band keineswegs nur Lehren des Ba’al Schem, sondern zu weiten Teilen auch solche Dov Bärs. Mit zwei weiteren der frühesten chassidischen Werke weist der Band inhaltliche und stilistische Übereinstimmungen auf: Mit Maggid Devarav leJakob und Likkutim Jekarim.31 Zava’at haRivasch enthält nichts Originäres – alles, was hier an Lehren, Aphorismen und Gedanken gesammelt wurde, hat Parallelen in den anderen Sammlungen, die oft bis in den Wortlaut übereinstimmen.32 Was jedoch das Testament des Ba’al Schem aus frömmigkeitsgeschichtlicher Sicht im Vergleich zu den vielen ähnlichen Anthologien hervor hebt, ist auch weniger sein Inhalt als sein Zuschnitt: Im Gegensatz zu den vergleichbaren Sammlungen ist hier eine Auswahl von Lehren und Aphorismen zu einem Thema getroffen worden, wie bereits auf der Titelseite hervorgehoben wird: »Testament des Ribasch [eig. Hervorhebung] und rechte Anleitungen, […] Anweisungen und rechte Anleitungen in der Weisung und im Gebet und in anderen Sachen.« [L4M59 8@=HN59 8L9N5 N9LM= N968D89 N9499J …N9LM= N968D89 M’’5=L N499J]

Das Testament ist demnach keineswegs ein Testament im Sinne eines letzten Willen des Ba’al Schem, sondern ist tatsächlich in der oben angeführten Beschreibung Löbels recht passend getroffen, wobei freilich »Gesetzbuch« ein etwas zu starker Begriff ist: Vielmehr handelt es sich um eine Anleitung zur rechten chassidischen Frömmigkeit, also um Frömmigkeitstheologie im engsten Sinne des Begriffes.33 30 31 32 33

Löbel, Glaubwürdige Nachricht, 313. Schochet, Tzava’at Harivash., XI. Ebd., XIV. Literarisch treffend ist der hebräische Terminus ist Hanhagot / Hanhaga (868D8) = Führung, Leitung.

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Nach Schochet soll die Anthologie zu einigen aus den gegnerischen Schriften bereits bekannten chassidischen »basic concepts« anleiten. So führt er etwa die Themen »Prayer«34, »Torah-Study« und »Mitzvot35 und »Joy«36 an, die bereits als prägende Merkmale chassidischer Frömmigkeit aus den gegnerischen Schriften eruiert wurden. Weitere bis jetzt nicht angeführte »basic concepts« chassidischer Frömmigkeitspraxis, die Schochet aus Zava’at haRivasch herausgearbeitet hat, sind »Deveikut«, »the ultimate of Chassidism’s religious values«37, die »Religious Ethics in Daily Life« der Chassidim38 und die »Sublimation of Alien Thoughts«39. Als Anthologie chassidischer Frömmigkeitsanweisungen, dem wie erwähnt die Werke Jakob Josefs sowie die dem Maggid dedizierten Schriften vorausgingen, wurde das Testament des Ribasch zu einem der Hauptziele der gegnerischen Angriffe, die auch in diesem Fall in der Verbrennung des Buches gipfelten.40 Schochet führt mehrere Vermutungen zur Begründung hierfür und somit als Belege für die Bedeutung, die die Zeitgenossen dem Buch zusprachen, an: Zum einen sei das Testament des Ribasch ein sehr kleines Buch gewesen (in der ersten Ausgabe gerade einmal 48 Seiten) und in der Folge hieraus preislich ziemlich günstig, was wiederum für eine große Verbreitung gesorgt haben könnte. Zum anderen sei der simple Aufbau des Testaments (es besteht aus 143 mehr oder weniger ausführlich gestalteten Absätzen) wesentlich besser dazu geeignet gewesen, die chassidische Lehre zu verbreiten als die älteren umfangreicheren und wesentlich schwierigeren Texte. Dementsprechend sei es nicht weiter verwunderlich, dass es zwischen 1792 und 1797 mindestens sieben Auflagen gegeben habe, was den Argwohn der Gegner geweckt habe.41 Als einen weiteren Grund für seine große Bedeutung nennt Schochet die explizit auf spirituelle Anleitung ausgerichtete Form, die Zava’at haRivasch zu einer einzigartigen Anthologie chassidischer Lehren macht: »It is a manual for the religious life and observance of the chassid. It addresses the masses no less than the scholars. Our text can then be seen as an easily identifiable manifesto of Chassidism.«42 In dieser Einschätzung stimmt der Editor Schochet mit der oben zitierten Ausführung Israel Löbels überein, wobei keiner von beiden in seiner 34 35 36 37 38 39 40 41

Schochet, Tzava’at Harivash, XVIII ff. Ebd., XX ff. Ebd., XXII. Ebd., XVII f. Ebd., XXIV ff. Ebd., XXVI ff. Ebd., XXXVII. Vgl. ebd., XXXVII f.; vgl. auch die Verknüpfung der gegnerischen Vorwürfe mit konkreten Passagen in Tzava’at Harivash, XXXVIII ff.; konkrete Zahlen von Auflagenstärke oder andere Fakten, die diese Vermutung belegen, bietet Schochet jedoch nicht. 42 Ebd., XXXVIII.

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Einschätzung erwähnt, dass auch das Testament auf hebräisch veröffentlicht wurde und somit weite Teile der beschriebenen ›Massen‹ die in der Tat »gut verständlichen Lehren« vermutlich nur mittelbar werden empfangen haben können. Ähnliches lässt sich interessanterweise über die dritte angeführte Textgruppe sagen, welcher landläufig eine sehr große Volksnähe, gar eine Ausrichtung auf die breite, ungelehrte Masse zugesprochen wird: über die chassidischen Legenden. Auch hier gilt, dass die zuerst herausgegebene Sammlung, die Schibche haBescht, zunächst auf Hebräisch veröffentlicht wurde und erst ein Jahr später im Volksidiom Jiddisch. Dies gilt es gerade hinsichtlich der Adressierung der Legenden zu bedenken. Eine weitere diesbezügliche Übereinstimmung liegt darin, dass sowohl die vom Bescht in Tzava’at Harivash übermittelten Lehren als auch die Legenden (z. B. über den Bescht) mit größter Wahrscheinlichkeit ursprünglich auf Jiddisch erzählt und tradiert wurden und erst in der Verschriftlichungsphase eine Transponierung in die heilige Sprache erfuhren. Auch wenn die Legenden – vor allem um Israel Bescht – erst 1814 in einem Sammelwerk veröffentlich wurden, so steht fest, dass sie zu diesem Zeitpunkt bereits über einen langen Zeitraum mündlich, d. h. in der jiddischen Mundart, tradiert wurden, ja von Anfang der Bewegung an sind »chassidische Legenden erzählt worden, die zunächst noch mündlich, später zunehmend schriftlich tradiert worden sind.«43 Überhaupt spielte das Erzählen von Geschichten bereits im Chassidismus der ersten Stunde eine derart große Rolle, dass es fahrlässig wäre, diese Textgruppe unbeachtet zu lassen, da hiermit eine deutlich auf Frömmigkeit ausgerichtete Gattung gegeben ist: »No social or religious movement in the entire course of Jewish history has engaged so intensively in storytelling as hasidism; nor have stories occupied such a central and important place in any other intellectual movement within Judaism.«44

Auch gibt es zeitgenössische Belege, die diese Einschätzung belegen: Der Maskil Josef Perl etwa schreibt in seinem als direkte Antwort auf die chassidische Legendensammlung Schibche haBescht zu verstehenden polemischen Text Uiber das Wesen der Sekte Chassidim von 1816: »Es dauerte eine Zeit, dass die Sekte die Wunderthaten des Bescht sich bloß ins Ohr flüsterte, bis sie sich endlich im Jahre [1]814 und [1]815 erdreistet hat, solche mündliche[n] Traditionen zu sammeln und durch den Druck ins Publikum zu bringen.45 43 Susanne Galley, Der Gerechte ist das Fundament der Welt. Jüdische Heiligenlegenden aus dem Umfeld des Chassidismus, Wiesbaden 2003, 20.; vgl. auch die Hinweise darauf, dass es vor der Drucklegung der Schibche haBescht bereits (vermutlich handschriftliche) Aufzeichnungen gegeben hat: SHB, 2. 44 Gedalyah Nigal, The Hasidic tale, Oxford 2008, 1. 45 Zitiert in Galley, Der Gerechte ist das Fundament der Welt, 20., Anm. 36; überhaupt spricht

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Wie bereits aus diesem Zitat ersichtlich wird, ist eines der zentralen Merkmale der chassidischen Legenden ihre Personenbezogenheit: Als erstes jüdisches Genre fokussiert es auf die exemplarische Frömmigkeit und die besonderen Fähigkeiten (die »Wunderthaten«) Einzelner und ihrer Anhänger46, um zu erbauen und zu belehren. Darüber hinaus aber stellt auch das Erzählen selbst einen religiösen Akt dar.47 Zunächst wurden die Geschichten mündlich erzählt und tradiert, angefangen bei Israel Bescht, der nicht zuletzt Episoden aus seinem eigenen Leben zum Besten gab, bis hin zu jenen wandernden Moralpredigern, die vor allem nach dem Tod Dov Bärs 1772 die chassidische Lehre verbreiteten und die mithilfe von »parables, flowery language, and vivid images« ihre Lehren verbreiteten.48 Schriftlich fixiert wurden erste der bescht’schen Erzählungen sowie seines engsten Kreises zuerst in den Schriften Jakob Josefs. Dies zeigt, dass es sich bei den Geschichten nicht um ein spätes Phänomen handelt, wie es das späte Auftreten der ersten Sammlungen etwa 50 Jahre nach dem Tod Israel Beschts nahe legen würde, sondern vielmehr tatsächlich um ein Phänomen der ersten Stunde der Bewegung.49 Die Tatsache, dass einige der Erzählungen in Schibche haBescht bereits in früheren Werken auftauchen, lässt sogar vermuten, dass viele konkrete Episoden schon lange vor ihrer Verschriftlichung in chassidischen Kreisen weit verbreitet waren – mündlich sowie vermutlich auch schriftlich.50 Aus stilistischen Gründen sind alle in den Schibche haBescht vorkommenden Genres – Erzählungen, Legenden und Parabeln – »halachisch gesehen der Kategorie der ›devarim betelim‹, der müßigen bzw. wertlosen Worte, oder besser noch der ›suchoth chulin‹, der weltlichen Rede« zuzuordnen.51 Dieser Einordnung entgegen wurde das Erzählen im Chassidismus geheiligt, was die große Bedeutung des Genres erklärt. Dies wird in der quasi-kabbalistischen Überzeugung verankert, dass die Erzählung »verborgene Bedeutungen« transportiert: »It was held that with simple words and tales the tsadik could work

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das Vorhandensein gegnerischer Polemiken gegen die Anthologie für die Bedeutung, die ihr von den Zeitgenossen beigemessen wurde. Vgl. Nigal, Hasidic Tale, 1; vor allem kreisen die Legenden immer wieder um den Bescht und seine Taten; vgl. Nigal, New Light; hier : 345. Vgl. hierzu Galley, Der Gerechte ist das Fundament der Welt, 18.: »Dem Vorgang des Erzählens kommen alle Bestandteile eines religiösen Aktes zu. Er ist eine religiöse Verpflichtung für jeden Gläubigen, muss regelmäßig vonstatten gehen und ist in ein festgelegtes Ritual gekleidet […].« Zu diesem rituellen Kleid siehe etwa Aaron Wertheim, Law and custom in Hasidism, Hoboken 1992, 255. Nigal, Hasidic Tale , 7. Vgl. ebd., 8. Vgl. ebd., 15; zu der Vermutung, dass zur Zeit der Veröffentlichung der Schibche haBescht bereits noch andere Manuskripte in Umlauf waren, vgl. Dov Baer ben Samuel, Dan BenAmos und Jerome R. Mintz, In praise of the Baal Shem Tov. (Shivhei ha-Besht) The earliest collection of legends about the founder of Hasidism, Bloomington, London 1972, XV. Nigal, Hasidic Tale, 51.

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great wonders.«52 In einer schlichten Erzählung, so muss auch der große Maggid Dov Bär bei seiner ersten Begegnung mit dem Bescht erfahren, kann Weisheit verborgen sein.53 Letztlich, so die nur konsequente Weiterführung dieses Gedankens, gibt es gar keinen Unterschied zwischen heiliger und weltlicher Rede54, was der verständlicheren narrativen Literaturform einen enormen Vorteil etwa gegenüber der homiletischen Literatur verschafft, da sie so relativ einfach zum erfolgreichen Distributeur oder Multiplikator chassidischer Gedanken wird.55 So gibt es nicht wenige Zeugnisse, die belegen, dass viele Personen durch die Erzählungen zum Chassidismus gezogen wurden.56 Auch vereinfachten chassidische Prediger mithilfe von Parabeln theologische Sachverhalte, um einfachen Menschen ohne Gelehrtenhintergrund diese Inhalte zu vermitteln.57 Nicht zuletzt hatten die Erzählungen auch eine apologetische Funktion gegenüber den gegnerischen Anfeindungen, was etwa in den Schibche haBescht immer wieder z. B. durch das enorme Bemühen deutlich wird, »jede Äußerung und jede Episode ihrer Helden durch Zeugen zu beglaubigen.«58 Hierüber hinaus macht Nigal drei Hauptziele der chassidischen Erzählungen aus: Erstens ist das Erzählen von Geschichten zur Ehre der Zaddikim, wie bereits angeführt, selbst als spiritueller Akt zu verstehen und verstärkt den ›Volksglauben‹ in die Zaddikim.59 Zweitens ist in der Erzählung über die verborgene Bedeutung hinaus auch noch eine explizite enthalten: Jeder Zuhörer der scheinbar belanglosen ›Geschichtchen‹ soll sich anhand der Identifikation mit dem Helden persönlich angesprochen fühlen und in einem selbstreflexiven Prozess seine eigenen Sünden feststellen und bekennen.60 Drittens soll die chassidische Erzählung ihre Zuhörer resp. Leser zum Gottesdienst aus dem Herzen anregen und auch anleiten (so heißt es auf dem Titelblatt: »Und welch großen Nutzen diese Geschichten bringen, indem sie das Herz der Menschen zum Gottesdienst entflammen […]«61), vor allem wiederum durch die vorbild-

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Ebd., 51. ShB, H85 Ebd., 52. Vgl. das Kapitel Sermons, Stories, and Songs: Marketing Hasidism in Dynner, Men of Silk. Ebd., 55. Ebd., 2; vgl. zudem ebd., 75. Galley, Der Gerechte ist das Fundament der Welt, 22.; siehe auch Nigal, Hasidic Tale, 3 ff.; etwa in den Schibche haBescht gibt der Editor Israel Jaffe, ein Schüler R. Schneur Salmans aus Liadi (1745 – 1813; vgl. Karl Erich Grözinger (Hg.), Die Geschichten vom Ba’al Schem Tov –. Schibche ha-Bescht, Wiesbaden 1997, XXIX) sehr gewissenhaft seine Quellen an – ob nun er selber die Geschichte hörte oder sah, ob er sie von seinem Vater oder Mosche dem Buckligen hörte, jede Einzelgeschichte bzw. Serie wird belegt. 59 Vgl. ebd., 61, 71. 60 Ebd., 54. 61 SHB, 1.

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liche Darstellung der Zaddikim62 : »Die Hasidim verliehen der Volkserzählung die Weihe legitimer religiöser Erbauungsliteratur.«63 Die Sammlung Schibche haBescht, Preisreden des Bescht, die im folgenden als repräsentatives Beispiel für die Menge der Geschichtensammlungen dienen soll, ist also die früheste schriftliche Sammlung ausschließlich chassidischer Legenden überhaupt. In ihr sind, wie bereits der Name vermuten lässt, vor allem hagiografische Erzählungen über den Bescht enthalten.64 Das Büchlein Schibche haBescht liegt in einer hebräischen Version von 1814 und einer jiddischen Version von 1815 vor.65 Die hebräische Erstausgabe wurde im weißrussischen Kopust durch Israel Jaffe herausgegeben; ihr folgten im selben und den drei darauffolgenden Jahren zwei weitere hebräische und vier jiddische Editionen, die wohl nicht immer die Approbation des Herausgebers hatten. Bis heute hat es mehr als 50 Nachdrucke gegeben.66 Mit den Schibche haBscht wurde erstmals eine Sammlung derart vieler chassidischer Legenden veröffentlicht. Der Sammler und Kompilator der Legenden wird lediglich in der zweiten Ausgabe (Berdichev) genannt: R. Dov Bär von Linitz, ein Schwiegersohn des ersten (Amulett-)Schreibers des Bescht, R. Alexander Schochet.67 Bei den beiden unterschiedlichen Versionen handelt es sich keineswegs um dieselbe Sammlung in verschiedenen Sprachen, sondern um zwei relativ eigenständige Sammlungen: Zunächst sind, abhängig von der Sprache, zwei unterschiedliche Leserkreise angesprochen: Durch die direkte Verschriftlichung in der jiddischen Version bleibt ein anderer, ursprünglicherer und somit volkstümlicherer Erzählduktus erhalten, der in der hebräischen Version, die wiederum viele Jiddismen enthält,68 verloren geht.69 Zudem setzen beide Versionen 62 Ebd., 55 zitiert aus No’am Elimelech, Parascha Schemot. 63 Grözinger, Die Geschichten vom Ba’al Schem Tov, XVII f.; siehe etwa die Druckerlaubnis: »Dies ist, neben dem allgemeinen Nutzen dieser Schriften, darum sehr vonnöten, damit alle wissen und verstehen, dass uns der Herr nicht verlassen hat, denn in jeder Generation hat er uns treue Hirten erstehen lassen«, ShB, 2. 64 Auch wenn diese Legendensammlung die Hauptquelle für biografische Informationen zu Israel Bescht darstellt, kann keinesfalls die Rede sein von einer biografischen oder gar autobiografischen Schrift, vielmehr sind die Schibche haBescht dem Genre der hagiografischen Literatur zuzuordnen; vgl. Ada Rapoport-Albert, Hagiography with Footnotes: Edifying Tales and the Writing of History in Hasidism, in: Ada Rapoport-Albert (Hg.), Essays in Jewish Historiography, Wesleyan 1988, 119 – 159; hier : 122. 65 Im folgenden wird, wo nicht explizit vermerkt, aus der von Karl Erich Grözinger vorgelegten Edition und Übersetzung zitiert, vgl. Grözinger, Die Geschichten vom Ba’al Schem Tov ; wo aus der hebräischen Version zitiert wird, da erfolgt dies mit dem Kürzel ShB H; die jiddische Version wird mit dem Kürzel ShB J zitiert. 66 Vgl. ebd., XIV. 67 Vgl. Nigal, Hasidic Tale, 16; weitere ausführliche Informationen bietet Dubnow, Geschichte, 313 ff.; siehe auch ebd., 319, Beispiele für spätere Legendensammlungen. 68 ben Samuel, In praise of the Baal Shem Tov, XVII. 69 Grözinger, Geschichten vom Ba’al Schem Tov, XXXIII.

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unterschiedliche Interessenschwerpunkte, die sich vor allem in Bezug auf die Sichtweise des Bescht äußern: So vertritt die »jiddische Version in den Einleitungsteilen eine Sicht des Bescht als Ba’al Schem, wie sie vorwiegend von Alexander Schächter, dem ersten Sekretär und Amulettschreiber des Bescht, verbreitet wurde.«70 Demgegenüber verdrängt die hebräische Version – zumal in den Einleitungsteilen –, deren Redaktion wohl auf Schneur Salman aus Liadi zurückgeht, die Vorstellung des Bescht als Wunderheiler zugunsten einer Darstellung als Charismatiker.71 Neben den inhaltlichen Differenzen unterscheiden sich beide Versionen auch im Umfang: die jiddische Version von 1815 enthält nur etwa 40 % der Erzählungen der hebräischen, darüber aber auch noch eigenes Sondergut.72 Wie oben allgemein über die chassidischen Legenden festgestellt wurde, so gilt auch für Schibche haBescht, dass hier »oral tradiertes authentisches Material, in dem sich die historische Persönlichkeit des Bescht und die realen Bedingungen seines Lebens widerspiegeln, in eine gänzlich fiktive, idealisierte Heiligenvita eingewebt worden [ist], die dem Ganzen einen erzählerischen Rahmen gibt und Lücken der authentischen Überlieferung ausfüllt.«73 Dieses Material umfasst vor allem fünf Themenbereiche: Geschichten von der materiell-physischen Diesseitssicherung (Rettung aus individuellen / kollektiven Nöten), Geschichten von der spirituellen Diesseitsbewältigung und Jenseitssicherung, Darstellung von religiösen Normen (z. B. Tugenderzählungen), Geschichten vom Heiligen in dieser Welt und natürlich biografisch-chronistische Erzählungen.74 Alle diese Themenbereiche sind hinsichtlich der Fragestellung potentiell von Interesse, da sie den Leser der Anthologie anleiten. Auch hier liegt somit ein Stück originär chassidischer Frömmigkeitstheologie vor – und ein gewiss nicht eben unoriginelles.75 Wie für die anderen Textgruppen gilt auch für die Legenden, dass man seit der ersten Kompilation (abgesehen von einer Lücke von etwa 50 Jahren, die an die Schibche haBescht anschließt) auf einen bis ins 20. Jahrhundert nicht abreißenden Produktions- und Editionsstrom zurückblicken kann. Dementsprechend muss auch hier eine Auswahl erfolgen, die sich jedoch leicht begründen 70 Grözinger, Geschichten vom Ba’al Schem Tov, XXIX. 71 Ebd., XXIX.; vgl. auch Karl Erich Grözinger, The Source Value of the Basic Recensions of Shivhei haBesht, in: Ada Rapoport-Albert (Hg.), Hasidism reappraised, London 1996, 354 – 363; hier : 355 und zudem ben Samuel, In praise of the Baal Shem Tov, XXIII. 72 Ebd., XVI. 73 Rachel Elior, Der Ba’al Schem Tov zwischen Magie und Mystik, in: Grözinger, Geschichten vom Ba’al Schem Tov, XXXV – LV; hier: XLIII. 74 Ebd., XXII. 75 Für weitere konkrete Informationen zu formalen Fragen wie zur Werkgeschichte etc. vgl. Torsten Ysander, Studien zum bestschen Hasidismus in seiner religionsgeschichtlichen Sonderart, Uppsala 1933, v. a. 70 – 82.

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lässt: Es wird die erste und bei weitem bedeutendste Sammlung, die Schibche haBescht, als repräsentatives Beispiel für diese Gruppe Verwendung finden. Bei allen weiteren zitierten Quellen handelt es sich um Einzeltexte und Textstücke, die diesen drei Hauptgruppen – Homiliensammlungen, Aphorismensammlungen und Sammlungen von Erzählungen – nicht zugeordnet werden können, trotzdem entweder als frömmigkeitstheologische Texte bezeichnet werden können oder aber auf andere Art und Weise Aussagen über die chassidische Frömmigkeit machen. So werden etwa Ausschnitte aus Zeugenvernehmungen angeführt, die zur Zeit der ersten mitnaggedischen Angriffswelle in den Gemeinden wegen der Taten der Chassidim stattfanden, um die »verborgene Gefahr« durch die Bewegung auszuloten.76 Und so haben auch die meisten der in den Jahren 1772 (dem Jahr des ersten Cherems) und 1774 gehaltenen Verhöre eben diese Taten zum Thema, seien es nun Änderung des heiligen Textes des Mussaf-Gebetes (Verhöre #1, #7), die Missachtung der Schriftgelehrten (#6, #7) oder anderes.77 Die Verhöre, die meist das Datum, oft sogar die Namen der Befragten enthalten, wurden uns durch das selbst nur in Manuskriptform überlieferte Werk Scheber Poscheim des David von Makow überliefert, neben Israel Löbel dem bedeutendsten Mitnagged des auslaufenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts im Kampf wider die Chassidim. In diesem Sammelwerk, das als zweiter Teil zu seiner Polemik Semir Arizim (dem zweiten, aber nicht letzten Werk dieses Namens) konzipiert ist, »vereinigte der Verfasser alle Dokumente zur Geschichte des Religionsstreites in der Zeit von 1772 bis 1798: Briefe, rabbinische Aufrufe, Zeugenaussagen über chassidische Umtriebe u. dgl., und überlieferte uns ein umfassendes Bild von dem Leben der Zaddikim und Chassidim seiner Zeit.«78 Darüber hinaus sollten noch drei weitere Quellen an dieser Stelle angeführt werden: Die ›Hirtenbriefe‹ von Schmuel Schmelke aus Nikolsburg und von Eleazar, dem Sohn Elimelechs von Lejask an seinen Vater Elimelech sowie ein Brief von letzterem. R. Schmuel Schmelke Hurwitz (1726 – 1778) besetzte die Rabbinerstellen in Ritschwall (@499Mü=L) und Schinowa (4994D=M, Galizien), bevor er nach Nikolsburg ging (1773), um als Av Bet Din der Gemeinde zu dienen, später auch als Gemeinderabbiner. 76 Wilensky, Hasidim and Mitnaggedim (1); hier : 75. 77 Ebd. 78 Simon Dubnow, Geschichte des Chassidismus in zwei Bänden (2), Königstein / Ts. 1982, 187; eine modernen Ansprüchen genügende Edition der Schrift bietet Mordecai Wilensky im zweiten Band seiner Anthologie: Mordecai Wilensky (Hg.), Hasidim and Mitnaggedim. A study of the controversy between them in the years 1772 – 1815 (2), Jerusalem 1970; hier : 57 ff., obwohl Ausschnitte hieraus bereits im ersten Band veröffentlicht wurden, was vermutlich der chronologischen Anlage seiner Edition geschuldet ist.

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Er und sein Bruder Pinchas Hurwitz gehörten zum Schülerkreis von Dov Bär. R. ›Schmelke‹ trat »zu der Zeit der schweren Krise« nach den Cheremot von Wilna und Brody im Jahre 1772 zur Verteidigung des Chassidismus an, was ihm und seinem Bruder die Bezeichnung ›Tora des Chassidismus‹ einbrachte. In dem Schreiben, das an die Gemeinde Brody geschickt wurde, widerspricht er den zentralen Behauptungen gegen die Chassidim, die im Cherem von Brody angeführt worden waren und zögert nicht, die Mitnaggedim ihrerseits zu bezichtigen, dass sie »auf die Gottesfurcht einen schlechten Ruf bringen […] und die Entweihung Haschems und seiner Tora verursachen.« Es ist nicht bekannt, was durch das Schreiben erreicht wurde. »Doch auch die Mitnaggedim lernten die Größe in der Weisung von R. Schmelke kennen«, der mit seinem Verteidigungsbrief vermutlich die wichtigste chassidische Apologie der Zeit verfasste79 ; so behauptete etwa R. David aus Makow, der oben als Überlieferer vielen interessanten Quellenmaterials angeführt wurde, dass R. Schmelke keiner der Männer der Sekte sein könne.80 Andere Hirtenbriefe dieser Generation, die nicht vergessen werden sollten, wurden, wie bereits erwähnt, von Eleazar, dem Sohn und Nachfolger Elimelechs in Lejask, an seinen Vater geschickt und im Anhang des Buches No’am Elimelech veröffentlicht. Auch in dem ersten dieser Briefe wird den Beschuldigungen Avraham Katzenellenbogens von Brest-Litovsk widersprochen und für die Übernahme des Nusa Ari plädiert. In dem anderen wird der große Wert der Zaddikim betont, die »Gott in Wahrheit und ohne Stolz dienen.«81 Hiermit sind die Hauptquellen, aus denen die Analyse chassidischer Frömmigkeit erfolgen soll, vorgestellt. Weitere verwendete Quellen werden im Text selber eingeführt werden.

1.2

Adressaten der frömmigkeitstheologischen Quellen

Die vorgestellten Texte, die, in welcher Weise auch immer, anleitenden Charakter haben und als zentrale Texte der frühen Frömmigkeitsbewegung bezeichnet wurden, haben eine auf den ersten Blick vielleicht marginal wirkende, aber nicht eben uninteressante Eigenschaft gemein, die dem Verständnis des Chassidismus als Frömmigkeitsbewegung scheinbar unversöhnlich entgegensteht: Sie alle wurden in hebräischer Sprache veröffentlicht (abgesehen von der zusätzlichen jiddischen Version der Schibche haBescht). 79 Mordecai Wilensky, Art. Horowitz, Samuel (Schmelke), of Nikolsburg, in: Tzvi M. Rabinowicz (Hg.), The encyclopedia of Hasidism, Northvale, NJ 1996, 223; hier : 223. 80 Die meisten der angegebenen Informationen entstammen dem Vorwort des in Wilensky, Hasidim and Mitnaggedim (1), 84 ff. edierten Briefes (heb.). 81 Rabinowicz, Art. Elimelekh of Lejask; hier: 111.

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Auch wenn die heilige Sprache der Bibel im Curriculum jüdischer Erziehung des 18. Jahrhunderts von früh an vorgeschrieben war und die ersten Chederjahre mit der Übersetzung der Tora in die eigene Mundart verbracht wurden82, so trifft diese Feststellung in der Realität dennoch einen wunden Punkt, da wohl der größte Teil der osteuropäischen Juden kaum eines der Werke der Zaddikim lesen konnte, denn »the hebrew language, like Latin, functioned to distinguish the intellectual elite by excluding commoners and women, both of whom rarely had the opportunity to master Hebrew. […] ›In many respects, traditional Jewish society in Eastern Europe fitted the pattern of a closed semiliterate society.‹ If the Holy Language served to elevate a book’s status, it admittedly elevated it out of reach of most Jewish men, and virtually all Jewish women.«83

Katz zitiert den englischen Missionar McCaul, wenn er feststellt, dass in den russischen Gebieten von den 2,5 Millionen Juden nur etwa 20 % über ausreichende Hebräischkenntnisse verfügten, um die ganze Bibel übersetzen zu können, während 40 % des Lesens vollkommen unkundig und 40 % auf einem sehr geringen Alphabetisierungsgrad standen – hierunter vor allem Frauen und sehr arme Juden. Hieraus kann geschlossen werden, dass die meisten der ›zentralen‹ chassidischen Bücher der Mehrzahl der Ostjuden verschlossen bleiben mussten. Als die Schüler und Nachfolger der Zaddikim begannen, die Lehren ihrer Meister zu veröffentlichen, zielten sie also nicht auf den ›Durchschnittsjuden‹. Den zweifelsohne großen Erfolg der chassidischen Bücher trotz dieses Handicaps erklärt Katz damit, dass eine jüdische Bewegung in dieser Zeit nur durch ein hebräisches Medium bestehen konnte, da die Sprache eine Aura von Heiligkeit um die Lehre legte, das hieraus entstehende Prestige also wissentlich über eine infolgedessen nur eingeschränkte Leserschaft gestellt wurde. Auch werden sich viele Chassidim, so eine weitere Erklärung Katz’, die heiligen Bücher nicht als Leser, sondern als Sammler gekauft haben. Kurzum: die chassidischen Bücher zielten auf die intellektuelle und spirituelle Elite, nicht aber auf den einfachen Juden.84 Mit den aufgeführten Quellen war der gewöhnliche Chassid also zumindest 82 Jacob Katz, Tradition and crisis. Jewish society at the end of the Middle Ages, New York 1993, 162. 83 Dynner, Hasidic Tale, 209.; interessant ist auch die Quelle, der Katz seine detaillierten Informationen entnimmt: den Berichten englischer Missionare, die mit ihren mitgebrachten hebräischen Testamenten Anfang des 19. Jahrhunderts in Polen nichts anfangen konnten, da keiner von den zur Konversion bereiten Juden – bis auf ihren Lehrer – über ausreichende Hebräischkenntnisse verfügte; vgl. ebd. und zudem die Missionsberichte in der eigens 1818 gegründeten Zeitschrift The Jewish expositor and friend of Israel: containing monthly communications respecting the Jews and the proceedings of the London Society for Promoting Christianity amongst the Jews, Ausgaben 6 (1821) und 10 (1825). 84 Vgl. Dynner, Hasidic Tale, 211.

Die Frömmigkeitsmerkmale in den frühen chassidischen Quellen

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nicht direkt angesprochen. Dies gilt es zu bedenken, wenn die Texte, als Frömmigkeitstheologie verstanden, analysiert werden, denn: So kann er nur mittelbar von den hier tradierten Lehren profitiert haben. Dies rückt wiederum den Vermittler in den Fokus, die Bedeutung der anleitenden Texte selbst wird gleichzeitig jedoch relativiert, denn: Wenn das geschriebene Wort von den Anhängern der Bewegung nicht als materielle Grundlage rezipiert werden konnte, diente es weder zur Anleitung noch zur Erbauung noch als einendes Band. All diese Funktionen der chassidischen Literatur musste sodann ein Vermittler übernehmen, der der »spirituellen und intellektuellen Elite« angehörte und für eine Rückübersetzung der wie angemerkt ursprünglich jiddischen Lehren, die durch ihre Hebraisierung spirituell aufgewertet wurden, in die Umgangssprache sorgen musste: Auf direktem Weg werden etwa die Predigten in ihrer schriftlichen Form also nicht ins spirituelle Leben oder auf die Weltanschauung der einfachen Chassidim gewirkt haben. Vielmehr wird deutlich, dass die seit den frühen 1780er Jahren nun schriftlich konservierten und tradierten Lehren der Gründungsväter und ihrer Schüler somit diese Lehren vor allem für die späteren Gemeindeoberhäupter sicherten, die in ihnen festgehaltenen Anleitungen also immer an dieses Medium rückgebunden waren. Dies sollte gerade aus komparatistischem Interesse hinsichtlich der materialen Grundlage der frömmigkeitstheologischen Schriften an dieser Stelle betont werden, da hier ein nicht unerheblicher Unterschied durchscheint.

2.

Die Frömmigkeitsmerkmale in den frömmigkeitstheologischen Quellen des frühen Chassidismus

Die im zweiten Kapitel aus der Außenperspektive der gegnerischen Schriften herausgearbeiteten Merkmale chassidischer Frömmigkeit sollen nun darauf hin überprüft werden, ob es sich tatsächlich um spezifische Merkmale handelt, die den chassidischen Frömmigkeitstypen prägen: Sind Konventikeltum, neue Gemeindestruktur, Abkehr von den traditionellen Wissensformen, Simcha, Kawwanna und das Gebetsverhalten wirklich prägende Elemente des chassidischen Gemeindelebens gewesen oder handelte es sich bei jenen in den gegnerischen Schriften auftauchenden Beschuldigungen lediglich um stereotype Vorwürfe, die gegenüber dem Fremden eventuell seit jeher vorgebracht wurden? Dieser Frage soll nun nachgegangen werden, indem die chassidische (frömmigkeitstheologische) Tradition auf diese Merkmale hin analysiert wird, wobei natürlich nicht nur die Frage nach dem reinen ›ob‹ zu stellen ist, sondern vor allem der

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Frage nach dem ›wie‹, also der innerchassidischen Wesensbestimmung der Merkmale großes Interesse beigemessen wird.

2.1

Konventikeltum

Der vor allem in den mitnaggedischen Schriften sehr häufig auftauchende Vorwurf, die Chassidim würden die Spaltung des ›Hauses Israels‹ vorantreiben, wurde vor allem damit belegt, dass von chassidischer Seite eigene Minjanim innerhalb der Synagogengemeinde gegründet worden seien und sich die Besucher dieser Gebetskreise sogar geweigert hätten, ihre Gebete innerhalb der Gemeinde abzuhalten. Zudem wurde angeführt, dass sich in den Gemeinden außerhalb der Gottesdienste auf Gemeindeebene Chassidim zu weiteren Treffen, etwa nach Schabbat, getroffen hätten. Aufgrund der oben dargestellten konkreten, nicht nur mitnaggedischen, sondern auch maskilischen Schilderungen können die chassidischen ›Konventikel‹ als hinreichend belegt angenommen werden. Wohl kaum aber wird die Motivation der Chassidim zur Gründung eigener Minjanim tatsächlich im Schisma, in der gezielten Schwächung und Dekonstrukion des ›Hauses Israels‹ gelegen haben, was die Mitnaggedim aufgrund ihrer Erfahrungen mit dem »religiös begründeten und alle moralischen Normen sprengenden Antinomismus«85 Jakob Franks, der nur wenige Jahre vorher aufgetreten war und die Judenheit nicht nur Osteuropas in eine neue innere Krise gestürzt hatte, vermuteten. Welche Vorstellung also stand tatsächlich hinter den ›Sonderbünden‹? Mit welcher Zielsetzung waren sie gegründet worden? Erstaunlicherweise handelt es sich um ein Phänomen, das, obwohl in den gegnerischen Texten sehr stark betont, in den chassidischen Texten eher eine untergeordnete Rolle spielt und dem auch vermutlich von chassidischer Seite nur begrenzt Bedeutung beigemessen wurde. Dennoch wird auch hier die Existenz eigener chassidischer Einrichtungen bereits in der Frühzeit nicht in Abrede gestellt, mit denen der chassidische Eroberungszug vorangetrieben wurde. So wird etwa in den Schibche haBescht die »heilige Bruderschaft« des Bescht (4M=7K 4NF==E) erwähnt, ohne dass diese allerdings weiter bestimmt wird.86 Es ist anzunehmen, dass es sich hierbei um einen Kreis von Kabbalisten 85 Anselm Schubert, Rezension von: Klaus S. Davidovicz: Zwischen Prophetie und Häresie. Jakob Franks Leben und Lehren, Wien 2004, in: Sehepunkte 7 (2007). 86 SHB H52 etwa schildert, wie sich einem tadellosen Hauslehrer im Traum der Bescht zeigt, wie dieser in einem Palast mit seiner Bruderschaft um einen Tisch herum sitzt und »Worte der Tora« spricht, so dass das Herz des Hauslehrers, der sich bis dahin vom Bescht fern gehalten hatte, entbrennt; auch in den Berichten über den Tod des Bescht (SHB H273) ist an einigen Stellen die Rede von der Gruppe seiner Schüler, die offenbar regelmäßig bei ihm verweilten.

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handelte, der zum einen aus Schülern, zum anderen aber auch aus gleichberechtigten Genossen des Ba’al Schem Tov bestand. Dieser Zirkel jedoch ist keinesfalls als sektiererisches, als aufrührerisches oder separatistisches Konventikel zu bezeichnen, wie Steuerlisten belegen: Der Bescht war ein von der Gemeinde Miedcyboz alimentierter Kabbalist, der »zusammen mit den fünf anderen [in ebendiesen Steuerlisten erwähnten] Geldempfängern eine öffentlich finanzierte kabbalistische ›Klause‹ bildete«, der er wohl vorstand und die keinen Einzelfall sondern eher die Regel darstellte.87 Die Tatsache, dass es sich um eine öffentlich finanzierte Stelle handelt, die kein großes Aufsehen erregte, lässt darauf schließen, dass sich zu Lebzeiten keine große Gefolgschaft um den miedcybozer Ba’al Schem gebildet hat.88 Solches Aufsehen erregten erst die chassidischen Einrichtungen, die in den späteren Cheremot Erwähnung fanden und die in zwei Kategorien unterteilt werden können: Während die chassidischen Höfe zwar als Innovation bezeichnet werden müssen, stellen die anderen chassidischen Einrichtungen v. a. vor der Jahrhundertwende einen eher konservativen Ansatz für einen sozialen Wandel dar. Sowohl die ab dem letzten Viertel des 18. Jahrhunderts entstehenden Zaddikim-Höfe als auch die Einrichtung von chassidischen Gebetshäusern (die wiederum unterteilt werden in ›Kloyz‹ und ›Schtibl‹, ›Bet midrasch‹ und eigene Synagogen) neben den gemeindlichen Einrichtungen lassen aufgrund ihres Status eine Bezeichnung als ›sektiererisch‹ oder ›separatistisch‹ wohl am ehesten durch eben diesen geheimen, inoffiziellen Status zu, wiewohl am besten die Rede von einer »Subkultur« sein kann.89 Dennoch gab es diese Einrichtungen über die gemeindlichen hinaus schon in der chassidischen Frühzeit, was von beiden Seiten belegt ist, ja auch in vor-chassidischer Zeit. Ob man sie nun als ›separatistisch‹ bezeichnen mag oder als ›Subkultur‹ sei dahingestellt; was an dieser Stelle eher interessiert, ist die Frage, was die Chassidim bewog, sich zum Lernen und Beten nicht zur Majorität der örtlichen Gemeinde zu gesellen, sondern sich im kleinen Kreis zu treffen. Eine regelrechte ›Dogmatisierung‹ für die chassidische Separation scheint es nicht zu geben. Eine Begründung jedoch bietet bereits Jakob Josef in seiner Toldot, und zwar sowohl für seine Gründung eines eigenen Lehrhauses in seiner Stadt als auch für die Separation der Chassidim für die Gebete. Samuel Dresner hat die wenigen Passagen aus dem Hauptwerk Jakob Josefs zusammengestellt, die in der Zusammenschau zeigen, dass die Separation sich bei ihm als Folge aus seiner Gesellschaftskritik ergibt: Für Jakob Josef stellte sich 87 Karl Erich Grözinger, Ba’al Schem Tov – Legende oder Wirklichkeit. Polnische Steuerlisten belegen seine Lebensdaten, in: Frankfurter Jüdische Nachrichten (1996), 13 f; hier : 13; vgl. auch das 10 Kapitel von Moshe Rosman, Founder of Hasidism. A quest for the historical Ba’al Shem Tov, Berkeley 1996. 88 Karl Erich Grözinger, Ba’al Schem Tov – Legende oder Wirklichkeit, 14. 89 Dynner, Hasidic Tale, 56.

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nach seiner ›Erweckung‹ durch den Bescht90 der gegenwärtige Zustand der jüdischen Gesellschaft als, gelinde gesagt, reformwürdig dar. Wiederholt schildert er den armseligen spirituellen Zustand sowohl der einfachen Menschen als auch der gesellschaftlichen Elite. Jedoch musste er feststellen, dass seine Gesellschaftskritik91 nicht überall auf offene Ohren traf. Vielmehr erfuhr Jakob Josef – nicht zuletzt in seiner eigenen Gemeinde – viel Leid, welches in der Vertreibung aus seinem Amt gipfelte. Die Summe dieser Erfahrungen, die er immer wieder, dann jedoch dargestellt als die Leiden eines jeden Zaddiks, in seinen Büchern schildert92, stellen das Fundament seiner Argumentation dar, mit der er die Einrichtung eines eigenen Lehrhauses begründete: »[…] all the above events, from the beginning to end, happened to me, the writer, and demonstrate why I ordered the establishment of a separate bet hamidrash in Sharogrod.«93

Doch worum handelt es sich bei »allen diesen genannten Dingen«, die Jakob Jospeh in seiner Gemeinde kritisierte und denen er nur mit der Gründung eines eigenen Bet midrasch zu begegnen wusste? Wogegen wandte sich seine Kritik? Und warum war die Gründung eines eigenen Lehrhauses die einzige adäquate Antwort hierauf ? Die Kritik, die Jakob Josef in seinem Werk anbringt, zielte auf wesentliche Punkte des gemeindlichen Lebens, die z. T. bereits aus den gegnerischen Schilderungen als zentrale fromme Anliegen der Chassidim herausgefiltert wurden und die in diesem Zusammenhang deshalb nur genannt werden sollen, um die zweifellos vorhandenen chassidischen Absonderungen zu begründen: Vor allem die mangelnde Beachtung der jüdischen Reinheitsgesetze und das ungenügende Verhalten im Bereich der Synagoge, das sich in einem mechanischen, eiligen Modus des Gebets, im Mangel an Kawwannah oder im Stolz des Vorbeters, aber auch im Streben nach Ehre und Ruhm der Reichen und anderem mehr äußerte, 90 Vgl. SHB H55 bzw. J47. 91 Nicht zuletzt kritisiert er immer wieder die Laxheit der Schächter ; vgl. Toldot Jakob Josef, Parascha Nasso; zitiert in Dresner, The Zaddik, 56, Anm. 35; an derselben Stelle geht Jakob Josef sogar so weit zu behaupten, dass »es verbreitet ist, dass jeder Schächter sogar unbelesen ist in der Halachah der Schächtung und Gott nicht fürchtet, was entgegen unserern hlg. Lehrern ist […, welche sagten,] dass die Schächter Gott fürchten sollen und genau sein sollen und mit allen Sinnen in der Überprüfung […]«; eine weitere Gruppe, die die Kritik Jakob Josefs zu spüren bekommt, sind die Vorbeter : »[…] ebenso der Vorbeter, der ein Makler ist zwischen Israel und unseren Vätern, die im Himmel sind, indem sie die Vielen herausführen, um ihre Sünden zu bekennen, […], in den alten und neuen Posekim haben sie gewarnt, dass der Vorbeter der Beste im Volk sein soll – aber so ist es heutzutage nicht, da die Schlimmsten im Volk ausgewählte werden […].« 92 Ebd., 56. 93 Toldot Jakob Josef, Parascha Nasso: 74L6=L4M5 B”85 N9MF@ 89J M=48 8: 4K97 8B@ :B9LB9 ,4H=E@ 4M=LB @”D8 4759F =98 C7=75 5N9?8 =D49 ; zitiert in Dresner, The Zaddik., 56, Anm. 36.

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werden hier immer wieder angeführt.94 Vor diesem Niedergang innerhalb der Mehrheitsgemeinde resigniert der Rabbiner Jakob Josef und macht Alternativvorschläge, die immer auf dasselbe hinauslaufen: Bezüglich der Reinheitsvorschriften schreibt er : »Many are not expert in the laws of salting and soaking meat, from which numerous regulations are derived […] There used to be many preachers who would go about explaining to each woman the laws of salting, but that ist not now the case. Surely he who wishes to be holy should not sit at the table of such people. He who separates himself from the food of the ›world‹ shall be called holy.«95

Ähnliche Vorstellungen äußert er über das Gebet: »He who wants to be holy should set himself apart to pray in a minyan of his own, since it is not possible to pray with a congregation which performs the mitzvot by rote.«96

Werden die gegnerischen Schilderungen des chassidischen ›Konventikeltums‹ im Lichte dieser Äußerungen betrachtet, so wird nicht nur ein weiteres Mal das bloße Vorhandensein chassidischer Absonderung bestätigt, sondern die Teleologie der Separation wird deutlich: Um sich von den Fehlern der Gemeinde abzusetzen und ein wahrhaftig frommes Leben zu führen wird ein elitärer Zirkel gebildet, eine besondere Gemeinde innerhalb der Gesamtgemeinde. Diesem Kern soll angehören, wer die Reinheitsgebote beachtet, wer seine Gebete nicht nur als Pflichtübung absolviert und wer das gemeindliche Leben im rechten Sinne mitgestaltet, kurzum: wer ein heiliges Leben zu führen versucht. Der aber, der ein heiliges Leben führen möchte, kann dies, das sagen die Zitate Jakob Josefs, am ehesten, indem er sich zum Beten separiert – zumindest aber einen Kreis (Minjan) Gleichgesinnter aufsucht und sich dementsprechend von denen, die ihrer (Gebets-)Pflicht nur pflichtschuldig und routinemäßig nachkommen, fernhält. Denn »es ist für diejenigen, die die Gebote erfüllen wollen, unmöglich, in der Öffentlichkeit zu beten […]«97, weil »diejenigen, die in einer besonderen Klause beten wollen, denn es ist ja unmöglich, mit Menschen, die nur gewohnheitsmäßig beten, gemeinsam die Andacht zu verrichten, unausgesetzt befehdet werden […].«98 Letztlich gründet sich die chassidische Absonderung also auf dem urorthodoxen Anliegen der Einhaltung der Mitzwot: Wenigstens im Sinne des Lehrers Jakob Josefs, des Bescht, so wäre die Begründung, konnten die Gebote in der mehrheitlichen Gemeinde nicht mehr eingehalten werden. Hierfür brauchte es 94 95 96 97 98

Ebd., 114 f. Toldot Jakob Josef, Parascha Nasso; zit. in ebd., 114. Ebd. zitiert. Ebd. zitiert. Toldot Jakob Josef, Paraschiot Nasso, Beha’alotcha, Mase, Waetchanan; zitiert in Dubnow, Geschichte, 166 f.

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einen besonderen Kreis, der die Mehrheit im konsequenten Rückschluss ausschloss, was, wie Dresner bemerkt, das Bild des Chassidismus als Massenbewegung des einfachen Volkes zumindest verschiebt: »The commonly accepted view, therefore, that the message of Hasidism was directed to the masses must be severely qualified. In its origins at least, it was, in some respects, the opposite: a movement of the few, not the many ; of the learned, not the ignorant; of the pious, not the common people.« »Nevertheless«, so schließt er an, »such a policy of separation was not construed as an ideal for the community, but rather as an emergency measure.«99 Beide Feststellungen – die der elitären Frömmigkeit der wenigen und die der Einrichtung derselben lediglich als ›Notfallplan‹ – müssen festgehalten werden als wichtige Charakterzüge der chassidischen Frömmigkeit. Auch sollte nicht vergessen werden, dass der Gang in die Separation unter Umständen auch rein pragmatisch begründet gewesen sein könnte: Viele der herausgearbeiteten Merkmale tauchen in den Quellen parallel zum Vorwurf des Separatismus auf und werden zumindest gleichzeitig bestanden haben. Fest steht aber auch, dass einige der markantesten originär chassidischen Frömmigkeitsmerkmale – wie das auffällige Gebetsgebaren, was schon in Semir Arizim weCharboth Zurim genannt wird, oder der Gebrauch des lurianischen Gebetsbuches – bereits zu Zeiten der noch gemeinsam abgehaltenen Gebetsgottesdienste den Anhängern der Bewegung vorgeworfen wurden. Es ist nicht eben unwahrscheinlich, dass die Gründung eigener chassidischer Minjanim etwa darauf zurückzuführen ist, dass einzelne Chassidim wegen ihres ekstatischen Betens vom gemeindlichen Gottesdienst ausgeschlossen wurden – oder sich von diesem zurückzogen, um ihre Gebete nach ihren Vorstellungen abhalten zu können, ohne die anderen Beter zu stören (oder wiederum von diesen gestört zu werden). Es wurde bereits eingangs auf die Diskrepanz hingewiesen, die sich zwischen den chassidischen Quellen einerseits und der gegnerischen Polemik andererseits ergibt, wenn man auf die Bedeutung blickt, die dem ›Separatismus‹ als Frömmigkeitsmerkmal beigemessen wurde. Wie lässt sich diese Beobachtung interpretieren? Hierbei ist es wichtig zu wissen, dass es sich weder bei der erwähnten Kabbalistenklause des Bescht noch bei den von Jakob Josef initiierten Beterkreisen neben der üblichen Synagogengemeinde um eine originär chassidische Idee handelt: Schon früher, sozusagen in vorchassidischer Zeit, gab es Kreise, in denen sich Männer trafen, um sich mit Schriften des klassischen jüdischen Kanons, nicht zuletzt auch mit kabbalistischen Werken zu beschäftigen. Gerade im 17. und 18. Jahrhundert, einhergehend mit der wachsenden Menge der zur Verfügung stehenden Literatur aufgrund der sich immer weiter durchsetzenden 99 Dresner, The Zaddik, 115 f.

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Drucktechnik, »individual mystics and small groups of kabbalists appeared in numerous communities.«100 Vor dem Hintergrund einer zunehmend polarisierten Gesellschaft hatten sich, »um den vielfältigen Benachteiligungen« zu entrinnen, »zahlreiche Konventikel und Bruderschaften gebildet, die eigene Formen der Solidarität pflegten und religiöse Gemeinschaften, wie zum Beispiel Beterzirkel, Studiengruppen, unterhalb der Ebene der Gemeindeverwaltung bildeten […].«101 Diese, oftmals ebenso als Chassidim bezeichneten Kreise unterschieden sich zwar von den beschtschen Chassidim nicht zuletzt aufgrund ihrer eremitischen, asketischen Haltung,102 nahmen jedoch den Letztgenannten die einzelnen Konventikel vorweg. Wie der Kreis um den Bescht wurden auch die vorchassidischen kabbalistischen Bruderschaften zuweilen durch einzelne Gemeinden finanziell unterstützt und sollten sich als »exceptional individuals« im Gegenzug in spiritueller Hinsicht um die Gemeinde bemühen.103 »Sie waren in vieler Hinsicht Vorläufer und Basis für die um und nach dem Bescht entstehenden Gruppen von Hasidim, die bald darauf die neue hasidische Bewegung formten.«104 Wenn nun die Konventikel, die Beterzirkel und die anderen dem Separatismus zugeordneten Phänomene zwar von den Zeitgenossen als chassidisches Spezifikum angegriffen wurden, letztlich aber der Vorwurf aufgrund des Befundes, dass es sich hierbei nicht um etwas typisch Chassidisches, ja nicht einmal um etwas Neues im eigentlichen Sinne handelt, nicht gehalten werden kann, muss dementsprechend weiter gefragt werden, worin in den Augen der rabbinischen Orthodoxie das Ärgernis gelegen hat. Zwar wurden auch die vorchassidischen Gruppen bisweilen von den offiziellen Gemeindeverwaltungen bekämpft und auch verboten105 – mit besonderer Vehemenz jedoch gingen sie gegen die Gemeinschaften des beschtschen Chassidismus vor, wofür Jakob Josef sich selbst in seiner Toldot als Beispiel anführt. Vornehmlich wird dieser Frage die personale Zusammensetzung der separatistischen chassidischen Gemeinschaften als Antwort entgegenzuhalten sein. Zum einen wurden neue Lehrautoritäten etabliert, die sich »in einem großen Maße aus dem sogenannten zweiten rabbinischen Stand, nämlich den Kinderlehrern (Melamed) und den ansässigen oder umherziehenden Predigern (Maggid)« rekrutierten (s. III.2.2).106 Zum anderen wurden die bis dahin nur 100 Gershon David Hundert, Jews in Poland-Lithuania in the Eighteenth Century. A Genealogy of Modernity, Berkeley, Los Angeles 2004, 120. 101 Grözinger, Jüdisches Denken Bd. 2, 696. 102 Vgl. Hundert, Jews in Poland-Lithuania in the Eighteenth Century, 120 f. 103 Vgl. ebd., 122 f. 104 Grözinger, Jüdisches Denken Bd. 2, 696. 105 Vgl. ebd. 106 Ebd., 700.

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einem elitären, esoterischen Kreis vorbehaltenen Mitgliedschaften zunehmend einem weiter gefassten Publikum geöffnet, bedeutende spirituelle Aufgaben somit dem vermeintlich ungebildeten Volk zugestanden. Ein Verbot der Konventikel würde sich in diesem Fall nicht gegen die Einzelgemeinschaften als solchen gewendet haben, sondern nur gegen den Besuch derselben von jedem beliebigen Juden.107 Gestützt wird diese Vermutung durch das in Semir Arizim (#:) spezifizierte Verbot, dass eben nicht per se alle Gemeinschaften außerhalb der synagogalen verbietet, sondern nur den Besuch etwa der ›Klause‹ für diejenigen, die nicht als Kabbalisten bekannt sind.

2.2

Die chassidischen Oberhäupter – Männer mit Ru’ach haKodesch108

Wie oben gezeigt belegt schon die früheste gegnerische Schrift Semir Arizim weCharboth Zurim die Etablierung einer neuen Gemeinschaftsform, die sich von der gegebenen Ordnung innerhalb der Kehila durch ihre Ausrichtung auf einen »Hohen Oberen«, der die traditionellen Vorstellungen von Gemeindeleitern nicht bediente, unterschied. Über diese charismatischen Führer (namentlich hier der Gemeinde Wilna) heißt es, dass sie vorgaben, Wunder wirken zu können, dass sie versuchten, Anhänger an sich zu binden und diese so vom rechten Weg der Tora abzubringen, und dass sie diese zudem noch wirtschaftlich ausnutzten. Auch ist bereits hier die Rede von den Wallfahrten zu den »Oberen«, mithin also auch ein Hinweis auf die überregionale Struktur chassidischer Gemeinden. Während jedoch in den mitnaggedischen Schriften noch lediglich die lokalen chassidischen Größen genannt werden (nach denen ja die Sekte etwa in Wilna sogar benannt wurde), bezeichnen die maskilischen Autoren bereits jene Namen, die auch heute noch das Bild des Chassidismus prägen: Vor allem werden der Bescht als Gründer der Bewegung und Dov Bär, der Große Maggid als sein Nachfolger angeführt. Auch schildern die Maskilim in den zitierten Texten aus ihrer Sicht (die sich, in Hinsicht auf Maimons Lebensgeschichte, auch nicht lediglich als Außensicht abtun lässt) das herrschaftliche Leben am Hofe dieser »Hohen Oberen«. An Schilderungen mangelt es also nicht. Diese besagen jedoch in ihrer Polemik relativ wenig über die inneren Bezüge der neuen Gemeindeordnung: Wie ist das Verhältnis zwischen den »Hohen Oberen« und ihren Anhängern zu beschreiben? Ist es tatsächlich als eine derart eingleisige Beziehung zu verstehen, wie es die Gegner glauben machen wollten? Oder gibt es reziproke 107 Dasselbe lässt sich für die Verwendung des ›lurianischen‹ Gebetsritus annehmen, vgl. etwa III.2.6. 108 Dieser Ausdruck entstammt dem Werk No’am Elimelech, Parascha Wajeschew; zitiert in Wertheim, Law and Custom, 24.

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Bezüge, die den Mitnaggedim und den Maskilim verborgen blieben – oder bekannt waren, aber verschwiegen wurden? Zur Klärung dieser Fragen müssen vor allem jene charismatischen Führer in den Blick genommen werden – jedoch hinsichtlich ihres Verhältnisses zu ihren Anhängern. Es interessiert aus frömmigkeitsgeschichtlicher Sicht also weniger eine »Dogmatik vom Zaddik«109, sondern viel eher die praktischen Bezüge zwischen den charismatischen Führerfiguren und ihren Anhängern, durch die der Chassidismus als soziale Bewegung auch überhaupt erstmals greifbar wurde. Als ›Gründer‹ der Bewegung – auch wenn, oder eher : gerade weil er zu diesem wohl erst posthum gemacht wurde, bietet es sich an, beim Ba’al Schem Tov anzufangen und seine Aufgaben und das Verhältnis zu seinen Anhängern zu untersuchen. Israel Ben Eliezer trug bekanntermaßen den Beinamen ›Ba’al Schem Tov‹, das heißt Herr des guten Namens. Bei diesem Beinamen nun handelt es sich weniger um eine besondere, individuelle Bezeichnung Israel Ben Eliezers, vielmehr ist er als Berufsbezeichnung aufzufassen: In einer Gesellschaft, in der trotz des biblischen Verbotes von Zauberei (vgl. etwa Dtn 18,10 – 12) seit jeher ein gewisses Maß von Zauberei vorhanden war, erfüllten die Männer, die diese Bezeichnung trugen, zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert bereits eine weitgehend legitimierte und professionalisierte Funktion: Sie dienten als »Wundermann, Helfer und Fürsprecher«110. Auf der durchaus als »orthodox« zu bezeichnenden Basis111 der »mystischen und magischen Tradition der Namenstheologie oder Onomatologie« erfüllten sie im Untersuchungszeitraum nicht nur für die jüdische Gesellschaft die Funktion eines professionellen Heilers und Helfers, »der offensichtlich einen Platz in der normalen Hierarchie der jüdischen Berufe wie etwa dem des Rabbi […] einnimmt.«112 Gerade in dieser Zeit nun »begann diese Funktion einen Professionalisierungsprozeß durchzumachen. Die Ba’ale Schem des neuen Typs unterschieden sich von ihren Vorgängern darin, daß die magischen Dienstleistungen ihre einzige oder zumindest ihre hauptsächliche Ein-

109 Der Terminus Zaddik, der von den späteren Chassidim generell für ihre Oberhäupter verwendet wird, erfährt in der Frühphase der Bewegung noch keinen konsequenten Gebrauch; erst Elimelech von Lezajsk mit seinem Werk No’am Elimelech »applied the term more consistently.« Dynner, Men of Silk, 7. 110 Vgl. den gleichnamigen Aufsatz von Karl E. Grözinger, Wundermann, Helfer und Fürsprecher. Eine Typologie der Figur des Ba’al Schem in aschkenasisch-jüdischen Volkserzählungen, in: Anthony Grafton (Hg.), Der Magus. Seine Ursprünge und seine Geschichte in verschiedenen Kulturen, Berlin 2001, 169 – 192. 111 Ebd., 172. 112 Ebd., 182; vgl. hierzu auch den bereits zitierten Aufsatz von Grözinger, der den Bescht als einen eben auf diese Weise in die Gemeinde Miedzyboz eingebundenen Funktionsträger aufzeigt: Grözinger, Ba’al Schem Tov.

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nahmequelle waren.«113 Um nicht vorzugreifen sei an dieser Stelle nur erwähnt, dass die Aufgaben der Ba’ale Schem sich in erster Linie auf die materiellen Probleme dieser Welt beschränkten, wie etwa Krankheiten, körperliches und materielles Leid. Hinzu traten im 18. Jahrhundert neue Zuständigkeitsbereiche: Aufgaben spiritueller Art, die sich in erster Linie um Sünde und Buße drehen, wobei freilich eine klare Trennung hier nicht möglich ist.114 Darüber hinaus weitete sich durch den Einfluss der Lurianischen Kabbala das Betätigungsfeld noch auf den Bereich der Seelenwanderung aus: »Im Gegensatz zu diesem weltlichen Helfer verfolgt der Ba’al Schem psychagogischen Typs das Ziel, den Seelen zu helfen, das diesseitige Leben zu verlassen, sicher in den Garten Eden zu gelangen und von der Seelenwanderung erlöst zu werden.«115 Alle diese Aufgaben erfüllte auch der miedzybozer Ba’al Schem, der als der Gründer des Chassidismus bezeichnet wird. Eine genuin durch ihn eingeführte und somit in diesem Zusammenhang besonders interessante weitere Funktion ist die des Fürsprechers der Menschen vor dem himmlischen Gericht, die Grözinger als »Advokatentypus des Ba’al Schem« bezeichnet.116 Über alle diese Aufgaben der Ba’ale Schem und insbesondere des Ba’al Schem Tov von Miedzyborz klären uns die Schibche haBescht auf: In den Legenden vom Bescht wird deutlich, dass Israel Ben Eliezer alle beschriebenen Funktionen erfüllte; einerseits in Miedzyboz, wo er, wie erwähnt, als »Kabbalist«, aber auch als »Doktor« in den besagten Steuerlisten Erwähnung findet, darüber hinaus auch als fahrender Ba’al Schem, der seine Künste auch andernorts feilbot.117 All diese Aufgaben müssen bedacht werden, wenn es darum geht, jene hohen Obern, die die Gegner kritisierten, zu charakterisieren, auch wenn mitnichten gesagt werden darf, dass jedes der Oberhäupter sich selbst die Fähigkeiten Beschts zusprach oder sie zugesprochen bekam. Aber letztlich beriefen sie sich – zumindest zeigt sich dies bereits in den Büchern Jakob Josefs, aber ebenso in den gegnerischen Schilderungen (etwa die Salomon Maimons oder Israel Löbels) – darauf, in seiner Tradition zu stehen. Dementsprechend soll diesen Funktionen, die der Bescht erfüllte und die auch den anderen – späteren – Oberhäuptern zugeschrieben wurden, nunmehr einiger Raum eingeräumt werden. Wie bereits erwähnt war der Bescht als Ba’al Schem Tov auch zuständig für die 113 Immanuel Etkes, Der Rabbi Israel Ba’al Schem Tov. Seine beiden Funktionen als professioneller Magier und Beschützer der Juden, in: Anthony Grafton (Hg.), Der Magus. Seine Ursprünge und seine Geschichte in verschiedenen Kulturen, Berlin 2001, 193 – 207; hier : 196. 114 Diesen wiederum transformierten Typus nennt Grözinger, Wundermann, Helfer und Fürsprecher ; hier: 184 den »lurianisch-kabbalistischen Typus«. 115 Ebd., 188. 116 Ebd. 117 Vgl. etwa SHB H117, H123, H142 und die vielen anderen Erzählungen, die mit der Einleitung »Als der Bescht einmal auf Reisen war […]« beginnen.

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materiellen Probleme der Welt. Was dies konkret bedeutete, berichten beispielsweise die Legenden: Hier häufen sich die Erzählungen, die zur Gruppe der »Geschichten von der materiell-physischen Diesseitssicherung« gezählt werden können. Hierzu zählen Erzählungen um das (erfolgreiche) Bemühen um Regen (H36), die Sorge um Kindersegen (H131), die Rettung aus finanziellen Nöten (H172), die Heilung von Krankheiten (H45, H82 u. a.) oder gar die Rettung ganzer Gemeinden vor den Folgen böswilliger Ritualmordbeschuldigungen oder vor Überfällen (H73, H83 u. a.). Über jene weltlichen Probleme, die auch seinerzeit schon als ›natürlich‹ angesehen wurden, hinaus handelt eine vergleichsweise große Zahl der Legenden vom Bescht von der »Befreiung von übernatürlichen Wesen und Mächten«, Dämonen, Dibbukim, Hexen und ähnlichen Geschöpfen (z. B. H35, H106).118 Aber auch jene spirituellen Themenbereiche um Sünde und Buße spielen in den Legenden vom Bescht eine bedeutende Rolle: So gibt es eine Vielzahl von Legenden, die von der Sünde Einzelner berichten (etwa H27, H115, H169, H170 u. a.), aber auch von kollektiven Sünden (H99). Dem werden Bußmöglichkeiten entgegengehalten wie etwa das Lernen (H114) oder es wird die ideale Büßerhaltung wegen des nahenden Todes vorgeführt (H40, H158). Auch gibt es nicht wenige Geschichten, welche das Eingreifen des Bescht in die Seelenwanderung zum Thema haben: So erlöst der Bescht einen Gelehrtenschüler aus dem Körper eines »riesengroßen Frosch[es], […], so groß, dass er fast nicht erkannt hätte, was für ein Tier dies war«119, aber auch andere heilige Männer erlösen Seelen aus dem Gilgul (etwa H132). Viele dieser weltlichen Aufgaben werden gemäß der traditionellen Ba’al Schem-Auffassung mit relativ konventionellen Mitteln gelöst, wie dem Schreiben und Aushändigen von Amuletten, dem Untertauchen in der Mikwe, dem Gewinnen von Informationen (etwa über den Verbleib vermisster Menschen) aus heiligen Büchern wie dem Sohar, oder sogar mit Mitteln der traditionellen Volksmedizin wie dem Aderlass oder der Anwendung von besonderen Getränken (v. a. Hühnersuppe). Wie oben bereits angeführt erweiterte der Bescht diese Mittel um ein genuin eigenes: Die Möglichkeit der Fürsprache vor dem himmlischen Gericht. Diese Advokatenfunktion (Grözinger) ist in ihrer Zielsetzung wie die des professionellen Ba’al Schem-Typus auf die materiellen, weltlichen Belange des ›Kundenkreises‹ der Ba’ale Schem ausgerichtet, jedoch ist das Mittel zur Erreichung ein anderes: Statt nur die oben aufgezählten Wundermittel zu verwenden hilft der Advokatentyp, indem er »zu den himmlischen Palästen empor [steigt], um dort vor den verschiedenen himmlischen Gerichten zugunsten der leidenden Menschen zu plädieren. Er tut 118 Grözinger, Geschichten vom Ba’al Schem Tov, XXIII; vgl. hierzu auch die Einleitung zum zweiten Kapitel in Nigal, Hasidic Tale, 77 ff. 119 SHB, H24.

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dies, weil er glaubt, dass alles Leid und alle materielle Not die Folge himmlischer Urteilssprüche ist, die er durch seine Fürsprache zu ändern versucht.«120 Auch hierfür gibt es nicht wenige Erzählungen, in denen ganze Gerichtsszenarien aufgestellt werden, mit dem Satan in der klassischen Rolle des Anklägers und verschiedenen Personen als Anwalt – nicht nur der Bescht vertritt angeklagte Menschen, sondern auch andere setzen sich für ihre Mitmenschen ein.121 Eine Möglichkeit, diesen mystischen Kontakt zwischen Himmel und Erde herzustellen, war der Aufstieg in den Himmel, wie der Bescht ihn offensichtlich häufig und im Wissen seiner Anhänger vollzog und in seinem Brief an seinen Schwager auch schriftlich fixierte. Da es sich um eine das Wesen der ›Hohen Oberen‹ charakterisierende Beschreibung handelt, soll hieraus ausführlich zitiert werden: »Denn am Neujahrstag des Jahres 5507 [= September 1746] vollzog ich einen Aufstieg der Seele, wie du ihn von mir kennst, und ich sah erstaunliche Dinge in dieser Vision, die ich nie zuvor gesehen hatte […] Aber als ich zum unteren Garten Eden zurückkehrte, da sah ich viele Seelen – sowohl von Lebenden als auch von Verstorbenen, von mir bekannten als auch unbekannten. Es waren unzählbar viele und sie rannten zwischen den Welten hin und her […] Sie alle drangen auf mich ein, zu meiner Verlegenheit, und sagten: ›Der Herr hat deiner Ehre großes Verständnis gegeben, um diese Zusammenhänge zu erfassen. Steige deshalb mit uns auf, um uns zu helfen und uns zu unterstützen.‹ Ihre Ergriffenheit war so gewaltig, dass ich mich entschied, mit ihnen zusammen den Aufstieg zu unternehmen. Dann sah ich in der Vision, dass Schamael aufstand, um als Ankläger zu fungieren wegen der beispiellosen Ergriffenheit [der Seelen]. Er erreichte, was er sich vorgenommen hatte, nämlich den Entscheid zum Abfall vieler [Juden], die zu Tode gefoltert werden sollten. Da ergriff mich die Furcht und ich nahm mein Leben in meine Hände. […] Stufe um Stufe stieg ich höher bis ich den Palast des Messias erreichte, in dem der Messias mit allen Tannaim, den Heiligen und auch den sieben Hirten Tora studiert. Dort bemerkte ich großes Jubeln, konnte aber nicht den Grund hierfür erkennen und dachte deshalb, dass es, Gott bewahre, wegen meines eigenen Verlassens der Welt sei. Aber nachher wurde ich aufgeklärt, dass ich nicht sterben sollte, da in der Höhe, wenn ich meine Einungen vollziehe, daraus große Freude entsteht. […]«122

An diese Schilderung schließen sich einige Empfehlungen des Bescht an seinen Schwager an; ebenso schildert der Bescht einen weiteren Aufstieg. Beide in diesem Brief, der als einzige authentische Quelle aus der Hand des Bescht angesehen wird, geschilderten Aufstiege fanden am Neujahrstag statt, also am traditionellen Gerichtstag, an dem über das Schicksal der Menschen 120 Grözinger, Wundermann, Helfer und Fürsprecher, 189. 121 Vgl. etwa SHB H118; diese Legende führt Grözinger auch ebd., 189 f als Beispiel an. 122 Der »Heilige Brief« wird zitiert in Louis Jacobs (Hg.), The Schocken book of Jewish mystical testimonies, New York 1996, 182 ff.

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entschieden wird.123 In ihnen wird folgendes deutlich: Zum einen vermochte der Bescht nach eigenem Bekunden, mit den himmlischen Mächten in direkten Kontakt zu treten – und zwar, anders als die biblischen Propheten, aus eigener Initiative. Er definiert seine mystischen Beziehung aktiv, d. h. nicht er wird ›berührt‹, sondern er erklimmt aus eigenem Antrieb kraft seines Amtes als Ba’al Schem die himmlischen Stufen, vom ›unteren Garten Eden‹ – ein kabbalistischer Begriff, der einen spirituellen Zustand nahe dem materiellen beschreibt124 – bis in den Palast des Messias. Zum anderen jedoch – und hier geht seine eigene Rolle über seinen eigenen Aufstieg weit hinaus – begleitet er die Seelen (nicht nur) Verstorbener auf ihrem Weg, ja vertritt sie gegen Schammael als Ankläger vor einem himmlischen Gericht. Auch bekommt er das Recht eingeräumt, sich bei Schammael wegen mehrerer Gemeinden zu erkundigen, die dem Abfall vom Judentum widerstehen konnten, dennoch aber zu Tode gefoltert wurden. Ebenso hält er Fürsprache, als eine Anklage gegen das ganze Volk besteht, und setzt sich dafür ein, dass das Volk wenigstens nicht in die Hände der Menschen, sondern in Gottes Hände fallen soll – und so geschieht es: Es bricht eine Epidemie aus. Allerdings setzt sich der Bescht mit seinen Genossen zusammen und betet (gegen das ausgesprochene Verbot) zumindest für seinen Distrikt: mit Erfolg.125 Der Bescht zeigt sich als Anwalt des Volkes. Hier wird nun die Vorstellung dessen deutlich, was Grözinger mit dem Begriff des »Advokatentypus« meint. Noch weiter gefasst wird dies in einigen der Legenden der Schibche haBescht. So wird etwa in H61 der Vorgang des Aufstiegs der Seele Beschts während des Gebetsgottesdienstes am Versöhnungstag geschildert, an dem im Himmel eine Anklage gegen Israel vorlag: »Die mündlich überlieferte Tora sollte den Israeliten weggenommen werden!«: »Beim Ne’ila-Gebet vermochte ich zunächst das ganze stille Achtzehngebet zu beten, ich schritt von Welt zu Welt, ohne jegliche Behinderung. Auch beim gesprochenen Achtzehngebet ging ich stracks voran, bis ich zu einer Halle kam, wo mir nur noch ein Tor zu betreten blieb, bis ich vor Gott, Er sei gesegnet und gesegnet sei sein Name, eingetreten wäre. Doch in dieser Halle fand ich die Gebete von fünfzig Jahren, denen kein Aufstieg gelungen war. Und jetzt, weil wir an diesem Versöhnungstag mit so angespannter Ausrichtung gebetet haben, sind diese Gebete allesamt hinaufgestiegen, und ein jedes von ihnen leuchtete wie die Morgenröte. Ich fragte die Gebete: ›Warum seid ihr nicht früher emporgestiegen?‹ Da sagten sie: ›So wurde uns befohlen, auf Euch, Ehrwürden, zu warten, dass ihr uns führet!‹ ›Nun denn‹, rief ich ihnen zu, ›so kommt mit mir!‹«126

123 124 125 126

Vgl. ebd., 189, Anm. 2. Vgl. ebd., 189, Anm. 2. Vgl. in ebd., 187. SHB H61.

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Dem Bescht werden demnach nicht nur Qualitäten als Anwalt eingeräumt, sondern auch als Vermittler, als Führer von Gebeten. Seine Aufgabe besteht darin, dafür zu sorgen, dass die Gebete längst nicht nur seiner Anhänger den Adressaten erreichen. Besonders aus dem zuletzt angeführten Zitat geht die Besonderheit hervor, die den Bescht von den Ba’ale Schem seiner Zeit hervorhebt: »die Tatsache, dass er sich nicht darauf beschränkte, die Leiden einzelner Individuen zu lindern und zu heilen. Er war überzeugt davon, dass ihm seine magischen Kräfte verliehen worden waren, damit er sie zum Wohle des Volkes nutze, und daher betrachtete er sich als mit der Sorge um das Wohlergehen aller Juden betraut.«127 Hierin erweist sich der Bescht als Prototyp eines neuen Führertypus, »dessen Neuheit vor allem auf der Verschmelzung verschiedener Fähigkeiten und Funktionen in einer Person beruht.«128 Hierzu zählt natürlich die Funktion des Mystikers, der seine Wege kraft seines Amtes als Ba’al Schem einem breiten Kreis bekannt macht; hierzu zählt aber auch sein Dasein als charismatischer Führer, wie es auch in den gegnerischen Schriften dargestellt wurde; auch zeigte sich in den zitierten chassidischen Quellen, dass er sich in dieser Funktion für sein Volk einsetzte. Etkes hebt hervor, dass gerade diese Kombination das Bild des »Zaddik, des chassidischen Führers späterer Generationen« entscheidend prägte. »Wie der Bescht, so war auch der Zaddik ein charismatischer Führer, bei dem sich spirituelle Führerschaft mit der Sorge um die materiellen Lebensbedürfnisse seiner Anhänger verband.«129 So wurde das magische Element, das das Bild vom Bescht bis heute bestimmt, in die Vorstellung vom chassidischen Zaddik übernommen, auch wenn nicht jeder der »Hohen Oberen« diesen Weg ging. Auch, und dies ist nicht eben unwichtig an dieser Stelle zu vermerken, wurde der magische Pfad der Zaddikim seit dem Bescht ergänzt: Neben die von den Ba’ale Schem verwendeten Mittel wie Amulette oder anderer Wunderdinge trat das Gebet.130 Ein erstes Zeugnis hiervon geben die Schibche haBescht. Neben den Aufgabenbereich des Ba’al Schem, der in erster Linie für die weltlichen Belange seiner Anhänger zuständig war, stand jedoch von Anbeginn des Wirkens Israel Ben Eliezers an die Rolle des Mystikers, der seine Genossen den richtigen Weg, Gott zu dienen, lehrte, indem er mit rechtem Beispiel voran ging, individuelle Anleitung gab oder in kurzen, aphoristischen Formulierun-

127 Etkes, Der Rabbi Israel Ba’al Schem Tov, 206. 128 Ebd. 129 Ebd. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch der Hinweis Wertheims, dass sogar die Chabbad-Chassidim, die als ›Maskilim des Chassidismus‹ bezeichnet werden könnten, dieses Bild mittrugen; vgl. Schne’ur Zalman von Ljadi, Likutei Amarim Tanya, Brooklyn, NY 1993, Igeret Hakodesh, 22; zitiert in Wertheim, Law and Custom, 26. 130 Etkes, Der Rabbi Israel Ba’al Schem Tov, 207.

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gen131 seine Botschaft verbreitete.132 Dieses Element des chassidischen Führerstypus, das des Verkünders, des Predigers der wahren chassidischen Frömmigkeit und des Anleiters hierzu wird jedoch von der zweiten dominanten Figur des Chassidismus noch deutlich erweitert: von R. Dov Bär, dem Großen Maggid. Auch hier hilft ein Blick auf seinen Beinamen, um zu belegen, welchen Beitrag er zur Modellierung des chassidischen Oberhauptes lieferte: Der Begriff Maggid (7=6B) bezeichnete im 18. Jahrhundert einen Prediger, der entweder eine feste Anstellung innerhalb einer Gemeinde hatte oder aber als Wanderprediger umherzog.133 Dov Bär hatte eine traditionelle religiöse Ausbildung genossen und bereits mehrere Predigerstellen innegehabt, bevor er ein Anhänger des Bescht wurde. Anders als der Bescht war Dov Bär kein »Mann der Menschen«, auch wenn er charismatische Qualitäten besaß und ein begabter Redner war.134 Mit ihm trat neben das Element des wunderwirkenden Ba’al Schem Tov das des spirituellen Lehrers, der vor allem mit seinen Predigten (von denen ja auch Salomon Maimon, zumindest anfangs, überzeugt war), jedoch auch mit seinen alltäglichen Handlungen anleitete, wie ein berühmtes Diktum Arjeh Lejb Sarahs bezeugt: »Ich bin nicht gekommen, um seinen Lehren zu lauschen oder aus seiner Weisheit Nutzen zu ziehen, sondern einfach nur, um ihm zuzuschauen, wie er seine Schuhbänder knüpft.«135 Einher mit diesem Element des spirituellen Lehrers, dessen Aufgabe die ethische und religiöse Korrektur oder Umkehr und Buße136 ist, geht das des Kritikers des gesellschaftlichen Zustandes, wie ihn Jakob Josef in seinen Büchern etabliert. Etkes stellt fest, dass diese beiden Führertypen in der Institution des Zaddiks zusammengeführt und integriert wurden – und zwar in den Schriften Jakob Josefs.137 Allerdings stellte für Dov Bär, den Großen 131 Vgl. hierzu im Quellenüberblick III.1.1 den Abschnitt über Tzava’at haRivasch. 132 Immanuel Etkes, The Zaddik: The Interrelationship between Religious Doctrine and Social Organization, in: Ada Rapoport-Albert (Hg.), Hasidism reappraised, London 1996, 150 – 167; hier: 160. 133 Vgl. hierzu Haim Hillel Ben-Sasson, Art. Maggid, in: Cecil Roth (Hg.), Encyclopaedia Judaica, Jerusalem 1971 – 1974. 134 Esther (Zweig) Liebes, Art. Dov Baer (The Maggid) of Mezhirech, in: Cecil Roth (Hg.), Encyclopaedia Judaica, Jerusalem 1971 – 1974. 135 Zitiert in Elie Wiesel, Chassidische Feier. Geschichten u. Legenden, Freiburg i. Br. 1988, 65; mit derselben »Kleinheit«, mit der Dov Bär zu wahrer Frömmigkeit anleitet, können jedoch auch heilige Handlungen vollzogen werden, wie der Bescht lehrt: »Der Bescht, gesegneten Angedenkens, sagte hierzu: Ein vollkommen Gerechter mag manchmal von seiner Stufe herabfallen und Gott in einer Art von Katnut (Kleinheit) dienen: er betet nicht mit Kawwannah, manchmal mag er sogar untätig sein. Ein anderer Mensch, der den Gerechten in dieser Weise sieht – nicht betend, studierend mit großer Kawwannah, und manchmal müßiggehend, mag sich denken, dass er ebenso handeln kann […] Aber wenn der Zaddik aufwacht von seinem ›Schlaf‹ und wieder betet und studiert wie er es zu tun pflegt, wird er all seine Worte des Müßiggangs erheben.« Tzava’at haRivasch, Nr. 96. 136 Vgl. Wertheim, Law and Custom, 29. 137 Vgl. Etkes, The Zaddik,162.

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Maggid, die Predigt das Hauptwerkzeug dar, und »hierin folgten ihm alle chassidischen Anführer.«138 Eine interessante Beobachtung ist die Tatsache, dass in den Gegenden, in denen die Bewegung ihre Oberhäupter mit diesem integrativen Führungstypus etablieren konnte, sowohl die Institution des Ba’al Schem als auch des Predigers verschwanden.139 Beide Elemente der chassidischen Oberhäupter erfüllen für ihre Anhänger eine unentbehrliche Funktion: Mit dem magischen Element des Ba’al Schem Tov wird die weltliche, die materielle Seite des Lebens bedient. Das Element des spirituellen Lehrers bedient – sei es durch das eigene Vorbild, durch persönliche Anleitung oder durch die Predigt – die religiöse, spirituelle Seite, und zwar sowohl des dies- als auch des jenseitigen Lebens. Sowohl aus der Betrachtung beider Elemente in ihrer personalisierten Form von Bescht und Dov Bär hinsichtlich ihrer Bedeutung für das jüdische Volk als auch aus den Überlegungen des Theoretikers der Bewegung, Jakob Josef, zeigt sich die Abhängigkeit Israels von den chassidischen Oberhäuptern – im Gegenzug jedoch natürlich auch deren Verpflichtung dem Volk gegenüber. Dieses Verhältnis gilt es nun noch etwas genauer zu untersuchen, da sich hierin das abbildet, was man als zentrales Motiv chassidischer Frömmigkeit bezeichnen kann. Wie also ist das Verhältnis zwischen den »Hohen Oberen« der dritten Generation (nach Bescht und Dov Bär) und ihren Anhängern zu beschreiben, wenn beide Elemente in einem integrierten Führungstypus zusammengeführt werden? Die Ba’al Schem-Seite der chassidischen Oberhäupter wurde anhand einiger Beispiele aus dem Bereich der Legenden schon geschildert. Interessant ist an dieser Stelle also noch die spirituelle Seite: Wie konnte das chassidische Oberhaupt hier die Verantwortung für seine Anhänger einlösen? Dresner stellt die auf den Zaddik fokussierende Gemeindeordnung als Lösung für ein Problem dar. Das Problem, dies wurde bereits im Zusammenhang der Schriften Jakob Josefs geschildert, besteht in einem gesellschaftlichen Verfall, wie er von Jakob Josefs (aber auch von vielen Zeitgenossen) festgestellt wird: »On the surface everything seemed to continue as before: the Sabbath was kept, the holy days were marked, the Torah was studied […] and yet, according to Yaakov Yosef, something had gone wrong, something was lacking – that inner devotion for which all existed. The mitzvot were ordained that man might come closer to his Creator, that a bit of spirit might enter his life. […] The body of the tradition remained, but the soul was lacking.«140 138 Ebd., 163. 139 Vgl. hierzu ebd., 163 und Etkes, Der Rabbi Israel Ba’al Schem Tov, 207. 140 Dresner, The Zaddik, 34.

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Dieser ›Seelenlosigkeit‹, so der chassidische Vorwurf, wurde von den spirituellen Führern nicht in angemessener Weise begegnet. Wieder eine Seele zu erlangen war das erklärte Ziel der chassidischen Oberhäupter. Sie wollten die Menschen an sich binden, um sie positiv zu beeinflussen. War einer der ständig wiederholten Vorwürfe gegen die Chassidim die Abkehr von der Tora, so hielten die Chassidim dagegen, dass sich die schriftliche Weisung für die Mitnaggedim zum toten Buchstaben entwickelt hatte und auch die Mitzwot nurmehr oberflächlich beachtet wurden. Der chassidische Gegenentwurf setzte das neue Oberhaupt als Tora ein, als lebendige Tora gegen eine nicht mehr ausreichende schriftliche Tora.141 Im spirituellen Sinne muss das chassidische Oberhaupt immer zwischen Gott und den Menschen gedacht werden, als Vermittler, »just as Moses was the intermediary between Israel and the Holy One, blessed be He.«142 Der Zaddik chassidischen Typs vermittelt zwischen der erhabenen Höhe des Himmels und der elenden Tiefe der Erde.143 Der Gerechte, wie das chassidische Oberhaupt streng genommen erst später genannt wird144, springt als notwendige dritte Kraft ein, denn »it is only possible to join together two opposites through a third force.«145 Aufgabe des Zaddiks ist es, alle Kräfte zu verbinden, zwischen allen Positionen zu vermitteln. Diese Vermittlerrolle stellt Dresner anhand der Werke Jakob Josefs in beide Richtungen dar : Die Richtung von Gott zu den Menschen vermittelt das chassidische Oberhaupt gleich einem Kanal: Das ständige spirituelle Ausströmen Gottes auf die Welt146 können die Menschen nur empfangen durch den Zaddik.147 Jakob Josef beschreibt dieses Element des Wesens des chassidischen Führers in einem ansprechenden Bild: »The zaddik is called the heart of the body, for he is a channel which draws the bounty of life from the Life of all Life to all the other limbs, which are the people of his generation.«148

Aufgabe des Oberhauptes ist es, den Geist Gottes an seine Anhänger weiterzugeben und so die gesamte Generation, der er dient, zu beeinflussen: »Weil Mose großartig war, war seine Generation großartig und wird ›die Generation des 141 142 143 144 145 146 147 148

Ebd., 120. Ebd., 124 zitiert Dresner aus Zafnat Pa’aneah (8DFH NDHJ) von Jakob Josef. Vgl. ebd., 124. Dresner stellt fest, dass der Begriff Zaddik in den Schriften Jakob Josefs noch keinen konsistenten Gebrauch erfährt und nimmt dies als Zeichen dafür, dass der neue Führertypus noch keine Institution geworden ist; vgl. ebd., 132. Ebd., 124 zitiert aus Toldot Jakob Josef. Pirke Awot 6,2: Von Rabbi Jehoschua ben Levi sind uns die Worte überliefert: Täglich schallt eine himmlische Stimme vom Berg Horeb […]; übersetzt in Annette Böckler (Hg.), Pirke Awot. Sprüche der Väter, Berlin 2001. Dresner, The Zaddik, 125. Ebd., 278. Anm. 35 zitiert aus Toldot Jakob Josef; das hier verwendete Wort L9D=J, das Dresner mit Kanal übersetzt, kann ebenso mit Röhre beschrieben werden.

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Wissens‹ von Gott genannt. Durch die Mediation Moses weilte der Geist der Weisheit und der Prophetie auf ihnen. So verhält es sich mit jeder Generation und ihren Anführern, der Geist Gottes geht von ihm [dem Anführer] auf die Menschen über.«149 Nie ist das chassidische Oberhaupt nur ein Empfänger oder Sender, sondern immer beides: er kann nur in der Relation der Mediatorenrolle verstanden werden.150 In die andere Richtung, von der Erde zum Himmel, vermittelt der Zaddik, indem er die Menschen erhöht. Dies erreicht er durch Devekut, einem der chassidischen Schlüsselbegriffe,151 der überraschenderweise in den gegnerischen Schriften keinerlei Erwähnung findet. Devekut (N9K57) beschreibt nach chassischer Auffassung das Hauptziel allen spirituellen Lebens: »There is one mitzvah in the Torah which includes everything, and that is ›Thou shalt cleave unto Him‹ (Deut 10, 20).«152

Devekut153 zu erreichen, mithin: sich Gott anzunähern, sollte das Ziel eines jeden Juden sein. Es kann durch Gebet und Studium erreicht werden (siehe III.2.3.2, III.2.6). Für die Chassidim gibt es noch einen weiteren Weg, der sich vor allem den Ungebildeten anbietet oder jenen, die durch die alltäglichen Sorgen keine Zeit für Studium oder Meditation haben: Der Weg über den Zaddik.154 Nicht jeder kann die Zielsetzung verfolgen und die Ebene erreichen, sich an Gott direkt anzuhaften, wie es das in Deut 10,20 formulierte Gebot, das auf dem Verb K57 (anhangen, anhaften, festhalten, kleben an) basiert, verlangt.155 Schnell ist Verzweiflung über das Unerreichbare die Folge, was wiederum einem anderen Merkmal widerspricht, das den chassidischen Gottesdienst prägt: die Freudigkeit. Hier setzt die vermittelnde Rolle des Zaddiks ein, wenn Jakob Josef die Alternative formuliert: 149 Vgl. ebd., 127. 150 »[…] the Zaddik is obliged to give in order to receive, to teach in order to learn. The Zaddik can only take from heaven if he gives to man«, ebd., 127.; ebd. zitiert Dresner aus Toldot Jakob Josef: »If he who receives shefa does not hand it over to others, it will cut him off from him as well… If he wants to receive, he must give to others, as if he were a bridge for the outpourings of heaven.« 151 Ebd., 128. 152 Toldot Jakob Josef, zitiert in ebd., 128 (Anm. 47). 153 Für eine allgemeine Begriffsbestimmung vgl. Joseph Dan, Art. Devekuth, in: Encyclopaedia Judaica 5, 1598 f. 154 Vgl. Dresner, The Zaddik, 128. 155 Ada Rapoport-Albert geht sogar so weit zu bemerken, dass die frühe chassidische Elite diesen direkten Zugang zu Gott sogar bewusst begrenzte, »darauf bestehend, dass jeder Kontakt zu Gott reguliert, ›kanalisiert‹ werden sollte.« Ada Rapoport-Albert, God and the Zaddik as the Two Focal Points of Hasidic Worship, in: Gershon David Hundert (Hg.), Essential papers on Hasidism. Origins to present, New York, NY 1991, 299 – 329; hier: 314.

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»Cleave to the learned man who cleaves to the Name Who is blessed, and, then, through him, he too will be able to cleave to the Name Who is blessed.«156

An anderer Stelle differenziert Jakob Josef seinen – und damit den chassidischen – Begriff der Devekut aus: »There are two kinds of devekuth. One is that of the learned who cleaves to God directly, and the other ist that of common people who do not know how to cleave to the Lord directly. Therefore the Torah commands them, ›Thou shalt cleave unto Him,‹ meaning, to cleave to the learned, which is like cleaving to God.«157

Zur Zeit Jakob Josefs – ebenso des Bescht und Dov Bärs – wird das Verhältnis zwischen Chassid und Oberhaupt noch nicht als ein vollständiges Abhängigkeitsverhältnis aufgefasst; dies erfolgt erst später. Auch wird in der frühesten Phase noch nicht die Persönlichkeit dieses Verhältnisses als prägend bestimmt: Während spätere Autoren, wie Elimelech von Lizensk, bestimmen, dass ein jeder Chassid sein Oberhaupt hat und sonst keines, so bleibt dies in den frühen Quellen höchst vage. Dies äußert sich praktisch nicht zuletzt in jenen Pilgerfahrten, die von den Gegnern als Charakteristikum des Abhängigkeitsverhältnisses beschrieben wurden: Die Fahrten zum jeweiligen Oberhaupt werden in der späteren Zeit als heilige Wallfahrten verstanden; zur Zeit des Bescht war es genau anders herum – das Oberhaupt sollte ausziehen, seine Schafe zu hüten.158 Erst mit Dov Bär, der aufgrund seiner schwachen Physis keine Reisen unternehmen konnte, begannen die Fahrten zu den chassidischen Oberhäuptern, die von Elimelech später mit dem theoretischen Unterbau versehen werden sollten.159 Einher mit den gegnerischen Schilderungen des Hofwesens der chassidischen Oberhäupter ging der Vorwurf der Arroganz, des Hochmutes. Dem bringen die chassidischen Quellen nicht nur den Gegenvorwurf, das vielmehr viele Rabbiner dem Stolz verfallen seien, entgegen, sondern halten zudem fest, dass auch das Gegenteil – Demut – das Ideal für ein chassidisches Oberhaupt darstellt: »Humility was one of the central virtues of the zaddik, and is a key to the understanding of his personality and his place in the newly fashioned community.«160 Die Menschen und Gott, die er als Röhre oder Kanal verbindet, stellen das Zentrum seiner Bemühungen dar, nicht aber er selbst. Er selbst ist nur Werkzeug, nicht mehr und nicht weniger. »The zaddik exists only for this reason: that heaven and earth might meet.«161 Dies muss sich ein jedes der Oberhäupter 156 157 158 159 160 161

Toldot Jakob Josef, zitiert in Dresner, The Zaddik, 128 f. Zafnat Pa’anea, zitiert in ebd., 129. Wie oben erwähnt schildern viele Legenden die Reisen des Ba’al Schem Tov. Vgl. Dresner, The Zaddik, 133 f. Ebd., 142. Ebd., 142.

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immer wieder klar machen. Oberste Priorität kommt deshalb der Selbstkritik zu: »All the day long the zaddik is immersed in the service of the Lord, and ever finds himself inadequate.«162 »He weeps and is in distress over his ›going away‹ from the service of the Lord, but in the end ›he bears his measure of seed.‹ This is not so with the one who feels that he has arrived […] for in the end he bears his sheaves without the seed.«163

Die Demut chassidischer Oberhäupter soll darin liegen, dass sie ihre Funktion als Hirten der chassidischen Herde ausüben: Sie sollen das Volk spirituell anleiten zum wahren Dienst und sich um ihr materielles Wohl kümmern. Die Institution des Zaddik, wie sie sich mit der Zeit immer weiter herausbildete, kann nur, es sei auch in diesem Zusammenhang noch einmal wiederholt, in der Relation ihrer Aufgabe, der Vermittlung zwischen Himmel und Erde, gedacht werden. Alle Eigenschaften, die einem Zaddik zugehörig erklärt würden, gehören im eigentlichen Sinne nicht (zu) ihm, sondern gehören den beiden ›Polen‹ Gott und Mensch. Sie »belong to God since they have the origin in the Shechinah, for it is the divine aspect of his nature from which his abilities derive. They belong to the people since they exist only for their sake […].«164 Um Himmel und Erde zu vereinen muss der Zaddik seinen himmlischen Standpunkt, seinen göttlichen Platz – mithin die Höhen seines Torastudiums und seines Gebetes – verlassen und sich in die weltlichen Niederungen begeben. Dieser Abstieg des Zaddik ist ein weiterer Aspekt des Verhältnisses zwischen den chassidischen Oberhäuptern und ihren Anhängern, der auch schon sehr früh – durch Jakob Josef – bestimmt wird. In einem Kommentar zum Hohenlied 3,3.4 (»Es fanden mich die Wächter, die in der Stadt umhergehen: ›Habt ihr nicht gesehen, den meine Seele liebt?‹ Als ich ein wenig an ihnen vorüber war, da fand ich, den meine Seele liebt. Ich hielt ihn und ließ ihn nicht los, bis ich ihn brachte in meiner Mutter Haus, in die Kammer derer, die mich geboren hat.«) schreibt er : »The zaddik strives to save the people whom he loves and goes seeking them. He asks the ›watchmen‹ of the city, who are ›the leaders of the generation,‹ the rabbis of the time, if they know how to reach the people, ›to be close to them,‹ to save them. ›But [the watchmen] give no answer, for they have failed.‹ ›But ›scarcely did I leave them, that is, their ways,‹ when I was able to find a way to the people ›whom my soul loves.‹ Then ›I held him and would not let him go until I brought him to my mother’s house.‹ For the 162 Toldot Jakob Josef, zitiert in ebd., 143. 163 Ben Porat Josef, zitiert in ebd., 143. 164 Ebd., 147; beispielhaft kann wiederum auf die oben angeführten Legenden verwiesen werden, in denen diese Fähigkeiten geschildert werden.

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Lord ›has given [the leader] the congregation of Israel to tend as a shepherd, not to rule over them […].«165

An anderer Stelle beschreibt er den Prozess des Abstieges, durch den das Oberhaupt seine Leute erhöht, am Beispiel Abrahams: »Abraham wanted to make known to the world the fact that the Lord was God, to turn people to God. But they did not listen to him, for he had nothing in common with them, since he was on a high rung and they on a low one. So, out of concern for the glory of God, he descended from his rung that he might have something in common with them and be able to raise them. ›Walk before me and be perfect‹ (Gen. 17:1) was the command God gave to Abraham, to teach the leader that by lowering himself – waling before me into the world, not with me in seclusion from it – he will be able to join himself with the common people and raise them. Then he will be tamim, complete or perfect. Only after he has purified himself and others, can he be called complete and whole. But if he does not [purify the others], he is called half [a man].«166

Mit anderen Worten: Das Hauptanliegen eines wahren Anführers muss die Besorgnis um seine Anhänger sein.167 Sowohl in materieller als auch spiritueller Hinsicht muss er immer an die Menschen denken, was in den beiden Elementen des chassidischen Oberhauptes, des weltliche Fürsorge tragenden Ba’al Schem und des spirituell anleitenden Lehrers, gewährleistet wird. In spiritueller Hinsicht muss der Zaddik, der sich qua seiner Vermittlerfunktion auf einer Stufe zwischen Himmel und Erde befindet, herabsteigen zu seinen Anhängern, wenn er diese hinaufführen will.168 Der Zaddik steht in stetiger Verbindung zu Gott, immer haftet (K57) er Ihm an – auch wenn dies von außen nicht den Eindruck macht: Z.B. wenn er sich aus der Abgeschiedenheit des Gebetes oder des meditativen Studiums löst, um sich mit den weltlichen Angelegenheiten seiner Anhänger zu befassen (im Grunde ist die verwendete Bezeichnung lösen somit schon wieder unzutreffend). Aus dieser Perspektive wird auch eine Episode wie jene verständlich, dass man an den Hof169 Dov Bärs kam, um ihm dabei zuzu165 Toldot Jakob Josef, zitiert in ebd., 150 f; schon Dubnow, Geschichte, 165ff weist auf diese Stelle hin. 166 Toldot Jakob Josef, zitiert in ebd., 152 f. 167 Ebd., 154 f. 168 Jakob Josef zitiert in Toldot Jakob Josef zudem eine Parabel seines Lehrers, um den Sachverhalt des Abstiegs zu erläutern: »A king sent his only son away from the royal palace to a village so that he might afterward yearn all the more for the table of his father. Because of his foolishness, the prince mingled with the strangers in the village, learned their ways and, after a time, forgot the royal pleasures. The king sent one of his nobles after the prince to bring him back, but he failed. Another was sent, and then another and another, but none succeeded. At last, one of the nobles discovered the secret. He removed his elegant clothing and put on plain clothes like those of the villageres, in order that he might have something in common with the prince and enter into conversation with him. He succeeded, and returned him to his father.« Zitiert in ebd., 177. 169 Der Hof Dov Bärs wird auch in den Schibche haBescht erwähnt; vgl. SHB H100.

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Weg von der Polemik: Innenansichten

sehen, wie er seine Schuhbänder band. Das chassidische Oberhaupt hat einen göttlichen Teil, und insofern liegen die Gegner nicht ganz falsch, wenn sie die Anführer ihrer Gegner als Götzen bezeichnen.170 Jedoch sehen sie nicht die gegebene Abhängigkeit: Das chassidische Oberhaupt ist nur dann Zaddik, also gerecht, wenn er gleichzeitig auch mit den einfachen Menschen zusammen ist. In Devekut ist der Gerechte nahe bei Gott. Das Besondere gegenüber der traditionellen Vorstellung von den Führern der Generation, etwa den Rabbinern, ist, dass er gleichzeitig nahe bei den Menschen sein muss. Als Einsiedler, wie es Elijah, der Große Gaon war, kann kein Mann leben, der Führungsansprüche erhebt. Er dient nicht nur als Vermittler der menschlichen Ansprüche an Gott, sondern er muss auch die göttlichen Ansprüche, wie sie etwa in Mitzwot und Tora bestehen, an die Menschen vermitteln.171 Wenn diese Ansprüche vom Volk nicht beachtet werden, muss er zudem als Gesellschaftskritiker auftreten und Musar predigen, um seiner Rolle als Vermittler gerecht zu werden. Dies muss er aus Liebe zu den Menschen und zu Gott gleichermaßen tun – anders als die Maggidim, die damit ihr Geld verdienten, dass sie von Gemeinde zu Gemeinde reisten und predigten.172 Der Zaddik muss, während er Gott anhaftet, predigen, der Chassid hört ihm zu und bindet sich somit an den Zaddik. »Then a heavenly yihud is fashioned and an outpouring descends upon each from above.«173 Dies alles scheint den gegnerischen Schilderungen regelrecht zu widersprechen, welche das Verhältnis zwischen den chassidischen Führern und ihren Anhängern als Verhältnis der einseitigen Ausbeutung beschreiben (vgl. etwa Israel Löbel): In den bis jetzt angeführten Stellen werden letztlich nur die Pflichten der ›Hirten‹ ihren ›Herden‹ gegenüber aufgezählt. Doch ist der chassidische Zaddikismus schon der Anfangszeit, um ihn als neue Gemeindeordnung aufzufassen, als reziproke Ordnung zu beschreiben – und ist auch so zu verstehen, denn natürlich hatten die Chassidim ihrem jeweiligen Oberhaupt gegenüber nicht nur Rechte, sondern ebenso Pflichten. Dass von den Gegnern wiederum genau diese Pflichten betont werden, ist insofern natürlich einigermaßen einleuchtend, als sie die Reziprozität der Beziehung zwischen Oberhaupt und Anhängern durch die mangelnde Binnensicht entweder nicht zu erkennen vermochten – oder diese bewusst nicht mitteilen wollten. Die Notwendigkeit der Anhaftung an das Oberhaupt wurde schon genannt: Während sich der Zaddik an Gott anhaftet, haftet sich der Chassid an seinen Zaddik, wodurch er mittelbar an Gott anhaftet. Beide müssen eine Einheit bilden, sie müssen Körper und Seele sein; ohne einander sind beide nichts: 170 Löbel, 315 etwa zitiert aus No’am Elimelech: »Ein jedes Oberhaupt macht eine Person in Gott aus.« 171 Vgl. Dresner, The Zaddik, 187 f. 172 Vgl. ebd., 223 f. 173 Toldot Jakob Josef, zitiert in ebd., 231.

Die Frömmigkeitsmerkmale in den frühen chassidischen Quellen

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»That is a great principle which the Torah tries to teach us, through implication: namely, that the body has no life unless it is linked to the soul. Therefore, it is the soul that sustains the life of the body. The opposite occurs when the soul departs from the body, and that is the case, when the common masses are separated from the few great ones of each generation […].«174

Auch die Seele braucht den Körper. Die Anhaftung an den Rebbe ist rein spiritueller Art. Sie verlangt jedoch auch bis zu einem gewissen Grad eine körperliche Präsenz des Chassid bei seinem Rebbe. Nicht zuletzt liegt hierin eine Begründung für die Pilgerfahrten der Chassidim zu ihrem Zaddik. Insofern versuchte der Rebbe tatsächlich, die einfachen Menschen an sich zu binden, wobei noch einmal wiederholt sei, dass die Wallfahrten erst mit Dov Bär begannen, der nicht mehr zu seinen Anhängern zu reisen vermochte, wie es der Bescht zu tun gepflegt hatte, wobei nicht allein die schwache Konstitution des Maggid für diese Entwicklung verantwortlich gemacht werden darf. Besonderer Wert wurde vor allem darauf gelegt, die Hohen Feiertage mit dem Rebbe zu verbringen.175 Es muss, diesen Aspekt abschließend, betont werden, dass der Zaddikismus nie die Anbetung lebender Götter gewesen ist: Im aktiven Anhaften der Chassidim an ihre Oberhäupter wird der Versuch unternommen, durch den göttlichen Aspekt, der den Zaddikim innewohnt, in Berührung mit dem Einen zu kommen. Hierzu ist die ›Seele‹ dieser Beziehung nur ein Medium, nicht ein Selbstzweck. Die Übersetzung des zugrundeliegenden hebräischen L9D=J mit Röhre verdeutlicht dies. Aber vor allem hinsichtlich der weltlichen Belange, mit denen sich der Chassid an seinen Rebbe wandte – sei es nun eine Krankheit, ausbleibender Kindersegen oder aber bittere Armut –, ist noch eine andere, dem materiellen Betreff entsprechende Ebene zu verzeichnen: Der Bescht, dies wurde zur Genüge betont, trug das Element des Ba’al Schem, des Wunder wirkenden Heilers, zur Modellierung des chassidischen Oberhauptes bei. Hierzu gehört, dass er nicht umsonst als Ba’al Schem wirkte, sondern mit seiner Arbeit seinen Lebensunterhalt bestritt. Auch die Zaddikim der nachfolgenden Generationen lebten nicht von Devekut allein, und wenn man den maskilischen Beschreibungen glauben schenkt, so lebten sie im Allgemeinen zumindest nicht schlecht, wobei allerdings diesem Bild, das in der gegnerischen Polemik suggeriert wird, nicht zuletzt die Legenden massiv widersprechen. Gerade wenn man die erbitterte Gegenwehr der mitnaggedischen Gemeinden gegen die chassidischen Minjanim oder die Vertreibung Jakob Josefs von seinem Rabbinatsposten, nachdem er sich zum Chassidismus bekannt hatte und dessen 174 Toldot Jakob Josef, Parascha Jitro; zitiert in Aaron Wertheim, Traditions and Customs in Hasidism, in: Hundert, Essential papers on Hasidism, 363 – 398; hier : 373. 175 Vgl. ebd., 375 ff.

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Lehren verbreitete, bedenkt, so braucht nicht extra betont zu werden, dass die wenigsten Zaddikim der Anfangszeit eine bezahlte Rabbinerstelle innehatten.176 So waren sie auch materiell auf ihre Anhänger, ihren ›Körper‹ angewiesen.177 Wenn die Chassidim zu ihren Rebbes gingen, um sie um Hilfe zu bitten, so brachten sie ihnen ein Geschenk, eine Gabe mit, das jedoch einen anderen Namen trug – und somit letztlich auch kein Geschenk im eigentlichen Sinne war. Diese Gabe an den Rebbe wurde als ›Auslösung der Seele‹ bezeichnet (Pidjon haNefesch): Wie bei der Auslösung des Erstgeborenen, so stellt diese Auslösung die Bezahlung einer Schuld dar. Diese Auslösesumme jedoch war selten ein fester Betrag, sondern hing davon ab, was sich der Chassid leisten konnte. In diesem Sinne stellt das System des gegenseitigen Nutzens zwischen Chassid und Zaddik noch kein Novum dar : Bereits 1. Sam 9,6 berichtet von einem entsprechenden Fall, der von Saul und seinem Diener handelt, die zu einem Propheten gehen und darüber beraten, was für ein Geschenk eine passende Gegenleistung sein könnte für ihr Verlangen. Das wirklich Neue ist eher in der Formalisierung dieses Auslösungsprozesses, die womöglich sogar auf den Bescht zurückgeht178, zu sehen: In der Zeit der stetig wachsenden chassidischen Gemeinden war es den Oberen nicht immer möglich, allen ihren Chassidim die notwendige Zeit entgegenzubringen, auch konnten sich nicht alle Chassidim eine Wallfahrt leisten, weshalb das Verfahren, um Rat und Hilfe zu bitten, zunehmend andere Wege ging: Die Chassidim notierten ihre Bitten auf ein Stück Papier, was mitsamt der geschriebenen Bitte zum ›Kvitl‹ wurde. Hierbei war es wichtig, dass jeder Wunsch mitsamt dem Namen des Wünschenden (und dessen Mutter) notiert wurde. Dieses Kvitl wurde, persönlich oder durch einen Boten, dem Zaddik überreicht, mitsamt dem Pidjon haNefesch. Der Zaddik las das Kvitl und kümmerte sich um die Erfüllung des Wunsches. Zu den Hochzeiten der Hohen Feiertage konnten einen Zaddik so viele Kvitlach erreichen, dass er nicht imstande war, sie alle einzeln zu bearbeiten; er platzierte sie in seiner Tasche und segnete sie sozusagen en bloc.179 Dieser Brauch reichte auch über den Tod der Zaddikim hinaus: Ihre Anhänger legten nun ihre Kvitlach auf die Grabsteine und 176 Im Gegensatz zu den Zaddikim der späteren Generationen, die z. T. Gemeinderabbiner bestellten oder selbst ein solches Amt übernahmen; vgl. Dynner, Men of Silk, 58. 177 Von den Ausschweifungen, die zweifellos hieraus entstanden, braucht an dieser Stelle nicht die Rede zu sein, da diese aus dem Untersuchungszeitraum herausfallen; vgl. hierzu etwa ebd., 34, oder die zeitgenössischen Zeugnisse aus dem frühen 19. Jahrhundert von David von Makow; Mordecai Wilensky hat sie ediert im zweiten Band von Hasidim and Mitnaggedim. A study of the controversy between them in the years 1772 – 1815, Jerusalem 1970. 178 Vgl. hierzu Anm. 91 in Wertheim, Tradition and Customs; hier: 381, die von einem handschriftlichen Gebetsbuch des Bescht berichtet, in das die Namen verschiedener Personen im Stile der Kvitlach eingetragen waren. 179 Vgl. ebd., 380 f.

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hofften auf Hilfe über Zeit und Raum hinweg.180 Es ist anzunehmen, dass die gegnerischen Bezichtigungen, die Zaddikim würden ihre Anhänger finanziell ausbeuten, auf diesem Kvitl-Brauch basieren. Neben den beschriebenen Funktionen, die das Verhältnis zwischen den chassidischen Oberhäuptern und ihren Anhängern definierten und strukturierten, weist Dynner zudem darauf hin, dass gerade die Zaddikim der Zeit nach Dov Bär nicht zuletzt Organisatoren waren, die »methodically dispatched emissaries to set up prayer houses, recruit locals, and make daring sorties into public spaces of worship[…]«181 und auf deren Engagement letztlich die Formierung des Chassidismus als sozial greifbare Bewegung zurückgeht. Auch zeigt er auf, dass die finanziellen Mittel der »Hohen Oberen«, vielleicht gar ihr Reichtum, nicht nur auf die Gaben ihrer armen Anhänger zurückging, sondern sie ebenso wohlhabende Mäzene aufzuweisen hatten – unter ihnen nicht wenige reiche Frauen.182

2.3

Abkehr von traditionellen Wissensformen

2.3.1 Das chassidische Oberhaupt – ein am ha’aretz? Immer wieder war in den gegnerischen Schriften der Vorwurf aufgetaucht, die Chassidim würden die traditionellen jüdischen Autoritäten – Tora, Talmud und die personellen Autoritäten (einerseits die Talmudisten der Zeit, andererseits die Geonim, die Weisen der vergangenen Zeiten) – geringschätzen oder sogar ablehnen. So war Semir Arizim weCharboth Zurim zitiert worden, in dem von 8L9N @9ü5 (Vernachlässigung des Torastudiums) die Rede war. Hier wurde das chassidische Oberhaupt Wilnas als ›Goj‹ (=96 ist meist die jüdische Bezeichnung für Nichtjuden) betitelt, seine Anhänger als ›Am Ha’aretz‹ (IL48 AF das ungebildete Landvolk). Es wurde befürchtet, dass in Zukunft nicht mehr nur »die Zelte der mündlichen Tora, behüte Gott, der Verheerung anheim fallen,« sondern den jüdischen »Augen wird auch das Licht entrückt sein, das vom Pergament der schriftlichen Tora ausgeht […]«183 – und das Ganze zugunsten eines »verfälschten, heuchlerischen Gottesdienst […]«184. Von maskilischer Seite war dem der Vorwurf hinzugefügt worden, dass diese 180 Ebd., 382; zu Kvitl und Pidjon vgl. auch Nigal, Hasidic Tale, 85 f. 181 Dynner, Men of Silk, 87; es sollte allerdings betont werden, dass bereits Dov Bär, der Große Maggid, als ein solcher Organisator zu bezeichnen ist, der ja bereits Emissäre ausgesandt hatte. 182 Ebd., 94. 183 Übers. ebd., 233. 184 Übers. in Dubnow, Geschichte des Chassidismus (1), 230.

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Ungebildetheit im traditionellen Sinne auch auf das von den Aufklärern propagierte Feld der Vernunft und des allgemeinen Wissens auszudehnen sei, wenn etwa Calmanson die chassidische Unwissenheit als ›ihre Tugend‹ bezeichnet oder Löbel gar soweit ging zu behaupten, die chassidischen Oberhäupter würden darauf hin arbeiten, dass ihre Anhänger generell ihre Geisteskräfte nicht ausbauen sollten.185 Maimon differenziert demgegenüber, wenn er davon spricht, dass die Chassidim ihr (traditionell vorgeschriebenes) Studium mit der Begründung, es würde sie von der »nöthigen Heiterkeit« abhalten, vernachlässigten; auch kann er als Aufklärer der Einstellung der Chassidim durchaus etwas Positives abgewinnen, wenn er ihr Bestreben beschreibt, die Gesetze – gegen den rabbinischen Trend – »zu simmplificieren«, »da doch das Studium selbst nicht Zweck, sondern blos Mittel zur Ausübung« sei.186 Dass die Chassidim in der jüdischen Welt nicht eben als gelehrt galten und die Oberhäupter der Bewegung hierin nach einhelligem Urteil mit gutem Beispiel voran gingen, scheint auch den Chassidim selbst bewusst gewesen zu sein. Dies verraten einige Legenden bei aufmerksamer Lektüre, wenn sie etwa überdeutlich die Gelehrsamkeit der Protagonisten betonen187 oder wenn sie den mit einem Chassid über Astronomie diskutierenden Mitnaged über dessen Wissen verwundert ausrufen lassen: »Wie kommt ein Chassid dazu?«188 Sogar explizit weist der Sammler der Schibche haBescht darauf hin, dass der Bescht bei vielen seiner Zeitgenossen als ungelehrt bekannt war : »Als der Rav, der allbekannte und feine Herr, unser Lehrer, Avraham Abba, Vorsteher der Versammlung der vier Länder war, sagte er einmal öffentlich vor allen: ›Der Ruf des Bescht verbreitet sich nach allen Seiten, doch ist er, wie man hört, ungebildet. Wie kann er da den Heiligen Geist besitzen, denn, ›ein Ungelehrter ist nicht fromm!‹«189 Auch wenn R. Avraham Abba, der ›allbekannte und feine Herr‹, auf schmerzliche Weise eines besseren belehrt wird, so ist der Tenor dieser Einleitung doch eindeutig: Außerhalb chassidischer Chavuroth galten die Chassidim, allen voran ihre Oberhäupter, als Ungelehrte, als ›Am haAretz‹. Im Folgenden muss dementsprechend zwei Fragen nachgegangen werden: Erstens muss gefragt werden, inwiefern bei den frühen Oberhäuptern tatsächlich die Rede davon sein kann, dass es sich um einfache, ungebildete Leute des Volkes 185 Löbel, 308 f; Calmanson, 14. 186 Maimon, Lebensgeschichte, 219 f. 187 So wird etwa in SHB H10, 11, 15, 16, 19b gezeigt, dass der Bescht keinesfalls so ungebildet war, wie es in den gegnerischen Schriften behauptet wird; auch wird darauf hin gewiesen, dass er im Talmud nicht unbelesen war, vgl. SHB H 85a; über Jakob Josef heißt es, dass er »jeden Tag in Tallit und Teffilin« lernte; des weiteren werden seine Lerngewohnheiten genau geschildert; vgl. SHB H75. Ebensolches kann man auch über Dov Bär, den Großen Maggid finden, der definitiv gelehrt war. 188 SHB H197. 189 SHB H244.

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gehandelt hat. Zweitens ist der Frage nachzugehen, ob und inwiefern in den frühen chassidischen Schriften die Themen Studium und Bildung einerseits und die Frage der Autoritäten andererseits behandelt werden. Ist die Ablehnung des intensiven Studiums von Tora, Talmud etc. tatsächlich eine Idee der chassidischen Frömmigkeitskonzeption? Wohnt der ganzen Bewegung ein dezidierter Antiintellektualismus inne? Zunächst sei also ein Blick auf die frühesten Oberhäupter geworfen: Über den Bescht lässt sich mit relativer Sicherheit sagen, dass er nicht den klassischen Bildungsweg gegangen ist. Auch in den Legenden wird nichts Gegenteiliges behauptet: Der früh verwaiste190 Israel erfuhr zwar die »Liebeshuld« der Dorfbewohner, die ihm einen Lehrer zur Verfügung stellten, jedoch flüchtete er immer wieder in den Wald, »bis man die Lust verlor und verzweifelt abließ, ihn erneut seinem Lehrer zuzuführen. So wuchs der Knabe nicht heran wie es der Brauch der Welt.«191 Der junge Israel verdingte sich später als Schulhelfer (SHB H 9), als Lehrhauswächter (H10), als Kinderlehrer (H18) und verdiente mit vielerlei weiteren Anstellungen sein Geld, bevor er, offensichtlich mit Erfolg, in das Geschäft der Ba’ale Schem einstieg, wodurch er schließlich seinen Beinamen erhielt. Nicht vergessen werden sollte auch, dass er in der Gemeinde Miedzyborz als Kabbalist eine öffentlich finanzierte Stelle innehatte und somit kein völlig ungebildeter einfacher Mann gewesen sein kann. Trotz des eher unkonventionellen Bildungsweges wurden die Kompilatoren der Schibche haBescht nicht müde zu betonen, dass der Bescht dennoch keineswegs ungebildet war, sondern dass er sich (vor seiner Epiphanie) lediglich so verstellt habe, dass jeder Nichteingeweihte ihn als solchen ansehen musste192, und er sich durchaus an das Gebot hielt, sein Leben lang zu studieren – und zwar nicht nur Tora, sondern ebenso andere halachische Schriften.193 Heute würde man ihn wohl mit Fug und Recht als ›Selfmademan‹ bezeichnen. Auch über die Vita des Großen Maggid lässt sich wenig sagen, das nicht dem Bereich der Legenden entstammt.194 Jedoch wird dort bestätigt, was sein Name bereits verrät: Dov Bär, der Prediger, stand mit diesem (berufsbezeichnenden) Beinamen mit beiden Beinen in einer Tradition, die ihn verortete und konnte 190 SHB H7 bemerkt lapidar in Anlehnung an Gen 21,8: »›Der Knabe wuchs heran und ward entwöhnt‹, und die Zeit nahte, dass sein Vater Elieser sterben sollte.« 191 SHB H8. 192 Auch hier wird deutlich, auf welch subtile Weise die Herausgeber der Legendensammlung dem Leser suggerieren, dass die eigentlich unverständigen, verstockten Charaktere grundsätzlich die Gegner sind. 193 Vgl. etwa SHB H10, H41, H47, H85a, um nur einige der offensichtlichsten Beispiele zu nennen. 194 Und dass deshalb normalerweise zumindest aus historischer Perspektive mit mehr Vorsicht zu genießen ist als es etwa Jacob Immanuel Schochet, Rabbi Dov Ber of Mezhirech and his leadership of Chassidism. A biography, Brooklyn 1990 suggeriert.

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zumindest zu seiner Zeit deshalb kaum als ungebildet verstanden werden. Ähnliches gilt für Jakob Josef, der den vielsagenden Beinamen Kohen Zedek trägt, ebenso für die meisten der chassidischen Oberhäupter der dritten Generation: Die meisten hiervon entstammten dem klassisch gebildeten rabbinischen Umfeld des osteuropäischen Judentums und hatten den hierzu gehörenden Bildungsweg durchlaufen. Man wird dementsprechend an dieser Stelle einen interessanten symbiotischen Effekt in Hinblick auf Selbst- und Fremdwahrnehmung annehmen können: Das Bild von den ungebildeten, volksnahen chassidischen Oberhäuptern entstand durch die gegnerische Polemik, die deren vermeintliche fehlende Bildung zu einem der wichtigsten Angriffspunkte ausbaute, und die Selbststilisierung der Oberhäupter durch eine betont einfache Frömmigkeit, welche zudem noch einmal auf ihr Auserwähltsein fokussierte, gleichermaßen. 2.3.2 Der traditionelle jüdische Bildungskanon in den frühen frömmigkeitstheologischen Quellen des Chassidismus Welche Rolle nun spielen die Themen Tora, Halacha und Studium in den frühen Quellen des Chassidismus? Bereits der erste Absatz des Büchleins Zava’at haRivasch zeigt, dass eine generelle Verweigerung von Talmud-Tora keinesfalls chassidisches Dogma ist: »Be complete in the worship [of God], blessed be He, [that it be] a ›complete service.‹ It is essential not to forget the matters [A=L578 of Torah and mitzvoth]. It is essential to study mussar every day, whether much or little. Strive continiously to cleave to good traits and upright practices. Do not allow a single day to pass without performing a mitzvah, whether it be a ›minor‹ or ›majour‹ mitzvah.«195

Besonders angesichts dieser exponierten Stelle, sozusagen einleitend in dieses wichtige Büchlein wird deutlich, dass sich die Chassidim durchaus zu den traditionellen Autoritäten bekennen. Sowohl Talmud-Tora als auch Mitzwot sollen die Chassidim, gegen die Behauptung der Gegner, durchaus beachten.196 Keineswegs kann der chassidische Weg diesbezüglich also pauschal als antinomistisch bezeichnet werden: Vielmehr belegen zahlreiche Stellen in der chassidischen Literatur (auch der Frühzeit), dass das Studium unter anderem der Tora von den Chassidim als notwendig angesehen wird.197 Handelt es sich bei dem mitnaggedischen Vorwurf also um ein stereotypes und letztlich haltloses Vorurteil gegenüber der neu aufkommenden Bewegung, die rasch an Bedeutung 195 Tzava’at Harivash, #1. 196 Bedeutsam ist allerdings der bereits in der zitierten einleitenden Passage erfolgte Hinweis auf Musar. 197 Vgl. Wertheim, Law and Custom, 64 f.

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und Umfang wuchs? Oder liegt doch eine Begründung für den Vorwurf vor? Hierfür müssen die Stellen, die das Studium von Tora und die Beachtung der Mitzwot beschreiben, genauer untersucht werden. Nicht unwesentlich ist zunächst, dass die Chassidim die ganze Tora kabbalistisch deuten, während die traditionelle Kabbala vornehmlich deren aggadische (erzählende) Passagen zum Gegenstand nimmt. Das heißt, auch die halachischen, gesetzgebenden Passagen, erfahren eine ›Kabbalisierung‹. Beiden Richtungen, der halachischen und der aggadischen, kommt aufgrund dieser Entwicklung dieselbe Bedeutung zu. Jakob Josef etwa nimmt folglich die agadischen, also die erzählenden, und die Musar behandelnden Passagen als halachische Schriften auf, nicht zuletzt deshalb, weil in diesen noch eher als in den traditionell halachischen Teilen Devekut offensichtlich wird.198 Durch diese ›Kabbalisierung‹ werden die Grenzen zwischen Halacha und Aggada vermischt, indem den halachischen Teilen dieselbe kabbalistische Bedeutung beigemessen wird wie den agadischen, in denen letztlich alles auf das hehre Ziel der Devekut hinausläuft. Am Ende geht Jakob Josef so weit, dass er die (in den halachischen Passagen) verborgenen kabbalistischen Aspekte der Tora sogar als Seele, als innerstes Zentrum der Tora bezeichnet.199 Diese Verschiebung der Wertschätzung beider Aspekte der Tora zugunsten des agadischen ist eine Beobachtung, die angesichts der Hochachtung der Chassidim für die Erzählungen und alltäglichen Äußerungen ihrer Oberhäupter nicht weiter überraschen muss. Obwohl durch sie Äußerungen wie die aus Semir Arizim weCharboth Zurim verständlich werden, aus denen die Befürchtung der Nichtbeachtung der gesetzlichen Aspekte spricht, so betont sie jedoch gleichermaßen die Bedeutung der Tora als Ganze für die Chassidim. Auch das Thema Studium als Aspekt chassidischer Frömmigkeit nimmt, etwa in Zava’at haRivasch, einen relativ breiten Raum ein. Hierbei beschränkt es sich leider darauf, verschiedene Aspekte darzustellen, die bedeutsam sind, ohne jedoch ein kohärentes System auszuarbeiten. So werden dem Chassid verschiedene Ratschläge an die Hand gegeben, die den genannten Vorwürfen seitens der Gegner unversöhnlich entgegenstehen: Nicht nur müssen Tora und Mitzwot generell von jedem beachtet werden, der das Prädikat ›fromm‹ tragen möchte200, sondern im ›Testament des Bescht‹ werden auch viele Regeln, die an sich den Gelehrten, insbesondere den Kabbalisten, vorbehalten waren, popularisiert. Hierzu zählt die Forderung des Nachtstudiums, das somit als Indiz für die erfolgende Popularisierung der Kabbala gesehen werden kann: 198 Vgl. ebd., 62 f, wo diverse Stellen aus Toldot Jakob Josef, die diese »Verbreiterung« der halachischen Basis belegen, zitiert werden. 199 Zitiert ebd., 66. 200 »[…] denn, ein Ungelehrter ist nicht fromm!«; vgl. SHB H244.

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»It is necessary to make it known that one should regularly [rise] at midnight.«201 »Always be carefull to rise at midnight. He who does not rise, without having being prevented beyond his control, incurs a ban Above, Heaven forbid. Convert the nights into days. Sleep a few hours during the day so that you will suffice with but little sleep at night.«202

Traditionell ist die Nacht die Zeit, die als sehr günstig für das Torastudium angesehen wird.203 Hierin weicht das chassidische Ideal nicht ab. Jedoch bleibt der Kompilator realistisch, wenn er diesem Gebot zum Studium des Nachts Mindestforderungen zur Seite stellt für diejenigen, die ihren Lebensunterhalt tagsüber verdienen müssen und die Nacht somit zur Rekreation benötigen. Für diese gilt: »At the very least be scrupulous to recite the [morning]-prayer before sunrise, both in summer and winter. That is, most of the prayer, up to the reading of the Shema, should be said before sunrise. The difference between before sunrise and after sunrise is as great as the distance from east to west; for prior [to sunrise] one can still negate [all judgments] […] This means that once the sun has already risen over the earth there is no more hiding from the judgements which come from the angels of wrath. Thus do not regard this matter lightly, for it is of great import.«204

Etwas später wird auch das als Mindestanforderung benannte Schema weiter bestimmt, und das ganz im traditionellen Verständnis: »At the very least be carefull with the reading of the Shema, recited twice daily, to do so without any alien thought, Heaven forbid. To do so is something inestimably great. […] You may find it impossible to pray without alien thought; nonetheless, train yourself to commence without alien thoughts.«205

Bedeutsam ist hier neben dem Bekenntnis zur Autorität des Achtzehnbittengebetes die Aufforderung, dieses »ohne fremden Gedanken«, in voller Konzentration, zu beten – unweigerlich wird eine Brücke geschlagen zu Kawwanna: Jeder Beter des Schema wird dazu aufgefordert, in die Tiefe des Gebetes gleichsam meditativ einzutauchen, und bereits bei den ersten Worten (»Höre Israel […]«) die mystische Dimension zu erfassen, die in der kabbalistischen Tradition gleichsam eine weltlich-direkte ist.206 201 Tzava’at Harivash, #16. 202 Tzava’at Harivash, #26 – 28. 203 Vgl. hierzu die Belege, die Schochet zum Thema zusammengetragen hat: Schochet, Tzava’at Harivash, 14, Anm. 1. 204 Tzava’at Harivash, #16. 205 Tzava’at Harivash, # 17 – 19. 206 Ebd., 17, Amm. 9. weist in diesem Zusammenhang nicht von ungefähr darauf hin, dass das Schema mit seinen 248 Wörtern den 248 Gliedern des Körpers entspricht und so, mit Kawwanna rezitiert, jedes Wort »Schutz und Heilung für das Körperglied, dem es entspricht«, verspricht; vgl. hier auch die angegebenen relevanten Stellen der Tradition. Un-

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Tzava’at Harivash spart darüber hinaus jedoch auch nicht mit praktischen Ratschlägen zum Studium, nicht zuletzt dem bei Nacht – mit allen seinen Tücken, die es bietet. So soll im Falle von Müdigkeit der Lernende im Haus ein Stückchen gehen oder Lieder anstimmen, um sich wach zu halten. Ebenso empfiehlt das Lehrbuch chassidischer Frömmigkeit das Studium einer Vielzahl verschiedener Gegenstände, damit es nicht beschwerlich wird; auch soll dies dafür sorgen, dass die Schläfrigkeit verschwindet.207 Darüber hinaus wird über das Studium gesagt, dass es jede Stunde kurz unterbrochen werden soll, um sich an Gott anzuhaften. So wird der Status des Studiums einerseits zurechtgerückt, denn: Das Wichtigste ist der Stand der Devekut. Dem ist das Studium nach chassidischer Auffassung unterzuordnen, wenn es heißt: »In the midst of study it is impossible to cleave unto God, blessed be He.«208 Auf den Fuß folgt jedoch der Hinweis, dass dessen ungeachtet das Studium betrieben werden muss, da ansonsten wiederum die Devekut schwindet.209 Ohne Studium kann das chassidische Hauptziel Devekut nicht erreicht werden – noch deutlicher kann der Standpunkt angesichts der mitnaggedischen Vorwürfe kaum dargestellt werden.210 Jedoch, um es noch einmal zu wiederholen: Das Studium ist, auf einer ersten Stufe gar mithilfe des, wenn es nur um seiner selbst willen betrieben wird, häufig kritisierten Pilpul, und auf der zweiten Stufe mit Devekut, zu betreiben.211 Elimelech von Lejask schreibt über das Lernen des Zaddik, dass dieser durch sein Lernen der Halacha die Welt aufrichten kann,212 und sein Schüler Zechariah Mendel aus Jaroslaw zitiert, dies ausführend, seinen Meister über das Studium der Zaddikim: »Wenn sie die heilige Gemarra studieren, dann verzehrt sie ein Feuer, so groß ist ihre Liebe und Heiligkeit […] Die Zaddikim lassen niemals Mitternacht im Schlaf verstreichen, sondern schlafen nur ein wenig in den kürzeren Nächten. […] Zu jeder Zeit beschäftigen sie sich mit der Tora des Herrn, lernend um ihrer Selbst willen, um zu lernen, wie sie sich zu verhalten haben. Ihr weiteres Motiv für das Studium ist zu lernen, wie sie sich und ihre Gedanken veredeln und reinigen, um in der Lage zu sein, ihre Gebete ohne fremde Gedanken, welcher Art auch immer, darzureichen. So steigen ihre Gebete in die Höhe mit großer Konzentration. Ihr weiteres Motiv für das Lernen

207 208 209 210 211 212

erwähnt bleibt bei Schochet die große Nähe zu Awot 2,18: »Sei aufmerksam, wenn du das Sch’ma rezitierst und die Amida betest. Wenn du betest, dann lass dein Gebet keine reine Formsache sein, sondern ein Ausdruck deiner Empfindungen und deiner Bitten zu Gott.« Böckler, 66. Tzava’at Harivash, #26 – 28. Tzava’at Harivash, #29. Tzava’at Harivash, #29. Schochet, Tzava’at Harivash; hier : 22, Anm. 5. verweist darauf, dass in der zitierten Aussage letztlich Awot 2,5 Anwendung findet. Wertheim, Law and Custom, 66. zitiert auch an dieser Stelle nicht völlig nachvollziehbar aus Toldot Jakob Josef. No’am Elimelech, Parascha Bereschit, zitiert in ebd., 67.

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ist, sich und ihre Gedanken zu reinigen, damit kein lüsterner Gedanke in der Lage ist, ihr Bewusstsein über den Tag hin zu erreichen, und um eine Pollution des Nachts zu verhindern, Gott behüte. Wenn sie Gemara studieren, wickeln sie sich in [Gottes-] Furcht, Angst und Zittern und enorme Ehrfurcht vor dem Herrn, gesegnet sei Er, ein, und die Tora scheint auf ihre Gesichter […]. All ihre Tage beschäftigen sie sich mit dem Studium der Tora, in der Erfüllung der Mitzwoth und mit dem vollbringen guter Taten […] Sie studieren die Tora Tag und Nacht und entdecken neue Aspekte. Sie decken die Geheimnisse der Tora auf, und die Mysterien daraus und ihre Worte sind süßer als Honig. […] Danach [nachdem sie um Mitternacht aufgestanden sind und sich präpariert haben] studieren sie Gemara und Tosafot, zusammen mit den anderen Kommentaren zum Talmud und sie studieren die Werke der frühen und späteren Kodifikatoren und die Werke von Maimonides, g. A. Dann studieren sie die geheimen Werke, wie den Zohar und die Werke des Ari, g. A. Und sie studieren die vier Sektionen des Schulchan Aruch, einen Abschnitt aus jeder Sektion pro Tag.«213

Wohlgemerkt, dies sind die Studiengewohnheiten der chassidischen Oberhäupter. Die einfachen Chassidim, mit der Belastung durch ihre weltlichen Berufe, müssen ›nur‹ die oben bezeichneten Mindestanforderungen erfüllen. Dasselbe gilt für die Beachtung der Mitzwot: Auch hier wird das Gebot, alle Mizwot einzuhalten, einerseits ungekürzt übernommen214, andererseits aber auch in einen realistischen Rahmen gefasst, wenn nicht einem jeden vorgehalten wird, ständig alle Gebote zu beachten: »Do not allow a single day to pass without performing a mitzvah, whether it be a ›minor‹ or ›major‹ mitzvah […] This means that the soul will shine and glow from a ›minor‹ mitzvah even as it does from a ›major‹ one […] This is a very significant matter, for then you know that you achived something that day : you created an angel […].«215

Zur Gleichsetzung aller Mitzwot tritt im Chassidismus zudem eine Entwicklung, die Wertheim die »Allegorisierung der Mitzwot« nennt. Auch diesen Weg gibt Jakob Josef schriftlich vor: »Before Adam’s sin, he performed the mitzvos in the Garden of Eden only by thought. After he sinned and became corporeal, his fulfillment of the mitzvos also became corporeal, and that is why we have to fulfill the mitzvos bodily. Each mitzvah, though,

213 Vgl. die beiden unter dem Namen Igeret Hakodesch zusammengeführten Briefe am Ende von No’am Elimelech; eine englische Übersetzung bietet Jacobs, Mystical Testimonies, 241 ff. 214 Tzava’at Harivash, #55: »Wenn du den Wunsch hegst, eine Mitzwah auszuführen, unternimm jede Anstrengung hierzu. Erlaube nicht dem Jetzer haRah, dich davon abzubringen, indem er dir sagt, dass du, indem du sie ausführst, zum Stolz geführt wirst. So oder so wird dies der Fall sein.« Vgl. Schochet, Tzava’at Harivash, 45, Anm. 1: Der Ba’al Schem Tov sieht auch in der reinen Handlung selbst einen Wert, auch wenn er ansonsten die Bedeutung der Kawwannot betont. 215 Tzava’at Harivash, #17 – 19.

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has a spiritual component – the more important part of it – and that is the thought component.«216

Diese allegorische Deutung ermöglichte es allen Juden, zu jeder Zeit und an jedem Ort alle Gebote zu erfüllen – sogar jene, die sich praktisch (körperlich) nur auf den Jerusalemer Tempel beziehen, denn der geistige Aspekt ist, gegenüber dem körperlichen, ewig.217 Auch wenn diese Technik der Spiritualisierung der praktischen Gebote, die sich aus verschiedenen kabbalistischen Werken speist, de facto eine Ausbreitung der Gebotserfüllung darstellt, braucht es kaum verwundern, dass sie jenen starken Widerspruch hervorrief218 : Mit der Einschränkung der Notwendigkeit praktischer Erfüllung scheint ein wichtiger Aspekt praktischen Judentums wegzubrechen. Ähnliches wie das über die generelle Ansicht der Chassidim über die Erfüllung der Mitzwot Gesagte, dies sei noch erwähnt, gilt auch für die Einhaltung des Schabbat: »Guard the Shabbat properly, with all its details and nuances. […]«219 Die angeführten Passagen zeigen, dass die Nichtanerkennung der traditionellen jüdischen Autoritäten keinesfalls ein spezifisches Merkmal chassidischer Frömmigkeit ist: Alle in den gegnerischen Schriften angeführten Beschuldigungen, die eine Geringschätzung oder gar Ablehnung dieser Autoritäten gleichsam als chassidisches Dogma behaupteten, können dem Befund in den frühen chassidischen Quellen nicht standhalten: Von Anfang an spielte die Tora mit ihren Mitzwot, aber auch ihre kommentierenden und auslegenden Werke eine große Rolle, vermutlich eine ähnlich große Rolle wie im Rabbinismus. Wie aber ist der an so vielen Stellen, in einzelnen Werken zum Teil sogar mehrfach auftauchende Vorwurf dann zu erklären? Handelt es sich lediglich um eine polemische Behauptung oder ist die Befürchtung seitens der Mitnaggedim doch auf einen Kern zurückzuführen? Sicherlich handelt es sich bei dem Vorwurf der Abkehr von den überkommenen Autoritäten um einen sehr gewichtigen. Zwar mag er, vor allem in einer Religion wie dem Judentum, die sich im Exil meist als Minorität gegen eine sie umgebende und häufig anfeindende Mehrheit220 aus diesen Autoritäten be216 Wertheim, Law and Custom, 79 zitiert diverse Stellen aus Toldot Jakob Josef, u. a. Parascha Waetchanan und die Einleitung des Werkes. 217 Vgl. ebd.; auf den folgenden Seiten bringt er Beispiele für diese Allegorisierung, etwa für das Gebot zum Bau des Jerusalemer Tempels oder die Bestimmungen über das Feuer auf dem Altar. 218 Vgl. ebd., 81. 219 Tzava’at Harivash, #17 – 19. 220 Vgl. hierzu den kürzlich erschienenen Themenband der Zeitschrift Osteuropa, indem einige Beiträge das osteuropäische Judentum in der Konstellation Minderheit – Mehrheit bzw. im Zusammenhang der reziproken Bezüge zur Mehrheitsgesellschaft thematisieren: Osteuropa 58 (2008), Heft 8 – 10: Impulse für Europa. Tradition und Moderne der Juden Osteuropas; hierin: Antony Polonsky, Fragile Koexistenz, tragische Akzeptanz. Politik

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stimmte und festigte, in der Polemik gegen potentiell sektiererische Gruppierungen zum Standard gehört haben. Darüber hinaus jedoch sind einige Entwicklungen bereits im frühen Chassidismus zu verzeichnen, die die Gegner in ihren Befürchtungen bestätigt oder diese Befürchtungen überhaupt erst hervorgerufen haben mögen. Erstens lässt sich feststellen, dass jene traditionellen Autoritäten weiterhin ihre Bedeutung behielten, neue Autoritäten jedoch neben sie traten. Hierzu zählen gewiss die chassidischen Oberhäupter, von denen ein jedes recht weit reichende Ansprüche stellte, angefangen beim Bescht über den Maggid und seinen Schülerkreis bis hin zu den späteren Zaddikim. Sie alle traten mit dem Anspruch auf, eine ähnliche personelle Autorität zu vertreten wie die Weisen der Vergangenheit, jedoch stellten sie sich auch über viele zentrale schriftliche Grundlagen, etwa über Werke, die die Gebote der Tora interpretieren – wie zur Zeit des aufkommenden Chassidismus etwa den Schulchan Aruch, den ›Gedeckten Tisch‹. Über den Bescht heißt es nach seiner Epiphanie, dass er »jetzt selbst Tora, Mysterien der Lehre, die noch kein Ohr je vernommen hatte«, sprach.221 Dass diese Aussage über den Bescht, die sich zum Bild für das Selbstverständnis der Zaddikim gerierte, welche ihren Lehrmeinungen eine größere Autorität einräumten als etwa dem Schulchan Aruch222, bei den Gegnern Entsetzen und Wut hervorrief, verwundert kaum. Auch die Beobachtung, dass mit diesen neuen lebenden Weisungen die Halacha, bis dahin in schriftlicher Form überliefert, eine ganz neue – mündliche – Qualität angenommen hatte, die längst nicht jene beständige Form hatte, wird ihr Übriges getan haben. Jedoch stellten die Chassidim ebenso neue schriftliche Werke neben die traditionellen. So wurde bereits auf die immer wieder auftauchende Betonung von kabbalistischen Schriften hingewiesen, aber auch die Bedeutung von Musarliteratur, also ethischen Schriften, wurde angedeutet. Texte beider Typen nahmen in der chassidischen Welt einen bedeutenden Platz ein. Des Weiteren ist darauf hinzuweisen, dass der Chassidismus innerhalb der traditionellen Überlieferung die Bewertung der Schriften ins Wanken, ja gar zum Einsturz brachte. So nahmen die aggadischen, erzählenden Teile einen wesentlich bedeutenderen Platz ein als es in der rabbinischen Welt der Fall war – etwa das Rezitieren von

und Geschichte der osteuropäischen Juden, ebd., 9ff; Steven Aschheim, Spiegelbild, Projektion, Zerrbild. »Ostjuden« in der jüdischen Kultur in Deutschland, ebd., 67ff; Heiko Haumann, Schtetl und Judendorf. Grenzüberschreitende Kulturen und Autonomiebewusststein, 147 ff. 221 SHB, H27. 222 »Sie glaubten, dass er [der Bescht] die Kraft hatte, die Angelegenheiten zu verändern, denn er war ein Schüler von Ahijah dem Schilonit, gewesen und hatte die Tora von ihm und vom Propheten Elijah empfangen.« Vgl. Toldot Jakob Josef, Parascha Balak; zit. in Wertheim, Law and Custom, 97.

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Psalmen erfuhr eine ungeheure Aufwertung und trat in seinem spirituellen Wert als gleichberechtigt neben das anspruchsvollste Talmudstudium.223 Eine andere Entwicklung bezüglich des Stellenwertes von Studium und Mitzwot im Chassidismus ist die Betonung seitens der Chassidim, dass beides nicht nur mit Gottesfurcht, sondern auch mit Freude zu vollbringen sei; der Dienst – und hierzu zählen auch das Studium und die Beachtung der Mitzwot – ist nur dann nicht dem Jezer hara, dem bösen Trieb, gewidmet, sondern Gott, wenn er aus und mit Freude geschieht: »Sometimes the yetzer hara deceives you by telling you that you committed a grave sin when there was really no sin at all or [at worst you violated] a mere stringency. His intent is that you should feel depressed as a result thereof, and thus be kept from serving the Creator, blessed be He, because of your depression. You must understand this trickery, and say to the yetzer hara: […] In fact, I will serve Him with joy! For it is a basic rule that I do not think the Divine service to be for my own sake but to bring gratification to God. […] This is a major principle in the service of the Creator, blessed be He: avoid depression as much as possible.«224

Hierin gründet v. a. der Vorwurf, dass die Chassidim sich um die Mitzwot kaum scheren würden (»denn sie sprechen der Traurigkeit die Einzigartigkeit ab, und, Gott behüte!, dem Bedauern, gegen ein Gesetz verstoßen zu haben, damit man nicht in die Hände der Traurigkeit gerät!« Semir Arizim, #4, 38). Mit Sicherheit jedoch ist die zitierte Stelle225 nicht als Beleg für den Antinomismus der Chassidim zu lesen, wie es die Gegner offensichtlich taten. Vielmehr wird hierdurch die Richtung vorgegeben, wie mit dem mit zwangsläufiger Sicherheit auftretenden Versagen gegenüber den hohen Forderungen der Gebote umzugehen ist: Hat man ein Gebot nicht erfüllen können, so ist Reue durchaus angebracht.226 Hieraus entstehende Melancholie bzw. Niedergeschlagenheit allerdings würde einen Sieg des Jezer hara bedeuten, was von der Erfüllung weiterer Gebote ablenken würde. Somit ist die freudige Erfüllung des Dienstes das Mittel der Wahl, um mit Konzentration die Pflichten zu erfüllen.227 Eine dritte im Zusammenhang des intentionalen Gottesdienstes zu verzeichnende Besonderheit ist die Betonung des Studiums der Tora ohne Absicht außer ihrer selbst: Weder um Ruhm soll es dem Studenten der Weisung gehen noch um Gold oder Silber, denn 223 Vgl. ebd., 270 ff. 224 Tzava’at Harivash, #44. 225 Oder entsprechende Formulierungen an anderen Stellen, wie etwa, #45 (»Weinen ist sehr schlecht, denn man muss Gott mit Freude dienen.«), #45, #51, #110 usw. 226 Schochet, Tzava’at Harivash, 37, Anm. 3. 227 Ebd., 37, Anm. 3. weist darauf hin, dass es sich hierbei nicht um ein neues, spezifisch chassidisches Prinzip handelt, sondern vielmehr ein bereits durch Chajim Vital, den Schüler Isaak Lurias schriftlich fixiertes System adaptiert wurde.

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»If you wish to sacrifice the evil inclination on the altar of the Torah, your learning should not, Heaven forbid! Be to show your powers of pilpul and your sharp insight, that will be for your own personal honor and agrandizement, and the Torah will, Heaven forbid, be profaned. Rather, all your intention should be for the Creator, may His name be blessed.«228

In dieser und diversen anderen Stellen auch der frühen chassidischen Tradition229 bildet sich ein chassidisches Ideal ab, das wohl kaum für den Ärger unter den Gegnern verantwortlich zu machen ist. In der konsequenten Durchführung jedoch wird es zu dem geringen Ansehen der Chassidim unter den nichtchassidischen Gelehrten – zu denen die zitierten gegnerischen Autoren zu zählen sind – beigetragen haben: Das Studium der Tora lischma (8BM@: um ihrer selbst willen) schloss natürlich aus, dass sich Gelehrte mit diesem Ideal wegen ihres Wissens brüsteten, worin einer der Hauptkritikpunkte Jakob Josefs am etablierten Rabbinerstand bestand: Sie studierten, so seine Ansicht, aus Sorge um Ruhm und Ehre, um ihr Auskommen und um ihr Seelenheil, was den Bruch zwischen den gelehrten und den einfachen Menschen noch verstärkte, da erstere ihre Fürsorgepflicht gegenüber den zweiten vernachlässigten.230 Dresner weist darauf hin, dass diese Leitlinien in erster Linie für die Oberhäupter galten – die einfachen Leute sollten Tora lernen, auch wenn es um eines äußerlichen Zieles willen war.231 In der offensichtlich falschen Beschuldigung des gegen die traditionellen Autoritäten gerichteten Antinomismus werden gleich zwei Merkmale chassidischer Frömmigkeit deutlich, die es im Folgenden aus chassidischer Perspektive zu erarbeiten gilt: Die Betonung des freudigen Dienstes am Herrn (8;BM), und die Notwendigkeit der richtigen Intention eben dieses Dienstes (8D9?).

2.4

Gewiss war’s nicht umsonst! Freude und Gleichmut

Durch die häufige Anführung in den mitnaggedischen und maskilischen Schriften hatte sich die chassidische Betonung der Freude als wichtiges Merkmal ihrer Frömmigkeit herausgestellt. Der freudige Gottesdienst und eine freudige Lebenshaltung allerdings, so hatte es sich dargestellt, wurden von den Gegnern als chassidisches Spezifikum im negativen Sinn wahrgenommen, da es in erster 228 No’am Elimelech, Parascha Jitro, zitiert in Wertheim, Law and Custom, 77. 229 Vgl. die etwa ebd., 76ff, bei Dresner, The Zaddik, 92ff und Wolf Zeev Rabinowitsch und Simon Dubnow, Lithuanian Hasidism, New York 1971 angegebenen Stellen (in erster Linie aus Toldot Jakob Josef, aber auch aus anderen Werken). 230 Vgl. Dresner, The Zaddik, 109. 231 Ebd., 93.

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Linie in Verbindung gebracht wurde mit einem mangelnden Ernst gegenüber den Forderungen der Mizwot. Wie im letzten Abschnitt bereits angedeutet wurde, findet sich das Argument der Gegner, die Chassidim würden »der Traurigkeit die Einzigartigkeit absprechen, und, Gott behüte!, dem Bedauern, gegen ein Gesetz verstoßen zu haben, damit man nicht in die Hände der Traurigkeit gerät« (Semir Arizim, #4, 38) in der chassidischen anleitenden Literatur gleichsam wortwörtlich wieder – selbstverständlich ohne die polemische und ins Negative gekehrte Überspitzung. Tatsächlich wird in den chassidischen Quellen zunächst dieselbe Begründung angeführt wie sie von den empörten Gegnern beschuldigend vorgebracht wurde. Erst auf den zweiten Blick zeigt sich, dass die chassidische Freude, sowohl, was die freudige Frömmigkeit als auch die freudige Lebenshaltung angeht, hier, d. h. in den chassidischen frömmigkeitstheologischen Schriften, vielfältiger dargestellt wird als in den gegnerischen Schriften. Zunächst soll nun ein Blick auf die chassidische Stellungnahme zu der gegnerischen Beschuldigung des mangelnden Ernstes v. a. gegenüber den Mitzwot geworfen werden, bevor auf andere Aspekte dieses Merkmals von der chassidischen Seite her eingegangen wird, die helfen können, den allgemeinen Wert dieses Merkmals in Hinsicht auf den chassidischen Frömmigkeitstypus zu eruieren. Tzava’at haRivasch betont an nicht eben wenigen Stellen, dass die Elemente des jüdischen Dienstes an Gott allesamt mit Freude getan werden müssen. Einige Beispiele: »For the ›three-fold cord that is not broken quickly‹ (Ecclesiastes 4:12): remove yourself from depression and let your heart rejoice in God.«232 »In fact, I will serve Him with joy! For it is a basic rule that I do not think the Divine service to be for my own sake but to bring gratification to God. […] This is a major principle in the service of the Creator, blessed be He: avoid depression as much as possible.«233 »Weeping is very bad because man must serve [God] with joy. Weeping that results from happiness, however, is very good.«234 »You are to serve God with fear and joy. These are ›two friends that do not separate‹.«235 Zu diesen allgemeinen Aufforderungen kommen jedoch auch konkretere: »Torah-study must be with intensity and great joy.«236

232 233 234 235 236

Tzava’at Harivash, #15. Tzava’at Harivash, #44. Tzava’at Harivash, #45. Tzava’at Harivash, # 110. Tzava’at Harivash, # 51.

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Weg von der Polemik: Innenansichten

»Prayer with great joy is certainly much more acceptable before [God], blessed be He, than prayer in sadness and with weeping.«237

Alle Wege des frommen Lebens sollen in Freude gegangen werden, dies ist unmissverständlich ein eigener Wert chassidischer Frömmigkeit. Jakob Josef ging sogar so weit festzustellen, dass nur derjenige, der mit Freude den Gottesdienst des Studiums der Tora vollziehe, als lebendig zu bezeichnen sei.238 Allerdings setzte die gegnerische Kritik nicht an diesem Punkt an, denn vor allem die letzten beiden konkreten Zitate sind inhaltlich weniger originär chassidischen, sondern vielmehr rabbinischen Ursprungs.239 Gegen einen freudigen Gottesdienst an sich, ob im Gebet oder im Studium, erhob auch die jüdische Orthodoxie wohl kaum einen Einspruch. Vielmehr setzte der Einspruch, dies wurde bei der Schilderung der gegnerischen Vorwürfe bereits deutlich, einerseits bei den chassidischen Wegen, Freudigkeit zu erlangen, bei denen neben genussvollem Essen und anderen Möglichkeiten der Erheiterung240 auch Alkohol durchaus eine gewisse Rolle gespielt haben wird241, und andererseits – und vor allem – bei der Einhaltung der Gebote durch die Chassidim und ihre Oberhäupter an: Gerade die mitnaggedischen Autoren warfen den Chassidim mangelnden Ernst bei der Einhaltung der Gebote vor und vermerkten, dass diese es keineswegs bedauerten, wenn sie gegen ein Gesetz verstießen (s. o.). Diese Einschätzung kommt mit einem Blick auf Tzava’at Harivash – das gerade hierfür etwa von Löbel angeklagt wurde – nicht ganz von ungefähr, denn hier finden sich Anweisungen, die, zumindest bei oberflächlicher Betrachtung, tatsächlich eine solche Interpretation zulassen, ja sogar nahelegen. Etwa wenn es heißt »[…] do not be overly punctilious in all you do. [To do so] is but a contrivance of the yetzer [hara] to make you apprehensive that you may not have fulfilled your obligation, in order to make you feel depressed. […] Even if you did commit a sin, do not be overly depressed […].«242 237 Tzava’at Harivash, #107 238 Toldot Jakob Josef, zit. in Mendel Piekarz, Hasidism as a Socio-religious Movement on the Evidence of Devekuth, in: Rapoport-Albert, Hasidism reappraised, 225 – 248; hier : 225. 239 Vgl. die entsprechenden Angaben, die Schochet, Tzava’at Harivash, in den Fußnoten macht. 240 Vgl. etwa den Bericht von Salomon Maimon, der von der Bestrafung eines Chassids, der Vater eines Mädchens geworden war und dessen Prügelstrafe alle Umstehenden »in eine lustige Laune« versetzte, berichtet (Lebensgeschichte, 235) sowie die Parallele in den Schilderungen Davids von Makow, der einen Bekannten zitiert, welcher miterlebte, wie sich ein Chassid zur Erheiterung der anderen verprügeln ließ; zitiert in Rabinowitsch, Lithuanian Hasidism, 130 f. 241 Wertheim, Law and Custom, 39 f, zitiert Toldot Jakob Josef, Parascha Ki Tawo. 242 Tzava’at Harivash, #46.

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ist es leicht nachzuvollziehen, dass hieraus der Schluss gezogen wird, die Nichtbeachtung der Gebote sei für die Chassidim eine Unbedeutsamkeit. Jedoch handelt es sich um eine vermutlich bewusste und somit verunglimpfende Verkürzung, wenn etwa Löbel behauptet, jeder Chassid könne sich »von seinem Oberhaupte völlig Absolution versprechen, ohne einer Sinnesänderung und Besserung des Lebenswandels zu bedürfen«243 und brauche sich deshalb um die Mitzwot nicht zu kümmern. Denn über die Niedergeschlagenheit, führt der Kompilator des Werkes weiter aus, lehrten die chassidischen Gründungsväter : »Depression, in turn, is an immense obstacle to the service of the Creator, blessed be He. […] Do feel saddened by the sin; but then rejoice in the Creator, blessed be He, because you fully repented and resolved never to repeat your folly.«244

Anhand des angeführten Zitates lässt sich ausschließen, dass die Chassidim der ersten Stunde einen Antinomismus an den Tag legten, wie ihn die Gegner behaupteten, indem sie die Gesetze einfach nicht beachteten. Durchaus sollten sie, soviel steht fest, im Falle einer Verfehlung diese Verfehlung bedauern. Die chassidische Einschränkung, und hierauf wird sich die gegnerische Kritik beziehen, liegt vielmehr darin, dass dieses Bedauern auf keinen Fall soweit gehen soll, dass es von weiteren Diensten am Schöpfer ablenkt, da dies zwangsläufig zu weiteren Übertretungen führen muss. Insofern liegen die antichassidischen Autoren bedingt richtig, als sie den Chassidim das »Bedauern, gegen ein Gesetz verstoßen zu haben« absprechen: Ein längerfristiges Bedauern soll in der Tat vermieden werden, eine Frömmigkeit, die von Melancholie geprägt ist, ist nicht chassidisch. Demgegenüber ist kurzfristiges Bedauern, es sei noch einmal angeführt, auch nach chassidischer Ansicht dringend notwendig, wenn eine Sünde begangen wurde: An dieser Stelle scheint die Tendenz der Bewegung zur Innerlichkeit durch, was durch die Fortsetzung des Abschnittes in Tzava’at Harivash nochmals verdeutlicht wird: »Even if you are certain that you did not fulfill some obligation, because of a variety of obstacles, do not feel depressed. Bear in mind that the Creator, blessed be He, ›searches the hearts and minds‹ (Psalm 7:10) He knows that you wish to do the best but were unable to do so. Thus strengthen yourself to rejoice in the Creator, blessed be He.«

Auch wenn der frommen Handlung selbst, hier : der Erfüllung einer beliebigen Mizwa, durchaus ein Eigenwert eingeräumt wird245, so wird doch vor allem – unter Rekurs auf Ps 7,10 – die Intentionalität, mithin die Innerlichkeit des religiösen Subjektes betont. Mit dieser Bedeutung der Intentionalität ist auch eine Brücke geschlagen zur 243 Löbel, Glaubwürdige Nachricht, 313. 244 Tzava’at Harivash, #46. 245 Vgl. die Fortführung von #46, vor allem jedoch #55 und 56.

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chassidischen Freude als eigenem Wert, was oben bereits mit einigen Zitaten belegt wurde: Ein Dienst am Schöpfer muss in Freude geschehen, und zwar nicht »for my own sake but to bring gratification to God.«246 Dieses Ziel muss immer vor Augen sein, wenn ein Gottesdienst abgehalten wird – sei es im Torastudium, in der Erfüllung einer Mizwah oder im Gebet. Dementsprechend kann im Zusammenhang des Merkmals der Freude, sozusagen als ihr Antagonist, unter dem Gesichtspunkt der Intentionalität auch die frühchassidische Haltung gegenüber der Askese bzw. der asketischen Lebenshaltung erklärt werden, die eine recht freie ist. Gegen Askese an sich gibt es in den frühen Jahren keine Einwände, aber auch keine klare Befürwortung: Gegen die selbstverneinende, asketische Lebensweise Jakob Josefs (»Er lernte jeden Tag in Tallit und Tefillin. Und vor dem Essen studierte er einen Abschnitt Gemara, sieben Blätter. Auch während der Mahlzeit […] ließ sein Mund nicht von der Lehre ab. Nach dem Essen schlief er ein wenig […]« SHB H75; vgl. auch andere) kämpfte der Bescht an, damit dieser nicht sein Leben aufs Spiel setzte. Dies geht aus einem Brief des Bescht an Jakob Josef hervor, der in Schibche haBescht überliefert ist: »In meiner Hand befindet sich ein Brief des Bescht, den er an den Rav geschrieben hat. […] Siehe, das Siegel aus deiner Hand habe ich erhalten. Nur einen Blick warf ich auf die ersten beiden Zeilen, in denen ihr schriebet, dass Eure Exzellenz glaubt, es sei vonnöten, dass ihr fastet, und ich habe mich in meinem Inneren erregt über die Stimme, die das ruft! Siehe, ich wiederhole mit den Verboten der höchsten Wächterengel […] dass ihr euch nicht in solche Gefahr begebet. Denn dies ist das Werk der schwarzen Bitternis und der Traurigkeit. Aber die Schechina, die Gottesgegenwart, kommt nicht bei Traurigkeit, sondern allein bei Freude am Gebot. […] ›Und versag dich nicht deinem Fleische‹, durch übermäßiges Fasten, Gott bewahre, das nicht geboten und nicht vonnöten […].«247

Dem Bescht nach ist nicht nur das Fasten verboten, das für Leib und Leben gefährlich ist und das von Jakob Josef geübt wurde248, sondern auch ist das (übermäßige) Fasten allgemein weder »geboten« noch »vonnöten«. Vielmehr, und hier wird die Verbindung zur Betonung der Freude gezogen, kommt die Schechina »nicht bei Traurigkeit, sondern allein bei Freude am Gebot.« Die in Schibche haBescht überlieferte ambivalente Positionierung gegenüber der Askese, die durch den Fastenbrief des Bescht an Jakob Josef und die damit verbundenen Kommentierungen einerseits und die immer wieder auftauchenden Hinweise darauf, dass alle drei großen Gestalten der Frühzeit in gewisser Weise Asketen waren249 andererseits markiert wird, deckt sich in etwa mit der Position, 246 Tzava’at Harivash, #44. 247 SHB H70; siehe auch Dresner, The Zaddik, 51 f. 248 Auch der Maggid, Dov Bär, führte ein ähnliches Fasten durch wie Jakob Josef, »und wurde davon sehr krank«, SHB H85a; auf der Suche nach Heilung kommt er so zum Bescht. 249 Das Fasten Jakob Josefs und Dov Bärs war schon erwähnt worden; jedoch verwöhnte sich

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zu der in Tzava’at Harivash angeleitet wird. So wird ein übermäßiges Fasten als Mittel zur Buße abgelehnt, denn »wenn der Körper sich plagt, wird auch die Seele geschwächt und man ist nicht mehr in der Lage, angemessen zu beten, sogar, wenn man frei von Sünden ist. Deshalb musst du deinen Körper sorgfältig gesund halten.«250 Andererseits wiederum wird Fasten als die asketische Übung schlechthin durchaus als aktiver Gottesdienst gewürdigt, der über das Verständnis als subjektbezogene Bußübung hinaus idealtypisch auch kosmologische Auswirkungen hat: »Woe to me! I have angered the Supreme King on account of my desires and my putrid pride. That is why I wish to afflict myself to subdue my desires and pride[…] I wish to afflict myself because I caused sorrow to the Holy One, blessed be He, and His Shechinah, and also to ease that sorrow. Woe to me! […]I can but appeal to His great mercies to observe my selfaffliction to ease the sorrow of His Shechinah, and that He remove from us the kelipot [›husks;‹ evil forces] because of my affliction. May I effect above that all the kelipot be removed from the Shechinah so that She may be purified and unify with Her ›Spouse,‹ in absolute unity […] My self-affliction will thus effect union from Above to below, from the mind to the heart and from the heart to the liver […].«251

Trotz der Betonung, dass die Selbstkasteiung nicht unbedingt notwendiger Bestandteil einer frommen Lebensführung sein muss, wird Askese, konkret: Fasten, offensichtlich nicht grundsätzlich abgelehnt, sondern bekommt auch im frühen Chassidismus durchaus einen gewissen Wert zugesprochen. Doch wie kann eine Verhaltensweise, die auf das selbstverursachte Leiden abzielt, mit dem Prinzip der Freudigkeit vereinbar sein, in dessen Zusammenhang es hier angebracht wird? Das selbstverursachte Leiden darf auf keinen Fall dazu dienen, den eigenen Stolz zu bedienen, vielmehr soll man immer im Kopf behalten, dass das »Fasten dem Schöpfer, g.s.E., Freude bereiten soll«252. Deshalb muss der mit dem Ziel der Buße Fastende den Schmerz akzeptieren, um den Schmerz der Schechina zu lindern.253 Mehr noch: Auch für diesen Dienst gilt: »Worship with joy, and have in mind that the Shechinah sustains you even as She sustains others that are ill, and then God will help you.«254 Wie für andere Dienste gilt, dass der

250 251 252 253 254

der Legende nach auch der Bescht, zumindest vor seiner Epiphanie, nicht eben mit einer komfortablen Lebensführung: SHB H 20: »Der Bescht fastete in großen Wochenfasten, und wenn er essen wollte, grub er eine Mulde in die Erde, goss in sie Mehl und Wasser und ließ den Teig von der Sonne backen. Das war alles, was er nach seinen Fasten aß, und allzeit war er in Einsamkeit.« SHB H 26: »[…] Der Bescht baute sich dort im Wald ein Einsiedlerhäuschen, wo er die ganze Woche über betete und lernte, Tag und Nacht. Nur am Schabbat kam er heim […].« Tzava’at Harivash, #106. Tzava’at Harivash, #43. Tzava’at Harivash, #43. Vgl. ebd. Ebd.

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Fastende im Schmerz freudig jauchzen soll, da er sich opfert, um Gottes Namen zu heiligen.255 Letztlich widerspricht also die Askese als Akt religiöser Praxis nicht dem chassidischen Prinzip der Freudigkeit, wenn auch das wenig erfreuliche, selbstverursachte Leiden in Freude ertragen wird. Nunmehr beim Leid angekommen ist eine weitere Differenzierung im Zusammenhang der chassidischen Freude einzuführen, die zwar in den gegnerischen Schriften keinerlei Erwähnung findet, jedoch ein wichtiges und häufig wiederholtes Merkmal innerhalb des Korpus’ chassidischer frömmigkeitstheologischer Texte darstellt: die gleichmütige Lebenshaltung. Auch bezüglich des Ideals des Gleichmutes setzt die chassidische Tradition beim Ba’al Schem Tov an. Das Vermächtnis seines Vaters Elieser an ihn lautete der romantisierenden Legende nach: »›Der Knabe wuchs heran und ward entwöhnt‹, und die Zeit nahte, dass sein Vater Elieser sterben sollte. Der Vater nahm den Knaben auf den Arm und sprach: ›Siehe, ich weiß, dass du mein Licht wirst leuchten lassen! Doch mir wird nicht zuteil sein, dich großzuziehen. Aber sei dessen eingedenk, mein geliebter Sohn, all deine Tage, dass der Herr mit dir ist. Drum fürchte dich vor nichts!«256

Aus dem Geiste dieses Logions entwickeln nicht nur eine Vielzahl von Legenden, sondern auch eine nicht unbeträchtliche Zahl der im anleitenden Tzava’at Harivash tradierten Lehren des Bescht und des Großen Maggid eine regelrechte ›Lehre vom Gleichmut‹ durch die Geborgenheit in der Schechina, die in dem Diktum Alles ist für etwas gut! in nuce zusammengeführt werden kann. So berichten die Legenden vom Bescht, der etwa nur durch einen Zufall in eine Wüste vordringt, in der seit langer Zeit ein Gelehrtenschüler im Körper eines riesenhaften Frosches auf seinen Tikkun für eine große Sünde wartet, den er nun vom Bescht bekommt (SHB H23 bzw. 24); sie erzählen lange allegorische Episoden, die anschließend in die ›Realität‹ aufgelöst werden und so in ihrem überraschenden Schluss beruhigend notieren, dass letztlich jede noch so seltsame Handlung der chassidischen Oberhäupter einen (unter Umständen nicht ohne weiteres ersichtlichen, überirdischen) Grund habe (vgl. etwa SHB H144) oder schließen diverse Erzählungen mit der überdeutlich formulierten Moral ab, dass alles zum Guten diene – auch das individuelle oder kollektive Leid (etwa H162, 163 oder 260). Die Theologie der chassidischen Väter findet hier in der praktischen Anwendung eine Antwort auf die sich in der minoritären ostjüdischen Gesellschaft ständig stellende Frage: Alles, auch die kompliziertesten Geschichten, in denen es nicht selten um lebens- oder freiheitsbedrohende Sachverhalte gehen kann (vgl. etwa SHB H146), lösen sich letzten Endes immer 255 Vgl. ebd. 256 SHB, H7.

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dahin auf, dass alles einen Sinn hat, auch, wenn dieser aus der Situation heraus nicht erkennbar sein mag. Sie richten somit einen Appell an den Leser, der diesen zum bereitwilligen Erdulden bewegen soll, ohne gleich in eschatologischen Bezügen zu argumentieren. Eine Erläuterung dieser das gesamte Leben betreffenden Einstellung bietet das Testament des Ba’al Schem an diversen Stellen: »Schiviti [es geht um die Erläuterung von Ps 16,8] is an expression of hishtavut (equanimity): no matter what happens, whether people praise or shame you, and so, too, with anything else, it is all the same to you […] Whatever may happen, say that ›it comes from [God], blessed be He, and if it is proper in His eyes…‹ […] This is a very high level.«257

Ebenso »[…] an important rule: ›Commit your deeds to God, and your thoughts shall be established.‹ (Proverbs 16:3) That is, you must realize that whatever happens is from [God], blessed be He.«258

Alles, was geschieht, kommt von Gott. Diese letztlich streng monistische Überzeugung hat in der konsequenten Durchführung nicht nur die gleichmütige Haltung gegenüber allen Unbilden zur Folge, sondern ebenso eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber allem Weltlichen, allem voran dem eigenen Ich, denn letztlich soll der Chassid nur Gott vor Augen haben.259 Das Ansehen etwa der Leute muss egal sein, »whether you are regarded as devoid of knowledge or learned in the whole Torah. This is brought by constant deveikut unto the Creator.«260 Auch das eigene Dasein muss in diesem Zusammenhang gesehen werden: Wie der Hammer des Handwerkers nur ein Werkzeug ist, so müssen alle weltlichen Angelegenheiten als Vehikel verstanden werden, um Gott zu schauen (sich an ihn anzuhaften). Beispielsweise muss das Selbst, aber auch die eigene Frau, wie die Tefillin, als Werkzeug zur Erfüllung der Mitzwa (zur Erhaltung der Generation) angesehen werden; ihr nachzusinnen wäre zu viel des Guten: »Regard it like someone traveling to a market, and he cannot do so without a horse. Would he, therefore, come to love the horse? Is there anything more foolish than that? Likewise, in this world a man needs a wife for the service of the Creator in order to merit the World-to-Come. […].«261 Die gleichmütige, aber auch weltferne Lebenshaltung selbst bei Todesge257 Tzava’at Harivash, #2 – 3; vgl. hierzu auch die kurze Ausführung in Wertheim, Law and Custom, 20. 258 Tzava’at Harivash, #4. 259 Vgl. Tzava’at Harivash, # 5 – 6. 260 Tzava’at Harivash, # 10. 261 Tzava’at Harivash, #101.

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fahr262 steht, wie bereits angedeutet, in direktem Zusammenhang mit dem obersten chassidischen Ziel Devekut: Nichts darf den Glaubenden von diesem Anhaften abhalten, weder die Liebe zur Welt (etwa zu einer Frau) noch die Furcht vor weltlichen Angelegenheiten: »The same applies to fear. When afraid of a heathen – or of a sword – he should say to himself: ›Why should I be afreaid of a human like myself ? Surely the Creator, blessed be He, is vested in that human; thus how much more should I be afraid of Him, blessed be He?«263

Auch hinter dem Bösen, das einem widerfährt, verbirgt sich das Gute; alles scheinbar Böse kann ins Gute verkehrt werden, wie auch alles Gute für Böses verwendet werden kann. »Take, for example, a broom for sweeping the house: in context of clearing the house it has some good quality. It [may be] a low level, but it is still good. But when it is used to hit a child doing some wrong the broom becomes truly evil when hitting the child.«264

2.5

Kawwanna

Aus der Sicht der mitnaggedischen und maskilischen Beschreibungen heraus hatte sich der Begriff der Kawwanna als Medium dargestellt, in dem viele gegnerische Schilderungen schlüssig zusammengeführt werden konnten: Mit »der rechten Kawwanna« sollte den Chassidim »jedes Wunder möglich« sein, das endlose und scheinbar unbegründete Herumstehen vor den Gebeten und das Ausdehnen derselben wurde damit erklärt, dass, bevor das Gebet richtig gesprochen werden konnte, zunächst Kawwanna erlangt werden musste und dass, wenn sie einmal erlangt war, die Zeit zweitrangig war. Aber auch viele der zunächst unerklärlichen Handlungen, die aus gegnerischer Sicht nur als Zeichen chassidischen Müßigganges verstanden werden konnten, wurden im Zusammenhang der chassidischen Kawwanna erklärt. Kawwanna, die Intentionalität der frommen Handlung, wurde als »grundlegendes Prinzip chassidischer Frömmigkeit« verstanden, in dem viele einzelne Elemente der chassidischen Frömmigkeitspraxis gebündelt werden, denn so hatten es die gegnerischen Beschreibungen nahegelegt. In den frühchassidischen frömmigkeitstheologischen Texten stellt sich der Sachverhalt, wenn auch nicht völlig gegensätzlich, so doch etwas verschoben dar : Kawwanna lässt sich zwar auch hier durchaus als »grundlegendes Prinzip« chassidischer Frömmigkeitspraxis feststellen, jedoch ist sie eher Vehikel zum 262 Vgl. Tzava’at Harivash, #120. 263 Tzava’at Harivash, #120 264 Tzava’at Harivash, #130.

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eigentlichen Ziel chassidischer Chassidiut (N97=E; Frömmigkeit), nämlich Devekut265, aufzufassen denn selbst als Ziel. Verstanden als ein solches Werkzeug allerdings fügt es sich gut in das sich aus den anderen Merkmalen ergebende Geflecht der Frömmigkeit. Mit Kawwanna (8D9?), übersetzbar mit Absicht, zielgerichteter Intention oder Andacht, beschreiben die Gegner keineswegs ein neues, durch die chassidischen Gründungsväter eingeführtes Prinzip. Vielmehr bezeichnet der Begriff einen prozessualen Sachverhalt oder devotionalen Zustand, der bereits in der frühen rabbinischen Literatur im Zusammenhang des Betens und der Befolgung von Mizwot steht: Bereits in den Sprüchen der Väter im Talmud etwa wird davor gewarnt, das eigene Gebet als reine Formsache zu betrachten – vielmehr soll es »ein Ausdruck deiner Empfindungen und deiner Bitten zu Gott« sein.266 So waren auch die alten Chassidim gewohnt, vor und nach dem Gebet eine Stunde zu warten, um einen Zustand von Kawwanna zu erlangen – wobei die Rabbiner keineswegs einmütig waren, wie das Wesen wahrer Kawwanna sich definierte. So unterschieden die mittelalterlichen Autoren zwischen der Vorbereitung zu Kawwanna, die zum Gebet führt, und Kawwanna während des Gebetes selbst, ohne hierbei das eine dem anderen vorzuziehen. Maimonides wiederum räumt der Kawwanna beim Gebet eine so große Bedeutung ein, dass er bestimmt, dass »ein Gebet ohne Kawwanna gar kein Gebet ist und jeder, der ohne Kawwanna betet, noch einmal mit Kawwanna beten muss […] unter vollständigem Bewusstsein, dass er vor der göttlichen Anwesenheit [der Schechina] steht.«267 Sinn und Zweck dieser bereits mystischen Vorstellung von Kawwanna ist es, »seinen Sinn von allen fremden Gedanken zu entleeren, die körperliche Begierden sind […] und denke sich selbst, als ob er vor der himmlischen Schechinah stünde, und 265 Devekut findet in den gegnerischen Schilderungen keinerlei direkte Erwähnung, wenn sie auch indirekt – etwa von Maimon – als wirkliches chassidisches Spezifikum beschrieben wird; in den chassidischen Quellen dagegen nehmen Beschreibungen dieses hehren Zieles weiten Raum ein. Jedoch ist eine Differenzierung zwischen Devekut als eigentlichem Ziel chassidischer Frömmigkeitspraxis und den verschiedenen Wegen, hierhin zu gelangen – wozu vor allem Kawwanna zählt – zum Teil nur schwierig zu erreichen. Ysander verwendet hierzu das Bild der konzentrischen Kreise: »Daher können sie zuweilen angewandt werden, um dasselbe auszudrücken, unterscheiden sich aber andererseits durch verschiedene Intensievierungen von einander.« Ysander, Studien zum bestschen Hasidismus, 199. Ich würde dies dadurch ergänzen wollen, dass sie sich auch funktional unterscheiden, wenn Devekut als Ziel, Kawwanna und in gewisser Weise Ekstase als Weg verstanden werden (wobei festzuhalten ist, dass eine funktionale Differenzierung in Weg und Ziel nicht immer greift!). 266 A9KB8 =DH@ A=D9D;N9 A=B;L 4@4 F5K ýN@HN MFN @4; auch wenn A=B;L in seiner eigtl. Bedeutung mit Liebe übersetzt wird, bleibt der Sinn bestehen; Pirke Awot 2,18; dagegen gibt H. Elchanan Blumenthal, Art. Kavvanah, in: Cecil Roth (Hg.), Encyclopaedia Judaica, Jerusalem 1971 – 1974, 852 f dieselbe Stelle mit Awot 2,13 an. 267 Zitiert in ebd., 853.

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seine Begierde und seine Seele seien mit dem himmlischen König verbunden, und er vernichte alle Sinnes-empfindungen in sich, um mit dem himmlischen Licht verbunden zu sein.«268 Auch hier wird die zweifache Natur des Begriffes deutlich: Kawwanna erfasst sowohl die »Sammlung zur Kontemplation« als auch »den mystischen Vorgang im Gebete selbst.«269 Mit wachsender Bedeutung dieses kontemplativen Momentes des Gebets in der Kabbala trat eine Höherstufung des in Kawwanna gesprochenen Gebetes ein, indem man Kawwanna »als Kriterium der besonderen Gottgefälligkeit des Gebets und daher eine Bürgschaft der Erhörung« ansah.270 Gerade hierdurch tritt in den Bereich des mystischen Betens mit Kawwanna ein magisches Element hinzu: Durch innerste Intentionalität oder Andacht des Betenden in dieser Vorstellung, die ja auf Vereinigung des Mystikers – und seiner Anliegen – mit dem göttlichen Willen abzielt, werden diese seine Anliegen auf direktestem Wege an die göttliche Macht herangetragen, was die Chance auf Erhörung natürlich ungemein steigert.271 Auf den Zusammenhang dieser kabbalistisch-magischen Anwendung der Kawwanna mit dem wohl hierin gründenden besagten mitnaggedischen Vorwurf (»mit der rechten Kawwanna ist ihnen jedes Wunder möglich«) werde ich weiter unten noch eingehen. Eine bedeutende Weiterentwicklung und Umdeutung ins Kosmologische erfährt die Lehre von der Kawwanna in der spätmittelalterlichen Kabbala, vor allem derjenigen Isaak Lurias: Hier beschreibt der Plural Kawwannot bestimmte Assoziationen, die der Betende bei der Rezitation von Schlüsselwörtern während des Gebetes mit diesen verbinden muss und die auf den kosmischen ›Heilungsprozess‹, den Tikkun, hin wirken: Jede Tat des Menschen, ob praktischer oder geistiger Natur, soll darauf gerichtet sein, »die ursprüngliche Einheit wieder herzustellen, die durch den Bruch der Gefäße – und jene von dort herkommenden Mächte des Bösen und der Sünde in der Welt gestört worden ist.«272 Konkret bedeutet dies, dass Luria die Gebetliturgie gleichsam als Geländer verwendet, das den in mystischer Kontemplation versunkenen Beter zu seinem Ziel führt. Sowohl in der Vorbereitung zu dieser Kontemplation als auch im versunkenen Gebet selbst kann mithilfe der vorgeschriebenen Gebete dieser 268 Gerhard [Gerschom] Scholem, Der Begriff der Kawwana in der alten Kabbala, in: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums (1934), 492 – 518; hier : 507 zitiert aus Or sarua von David ben Jehuda Chassid, einem Enkel Nachmanides’. 269 Ebd., 507. 270 Ebd., 508. 271 Vgl. zu der Verbindung von Kawwanna und Magie, die in der innigsten Verbindung des Betenden und dem En Sof gründet, wodurch der Betende dem Unendlichen Emanationsströme abzuringen und diese in seine Anliegen zu ›investieren‹ vermag, und die hier nur skizziert werden kann, Scholems ausführlicheren Beitrag ebd., 508 ff. 272 Gershom Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Frankfurt a. M. 1980, 301.

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Aufstieg von Schlüsselwort zu Schlüsselwort, und somit von Stufe zu Stufe vonstatten gehen, die der Betende in seiner Kawwanna Schritt für Schritt hinaufsteigt. Dieser Prozess des Auf- oder Abstiegs ist ein Prinzip, das in seiner viel eher intellektualistischen als sensualistischen Anlage dem Betenden ein gehöriges Maß an Disziplin und Übung abfordert und somit auch nur auf einen esoterischen Kreis von Kabbalisten abzielt, die dazu bereit sind, derart verbindlich vorgezeichnete Wege zu gehen.273 Für den Bereich der Erfüllung der Mitzwot gilt Ähnliches: Hier lässt sich Kawwanna definieren als die »intention of the person performing the action to do so with the explicit intention of fulfilling the religious injunction which commands the action.«274 Kawwanna bzw. Intention der die Mitzwa erfüllenden Handlung ist nach diesem Verständnis also nicht die Handlung selbst, sondern das Bewusstsein um die Erfüllung des Gebotes. Dieses Bedeutungsfeld haben die Autoren der gegnerischen Schriften im Kopf, wenn sie den auf Kawwanna gründenden Wunderglauben der Chassidim, ihren unkonventionellen Umgang mit den vorgeschriebenen Gebetszeiten oder jene aus ihrer Sicht offensichtlichen Zeichen des chassidischen Müßiggangs kritisieren, die alle oben im Zusammenhang der Kawwanna zusammengeführt wurden: Das Gebet oder andere spirituelle Handlungen mit Kawwanna sind nicht per se chassidisches Spezifikum, sondern lassen sich schon früher finden. Da also nicht grundsätzlich die Technik der Kawwanna angegriffen wird, ist genauer darauf zu schauen, worauf die gegnerische Kritik abzielt. Expressis verbis wird die chassidische Intentionalität tatsächlich nur in Semir Arizim (#8, 63; #9, 66) angeführt: Hier nun wird deutlich der Zusammenhang zwischen der chassidischen Kawwanna während des Gebetes und dem kabbalistisch gegründeten, magischen Element der prälurianischen, mystischen Stufe hergestellt, auf den oben bereits hingewiesen wurde. R. Issar, R. Mendel und ihre Begleiter – die chassidische Führungsriege von Wilna und Umgebung – hatten in ihren Verhören behauptet, dass »ein Wunder [ihnen] mit der rechten Kawwanna […] möglich sei.« Hier haben wir eventuell einen Beleg dafür, dass das in Gershom Scholems wegweisenden Aufsatz vorgestellte spätmittelalterliche, prälurianisch-mystische und mit magischen Elementen versehene Modell der Kawwanna von den osteuropäischen Chassidim der Frühzeit aufgenommen wurde, während das Lurianische Modell der Kawwannot-Lehre zur Meditation der Gebete von den Chassidim, dem Urteil der Mitnaggedim nach, zumindest in den Wilnaer Zirkeln keine Anwendung fand: Dies lässt sich bereits aus Semir Arizim ableiten, in welchem nur den altbekannten Kabbalisten, welche, im Ge273 Vgl. Josef Weiss, The Kawanoth of Prayer in Early Hasidism, in: The Journal of Jewish Studies (1958), 163 – 192; hier : 163. 274 Blumenthal, Art. Kavvanah, 853.

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gensatz zu den ›neuen‹ Chassidim, den »Weg der Wahrheit [d.h. der Kabbala] intendieren« (NB48 ýL7 @F A=D99?B9) diese Praxis zugetraut und auch weiterhin in ihrer separaten Klause gewährt wird.275 Leider geizen auch die chassidischen Quellen mit Informationen darüber, inwiefern die ›Gründungsväter‹ die Lurianischen Kawwannot praktizierten: »One cannot find any clear-cut statement or declaration of principle on the question of the Kavvanoth of prayer from the earliest days of the Hasidic movement.«276 So gibt es zwar vom Bescht keine explizite Gegnerschaft zur Praxis der Lurianischen Kawwannot während des Gebetes; Josef Weiss jedoch zweifelt, angesichts des Werdeganges Israel ben Eliesers vermutlich zu Recht, daran, ob er als Kabbalist über die notwendige Qualifikation für eine derartige intellektuelle Aufgabe verfügte, wie sie die Anwendung der Kawwannot im meditativen Gebet darstellt.277 Er zitiert als bedeutendste Stellen in diesem Zusammenhang einige den Legenden entstammende Passagen, die zwar keine explizite Anwendungen der Lurianischen Kawwannot darstellen, jedoch einige Schlüsse hinsichtlich der bescht’schen Gebetsintentionalität zulassen: »Von dem schon genannten R. Falk habe ich gehört: Als R. Gerschon aus Kutov vom Land Israel ins Ausland fuhr […] Es war ein Nachmittag vor Schabbat, als R. Gerschon beim Bescht eintraf. Er fand seinen Schwager beim Minchagebet, dessen Achtzehngebet der Bescht ausdehnte, bis die Sterne am Himmel aufleuchteten. R. Geschon betete inzwischen – gleichfalls nach dem Gebetbuch des Ari, s. A. – und las anschließend den wöchentlichen Bibeltext, zweimal hebräisch und einmal in Aramäisch. Sodann gebot er, dass man ihm Kissen bringe, damit er sich ein wenig zur Ruhe lege. In der Schabbatnacht beim Mahl fragte R. Gerschon seinen Schwager : »Warum hast du das Achtzehngebet so lange hingezogen? Auch ich betete doch mit den mystischen Intentionen [N9D99?5 =N@@HN8 ?’’6 =D4 ?’’?] und las obendrein den Wochenabschnitt zweimal hebräisch und einmal aramäisch, dann legte ich mich hin, um auszuruhn! Und die ganze Zeit stehst du bebend da, und betest und gestikulierst so vor dich hin!« So wollte er die Antwort seinem Mund entlocken, doch der Bescht blieb stumm und erwiderte kein Wort. R. Gerschon fragte ihn ein weitres Mal, und schließlich erklärte ihm der Bescht: »Wenn ich beim Beten zu den Worten ›der die Toten belebt‹ gelange […] und in Gedanken die Gotteskraft zur Einung bringe, kommen die Seelen von den Toten zu Tausenden und Myriaden, und mit einer jeden muss ich darüber reden, weshalb sie aus ihrem Teil verstoßen wurde. Dann erwirke ich ihr eine Sühneheilung, bete für sie und lasse sie nach Oben steigen. […]«278

275 Vgl. hierzu Weiss, The Kawanoth of Prayer, 166 ff. 276 Ebd., 168. 277 Ebd., 168.; vgl. auch die sehr deutliche Stellungnahme ebd., 169: »People with so limited a knowledge were certainly not considered well equipped fort he rather involved meditative art of Kawwannoth during prayer« oder die noch darüber hinausgehende Einschätzung in Fußnote 11. 278 SHB, H63; zitiert in ebd., 171.

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In diesem Zitat wird deutlich, dass der Bescht, der zunächst auf die Frage seines Schwagers nicht reagiert, in seinem Achtzehngebet keine Lurianischen Kawwannot praktiziert, sich vielmehr »with some highly individual meditative operations of his own devising«279 beschäftigte. Auch das andere Zitat, das Weiss den Schibche haBescht entnommen hat, läuft auf den selben Schluss hin: Der Bescht wandte durchaus Kawwannot in seinen Gebeten an, um auf den Lurianischen Kawwannot vergleichbare Weise in den Lauf der Welt einzugreifen, der diesseitigen sowohl als der Welt, die da kommt. Im oben zitierten Beispiel verharrte er so lange an einer Stelle des Achtzehngebetes, bis alle Seelen, die sich wegen ihrer Sühne an ihn gewandt hatten, abgehandelt sind. In einem anderen Beispiel wiederholt der Bescht eine einzelne, kurze Passage des Morgengebetes so oft, dass sein Mitbeter von diesem Zeitpunkt an vom gemeinsamen Gebet fern bleibt; erst später stellt sich heraus, dass der Bescht mit der Zitation der Passage ›Rosse helfen auch nicht; da wäre man betrogen‹ (Ps 33,17) und entsprechender Kawwanna einen Juden rettete, der den Schabbat im Feld verbringen musste und der von einem berittenen Räuber bedroht wurde – indem er den Weg des Pferdes verwirrte.280 Wie im vorgenannten Beispiel verwendet der Bescht hier nicht die Lurianischen, sephirotisch-kosmologisch orientierten Kawwannot, sondern eigene, viel eher der zeitgenössischen Rolle des Ba’al Schem gerecht werdende ›Kawwannot‹, um in einen sehr naheliegenden, konkreten Sachverhalt einzugreifen. Diese eigenen Meditations-Kawwannot während der Gebete mögen auf den Außenstehenden – den kabbalistisch gebildeten Schwager Gerschon Kutower ebenso wie den jungen R. Elijahu aus Sokolwka – den Eindruck gemacht haben, dass sich der Bescht der Lurianischen Meditationspraxis bediente; die Antworten Israels jedoch zeigen in beiden Fällen, dass es sich um eine improvisierte, höchst individualisierte Meditation der jeweiligen Gebetspassagen handelte, die zudem auf sehr konkrete Ziele gerichtet sind. Auch die anderen Beispiele, die Weiss zitiert281, stützen diesen Befund: Israel ben Elieser wusste von den Kawwannot (oder zumindest von ihrem Vorhandensein) und ihrer großen Bedeutung in den Kreisen der Kabbalisten, jedoch machte er keinen Gebrauch von ihnen.282 Vielmehr propagierte er eine emotionalere, konkretere, aber sehr kleinschrittige Meditationstechnik für Gebet und Studium, die man, auch im Sinne einer innerlichen Intentionalität, als »Anhaftung des Selbst an die

279 280 281 282

Ebd., 171. Zit. in ebd., 172. Etwa aus Jakob Josefs Polnoyers Ketonet passim; vgl. ebd., 174. Vgl. die »halbherzige« Fundstelle in einem recht späten Werk: »Der Ba’al Schem, g. A., sah, dass es notwendig war, mit Kawwannoth zu beten, aber er fand nur die Kawwannoth von R. Isaak Luria, also beteten sie aus der Notwendigkeit gemäß dieser Kawwannoth.« Zitiert in ebd., 176.

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Buchstaben [der Gebetstexte]« bezeichnen kann.283 Sie baut auf einer extremen Zerstückelung der Textebene der vorgeschriebenen Gebete in ihre kleinsten Bestandteile, die heiligen hebräischen Buchstaben, auf: Diese sind, und hier steht diese Technik ganz in der jüdisch-kabbalistischen Tradition, hochgradig bedeutungsimmanent, selbst ohne den Zusammenhang der semantischen Wortebene, da sie metaphysischen, ja sogar genetischen Ursprungs sind (Kraft des Wortes schuf Gott alles Sein). Ohne die erst durch die Kombination zu Wörtern vorgeschriebene Vokalisation sind sie aber ebenso hochgradig frei interpretierbar und somit in jede Bedeutungs- oder Verwendungsrichtung offen. Durch das Anschmiegen an diese kleinstdenkbaren semischen Einheiten und die Auslösung dieser aus dem semantischen Zusammenhang der im Gebetstext gegebenen Begriffe können sie zum Werkzeug der meditierenden Seele werden und ermöglichen die vom Bescht angewandte Technik des Eingriffs in das irdische oder überirdische Geschehen. Etwas metaphorischer ausgedrückt verwendet der Ba’al Schem die einzelnen Buchstaben als Stufen seines Auf- oder Abstiegs, um sich für sein Volk einzusetzen, indem er sich an den Willen des Schöpfers anhaftet und ihn beeinflusst. So wird für ihn »mit der richtigen Kawwanna jedes Wunder möglich.« Kawwanna wird somit schon beim Bescht zu einem Werkzeug zur Erreichung des zentralen Zieles der Devekut (s. u.).284 Diese Entwicklung setzt sich beim Großen Maggid fort: Durch ihn wird die Entfernung des chassidischen Kawwannotbegriffes vom klassisch-kabbalistischen verstärkt, ebenso wird der neue, chassidische ausdifferenziert: Er wendet sich klar gegen die definierten Kawwannot, die nur einer kleinen, elitären Gruppe von Kabbalisten zur Verfügung stehen, und die somit an Bedeutung weiter verlieren:

283 Vgl. ebd., 174; Weiss verwendet die englische Terminologie »attachment of oneself to the letters«. Grözinger, Jüdisches Denken. Bd. 2, 768 weist darauf hin, dass diese Theorie sich aus zwei Traditionen speist: »Die eine ist die neoplatonische Emanationskosmogonie und die andere ist die Schöpfungstheologie der antiken jüdischen Onomatologie, die in der Theorie vom Rad der Buchstaben im Sefer Jezira, der Emanationslehre des ’Avraham ’Abul‘afja, des frühen Gikatilla und des Sohar eine weitere Entwicklung erfuhr.« 284 Vgl. ausführlich zur Buchstabenmystik Beschts die Abschnitte II.B und III. des Kapitels Der osteuropäische Hasidismus – An anthroposophisch-mystisches Modell der Kabbala, in: Karl Erich Grözinger, Jüdisches Denken. Theologie – Philosophie – Mystik. Band 2, Frankfurt 2005; vgl. aber auch entsprechende Abschnitte in Tzava’at Harivash, z. B. #34: »Know that every word is a komah shelamah, a complete structure. Thus you must invest it with all your strength, otherwise it will be [defective], like missing a limb.« Ebenso #75: »Every letter contains ›worlds, souls and Divinity.‹ These ascend and become bound up and united with one another, with Divinity. The letters then unite and become bound together to form a word, becoming truly unified in Divinity. Man, therefore, must include his soul in each of these aspects. All worlds will then be unified as one and ascend […].«

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»This resembles a door which one opens with something which can break iron. Thus the ancients employed in meditation the Kavvanah suitable for each thing. Now that we have no Kavvanah only the breaking of the heart will open [the door] to everything.«285

In dieser Erklärung, die mit der rhetorischen Figur des Niedergangs mehr als deutlich den Bruch mit dem herkömmlichen Verständnis der Kawwannot verkündet, klingt die chassidische Betonung der enthusiastischen Herzensreligion bereits durch, welche in folgender Stellungnahme des Maggid noch viel deutlicher wird: »He who meditates in prayer on all the Kavvanoth he knows can do no more than meditate on those Kavvanoth which are known to him. But when he says each word with great attachment all the Kavvanoth are by that very fact included since each and every letter is an entire world. When he utters the word with great attachment, surely those upper worlds are awakened, and thus he accomplishes great operations. Therefore, a man should see to it that he prays with great attachment and enthusiasm [N958@N8]. Then surely he will accomplish great operations in the upper worlds for each letter awakens [things which are] above.«286

Zwei wichtige Entwicklungen lassen sich im Zusammenhang der Frömmigkeit aus diesem kurzen Absatz ableiten: Zum einen kommt es zu einer Verwischung der eigentlich inhaltlich getrennten Begriffe bzw. Sachverhalte von Kawwanna und Devekut: Im Chassidismus, vor allem der maggidischen Zeit und später, wird der Vorgang der Meditation der Kawwanna zu einem Teil des chassidischen Frömmigkeitsideals der Devekut, des Anhaftens, wenn nicht gar zu einem Synonym. Die Meditation der Kawwannot, um es in den Worten des Großen Maggid zu sagen, ist in der Anhaftung bereits enthalten. Zum anderen bzw. ausgehend von dieser Beobachtung lässt sich vermerken, dass der ursprünglich vor allem intellektuelle Anspruch dieser Meditationstechnik umformuliert wird zu einem »intensely emotional and highly enthusiastic act«287: »in Hasidism Kavvanoth were de-intellectualised«288, was für die Frömmigkeitspraxis sowohl den Verlust einer zentralen kabbalistischen Meditationspraxis zur Folge hat als auch eine hochgradige Emotionalisierung. »The hasid sought to break down the barriers between himself and God without any fixed ›keys‹«289. Die Argumentation, die hier hinter steht und die vor allem von Dov Bär initiiert und von einigen seiner Schüler weiter ausgearbeitet wurde290, besteht darin, dass eine 285 286 287 288 289

Weiss, The Kawanoth of Prayer, 177 zitiert hier aus Or haEmeth. Or haEmeth, zitiert in ebd., 178. Ebd., 178. Ebd., 178. Rivka Schatz-Uffenheimer, Hasidism as mysticism. Quietistic elements in eighteenth century Hasidic thought, Princeton, Jerusalem 1993, 240. 290 Vgl. hierzu etwa die ebd., 219ff zitierten Passagen aus R. Ze’ev Wolfs Or haMe’ir, vor allem die Parabel, die er im Namen Beschts anführt, ebd., 221 f.

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Meditation der Lurianischen Kawwannot vom eigentlichen Ziel der Devekut ablenkt.291 Denn selbst die vollständige Beherrschung der Lurianischen Kawwannot bleibt vor diesem Ziel defizitär, da sie den »necessary ›push‹ to that encounter with the Godhead in which man becomes part of the ›divine body‹« nicht gibt.292 Mit dem Schwerpunkt auf der Begeisterung wird der Praxis der geistigen Anhaftung keineswegs ihr Anspruch genommen – schließlich müssen sich die osteuropäischen Chassidim, den gegnerischen Schilderungen nach, ebenso wie die ›alten Chassidim‹ eine Stunde auf ihre Gebete vorbereiten – jedoch verlangt die Steuerung oder Aufrechterhaltung von Hithlachawut, Begeisterung, während des Anhaftens Fähigkeiten, die keineswegs nur der in der Kosmologie Lurias bewanderte Kabbalist mitbringt. Diese Steuerung, verstanden als zielgerichteter Aufbau eines emotionalen Spannungsbogens, die mit der »Ressource der Emotionalität« wirtschaftet, wie Weiss es ausdrückt, wurde bereits im frühen Chassidismus entwickelt. Eine Anleitung für ein solches ›Wirtschaften‹, »which begins with activistic enthusiasm and ends in the loss of the I and silencing of all the capabilities of the soul […]«293 bietet Jakob Josef: »I have heard it from my master […] that one ought to fortify oneself before prayers in order that one may have mind for prayer… And this by means of Psalms and Torah with which one should occupy oneself at the commencement. Consequently, when one stands up to pray, one has a mind for it… there is, however, the case when one multiplies reciting Psalms or Torah before prayers and, as a result, has no mind for prayers. This, then, is the significance of what was said ›it is all one whether a man does much or little, if only he directs his heart towards Heaven‹, i. e., that he has mind for prayers …«294

Noch deutlicher wird die angestrebte Erlangung der höchsten devotionalen Konzentration, des Anhaftens an den Schöpfer zum Zeitpunkt des Betens des bedeutendsten Abschnittes des Gebetes im ›Testament‹ Beschts ausgedrückt, wobei auch hier die Metapher der Wirtschaftlichkeit durchaus passt: »Do not recite many Psalms before prayer so that you will not weaken your body. By exerting your strength before prayer with other things you will not be able to recite with deveikut the main thing, i. e., the mandatory [prayers] of the day – the ›Hymns of Praise,‹ the Shema and the Amidah. Thus say first the main thing with deveikut. Then, if God gives you additional strength, recite Psalms and the Song of Songs with deveikut.«295

291 292 293 294 295

Rapoport-Albert, God and the Zaddik; hier : 315 ff. Schatz-Uffenheimer, Hasidism as mysticism, 215. Ebd., 241. Toldot Jakob Josef, zitiert in Weiss, 181. Tzava’at Harivash, #38.

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Vergleichbar wird es auch in #32 ausgedrückt: »When praying, advance in gradual stages. Do not exhaust all your stregth at the beginning of prayer. Commence with composure and in the midst of prayer attach yourself with great deveikut. Thus you will even be able to recite the words of the prayer with expeditiously.296 Though unable to pray with deveikut at the outset of prayer, recite the words with great kavanah. Strengthen yourself bit by bit until [God] will help you to pray with intense deveikut.«

Die Einordnung der chassidischen Vorstellung der Intentionalität für die Frühzeit der Bewegung als eigene Stufe in der Entwicklung der Kawwanna hat, dies soll noch einmal präzisiert werden, einige aufschlussreiche Feststellungen ergeben: Es wurde deutlich, dass insgesamt eine Simplifizierung der hehren Methode intellektueller Konzentration erfolgt, die zu einem emotionalisierten Modell überleitet. Hierdurch wiederum geschieht, sozusagen als Nebeneffekt, eine neue Rückbindung an den Gebetstext, von dem sich der mit den Lurianischen Kawwannot Betende durch die definierten Bedeutungshorizonte entfernt haben mag – denn der Verlust der literarischen Bedeutung ist durch die Meditation anderer Bedeutungsfelder grundsätzlich zu befürchten.297 Dieses neue, chassidische Modell baut auf das menschliche Gefühl, nicht den Intellekt, wenn es die richtige zielgerichtete Intention anstrebt. Begeisterung (s. o.: N95;@N8) oder der Einsatz des Herzens können jedem, der betet – oder Mizwot erfüllt – die Türen zum Thron Gottes öffnen, so dass er sich an den Strom göttlichen Willens anhaften kann. Jedoch können mit der rechten Intentionalität auch ganz konkrete Ziele erreicht werden, wie das Beispiel Beschts belegt. Angesichts der Erwähnung dieses theurgischen Vorganges in den mitnaggedischen und maskilischen Schriften, die allesamt aus der Zeit nach dem Tod Israel ben Eliesers stammen, ist davon auszugehen, dass dieser magische Gebrauch der Kawwanna auch über die Zeit des Ba’al Schems hinaus Verwendung fand. Kawwanna erfährt durch die frühen chassidischen Oberhäupter eine Rückbesinnung zu dem, was der Begriff in seiner eigentlichen Bedeutung ausdrückt: die Intentionalität des Handelnden in Hinsicht auf seine Handlung. So wird der Wert der Handlung selbst, und dies drückt sich letztlich in allen gegnerischen Vorwürfen aus, zugunsten der Innerlichkeit relativiert: Das Fasten etwa ist an sich wertlos, sogar schädlich, wenn es auf etwas abzielen sollte außer der Ehre Gottes: »When serving God, have in mind nothing but to bring gratification to 296 Hierzu vgl. Tzava’at Harivash, #36: »Manchmal kannst du sehr rasch beten, denn die Liebe Gottes brennt in deinem Herzen sehr stark und die Worte fließen von alleine aus deinem Mund.« 297 Wobei dieser Schritt, wie ebd., 185 belegt, erst in der dritten resp. in noch späteren Generationen der Zaddikim völlig entfaltet wird.

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the Creator, blessed be He, and not the attainment of [high] levels.«298 Eine religiöse Tat ist zwar per se gut, allerdings kommt es nicht auf die Handlung selbst, sondern auf die Intention des Handelnden an.299 Jeder kann so Gott nach seinen Fähigkeiten dienen, solange es nur mit ganzem Gemüt und ganzer Kraft geschieht.300 Jedoch gilt dieses Streben keineswegs nur für dezidiert spirituelle Handlungen, sondern letztlich soll jeder Gedanke, jedes Ereignis auf den Höchsten hin interpretiert werden: »If you suddenly happen to see a beautiful woman, think to yourself: ›Whence is her beauty? If she were dead she would no longer look this way ; thus where does her [beauty] come from? Per force it must be said to come from the Divine force diffused within her. It gives her the quality of beauty and redness. The root of beauty, therefore, is in the Divine force. Why, then, should I be drawn after a mere part! I am better off in attaching myself to ›the root and core of all worlds‹ where all forms of beauty are to be found. […]«301

Chassidische Kawwanna ist weniger formaler Gottesdienst als Lebenshaltung: Das ganze Sein wird auf »die göttliche Kraft« ausgerichtet, weshalb auch etwa der Kompilator des Testaments des Ba’al Schem nicht müde wird, Beispiele hierfür anzuführen, wie etwa die Schönheit eines Gefäßes (deren bloßer Materialwert nichtig ist), der Geschmack und die Süßigkeit von Speisen und ähnliches.302 Insofern erfährt die ganze Lebensführung eine Intentionalisierung, das chassidische Leben wird insgesamt spiritualisiert. Mit dem Wandel des Kawwannaverständnisses vom Lurianischen zum chassidischen Typus, vom kosmologischen Telos der Vereinigung der Sefirotwelt zu dem Bestreben der Verneinung des eigenen Selbst während des Gebetes303, erfährt das Prinzip der Intentionalität spirituellen Handelns aber nicht nur eine Konkretisierung und Emotionalisierung, sondern auch eine Popularisierung, da nicht mehr nur Angehörige esoterischer Kabbalistenkreise die Kawwannot meditieren können. Vielmehr wird die Anforderung zielgerichteter Intentionalität an jeden gestellt, was sich etwa in der allgemeinen Adressierung des ›Testaments des Ba’al Schem‹, aber auch seinem Untertitel Regeln für aufrechtes Verhalten widerspiegelt.

298 Tzava’at Harivash, #47. 299 Eine prominente Ausnahme bildet das Torastudium: Es soll leschma, um seiner selbst willen, erfolgen, nicht um der Befolgung des Gebotes willen. Vgl. das 5. Kapitel von Wertheim, Law and Custom, 73 ff. 300 Tzava’at Harivash, #12. 301 Tzava’at Harivash, #90. 302 Vgl. ebd., aber auch an diversen anderen Stellen. 303 Vgl. Schatz-Uffenheimer, Hasidism as mysticism, 229.

Die Frömmigkeitsmerkmale in den frühen chassidischen Quellen

2.6

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Das absonderliche Gebetsgebaren der Chassidim

Vier Vorwürfe hatten sich hinsichtlich des chassidischen Verhaltens während der Gebete in den gegnerischen Quellen als Hauptanklagepunkte erwiesen: das ekstatische, »wahnsinnige« Gebaren während der Gebete, der Verstoß der Chassidim gegen die traditionell vorgeschriebenen Gebetszeiten, die Abänderungen des Ritus (mitsamt des Austauschs des Siddurs) und die Einflechtung von mutmaßlich jiddischen Interjektionen in die heiligen hebräischen Gebete, welche hierdurch nach mitnaggedischer Ansicht verstümmelt wurden. Diese vier Vorwürfe, die oben als spezifische Merkmale chassidischer Frömmigkeit bezeichnet wurden, gilt es nun vonseiten der bewegungsimmanenten Quellen zu analysieren. Einleitend lässt sich feststellen, dass von chassidischer Seite kein Versuch gestartet wird, die Vorwürfe zu entkräften. Mehr noch: Die frühen chassidischen Quellen erheben die von den Gegnern als »Greuel«, »Frevel« oder schlicht als Absonderlichkeiten bezeichneten Besonderheiten chassidischen Betens oftmals zum Ideal. Viele der nicht chassidischen Beter sind nach chassidischer Auffassung nämlich »humble regarding spiritual matters, being satisfied with a minimum, but this is not the case with material matters, the pleasures of this world, for they feel that no one is entitled to wealth and honor except themselves.«304

Jakob Josef, von dem diese Kritik stammt, sieht auch das jüdische Beten, das »durch seine erhabene Natur leicht profanisiert wird«305, als Opfer des allgemeinen spirituellen Niedergangs. In einer Nebenbemerkung überträgt er die Inspektion der Synagoge vor dem Passahfest auf den Zusammenhang des Betens: »It is well that we are taught to ›examine‹ the synagogues too, for the houses of study and the houses of prayer need to be searched for the hametz [IB;, Sauerteig] of the yetzer hara, the evil impulse. Thus we must search out the custom of honoring and ›raising‹ a man when he attends services on the Sabbath or on a holiday… because very often he comes only for that honoring. Likewise, it is well to search out the idle gossip, arguments, jealousy and hatred there.«306

Ist das chassidische Beten mit allen oben von gegnerischer Warte beschriebenen Sonderbarkeiten also letztlich als Appell zu verstehen, das Gebet wieder in seiner spirituellen Bedeutung zu würdigen? »There is no doubt whatsoever that prayer occupied a central place in early 304 Toldot Jakob Josef, 127b, zit. u. übers. in Dresner, The Zaddik, 33 f. 305 Ebd., 33. 306 Toldot Jakob Josef, zit. u. übers. ebd.

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Hasidic life […].«307 Über das Beten des Bescht etwa, der von sich selbst bekundet haben soll, dass sich ihm die überirdischen Dinge nicht aufgrund seiner Talmud- und Gesetzesstudien, sondern wegen seines Gebetes offenbart hätten308, gibt es in den Schibche haBescht eine Vielzahl von Passagen, die in der Tat ohne weiteres ein Anknüpfen an die gegnerischen Vorwürfe einfach machen. Hierzu einige Beispiele: [1] »Es geschah, als man einmal, am Neumond oder an den Zwischenfeiertagen des Pessachfestes, das Hallel sprechen musste. Der genannte R. Avraham leitete das Morgengebet am Vorbeterpult, während der Bescht an seinem Platze betete – denn es war sein Brauch, erst vom Hallel an selbst vorzubeten. Plötzlich, beim laut gesprochenen Achtzehngebet, begann der Bescht zu zittern und bebte immer stärker – wie er beim Beten überhaupt stets so heftig zitterte, dass es jeder erkennen konnte, der ihn sah. Und als R. Avraham das laut gesprochene Achtzehngebet beendet hatte, blieb der Bescht an seinem Platz und bebte, ohne sich anzuschicken, zum Pult nach vorn zu gehen. R. Wolf Kuzes, der Chassid, näherte sich dem Bescht und schaute auf sein Angesicht. Und siehe da, es brannte hell wie Fackeln, seine Augen traten vor, sie standen starr und waren, Gott bewahre, weit geöffnet wie beim Todeskampf. […] Auch danach, nachdem er das Kaddischgebet beendet hatte, blieb er weiter zitternd stehen, so dass man mit der Lesung der Tora noch warten musste, bis er endlich wieder ruhig war.«309 [2] »Nicht nur dies! Der Rav der heiligen Gemeinde Polnoj, der Verfasser des Buches Toledot Ja’akov Josef, hat mir folgendes erzählt: Einmal, als der Bescht betete, stand in seiner Nähe ein großes Gefäß mit Wasser, und man sah, wie das Wasser wogte, hin und her. Denn die Schechina, die Gottesgegenwart, ruhte wahrhaftiglich auf ihm, und davon bebte die Erde, wie in der Schrift geschrieben steht: ›Weil der Herr im Feuer auf ihn herniedergestiegen war […] erzitterte der ganze Berg gar sehr.‹ Auch wenn dies selbst nicht sichtbar war, so war es an dem Wasser deutlich zu erkennen.«310 [3] »Außerdem hörte ich von unserem Lehrer […]. Es war einmal an einem Feiertag – es war der erste Tag von Pesach oder der letzte von Sukkot – und ich sollte den Regen oder den Tau-Segen sprechen. Der Bescht leitete das Gebet am Pult in tiefer Inbrunst und mit lautem Schreien – seine Auserwählten haben mir gesagt, dass er auf diese Weise stets alle mit neuem Mut erfüllte […].«311 [4] »Gleichfalls hörte ich von R. David Furkes, dem Chassid aus Mesibos, dass der Bescht unterwegs einmal in einem Haus an der Ostwand betete. Gegenüber bei der Wand standen Getreidefässer. Und man konnte sehen, wie das Getreide bebte.«312 307 Louis Jacobs, Hasidic Prayer, in: Hundert, Essential papers on Hasidism, 330 – 362; hier : 330. 308 Ebd., 330. zitiert aus Keter Schem Tov, einer oben bereits erwähnten Sammlung von Lehren Beschts, inhaltlich und formell vergleichbar dem hier wiederholt angeführten Tzava’at Harivash. 309 SHB, H54. 310 SHB, H55. 311 SHB, H56. 312 SHB, H57.

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[5] »Ebenso hörte ich aus dem Munde unseres Lehrers, des Rav und Chassid Gedalja, seligen Angedenkens: Einmal betete der Bescht in einem Dorf das Nachmittagsgebet in der Speicherkammer, in der viele Fässer voll Getreide standen. Und als er betete, da tanzten die Fässer wegen jenes Zitterns, wie geschrieben steht: [›Und der ganze Berg Sinai rauchte] weil der Herr im Feuer auf ihn herabgestiegen war […] da erzitterte der ganze Berg gar sehr.‹«313

An Dramatik stehen diese Schilderungen in keiner Weise den mitnaggedischen oder maskilischen Beschreibungen chassidischen Betens nach – nur, dass die chassidischen Autoren eben das beschtsche Gebet nicht als Gräuel, sondern als Ideal darstellen. Es lohnt, etwas genauer auf die zitierten Beispiele einzugehen, um bereits einen ersten Eindruck dieses ›Ideals‹ zu bekommen. Zunächst einmal sei der Blick auf das äußerlich sichtbare, ja greifbare ekstatische Gebaren gerichtet: Ihm wird einerseits eine regelrechte Materialität zugesprochen, indem die ihn umgebenden Vorräte zu tanzen und zu wogen anfangen, während er in sein Gebet vertieft ist (etwa die Beispiele [2], [4], [5]). Erklärt wird diese physische Auswirkung auf seine Umgebung im zweiten Beispiel mit der Anwesenheit der Schechina. Beachtenswert ist jedoch diese physische Greifbarkeit des beschtschen Betens auch wegen der erläuternden Formulierungen der Beispiele [2] und [5]314 : Durch die Anlehnung an die Theophaniepassage Ex 19,16 – 18 (»Der ganze Berg Sinai aber rauchte, weil der HERR auf den Berg herabfuhr im Feuer; und der Rauch stieg auf wie der Rauch von einem Schmelzofen und der ganze Berg bebte sehr«) knüpft der Kompilator der Sammlung im Namen des Bescht an die lange literarische Tradition der Gattung der ›Sinai-Gegenwart‹ an.315 In der Beschreibung des Gebetes des Ba’al Schem Tov drückt sich mit diesen beiden – im zweiten Beispiel gar gekoppelten – Figuren (Schechina und Sinaigegenwart) gleich in zweifacher Weise das Bedürfnis nach mystischer Gottesnähe aus und wird auf chassidische Weise aufgelöst: Mit dem Beten des chassidischen Oberhauptes ist Gott gegenwärtig, was durch das Wogen von Wasser und Getreide als manifesten Sinai-Erscheinungen greifbar wird. Gleichzeitig aber wird auch Gottes Tora vergegenwärtigt, die am Sinai Mose übergeben wurde, indem die »vollgültige und vollmächtige sinaitische Offenbarung«316 in Form des wirkmächtigen Gebetes des chassidischen Oberhauptes in der Gegenwart des auslaufenden 18. bzw. beginnenden 19. Jahrhundert präsent wird. In dieser sich im Gebet manifestierenden Gottesnähe und Toraaktualität, dies führt Beispiel [3] vor Augen, entfaltet sich für die Mitbetenden 313 SHB, H59. 314 In den Schibche haBescht gibt es hierüber hinaus noch weitere vergleichbare Beispiele. 315 Vgl. allgemein zur literarischen Gattung der ›Sinai-Gegenwart‹ Karl Erich Grözinger, Die Gegenwart des Sinai. Erzählungen und kabbalistische Lehrstücke zur Vergegenwärtigung der Sinaioffenbarung, in: Frankfurter judaistische Beiträge 16 (1988), 143 – 183. 316 Ebd., 166.

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natürlich eine enorme erbauliche Wirkung (der hebräische Passus des dritten Beispieles hierfür lautet A@9? M4L 4MDB ’=8 =?), was wiederum die Bedeutung des chassidischen Betens von den spirituellen Höhen der Gottesgegenwärtigkeit in die Niederungen menschlichen Fühlens hinabzieht – ohne freilich die kosmologische Bedeutung zu schmälern. Jedoch weisen die Erzählungen keineswegs nur auf das – zugegeben auffällige – äußerliche Gebaren hin, sondern bieten auch vielfach Begründungen für die sonderbaren, oft zunächst unerklärlichen Zustände der viel gelobten Beter. Meist wird die Involviertheit der aufgestiegenen, vom Körper gelösten Seele beim Beten begründend angeführt: Etwa erklärt H58 das recht sonderbare Verhalten des Ba’al Schem mit seinem Ringen mit dem Satan, der die gesprochenen Gebete an ihrem Aufstieg hindern möchte: Während nun die Seele ringt, ist es dem Körper unmöglich, still zu sein. Auch in H61a verhandelt der Bescht mit den Engeln, wieder vor allem mit Samael, um den Aufstieg der Gebete von sage und schreibe 50 Jahren, was sehr auffällige körperliche Regungen mit sich bringt (»Er weinte, legte seinen Kopf nach hinten auf das Pult, seufzte und schrie […] Indessen traten seine Augen weit hervor, er brüllte wie ein Stier, der auf der Schlachtbank liegt – so ging es gut zwei Stunden lang«). H63 begründet die Gestik des Bescht während seines Achtzehngebetes mit Verhandlungen um den Tikkun wartender Seelen. Jedoch wird vonseiten der Legenden keineswegs nur das auffällige Gebetsgebaren des Bescht belegt; auch andere Granden – unter ihnen weniger bekannte Figuren – des frühen Chassidismus werden wegen ihres »lieblichen Betens« in den Schibche haBescht gelobt: Über Jakob Josef etwa heißt es: »Wenn er lernte und betete, oder sonst etwas Heiliges verrichtete, tat er es mit solcher Macht, dass das Fleisch seines Leibes bebte.«317 R. Avraham, »der Engel«, der Sohn des Großen Maggid, ist einmal derart von Gottesfurcht erfasst, dass ihm das Beschneidungsmesser aus der Hand gleitet318 ; R. Judel lässt sich durch R. Nachmans Singen derart entflammen, dass er, »nur im Hemd«, ins Lehrhaus läuft und »gut zwei Stunden lang« tanzt319 ; über das Gebet eben dieses Nachmans erfahren wir : »Wenn R. Nachman beim Beten seufzt und stöhnt, bricht es das Herz aller, die es hören, und man glaubt, man sei zerrissen in zwei Teile.« »Dazu sagte der Bescht einmal: ›So weit R. Nachman gekommen ist, weiß man, was Beten heißt, nicht aber an Orten, die er noch nicht erreicht hat‹«320 ; R. Nachmans Gebet kann, da es »süßer als Honig und Honigseim« ist, sogar seine übel provozierten Gegner zunächst besänftigen321. Insgesamt sind die Hinweise auf das, um es vorsichtig 317 318 319 320 321

SHB, H75. Vgl. SHB, H97. Vgl. SHB, H133. Ebd. SHB, H135.

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auszudrücken, emotionale Gebet der frühen Chassidim Legion, wobei die Darstellung der Legenden lediglich das Gebet berühmter Chassidim preist, während die Schilderungen der Gegner auf ein weit verbreitetes Phänomen, auch der Massen, deuten. An Belegen für das ekstatische Beten der frühen Chassidim mangelt es demnach nicht. Interessant ist jedoch auch die Frage, inwiefern in den frühen chassidischen Quellen zu jenen ekstatischen Zuständen während der Gottesdienste angeleitet wird – und unter welchen Zielsetzungen eine solche Anleitung erfolgt. Die Frage ist demnach nach der Anlage des ekstatischen Betens zu stellen, wofür wieder die anleitenden Schriften in den Fokus gerückt werden sollen. Das Gebet nimmt, etwa in Tzava’at Harivash großen Raum ein. Letztlich handelt es sich sogar um das am häufigsten behandelte Thema der ganzen Sammlung: 40 der 143 Abschnitte haben das rechte Gebet zum Gegenstand, was durchaus auf die Prominenz des Themas und seine allgemeine, populäre und keineswegs nur elitäre Bedeutung hinweist. Doch wie ist nun das rechte Gebet nach chassidischer Auffassung angelegt? Grundsätzlich gilt für das Gebet, was für jede Handlung des Chassids gilt: Die Motive für das eigene Handeln sollen immer »um des Himmels willen« sein.322 ›Motto‹ des Betenden muss somit auch hinsichtlich des Gebets Spr 16,3 sein: »Befiehl dem HERRN deine Werke, so wird dein Vorhaben gelingen«. Was oben bereits im Zusammenhang der chassidischen Zuversicht zitiert wurde (»you must realize that whatever happens is from God, blessed be He.«323), gilt auch – entgegengesetzt – fürs Gebet: »See to it that you request from God always to visit upon you that which God knows to be for your benefit, as opposed to that which appears to be so to the human mind. For it is quite possible that what is good in your eyes is really bad for you. Thus commit unto God everything, all your concerns and needs.«324

Das gute, weil wirksame Gebet ist, als Folge hieraus, keineswegs jenes, in welchem der Betende alle seine weltlichen Nöte Gott vorträgt und um ihre Beseitigung bittet. Vielmehr müssen alle weltlichen Begierden im Gebet abgelegt werden, da sie ein Werk des bösen Triebes sind, der den Betenden von Gott fern halten will: »Whatever you do, have in mind to give gratification to your Creator, blessed be He, and do not think – even a little – of your own needs. Even the expectation of personal delight from your service is for one’s own concerns.«325 322 323 324 325

Tzava’at Harivash, #2 – 3. Tzava’at Harivash, #4. Tzava’at Harivash, #4. Tzava’at Harivash, #11.

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In jedem Moment des Gebetes soll dieses Prinzip bewusst sein: »First and foremost be careful that every motion in the Divine service be without ulterior motives, Heaven forbid. This requires profound wisdom ›exceedingly deep, who can find it out?‹ (Ecclesiastes 7:24) There is then no alternative but to retain constant awareness of this principle. Do not divert your mind from it, even for a moment, for it is a matter that is flawed by distraction.«326

Im Gebet muss sich der Chassid von weltlichen Belangen gänzlich loslösen. »Während des Gebetes muss man der materiellen Wirklichkeit gleichsam beraubt sein, unbeachtet des Daseins in dieser Welt.«327 Er darf im Zuge dessen auch nicht um die Erfüllung seiner Wünsche beten, da ihn dies von der richtigen Ausrichtung seines Gebetes abbringen würde. Stattdessen muss er sein ganzes Streben auf Gott ausrichten: »do not pray for that which you lack, for then your prayer will not be acceptable. If you wish to pray, do so for the sake of the ›heaviness in the Head,‹ For whatever you lack, that same deficiency is in the Shechinah […] Any deficiency in a part, therefore, applies to the Whole as well, and the Whole senses the deficiency of the part.«328

Ideal ist das Gebet Jakob Josefs, der, als »er einmal in irgendeiner Angelegenheit zum Fürsten der heiligen Gemeinde Raschkov fuhr, […] unterwegs betete und […] sein Anliegen so darein [in das Gebet ›und er ist barmherzig‹] kleidete, als bete die Schechina selbst vor dem Gott Israels mit dem Wunsch, der seinem glich.«329 Das ist es, was die chassidische Kawwanna des Gebetes meint: Das Gebet soll nicht um der eigenen Belange willen gesprochen werden, sondern soll die kosmologisch-sefirotische Ebene intendieren, die den Menschen letztlich auch mit erfasst. Kawwanna nun, verstanden als Intentionalität und als Andacht, ist ein Grund für das ekstatische Gebaren während der Gebete, die eine solche geistige Anstrengung erfordern, dass sie sich auch physisch manifestieren können. Eben diese Ausschläge sind es, die die Gegner monieren und die die Chassidim selbst gar nicht abstreiten. Das eigentliche Ziel der Anhaftung (s. u.) kann nun einmal nicht ohne Anstrengung erreicht werden: »When praying, advance in gradual stages. Do not exhaust all your stregth at the beginning of prayer. Commence with composure and in the midst of prayer attach yourself with great deveikut. Thus you will even be able to recite the words of the prayer expeditiously. Though unable to pray with deveikut at the outset of prayer, recite the 326 327 328 329

Tzava’at Harivash, #15. Tzava’at Harivash, #63 stellt ein Zitat aus dem Schulchan Aruch dar. Tzava’at Harivash, #73. SHB H166.

Die Frömmigkeitsmerkmale in den frühen chassidischen Quellen

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words with great kavanah. Strengthen yourself bit by bit until [God] will help you to pray with intense deveikut.«330

Diese Andacht zu erlangen und aufrecht zu erhalten, was, es sei erinnert, die Entkörperlichung voraussetzt, ist keine einfache Aufgabe und erfordert alle geistigen und körperlichen Ressourcen des Beters – und kann seine Möglichkeiten auch durchaus überfordern. Deshalb »before praying have in mind that you are prepared to die from kavanah while praying. Some concentrate so intensely that it may be natural for them to die after reciting two or three words before God, blessed be He. […]«331

Überhaupt »it is impossible to pray with kavanah without exertion. You must entreat God for help and assistance. […] If, in the end, you feel weak and the deveikut is lost, what can you do? Pray to the best of your ability with lesser kavanah until the end of Aleinu.«332

Die enorme Konzentration, die ein gutes Gebet fordert, ist demnach ein Grund für das ekstatische Gebaren der Chassidim. Dementsprechend taucht auch der Hinweis, dass ein solcherart emotional involviertes Gebet schwieriger durchzuführen sei als das Studium, etwa des Talmuds, nicht selten auf333 und erklärt gleichsam die hohe chassidische Wertschätzung des Gebetes gegenüber dem Studium.334 Daneben gibt es jedoch Passagen, die der Bewegung – dem sich Wiegen et cetera – während des Gebetes auch einen Eigenwert beimessen, da hierdurch Devekut möglich wird: »Prayer is zivug [69:] (coupling) with the Shechinah. Just as there is motion at the beginning of coupling, so, too, one must move (sway) at the beginning of prayer. […] As a result of your swaying, you can attain great bestirment. For you think to yourself: ›Why do I move myself ? Presumably it is because the Shechinah surely stands before me.‹ This will effect you a state of great hitlahavut.«335

In gewagter Sexualmetaphorik wird uns hier die körperliche Bewegung, genau genommen das sich Wiegen, nicht als Resultat des seelischen Kampfes oder des Aufstiegs der Seele, sondern vielmehr als deren Voraussetzung vorgeführt: Nur durch die mit der Bewegung des Paarungsaktes vergleichbare physische Bewegung schafft es auch die Seele, sich mit der Schechina (die ja meist als weiblicher Aspekt Gottes verstanden wird!) zu verbinden. 330 331 332 333 334 335

Tzava’at Harivash, #32. Tzava’at Harivash, #42. Tzava’at Harivash, #60 – 61. Vgl. etwa SHB, H136a. Vgl. hierzu etwa den schon zitierten Absatz #41 in Tzava’at Harivash. Tzava’at Harivash, #68.

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Weg von der Polemik: Innenansichten

Es sei darauf hingewiesen, dass es ebenso einige Stellen gibt, in denen deutlich wird, dass chassidisches Beten nicht zwangsläufig mit ekstatischem Brüllen und Tanzen gleichzusetzen ist: »You must learn and train yourself to pray with a low voice, even the Hymns [of Praise], and to cry out silently. […] An outcry rooted in Devekuth is silent.«336 »Sometimes one can recite the prayers with love and fear, and great hitlahavut, without moving at all, so that to another it may appear that he is saying the words without any deveikut. [when strongly attached to God] one can serve Him with the soul [alone], with imens and great love [of God]. This is the best kind of worship. It proceeds faster, with great deveikut to God, than prayer that is externally visible in the limbs. Kelipah (»husk«; force of evil) cannot attach itself to this (ideal) prayer, because it is altogether inward.«337

Körperlich-emotionale Involviertheit ist demnach nicht unbedingt chassidisches Ideal beim Gebet, wie es die Gegner darstellten; jedoch ist sie häufig notwendig und somit Mittel zum Zweck, um der Seele zur Anhaftung zu verhelfen. Ist der ideale spirituelle Zustand der Devekut erst einmal erreicht, sind Mittel der Ekstase wie Schreien, Wiegen oder Tanzen gar nicht mehr zwingend erforderlich, eventuell gar hinderlich338 ; nur, wenn die Devekut zu schwinden droht, muss wiederum der Körper in Bewegung gesetzt werden, damit die Kraft der Seele »weiterhin leuchten kann«339 ; danach »wirst du in der Lage sein, mit der Seele allein zu dienen, ohne Bewegungen des Körpers.«340 Niemals aber ist die Ekstase selbst Ziel oder »gestellte Aufgabe in der religiösen Verkündigung […]. Sie ist eine schwindelerregende Gabe, ein seliger Zustand […]«341, in dem die Loslösung von allem störenden Weltlichen manifest wird, ein Zeichen für die Überwindung des Jezer hara. Diesen Aspekt chassidischen Betens abschließend sei noch auf eines jener Zeugenvernehmungsprotokolle hingewiesen, die »bezüglich der Taten der Chassidim zwischen den Jahren 1772 und 1774« von Mitnaggedim angestellt und in der polemischen Sammlung Scheber Poschejm überliefert wurden.342 In dem

336 337 338 339 340 341 342

Tzava’at Harivash, #33. Tzava’at Harivash, #105. Tzava’at Harivsh, #59. Tzava’at Harivash, #58. Tzava’at Harivash, #58. Ysander, Studien zum bestschen Hasidismus, 209. Im folgenden verwende ich die Edition von Wilensky, Hasidim and Midnaggedim, 75 ff, wo die Vernehmungen im ersten Band alleinstehend unter dem Titel 7’’@KN ,5’’@KN A=DM5 A=7=E;8 =MFB @F N9=97F N==56 ediert sind; im zweiten Band Wilensky, Hasidim and Midnaggedim (2), 9ff ist die Sammlung Scheber Poschejm (A=FM9H L5M) ediert, in der die Vernehmungsprotokolle (138ff, s. v. N9=97F N==56) den Weg in die Moderne fanden; zur Sammlung Scheber Poschejm vgl. das (hebr.) Vorwort in ebd., 9 – 52; vgl. zu formalen

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Verhör, das wie die anderen Verhöre vermutlich in Amdur343 stattfand, tragen einige Zeugen vor, was sie selbst erlebten: »Ich habe gesehen, wie Rabbi Schalom […] sich mit Rabbi Ruben beim Minjan am Schabbat-Abend für den Schabbat-Empfang in Rock und Hut übergeworfen hat […], und Schabbat früh nach dem Dawnen noch einmal […].«344 »Ich habe mich übergeworfen viele Male.«345

Auf die Frage nach einer Begründung für dieses seltsame Gebaren des Purzelbaumschlagens geben die Protokolle zwei Antworten aus chassidischem Mund wieder : »Da haben wir das Oberhaupt gefragt: Was ist der Grund […]? Da hat er gesagt: Ich habe von den ganzen Chassidim gehört, die im Minjan sind, dass, wenn den Menschen Größe überkommt, dann muss er sich überwerfen.«346 »Wieder kam einer und berichtete, dass R. Lejb mit R. Ephraim sich übergeworfen habe auf der Straße [in der Anm. erläutert Wilensky das jiddische 6==99 durch das hebräische ýL7] und gesagt habe: Um Gottes Willen und um des Rebbis Willen!«347

Hier wird ein weiteres, seltsam anmutendes Verhalten, dessen die Chassidim durch ihre Gegner bezichtigt wurden, auch von chassidischer Seite belegt und begründet: Das Purzelbaumschlagen. Die Beschreibung jenes seltsamen Rituals lässt recht vielfältige Schlüsse zu: Zum einen wird es während der Gottesdienste belegt, was ja bereits durch Semir Arizim weCharboth Zurim und in jenem Brief Abraham Katzenellenbogens beschrieben wurde; darüber hinaus jedoch wird das Purzelbaumschlagen auch auf offener Straße bezeugt348, was den Brauch als einen durchaus alltäglichen darstellt. In dieser binnenchassidischen Schilderung nun wird deutlich, dass offensichtlich sowohl Oberhäupter als auch einfache Chassidim sich dort »übergeworfen« (C=HL499=6 L5=4) haben. Dies ist demnach eine der wenigen Stellen, an denen das laute Gebetsgebaren ausdrücklich als Phänomen der Masse belegt ist, und dies eben zudem auf offener Straße. Weiterführend aber sind auch die beiden Zeugenaussagen hinsichtlich der Begründung: Die erste Antwort taugt sehr gut als Erläuterung für Kawwanna, verstanden als Bemühen um Devekut, wie es oben bereits dargestellt wurde: Der Beter muss sich von allem Weltlichen lösen, wenn er Devekut erlangen möchte; denn die Anhaftung selbst kann nur die Seele erlangen, nicht der Körper. Dieser

343 344 345 346 347 348

Gesichtspunkten der Vernehmungsprotokolle das (hebr.) Vorwort von Wilensky, Hasidim and Midnaggedim (1), 75. Vgl. Dubnow, Geschichte, 214, Anm. 1. Vgl. die Zeugenvernehmung, 82. Vgl. ebd. Ebd., 83. Ebd. Vgl. ebd: In der Anm. erläutert Wilensky das jiddische 6==99 durch das hebräische ýL7.

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muss jedoch zum Vehikel hierfür dienen – sei es nun durch die Erlangung und Erhaltung der rechten Konzentration auf dem direkten Weg (durch Wiegen, Rufen, Tanzen usw.) oder durch die bewusste Unterwerfung aller körperlichen Aspekte (»wenn den Menschen Größe überkommt«, s. o.) – etwa durch Purzelbäume »mit Hut und Rock« – in dem Falle, dass die Devekut nachlässt. Zu betonen ist demnach, dass mit der Konzentration auf Gott, die in allen Frömmigkeitsformen maßgebend ist, immer auch eine weltflüchtige Note mit schwingt. Der Fromme darf sich von diesem Ziel weder durch weltliche Belange noch durch eigene Bedürfnisse oder sündliche Eigenschaften abbringen lassen. Die zweite Erklärung – »Um Gottes Willen und um des Rabbis Willen !« (C=6==99 =5L C9H C94 C=6==99 Mü46 C9H) bezeugt ein nicht weiter benannter Chassid die das Purzelbaumschlagen begleitenden Worte eines anderen Chassids – verschiebt jedoch den Blickwinkel von der ersten Erklärung, da das für Außenstehende sicherlich sonderbar anmutende Ritual, welches als Symbol der Tilgung des subjektiven Aspekts des Menschen vor Gott verstanden werden muss, nunmehr im gleichen Atemzug dem chassidischen Oberhaupt dediziert wird. Hierin wird einerseits die besondere Gottesbeziehung deutlich, die dem chassidischen Rabbi zugesprochen wird; andererseits leuchtet aus dem Ausruf auch noch einmal die Beziehung des Chassids zu seinem Oberhaupt durch, dem er sich ebenso bereitwillig unterwirft wie Gott selbst: !C=6==99 =5L C9H C94 C=6==99 Mü46 C9H Auch die Verstöße der Chassidim gegen die traditionell vorgeschriebenen Gebetszeiten lassen sich von chassidischer Seite belegen: Etwa in einigen Legenden über den Bescht zeigt der Sammler der Schibche haBescht, dass dieser durchaus hin und wieder gegen die halachisch geregelten Gebetszeiten verstoßen hat – und zwar in zweifacher Art: Sowohl ist die Rede von verspätetem Beginnen als auch von unüblicher Ausdehnung der Gebete.349 Es muss jedoch betont werden, dass diese Übertretungen keinesfalls unbegründet und en passant angeführt werden. Vielmehr dienen sie als narrative Verstärker für die Bedeutung der eigentlichen Handlung: Nur, weil der Ba’al Schem sich vor dem himmlischen Gericht für das Überleben einer ganzen Gemeinde einsetzte (SHB, H58) bzw. weil er für »die Seelen von [›Tausenden und Myriaden‹] Toten« Sühneheilungen erwirken musste, überschritt er die Gebetszeiten. Sie stellen in dieser Funktion jedoch keineswegs ein Ideal dar. Auch das ›Testament‹ legt dem Chassid nichts anderes ans Herz, als die Gebetszeiten einzuhalten. Die diesen Punkt berührende 16. Passage lehrt, dass »it is necessary to make it known that one should regularly [rise] at midnight. At the very least be scrupulous to recite the [morning]-prayer before sunrise, both in summer and winter. That ist, most of the prayer, up to the reading of the Shema, should be said 349 Exemplarisch sei auf SHB, H58 (spätes Beginnen des Gebetes) und die oben bereits zitierte Legende H63 (zeitliche Ausdehnung des Gebetsgottesdienstes) hingewiesen.

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before sunrise. The difference between before sunrise and after sunrise is as great as is the distance from east to west; for prior [to sunrise] one can still negate [all judgments]. […] The Baal Shem, may his memory be for blessing, was very particular with this, to the point that when he did not have a quorum he would pray on his own.«350

In den frühen chassidischen Quellen gibt es darüber hinaus kaum Erwähnungen oder gar Erläuterungen des Phänomens, welches in den gegnerischen Quellen einigen Raum einnahm und dementsprechend auch für die Frühzeit belegt ist. Erst in den späteren Quellen, die über den Untersuchungszeitraum hinausgehen, »do we find short passages, scattered in various places, which touch on the topic.«351 Diese Stellen, die Wertheim anführt, begründen den späten Beginn der Gebete, wie oben (II.3.5) bereits gemutmaßt wurde, mit der notwendigen Vorbereitungszeit für Kawwanna: Während die ›Alten‹ in kurzer Zeit die rechte Kawwanna erreicht hätten, sei dies heute nur noch mit einer entsprechend längeren Zeit möglich.352 Auch die Hinauszögerung der Gebete über halachisch verbotene Zeiten wird damit erklärt, dass eine gewisse Vorbereitung notwendig sei, wenn der Dienst dem »König« angemessen sein solle.353 Eine andere Erklärung, warum diverse Zaddikim die Gebetszeiten variierten, ist nach Wertheim die Tatsache, dass der Zaddik über Zeit und Raum erhaben sei – wobei auch diese Erklärung wiederum nur in späteren Quellen bezeugt wird. Vor allem angesichts der gegnerischen Schilderungen kann es wohl als sicher betrachtet werden, dass Verstöße gegen die vorgeschriebenen Gebetszeiten schon in der frühen Zeit zu einem chassidischen Brauch wurden. Von einem Dogma des ›Zuspätbetens‹ allerdings kann in den Quellen nicht die Rede sein; vielmehr betont Tzava’at Harivasch, dass sowohl der Bescht als auch der Große Maggid sich bemühten, die Zeiten einzuhalten, und dass beide nur im Notfall hiergegen verstießen. Der Verstoß, der aus der Not, einfach nicht rechtzeitig beten zu können, entsteht, ist de jure als Notfall anzusehen. Nach chassidischer Auffassung ist jedoch auch fehlende Kawwanna ein solcher Notfall, der ein rechtzeitiges Beginnen der Gebete verhindern darf, denn: Beten ohne Kawwanna und Devekut ist wertlos und somit letztlich weniger vertretbar als verspätetes Beten. Kawwanna bzw. Devekut aber verlangen Vorbereitung, was schon aus einigen talmudischen Passagen hervor geht354 ; die benötigte Zeit hierfür allerdings ist schwer zu kalkulieren – und letztlich ja auch zweitrangig.355 Die in den gegnerischen Quellen wiederholt angeführten Änderungen des 350 351 352 353

Tzava’at Harivash, #16. Wertheim, Law and Custom, 136. Ebd., 137. Vgl. die hierzu bei ebd., 138 f. zitierte Legende über den König, der Gruppen von Musikern verschiedener Fähigkeiten für sich spielen lässt. 354 Jacobs, Hasidic prayer, 46. 355 Vgl. zum Thema der Gebetsvorbereitung ausführlicher ebd., 46 ff.

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Ritus durch die Chassidim und der hiermit zusammenhängende Austausch des Siddurs tauchen auch in chassidischen Quellen auf, wobei vorab zu sagen ist, dass diese Hinweise meist en passant geschehen und ebenso zumeist nur beiläufig (und nicht sehr tiefgreifend) begründet bzw. erläutert werden. Eine deutliche Antwort bleibt meist Desiderat – genauso, wie Levi Jitzchak auf die Nachfrage Abraham Katzenellenbogen eine Antwort schuldig blieb (vgl. II.3.6). Im Folgenden muss zunächst etwas ausführlicher beleuchtet werden, worin die Unterschiede zwischen dem Ritus der Chassidim und dem des sie umgebenden Judentums Osteuropas genau bestanden. Daran anschließend soll untersucht werden, inwiefern diese Unterschiede begründet werden. Hierfür müssen recht unterschiedliche Quellen zu Rate gezogen werden, da, wie gesagt, die begründenden Hinweise oft lediglich beiläufig oder verstreut erfolgen. Die Belege dafür, dass der Gebetsritus seitens der Chassidim verändert wurde, sind für den heutigen Leser auch in den Legenden meist nur bei genauerem Hinsehen erkennbar. Dann jedoch wird deutlich, dass die Komposition der entsprechenden Erzählungen darauf abzielt, die Befolgung des chassidischen Ritus durch die Chassidim hervorzuheben: Der Spannungsbogen erfährt seinen Höhepunkt genau zu dem Zeitpunkt, da der Streitpunkt des verwendeten Ritus’ thematisiert wird. »Einmal, an den Zwischenfeiertagen des Laubhüttenfestes, sah der Rav, unser Lehrer R. Gerschon, daß der Bescht keine Tefillin anlegte und obendrein an der Ostwand betete. Er fragte ihn: ›Warum legst du heute keine Tefillin?‹ ›Ich las in jüdischdeutschen Büchern‹, gab er zurück, ›daß jeder, der an Zwischenfeiertagen die Tefillin anlegt, des Todes schuldig ist!‹«356

Bevor die im Zusammenhang interessante Passage erläutert wird, soll noch eine andere Stelle angefügt werden: »R. Nachman357, sein Angedenken sei zum Segen, kam einmal zur Zeit des Frühgebetes mit seinen Waren durch die heilige Gemeinde Solkowe. Er machte mit seiner Fuhre vor dem Lehrhaus Halt, nahm Tallit und Tefillin und ging hinein. Nun umhüllte er sich mit Tallit und Tefillin und stellte sich, ohne die Erlaubnis einzuholen, ans Vorbeterpult und betete, was aller Grimm erregte. Wie konnte er, der Gast, es wagen, ohne die Erlaubnis ans Pult zu treten, um vorzubeten? Als aber die Worte seinem Munde entströmten, süßer als Honig und Honigseim, gefiel es ihnen, und sie schwiegen – dennoch blieb ein Groll. Als er aber nach dem Kaddisch der Rabbanan den Psalm ›Hodu‹ vor dem ›Baruch sche-amar‹ anstimmte, wurden alle voller Zorn und Grimm, und sie wollten ihn vom Pult wegziehen, allein, weil sie auch begehrten, seinem Gebet zu lauschen, vermochten sie nichts zu tun […] Nach dem Beten aber fuhren ihn alle im Lehrhaus an und schalten 356 SHB, H27. 357 Die Rede ist von R. Nachman aus Kos´ow; vgl. das dritte Kapitel Rabbi Nahman of Kos´ow: Companion of the Baal Shem, in: Abraham J. Heschel, The Circle of the Baal Shem Tov. Studies in Hasidism, Chicago 1985.

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ihn, wie er es wagen könne, ohne Erlaubnis an das Pult zu treten und den Wortlaut derart zu verändern, wie ihn weder Väter noch Vorväter, die Großen ihrer Zeit, je gebetet hätten. R. Nachman aber warf nur hin: ›Und wer sagt, daß sie im Garten Eden sind?‹«358

Um den Streitzusammenhang, die eigentliche Provokation in den Erzählungen zu verstehen, muss man wissen, worin der Verstoß der beiden genannten Zaddikim eigentlich bestand. Das erste Beispiel thematisiert die Tatsache, dass der Bescht an den Zwischenfeiertagen von Sukkot keine Tefillin anlegt. Hiermit gibt er zu erkennen, dass er nicht dem landesüblichen aschkenasischen Ritus folgt, der die »in den talmudischen Quellen nicht eindeutig entschieden[e]« Frage, ob an den Zwischenfeiertagen Tefillin anzulegen seien, positiv beantwortet – wie es auch die Empörung Gerschon Kutowers spiegelt.359 Vielmehr zeigt er sich hierdurch als Anhänger des sefardisch-lurianischen Ritus.360 Ähnliches gilt für das Verhalten R. Nachmans. Die Legende H135 schildert letztlich eine einzige Provokation seitens R. Nachmans: Bereits in der Handlung, sich ungefragt ans Vorbeterpult zu stellen »erregte er aller Grimm.« Während sein Beten selbst dann, »süßer als Honig und Honigseim«, die Gemüter wieder etwas zu besänftigen vermochte, trieb das Folgende die Provokation auf die Spitze. Die Reihenfolge der Gebetsstücke belegt, dass R. Nachman nicht der »landesüblichen aschkenasischen Ordnung, sondern der lurianisch-sefardischen« folgte.361 Die Gegenfrage Nachmans, ob die mitnaggedischen Beter denn wüssten, ob ihre Väter und Vorväter den Garten Eden betreten hätten, schüttet dementsprechend nur noch weiteres Salz in die Wunde. Auch die bereits zitierte Legende H63 zeigt auf, dass der Bescht (und an dieser Stelle ebenso sein Schwager Gerschon) nach dem Siddur Lurias (@’’: ’=L48 @M L97E8 ý9N5) betete. Dieser ›Anklagepunkt‹ der Gegner wird also ebenso von chassidischer Seite belegt, und zwar auch für die Frühzeit: Die Chassidim verwendeten für den Gottesdienst einen anderen als den in Mittel- und Osteuropa typischerweise verwendeten aschkenasischen Siddur. Bevor nach den Gründen für diesen Bruch mit der Tradition gesucht wird, gilt es zunächst, den chassidischen Siddur in den Blick zu nehmen, um einen Überblick über Hauptunterschiede und kompositorische Grundideen beider Siddurim zu bekommen.362 358 SHB, H135. 359 Auf die Inkohärenz bezüglich der Positionierung der Person des Schwagers des Bescht innerhalb der Legendensammlung sei an dieser Stelle kurz hingewiesen: Während H27 ihn als Anhänger des aschkenasischen Ritus darstellt, betet er in H63 – wie der Bescht – nach dem Gebetbuch des Ari. 360 Grözinger, Geschichten vom Ba’al Schem Tov, Anm. 91. 361 Ebd., Anm. 465. 362 Im Folgenden greife ich vor allem die diesen Punkt thematisierenden Arbeiten von Jacobs, Hasidic Prayer (1993), v. a. 36ff und Wertheim, Law and Custom, 2 f; 145 ff. auf.

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Das chassidische Gebetsbuch gibt es de facto nicht. Jedoch stellen alle überlieferten chassidischen Siddurim eine Komposition aus drei Elementen dar : dem polnisch-aschkenasischen Gebetsbuch, dem lurianischen und dem älteren, vor-lurianisch-sefardischen Gebetsbuch, das in Palästina zur Zeit Lurias verwendet wurde363 : »Luria adopted the Sephardi Prayer Book for the purpose of the kavvanot. But the Hasidim, who lived in Ashkenazi milieu, were obliged to adapt the Lurianic forms to the Ashkenazi Prayer Book, which differs from the Sephardi Prayer Book in both the versions of the prayers and in the arrangement of the prayers. Thus it came about that the Hasidic Prayer Book differed from the older Sephardi rite, from the original Lurianic rite and from the older Ahkenazi Prayer Book. The ideal Hasidic Prayer Book would have been a careful blending of all three elements to suit the purposes of the new movement.«364 Die Beobachtung, dass sich die chassidische Liturgie nicht auf eine einzelne Gebetsordnung bezieht, sondern Elemente enthält, die weder von den Sephardim noch von den Aschkenasim in ihren jeweils landesüblichen Siddurim enthalten sind, wird bereits 1784 in dem oben zitierten Brief Katzenellenbogens an Levi Jitzchak angesprochen.365 Es ist kaum möglich, die Entwicklung der chassidischen Gebetsordnung – falls es überhaupt möglich sein sollte – an dieser Stelle nachzuvollziehen. Interessant ist allerdings, dass die frühen Siddurim, welche die Chassidim verwendeten, ob sie nun auf dem aschkenasischen, dem sefardischen oder dem lurianischen Siddur selbst basierten, meist die lurianischen Kawwannot enthalten – wenn auch manchmal lediglich in Manuskript- oder Marginalform.366 Immer aber steht hinter dem Gebrauch der abgedruckten Worte und der hierin enthaltenen und somit (wenn auch nur oberflächlich) mitgedachten Kawwannot der Glaube an den ihnen in der lurianischen Kabbalah zugesprochenen Effekt.367 Angesichts dieser Popularisierung kabbalistischer Techniken verwundert die Bevorzugung des lurianischen vor dem traditionellen aschkenasischen Siddur in chassidischen Kreisen nicht weiter. Es wird nicht die Verwendung von lurianisch-sephardischen Passagen bzw. Ordnungen per se gewesen sein, welche die Mithnaggedim so erzürnten; vielmehr liegt der Streitpunkt auf eben jener Popularisierung eigentlich esoterisch-kabbalistischer Techniken, die selbst von (kabbalistisch gebildeten) Mitnaggedim aschkenasischer Richtung angewandt wurden (vgl. auch die Verbote im letzten Schreiben

363 Vgl. Jacobs, Hasidic Prayer (1991); hier : 38. 364 Ebd., 38 f. vgl. ebd. die Auflistung der verschiedenen Gebetsbücher, die durch einzelne Zaddikim herausgegeben wurden. 365 »Wieso verfielen sie darauf, Textänderungen einzuführen, die nicht einmal bei allen Sephardim in Geltung sind […]?« Übers. in Dubnow, Geschichte des Chassidismus (1), 247 f. 366 Wertheim, Law and Custom, 146. 367 Jacobs, Hasidic Prayer (1991), 37.

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von Semir Arizim weCharboth Zurim, welche für die altbekannten Kabbalisten der Klause eine Ausnahme vorsehen). Es ist an dieser Stelle nicht der Platz, auf alle liturgischen Unterschiede im Einzelnen einzugehen.368 Nur eine Beobachtung soll erwähnt werden: Viele der Abweichungen vom aschkenasischen Ritus, vor allem Kabbalat Schabbat und Schabbat selbst betreffend, scheinen darauf abzuzielen, das Gefühl des Betenden anzusprechen – nicht nur, aber auch im ganz sinnlichen Verständnis. So übernahmen die Chassidim wie selbstverständlich die Hymne zur Begrüßung des Schabbat, Lecha Dodi (=797 8?@)369 des palästinischen Kabbalisten Salomo Alkabez und versahen sie mit verschiedenen Melodien, sie sprachen den Kiddusch über Gewürzen, deren Duft sie danach rochen, und sangen einige Semirot; auch der Segen des Nachmittagsmahles an Schabbat wurde in chassidischen Kreisen über dem Wein gesprochen.370 Interessant ist diese Beobachtung insofern, als sie in das Gesamtkonzept sinnlich wahrnehmbaren Glaubens (s. u.) sehr gut hineinpasst. Doch womit erklärten die Chassidim, abgesehen von dem schon angeführten kabbalistisch begründeten, kosmologischen Mehrwert durch die enthaltenen lurianischen Kawwannot, diese Veränderungen der Liturgie, bei denen sie sich den ›alten‹ Chassidim anschlossen? Oben wurde darauf verwiesen, dass der Aussage des Sammlers der Schibche HaBescht zurfolge bereits der Ba’al Schem und seine Genossen dem Siddur des Ari folgten. In denselben Quellen jedoch wird dieser Wechsel nicht erklärt – überhaupt sind die Erklärungsversuche recht spärlich. Der erste, der eine Begründung für den Vorzug des lurianischen Siddurs vor dem aschkenasischen suchte und formulierte, war der Große Maggid. In Maggid Devarav L’Ja’akov – zeitgleich zu der schon zitierten Frage Abraham Katzenellenbogens an Levi Jitzchak (1784) – formuliert er : »It is known that our Sages said that there were thirteen prostrations in the Beis HaMikdash corresponding to the thirteen gates…and twelve of these gates corresponded to a gate for each tribe. It is known that the Beis Ha-Mikdash on earth corresponds to the Beis Ha-Mikdash above. Thus the Beis Ha-Mikdash above also has a gate for each tribe, as explained in the writings of the Ari. Now, the aim of prayer is that each can ascend through his own gate […] When each person knew, to which tribe he belonged, and the nusah of that tribe, it was obviously better to enter through his gate…However,

368 Ich verweise hierfür auf die ausführliche und detaillierte Auflistung dieser Unterschiede über die unterschiedlichen Liturgien der Wochentage bei Wertheim, Law and Custom, 168 ff. 369 Vgl. zum Lecha Dodi Ismar Elbogen, Der jüdische Gottesdienst in seiner geschichtlichen Entwicklung, Hildesheim 1962, 108. 370 Vgl. den tabellarischen Überblick in Wertheim, Law and Custom, 186 ff.

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in these times, where the tribes are unknown…each must adopt the nusah of the Ari, which is appropriate for every person.«371

Die Begründung Dov Bärs ist recht eindeutig: Im Gegensatz zu den landesüblichen Riten bietet allein der lurianische Siddur einen Gebetstext, der für alle geeignet ist – ganz gleich, welchem der zwölf Stämme der Beter angehören mag. Eine andere, relativ frühe Begründung für die Aufnahme lurianischer Elemente in den Gebetstext ist etwas umsichtiger formuliert. R. Eleazar, der Sohn Elimelechs von Lisensk, erklärt »I asked my master, my father, my teacher and mentor, may his light shine, to tell me the reason why we have altered the standard version of the Prayer Book. This was his reply. Behold, the Bet Yosef, of blessed memory, quotes these versions [of Luria]. Afterwards, the Rama, of blessed memory who is also first of all, the Codifiers, came and he investigated and introduced all the rules for the generality of Israel. He saw what a great illumination is contained in this version [of Luria], so great that the world is unworthy to use it, so that he established for us the Ashkenazi version which applies to all men of our degree. But he certainly did not intend to prevent the Zaddikim, who have cleansed themselves from filth and who are strict with themselves to a hair’sbreadth, from using the version recorded by the Bet Yosef, of blessed memory. […]«372

Eleazar betont den besonderen Wert, den der lurianische Nusa (nicht zuletzt wegen der enthaltenen Kawwannot) im Allgemeinen besitzt. Aufgrund dieser großen Bedeutung ist nicht jeder wert, nach diesem Ritus zu beten, weshalb der Rama den aschkenasischen Ritus für die Allgemeinheit einführte. Dies allerdings gilt nicht für die Zaddikim, welche durchaus wert sind, dem lurianischen Nusa zu folgen. Durch die intime Verbindung, die die Zaddikim mit ihren Chassidim eingehen, erheben sie wiederum ihre Anhänger auf diese »gereinigte« Stufe, weshalb sie des Nusa haAri würdig sind. Darüber hinaus ist natürlich einem jeden zumindest theoretisch die Möglichkeit gegeben, die von Luria geforderten Reinigungsmeditationen durchzuführen, um auch ohne Zaddik die Würdigkeit für den lurianischen Ritus zu erlangen.373 Hier wird demnach dieselbe Argumentation verwendet wie bei Dov Bär, nur dass eben nicht dem Nusa Lurias die Allgemeingültigkeit zugesprochen wird, sondern dem Nusa Aschkenas. Durchweg allerdings erfährt im frühen Chassidismus374 der Nusa des Ari nicht zuletzt aufgrund der enthaltenen kosmologischen Bezüge die höhere Wertschätzung, und zwar nicht nur in elitären Kab371 Zitiert in ebd., 145. 372 Zitiert in Jacobs, Hasidic Prayer (1991), 41 f; der vollständige Brief findet sich in Übersetzung in Jacobs, Mystical Testimonies, 240 ff. 373 Vgl. die Fortsetzung der Argumentation, die allerdings nur in der edierten Gesamtfassung zu finden ist. 374 Vgl. zu der späteren, freieren Haltung Schatz-Uffenheimer, Hasidism as Mysticism, 225, Anm. 24.

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balistenkreisen, sondern in allen Schichten. Auch hinter dieser Argumentation steht also letztlich die Popularisierung kabbalistischer Anschauung. Der vierte Aspekt chassidischen Betens, welchen die Gegner ihren chassidischen Mitbetern vorwarfen, war die Einflechtung von mutmaßlich jiddischen Interjektionen in die heiligen hebräischen Gebete. Oben wurde im Zusammenhang der chassidischen Quellenschriften bereits auf das ambivalente Verhältnis der Chassidim zu ihren Sprachen – zur jiddischen Volkssprache und zur hebräischen Gelehrtensprache bzw. der Sprache der heiligen Tora – hingewiesen: Während einerseits sowohl die Sprache des alltäglichen Umgangs als auch die der chassidischen Predigten und der chassidischen Erzählungen das Jiddische war und somit diese Volkssprache einen hohen Stellenwert hatte, wurden andererseits fast alle chassidischen Werke – n.b. nicht nur der Anfangszeit – auf Hebräisch veröffentlicht, der Sprache, die im jüdischen wissenschaftlichen Diskurs den höchsten Status genoss. Hierdurch wiederum wurden große Teile der chassidischen Gemeinde – nämlich die eigentliche, allerdings semiliterale375 ›Masse‹ – von der Rezeption der Literatur ihrer Oberhäupter ausgeschlossen, was letztlich den Popularisierungstendenzen der Bewegung geradezu zuwiderläuft, während in der Literatur bisweilen recht emphatisch die Rede davon ist, dass der Chassidismus dabei half, den der jiddischen Sprache beigemessenen Wert zu erhöhen.376 Aus den Formulierungen der Mitnaggedim lässt sich ableiten, dass – abgesehen von Kollisionen an denjenigen Stellen, an welchen die verwendeten Siddurim sich unterschieden – im Großen und Ganzen die Gebete selbst von den Chassidim unberührt, d. h. hebräisch, blieben. Genau genommen ist von »Störungen der Gebete durch Wörter in der Sprache des fremden Volkes«, also von Interjektionen, die Rede. Derartiges ist von den beiden Hauptgründungsvätern, Israel ben Elieser und Dov Bär, auf deren historischen Wirkungskreis diese Untersuchung fokussiert, nicht bekannt. Weder in den Schibche haBescht noch in anderen Quellen wird darauf hingewiesen, dass einer der beiden jiddische oder gar polnische / ukrainische Einwürfe in die Gebete eingestreut hätte. Lediglich nicht eben überraschende Hinweise auf die Verwendung der Volkssprache beim Erzählen von Geschichten u. ä. liegen vor. Bekannt ist erst ein Beispiel von Zaddikim der dritten Generation, mithin der Schule Dov Bärs, für »Störungen der Gebete« in beschriebener Weise: Vor allem R. Levi Jitzchak Berditschever war bekannt »for interspersing his prayers with invocations in Yiddish. While praying or studying, he would cry out, ›Darbamdiger‹ (All-Merciful)«377, also für genau jene 375 Dynner, Men of Silk, 209. 376 Vgl. etwa o. N., Art. Yiddish, in: Rabinowicz, The encyclopedia of Hasidism, 549 f. 377 Art. Yiddish, 549.

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angezeigten »Störungen der Gebete«. Dies ist jedoch der einzige Beleg von chassidischer Seite für die Frühzeit. Nicht selten sind dagegen Bezeugungen der Verwendung der Volkssprache in Gebeten durch Levi Jitzchak: »This Zaddik loved the simple Jews and their language, one which women and children also unterstood, and was not ashamed to compose prayers and poems in Yiddish and to sing them in front of others.«378 Von ihm sind einige wenige seiner Werke überliefert, die z. T. jiddisch, z. T. auch aus einer Mischung aus jiddischen und hebräischen Versatzstücken komponiert wurden.379 Über diese Beispiele für die Hochachtung der ostjüdischen Volkssprache legt Elimelech von Lizhensk seinen Anhängern begründend das Modeh Ani (=D4 879B), ein kurzes Dank- und Lobgebet für den Morgen, das noch vor dem Aufstehen gebetet wird, ans Herz: »A person should accustom himself to say Modeh ani as soon as he wakes up, with a joyful heart, and he may even say it in Yiddish…«380

Solange das Gebet nur voller Freude gesprochen wird, ist es unwichtig, in welcher Sprache das Modeh Ani, das nach dem Aufwachen eigentlich auf Hebräisch rezitiert wird, gesprochen wird. Die jiddische Sprache dient, weil sie auch der einfache Jude verinnerlicht hat, als Vehikel für den das Herz berührenden Gottesdienst – nicht aber als Selbstzweck. Auch die im Anschluss von Wertheim zitierte Passage lässt sich in diese Richtung deuten: »One should be very carefull to review the tzetl katan a few times each day and should explain every single word in Yiddish.«381

Auch der »letzte Wille« Elimelechs (tzetl katan), der am Ende von No’am Elimelech überliefert wurde (s. o.), soll meditiert werden, indem der hebräische Text vor dem inneren Auge ins Jiddische übertragen wird, mit dem Ziel der Verinnerlichung. Aufgrund der wenigen Hinweise lassen sich zwei Vermutungen anstellen hinsichtlich der Frage nach den jiddischen (und somit muttersprachlichen) Interjektionen. Zunächst handelt es sich – zumindest idealtypisch – keineswegs um bewusste Abweichungen der Chassidim vom Ritus. Da es keine konkreten 378 Wertheim, Law and Custom, 154. 379 Vgl. ebd., 154 f: Während es sich meist um Stücke handelt, die nur von ihm zu ganz speziellen Festen gesprochen wurden, ist auch ein allgemeineres Gebet tradiert, das in vielen chassidischen Gemeinden Aufnahme fand; in ihm bittet der Betende nach Schabbatausgang um eine gute kommende Woche; vgl. hierzu jedoch auch Jacobs, Hasidic Prayer (1991), 139, welcher betont, dass es sich nicht um ein originär chassidisches Gebet, sondern um ein viel älteres (jiddisches) Gebet handelt, welches Levi Jitzchak adaptierte »in order to give expression to some of the main Hasidic ideas.« 380 Zit. in Wertheim, Law and Custom, 155. 381 Zit. in ebd., 155.

Zwischenresümee

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Erläuterungen oder Anleitungen zu diesem von den Gegnern beschriebenen Phänomen gibt, muss eine Erklärung hierfür im Bereich des Hypothetischen bleiben: Sie setzt bei den zuletzt zum chassidischen Beten analysierten Aspekten des kontemplativen oder ekstatischen Betens aufgrund von Kawwanna bzw. Devekut an. Entweder in dem Bemühen, die Anhaftung zu erreichen oder aber bereits mit Devekut könnten die Interjektionen, die »Unterbrechungen« während der Gebete damit erklärt werden, dass es sich um Ausdrucksformen ekstatischer Bewegtheit handelt, welche sich, andachtsvoll und ganz innerlich, in der Muttersprache äußern. Die gelehrte Sprache lässt letztlich immer noch eine gewisse Distanz, eine letzte Reserviertheit des Betenden übrig. Der im ekstatischen Zustand in der Welt zurückgelassene Körper strebt nach Ausdruck und findet ihn in der Intimität der Muttersprache. Die »Störungen der Gebete durch Wörter in der Sprache des fremden Volkes« würden somit auf einer ähnlichen Ebene erklärt wie die anderen Ausdrucksformen kontemplativ-ekstatischen Betens. Die (z. T. überlieferten) jiddischen Gebete chassidischer Oberhäupter haben offensichtlich einen fest zugewiesenen Platz außerhalb des üblichen (und somit mitnaggedisch überwachten) Gebetsgottesdienstes gehabt und werden somit kaum Kritiker gefunden haben – in den analysierten gegnerischen Quellen spielen sie auch keine Rolle. Darüber hinaus ist in ihnen die Alltagssprache keineswegs zum Selbstzweck verwandt worden (etwa um die nichtchassidischen Mitbeter zu provozieren), sondern soll als Mittel dazu dienen, den Betenden unmittelbar anzusprechen – ohne die Zwischeninstanz der zwar heiligen und gelehrten Sprache des Hebräischen, welche zunächst einer Übersetzung oder Reflektion bedarf. Die Rührung des Herzens jedoch verlangt zumindest vom einfachen Gläubigen die größere Unmittelbarkeit der Muttersprache.

Zwischenresümee Bevor im Folgenden ein großer Schritt zum protestantischen Pietismus gemacht wird, sollen die in den vorausgehenden Kapiteln herausgearbeiteten (Kap. II) und analysierten (Kap. III) Merkmale noch einmal kurz resümiert werden. Auf der Grundlage der dargestellten sechs Merkmale, für welche die Gegner in ihren Polemiken die Chassidim angriffen, kann kein umfassender oder gar vollständiger Begriff des enorm vielfältigen Feldes chassidischer Frömmigkeit formuliert werden. Zu umfangreich ist das Untersuchungsfeld und zu punktuell sind die ausgewählten Aspekte.382 Hier, und auch im vergleichenden Schluss soll

382 Auch die langen Aufzählungen von Bräuchen, welche Ysander und Wertheim, Law and

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deshalb das Interesse eher dem Tendenziellen gelten, das aus jenen Merkmalen, welche Mitnaggedim und Maskilim gleichermaßen wichtig genug erschienen, um die Anhänger der neuen Bewegungen auf dieser Grundlage sowohl vor den Institutionen der Kehilot als auch der weltlichen Exekutive anzuzeigen, abgelesen werden kann. Mit Hilfe dieser Tendenzen ist es durchaus möglich, eine Typologie chassidischer Frömmigkeit zu erstellen, die zudem mit einem entsprechenden Pendant für den deutschen protestantischen Pietismus des ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jahrhunderts in Korrelation gesetzt werden kann. Im Zusammenhang der Vorstellung des Oeuvres von Jakob Josef aus Pollonoye war auf den Ansatz von Samuel Dresner hingewiesen worden, der nicht nur das Werk Jakob Josefs, sondern die Entstehung eines der die chassidische Frömmigkeit am meisten prägenden Elemente, des Zaddikismus, als Antwort auf ein Problem auffasst: als Antwort auf den von ihm festgestellten innerlichen und äußerlichen Verfall, der nicht zuletzt mit einer Kritik der Gemeindeführer, der Rabbiner, einhergeht. Mitnichten soll die Entwicklung und Etablierung der Bewegung nur mit dieser Rabbinismuskritik erklärt werden. Jakob Josefs Beobachtungen, dass »the ›spark,‹ without which all else was insufficient, had almost been extinguished. Externals had taken the place of inwardness: instead of feeling there was formality, instead of conviction habit, instead of devotion hypocrisy«383 können aber durchaus dazu dienen, die in den erarbeiteten Merkmalen nachweisbaren Tendenzen der chassidischen Frömmigkeit zusammenzuführen, sie trotz ihrer Diversität als kohärente Aspekte einer Stoßrichtung zu begreifen: Alle Merkmale sollen den »Funken« retten, um mit seiner Hilfe eine Flamme neue zu entfachen. Jeder soll die tiefe Überzeugung des Ba’al Schem Tov teilen, die dieser von seinem Vater erbte, und die gleichsam zum chassidischen Vermächtnis wurde: »[…] denke doch stets daran, dass Gott mit dir ist. Drum fürchte dich vor nichts!« (C548 4L9B ü=D ý4: C==K LH üM@4: =7 .L=7 ü=B C==: üF99 ü46 :4 CKDF76 üM@4: =7).384 Diesen Satz nicht nur formal zu verstehen, sondern zu begreifen, zu fühlen, ist das Movens der chassidischen Frömmigkeit, und hier erweist sich der Chassidismus als Erneuerungsbewegung. Die herausgearbeiteten Frömmigkeitsmerkmale können demnach als Gegenbewegungen zu den von Jakob Josef diagnostizierten Fehlentwicklungen aufgefasst werden, die den Funken zum Erlöschen bringen: Äußerlichkeit, Formalismus, Gewohnheit und Scheinheiligkeit. Der frühe Chassidismus stellt diesen eine innerliche, auf das Gefühl abzielende Frömmigkeit entgegen, die Custom zusammengetragen haben, zeigen, dass ein solches Vorhaben immer unmöglich ist. Egal, wie lang solche Kataloge sind: Sie bleiben immer unvollständig. 383 Dresner, The Zaddik, 75. 384 Grözinger, Die Geschichten vom Ba’al Schem Tov, J6.

Zwischenresümee

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intendiert, jeden Glaubenden mit Überzeugung zu berühren und zu bewegen.385 Kurzum: Mit Devekut als zentralem Ziel eines innerlichen spirituellen Zustandes bzw. einer Haltung ist die chassidische Frömmigkeit durchweg vor allem hinsichtlich ihrer mystischen Dimension als Antwort auf die analysierten Fehlentwicklungen der Orthodoxie zu begreifen. Deshalb gilt Schatz-Uffenheimers zentrale Formulierung nicht nur für die Lösung vom lurianischen Kawwanna-Begriff, sondern letztlich für die chassidische Mystisierung der Frömmigkeit allgemein: »The hasid sought to break down the barriers between himself and God without any fixed ›keys‹«386. Die Mystik allerdings hat im Judentum eine lange Tradition, in welcher der Chassidismus lediglich eine der letzten Stufen darstellt387; mit der chassidischen Mystik per se ist das Besondere, das Originäre für die Frühzeit der Frömmigkeitsbewegung nicht bezeichnet. Das wirklich Interessante im Untersuchungszusammenhang sind die Ergänzungen und Transformationen, welche die mystischen Zugangsweisen bereits in der Frühzeit der Bewegung durchmachen. Sie zeichnen sich vor allem in den erarbeiteten Merkmalen ab: Um sich von den Fehlern der Gemeinde zu lösen und ein wahrhaftig frommes Leben zu führen, wird ein besonderer Zirkel gebildet, eine spirituell gesehen elitäre Gemeinde innerhalb der jüdischen Gesamtgemeinde. Diesem innersten Kern des Beit Israel allerdings gehört nicht mehr nur an, wer die klassische Laufbahn absolviert hat und z. B. Talmudgelehrter oder ausgewiesener Kabbalist ist, sondern der, der seinen Mitzwot mehr als nur routinemäßig und äußerlich nachkommt, bei dem der notwendige Funke vorhanden ist – derjenige, der begeistert (oder wie Maimon sagt: entzückt) ist (Hitlahawut). Während Mystik im Allgemeinen eher Sache der Wenigen war, die in esoterischen Kreisen oder gar eremitisch nach der Unio strebten, wurden im Chassidismus die Techniken modifiziert, die dem Glaubenden das mystische Erleben erleichtern oder gar erst ermöglichen sollten. Die Wege zur Einung – sowohl der Einung ihrer selbst mit Gott durch Devekut, als auch der Einung auf höchster Ebene im kosmologisch-sefirotischen Bereich – die sich ergaben, waren nicht mehr nur den Wenigen, den Kabbalisten, vorbehalten, sondern wurden nun auch den einfachen Glaubenden möglich, ja sogar vorgeschrieben. Es entstand eine ganz neu zusammengesetzte spirituelle Elite, der die charismatischen Führergestalten ebenso angehörten wie die diesen Charismatikern zugewandte Gemeinde. Die sechs Merkmale also weisen diese Tendenz zu mystischer Innerlichkeit aus: In ihnen wird das Bestreben deutlich, den Glauben auch für die einfachen, 385 Eindrücklich fasst, wie bereits erwähnt, auch Salomon Maimon die in der Religionskritik gründenden Anliegen der Chassidim zusammen; Lebensgeschichte, 219 f. 386 Schatz-Uffenheimer, Hasidism as Mysticism, 240. 387 Vgl. die Einordnung, die Gershom Scholem in seinem Standardwerk Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Frankfurt a. M. 1980 vornimmt.

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Weg von der Polemik: Innenansichten

nicht rabbinisch gebildeten Anhänger der Bewegung fühlbar, ja regelrecht material greifbar zu machen. So etwa durch den neuen charismatischen Führungstypus. Der Schwede Torsten Ysander schrieb vor dem Beginn des Zweiten Weltkrieges, in dem die chassidische Kultur Osteuropas beinahe die völlige Auslöschung erfuhr : »Im Saddik wird die Herrlichkeit Gottes auf Erden offenbart«388. Oben war gezeigt worden, dass dies für die Anhänger eines jeden Rebbes deutlich wurde, indem durch die chassidischen Oberhäupter Fürsprecher vor dem himmlischen Gericht entstanden, an die sich jeder Glaubende auf direktem Weg mit seinen weltlichen Sorgen wenden konnte – ob es sich nun um Krankheiten, Kinderlosigkeit oder andere existentielle materielle Bedrohungen handelte. Mit den neuen charismatischen Oberhäuptern traten aber auch spirituelle Autoritäten ins Leben der einfachen Juden, die über Fragen der Sünde und Buße entschieden und so die Seelen ihrer Anhänger führten – der noch lebenden wie der toten.389 Sie lehrten, Gott zu dienen, indem sie mit rechtem Beispiel voran gingen, indem sie individuelle Anleitung gaben oder indem sie in einfachen, kurzen Erzählungen ihre Botschaft verbreiteten. Kurzum, mit den neuen Oberhäuptern entsteht eine Institution im Gemeindeleben, deren Aufgabenbereich und Bedeutung über die des halachischen Beraters, wie es das Rabbineramt nicht zuletzt darstellt, weit hinausgeht, und die mit dem Anspruch auftritt, lebendige Tora zu sein.390 Mit diesem Anspruch sind die chassidischen Oberhäupter für ihre Anhänger ein Beweis der Toraaktualität. Sie sind allerdings auch Beleg für die Torarelevanz, wenn sie eine derart zentrale Rolle im Leben der Gemeinde einnehmen, wenn jedem noch so einfachen Wort, jeder noch so kleinen Handlung eine derartige Bedeutung beigemessen wird (siehe zum Beispiel das Schuhbänder-Logion über Dov Bär). Hierin ist das chassidische Bestreben durchaus als Antwort auf die Kritik an der rabbinischen Führung zu verstehen, welche sich in ihrem Gelehrtenstolz vom einfachen Volk zurückgezogen hatten391, denn: Zumindest idealtypisch stellen sich die Oberhäupter der Entstehungszeit als ›Himmel zum Anfassen‹ dar und bieten so einen Gegenpol zum in erster Linie den Verstand ansprechenden, vom spitzfindigen Disput geprägten Rabbinismus, um in Jakob Josefs polemischem Duktus zu bleiben. Ebenso erfährt die jüdische Mystik durch die ›Deintellektualisierung‹ der Technik der Kawwanna eine Popularisierung, da das neue emotionale Modell den Kreis der potentiellen Mystiker enorm erweiterte. Auch ist diese Transformation der mittelalterlichen, traditionell eher intellektualistischen Technik als 388 Ysander, Studien zum bestschen Hasidismus, 103. 389 Vgl. etwa die vielen Legenden, die die Vorstellung der Seelenwanderung thematisieren. 390 Es sei nur an den Titel von Schmuel Schmelke aus Nikolsburg und seinen Bruder »Tora des Chassidismus« erinnert sowie an die bereits zitierte Passage SHB H28: »Er [der Bescht] sprach jetzt selbst Tora, Mysterien der Lehre, die noch kein Ohr je vernommen hatte.« 391 Vgl. das 4. Kapitel von Dresner, The Zaddik.

Zwischenresümee

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Schub hin zur Betonung des Gefühls zu Ungunsten des Verstandes aufzufassen.392 Sicherlich können die drei Schlaglichter Emotionalisierung, Popularisierung und Individualisierung, die sich hieraus ableiten lassen, als vorherrschende Tendenzen chassidischer Frömmigkeit beschrieben werden. Angesichts der komparatistischen Perspektive soll an dieser Stelle nur der Hinweis auf sie erfolgen, da hierüber hinaus die »Tendenzen der Frömmigkeit« in der Neuzeit im Zentrum des Interesses stehen sollen. Ohne hier bereits Verbindungen oder gar Abhängigkeiten formulieren zu wollen, fällt doch auf, dass es sich bei diesen Schlaglichtern um regelrechte Schlüsselbegriffe des 18. Jahrhunderts handelt. Offensichtlich liegt das Streben der Bewegung nach Innerlichkeit mit ihnen also ganz in jenem Trend, der zumindest die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts prägte. Lassen sich diese oder ähnliche auch für die im letzten Viertel des 17. Jahrhunderts entstehende pietistische Bewegung nachweisen?

392 Was ja vor allem von Seiten der Maskilim vorgeworfen wurde, vgl. Löbel, Glaubwürdige Nachricht, 308 f und Calmanson, Essai, 14.

Kapitel IV: ›Ausführliche Beschreibung des Unfugs der Pietisten‹. Pietistische Frömmigkeitsmerkmale aus gegnerischer Sicht

Wie die ›speziellen‹ Frömmigkeitsformen der Chassidim bereits relativ früh den Argwohn, ja die öffentliche Verfolgung der Anhänger der Bewegung durch die rabbinische Orthodoxie hervorriefen bzw. das Interesse ebenso wie den Spott der Maskilim auslösten, so ließen auch die Reaktionen auf die Frömmigkeitspraxis des im 17. Jahrhundert entstehenden protestantischen Pietismus nicht allzu lange auf sich warten. Ähnlich dem Aufkommen des antichassidischen Streitschrifttums setzte das antipietistische erst mit der Genese des Pietismus zu einer sozialen Bewegung ein. Von dem Moment an allerdings, da sich der neue Frömmigkeitstyp, der im Gegensatz zum chassidischen bereits wesentlich früher literarisch produktiv geworden war, aktiv und vor den Augen der lutherischen Orthodoxie zu entfalten begann, in dem Moment, in dem die Reformvorschläge verwirklicht wurden, entstand eine wahre Flut von antipietistischen Streitschriften1, von denen im Folgenden diejenigen rezipiert werden, welche die pietistische Frömmigkeitspraxis thematisieren. Mit ihrer Hilfe wird ein Katalog von Merkmalen entsprechend dem in Kapitel II vorgestellten chassidischen erarbeitet. Anders als im zweiten Kapitel werden jedoch aufgrund der sich anders darstellenden Quellenlage – war dort die Quellenzahl quantitativ doch eher übersichtlich, so ist die Rede von einer »Flut antipietistischer Streitschriften« hier durchaus angebracht – nicht die einzelnen Quellen, sondern es wird vielmehr der Fundus, aus denen die Quellen ausgewählt wurden, vorgestellt und begründet werden (V.1). Um weiterhin dem systematischen Zugang gerecht zu werden, wird im Anschluss daran ein, allerdings weniger ausführlicher, Hinweis auf den Hintergrund der Autoren der verwendeten ›Antipietistica‹ gegeben. Die geringere Ausführlichkeit dieser Darstellung ist einerseits der einseitigeren, weniger komplexen gegnerischen Landschaft geschuldet, andererseits der Tatsache, dass aufgrund der Menge an Quellenmaterial nicht auf alle Autoren eingegangen werden kann. Darüber hinaus wurden relativ viele der antipietis1 Und anderen Zeugnissen wie Untersuchungsprotokollen, Verordnungen etc.

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Pietistische Frömmigkeitsmerkmale aus gegnerischer Sicht

tischen Streitschriften anonym oder pseudonym veröffentlicht. Ihre Autoren sind somit nur schwer oder gar nicht ermittelbar. Es muss deshalb bei einigen wenigen allgemeinen bzw. exemplarischen Ausführungen bleiben.

1.

Die Quellen: Stil und Geschichte der Zeugnisse des Streites um die rechte Frömmigkeit des ausgehenden 17. Jahrhunderts

Waren die Vorschläge Philipp Jakob Speners zur Reformierung der evangelischlutherischen Kirche in den deutschen Ländern, welche dieser 1675 in seinen sich für den Pietismus zur programmatischen Reformschrift entwickelnden Pia Desideria formuliert hatte, kaum irgendwo grundsätzlich abgelehnt, häufig sogar mit Wohlwollen aufgenommen worden2, so gilt dies oftmals nicht für die Versuche, diese Erneuerungsvorschläge in die Praxis umzusetzen: Bereits ziemlich bald, nachdem sich der auf Johann Arndt (1555 – 1621) zurückführende Frömmigkeitstyp durch eine von der Umwelt unterscheidbare soziale Bewegung zu verwirklichen begann, zu dem Zeitpunkt nämlich, da sich Arndts Anliegen, »Christen zur wahren Gottseligkeit (pietas) zu führen«3 mit den pragmatischen Ansätzen Speners verbanden, kamen die ersten Beschwerden auf und es ent2 Vgl. hierzu etwa Martin Brecht, Philipp Jakob Spener, sein Programm und dessen Auswirkungen, in: Martin Brecht (Hg.), Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert 1993, 279 – 389, hier : 311ff; Christian Peters, »Daraus der Lärm des Pietismi entstanden«. Die Leipziger Unruhen von 1689/1690 und ihre Deutung durch Spener und die hallischen Pietisten, in: Pietismus und Neuzeit 23 (1997), 103 – 130, hier: 107; der einzige bekannte Kritiker von Speners Pia Desideria, der sein Anliegen in – relativer – zeitlicher Nähe zur Veröffentlichung der Programmschrift formulierte, erweist sich bei genauer Betrachtung kaum als hellsichtiger Angreifer gegen die spenerschen Reformvorschläge; vielmehr ist Georg Conrad Dilfeld wohl »in die Fehde mit Spener hineingestolpert, ohne zu wissen, mit wem er es zu tun hat. Er hat in ihm nur einen Gesinnungsgenossen seines Halberstädter Gegners gesehen. Wenn jemand erkannt hat, daß mit Speners Pia Desideria etwas Neues in der evangelischen Kirche durchbrach, dann gewiß nicht Dilfeld […]. Der erste pietistische Streit ist gar kein Streit zwischen Pietismus und Orthodoxie […].« Johannes Wallmann, Spener und Dilfeld, in: Johannes Wallmann (Hg.), Theologie und Frömmigkeit im Zeitalter des Barock, Tübingen 1995, 197 – 219, hier : 217; 219; vgl. auch Johannes Wallmann, Pietismus und Spiritualismus. Ludwig Brunnquells radikalpietistische Kritik an Speners Pia Desideria, in: ders. (Hg.), Pietismus-Studien, Tübingen 2008, 155 – 167, hier : 156: »Über 90 Zuschriften überwiegend zustimmenden Inhalts will Spener in den ersten beiden Jahren nach Erscheinen der Pia Desideria erhalten haben. Überwiegend waren es Stellungnahmen, um die Spener seine Freunde und Korrespondenten, denen er sein Reformprogramm zugesandt hatte, ausdrücklich ersucht hatte.[…] Unter denen, die Spener brieflich ihre Zustimmung aussprachen, finden sich so bekannte Namen wie Abraham Calov, […], Balthasar Mentzer[…], Johann Olearius […].« 3 Johannes Wallmann, Johann Arndt (1555 – 1621), in: ders. (Hg.), Pietismus-Studien, Tübingen 2008, 67 – 87, hier: 82.

Streit um die rechte Frömmigkeit: die Quellen

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stand zum Teil erheblicher Widerstand. Es lassen sich drei Phasen der »Mobilmachung von Theologie, Kirche, der weltlichen Behörden und teilweise auch des Kirchenvolkes«4 gegen den Pietismus kennzeichnen, von denen zwei in den Untersuchungszeitraum der Frühzeit des Pietismus fallen: Bereits Philipp Jakob Spener war seit der Gründung seines Collegium Pietatis 1670 ständig darauf bedacht, den Zusammenkünften allen verdächtigen Schein zu nehmen, weshalb er sie etwa in seiner eigenen Studierstube anberaumte. Das von Spener betreute Collegium und Spener selbst wurden auch zumindest in der Anfangszeit nur wenig, und dann auch nur zögerlich und eher verdeckt, angegriffen. In erster Linie handelte es sich um Gerüchte, denen Spener entgegenzuwirken suchte.5 Der Beginn dieser ersten Phase antipietistischer Bemühungen, die sich noch nicht gegen eine geschlossene Bewegung wandten, sondern gegen die einzelnen Erbauungsversammlungen bzw. gegen die mit diesen verbundenen Namen der Leiter richteten, ist zu der Zeit anzusetzen, da sich neben dem spenerschen noch andere Konventikel etablierten, die weniger darum bemüht waren als Spener, die eigene Orthodoxie und Kirchenzugehörigkeit zu betonen. Vor allem die hier zu Tage tretenden separatistischen Tendenzen, die sich etwa im Fernbleiben einer Gruppe von Personen vom Abendmahl äußerte, waren es, welche die Collegia in Verruf brachten.6 Diese erste Phase des Pietismusstreites ist, obwohl ihr Streitobjekt mit der Fokussierung auf die für den Pietismus so charakteristische Gemeinschaftsform der Erbauungsstunde einen wichtigen Aspekt pietistischer Frömmigkeitspraxis thematisiert, somit weniger interessant als die zweite Phase der antipietistischen Angriffe (s. u.), die 1689/90, mit einer gewissen Übergangszeit7 an die erste anknüpfend, mit den ›Leipziger Unruhen‹ um August Hermann Francke beginnt. Auch der Hamburger Streit, der u. a. zwischen Johannes Winckler (1642 – 1705), Abraham Hinckelmann (1652 – 1695) und Johann Heinrich Horb (1645 – 1695) auf pietistischer und Samuel Schultz (gest. 1699) und vor allem Johann Friedrich Mayer (1650 – 1712) auf orthodoxer Seite ausgetragen wurde und in den Spener von Anfang der 90er Jahre an ein4 Vgl. zu diesem Modell Erich Beyreuthers Einführung in die von ihm herausgegebenen Antizinzendorfiana II. Aus den Freien Reichsstädten Hamburg, Lübeck, Frankfurt am Main und der ehemals Freien Reichsstadt Straßburg, Hildesheim, New York 1982, 2 f. 5 So schreibt er etwa am 8. Oktober 1677: »Im übrigen / wie mein liebster bruder wol erinnert / ist mir sehr wol bekannt / daß man sehr auf mich lauret / und wo man mir nicht zukommen kann / suchet meinen freunden beyzukommen / und von ihnen etwas aufzufangen / das man anders deuten möge.« Philipp Jakob Spener, Letzte Theologische Bedencken und andere Brieffliche Antworten 1711. Nebst einer Vorrede von Carl Hildebrand von Canstein. Teil 3, 72. Stelle angeführt in Martin Brecht, Philipp Jakob Spener, sein Programm und dessen Auswirkungen, 317. 6 Vgl. zum »Schicksal der Collegia pietatis in Frankfurt« ebd., 316 ff. 7 Die Brecht etwa 1677 beginnen lässt und als »Inkubationszeit der Reformen« bezeichnet; vgl. ebd., 328.

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Pietistische Frömmigkeitsmerkmale aus gegnerischer Sicht

griff, fällt in diese Phase.8 Die dritte Phase orthodoxer Pietismuskritik konzentriert sich auf die Person Nikolaus Ludwig von Zinzendorfs (1700 – 1760), den Begründer der Herrnhuter Brüdergemeine. Diese Phase wird, da sie aus dem zeitlichen Rahmen fällt, im Untersuchungszusammenhang nicht weiter berücksichtigt. Die zweite und sicherlich wichtigste Phase der Pietismuskontroverse also beginnt mit den Leipziger Unruhen der Jahre 1689 und 1690 und zieht sich über die gesamte letzte Dekade des 17. Jahrhunderts und sogar darüber hinaus hin. Die Unruhen, die vor allem aus der Konfrontation August Hermann Franckes wegen seines auf die praktische Frömmigkeit ausgerichteten Collegium Philobiblicum9 mit der Theologischen Fakultät der Leipziger Universität hervorgingen, sind in mehrfacher Hinsicht im Untersuchungszusammenhang von besonderem Interesse: Zwar war vermutlich bereits vorher die Begrifflichkeit Pietismus/Pietist, zumindest aber pietistisch zeitweilig verwendet worden – 1689 bis 1690 jedoch wird sie, zunächst durch Fremdzuschreibung, im Laufe der 90er Jahre auch mehr und mehr durch die Anhänger selbst aufgegriffen, zu einem fest stehenden Namen für die junge Bewegung.10 Es kristallisierte sich erstmals überhaupt ein in sich geschlossene Gemeinschaftsform heraus, auch wenn die Bezeichnung zunächst noch hochgradig unbestimmt ist, so dass es zumindest zu Beginn der Dekade nur möglich ist, jemanden denunzierend als pietistisch oder als Pietist zu bezeichnen. Genauere Bestimmungen sind anfangs unmöglich, was etwa im Gerichtlichen Leipziger Protocoll In Sachen die so genannten Pietisten betreffend11 oftmals allzu deutlich vor Augen geführt wird: Auf die kurfürstliche

8 Vgl. zum Hamburger Streit etwa die Einleitung des fünften Bandes der Schriften Speners von Dietrich Meyer, in: Erich Beyreuther und Dietrich Blaufuß (Hgg.), Philipp Jakob Spener, Schriften. Band V, Hildesheim u. a. 2005, 15 ff. 9 An dieser Stelle soll keine Zusammenfassung der Ereignisse erfolgen; es sei verwiesen auf die minutiöse Rekonstruktion von Hans Leube in seiner 1921 abgeschlossenen, unveröffentlichten Dissertation Die Geschichte der pietistischen Bewegung in Leipzig. Ein Beitrag zur Geschichte und Charakteristik des deutschen Pietismus, in: Dietrich Blaufuss (Hg.), Orthodoxie und Pietismus. Gesammelte Studien von Hans Leube, Bielefeld 1975, hier : 153ff; neuer, jedoch keineswegs detaillierter sind Martin Brecht, Philipp Jakob Spener, sein Programm und dessen Auswirkungen, hier: 333ff sowie den genannten Aufsatz von Peters. 10 Auch das Leichcarmen für Martin Born von Joachim Feller, dem Leipziger Professor für Poesie, in welchem die Bezeichnung in der so bekannt gewordenen ersten Strophe (»Es ist itzt Stadtbekandt der Nahm der Pietisten […]«) positiv aufgegriffen wird, fällt in diese Zeit; das (leider!) selten vollständig zitierte Sonnet findet sich in einer handschriftlichen Kopie in Actorum Pietisticorum, Vol I, Schriftstück Nr. 11 (zu Actorum Pietisticorum s. u., S. 155 ff.). 11 Gerichtliches Leipziger Protocoll In Sachen die so genannten Pietisten betreffend / Samt Hn. Christian Thomasii, berühmten JC. Rechtlichem Bedencken darüber ; Und zu Ende beygefügter Apologia oder Defensions-Schrifft Hn. M. Augusti Hermanni Franckens / An Ihro Chur = Fürst. Durchl. zu Sachsen. Wie solches zusammen von einem vornehmen Freund ist communicirt / und hiemit getreulich / zu Complirung der bißhero herauß gegebenen Actorum

Streit um die rechte Frömmigkeit: die Quellen

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Anfrage aus Dresden (»wer solche Leute seynd / und wovon sie den Namen empfangen / auch was ihre Lehre / Mores und Thuns sonst sey«) kann das Rektorat der Leipziger Universität keine Antwort geben; die daraufhin konsultierte Theologische Fakultät kann offensichtlich immerhin aus einem reichen Fundus von Gerüchten schöpfen, wenn sie 61 Fragen formuliert, die sie an einige Zeugen, darunter auch die ›Hauptangeklagten‹ August Hermann Francke, Johann Caspar Schade, Johann Christian Lange und Andreas Friedel, richtet. Die vorgeladenen Zeugen wiederum haben von dem Namen Pietismus/Pietist zumeist gehört, können aber weder guten Gewissens Pietisten ausmachen, noch etwa deren »Lehre / Mores und Thun« bestimmen.12 Über die Bestimmtheit von Gerüchten (»Wäre aber geredet worden«) geht es anfangs selten hinaus. Im Laufe des Streites allerdings, der viele interessante und z. T. wohl auch für die Zeitgenossen unvorhersehbare Wendungen nimmt, erweisen sich viele der Gerüchte über das Wesen der Bewegung als falsch und verleumderisch, während andere belegt werden. Diese zweite, für die Entwicklung der Bewegung so bedeutsame Streitphase, wird im Folgenden im Mittelpunkt des Interesses stehen. Im Diskurs der 1690er Jahre werden in den antipietistischen Beschuldigungen die praktischen Äußerungen pietistischer Frömmigkeit aus der Außensicht aufgezeigt und von pietistischer Seite belegt, bestritten oder falsifiziert. Im Vergleich zu den antichassidischen Polemiken verbindet sich mit dem antipietistischen Schrifttum, das aus dieser Phase hervorging, ein anderes Problem: War es dort eine relativ geringe Anzahl an zur Verfügung stehenden Quellen, so bietet sich hier eine Fülle von Quellenmaterial, das in den 1690er Jahren und zu Beginn des 18. Jahrhunderts entstanden ist. Beide Streitparteien legten eine außerordentliche (nicht nur) literarische Aktivität an den Tag, welche eine Auswahl erforderlich macht. Zunächst ist also ein Überblick über die Quellenlandschaft notwendig, was ohne weitere Hilfsmittel kaum möglich ist. Solche bieten jedoch bereits Zeugnisse der Kontroverse: Verschiedene Sammlungen bzw. Kataloge, die nach eigenem Bekunden entweder neutral über die Positionen beider Streitparteien informieren wollen13, damit sich der Leser selbst ein Bild machen kann, oder Pietisticorum, zum Truck befördert worden. 1692. Es wird das Exemplar der Göttinger Actorum Pietisticorum (s. u.) verwendet (hier zu finden im ersten der 12 Bände an 9. Stelle). 12 Vgl. v. a. die im Leipziger Protocoll festgehaltenen Artikel III. (»Saget: Es wäre ihm in specie keiner bewust / vom Namen hätte er gehöret […]«) IV., V., VI. usw. der Zeugenbefragung, S. 13 ff. 13 Vgl. Acta Pietistica, 4 (unpag.) (s. u., S. 155ff) : »Nachdem dann dieser Pietistische streit weit und breit erschollen / und die Leute / wie es gemeiniglich gehet / auß mangel sattsamen und gründlichen berichts / nicht viel weniger sündigen als reden macht / vermeynet der Verleger dem warheit liebenden leser keinen missfälligen dienst zu erweisen / da er die allerseitige Acta, Missiven / Bedencken und Responsen / wie sie ihme verschiedentlich zuhanden kom-

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Pietistische Frömmigkeitsmerkmale aus gegnerischer Sicht

aber den Leser mit den notwendigen Quellen versorgen wollen, um ihn auf den rechten Weg (mithin den des Kompilators) zu bringen.14 In diesen ›Katalogen‹ von pietistischen und antipietistischen Schriften werden diejenigen Quellen (etwa Briefe, Verhörprotokolle, einzelne Aufsätze usw. nebst den auf sie folgenden Gegenschriften) aufgezeigt, welche entweder den Zeitgenossen am wichtigsten waren – oder aber die größte Verbreitung gefunden hatten. So lässt sich die Auswahl zeitgenössisch begründen. Innerhalb dieser Kataloge bzw. Sammlungen der eine Vielzahl von Gattungen aufgreifenden Schriftstücke finden sich nun neben solchen Schilderungen, die einzelne Sachverhalte, Personen oder literarische Werke angreifen, auch eine große Anzahl von Quellen, die über den Pietismus informieren wollen. Gerade zu Beginn des skizzierten Zeitraumes der frühen 1690er Jahre häufen sich die Schilderungen, in denen nicht mehr differenziert wird zwischen den ›Abwegen‹ einzelner Personen, sondern die ohne Skrupel etwa Philipp Jakob Spener, August Hermann Francke, das Ehepaar Petersen und den Quedlinburger Goldschmied Heinrich Kratzenstein unter dem Begriff ›Pietismus‹ subsumieren. Mit der Lektüre solcher kontroversen Texte wird man Zeuge der Entstehung nicht nur des Begriffes Pietismus, sondern auch des Pietismus als greifbarem Phänomen. Diese Texte stellen das Quellenkorpus dar, das im Untersuchungszusammenhang von eigentlichem Interesse ist. Wie oben die chassidischen Frömmigkeitsmerkmale interessierten, so sind es nun die allgemein pietistischen. Der vermutlich früheste – und, wie zu zeigen ist, wohl auch bedeutsamste – derartiger ›Kataloge‹ über Dokumente zur Pietismuskontroverse des ausgehenden 17. Jahrhunderts ist Acta Pietistica, Oder Kurtzer Begriff der gesamten Schriften / so beydes vor als wider die sogenante Pietisten zu Leipzig / Hamburg / Giessen / und anderer Orten publiciret worden. Die Liste, die 1691 in Frankfurt veröffentlicht wurde, schließt zeitlich an die ersten Streitjahre der zweiten Phase an (»Nachdem dann dieser Pietistische Streit weit und breit erschollen […]«) und rühmt sich mit subtilem Humor, beide Streitparteien zu Wort kommen zu lassen: »Befinden sich demnach hier in der stille beyeinander / die sich sonsten wol übel vertragen dürfften«.15 Bei dem anonym veröfmen / treulich abdrucken […] es werde dadurch vielem so unzeitigem als ungütigem richten am besten vorgebogen werde.« 14 Vgl. beispielsweise die Ausführliche Beschreibung des Unfugs / Welchen Die Pietisten zu Halberstadt im Monat Decembri 1692. umb die heilige Weyhnachts = Zeit gestifftet. Dabey zugleich von dem Pietistischen Wesen in gemein etwas gründlicher gehandelt wird, 1693, 6: »Weil aber aus denen Actis unterschiedene documenta, Brieffe / Bezeugungen / und dergleichen mehr mit beyzubringen […] Dabey denn die Nothdurfft erfodert / vorhero in etl. Capiteln etwas in gemein von denen Pietisten / und was sich hier und da mit denenselben begeben / zu erzehlen / damit man desto besser erkenne / wo alles Unheil ursprünglich herrühre / und wie dem Ubel am besten zu remediren sey.« 15 Auf der 4. der unpag. Seiten.

Streit um die rechte Frömmigkeit: die Quellen

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fentlichten und mit einem (möglicherweise von Joachim Justus Breithaupt verfassten16) Vorwort versehenen Schriftstück handelt es sich um eine reine Auflistung von 24 Streitschriften, die bis zur Veröffentlichung der Acta Pietistica erschienen sind. Mithilfe dieses Überblicks lassen sich einige der frühesten (und wohl bedeutsamsten und am weitesten verbreiteten) im Druck erschienenen Zeugnisse der zweiten Streitphase ausmachen. Hierdurch wird eine erste Auswahl antipietistischer Streitschriften sowie deren pietistische Respondenz möglich. Diese Acta sind jedoch aus einem anderen Grund auch für die weitere Quellenauswahl von zentraler Bedeutung: Auch wenn hinter dem Begriff Acta ein durchaus übliches, verbreitetes Verfahren der Sammlung unterschiedlicher Dokumente zu einem bestimmten Thema steht, so stellt das genannte Schriftstück mehr dar, da es wiederholt als Aufforderung verstanden wurde, die gelisteten Schriften unter dem Namen Acta Pietistica mehr oder weniger einheitlich zusammenzutragen, wobei es offensichtlich eine relativ weite Verbreitung erfuhr. Hierbei variierte der Ehrgeiz, Vollständigkeit zu erreichen, zum Teil erheblich. So liegen etwa in Halle/Saale sowohl in der Bibliothek der Franckeschen Stiftungen als auch in der Universitäts- und Landesbibliothek SachsenAnhalt Bände vor, die Acta Pietistica tituliert sind und mehr oder weniger vollständig jene Texte enthalten, welche in dem anonymen Schreiben von 1691 zusammengetragen worden sind. Teils wurden zudem weitere Schriften aufgenommen, die den unbekannten Kompilatoren sammelnswert (›Acta-relevant‹) erschienen; teils wurde auch die Reihenfolge, die durch Acta Pietistica vorgegeben wurde, verändert oder es wurden einzelne Schriften weiter unterteilt.17 Leider lässt sich die Geschichte der Bände nicht zurückverfolgen; die Fragen, wann genau, mit welchem Interesse und vor allem durch wen die Zusammenstellung erfolgte, können nicht geklärt werden. Es lässt sich nur durch mit eingebundene Quellen aus den Jahren bis 1692 bzw. bis 1696 vermuten, dass die Zusammenstellung nach 1692 resp. 1696 erfolgt sein muss. 16 Das Vorwort ist auf den 18. März 1691 datiert und gibt Erfurt als Ort an; Breithaupt, bis 1691 Professor und Senior in Erfurt, wechselte im selben Jahr nach Halle, um dort die erste Theologieprofessur der neugegründeten Universität zu übernehmen; vgl. Martin Brecht, Philipp Jakob Spener, sein Programm und dessen Auswirkungen, 357; es wird nur mit den Initialen J.J.B abgeschlossen; vgl. zu Breithaupt auch Andreas Lindner, Von Erfurt nach Halle. Joachim Justus Breithaupt (1658 – 1732), ein Forschungsbericht. In: Jahrbuch für Erfurter Geschichte 4, 2009, 45 – 72. 17 Beispiele für recht erfolgreiche Versuche, die in Acta Pietistica gelisteten Schriften mit einem Anspruch auf Vollständigkeit zusammenzutragen, sind etwa die Bände mit den Signaturen 51D12, 33D1und 53K5 aus den Beständen der Bibliothek der Franckeschen Stiftungen; einzelne Schriften aus der Acta Pietistica, aber auch gänzlich andere Quellen enthält das Acta Pietistica genannte Restitut mit der Signatur AB153278 der Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt.

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Pietistische Frömmigkeitsmerkmale aus gegnerischer Sicht

Den mit Abstand ehrgeizigsten Versuch, die »Schriften / so beydes vor als wider die sogenante Pietisten« zu sammeln, stellen wohl die zwölf Quartbände Acta Pietistica der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen dar : 54318 gedruckte und handschriftliche, deutsche sowie lateinische Schriftstücke zur zweiten Phase des Streites aus den Jahren 1685 bis 1699 sind hier zusammengetragen worden. Keineswegs allerdings kann die Rede sein von einer willkürlichen Sammlung: Vielmehr folgen die Bände einer ungefähren Chronologie, die vermuten lässt, dass die Sammlung auch auf die Dokumentation des Streites abzweckte. Hierüber hinaus kann allerdings nur wenig mehr über die Motivation oder den exakten Zeitpunkt der Sammlung gesagt werden als über die exemplarisch angeführten Bände aus Halle: Das auf den Spiegel eines jeden der Bände aufgeklebte Exlibris (Joachimus Heinrichus Lib Baro de Bülow) lässt auf Joachim Heinrich von Bülow als leidenschaftlichen und ehrgeizigen Sammler (oder zumindest Initiator) schließen und durch den Akzessionskatalog der Universitäts- und Staatsbibliothek lässt sich schlussfolgern, dass sie zum 8912 Bände zählenden Bülowschen Nachlass gehörten, der 1734 in den Besitz der Göttinger Universitätsbibliothek überging, wo er anfangs etwa drei Viertel des Gesamtbestandes ausmachte.19 Demnach muss die Zusammenstellung der zwölf Bände zwischen 1699 (dem Veröffentlichungsdatum der jüngsten Schriften) und 1724 (dem Todesjahr Bülows) abgeschlossen worden sein. Dieser Zeitraum lässt sich durch den Bülowschen Katalog von 1702, der die Acta Pietistica erwähnt20, weiter eingrenzen auf einen Zeitpunkt um die Jahrhundertwende – und somit kurz nach der Veröffentlichung der jüngsten enthaltenen Schriftstücke. Auch, wenn im Untersuchungszusammenhang der kommunikative Akt, der sowohl durch das frühe, ›namensgebende‹ Schriftstück Acta Pietistica als auch durch die exemplarisch angeführten gleichnamigen Versuche der Sammlung der aufgelisteten Schriftstücke in den Bänden aus Halle und durch die Göttinger Acta Pietistica dokumentiert wird21, an dieser Stelle nicht weiter von Interesse ist, sollte dennoch ein kurzer Blick auf den Charakter der Acta, die im folgenden als Quellengrundlage dienen wird, geworfen werden. Dementsprechend ist auf das im Hintergrund stehende Verfahren zumindest hinzuweisen: Mit der do18 Diese Zahl enthält nur die mit ganzen Zahlen bezeichneten Schriftstücke; nicht wenige hiervon sind weiter unterteilt und durch Minuskeln gekennzeichnet. 19 Vgl. Christiane Kind-Doerne und Klaus Haenel, Die Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen. Ihre Bestände und Einrichtungen in Geschichte und Gegenwart, Wiesbaden 1986, 10; zu Joachim Hinrich von Bülow (1650 – 1724) vgl. HansGünther Seraphim, Joachim Hinrich von Bülow und seine Bibliothek, Göttingen 1929. 20 Martin Gierl, Pietismus und Aufklärung. Theologische Polemik und die Kommunikationsreform der Wissenschaft am Ende des 17. Jahrhunderts, Göttingen 1997, 23, vgl. v. a. Anm. 10. 21 Und der das Zentrum des Interesses von Martin Gierl darstellt, s. Anm. 20.

Die Gegner der ›Pietisterey‹

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kumentierenden Listung bzw. Sammlung derartiger »handlungs- bzw. konfliktbezogener«22 Dokumente, zudem unter der subsumierenden Terminologie Acta, »handelt es sich […] um ein an juristische Prozeßführung angelehntes Verfahren. Es geht um die Erhebung der ›Species facti‹ durch eine auf die ›Acta‹ gestützte Beweisführung«, wobei »›Species Facti‹ […] die ›Vorstellung einer streitigen Sache‹ im juristischen Prozeß« beschreibt und der »Begriff der ›Acta‹ […] die von offizieller Seite gesammelten bzw. bewirkten Aufzeichnungen verhandelter Vorgänge« meint.23 Mit der bewussten Übernahme einer derartig konnotierten Terminologie lässt sich das »Acta-Verfahren« als »aktenorientierte Vorstellung eines strittigen Sachverhalts definieren«24, wobei in einer derart umfangreichen Sammlung, wie sie etwa die Göttinger Acta Pietistica darstellt, eine große Menge strittiger Sachverhalte thematisiert wird. Im Untersuchungszusammenhang ist es die Frage nach den pietistischen Frömmigkeitsformen, welche durch die Infragestellung ihrer Orthodoxie thematisiert werden. Hierfür bieten die Göttinger Acta Pietistica mit ihrer Fülle interessanten Materials eine ausgezeichnete Quellengrundlage, auf die zwar in der Pietismusforschung schon hier und dort zugegriffen wurde, die aber in ihrer Gesamtheit außer in der Arbeit Gierls bis jetzt nicht thematisiert wurde. Einen Aufsatz, der sich dezidiert mit formalen Kriterien oder auch der inhaltlichen Zusammenstellung der zwölfbändigen Acta auseinandersetzt – zumal aus kirchengeschichtlicher Perspektive – gibt es bis dato nicht.

2.

Die Gegner der ›Pietisterey‹

Wer aber war es, der die Orthodoxie dieser Frömmigkeitsformen, um die es im Weiteren gehen wird, in Frage stellte? Wer verfasste die Streitschriften und Polemiken, die »ausführlichen Beschreibungen« und »Berichte« über die Pietisten und ihre »Irrthümer« und bildete somit in den zahlreichen zeitgenössischen Aktensammlungen, darunter etwa die Göttinger Acta Pietistica, die Opposition zur sich gerade etablierenden pietistischen Bewegung? Viele der im Folgenden zitierten Schriftstücke, welche die Pietisten mit ihren prägnanten Frömmigkeitsmerkmalen thematisieren, wurden, wie bereits erwähnt, anonym oder pseudonym verfasst. Dies macht eine Einordnung dieser Texte schwer bis unmöglich. In jedem Fall würde es Einzelstudien voraussetzen, die an dieser Stelle nicht geleistet werden können. Das Abstecken des Rahmens, innerhalb dessen sich ihre Autoren bewegten, ist deshalb nur mittelbar anhand 22 Ebd., 147. 23 Vgl. ebd., 146. 24 Ebd., 147.

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Pietistische Frömmigkeitsmerkmale aus gegnerischer Sicht

jener Quellen möglich, deren Autoren bekannt sind und die in nächster Umgebung – innerhalb der jeweiligen Acta – mitgesammelt wurden. Die Verfasser der Streitschriften, die sich nicht scheuten, ihre Namen preiszugeben, bilden eine wesentlich einheitlichere Front, als es bei den Antichassidica der Fall war : Stellt man die Namen der antipietistischen Autoren des Korpus nebeneinander, so finden sich letztlich die großen Verfechter des orthodoxen Luthertums des ausgehenden 17. Jahrhunderts beisammen. Sie stehen auch durchweg exemplarisch für die traditionellen lutherischen Hochburgen, sowohl in geografischer als auch institutioneller Hinsicht. Die Anhänger der Bewegung hatten es nicht gerade mit unbekannten Gegnern zu tun. Vielsagend ist beispielsweise die Formulierung der Allgemeinen Deutschen Biographie über Balthasar Mentzer II. (1614 – 1679), dessen Kurtzes Bedencken / von den eintzelen Zusammenkunfften Philipp Ludwig Hanneken (1637 – 1706) 1691 herausgab: »Dogmatisch stand er auf dem Standpunkte seines Vaters, ohne indeß den Scharfsinn und die Gedankentiefe desselben zu erreichen.«25 Sein Vater, Balthasar Mentzer I. wiederum wird charakterisiert als »streng = lutherischer Theologe im ersten Stadium der protestantischen Scholastik.«26 Mentzer kann an dieser Stelle quasi exemplarisch für die orthodoxen hessischen Universitäten Marburg und Gießen angeführt werden, die in den 1690er Jahren von pietistischen Streitigkeiten erschüttert wurden. Ebenso Hanneken, der Herausgeber des Kurtzen Bedenckens: »Er wurde bekannt durch seine zähe, aber erfolglose Verteidigung der Giessener orthodoxen Fakultät gegen den Einzug pietistischer Professoren […]. Hanneken, der später nach Wittenberg, ins Zentrum der lutherischen Orthodoxie wechselte, »zählt zwar nicht zu den wirklich großen Gestalten der luth. Orthodoxie an der theologischen Fakultät in Wittenberg, er ist aber ihr später und unerbittlicher Verteidiger.«27 Auch Samuel Schelwig (1643 – 1715), Verfasser diverser Streitschriften, die etwa in den Göttinger Acta Pietistica gesammelt wurden, ist als »einer der eifrigsten und heftigsten Streiter unter den lutherischen Theologen des 17. und 18. Jahrhunderts wider den Spener’schen, auf eine gründliche Erneuerung des kirchlichen Lebens neben der reinen Lehre dringenden Pietismus«28 anzusehen. Ähnliches lässt sich über Johann Benedikt Carpzov (1639 – 1699) und Johann Friedrich Mayer (1650 – 1712) feststellen, zwei weiteren, weiten Raum innerhalb der Akten einnehmenden Streitern: Obwohl beide anfänglich mit Spener befreundet waren, wandten sie sich in den achtziger bzw. neunziger Jahren des 25 26 27 28

P. Tschackert, Art. Balthasar M. der Jüngere, in: ADB, Bd. 21, 374. P. Tschackert, Art. Mentzer : Balthasar M. der Aeltere, in: ADB, Bd. 21, 374. Erich Beyreuther, Art. Hanneken, Friedrich Ludwig, in: NDB, Bd. 7, 620 f. D. Erdmann, Art. Schelwig: Samuel S., in: ADB, Bd. 31, 30.

›Unfug der Pietisterey‹: Spezifika pietistischer Frömmigkeit aus orthodoxer Sicht

181

17. Jahrhunderts gegen den Pietismus – teils aus privaten, teils aus dogmatischen Gründen.29 Natürlich sind hiermit nur einige wenige Beispiele aus den orthodoxen Reihen genannt, die sich gegen den Pietismus einsetzten. Jedoch sollte mit diesen hinreichend aufgezeigt sein, dass es sich, anders als bei den Gegnern der Chassidim im 18. Jahrhundert, um einen dogmatisch relativ geschlossenen Block handelte, der sich den Plänen und pragmatischen Ansätzen der Vertreter der pietistischen Bewegung entgegenstellte. Hierüber kann auch die geografische Streckung nicht hinwegtäuschen: Wie bereits angedeutet, agierten die Autoren der Antipietistica des ausgehenden 17. Jahrhunderts aus allen namhaften Stätten orthodoxen Wirkens: Über die hessischen Universitätsstädte Gießen und Marburg weiter nach Osten über die traditionellen lutherischen Hochburgen Wittenberg, Erfurt, Leipzig usw. bis in verschiedene norddeutsche Hansestädte – Hamburg allen voraus – wurde der Streit ausgetragen, wobei sich die Argumente, wie sich zeigen wird, relativ wenig unterschieden.

3.

Der ›Unfug der Pietisterey‹: Spezifika pietistischer Frömmigkeit aus orthodoxer Sicht

3.1

Sectirer, Conventualn und Unruhestiffter – Ansichten einer neuen kirchenkritischen Gemeinschaftsform

»Die Mißbräuche der Pietisterey sind folgende: 1. Daß die Pietisten nicht nur wider Wissen der Obrigkeit / sondern auch wider deren Befehl / Winckel = Zusammenkünffte halten / als Hülffs = Mittel zu einer sonderbar = heiligen Verbrüderung (die sie sich zum Zweck vorgesetzet haben) pflegen anzustellen; und das mit solchem Eyfer / daß sie auch öffentliche von GOtt selbst befohlene und von der Obrigkeit ohne Argwohn gebilligte Zusammenkünffte geringe halten / etliche unter ihnen auch gar verachten und lästern. Daher sie dann auch die Winckel = Zusammenkünfften fleißig besuchen / die öffentlichen aber / auch am Sonntage / hinden ansetzen. Denn man findet welche / die gar nie in eine Kirche kommen. 2. Daß sie diese privat- und Winckel = Zusammenkünfften allerdings vor nöthig halten / und sonderlich wolten / daß 29 Vgl. die einschlägigen Artikel etwa der ADB: Art. Mayer: Johann Friedrich, Bd. 21, 99 – 108; Art. Carpzov : Joh. Benedict C. II., Bd. 4, 21 – 26; die Beziehung zwischen Spener und Carpzov wird ausführlich von Ernst Koch beleuchtet: ders, Johann Benedikt Carpzov und Philipp Jakob Spener. Zur Geschichte einer erbitterten Gegnerschaft, in: Michel, Stefan und Straßberger, Andres (Hgg.), Eruditio – Confessio – Pietas. Kontinuität und Wandel in der lutherischen Konfessionskultur am Ende des 17. Jahrhunderts. Das Beispiel Johann Benedikt Carpzovs (1639 – 1699), Leipzig 2009,161 – 182; vgl. ebd. auch Stefan Michel, Kirchenlieder im Kampf gegen den Pietismus. Johann Benedikt Carpzovs Lehr- und Liederpredigten zwischen 1688 und 1690, 203 – 222.

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Pietistische Frömmigkeitsmerkmale aus gegnerischer Sicht

Seelen = Hirten solche müsten anstellen / nicht alsdenn nur / wenn sie Krancke zu besuchen / oder Irrende zu erinnern / oder Angefochtene zu trösten haben / (welche privat-Zusammenkünffte freylich geschehen müssen) sondern auch zu andern Zeiten wo dergleichen Noth nicht ist. Und solche privat-Zusammenkünffte meynen sie wären öffentlichen Zusammenkünfften weit vorzuziehen. […]«

Mit dieser Schilderung bezeichnet der anonyme Autor30 des 1691 veröffentlichten, nicht eben wenig umstrittenen Eben = Bild der Pietisterey31, was vor und nach ihm noch viele andere als das bedeutendste Merkmal der ›Pietisterey‹ angesehen haben: Die noch junge Bewegung hob sich gegenüber der traditionellen Konfessionskirche durch eine neue Gemeinschaftsform ab. Wie in den mitnaggedischen und maskilischen Schilderungen über die beispiellose chassidische Gemeinschaftsform wird auch in den antipietistischen Quellen dieses prägende Merkmal sehr ernst genommen, weshalb es – nicht nur im Eben = Bild der Pietisterey – meist als ›Haupt-Mißbrauch‹ an erster Stelle angeführt wird. Über die exponierte Nennung hinaus erweist sich in den Streitschriften die Bedeutsamkeit, die die lutherische Orthodoxie diesem Merkmal beimisst, schon rein quantitativ : Etwa in dem skizzierten ›Katalog‹ Acta Pietistica aus demselben Jahr 1691 beziehen sich von den 24 (sowohl pietistischen als auch antipietistischen) Streitschriften 14 schon im Titel explizit auf die Recht- bzw. Unrechtmäßigkeit dieser Gemeinschaftsform. Von den 95 (98) Schriftstücken des ersten Bandes der Göttinger Acta, um ein weiteres Beispiel zu nennen, weist etwa ein Viertel bereits im Titel auf das Thema hin. Die Autoren haben nicht erst seit Beginn der zweiten Streitphase um die Leipziger Unruhen mit den pietistischen Gemeinschaften das zentrale Kennzeichen der Bewegung ausgemacht, was sie, die aus vielen Orten in den deutschen Ländern schreiben, »mit öffentlicher Darstell = und Bezeugung eigener Erfahrung bestätigen könen«32. Im eingangs angeführten Zitat werden bereits viele der Vorwürfe, die an diese in der gegnerischen Polemik als »Winckel = Zusammenkünffte« oder einfach »Zusammenkünffte«, als »Conventicula«, aber auch »Collegia« (meist mit dem Vorsatz »sogenante«) bezeichnete Gemeinschaftsform gerichtet wurden, vorgestellt: Sie dienen »als Hülffs = Mittel zu einer sonderbar = heiligen Verbrüderung«; »öffentliche von GOtt selbst befohlene und von der Obrigkeit ohne Argwohn gebilligte Zusammenkünffte« halten sie »geringe«; »diese privat- und Winckel = Zusammenkünfften« halten die Pietisten dagegen für notwendig. Diese kurzen Charakterisierungen bilden drei Komplexe, in die sich die meisten 30 Meyer, Einleitung, 40 nimmt hinter dem Anonymus den Hallenser Pfarrer Albrecht Christian Roth an. 31 Eben = Bild der Pietisterey / Das ist: Kurtzer Entwurff Der missbräuche und Irrthüme / Welche in der Pietisterey (die zwar lächerlich / doch villeicht nicht wider Billigkeit also beniemet wird) sich finden sollen […] 1691, auf der siebten der unpag. Seiten. 32 Eben = Bild Der Pietisterey, Titelblatt.

›Unfug der Pietisterey‹: Spezifika pietistischer Frömmigkeit aus orthodoxer Sicht

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der Einschätzungen aus nichtpietistischer Sicht einsortieren lassen. Auch lassen sich viele der Befürchtungen in den drei Bereichen begründen. Was also verbirgt sich hinter der Formulierung »Hülffs = Mittel zu einer sonderbar = heiligen Verbrüderung«? In den gegnerischen Streitschriften variieren die Schilderungen bezüglich der »sonderbar = heiligen Verbrüderung« über ein relativ breites Spektrum, das im Großen und Ganzen durch zwei Begriffe bestimmt ist, auch wenn diese nicht immer explizit genannt werden: Die »sonderbar = heilige Verbrüderung« wird durchweg als Ausdruck einer »Secte«33 und der »separation«34 von der rechten Gemeinschaft der lutherischen Kirche verstanden. Hierbei bringen die antipietistischen Beschreibungen des ›Unfugs‹ innerhalb der pietistischen Gemeinschaften einige Details ans Licht, die einen Eindruck davon vermitteln können, woraus die Befürchtungen abgeleitet wurden. So muss die Gemeinschaft der Mitglieder in den pietistischen Zusammenkünften eine Intensität gehabt haben, wie sie in den regulären kirchlichen Zusammenkünften fremd gewesen sein wird. Dies drückt sich bereits in der innerhalb der Gemeinschaft verwendeten Anrede aus: »Zu solcher Trennung [von der Hauptkirche] dienet auch nicht wenig / daß sich die neue Conventualn / und die sonst ihrer Meinung sind (ohnangesehen sie gar ungleicher Geschlechte / Condition und Würden sind) mündlich und schrifftlich in einem sonderbahren und nähern Verstand / Brüder und Schwestern / auch theils nicht mehr IHR sondern DU nennen / als sonsten ins gemein ihre Glaubens Genossene[!]: Welches ja ungezweiffelt auff eine von andern in den Gemüthern abgesonderte Societät zielet.«35

Offensichtlich sprach man sich mit ›Bruder‹ und ›Schwester‹ an und verwendete das unübliche, jedoch die respektierliche Distanz überwindende ›Du‹, ohne hierbei auf die Standesunterschiede zu achten.36 Darüber hinaus sind noch weitere Hinweise zu finden, dass die Standesunterschiede zumindest innerhalb der Gemeinschaften nicht sonderlich beachtet wurden. Etwa aus einer Hamburger pietistischen Zusammenkunft berichtet eine Zeugin: »Die Dienstbothen sollten nicht arbeiten / sondern mit denen Herren zu Tisch sitzen / denn wir 33 Etwa Eben = Bild der Pietisterey, 6. 34 Z.B. in Maß des Unmaßgeblichen Bedenckens / Das ist: Das Unmaßgebliche Bedencken Von den Pietisten und denen Collegiis Pietatis, Nach dem Maße der Warheit abgemessen / und überall zu kurtz befunden / Von einem Liebhaber der Göttlichen Warheit Zu Hintertreibung derselben abgefasset und in Druck gegeben. Im Jahre 1692, 9. 35 Herrn Balthasaris Mentzeri S. SS. Theologiae D. und Superintendenten zu Darmstadt / Kurtzes Bedencken / Von den Eintzelen Zusammenkunfften / Wie dieselbe etlicher Orten wollen behauptet werden / Beneben auch andern nothwendigen Erinnerungen. Sampt einer Vorrede Phil. Ludov. Hannekenii, SS. Th. Doct. Und Superintendenten zu Giessen. Giessen 1691, 31 f. 36 Zur befürchteten Auflösung der Unterschiede zwischen den Ständen, v. a. dem geistlichen Stand, vgl. ausführlicher V.3.2.1.

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Pietistische Frömmigkeitsmerkmale aus gegnerischer Sicht

wären hier einander alle gleich.«37 Auch, wenn die Betonung der Zeugin eindeutig auf dem »hier« liegt, so sieht der anonym gebliebene Autor hier dennoch die Gefahr der sektirischen Abgrenzung nach außen. In eben derselben Quelle findet sich zudem der (allerdings singuläre) Hinweis auf die Gütergemeinschaft innerhalb der Zusammenkunft in der Hamburger »Neu = Stadt«.38 All diese Beschreibungen zeigen, dass in den pietistischen Zusammenkünften ein Gemeinschaftsgedanke bzw. ein Gemeinschaftsgefühl praktiziert wurde, dass sich von der allgemeinen Kirchengemeinschaft offensichtlich nicht unerheblich abhob. Hiermit verband sich außerhalb dieser intensiven Gemeinschaft die Befürchtung, dass sich die pietistische Gemeinschaft durch ihren starken Zusammenhalt nach innen von der sie umgebenden (lutherischen) Kirche abspalten könnte, was das oben angeführte Zitat deutlich belegt: »Welches ja ungezweiffelt auff eine von andern in den Gemüthern abgesonderte Societät zielet.« Eine solche Abspaltung drückt sich etwa in der im Eben = Bild Der Pietisterey geschilderten Beobachtung einer Geringschätzung der »öffentliche[n] von GOtt selbst befohlene[n] und von der Obrigkeit ohne Argwohn gebilligte[n] Zusammenkünffte« aus: Während zwar Spener bereits ab der Mitte der 1670er Jahren über das Fernbleiben einer Gruppe von Mitgliedern anderer Collegia (wie der selbst gewählte Name lautete) klagte39, so muss dieser Zustand in den 90er Jahren bereits zum Normalfall geworden sein, wenn man den orthodoxen Zeugnissen glauben darf: So heißt es über das bereits angeführte Eben = Bild der Pietisterey hinaus in der anonymen Ausführliche[n] Beschreibung Des Unfugs […], die sich als dokumentierende Sammlung von »aus denen Actis unterschiedene documente, Brieffe / Bezeugungen / und dergleichen mehr« (vgl. die Vorrede) versteht: »Ja was noch mehr ist / soll auch dieser Herr Kessler [ein Student; er wurde kurz vorher als Pietist vorgestellt, d. Vf.] / als er auff einem Sontag unter dem Gottesdienst nach Waltershausen zu seiner Gefreundin kommen / und befragt worden / wo er dann ietzo unter der Kirchen herkäme? zur Antwort gegeben haben / er hätte seine Kirche schon im Hertzen […].«40 37 Außführlicher Bericht / von denen Sich anitzo ereigenden verdamlichen und unrechmässigen Quäcker = Zusammenkünfften / so leyder GOttes! an diesen reinen Lutherischen Orth / und zwar in der Neu = Stadt / nunmehro wollen observiret werden / In einer freygethanen Geständnüß und Aussage entdecket / allen denen / so hiervon entweder nicht zur gnüge / oder doch falsch berichtet worden / zu Erkäntnüß solches vefluchten teuffelischen Unweesens / ertheilet / von einem / der gerne sehe / Daß es in der wahren Lutherischen Kirche / an einen reinen und sonst unbefleckten Orth / so wohl unter Lehrern als Zuhörern / ordentlich zugehe. Hamburg 1693, auf der 10. der unpag. Seiten. 38 Ebd., 8. 39 Martin Brecht, Philipp Jakob Spener, sein Programm und dessen Auswirkungen, 317. 40 Ausführliche Beschreibung des Unfugs / Welchen Die Pietisten zu Halberstadt im Monat Decembri 1692. umb die heilige Weyhnachts = Zeit gestifftet. Dabey zugleich von dem Pietis-

›Unfug der Pietisterey‹: Spezifika pietistischer Frömmigkeit aus orthodoxer Sicht

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Dieser Vorwurf der Geringschätzung regulärer kirchlicher Angebote zugunsten der pietistischen Collegia zieht sich im Verlauf der 1690er Jahre wie ein roter Faden durch die antipietistischen Streitschriften. Auch noch in der 1700 gedruckten Untersuchung von dem Wesen des Geistes Oder des seltsamen Pietisten = Gespenstes / Welches heutiges Tages die Welt äffet lautet der Vorwurf »zur Kirchen kommen sie selten / Und wenn sie gleich zur Kirchen kommen / so halten sies doch nicht mit der Kirchen. Mit offenen Augen gehen sie hinein / mit verschlossenen sitzen sie da / Gleich als möchten sie das Babel nicht anschauen. Sie finden sich ein in der Predigt / und sind doch ferne von der Predigt / Denn sie hören nur mit tauben Ohren / Und lesen offtmahls in frembden Büchern / Zu weisen / Daß sie als frembde nur zugegen sind.«41

Kurzum: »Solche privat-Zusammenkünffte meynen sie wären öffentlichen Zusammenkünfften weit vorzuziehen.« Sich hierauf beziehend bleibt der dritte im Eben = Bild Der Pietisterey vorgestellte Aspekt: dass die Pietisten »diese privatund Winckel = Zusammenkünfften allerdings vor nöthig halten.« Diese gegnerische Zusammenfassung wird in den folgenden Abschnitten (V.3.2-V.3.5) in einigen Aspekten noch detaillierter dargestellt werden. In der allgemeineren, einleitenden Darstellung der pietistischen Gemeinschaftsform zur Frage, warum die »Zusammenkünffte« so hoch geschätzt, angesichts der öffentlichen Angebote der Kirche gar für nötig erachtet wurden, sei an dieser Stelle nur auf die Begründungen hingewiesen, welche die Autoren der Antipietistica hierfür anbieten. Welchen Zielen dienten die »Konventikel« ihrer Meinung nach aus pietistischer Sicht? Das Christ = Vernünfftige Gespräch Von den so genannten Pietisten aus dem Jahr 1691, welches auch die »Collegia« als pietistisches Charakteristikum an erster Stelle durch den einen der Dialogpartner (Demas) anführt, kennzeichnet diese folgendermaßen: tischen Wesen in gemein etwas gründlicher gehandelt wird. 1693, 76; die Ausführliche Beschreibung geht vermutlich auf Johann Benedikt Carpzov zurück, vgl. Meyer, Einleitung, 43; auch die anonym erschienene Antwort hierauf, Kurtze Nachricht Von Dem Autore der neuen Läster = Schrifft/titulirt / Ausführliche Beschreibung des Unfugs / Welchen Die Pietisten in Halberstadt in Monat Decembr. 1692. um die heilige Weihnacht = Zeit gestifftet / sc. Anno 1693, Bl. 4 kommt zu dieser Einschätzung. Spener schreibt über dieselbe in Warhafftige Erzehlung/Dessen was wegen des so genannten Pietismi in Teutschland von einiger Zeit vorgegangen/Auß Gelegenheit Hn. Gerhard Craesi seiner Historiae Quackerianae einverleibter Historiae Pietistarum und zu dero Verbesserung Auffgesetzt, Franckfurt am Mayn 1697, 132: »Ist nun in diesem Jahr hundert eine abscheuliche läster = schrifft / gantz von fabeln / lügen und lästerungen zusammen gestopfft ans liecht gekommen / so ists diese gewesen. […] daß man hätte glauben sollen / niemand würde solchen lügen mehr gehör geben: nichts destoweniger wurde die schrifft fast in gantz Teutschland […] begierig angenommen […].« 41 Untersuchung von dem Wesen des Geistes Oder des seltsamen Pietisten = Gespenstes / Welches heutiges Tages die Welt äffet / Angestellet Zur treuhertzigen ernstlichen Warnung aller frommen Christen / Von einem Freunde der Pietaet, und Feinde der Pietisterey, geschehen in demselbigen Jahr / Da solche Warnung nöthig war. 1700, 13 f.

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Pietistische Frömmigkeitsmerkmale aus gegnerischer Sicht

»Monsieur, ich will ihm nun recht sagen / was ich von den Pietisten gehöret. Nemlich 1. sollen sie Collegia über die Bibel halten. 2. sollen sie daraus Lehren / zur Erbauung des Nechsten ziehen. 3. sollen sie solch Thun mit Gebet anfangen / und zu Heiligkeit des Lebens anmahnen […].«42

Dieser Lehr- und gleichermaßen Erbauungscharakter der pietistischen Zusammenkünfte wird in einigen der Streitschriften als pietistische Erklärung für die Notwendigkeit derselben angeführt, selbstverständlich immer im Ton der Ironie. Denn fehlende Hinlänglichkeit der regulären kirchlichen Erbauung resp. Lehre sieht man auf orthodoxer Seite natürlich nicht gerne: »Man hat Anfangs / da der Pietisten Unwesen sich zuerst entsponnen / in den Gedancken gestanden / es sollte alles auf die Verbesserung des unheiligen Lebens / und auf ein thätiges Christentum angesehen seyn […] Die Art zu lehren aber / weil durch das Predigen in der Kirchen / und durch die öffentlichen Catechismus = Examina, wie man sie ingemein anstellete / so gar wenig Leute erbauet und frömmer würden: Dargegen wollten sie die Collegia pietatis und privat-Versamlungen / in welchen sie sich untereinander selbst erbaueten / eingeführet wissen. […].«43

In den Zusammenkünften wurden auch Aspekte des Christentums angesprochen, die ansonsten keinen Raum hatten – und die aus orthodoxer Sicht auch eigentlich keinen Raum brauchten, denn es »werden meistentheils auß dem vorhabenden Capitel scrupulose Fragen vorgebracht / so einfältige Leuten mehr Irrung als Erbauung bringen.«44 Darüber hinaus sind wohl auch private Angelegenheiten innerhalb der Collegia thematisiert worden, die im kleinen Rahmen, zwischen Gemeindeglied und Seelsorger, besser aufgehoben gewesen wären.45

42 Christ = Vernünfftiges Gespräch Von den so genannten Pietisten In Magdeburg von Zwey guten Freunden en passsant, gehalten. Frankfurt 1691, 4. 43 Ausführliche Beschreibung Des Unfugs, 22 f. 44 Pietistische Erzehlung Eines Aufrichtig = Augspurgischen Confessions = Verwandten / und der Fürstl. Hessen = Darmstättischen Kirchen = Ordnung Zugethanen / An Christoph Laelium, genannt Purgold. 1690, 20. 45 In D. Samuel Schelwigs Itinerarium Antipietisticum, Das ist Kurtze Erzehlung einiger Dinge / so Er auff seiner / schon im vorigen 1694sten Jahre verrichteten Reise / der Pietisten wegen / in Teutschland wahrgenommen / Auff Veranlassung zweyer Pasqvillen / numehr Durch offentlichen Druck gemein gemacht 1695 (Stockholm) heißt es auf Seite 14 über das Collegium Johann Caspar Schades: »Des Abends vernahm ich im Wirthshause mancherley von Hr. M. Schadens Collegiis Pietatis, nemlich daß unterschiedene Männer mit ihren Weibern nicht zu frieden wären / wenn sie dieselbe ersuchten [besuchten]. […] Eines kam lächerlich heraus / daß als M. Schade einst auff der Gasse seine Catechismus = Schwester / die ihm begegnet / fragte: Ob sie noch stritte? Verstehe mit den geistlichen Feinden: Sie ihm dafür geantwortet: Nu gehe es woll hin; denn sie sich in acht Tagen nicht mit ihrem Manne geschlagen hätte.« Dies verdient insofern besondere Beachtung, als dass sich indirekt zeigt, dass offensichtlich vor der Gruppe auch über Intimitäten, etwa zwischen Paaren, gesprochen wurde, was wiederum die intensive Gemeinschaft belegt.

›Unfug der Pietisterey‹: Spezifika pietistischer Frömmigkeit aus orthodoxer Sicht

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Kurzum: Mit den Zusammenkünften sollte eine Plattform für das ganze christliche irdische Dasein geschaffen werden. Selbstverständlich sehen die Kläger gegen die Pietisten dagegen die Notwendigkeit der Collegia mit ihrem zwischen privat und öffentlich changierenden Status46 – der nicht nur in Bezug auf die Erbauung, die durchaus in eine private und eine öffentliche ausdifferenziert sein soll47 – nicht. Sie sehen vielmehr die Gefahr der Separation durch die beschriebene Zertrennung der »Einigkeit im Geiste«48. Sie befürchten darüber hinaus jedoch auch den »grossen Seelen = Verderb der armen Leute«49, mithin den Verlust des Seelenheils aufgrund der vielen Unwägbarkeiten, die sich durch die fehlende Ordnung der (zumeist) nicht von berufenen Pfarrern organisierten Zusammenkünfte ergeben. Hinzu kommen Beobachtungen, die aus heutiger Sicht nicht weiter aufregend scheinen, die aber zum erregten Ton der Antipietistica einen nicht unerheblichen Beitrag leisten. Hierzu zählt, dass die offenbar enge Gemeinschaft in den Zirkeln (zumal von Männern und Frauen) von außen einen gewissen Ruch an sich hatte50, zumal die Zusammenkünfte wohl teilweise in den Abend- oder gar Nachtstunden stattfanden.51 Auch die Lektüre »verdächtiger« Bücher wird ihr Scherflein hierzu beigetragen haben.52 Diese Unordnung ist neben der Separation wohl die wichtigste Befürchtung, die die antipietistischen Autoren umtreibt, wenn sie über die pietistischen Zirkel schreiben.53 Jedoch stellt die Unordnung bzw. Unruhe auch die zentrale Befürchtung dar, wenn andere Merkmale pietistischer Frömmigkeit in den Blick genommen werden. Die markantesten hiervon werden im Weiteren vorgestellt.

46 Maß des unmaßgeblichen Bedenckens, 6. 47 Hanneken, Sendschreiben an N.N., 3; die Nichtbeachtung der beiden Ebenen gefährdet nach Hanneken die Kirchenordnung. 48 Pietistische Erzehlung, 13. 49 Hanneken, Sendschreiben an N.N., 4. 50 Vgl. etwa Pietisten = Gespenst, 14 oder Ausführliche Beschreibung des Unfugs, 156 51 Vgl. etwa Maß des Unmaßgeblichen Bedenckens, 6; Die Sectirische Pietisterey / In denen Artickeln / Von der Freygeisterey / von Lehr = Büchern der Evangelischen Kirchen / von der Chiliasterey / von der Heil. Schrifft / und der hieraus entspringenden Erleuchtung / und von der Enthusiasterey / Aus Hn. D: Philip Jacob Speneres und seines Anhangs Schrifften / Zur Unterricht und Warnung Fürgestellet / Von Samuel Schelwigen […], 1696, 48. 52 Vgl. etwa Eben = Bild der Pietisterey, 4; Pietisten = Gespenst, 6. 53 Vgl. etwa zusammenfassend das Pietisten = Gespenst, 3ff; hier wird den Collegia eine Trias von Vorstehern angedichtet, die sich aus dem Satan persönlich, dem Geist der Unordnung und der das Individuum hervorkehrenden Gewissensfreiheit rekrutiert.

188 3.2

Pietistische Frömmigkeitsmerkmale aus gegnerischer Sicht

Aufrührer gegen die Autoritäten der Kirche

Im Ganzen betrachtet, lassen sich die orthodoxen Befürchtungen in der Gefährdung von Ruhe und Ordnung der Lutherischen Kirche bündeln. Im Folgenden werden – über die neue, intensive Gemeinschaftsform hinaus – einige weitere Merkmale vorgestellt, die für die Kirchenvertreter im Verdacht stehen, die Ordnung zu gefährden, was sich für sie in der mutmaßlichen Geringschätzung markanter kirchlicher Werte seitens der Pietisten äußert. 3.2.1 … Hans omnis wol wolte Lehrer werden … ›Laien‹ im Pietismus Nachdem oben bereits die sich in den pietistischen Zusammenkünften äußernde neue Gemeinschaftsform als Charakteristikum der Bewegung – auch aus gegnerischer Sicht – aufgezeigt wurde, so lässt sich aus den gegnerischen Beschreibungen ein markantes Detail ablesen, welches die pietistischen Gemeinschaften weiter zu charakterisieren gestattet: die Rolle, die in den Zusammenkünften den Laien zugedacht war – und die offensichtlich auch durchgesetzt wurde. »[…] dieses ist die Frag: Ob ein Doctor Theologiae oder geistlicher Lehrer könne in seinem Privat-Hauß kirchliche Zusammenkunfft halten / und darinnen nicht allein er selbst / die Bibel lesen und erklären / sondern auch den Layen gestatten / dergleichen Erklärungen und Befragungen der Schrifft zu machen / gleich wie sonst ein Lehrer seine ordentliche Zuhörer lehre und befrage / und ein Lehrer den andern zu seiner Erbauung diene? Darauff ist meine Antwort mit rundem Nein / allermassen auß diesem Instituto lauter confusion der Lehrenden und Lernenden / lauter Unordnung des öffentlichen und Privat-Gottes-Dienstes / Verachtung der öffentlichen Predigten / und der Lehrer / welchem solchen neuen Methodo nicht beypflichten wollen / gewiß erfolgen würde / wie es / leider! die Erfahrung schon erwiesen / und endlich eine lautere Quackerey / da Hans omnis so wol wollte Lehrer werden / als die ordentliche Prediger seyn […]«54

Die befürchtete Unordnung bzw. »confusion« führen Hanneken und andere auf die besondere Rolle der Laien zurück, die ihnen nicht zuletzt in der kirchlichen »Zusammenkunfft« im »Privat-Hauß« zugestanden wird: Sie übernehmen sowohl Lehr- als auch Erbauungsaufgaben, die eigentlich dem berufenen Lehrer und Predigern vorbehalten sein sollten. Diese beiden nun auf die Laien übertragenen Aufgabenbereiche sollen im Folgenden in Anlehnung an einige Quellen zusammenfassend als der ›Hans-omnis-Vorwurf‹ bezeichnet werden. Nun verbirgt sich hinter dem ›Hans-omnis-Vorwurf‹ von orthodoxer Seite natürlich keine generelle Geringschätzung der Laien, sondern eben die Befürchtung von 54 Hanneken, Send = Schreiben an N.N., 1 f.

›Unfug der Pietisterey‹: Spezifika pietistischer Frömmigkeit aus orthodoxer Sicht

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»Unordnung« und »confusion« sowie die Angst von Bedeutungsverlusten für das reguläre Lehr- und Predigtamt. Das Problem ergibt sich hierbei somit aus zweierlei Befunden: Erstens und vor allem würde, so die Befürchtung, durch die Hochschätzung der Laien der geistliche Stand in seiner Würde herabgesetzt. Zweitens leide die Qualität von Lehre und Erbauung durch die nicht berufenen Laienteilnehmer. Zum ersten Befund: Der Hinweis etwa von Balthasar Mentzer, dass an den »Eintzele oder privat-Zusammenkünfften« letztlich jeder teilnehmen könne55, bietet den Ausgang hierzu. Im Eben = Bild der Pietisterey stellt dessen Autor darüber weit hinausgehend fest, »daß sie auch denen / welche in einer Versamlung zu lehren nicht geschickt sind / die Weibes = Personen selbst nicht ausgenommen / in ihren Zusammenkünfften zu lehren verstatten sollen / damit sie Brüder und Schwestern […] unterrichten und erbauen möchten.«56

Hierin wohl liegt die eigentliche Schwierigkeit: Während zwar das die Standesunterschiede verwischende Beisammensein von Männern und Frauen, zumal zur Nachtzeit, nicht eben gern gesehen und ja auch bekämpft wurde, so stellt der ›Hans-omnis-Vorwurf‹ ein regelrechtes Rütteln an den Grundfesten (nicht nur) der lutherischen Kirche dar, nicht zuletzt deshalb, weil es die Grundlagen kirchlicher Autorität auf den Kopf stellte, wie wahrscheinlich zuletzt in der lutherischen Reformation geschehen. Wie ernst die Autoren der antipietistischen Streitschriften die pietistische Laienrevolution nahmen, zeigt sich in den meisten der die Collegia thematisierenden Texte schon an der Menge der Hinweise auf unberufene Prediger.57 Oft ist dies lediglich als empörte Erwiderung auf die hierin angelegte pietistische Kritik am geistlichen Stand und seinem Erfolg hinsichtlich Lehre und Erbauung zu verstehen, die teils wohl auch expressis verbis erfolgte58 – und dies letztlich von allen möglichen Personengruppen, »alß herumlauffender Studenten / unverschämter Weiber und dergleichen […].«59 Immer wieder wird hierbei allerdings deutlich, dass das eigentliche Anliegen die Furcht um den Verlust der eigenen Stellung ist, die sich

55 Mentzer, Kurtzes Bedencken, 6 f. 56 Ebenbild der Pietisterey, 4. 57 Etwa Eben = Bild der Pietisterey, 4; Schelwig, Itinerarium Antipietisticum, 18, 57; Hanneken, Sendschreiben an N.N., 2; Schelwig, Sectirische Pietisterey, 20 ff. 58 »Die Art zu lehren aber / weil durch das Predigen in der Kirchen / und durch die öffentliche Catechismus-Examina, wie man sie ingemein anstellete / so gar wenig Leute erbauet und frömmer würden: Dargegen wolten sie die Collegia pietatis und privat-Versamlungen / in welchen sie sich untereinander selbst erbaueten / eingeführet wissen […]«; Ausführliche Beschreibung des Unfugs, 23. 59 Schelwig, Sectirische Pietisterey, 21.

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Pietistische Frömmigkeitsmerkmale aus gegnerischer Sicht

mit der Übernahme der »functiones sacerdotales«60 durch Laien verbinden kann, wenn es etwa heißt, »ein Prediger habe nichts voraus vor andern; Was erthun[!] könte / das könten auch andere Christen.«61 In derlei pietistischen Ansichten erkannten die der Gegenpartei angehörenden Seelsorger eine Geringschätzung ihres Standes und reagierten dementsprechend wenig begeistert62, zumal ihres Wissens nach tatsächlich kaum eine Personengruppe vom pietistischen Lehramt ausgeschlossen war. Indem ›Hans-omnis‹ lehren möchte also wird der geistliche Stand gering geschätzt. Darüber hinaus allerdings leidet, wenn der Unterschied zwischen Lehrenden und Lernenden innerhalb der Collegia zerstört wird, die Qualität der Lehre – mit dem Ergebnis, dass die Lernenden verwirrt werden und »die wahre Ubung der Gottseligkeit zernichtet / und in allerley Religions-Einführung die rechte seligmachende abgeschaffet werden würde«63, denn die als Lehrer agierenden sind oftmals schlichtweg ungeeignet – sei es, weil sie als Theologiestudenten wissenschaftlich noch nicht über die notwendige Erfahrung und Bildung verfügen, sei es, weil sie aufgrund ihres Standes generell nicht geeignet sind. So wird auch das Ziel der Collegia, das Studium der Heiligen Schrift durch Geistliche und Laien gleichermaßen zu betreiben, durch die übertriebene Betonung der Laien in den Zusammenkünften verfehlt: »sie halten sie [die Zusammenkünfte] so / daß nach geschehenem Gebete das Capitel hergelesen wird / einige Summarien oder Inhalte desselben confusÀ genug (wie denn nicht wol anders seyn kann / insonderheit in weitläufftigen und schweren Capiteln) angezeiget / und denn endlich moralia von ungeübten Leuten / auch zum theil ungeschickt genug / heraus gezogen werden.«64

Ebenso in den auf die von dem Jenaer Geschichtsprofessor Caspar Sagitarius abgefassten, geistig eher schlicht gehaltenen Theologische[n] Lehr = Sätze von dem Rechtmäßigen Pietismo65 respondierenden UnTheologische[n] und abgeschmackte[n] Lehr = Sätze vom Pietismo:

60 Schelwig, Itinerarium Antipietisticum, 18. 61 Ebd., 57. 62 Vgl. etwa das Zitat Anm. [langes Zitat Hanneken, Sendschreiben] oder Schelwig, Sectirische Pietisterey, 20: »[…] es verleumderischer Weise dahin anlegen / wie sie alle und jede Lehrer / die es mit ihnen nicht halten […] bey dem Volcke verkleinern / schänden und um Ehre und guten Leymund bringen mögen.« 63 Hanneken, Sendschreiben an N.N., 2. 64 Maß des Unmaßgeblichen Bedenckens, 6. 65 Casparis Sagitarii […] Theologische Lehr = Sätze von dem Rechtmäßigen Pietismo Zur Ehre GOTTes / Beruhigung der CHristl. Kirche / und Fortpflanzung der wahren Gottseligkeit / in Druck herauasgegeben / im Monat Julio, des 1691. Jahres.

›Unfug der Pietisterey‹: Spezifika pietistischer Frömmigkeit aus orthodoxer Sicht

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»[…] als solcher gefährlicher Conventiculen / darinn Unerfahrne die Heil. Schrifft auszulegen freventlich sich erkühnen / und mit Verlesung allerhand verdächtiger Schrifften / sich unter einander verführen […].«66

Neben der Geringschätzung des geistlichen Standes steht somit die handfeste Angst um das Seelenheil der Laien innerhalb der eigenen Pfarrei, das diese sich selbst zu verwirken drohen. Begründet wird diese Befürchtung mit der fehlenden professionellen Begleitung der in den Zusammenkünften praktizierten Laienexegese, so dass die Richtigkeit der Lehre nicht gewährleistet ist. Indem hierüber hinaus in der nicht auf die kirchlichen Dogmen verpflichteten Laienexegese der Individualitätsaspekt in nuce bereits mitschwingt, ist eine weitere Befürchtung nicht eben von der Hand zu weisen, auf die an dieser Stelle lediglich hingewiesen werden soll: Heterodoxie und Indifferentismus werden hierdurch Tür und Tor geöffnet (vgl. hierzu V.3.5). 3.2.2 Geringschätzung der Sakramente und anderer Zeichen der sichtbaren Kirche Für ähnliche ›Confusion‹ wie hinsichtlich der kirchlichen Gemeinschaft und der überkommenen Ständeordnung sorgte laut dem gegnerischen Zeugnis auch die pietistische Position bezüglich anderer Zeichen der sichtbaren Kirche, darunter vor allem das Sakrament des Abendmahls. Aber auch die Stellung der Bewegung gegenüber dem Beichtstuhl rief orthodoxe Empörung hervor. Bezüglich der genannten Sakramente ist die pietistische Position in den gegnerischen Streitschriften etwas widersprüchlich dargestellt: Auf der einen Seite gibt es Autoren, die die oben skizzierte Übernahme der ›functiones sacerdotales‹ durch Laien in pietistischen Kreisen hierauf ausgedehnt sehen. So gibt Anne Petersen in der Aussage über die pietistische Zusammenkunft in der Hamburger Neustadt, die sie besucht hatte, zu Protokoll: »Es habe bey ihnen ein jeder die Freyheit zu täuffen / und das Heilige Abendmahl außzuspenden. […] das H. Abendmahl theileten unter sich selbst auß / sie hätte es aber von ihnen niemahls empfangen / weyl sie gemeynet / es sey nicht recht.«67

Entweder wurde hier gezielt eine Verleumdung in die Welt gesetzt, oder es muss in den frühen 1690er Jahren die Praxis des privaten, von Laien ausgegebenen Abendmahlgebrauchs in den pietistischen Zusammenkünften so verbreitet gewesen sein, dass die Vertreter des »öffentlichen Nachtmahl = Gebrauchs« auch 66 Die UnTheologische[n] und abgeschmackte[n] Lehr = Sätze vom Pietismo Nicht zur Ehre GOttes / sondern Verwirrung der Christl. Kirche / und Hinderniß der wahren Gottseligkeit / im Druck heraus gegeben / und von einem der mit Gegen = Sätzen Erläutert im Monat Julio des 1691. Jahres wurden pseudonym von einem ›Casparis Sagittarii‹ veröffentlicht; hier S. 5. 67 Außführlicher Bericht / von denen[…]Quäcker = Zusammenkünfften, 8; 10.

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Pietistische Frömmigkeitsmerkmale aus gegnerischer Sicht

hiergegen ein Einschreiten für notwendig hielten.68 Als pietistische Begründung wird teils die Charakterisierung des Abendmahls als reines Gedächtnismahl angegeben69, teils allerdings auch der Unwille der Pietisten, Mahlgemeinschaft mit potentiellen Sündern zu halten.70 Teilweise stellen die Gegner der Pietisterey auch den Hochmut ihrer Feinde so groß dar, dass diese »vermeinen / einige ihrer Heiligen haben weder Gebeth / noch des Abendmahls / noch andere Ubung der Gottseeligkeit von nöthen.«71 In enger Verbindung zum Abendmahl steht die hierzu vorbereitende Beichte: Sie wird nach gegnerischem Bekunden von vielen Pietisten »an Nagel gehenckt«72, soll heißen: die Pietisten hielten es offensichtlich nicht mehr mit der seelsorgerlichen Beichte. Naheliegend wäre eine Erklärung: Wie oben dargestellt, zielten die pietistischen Zusammenkünfte nicht nur auf die Lehre, sondern auch auf die Erbauung. Allerdings werden nur wenige explizite Erläuterungen hierzu gegeben. Eine solche Begründung für die Ablehnung der Beichte ist angeblich die pietistische Behauptung der ›perfectio‹, die Überzeugung, die Gebote halten zu können (s. V.3.4.1). Diese Begründung wird etwa von Anna Margaretha Jahn, einer der ›begeisterten Mägde‹ (s. u.) angeführt: »[…] doch endlich kömt sie einmahl wieder zum Beichststuhl. Ihr Beichtvater fraget sie: Ob sie sich für eine arme Sünderin erkenne? Sie antwortet; Nein / sie thäte keine Sünde. Er fraget weiter Warum sie denn zur Beichte käme? Sie antwortet: Sie käme nicht Vergebung der Sünde zusuchen / sondern darum / daß sie anderen / die um Vergebung der Sünden bitten müsten / kein Aergernis geben möchte […].«73

Empört führt der Autor die Haltung Anna Margaretha Jahns vor Augen, die sich selbst für aller Sünden frei hält und nur aus gesellschaftlichen Gründen zur Beichte erscheint. Auch auf diese pietistische Haltung wird einzugehen sein.

68 Vgl. etwa die verschiedene pietistische Argumente für das private Abendmahl vorstellende und anschließend widerlegende Rettung Des öffentlichen Nachtmahl = Gebrauchs / oder Beantwortung Der Privat = Communicanten vornehmsten Einwürffe / Zum Unterricht ohnumbgänglich auffgesetzet von Jacobo Biedenweg, Pastore der Gemeine zu Daberden, Frankfurt und Leipzig 1691. 69 So etwa die ›entzückte‹ Anna Margaretha Jahn, vgl. in Ausführliche Beschreibung des Unfugs, 123. Dieser für lutherische Kreise relativ libertären Auffassung vom Abendmahl steht andernorts eine sehr strenge gegenüber, die eine ordentliche Vorbereitung seitens des Kommunikanten verlangt, ihn auch nicht zum Mahl zulässt, wenn diese Präparation – in Form der Beichte – nicht gewährleistet ist; vgl. Schelwig, Itinerarium Antipietisticum, 53; diese Position tritt allerdings eher singulär auf und soll deshalb an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden. 70 Pietisten = Gespenst, 14 71 Eben = Bild der Pietisterey, 5. 72 Pietistische Erzehlung, 16. 73 Ausführliche Beschreibung des Unfugs, 123.

›Unfug der Pietisterey‹: Spezifika pietistischer Frömmigkeit aus orthodoxer Sicht

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3.2.3 Antiintellektualismus und Heiligung Im sogenannten ›Pfingst-Patent‹, einem von dem Rektor der Leipziger Universität verfassten und »am H. Abend vor dem Pfingst = Fest« des Jahres 1691 öffentlich angeschlagenen Aufruf, »das Pfingst = Fest mit geziemender Gottseeligkeit zu feyren«, heißt es über die Ansichten in den pietistischen Zusammenkünften nach den Leipziger Unruhen: »Uber dieses wurden dazumahl die Heimligkeiten / welche man in den ungebührlichen Zusammenkünfften verborgen lehrete / verrathen: unter welchen dieses das vornemste / welches allerhand Irrthümer auszustreuen bequem war : daß man vergeblich und zum Wiedervergessen die Philosphischen Wissenschaften / ausgenommen die Mathematic, so fern sie zun Handwercken dienlich / lehrete und lernete: die Progymnasmata oder Vorübungen in Academischen Disputationen brächten der Ausübung in der Gottseeligkeit grossen Schaden / und deswegen wären sie zu vermeiden. Die Systemata Theologica dergleichen in den Collegiis gelesen und erkläret würden / wären mit dem Gifft der Scholasticorum angesteckt / als die da erfüllet wären mit Wörtern / Fragen und Distinctionen / die von der Redens-Art des H. Geistes entfernet wären / an deren statt man lieber nehmen sollte die geheime Theologie / welche dahin gienge / daß die Seelen gereiniget / erleuchtet und mit GOtt vereiniget würden: man müsse nur allein der Lesung und Betrachtung der heiligen Schrifft und zwar Neuen Testaments obliegen / mit Verwerffung der Mittel als menschlicher Erfindungen / welche in Schulen und Academien zu Vertheidigung der himmlischen Warheit vorgetragen würden: Endlich so müsse alles / was man in der heiligen Schrifft lese / nur allein zur Heiligung gerichtet werden.«74

Drei Aspekte der pietistischen Stoßrichtung lassen sich aus diesem Zitat ableiten, die im Folgenden in den Blick genommen werden sollen: Zum einen die Alleinstellung der Heiligen Schrift, deren »Lesung und Betrachtung« allein hinreichend ist; zum anderen die hieraus abgeleitete Geringschätzung, gar Verachtung aller anderen Wissenschaften, so sie nicht »zun Handwercken dienlich« sind, und drittens, dem geradezu entgegengestellt, die auf der Bibellektüre gründende Betonung der Heiligung. Die zentrale Rolle, welche die Bibel in pietistischen Kreisen einnimmt, ist schon zu Beginn der Leipziger Unruhen von antipietistischer Seite belegt, wie es das Patent zeigt. Doch auch an anderer Stelle sind die Collegia der Pietisten mit dem Studium der Heiligen Schrift verknüpft. So wird etwa der Ablauf der Zusammenkünfte meist folgendermaßen beschrieben:

74 S. 6 des unpag. ›Pfingst = Patent‹; dieses ist enthalten in August Hermann Francke, Abgenöthigte Fürstellung / Der ungegründeten und unerweißlichen Beschuldigungen und Unwarheiten / Welche in dem jüngst zu Leipzig publicirten Pfingst = Patent enthalten sind / Zu Rettung der Ehre GOttes / und zu Abwendung fernerer daraus besorglichen Lästerungen und anderer Sünden, 1691.

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Pietistische Frömmigkeitsmerkmale aus gegnerischer Sicht

»In diesen [den Zusammenkünften] fiengen sie die Sache mit dem Gebet an / und wann sie hernach ein Capitel aus dem Neuen Testament / so gut es ein jeder gekont / erkläret / richteten sie alles / so daß ein jeder das Seinige beytrug / zur Erbauung in der Gottseeligkeit […] Hernach ermahneten sie sich unter einander […] Endlich beschlossen sie die Zusammenkunfft mit dem Gebet.«75

Auch im Christ = Vernünfftigen Gespräch wird das Studium der Bibel als zentrales Movens der Bewegung dargestellt. Demas erklärt seinem ›guten Freund en passant‹: »Monsieur, ich will ihm nun recht sagen / was ich von den Pietisten gehöret. Nemlich 1. sollen sie Collegia über die Bibel halten: 2. sollen sie daraus Lehren / zur Erbauung des Nechsten ziehen: 3. sollen sie solch Thun mit Gebet anfangen / und zur Heiligkeit des Lebens annmahnen […].«76

Der eigentliche Streitpunkt liegt natürlich nicht in der pietistischen Betonung der Bedeutung der Bibel – kein Lutheraner könnte guten Gewissens seine Orthodoxie behaupten und gleichzeitig Luthers ›sola scriptura‹ verwerfen. Unter dem oben aufgezeigten Aspekt der Rolle der Laien wird den antipietistischen Autoren die selbständige Laienexegese innerhalb der Collegia auf den Nägeln gebrannt haben. Doch dies ist nicht der einzige Stein des Anstoßes: Mindestens ebenso anfechtbar ist aus theologischer Sicht der von den Pietisten behauptete Ausschließlichkeitsanspruch der Bibel mit ihrer allgemeingültigen Bedeutung für das christliche Leben und die hiermit verbundene Relativierung aller Wissenschaften – und seien sie auch Teil des oder Hilfsmittel zum Studium der Theologie. Aus der Zeit der Leipziger Unruhen etwa wird berichtet, dass Francke und seine Freunde die üblichen ›Collegia Philosophica‹, »insonderheit Logica und Metaphysica gänzlich verworffen / und junge Leute vom Studio Philosophico abgezogen« hätten, »dahero etliche ihre geschriebene Collegia verbrandten.«77 Auch im Eben = Bild der Pietisterey wird die Ansicht, »das Studiren und die Philosophie wäre einem / der ein Theologus wolte werden / nicht eben nöthig« als einer der ›Irrthüme‹ angeführt.78 Während in dem in Acta Pietistica an erster Stelle genannten Send = Schreiben auss Hamburg von Jacob Ander Sohn (wohl ein Pseudonym) diese Verdammung der Philosophie entschärft wird, indem der Autor das Franckesche Diktum des Verwerfens der Philosophie als Notlösung für finanziell schwache Theologiestudenten auflöst, die sich ein ausführliches Studium nicht leisten könnten79, meint Schelwig die der Philosophie erklärte 75 76 77 78 79

Pfingst = Patent, 2 / 4. Christ = Vernünfftiges Gespräch, 4. Ausführliche Beschreibung des Unfugs, 24. Eben = Bild der Pietisterey, 6. Jacob Ander Sohn / Holsati, Send = Schreiben auss Hamburg, An Einen vornehmen

›Unfug der Pietisterey‹: Spezifika pietistischer Frömmigkeit aus orthodoxer Sicht

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Feindschaft seiner Antagonisten sogar noch weiter verallgemeinern zu können: Die Pietisten verachteten »hohe und andere Schulen«80 ; die Pietisten, in persona Spener, hassten das in akademischen Kreisen verbreitete und beliebte »Disputiren«81; auch die »Academische Gradus« würden von einigen Pietisten verworfen82 ; zudem wird seines Erachtens nicht nur die Philosophie nicht empfohlen83, sondern viele von Speners Anhängern würdigten die Wissenschaft allgemein nicht.84 Hierzu zählten auch die systematischen Zugänge, wie sie etwa die Philosophie biete.85 Einen derartigen Furor muss die Haltung der Pietisten bei ihren Gegnern ausgelöst haben, dass Johann Benedikt Carpzov (1639 – 1699), seinerzeit Professor in Leipzig, selbst in seiner Leichpredigt auf den Studenten Martin Born mahnte: »Er [Paulus] empfieng es unmittelbar vom HErrn / was er seinen Zuhörern wiedergab / 1.Cor. XI,23. wir aber müssen fleissig drauf studiren / so wohl in der Jugend / da wir bey Zeiten gute Lehren einzusamlen haben / als hernach im Ampte / da wir es wieder anbringen sollen.[…] Es ist nicht recht / wenn man denen Studenten / die Gott dem HErrn einmahl in der Kirchen dienen wollen / itzo vorsagen wollte / sie sollten allein die Bibel / und sonst keine Autores mehr lesen, Paulus hat nicht nur Mosen und die Propheten / sondern auch den Aratum, den Menandrum […]gelesen / hat sie auch in seinen Predigten und Schrifften wohl zu gebrauchen gewust […].«86

Diesen Aspekt abschließend soll noch eine weitere Folgerung aus der pietistischen Konzentration auf die Bibel nicht unerwähnt bleiben, welche in den antipietistischen Streitschriften nicht selten Erwähnung findet: Die Rolle des Katechismus in pietistischen Kreisen. Über dieses in den protestantischen Kirchen wohl wichtigste Volks-Lehrbuch, über das Luther in der Vorrede seines Großen Katechismus geschrieben hatte, dass es »der ganzen heiligen Schrift eine kurze Summa und Auszug ist«, aus dem auch er Auszüge »lese und spreche auch von

80 81 82 83 84 85

86

Freund / Von den Leipzigischen Collegiis Biblicis, Und daher so genanten Pietisten, 1690, 2 (unpag.). Schelwig, Sectirische Pietisterey, 29 f, vgl. v. a. das ›Beispiel‹ Franckes 30. Vgl. ebd., 32. Vgl. ebd., 34. S.o., vgl. aber auch ebd., 42. Vgl. ebd., 40. »[…] und also einigen riethe / daß sie sich mit keinen Systematibus auffhielten / sondern alleine die Bibel lesen. Welches consilium eben so ungereimt wäre / als wenn einer / wenn er zu einem Bau etwan Holz verlangete / von dem Orte / da schon Bau = Holtz zusammen gebracht / und zu rechte gemacht wäre / hinweg und in einen Wald gewiesen würde / da er überall zusammen stoppeln und aussuchen möchte / uneracht er doch sich auf die Bäume nicht verstünde / und nicht wüste / was er nehmen sollte.« Maß des Unmaßgeblichen Bedenckens, 23. Johann Benedikt Carpzov, Bey Christlichem Begräbnüß Herrn Martin Borns / von Belgrad aus Pommern / der H. Schrifft Studiosi, Den 7. AUgusti Anno 1689. Gehaltene Leich = Predigt / Sampt Herrn L. Joachim Fellers / Poeseos P.P. sel. Damahls verfertigten Epicedio, Worauf die Inqvisition wider die Pietisten angegangen, 1692, 31.

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Pietistische Frömmigkeitsmerkmale aus gegnerischer Sicht

Wort zu Wort des Morgens«87, heißt es in den UnTheologische[n] und abgeschmackte[n] Lehrsätze[n], die pietistischen Lehrer würden »den H. Catechismum der Jugend und gemeinen Volck nicht gern vortragen und einschärffen«88 und überhaupt »den Catechismum nicht achten«89. Für die orthodoxen Autoren der Polemiken treten die pietistischen Zusammenkünfte als neue Lehrform in ein direktes Konkurrenzverhältnis zum verbreiteten (und teils auch vorgeschriebenen)90 Katechismusunterricht, der hierdurch vernachlässigt wird – obwohl er eigentlich die bessere Lehrform sei, denn »solche Collegia Biblica können bey Ungelehrten nicht den rechten Grund zur Gottesfurcht legen / das ist / sie können demselben nicht sattsamen Unterricht beybringen / weil er confusÀ und nicht nach Ordnung des Catechismi daher insufficienter angestellet wird […].«91 Was genau der Autor mit seinem »confusÀ« bezeichnete, bleibt unklar. Es muss angenommen werden, dass er hiermit eine von der katechetischen Frage-Antwort-Methode abweichende Form anmerkt – etwa, indem die anwesenden Laien eigene Fragen an den Vorsitzenden richten konnten. 3.2.4 Hertzensgebet und singen mit dem Hertzen: die Rolle von Gebet- und Gesangbüchern bei den frühen Pietisten Doch der pietistische Bruch mit den überkommenen Zeichen der sichtbaren Kirche ging noch weiter, tief hinein in das gottesdienstliche Leben der lutherischen Gemeinden, indem vonseiten der Pietisten auch das traditionelle Liedgut teils verändert, teils aber auch aufgegeben wurde. So beispielsweise in Kelbra: »Die ordentlichen Melodeyen der Lieder / namendlich des Glaubens / des Te Deum laudamus und anderer / wollten etliche geändert / und also gesungen haben / daß es einem Gebet und Erklärung ähnlicher als einem Gesange sey / mit Vorgeben / daß man in der Apostolischen Kirchen also dem HErrn in dem Hertzen gesungen und gespielet.«92

Pietistische Begründungen für die Modifikationen altbekannter Lieder werden in den gegnerischen Schriften nicht genannt. Vermutlich stehen sie aber im Zusammenhang mit der scheinbaren notorischen Unbeliebtheit traditioneller liturgischer Formen in pietistischen Kreisen, zu denen auch vorgeschriebene 87 88 89 90

Vgl. etwa in WA 30/I, 125 – 238. UnTheologische und abgeschmackte Lehrsätze, 4. Ebd., 6. Etwa in Hessen: vgl. Von GOttes Gnaden Ernst Ludwig / Land = Graff zu Hessen / Fürst zu Hirschfeld / Graff zu Catzenelnbogen / Dietz / Ziegenhein / Nidda / Schauenburg und Budingen […], 1690, der seine Geistlichen dazu ermahnt, die vernachlässigte »Catechisation« wieder ernst zu nehmen. 91 Maß des Unmaßgeblichen Bedenckens, 8. 92 Ausführliche Beschreibung des Unfugs, 67.

›Unfug der Pietisterey‹: Spezifika pietistischer Frömmigkeit aus orthodoxer Sicht

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Gebete zu zählen sind. Absicht vieler dieser Kreise sei es, »ihren eigenen Gottesdienst / nach rechter / erster / Apostolischer Art […] von allen Secten / Ceremonien und Adiaphoren gereiniget«93 zu wissen. Hierzu zählt auch teilweise die völlige Verbannung von »Christfröliche[n] Lieder[n]94 und Instrumentalmusik aus dem Gottesdienst.95 Was bleibt, ist eine Individualform des Gottesdienstes, die sich auch hinsichtlich dieser Aspekte weiter von den sichtbaren Formen von überkommener kirchlicher Gemeinschaft entfernt hat. In Übereinstimmung mit spenerschen Schriften stellt Schelwig bei einigen Pietisten derartige Entwicklungen fest. Hierzu gehört eben dieses, was Schelwig auf einem Zitat Spener aufbaut, »daß man sich nicht an gewisse Gebets = Formular gewöhne: Im Thätigen Christenthum. p.294. Es geschicht leider! bey den meisten / die vor und nach Tisch beten / daß sie eben die gewöhnliche von Jugend auff gelernete Formuln behalten und hersprechen / aber nicht erwegen / was wir darinnen sagen […] Wie nemlich in unserm Gebet / Herz und Mund einstimmen müste / wo dasselbe ein GOtt recht wolgefälliges Opffer seyn soll / und daß das Gebet nicht eben an das Buch gebunden sey / sondern ob wol der Gebetbücher Gebrauch / wo er recht eingerichtet wird / auch seinen Nutzen haben kann / daß gleichwol das vornehmste Gebet aus dem Hertzen selbst zu GOtt würcket werden müsse […].«96

Die (nicht nur) im 17. Jahrhundert weit verbreiteten Gebetbücher verlieren also bei den Pietisten, die behaupten, dass »das vornehmste Gebet aus dem Hertzen selbst« kommen müsse, an Ansehen. Es geht den Pietisten hierbei einerseits um eine Rückbesinnung auf den apostolischen Gottesdienst, den es von dem Ballast der lutherischen Tradition zu befreien gilt. Andererseits tritt eine Besinnung auf innerliche Werte – das »Hertz« – hinzu. Beides allerdings wirkt einen Bruch mit Traditionen, wie sie das kirchliche Leben seit der Reformation entwickelt hatte. Von daher verwundert die orthodoxe Entrüstung nicht sehr, sehen ihre Vertreter doch wichtige Institutionen ihrer Kirche bedroht.

3.3

Entzückung und Begeisterung

Nun gilt es, sich einem der wohl die Fremdwahrnehmung am stärksten prägenden Themen pietistischer Frömmigkeitspraxis zu zuwenden: Entzückung und Begeisterung. Hierbei handelt es sich um ein Streitthema, das, sowohl in der Quantität der Nennung als Merkmal pietistischer Frömmigkeit (einer der »Irr93 Sectirische Pietisterey, 14. 94 UnTheologische und abgeschmackte Lehrsätze, 4. 95 Vgl. Sectirische Pietisterey, 20; vgl. aber auch UnTheologische und abgeschmackte Lehrsätze, 4; hier werden auch alle fröhlichen Lieder verbannt. 96 Sectirische Pietisterey, 19.

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Pietistische Frömmigkeitsmerkmale aus gegnerischer Sicht

thümer«) und der sich hiermit beschäftigenden antipietistischen Streitschriften als auch hinsichtlich der Ausführlichkeit der Schilderungen offensichtlich für nicht unerhebliche Unruhe gesorgt hat – und dies im Untersuchungszeitraum der pietistischen Frühzeit über die Landesgrenzen der vielen deutschen Länder und Reichsstädte hinweg, so dass der Autor der Ausführliche[n] Beschreibung des Unfugs mit Recht feststellen kann: »[…] und werden die Entzückungen sehr gemein«, um gleich noch einige weitere Beispiele anzuführen.97 Eine vergleichbare Formulierung findet sich auch bei Johann Friedrich Mayer, dem Antagonisten der Bewegung in Hamburg: »Und ist uns in diesen letzten Zeiten / da viel falsche CHristi und falsche Propheten auffstehen / und bald hier ruffen: Siehe hier ist Christus: bald da: Siehe er ist da […]«98. Was aber haben die Verfasser der antipietistischen Schilderungen vor Augen, wenn sie von den »Entzückungen« oder den »Begeisterungen« der Pietisten schreiben? Blickt man etwas genauer auf die Menge der Schilderungen zum Thema, so stellen sich die zwei auf den ersten Blick synonym wirkenden Begriffe bei genauer Betrachtung als zwei – inhaltlich, nicht terminologisch – einigermaßen unterscheidbare Formen ›inspirierten‹ Verhaltens dar, auch wenn die Grenzen fließend sind: Unter ›Entzückungen‹ wird hierbei das ekstatische Gebaren – meist von Frauen – verstanden, das oftmals prophetische, orakelhafte Züge trägt. Mit ›Begeisterung‹ wird demgegenüber in vielen (nicht allen) antipietistischen Schilderungen die Begründung pietistischer (Lehr-)Autorität hinsichtlich einer Vielzahl bereits angeführter frömmigkeitlicher Aspekte beschrieben, sei es nun die Stellung der Laien, die Rolle der Sakramente oder die Positionierung von Angehörigen der Bewegung gegenüber den Wissenschaften. Kennzeichnend ist die erläuternde Rückbindung an einen unter Umständen heilsgeschichtlich relevanten Sachverhalt. Beide Formen, so lassen es die orthodoxen Schilderungen mutmaßen, spielen in der pietistischen Frömmigkeit eine nicht unerhebliche Rolle. Durch die zu den bis hierher geschilderten Merkmalen gegebene Nähe soll überleitend mit der ›Begeisterung‹ begonnen werden. Oben wurden antipietistische Belege angeführt, die zeigen, dass viele der pietistischen Frömmigkeitsmerkmale deshalb als so störend empfunden wurden, weil sie die Autorität nicht nur der geistlichen, sondern auch der weltlichen 97 Vgl. Ausführliche Beschreibung des Unfugs, 101; es sei an die Fortsetzung des Titels erinnert, die Halberstadt als Ort des Geschehens ausweist; im Text selbst kommen des weiteren Quedlinburg, Leipzig, Erfurt und andere, v. a. mitteldeutsche Städte zur Nennung. 98 D. Johann Friederich Mayers […] Prüfung des Geistes / so sich durch ein Adeliches Fräulein itzo offenbahren soll. Bey Erklährung des ordentlichen Sontags Evangelii Dom. IV. Adventus Joh. I. in offentlicher heiliger Versammlung der Jurcgeb GOttes zu St. Jaob vorgestellet, Hamburg 1692, 60; das Zitat Mayers greift die in Mt 24,23 überlieferte Warnung Jesu vor falschen Propheten oder Messias-Prätendenten auf.

›Unfug der Pietisterey‹: Spezifika pietistischer Frömmigkeit aus orthodoxer Sicht

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Obrigkeit in Frage stellten: So wurde hervorgehoben, dass von pietistischer Seite angemerkt wurde, »ein Prediger habe nichts voraus vor andern«99, da die ›functiones sacerdotales‹ – Lehre und Erbauung gleichermaßen –von Laien ausgeübt werden könnten.100 So empfanden sie nicht nur die eigene Stellung, sondern auch die hiermit verbundenen Sakramente101 als in ihrer Würde herabgesetzt. Hiermit einher ging die Befürchtung, dass die Grundlagen ihrer Autorität – die Wissenschaften nebst ihren Hauptwirkungsorten, den Schulen und Akademien – nicht genug geachtet, ja nicht einmal anerkannt würden. Die pietistische Alternative zu den überkommenen Grundlagen geistlicher Autorität, wie sie aus den gegnerischen Schriften hervorgeht, ist demnach die Inspiration. Inspiriertheit oder Begeisterung stellt, so viele der antipietistischen Streitschriften unisono, die hauptsächliche Begründung pietistischer Autoritätsansprüche dar, »denn sein [des Pietisten = Gespenst] unvernünfftiges Wesen liebet keine Vernunfft.«102 So wird etwa durch die nicht geringe Menge von zu Papier gebrachten Forderungen an (berufene) Prediger, diese sollten ihre Predigten solide vorbereiten, anstatt dass sie sie »aus dem Ermel schütteln« oder vor der Predigt auf eine Eingebung warten103 deutlich, dass inspirierte »Stehgreifpredigten« überhand genommen haben müssen. Die Rede könne sogar »von Abschaffung der gewöhnlichen Art zu predigen / und Einführung solcher Predigten / die in der Eil geschehen / wie sie der Geist eingiebet«104 sein. Dies muss so weit gegangen sein, dass die Brüder Rudolph August und Anthon Ulrich, Herzöge von Braunschweig, es für notwendig erachteten, in ihrem Edict von 1692 hierfür konkrete Anleitungen zu formulieren: »Insgemein aber sollen Unsere Prediger auff ihre Predigten mit Fleiß und Andacht meditiren / dieselbe schrifftlich concipiren und darauff ihre Lehren und Reden in guter Ordnung und Connexion fürtragen / nicht aber auff allerhandt dem Gedächtniß zufallende Materien, Exempel und Historien es ankommen lassen […].«105

Auch wenn der Konservatismus der absolutistischen Herrscher hinsichtlich der Predigt als Antwort auf die sich ja scheinbar geradezu etablierende neue Pre99 Schelwig, Itinerarium Antipietisticum, 57. 100 Vgl. ebd., 18. 101 Indem den Laien sowohl das Recht zu taufen als auch die Ausgabe des Abendmahls gestattet wurde; vgl. etwa Außführlicher Bericht von denen Quäcker = Zusammenkünfften, 5 f. 102 Pietisten = Gespenst, 6. 103 Vgl. etwa Carpzov, Bey Christlichem Begräbnüß Herrn Martin Borns, 31 104 Außführliche Beschreibung des Unfugs, 30. 105 Der Durchleuchtigsten Fürsten und HErrn / Herrn Rudolph Augusts Und Herrn Anthon Ulrichs / Gebrüder / Hertzogen zu Braunschweig und Lündeburg / sc. sc. Edict und Verordnung / Wie Bey denen hin und wieder sich ereugenden Newerungen und Sectareyen alle und jede Prediger und Lehrer in dero Landen sich vorsichtiglich halten und so wol sich selbsten als Ihre Gemeinen und Zuhörer dafür bewahren sollen. Wolffenbüttel 1692, 9.

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Pietistische Frömmigkeitsmerkmale aus gegnerischer Sicht

digtform gewiss überdenkenswert ist, so interessiert vor allem die konkrete Order an die Prediger im Herrschaftsgebiet, ihre Predigten sorgsam zu planen und schriftlich auszuarbeiten: In der Aufforderung zu solider theologischer Ausarbeitung der Predigt wird deutlich, dass eben nicht nur pietistische Laien, sondern auch berufene Prediger ihre Inspiriertheit hoch gehalten haben müssen. In diesen Zusammenhang ist der bewundernde Ausspruch des Arnstädter Studenten Henrich Julius Ehlers über Francke einzuordnen, »der theure Francke und Er wären von GOTT erleuchtet und empfinden die Offenbahrung der Krafft in ihren Hertzen. Jener habe allein die Krafft also zu predigen / daß die Hertzen der Zuhörer gewonnen würden.«106 Für die Predigt muss ein pietistischer Prediger inspiriert sein, sonst nichts. In dieser Betonung des Heiligen Geistes – vor Theologie und anderen Wissenschaften oder der soliden Predigtvorbereitung – wird der Grund für die Hochschätzung der Laien in den pietistischen Kreisen zu suchen sein: Wo ›Inspiration‹ die Grundlage der »functiones sacerdotales« wird, da ist die Gleichstellung der Laien mit den Geistlichen (»Ein Prediger habe nichts voraus vor andern […]«) lediglich die konsequente Schlussfolgerung. Die wissenschaftliche Ausbildung berechtigt dann einen geistlichen Stand mit besonderen Rechten, Privilegien und Pflichten nicht, was von geistlicher Seite nur natürlich als Verachtung des Predigtamtes interpretiert wird.107 Deshalb ließ sich Heinrich Kratzenstein, bis zu seiner ›Bekehrung‹ Goldschmied in Quedlinburg, von der geistlichen Obrigkeit nicht von seinen Plänen abbringen, seine erste Frau, die er für ungläubig hielt, zu verlassen und mit einer anderen Frau zusammenzuleben – ohne die »solennen Trau = Ceremonien vorzunehmen / welche nur eine blosse Menschliche Verordnung / und nicht zu achten weren«; »Ob man ihm nun gleich mit allem Glimpff gnugsam in = und ausser dem Consistorio Vorstellung und Weisung gethan / indem man es einiger Gemüths = blödigkeit beygemessen / so thut sich doch ie mehr und mehr seine Boßheit und Pietistischer irriger Wahn herfür / daß er verwegener Weise denen Herren Consistorialen ins Angesicht gesagt / er gehorsame ihnen nicht / sie verstünden es nicht / er achte sie viel zu wenig / daß sie ihn weisen sollten / da er gnungsam von dem Geiste GOttes erleuchtet und gelehret sey […].«108

Nach pietistischer Auffassung kann somit jeder die Predigt halten – wenn ihn der rechte Geist treibt. Auch hierin liegt eine die überkommene Ständeordnung sprengende Kraft, die in einem weiteren der ›Irrthüme‹ der Pietisten eine Fortsetzung findet, der sich auf die Notwendigkeit der Inspiration gründet: »Daß sie vorgeben / es könne niemand den wahren Verstand der H. Schrifft 106 Schelwig, Itinerarium Antipietisticum, 18. 107 Vgl. etwa Maß des Unmaßgeblichen Bedenckens, 10: »Solte auch die Enthusiasterey zuföderst darinne gesucht werden / daß sie vom Predigt = Ampte […] schimpflich redeten«. 108 Wieder was neues von den Pietisten aus Quedlinburg, o. O. u. J., 5 f.

›Unfug der Pietisterey‹: Spezifika pietistischer Frömmigkeit aus orthodoxer Sicht

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erlangen / er sey denn von GOtt selbst erleuchtet […].«109 Eine klare Antwort auf die Frage »ob er die Bibel vor die Norm und Richtschnur in der Christlichen Religion hielte?« kommt noch einmal von Heinrich Kratzenstein, der »darauff zwar Ja sagte / bald aber hinzusatzte: Was in der Bibel stehet / das ist wohl wahr / aber es ist ein todter Buchstaben / der Geist / der in dem Menschen ist / muß ihn erstlich lebendig machen.«110 Wird ›Begeisterung‹ als legitime Grundlage von Exegese angesehen, ohne die die Schrift nur ein »todter dunckler Buchstabe«111 ist, so ist natürlich auch die Laienexegese innerhalb der Zusammenkünfte legitim, selbst wenn es keinen geistlichen Vorsitz gibt, der sich um theologische Korrektheit kümmert. Letztlich geht die pietistische Fokussierung auf die Begeisterung als Grundlage des christlichen Lebens laut gegnerischem Bekunden bis zu einer gewissen Form des Indifferentismus, da an den Zusammenkünften jeder teilnehmen kann: Etwa im Konventikel in der Hamburger Neustadt »würden angenommen / Jüden / Heyden / Türcken / Papisten / Calvinisten / Lutheraner […] wann solche nur der Geist dahin triebe.«112 Doch hier liegt der Übergang zur zweiten, vermutlich spektakuläreren Form pietistischer Inspiriertheit zu sehen: der Entzückung. Die Entzückungen, die in den gegnerischen Schilderungen quantitativ stärker belegt sind als die Schilderungen der Fälle von ›Erleuchteten‹, die ihre Inspiriertheit zur Grundlage autoritativer Aussagen über die Zeichen sichtbarer Kirche anwenden, bieten selbst wiederum ein weites Spektrum, das von der ekstatischen Andacht während regulärer Gottesdienste, pietistischer Zusammenkünfte oder auch im Privaten über Sünden- bzw. Bußprophetien bis hin zu orakelartigen Befragungen reicht. Exemplarisch sollen im Folgenden einige Beispiele aus diesem Spektrum in den frühen 1690er Jahren vorgestellt werden, die als Hochzeit der Ekstasen beschrieben werden können. Auffällig ist hierbei der erstaunlich hohe Anteil weiblicher »Entzückter«. Zunächst das Beispiel einer Andachtsekstase: Im 6. Kapitel der vermutlich von Johann Benedict Carpzov verfassten Ausführlichen Beschreibung des Unfugs, das »von denen Commißionen / so wegen der Pietisten zu Kelbra / Gotha / Halberstadt und Halle angeordnet gewesen« handelt, wird die ›Selbstentdeckung‹ der »Pietistischen Boßheit« in Gotha beschrieben, »noch ehe die Commission zu Ende ging«. Ein Bestandteil dieser ›Selbstentdeckung‹ ist die visionäre Ekstase des »Herr L. Krappens seel. Tochter von Halle«:

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Eben = Bild der Pietisterey, 6. Ausführliche Beschreibung des Unfugs, 104. Mayer, Prüfung des Geistes, 72. Ausführlicher Bericht von denen Quäcker = Zusammenkünfften, 10; vgl. auch Pietisten = Gespenst, 10.

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Pietistische Frömmigkeitsmerkmale aus gegnerischer Sicht

»Als nun M. Wiglöb einen Psalmen gelesen / fährt das sogenandte Hallische Weib […] in die Höhe / als ob sie in der Lufft schwebete / klazschet in die Hände / schreyet und rufft mit heller Stimme: Die Herrligkeit des HErrn ist dar! Halleluja! Ich sehe den HErrn Jesum / und die heiligen Engel etc. Darüber die Stube dergestalt gebebet und erschüttert / daß das Handbecken heruntergefallen / und ein anderer Pietist / Johann Conrad Kessler / nicht länger ausdauren können / sondern ohnmächtig hinausgetragen worden / welches sie der Entgröbung und Bekehrungs = Begierlichkeit zugeschrieben.«113

Ähnliches wird direkt aus Halle berichtet – wiederum von Frauen: »Eine Schneiderin / die Reichenbachin genandt / hat vorgegeben / ihre Stube wäre des Nachts um 1. Uhr gantz hellglänzend worden / darauff der Herr Christus zu ihr gekommen / und hätte sehr freundlich mit ihr geredet / welchen sie auch bey seinem Abschied biß vor die Stubenthür begleitet / etc. Eines Soldaten Weib giebt vor / der Herr Christus sey auch bey ihr gewesen mit seinen bluten Wunden / welche sie verbinden sollen / sie aber hätte sich mit ihrer Unwürdigkeit entschuldiget / und gesagt / er müste zu einem heiligen Mann gehen / und hätte ihn zu M. Francken gewiesen. Am Morgen gehet sie auch zu M. Francken / und fraget / ob der Herr Christus bey ihm gewesen / und sich seine Wunden verbinden lassen?«114

Es ließen sich weitere Beispiele für vergleichbare Ekstasen und Visionen im ersten Drittel der 1690er Jahre anführen, über die Berichte vorliegen.115 Neben diesen punktuell auftretenden Visionärinnen, die sicherlich einen gewissen, meist regionalen Bekanntheitsgrad genossen haben werden, traten jedoch auch (vornehmlich) Frauen auf, die sich aus zwei Gründen von ersteren abhoben: Zum einen wuchs ihr Bekanntheitsgrad innerhalb kürzester Zeit derart, dass es zu regelrechten Wallfahrten zu ihnen kam oder eine große Anzahl von Personen ihren Entzückungen beiwohnten, ihr Auftreten dementsprechend weite Kreise zog; zum anderen traten sie mit dem Anspruch an die Öffentlichkeit, in ihren Offenbahrungen die Lehre modifizieren zu können. Über die Quedlinburgerin Anna Margaretha Jahn, die offensichtlich immer die Predigt von Andreas Achilles, der in den Leipziger Unruhen zum näheren Kreis August Hermann Franckes gehörte, besuchte, obwohl sie nicht zu seiner Pfarrei gehörte, heißt es etwa: »Daselbst [d.h. in der Kirche, in der Andreas Achilles predigte, d. Vf.] hat sie nun bereits über Jahres = Frist ihre Entzückungen in öffentlicher Gemeine gehabt / bald wie ein Haushahn gekrähet / bald wie ein Ochse geblöcket / und sich mehr so ungebärdig angestellet / daß man sie aus der Kirchen bringen müssen.«116 113 Ausführliche Beschreibung des Unfugs, 79. 114 Ausführliche Beschreibung des Unfugs, 101. 115 Vgl. etwa die »so genandte Blutschwitzerin« in Quedlinburg, beschrieben in Ausführliche Beschreibung des Unfugs, 109ff, oder den Visionen vorgebenden Mönch, ebd., 121. 116 Ausführliche Beschreibung des Unfugs, 122.

›Unfug der Pietisterey‹: Spezifika pietistischer Frömmigkeit aus orthodoxer Sicht

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Zu regelrechter Berühmtheit gelangten die »drey begeisterten Mägde« – die Halberstädtische Catharina, die Quedlinburgische Magdalene und die Erfurtische Liese durch die (fälschlich117) unter dem Namen August Hermann Franckes herausgegebene Sammlung unterschiedlicher Briefe Eigentliche Nachricht Von Dreyen Begeisterten Mägden / Der Halberstädtischen Catharinen / Quedlinburgischen Magdalenen / und Erffurtischen Liesen / Aus Zehen unterschiedenen eingelauffenen Schreiben zusammen getragen von M. August Herman Francken / der Zeit Pastore zu Glauche vor Halle118, die vermutlich als Initiator eines Streitschriftenwechsels um Entzückungen aufgefasst werden kann. Dieser Streitschriftenwechsel, der zudem immer wieder durch Beschreibungen neuer Entzückungen genährt wurde, füllt als eines der Hauptthemen der Jahre 1692/93 vor allem den zweiten Band der Göttinger Acta Pietistica und lässt deshalb vermuten, dass das Thema die Gemüter nicht eben unerheblich erregte. Die Briefe von bekannten Pietisten in der Eigentliche[n] Nachricht – deren Fehlerhaftigkeit Francke in seiner Entdeckung der Boßheit entgegen seiner Behauptung eingangs (»falsche mit dem Original nicht übereinstimmende Brieffe«) nicht belegt – enthalten teilweise detaillierte Schilderungen der Ekstasen der drei Frauen. Exemplarisch soll auf einige dieser Details hingewiesen werden, welche die drei Fälle besonders interessant machen. Zunächst einmal ist die Freudigkeit während und nach den Ekstasen, die bei allen dreien geschildert wird, hervorhebenswert. In dem an erster Stelle angeführten Brief Achilles an Francke etwa heißt es über die Quedlinburgische Magdalene: »Die Freud aber ist so groß / daß das Herz ihr gestern Abend und heute früh hoch ausschlägt / und ich fürchte / wo der HERR dieselbe nicht mindert / oder sie sonderlich stärcket am Leibe / so werde sie gewiß vor gar zu grossen Freuden sterben.« Einige Zeilen weiter berichtet Achilles von einem Zusammentreffen Magdalenes mit der Halberstädtischen Catharina: »[…] sie sitzen gegeneinander wie ein paar Bilder ohne Empfinden / und wissen / wenn sie zu sich selbst kommen / ihre Freud nicht gnung zu entdecken […].«119 Auch das Zehren der Anstrengung der Ekstasen an

117 Vgl. die auf die Eigentliche Nachricht folgende Klarstellung Franckes M. August Hermann Franckens […] Entdeckung der Boßheit / So mit einigen jüngst unter seinem Nahmen fälschlich publicirten Brieffen von dreyen so benahmten begeisterten Mägden zu Halberstadt / Quedlinburg und Erffurt begangen. Cölln an der Spree 1692 sowie wiederum hierauf verfasste Antworten; wie es zur Edition der Briefe unter dem Namen Franckes kommen konnte, schildert David Ehrius, seinerzeit Pfarrer zu Ammendorf und Beesen (südlich von Halle), in einem Brief an Francke, den dieser in seiner Verantwortung gegen die so genandte Beschreibung des Unfugs der Pietisten / und die darinnen enthaltene alte und neue Aufflagen. Dabey zu mehrer Erbauung angefüget ist eine Betrachtung von Gnade und Wahrheit. Halle o. J. [1694]. 118 O. O. 1692. 119 Eigentliche Nachricht, 1. Brief.

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Pietistische Frömmigkeitsmerkmale aus gegnerischer Sicht

der Gesundheit der Frauen taucht immer wieder auf, so dass in den Briefen an einigen Stellen die Rede von dem todesnahen Zustand der Entzückten ist.120 Oft unterscheidet sich der Inhalt ihrer Visionen nicht sonderlich etwa von der oben beschriebenen Anna Margaretha Jahns: Sie sehen Jesus Christus in verschiedenen Formen, was dann die unbändige und kräftezehrende Freude auslöst. Hinzu kommen jedoch orakelartige, prophetische Ratschläge an die sie umgebenden Personen, ob diese nun darum bitten oder nicht. In diesem Zusammenhang schreibt Sprögel, der Arbeitgeber der Halberstädter Catharina, über seine Magd: »[…] aber wenn sie gefraget wird / antwortet sie gar verständig / und weiß die dicta Scripturae Sacrae, darauff sie sonst wenig Acht geben […]. Sie nimmt auch fast bey allen an sie abgehenden Fragen Gelegenheit von der Reinigkeit des Herzens zu reden / saget / GOtt wolle ein ganz reines Herze haben / es müsse der Mensch an keinem einzigen Dinge mit dem Herzen kleben / ausser blos an GOtt […]. Sie vermahnet / man solle nicht nur mit dem Munde / sondern mit dem Herzen beten / der äussere Tempel und steinernes Haus mache es nicht aus / man müsse den rechten Tempel / das Herz / mit vor GOtt bringen.«121

Ähnliche Aussagen machte wohl auch die Erfurter Liese, welche »hat […] visiones, und Ecstases, redet viel vom Himmel und der Hölle / sagt einem und andern / was ihm mangelt / und in was statu er ist / wird sterbenskranck / wenn böse Leute in die Stube kommen […].«122

Dass die Erfurter Liese zudem ihre Lehren in Versform vortrug, sei nur am Rande erwähnt. Wirklich interessant ist an dieser Stelle eher die aktive Rolle der entzückten Frauen im gemeindlichen Leben: Als Prophetinnen und Predigerinnen übernehmen sie während ihrer Ekstasen – die ein ganzes Spektrum verschiedener Zustände umfassen – seelsorgerliche Funktionen, etwa indem sie dem sie besuchenden Menschen sagen, »was ihm mangelt / und in was statu er ist«. Dies kann in der geschilderten Form im privaten Haushalt geschehen oder in der Form des biblischen Bußpropheten. Beispielsweise »Machenhauer / Herr D: Breithaupts Famulus / ruffte auff freyer Strasse: Thut Busse / thut Busse.«123 Kraft ihrer Inspiriertheit verfügen sie über einzigartige Fähigkeiten.124 Mit 120 Vgl. etwa am Ende des 2. Briefes: »Redet iezt davon / daß der Herr sie bald von der Welt nehmen würde / denn sie wird sehr / sehr schwach durch die Hefftigkeit der Liebe und Freude / welche des Leibes irdische Gefäß nicht tragen kann.« 121 Eigentliche Nachricht, im 3. Brief. 122 Eigentliche Nachricht, im 4. Brief. 123 Schelwig, Itinerarium Antipietisticum, 36. 124 Interessant ist in diesem Zusammenhang die völlige Ermangelung einer Stellungnahme der Eigentlichen Nachricht, über welche sich Francke in seiner Entdeckung der Boßheit so beschwert: Tatsächlich sind in der Eigentlichen Nachricht keinerlei Wertungen vorgegeben, die Sammlung verfügt nicht einmal über eine Einleitung. Die Briefe werden – teils als Copia,

›Unfug der Pietisterey‹: Spezifika pietistischer Frömmigkeit aus orthodoxer Sicht

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diesen stehen sie nicht wie die erst genannten Visionärinnen passiv am Rande, sondern greifen in das Geschehen ein; hierdurch kann es aus pietistischer Sicht sogar heute noch zu einer Veränderung der Lehre kommen125, ja gar ein Widersprechen gegen gültige Lehre, etwa in Form der Predigten, ist keineswegs tabu: »die offentliche Predigten werden wenig geachtet sc. Privat-Conventen / schrifftliche Conspirationes, Enthusiastische Erklärungen sc. sollen gelten […].«126 So fasst auch Mayer das Send = Schreiben an einige Theologos und GOttes = Gelahrte127 kommentierend auf: »In welcher die unmittelbahren Erleuchtungen / die Offenbahrungen die dieser Prophetin geschehen / hochgerühmet und zum Grunde der Glaubens = Articul genommen werden.«128 Da wundert die große Menge an Warnungen vor dem Abweichen von der Lehre nicht, die sowohl von theologischer Seite stammen129 als auch vonseiten weltlicher Obrigkeit.130 Abschließend sei noch ein weiterer Unterschied zur ersten Form der Visionen genannt: Gegenüber den Visionen, die die Entzückten der ersten Gruppe etwa in der Nacht und zumeist allein bekamen, fanden die Entzückungen beispielsweise der drei Mägde unter reger Anteilnahme der Öffentlichkeit statt, wie einige der Briefe in der Sammlung Eigentliche Nachricht versichern. So schildert Brückner an Breithaupt, dass die Erfurter Liese von vielen Studenten besucht würde, um

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teils als Extract – unkommentiert gedruckt. Wenn es sich tatsächlich um eine antipietistische Fälschung handeln sollte, wie Francke suggerieren möchte, so ist diese fehlende Stellungnahme zumindest verwunderlich. Vgl. Ebenbild der Pietisterey, 6. Pietistische Erzehlung, 16. Send = Schreiben an einige Theologos und GOttes = Gelahrte / Betreffend die Frage / ob GOTT nach der Auffahrt Christi nicht mehr heutiges Tages durch Göttliche Erscheinung den Menschen = Kindern sich offenbahren wolle / und sich dessen gantz begeben habe? Sampt einer erzehlten Specie acti von einen Adelichen Fräulein / was ihr vom siebenden Jahre ihres Alters / biß hiher / von GOtt gegeben ist. 1691. Mayer, Prüfung des Geistes, 61. Vgl. etwa Mayer, Prüfung des Geistes, 50: »So wahr GOtt GOtt bleibt, so lange müste er bey dem einmahl verkündigten Evangelio und bey seinem Wort verharren. Dessentwegen denn offenbahr / daß nicht GOtt / sondern der Teuffel selbst / aus einen noch so schön in die Augen fallenden Engel / so ein ander Evangelio predige / und wie der Teuffel als ein Verführer der Seelen zu verfluchen / so solle man auch einen solchen Engel mit seinem Evangelio verfluchen.« Vgl. auch ebd., 55: »Wer aber hiervon abgehe / und im Glauben anderswo Rath suche / es sey nun worinne es wolle / in neuer Offenbahrung / in sonderbahren Erscheinungen / dem sey aller Göttlicher Seegen entzogen.« Vgl. etwa wiederum das Edict der Brüder Rudolph August und Anthon Ulrich, 4: »Dannenhero sich keiner von Unsern Predigern und Lehrern unterstehen soll / weder publice noch privatim jemanden auff neue Uber = Ausser = und ohne die Heil. Schrifft sich begebende visiones, ohnmittelbare Erleuchtungen und Offenbahrungen / noch auch auff ein anders so genandtes innerliches Wort / sonderbahre Träume / Entzückungen / Prophetische Regungen und dergleichen Dinge zu weisen / zumahlen dadurch die arme Menschen nur des Teuffels Trug und Lust exponiret werden.«

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Pietistische Frömmigkeitsmerkmale aus gegnerischer Sicht

ihr zu zuhören.131 An anderer Stelle ist die Rede von mehreren hundert Personen, die im Laufe eines Tages die Entzückte besucht hätten. Hervorhebenswert ist hierüber hinaus die bewusste Hinzuziehung von Ärzten, die die Echtheit der Entzückung zertifizieren sollten, indem sie andere körperliche Leiden ausschlossen.132

3.4

Pietistische Lebensführung

Die meisten bis hierher vorgestellten Merkmale pietistischer Frömmigkeit erschienen den orthodoxen Gegnern als gefährlich und deswegen hervorhebenswert, weil sie sich, mehr oder weniger ausschließlich, auf den öffentlich-rituellen Bereich des lutherisch-protestantischen Lebens bezogen. Gerade auch die zuletzt angeführte Hochachtung der »Entzückten« durch die Pietisten ist aufgrund der großen Öffentlichkeit, welche die Fälle erlebten, sowie ihre weitreichenden Wahrheitsansprüche auch die Lehre betreffend in diesen Bereich einzuordnen. Jedoch gerade auch für den privaten, alltäglichen Bereich – soweit diese Trennung überhaupt möglich und sinnvoll ist – stellen die Gegner Besonderheiten pietistischer Frömmigkeit fest. Auch hier sind es in erster Linie Performanzen, welche im Diskurs markiert werden. Zuvor wurden ›Entzückung‹ bzw. ›Begeisterung‹, obwohl sie in den 1690er Jahren »sehr gemein« wurden, als geistiger, gleichsam elitärer Stand einer besonderen Gruppe innerhalb der Bewegung beschrieben. Die ›Entzückten‹ stellen deshalb Sonderfälle dar. Jedoch beschreiben die gegnerischen Quellen hierüber hinaus weiterhin eine Art ›pietistischen Gemeinstand‹, der, obgleich von orthodoxer Seite freilich als »Heucheley«, »eingebildetes Phariseerthum« und dergleichen bezeichnet, mit dem sich auch die ›normalen‹ Pietisten von den sie umgebenden Menschen in ihrem Christentum abheben wollten. Verschiedene in den orthodoxen Schriften angeführte Merkmale lassen ein schillerndes Bild hiervon vor Augen treten, wenn auch von antipietistischer Seite in den 1690er Jahren dieser Status geistlicher Lebensführung nur selten begrifflich auf den Punkt gebracht wird. Über den Grund hierfür lässt sich spekulieren: Entweder, weil eine zusammenhängende Konzeption nicht bekannt war, oder weil eine solche in die polemischen Verzerrungen der Gegner nicht hineinpasste. Eine der wenigen Ausnahme hiervon, die über die bloße Feststellung der pietistischen »Falschheit«, des »Hochmuts« oder des »Heuchlertums«133 hinausgeht, stellt die 131 Vgl. im 4. Brief. 132 Vgl. etwa im 3. Brief der Sammlung. 133 Diese und andere Formulierungen, aus denen hervorgeht, dass sich die Pietisten als »heiliger als andere« verstehen und sich einbilden, »sie seyen weit besser als andere«, finden

›Unfug der Pietisterey‹: Spezifika pietistischer Frömmigkeit aus orthodoxer Sicht

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Ausführliche Beschreibung des Unfugs dar : Hier werden die Pietisten mit dem Begriff »Wiedergebohrne« bezeichnet, der den Wandel ihres Lebensstandes bzw. ihren Lebenswandel markieren soll.134 Hier findet sich auch ein Beispiel dafür, wie der Erfahrung des Autors nach die Gothaer Pietisten selbst herauszufinden versuchten, ob sie nun bereits »wiedergebohren« waren oder nicht: »Ferner haben sie Zettel gemacht / und auff etliche scharffe / auff etliche gute / auff etliche die besten Sprüche geschrieben / und denn geloset. Wer einen scharffen bekommen / ist vor unbekehrt geschätzet worden / und hat gezittert / die andern hat man vor halb bekehret / und die letztern vor Erleuchtete geurtheilet.«135

Nicht nur für diejenigen, die einen solchen »scharffen« Zettel bekommen haben, sondern auch für alle anderen nicht »wiedergebohrnen« gilt deshalb: »Mit einem Wort: Arme betrübte Sünder / die nicht in so hohem Geist / Erleuchtung und Licht wandeln / haben bey ihnen gar keinen Trost noch wenig deswegen zu ihrer Buß und Bekehrung gefunden.«136

Dieser besondere pietistische ›Status‹ soll nun, anhand dreier Merkmale, die von gegnerischer Seite angemerkt werden, genauer in den Blick genommen werden. 3.4.1 Perfektionismus Eines dieser in der Pietismuskontroverse der 1690er Jahre umstrittenen Themen bezüglich christlicher Lebenspraxis ist der in den gegnerischen Schriften behauptete pietistische Anspruch der ›Perfektion‹. Hier hinter verbirgt sich die Frage, »ob man die Gebotte Gottes halten könne?«137 Während die orthodoxen Autoren – in lutherischer Tradition stehend – dies eindeutig verneinten, stellten sie fest, dass das schon als protestantisch-anthropologisches Gemeingut zu bezeichnende Wissen ob der menschlichen Verhaftung in der Sündhaftigkeit und der ausschließlich aus der Gnade resultierenden Rechtfertigung von pietistischer Seite offensichtlich nicht in seiner Allgemeingültigkeit akzeptiert wurde. Mit anderen Worten: Nach pietistischer Auffassung stellt sich die Rechtfertigung in Luthers ›simul iustus et peccator‹ keineswegs allein durch

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sich sehr oft, beispielsweise im Ebenbild der Pietisterey, 4 f; Sagittarius, Untheologische Lehrsätze,1,3 (und aus dem ›Original‹ von Sagitarius, Theologische Lehrsätze, 2 geht hervor, dass auch auf pietistischer Seite der Vorwurf durchaus bekannt war; Carpzov, Borns Leichpredigt, 28,28; Ausführlicher Bericht von denen Quäckerzusammenkünfften, 9; Ausführliche Beschreibung des Unfugs, 101 usw. Ausführliche Beschreibung des Unfugs, 72. Ausführliche Beschreibung des Unfugs, 79. Ausführliche Beschreibung des Unfugs, 73. Auf das auch das Responsum Facult Theol. Jenensis in dem Controvers zwischen dem H. Seniore D. j.j. Breithaubt zu Erfurth und dem Rectore des Gymnasii Hogelio[?] von der Frage: Ob man die Gebotte Gottes halten könne? antwortet; eine handschriftliche Kopie befindet sich im ersten Band der Göttinger Acta Pietistica, Nr. 62.

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Pietistische Frömmigkeitsmerkmale aus gegnerischer Sicht

Gottes Gnade (sola gratia) ein, sondern durchaus auch unter Zuhilfenahme einer menschlichen Komponente. Unter Berufung sowohl auf die Heilige Schrift als auch die Confessio Augustana stellt Balthasar Mentzer fest: »Von der im Christenthumb erforderten Vollommenheit / wissen wir auß H. Schrifft und der A. C. Apologia, daß auch die jenige werden darinn vollkommen genennet / die nicht mehr Anfänger sind im Glauben und dessen Früchten / sondern allbereit darinn wohl zugenommen und fortkommen sind. Zu solcher Vollkommenheit können wir durch Gottes Gnade kommen / und müssen uns höchst angelegen seyn lassen / darinnen immer zu wachsen und zu zunehmen / kein Mensch aber muß sich einbilden / eine solche Vollkommenheit im Leben und wandel erlangt zu haben / oder erlangen zu können / wie sie im Gesetz erfordert wird / das wurde mit allem Fug stulta gloriatio ein thörichter Ruhm genennet […].«138

Doch genau dieser »thörichte Ruhm« ist es, den die Pietisten wohl für sich behaupteten, wie im »III. Capitel. Von der Pietisten Lehre / und derselben fürnehmsten Haupt = Artickel.« der Ausführlichen Beschreibung des Unfugs zu lesen ist: »Die Lehre zwar / weil gar zu viel von dem Glauben geprediget / und darbey den Leuten die Unmügligkeit das Gesetz zu halten eingebildet würde / dadurch man sie von dem thätigen Christenthum mehr abgehalten / indem sie mit der menschlichen Schwachheit und Unmögligkeit nach dem Gesetz vollkommen zu leben sich entschuldigten; dargegen wolten sie alle diese Entschuldigungen zu benehme / die mügliche Haltung der Gebot Gottes / und die Vollkomenheit rechtschaffener Christen behaupten.«139

Hierfür gibt der Autor der Ausführlichen Beschreibung auch Beispiele, die teils ernst gemeint sind, teils aber auch höchst ironisch die Unhaltbarkeit der pietistischen Position darstellen. So predigte etwa Clemens Thieme (»Archi-Diaconus« in Wurtzen«), »es wäre möglich / daß ein Mensch auff Erden ein Englisch Leben führete / und die solches thäten / sollten wissen / daß aus grosser Liebe und Freude die heiligen Engel ihm würden erscheinen […] und ihn der Gnade Gottes versichern […]«.140

Zu den ironischen Verzerrungen zählt das Aufzeigen einer pragmatischen Lösung der Frage, wie die Gebote Gottes zu halten seien: »Es wollte [zu Kelbra, d. Vf.] das Unwesen plötzlich einreissen / nicht allein durch Einführung neuer Lehrarten / sondern auch durch Corrumpirung der Lehre selbst / indem die eingeschlichenen Pietisten so viel von Haltung des Gesetzes vortrugen / deren einige doch selbst nicht verstunden / was sie haben wolten. Einsten predigte einer daselbst öffentlich / die Gebot zuhalten wären nicht schwer / man sollte 138 Mentzer, Kurtzes Bedencken, 27 f. 139 Ausführliche Beschreibung des Unfugs, 23. 140 Ausführliche Beschreibung des Unfugs, 35.

›Unfug der Pietisterey‹: Spezifika pietistischer Frömmigkeit aus orthodoxer Sicht

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nur ieden Tag eines halten / so würde man in zehen Tagen mit Haltung der Zehen Gebot Gottes fertig.«141

Neben den Berichten aus Mitteldeutschland wird auch vom Pietisten-Konventikel in der Hamburger Neustadt und andernorts Vergleichbares berichtet.142 Die pietistische Behauptung der Perfektion geht darüber hinaus jedoch so weit, dass sie als verbindlich angesehen wird: Die Einhaltung der »Gebotte Gottes« ist nach pietistischer Auffassung nicht nur möglich, sondern auch notwendig, denn: »wo noch Sünden innen stecken / da sey kein Glaube«, der Glaube allerdings muss verknüpft sein mit den guten Werken – mithin wiederum dem menschlichen Anteil an seinem Seelenheil.143 Diesen setzen die Pietisten damit allerdings so hoch an, dass kein Sünder sich Hoffnungen auf das Heil zu machen braucht.144 Um sich jedoch noch ein genaueres Bild davon machen zu können, wie ein gottgefälliger, den Geboten entsprechender Lebenswandel nach pietistischem Vorbild nun genau auszusehen hat, muss ein weiterer wichtiger Aspekt in den Blick genommen werden: Die pietistische Sündenfreiheit drückt sich nicht zuletzt durch ihre Weltverneinung aus. 3.4.2 Weltflucht Während beispielsweise im Zusammenhang der besonderen Rolle der Laien in den pietistischen Konventikeln die Bewegung als an den Menschen nicht zuletzt des dritten Standes interessiert und somit der Welt zugewandt erschien, so wird andernorts in den antipietistischen Schilderungen eine sehr strenge, geradezu weltfeindliche Haltung beschrieben. Hierbei variieren die Merkmale, die den orthodoxen Autoren erwähnenswert erscheinen, über ein weites Spektrum von z. T. unterschiedlichsten Äußerungen des Lebens: von performativen, äußerlichen Motiven über asketische Haltungen bis hin zu liturgische Aspekte berührenden Radikalisierungen. Um diese Bandbreite zu veranschaulichen, werden im Folgenden einige Beispiele nebeneinander gestellt, die unter dem Dach der ›Weltverneinung‹ zusammengeführt werden, wenn sie auch formal sehr unterschiedliche Bereiche berühren. Zunächst zu den an erster Stelle angeführten äußerlichen Merkmalen: An 141 142 143 144

Ausführliche Beschreibung des Unfugs, 67. Vgl. Außführlicher Bericht von denen Quäcker = Zusammenkünfften, 10. Ausführliche Beschreibung des Unfugs, 72. Der Autor der Pietistische[n] Erzehlung bringt, wiederum in ironischer Infragestellung der pietistischen Bibelbetonung, Beispiele aus dem Umfeld Jesu Christi: »So spannt ihrs ja nun so hoch / daß kein Zöllner / kein Petrus / kein Schächer / keine Maria Magdalena sc. in den Himmel kommen kann / sondern es müssen lauter Gottsgelehrte heilige Pietisten seyn […].« Ebd., 15.

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Pietistische Frömmigkeitsmerkmale aus gegnerischer Sicht

nicht wenigen Stellen innerhalb der unterschiedlichen antipietistischen Texte ist die Rede von einem regelrechten pietistischen Habitus, durch den sich die Anhänger der Bewegung bereits äußerlich von ihren Mitmenschen unterschieden. Zu den diesen Habitus manifestierenden Merkmalen gehörte offensichtlich, dass »sie in etlichen euserlichen Sachen / die gar nichts zur Gottseeligkeit beytragen / eine sonderliche Heiligkeit suchen. Als in gewisser Art Kleidung / oder Speise/oder Enthaltung solcher Sachen.«145

Auch an anderer Stelle werden lediglich ähnlich vage Andeutungen über den pietistischen Habitus gemacht: »Sie waren in freyen Mitteldingen von grosser Singularität […] / sahen niemand recht an / sondern schlugen die Augen nieder/ wenn sie giengen / sie enderten ihre Kleidung / und fiengen an sich anders zu tragen als vorher / etc.«146 Gerade diese Andeutungen über das äußere Erscheinungsbild der Pietisten wecken das Interesse. Aufschluss bietet etwa das Christ = Vernünfftige Gespräch. Auch diesbezüglich erläutert Demas seinem Freund, was er »von den Pietisten gehöret hat«: »6. Sollen sie sich nicht satt essen / und sollen gar den Kopff nieder hängen / und auch kein Degen tragen / sondern schwartze Mäntel / die fast über die Knie = Kehle gehen.«147

Ein hängender Kopf, ein langer, schwarzer Mantel und die Verweigerung des bis ins 18. Jahrhundert den Mann von Welt auszeichnenden (Galanterie-)Degens: Waren dies die äußerlichen Zeichen der Pietisten schon in den 1690er Jahren? Die gegnerischen Quellen zumindest deuten es an. Auch passt es gut zu den anderen Aspekten der asketischen, weltabgewandten Lebenshaltung der Pietisten, wie sie aus den Schilderungen hervorgeht. So ist in vielfältiger Form die Rede von der pietistischen Geringschätzung weltlicher Dinge: Neben der genannten Verweigerung modischer Gegebenheiten und einer fröhlichen, aufrechten Haltung ist zu lesen von Selbstgeißelung im wörtlichen148 sowie im übertragenen Sinne durch Verweigerung von alkoholischen Getränken, selbst wenn es um einen Umtrunk zu Ehren des Verweigerers geht.149 Aber auch ganz traditionelle asketische Formen werden genannt. In der Pietistischen Erzehlung wird ein Pietist zitiert, der berichtet,

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Ebenbild der Pietisterey, 4. Ausführliche Beschreibung des Unfugs, 25. Christ = Vernünfftiges Gespräch, 4. Außführlicher Bericht von denen Quäcker = Zusammenkünfften, 8. So etwa beobachtet bei dem nicht weiter benannten Leiter des Siegener Collegiums, weil er es »vor Sünde gehalten, wann man etwas über Durst trüncke«, vgl. Pietistische Erzehlung, 5.

›Unfug der Pietisterey‹: Spezifika pietistischer Frömmigkeit aus orthodoxer Sicht

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»Es sind etliche unsers Collegii, die werden auff keinem Bett schlaffen / nur daß sie das Fleisch zähmen sc. Unser Herr Doctor selbst / als er jüngst zu höhern Ämptern befördert worden / hat etliche Nacht / auß hertzlicher Danckbarkeit gegen GOtt / in keinem Bett geschlaffen […].«150

Zur pietistischen Askese über diese ›Unbequemheiten‹ hinaus gehört allerdings auch die Verweigerung fröhlicher Lieder, selbst wenn es sich um genuin christliche handelt151, sowie jeglicher Instrumentalmusik, etwa im Gottesdienst, da diese nicht innerlich genug sei.152 Ziel dieser asketischen Lebenshaltung ist laut dem orthodoxen Verständnis einerseits das sündenfreie Leben gemäß den »Gebotten Gottes« (vgl. 3.4.1), weshalb sie vorgeben, »als wenn sie keiner Gemüths = Bewegung unterworffen / in der Welt nicht lebeten […].«153 Erstes Ziel der Askese ist demnach die Weltflucht aufgrund der Sündhaftigkeit derselben, mit welcher der Pietist nicht in Berührung kommen möchte. Welch missionarischer Eifer hier hinter teilweise stand, scheint an mancher Stelle durch, da die Pietisten »den Leuten manche närrische Sachen und gottlose Händel von Mitteldingen einbilden / und sie mit allerhand verdächtigen Chartecken verdüstern und verwirren.«154 Dies kann bis zu jenem Extremfall von Sündenzerknirschung gehen, den Schelwig von Martin Zoller, einem Wormser Exulanten, der in Berlin an Johann Kaspar Schade geriet und sich aufgrund seines von den Pietisten eingeredeten schlechten Gewissens hat »mehr als dreyssig mal / um nicht weiter zu sündigen / sich erhencken wollen.«155 3.4.3 Tätiges Christentum Dem weltflüchtigen Ansinnen allerdings steht diametral eine weltzugewandte, schon fast als ›Aktionismus‹ zu bezeichnende Konzentration der Pietisten auf das »thätige Christenthum« gegenüber, der gewiss auch die Geringschätzung der Wissenschaften zugunsten des praktischen Christenlebens, die Hochschätzung der Laien oder die in den orthodoxen Quellen immer wieder beschriebenen Missionsbestrebungen156 zugerechnet werden kann – auch, wenn dieses Telos laut orthodoxem Bekunden nicht eingelöst wurde: »Man hat Anfangs / da der 150 151 152 153 154 155 156

Pietistische Erzehlung, 19. Sagittarius, UnTheologische Lehrsätze, 3. Schelwig, Sectirische Pietisterey, 20. Sagittarius, UnTheologische Lehrsätze, 3. Sagittarius, UnTheologische Lehrsätze, 4. Schelwig, Itinerarium Antipietisticum, 22. Vgl. etwa Ausführliche Beschreibung des Unfugs, 33, 51; Außführlicher Bericht von denen Quäcker = Zusammenkünfften, 6; Samuel Vogts / E.E. Raths der Stadt Leipzig verordneten Kornschreibers / Send = Schreiben An Hr. M. August = Herman Francken […] von Herrn D. Casp. Sagittarii […] Leipzigischer Expedition, vom 26. Augusti biß den 3. Septembris Anno 1691 schildert die ungeschickten Missionsversuche von Caspar Sagitarius in Leipzig.

212

Pietistische Frömmigkeitsmerkmale aus gegnerischer Sicht

Pietisten Unwesen sich zuerst entsponnen / in den Gedancken gestanden / es sollte alles auf die Verbesserung des unheiligen Lebens / und auf ein thätiges Christenthum angesehen seyn / also / daß ihr Endzweck gut und ausser Streit […]«. Oftmals wird von den Pietisten diese vita activa, die sich in »Lebens = und Sitten = Lehre« ausdrückt, der an sich bedeutsameren »Glaubens = Lehre« vorangestellt.157 Nur mit guten Werken kann ein christliches Leben geführt werden158, weshalb auch alle anderen von pietistischer Seite gerne als ›Namens-› oder ›Maul-Christen‹ diffamiert werden.159 Es wird spannend werden, diese zunächst unvereinbaren Zuschreibungen ›der Pietisten‹ – Weltflucht und Weltzugewandtheit durch »thätiges Christenthum« – unter Zuhilfenahme pietistischer Quellen genauer zu analysieren. Ein möglicher Blickwinkel, unter dem die beiden widersprüchlichen Aspekte pietistischer Frömmigkeit eventuell schlüssig zusammengeführt werden können, stellt die offensichtlich von nicht wenigen Pietisten vertretene Naherwartung des Tausendjährigen Reiches dar, die in einigen Quellen angeführt wird: Die chiliastische Hoffnung160 kann hierbei gewiss sowohl Auslöser für einen Rückzug aus der Welt als auch für eine Hinwendung zu ihr in ›thätigem Christenthum‹ sein. Zumindest in den gegnerischen Quellen der 1690er Jahre, die das Korpus stellen, spielt ein ›pietistischer‹ Chiliasmus bzw. die Naherwartung des tausendjährigen Reiches als Merkmal einer ›pietistischen‹ Frömmigkeit keine Rolle: Von den immerhin knapp 50 Schriftstücken der Göttinger Acta Pietistica, die den Chiliasmus thematisieren, stammt der größte Teil aus der Feder des pietistischen Chiliasten Johann Wilhelm Petersen (1649 – 1727); die meisten der orthodoxen Quellen wiederum schreiben wider den Chiliasmus Petersens. An kaum einer Stelle wird die Bewegung in den Quellen des auslaufenden 17. Jahrhunderts ganz allgemein als ›chiliastisch‹ bezeichnet.161 157 Carpzov, Bey Christlichem Begräbnüß Herrn Martin Borns, 27, 28; vgl. auch Maß des unmaßgeblichen Bedenckens, 24; auch die pietistischen Hausbesuche werden hierzu gezählt, vgl. Ausführliche Beschreibung des Unfugs, 37 f; 158 Ausführliche Beschreibung des Unfugs, 72. 159 Vgl. Sagitarius, Theologische Lehr = sätze, 3, 5. 160 »Das thätige Christenthum ist nicht der Entzweck der Pietisten / sondern das tausendjährige Reich / darinnen sie mit denen Münsterischen Wiedertäuffern die Könige und Potentaten der Welt trachten unter ihre Füsse zutreten; das sind die künfftigen bessern Zeiten / die sie hoffen.« Ausführliche Beschreibung des Unfugs, 27. 161 In den antipietistischen Polemiken, die bereits in ihrer Überschrift den Chiliasmus oder die Lehre vom tausendjährigen Reich der Pietisten nennen, lösen dies in den Schriften nicht weiter auf; es ist deshalb anzunehmen, dass die Bezeichnung der Anhänger der Bewegung als chiliastisch lediglich als weitere ›Standard‹-Beschuldigung zur Diffamierung aufzufassen ist – so wie in den seltensten Fällen etwa die Bezeichnung als »schwärmerisch« an konkreten Elementen fest gemacht wird. Beispiele für derartige Quellen sind etwa Nöthiger Unterricht von denen stoltzen Reden/Derer Pietisten und Fanatischen Schwärmer/welche sie vom Reiche Gottes fürbringen/nach Anleitung Der Fest = Lection, aus der Apostel = Gesch.

›Unfug der Pietisterey‹: Spezifika pietistischer Frömmigkeit aus orthodoxer Sicht

3.5

213

Indifferentismus

Schon im Zusammenhang mit der Rolle der Laien innerhalb der Bewegung als auch der auffälligen Hochschätzung der ›Entzückten‹ mit ihren Ekstasen und Visionen hatten die gegnerischen Autoren nicht verhehlen können (oder wiesen bewusst darauf hin), dass die Anhänger der ›Secte‹ in ihrem Hang zum sektiererischen Individualismus diesen teilweise bis hin zu einem gewissen Indifferentismus trieben. Über den Vorwurf der »sectirischen Pietisterey«, also der Gründung einer Sekte und dem bewussten in Kauf nehmen eines Schismas, geht dieser Vorwurf noch hinaus, da hierin nicht mehr nur ein Bruch mit der (lutherischen) Kirche gesehen wurde, sondern auch eine monolaterale Annäherung an die konfessionellen Gegner oder gar an Angehörige anderer Religionen: »Es könten in dieser Zusammenkunfft sich einfinden / und würden angenommen / Jüden / Heyden / Türcken / Papisten / Calvinisten / Lutheraner […] wann solche nur der Geist dahin triebe.«162 In der Ausführlichen Beschreibung des Unfugs setzt der Autor ekstatische Visionen als Vorraussetzung für die Aufnahme in die Bewegung an.163 Ähnliches lässt sich im Nöthigen Unterricht von denen stoltzen Reden finden. Auch hier wird die Lebenspraxis als Entree-Billet sogar für Angehörige anderer Religionen zur pietistischen Gemeinschaft verstanden: »deßgleichen wenn sie von denen Religionen saget / daß / wer nur from lebe / seinem GOtt könne gefällig seyn.«164 Zudem ist dieser die religiösen Grenzen nicht nur überschreitende, sondern auch verwischende Indifferentismus hinsichtlich der Lehre festzustellen: »So macht demnach die Pietisterey / wie sie bisher beschrieben ist / eine solche Secte / die weder der Kirche Gottes / noch dem gemeinen Wesen zu erdulden ist. […]. Weil sie Religionen / die doch im Grunde nicht einig / unrechtmäßiger Weise vermischet.«165

Hierzu zählt auch das Sakramentsverständnis, etwa des Heiligen Abendmahls. Hier zitiert der Autor der Ausführlichen Beschreibung des Unfugs die im lutherischen Halberstadt auftretende Anna Margaretha Jahn mit ihrem eher reformierten als lutherischen Abendmahlsverständnis.166 Kurzum: Gerade in den

162 163 164 165 166

I.II. […] gestellet von M.George Heinrich Götzen […]1693 oder Die sectirische Pietisterey/in denen Artickeln / Von der Freygeisterey/von Lehr = Büchern der Evangelischen Kirchen/von der Chiliasterey / von der Heil. Schrifft/und der hieraus entspringenden Erleuchtung/und von der Enthusiasterey/aus Hn. D. Philipp Jacob Speners und seines Anhangs Schrifften / zur Unterricht und Warnung Fürgestellet / von Samuel Schelwigen […] Ander Theil. Ausführlicher Bericht von denen Quäcker = Zusammenkünfften, 10. Vgl. Ausführliche Beschreibung des Unfugs, 121. Nöthiger Unterricht von denen stoltzen Reden (unpag.). Eben = Bild der Pietisterey, 7. »Das heilige Abendmahl wolle sie auch nicht zur Vergebung der Sünden / sondern nach Christi Befehl zu seinem Gedächtnis brauchen.« Ausführliche Beschreibung des Unfugs, 123.

214

Pietistische Frömmigkeitsmerkmale aus gegnerischer Sicht

Collegia können sich »allerley frembder Religion zugethane« unter dem Deckmantel der Frömmigkeit versammeln »und allda ihre gifftige Lehre unter den Einfältigen beybringen«.167 Weil nun aber innerhalb der pietistischen Konventikel die Laien vorherrschten, stünde diesen freien, undogmatischen Äußerungen der Laien kein geistlicher Vorsitz gegenüber, der die Versammlung auf den richtigen Weg zurückzuführen vermöge. Nun ist nicht anzunehmen, dass ›Ökumene‹ die Befürchtung der antipietistischen Polemiker darstellt, sondern die Verwischung oder gar Aufgabe lutherischer Standpunkte. Letztlich wird aus den pietistischen Quellen deshalb der pietistischen Stellungnahme zum Vorwurf des Indifferentismus aus zwei Sichtweisen nachzugehen sein: der pietistischen Stellung zu anderen Konfessionen und Religionsgemeinschaften und der Aufnahme nicht lutherischer Elemente aus denselben.

167 Hanneken, Sendschreiben an N. N., 3.

Kapitel V: ›Gründliche Beantwortung Deß Unfugs der Pietisten‹. Fromm sein aus pietistischer Sicht

»Schließlich möchte aber wohl mancher sagen: Solte man doch nicht meynen / oder glauben / daß solche böse Läster Mäuler in der Welt sollten gefunden werden / welche unschuldigen Leuten solche böse Sachen sollten andichten.«1

Der anonym bleibende ›Liebhaber der Göttlichen Warheit‹ weist mit seinem erstaunten, ja geradezu fassungslosen Ausruf darauf hin, dass sich die pietistische Auffassung von dem, was von den Gegnern als ›Unfug der Pietisterey‹ bezeichnet wurde, erheblich unterschied: Bei den Elementen, die im vorausgehenden Kapitel aus den Antipietistica als Äußerungen von Verirrungen oder auch Verwirrungen herausgearbeitet wurden, handelt es sich letztlich nur um das, was die Autoren der Polemiken, Traktate etc. als die am meisten hervorstechenden Äußerungen eines falsch verstandenen Christentums ansahen. Aufgabe des folgenden (Haupt-)Kapitels wird es demnach sein, den »pietistischen Unfug« auf Intentionalität und Wesen seitens der pietistischen ›Unruhestifter‹ selbst zu untersuchen, die ihr Handeln natürlich keineswegs als ›Unruhestiftung‹ ansahen und nicht müde wurden, gegenüber den vielen Beschuldigungen ihre Orthodoxie zu betonen. Erst im Diskurs, in der wechselseitigen Beleuchtung von gegnerischen Beschuldigung und pietistischen Erläuterungen, wird das Konstrukt aufzeigbar, was mit der Bezeichnung ›Frömmigkeit‹ das Ziel der vorliegenden Untersuchung darstellt. Nur schwerlich wird aus der häufig singulär betrachteten reinen Binnenperspektive pietistischer Quellen deutlich, worin das Genuine, die Sprengkraft des pietistischen Strebens nach wahrer Frömmigkeit liegt, geradezu unmöglich ist es, das frömmigkeitliche Leitmotiv den Schilderungen der Außenperspektive abzuringen, so war die der Methodik der Untersuchung zugrundeliegende Leitthese eingangs formuliert worden. Erst aus der diskurierenden Synopse lässt sich Frömmigkeit konstruieren. 1 Unmaßgebliches Bedencken Von denen also genandten PIETISTEN Und COLLEGIIS PIETATIS Von einem Liebhaber der Göttlichen Warheit Und zu Bekräfftigung derselben auffgesetzet / Und in dem Druck gegeben. Im Jahr 1692, Bl. 16.

216

Fromm sein aus pietistischer Sicht

Entsprechend dem Vorgehen in Kapitel III sollen zunächst einige Anmerkungen über die Gesamtheit des verwendeten Quellenmaterials angebracht werden (V.1), bevor die Merkmale selbst in den Blick genommen werden (V.2).

1.

Verwendete Quellen und ihre Motivation

War im ersten, die Frömmigkeit der osteuropäischen Chassidim thematisierenden Teil eher die Rede von der relativ geringen Quantität von Quellen nicht nur über, sondern auch des frühen Chassidismus selbst gewesen, so stellt sich hier, im den protestantischen Pietismus behandelnden zweiten Teil eher das Problem, aus der Menge des immensen literarischen Schaffens repräsentativ auswählen zu müssen. Das gilt für die Antipietistica (Kapitel IV) ebenso wie für die pietistischen Quellen. Wie deshalb bereits die Antipietistica nur in allgemeiner Form eingeführt wurden (vgl. IV.1), so wird im Folgenden auch das pietistische Quellenkorpus aus diesem Grund nur allgemein hinsichtlich der Kriterien, die seine Zusammenstellung begründen, vorgestellt. Die einzelnen Quellen werden weiter unten, wo es notwendig oder geraten scheint, jeweils kurz eingeführt, wenn sie erstmalig zitiert werden. Relativ allgemein gesagt lassen sich die verwendeten Quellen zwei Gruppen zuordnen: Erstens liegen, anders als im Fall des Chassidismus, viele pietistische Repliken auf die Anfeindungen der orthodoxen Autoren vor. Dies deutet sich bereits in dem zitierten katalogisierenden Schreiben Acta Pietistica an und ist in den Göttinger Acta Pietistica, in denen sich tatsächlich »in der stille beyeinander« finden, »die sich sonsten wol übel vertragen dürfften«, verwirklicht: Neben den antipietistischen Texten sind auch pietistische Antworten und Entgegnungen auf die orthodoxen Angriffe zusammengetragen. Diese direkten pietistischen Bezugnahmen in Form von Richtigstellungen und Erläuterungen lassen teilweise bereits einen recht präzisen Blick auf die pietistischen Vorstellungen bzw. Intentionen hinter dem vermeintlichen ›Unfug‹ zu, teilweise werden einzelne Merkmale von pietistischen Autoren auch relativiert oder gar falsifiziert. Die in diese Gruppe einzuordnenden Quellen entstammen zumeist den frühen 1690er Jahren, der Hochzeit des Pietismusstreits. Die meisten von ihnen sind in den Göttinger Acta enthalten. Die zweite, im Untersuchungszusammenhang sicherlich bedeutsamere Gruppe umfasst diejenigen Quellen, die nach Bernd Hamm als ›Frömmigkeitstheologie‹ beschrieben wurden (s. Kapitel I): das die Gemeinde zur Frömmigkeit anleitende pragmatische theologische Schrifttum. Hier hat der Pietismus eine »ganze, noch kaum erforschte Literatur hervorgebracht, um anzuleiten, dieser Bewegungen des Heiligen Geistes in der Seele gewahr zu werden

Verwendete Quellen und ihre Motivation

217

[…]«2, um dem diagnostizierten gewohnheitsmäßigen, äußerlichen Christentum zu begegnen. Ähnlich dem chassidischen Quellenkorpus, in das etwa Homiliare, Sammlungen kurzer Lehren und Aussprüche sowie Erzählungen aufgenommen wurden, setzt sich auch dasjenige der sich im letzten Viertel des 17. Jahrhunderts etablierenden protestantischen Frömmigkeitsbewegung sehr vielfältig zusammen. Als Frömmigkeitstheologie im Sinne Hamms kann in der Neuzeit, dies wird besonders deutlich, da die zwei von einander unabhängigen Strömungen in Ostjudentum und mitteleuropäischem Protestantismus nebeneinander betrachtet werden, eine Vielzahl von literarischen Gattungen aufgefasst werden. Die wichtigsten sind auf pietistischer Seite gewiss Homilien; hinzu kommt eine Vielzahl praktisch-theologischer Anleitungen, die beispielweise eine pädagogische oder seelsorgerliche Zielsetzung verfolgen. Als Frömmigkeitstheologie können für den Pietismus beispielsweise jedoch auch seltenere Formen wie fiktive Streitgespräche ausgemacht werden, die, etwa über Vorbilder, Identifikationsideale bieten. Um aus den als »Unfug« bezeichneten Merkmalen Tendenzen der Frömmigkeit abzuleiten, müssen derartige Anleitungen oder Idealisierungen hinzugenommen werden. Hierbei wird die zeitliche Spanne weiter gefasst sein, als es hinsichtlich der Streitschriften der Fall war. Die frühesten erfassten frömmigkeitstheologischen Texte stammen aus der Frankfurter Schaffenszeit Speners3, der später, »als es an den beiden Hauptschauplätzen Hamburg und Leipzig um 1690 zur großen Auseinandersetzung zwischen Orthodoxie und Pietismus kam« eher im Hintergrund blieb.4 Bei den spätesten Quellen handelt es sich um homiletische sowie (schul-)pädagogische Texte August Hermann Franckes aus dem frühen 18. Jahrhundert, um nur die beiden zeitlichen Extrema zu nennen. Über die Texte der ›Großen‹ des Pietismus hinaus werden auch weniger bekannte oder gar anonym bleibende Autoren aus pietistischen Kreisen zu Wort kommen. Insgesamt wird so eine recht weite pietistische Landschaft (auch geografisch gesehen) in den Blick genommen. Auch hinter der Konzentration auf frömmigkeitstheologische Quellen, die in dieser Funktion meist deutschsprachig sind, steht die Zielsetzung, mit derartigen Schriften, welche oftmals die Ebene der Hochtheologie verlassen und stattdessen eine möglichst breite 2 Johannes Wallmann, Geistliche Erneuerung der Kirche nach Philipp Jakob Spener, in: Pietismus und Neuzeit 12 (1986), 12 – 37, hier : 31. 3 Spener erhielt 1666 den Ruf auf das Frankfurter Seniorat; 1686 wurde er »zum Oberhofprediger, Kirchenrat, Beisitzer des Oberkonsistoriums und Beichtvater des sächsischen Kurfürsten in Dresden« berufen und verließ infolgedessen Frankfurt; vgl. Johannes Wallmann, Philipp Jakob Spener und die Anfänge des Pietismus, Tübingen 21986, v. a. 183ff; Martin Brecht, Philipp Jakob Spener, sein Programm und dessen Auswirkungen, in: ders. (Hg.), Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert, 281 – 389, hier : 285. 4 Ryoko Mori, Begeisterung und Ernüchterung in christlicher Vollkommenheit. Pietistische Selbst- und Weltwahrnehmungen im ausgehenden 17. Jahrhundert, Tübingen 2004, 142 f.

218

Fromm sein aus pietistischer Sicht

Adressatengruppe anpeilen, die in der Kirchengeschichte zumeist beschriebene Frömmigkeit der großen Gestalten auf ihre Breitenwirksamkeit hin abzuklopfen. Dass dennoch eben jenen Großen viel Platz eingeräumt wird, ist der Tatsache geschuldet, dass sie jene Anleitungen für die vielen verfassten. Gerade durch den Blick von außen, sei er nun polemisch verzerrt oder nicht, lässt sich allerdings belegen, dass über die Frömmigkeit eines Spener oder eines Francke hinaus deren Anleitungen von breiten Schichten angenommen und in die Tat umgesetzt wurden. Hier sei auf einen nicht unbedeutenden Unterschied zwischen dem chassidischen und dem pietistischen frömmigkeitstheologischen Schrifttum hingewiesen: Während ersteres beinahe durchweg in hebräischer Sprache vorliegt, für breite Kreise der jiddischsprachigen Adressaten somit nicht oder nurmehr mittelbar zugänglich war, liegt zweites deutsch vor, konnte also zumindest von Lesekundigen rezipiert werden. Aufgrund der großen Bedeutung für das Verständnis der pietistischen Frömmigkeitsmerkmale muss allerdings, zumal es sich um eine auffällige Parallele zu den Werken Jakob Josefs von Pollonoye, des Dogmatikers des Chassidismus handelt, auf die vielen pietistischen Werken – auch einem Großteil der Streitschriften – eigene Frömmigkeitskritik der pietistischen Autoren am Christentum der lutherischen Orthodoxie hingewiesen werden. Teile des pietistischen ›Unfugs‹ müssen interpretiert werden als pietistische Lösungsansätze für die diagnostizierten Probleme einer Krise der Frömmigkeit. Die neuen Frömmigkeitsformen können demnach zunächst als pietistische Maßnahmen gegen den an vielen Stellen diagnostizierten »Schaden Josephs«5 verstanden werden, von dem die lutherische Orthodoxie betroffen sei. Die teilweise alle Stände erfassende pietistische Kritik, welche die Orthodoxie erregte und zu jenen teils herben polemischen Blüten trieb, muss unter diesem Vorzeichen tatsächlich als Fingerzeig auf diese Frömmigkeitskrise, ihre Ursachen ebenso wie ihre Symptome, verstanden werden, dementsprechend die aus orthodoxer Sicht teilweise vermutlich regelrecht aufrührerisch anmutenden Merkmale als Vorschläge, dieser Krise zu begegnen. Darüber hinaus jedoch erklärt sich 5 Der oft angebrachte Begriff geht auf die Übersetzung Luthers von Amos 6, 6b zurück (»aber bekümmert euch nicht um den Schaden Josephs«), in der es um die »Selbstsicherheit und Schwelgerei der Vornehmen in Israel« geht, die hiermit bezeichnet werden. Zitatstellen sind unter vielen anderen Philipp Jakob Spener, Sendschreiben an einen christeyffrigen außländischen Theologum […], Franckfurt am Mayn 1677, z. B. 35; ders., Die Evangelische LebensPflichten. Anderer Theil. Franckfurt am Mayn 1692, 125; auch in seinem zentralen Reformwerk Pia desideria: Oder Hertzliches Verlangen / Nach Gottgefälliger Besserung der wahren Evangelischen Kirchen / sampt einigen dahin einfältigen abzweckenden Christlichen Vorschlägen […]. Franckfurth am Mayn, 1675; auch August Hermann Francke handelt beispielsweise in seiner Predigt Die hächstnöthige Kirchen- Hauß- und Hertzens-Reformation vom 8. 8. 1697 über den »Schaden Josephs«; ediert in Erhard Peschke (Hg.), August Hermann Francke. Predigten I, Berlin, New York 1987, 270 ff.

Verwendete Quellen und ihre Motivation

219

hierdurch auch, warum die Pietisten der Frühzeit nicht müde werden, ihre Orthodoxie, ihr Verhaftetsein im Luthertum zu betonen. Sie sind sich des »Schadens Josephs« bewusst, zeigen ihn auf und wollen ihm begegnen – keinesfalls aber sich zurückziehen und das Luthertum aufgeben: »Ach GOTT! Siehst du denn nicht, was für ein elender Zustand ist mitten unter denen, die sich Christen nennen? Wie verkehret es ist in allen Ständen, und wie auch so gar diejenigen, welche Lehrer, Leiter und Lichter seyn sollten deines Volcks, selbst grossen Theils verkehret, und verfinstert sind, ja deinen Weg denen Menschen verkehren, und zerstören, den sie aufrichten und bauen sollten?«6

Passagen, in denen die Krise des Christentums aufgezeigt wird, sind in den pietistischen Quellen des 17. Jahrhunderts Legion. Auch zeitlich finden sie sich in Texten aus der Zeit der Anfänge um Philipp Jakob Spener über die Autoren des in Leipzig ausbrechenden und sich über ganz Deutschland ausdehnenden Streits Ende der 1680er und zu Beginn der 1690er Jahre ebenso wie in Texten aus dem 18. Jahrhundert. Die wohl häufigste Argumentationsfigur stellt hierbei die nicht weiter differenzierende Ausrufung des ›verfallenen Christentums‹ wie sie im obigen, nur exemplarisch zu verstehenden, Zitat Franckes enthalten ist, dar. Oft jedoch wird das Verfallsszenario kombiniert und differenziert mit der Kritisierung des alle Stände erfassenden ›Gewohnheitschristentums‹, der Erstarrung von Geistlichen wie Laien in der äußerlichen Form7, sie »lassens dabey beruhen, wenn sie eusserlich zur Kirche, zur Beichte gehen […].«8 Teilweise treiben es die Christen laut pietistischer Kritik mit der Äußerlichkeit ihres Kirchengehens gar weiter als die Juden zur Zeit Jesu9, und das coram der »schwehren uns […] von Gott längst angekündigten / ja fast vor augen schwebenden / gerichte […].«10 Gerade diese werden von pietistischer Seite betont und stellen geradezu das Movens pietis6 August Hermann Francke, Am VIII. Sonntage nach Trinitatis. Von den falschen Propheten, in: Erhard Peschke (Hg.), August Hermann Francke. Predigten I, 438 – 484, hier: 480. 7 Um einmal einen weniger bekannten Autor anzuführen vgl. etwa die eindrückliche Schilderung des »Ober = Prediger / der Kirchen und Schulen Inspector« Johann Christian Berckelman in dessen Die rechte und wahre Hertzens = Bekehrung / Der falschen und eingebildeten Heuchel = Buße und Beichte / nach dem klaren Worte GOttes entgegen gesetzet / und seinen anvertrauten Seelen durch ein wohlmeinendes Schreiben Zur Innerlichen Christenthums Ubung Vorgestellet […], Franckfurt an der Oder 1692, 26 f; S. 28 werden diese als »Nahm = Christen« bezeichnet. 8 August Hermann Francke, Ein Unterricht vom Kirchengehen [Predigtnachschrift vom 2. 2. 1699], ediert in: Erhard Peschke (Hg.), August Hermann Francke. Predigten I, 602 – 630, hier : 605. 9 Vgl. ebd. 10 Philipp Jakob Spener, Erklärung / Was von gesichten / erscheinungen und dergleichen offenbahrungen zu halten seye / in einer Predigt vorgestellet: Samt dessen Theologischen bedencken in Sachen Henrich Kratzensteins / und dessen vorgebender offenbahrung, Franckfurt an der Oder 1693, Bl. 5.

220

Fromm sein aus pietistischer Sicht

tischer Frömmigkeitskritik dar – »die übrigen mögen schnauben und toben wie sie wollen / müssen sie doch einmal erkennen / es sey nun hier / oder vor dem Richterstuhl unsers allertheuersten Ertzhirten […].«11 Wo nun das ›Gewohnheitschristentum‹ ins Visier genommen wird, da bietet etwa Francke folgende in der Rezeption der Lehre gründende Erklärungen, denn prinzipiell ist ja nicht die evangelische Lehre an sich das Problem, wie er nicht genug betonen kann, sondern deren Umsetzung: Erstens sei die Unwissenheit über die Lehre innerhalb der evangelischen Kirche viel zu groß. Hierdurch bedingt sei häufig ein unrechter Verstand und Begriff der rechten Lehre verbreitet. Auch gingen viele, auch Geistliche, der Lehre nur mit der unerleuchteten Vernunft nach. Ein häufiges Problem sei zudem schlichtweg, dass die Lehre viel zu wenig mitgeteilt und sodann nicht angenommen wird.12 Hinzu käme hier der Vorwurf des »Heuchel = und Schein = Christenthum«, welches das Weltliche zu seinem Hauptinteresse mache und das Christsein sowohl hinsichtlich der Lehre als auch hinsichtlich der hierin gründenden Lebensführung diesem anpasse – und lediglich den Schein des Christentums heuchele. Zwar wollten natürlich alle selig werden, die wenigsten jedoch seien dazu bereit, die Mittel hierfür aufzuwenden13, und so setzten die meisten auf ihre kurzfristige Befriedigung, anstatt fromm zu leben und sich ihr ewiges Heil zu sichern. Setzen sich aber nun Menschen – wie die Pietisten – dafür ein, dieser Korrumpierung der christlichen Gesellschaft entgegenzuwirken, so wird ihnen noch das Leben schwer gemacht.14 Einen Rückzug aus der lutherischen Kirche erwägen die zitierten Autoren nicht. Sie zielen auf eine Reformierung der christlichen Gesellschaft innerhalb kirchlicher Grenzen ab, nicht auf eine Spaltung derselben, dies zeigt ein Großteil der Quellen15. Dies wird auch der bereits im 11 August Hermann Francke, Verantwortung gegen die so genandte Beschreibung des Unfugs der Pietisten / und die darinnen enthaltene neue und alte Aufflagen. Dabey zu mehrer Erbauung des Lesers angefüget ist eine Betrachtung von Gnade und Wahrheit, Halle 1694, Bl. 51. 12 Vgl. zu dieser Analyse ebd., Bl. 78 f; vgl. ebenso ders., Am XX. Sonntage nach Trinitatis. Die Wenigkeit der Kinder GOttes [Predigt, gehalten in Glaucha am 17. 10. 1697], ediert in Peschke, Predigten I, 328 – 353, hier: 330 ff. 13 Francke, Die Wenigkeit der Kinder GOttes, 337. 14 Vgl. die wesentlich umfangreicheren Ausführungen bei August Hermann Francke, Apologia, Oder DEFENSIONS = Schrifft An Ihre Chur = Fürstl. Durchl. zu Sachsen, Leipzig 1689, 13 f; in: Gerichtliches Leipziger Protocoll In Sachen die so genannten Pietisten betreffend / Samt Hn. Christian Thomasii, berühmten JC. Rechtlichem Bedencken darüber ; Und zu Ende beygefügter Apologia Oder Defensions-Schrifft Hn. M- Augusti Hermanni Franckens, 1692. 15 Allen voran etwa Speners Pia Desideria; vgl. zur Konzeption der PD als Reformwerk z. B. die Einleitung der Edition der PD im Georg Olms Verlag von Dietrich Blaufuß (Erich Beyreuther (Hg.), Philipp Jakob Spener. Schriften. Band 1, Hildesheim, New York 1979, 43ff; aus dieser Ausgabe wird im Folgenden zitiert) sowie Klaus vom Orde, Philipp Jakob Speners »Pia Desideria«. Glaube, Liebe und Hoffnung als Leitworte für die Hoffnung auf Gemeindeerneuerung, in: ThBeitr 36 (2005), 6, 327 – 341 und Martin Greschat, Christ-

Verwendete Quellen und ihre Motivation

221

Frankfurter Pietismus der Anfangszeit16 um Spener vertretenen milden Form des Chiliasmus17 geschuldet gewesen sein. Die in den Pia Desideria (s. u.) geäußerte »Hoffnung besserer Zeiten«, die sich zu einer pietistischen Grundanschauung entwickelte18, fügte sich in ihrer eschatologischen Ausrichtung in die theologiegeschichtliche lutherische-orthodoxe Landschaft durchaus ein. Sie hob sich von dieser jedoch insofern ab, als Spener bzw. sein Frankfurter Kreis an ein »von Christus selbst aufgerichtetes herrliches Reich auf Erden« glaubten, das noch ausstehe.19 Die »ausgehende Reformliteratur der lutherischen Orthodoxie ist […] durchgehend von dem Glauben an das nahe Ende der Zeiten geprägt« gewesen.20 Die spenersche ›Hoffnung besserer Zeiten‹ »nach Gottgefälliger Besserung der wahren Evangelischen Kirchen«, wie es im Untertitel der Pia Desideria heißt, wirkt zwar demgegenüber »wie eine Ermattung der eschatologischen Gespanntheit des orthodoxen Luthertums«21, da die Naherwartung des Jüngsten Tages, die im 17. Jahrhundert vorherrschte, sozusagen vertagt wurde, stellt aber eben im Kern diejenige Kraft dar, aus welcher die Bewegung sich speiste, um dem »Schaden Josephs« zu begegnen. Bei den von der lutherischen Orthodoxie als »Unfug der Pietisten« bezeichneten Merkmalen handelt es sich um Vorschläge zur Lösung der skizzierten konkreten Probleme, die als Symptome, aber auch Ursachen einer das Luthertum, ja das gesamte Christentum erfassenden Frömmigkeitskrise22 diagnostiziert wurden. Paradigmatisch lässt sich dieser Zusammenhang in Speners Reformschrift Pia Desideria aufzeigen. Hier schaltet Spener »zwischen seine Analyse des Zustands der Kirche«, die den ersten Teil der Pia Desideria bildet, und seine »Vorschläge zur Besserung« im dritten Teil einen beide Elemente regelrecht verschweißenden Teil23, »in dem er seine Hoffnung auf einen künf-

16 17

18 19 20 21 22 23

liche Gemeinschaft und Sozialgestaltung bei Philipp Jakob Spener, in: Pietismus und Neuzeit 4 (1977 / 78), 302 – 325.. Johannes Wallmann, Die Anfänge der pietistischen Eschatologie, in: ders., Philipp Jakob Spener und die Anfänge des Pietismus, Tübingen 1986, 324 – 354, datiert die Wendung Spenrs hin zum Chiliasmus auf die Jahre 1674 / 75. »Dieser Begriff gehörte in das allgemeine, uns heute doch manchmal recht großzügig vorkommende verbale Verketzerungsinstrumentarium, unter dem wir auch die Schalgworte wie ›Weigelianer‹, ›Rosaecruciarii‹ und ›Athei‹ finden […]«, Blaufuss, Zu Ph. J. Speners Chiliasmus, 91 (vgl. Anm. 26). Vgl. etwa Wallmann, Die Anfänge der pietistischen Eschatologie, 325. Vgl. ebd. Ebd., 326. Ebd. Vgl. hierzu den entsprechenden Abschnitt in Kapitel VI. Klaus vom Orde nennt es »das entscheidende Scharnier zwischen den beiden großen Abschnitten der Pia Desideria«, ders., Philipp Jakob Speners »Pia Desideria«. Glaube, Liebe und Hoffnung als Leitworte für die Hoffnung auf Gemeindeerneuerung, in: ThBeitr 36 (2005), 6, 327 – 341, hier : 339.

222

Fromm sein aus pietistischer Sicht

tigen besseren Zustand der Kirche darlegt.«24 Die pietistischen Vorschläge zumindest der spenerschen Spielart25 stehen also im Zusammenhang einer Hoffnung auf bessere Zeiten hier, auf Erden. Diese Grundlegung sollte immer vor Augen sein, wenn im Folgenden der »Unfug der Pietisten« genauer in den Blick genommen wird.

2.

›Fromm sein‹ aus pietistischer Perspektive

2.1

»… daß Pietismus, als eine sondere Secte angeführet / nichts als ein blosses Gedicht seye«

Die Analyse der Antipietistica ließ bereits rein quantitativ die Gemeinschaftsform der »Zusammenkünffte« als ein Hauptcharakteristikum der pietistischen Bestrebungen zur Bewältigung der Frömmigkeitskrise erscheinen, indem deutlich wurde, dass es sich hierbei zumindest noch gegen 1690 um den größten Stein des Anstoßes für die lutherische Orthodoxie handelte. Die Hauptvorwürfe seitens der orthodoxen Autoren ließen sich hierbei in drei Aspekte gliedern: Erstens wurden die pietistischen Zusammenkünfte als eine Gemeinschaftsform erkannt, deren Ausstrahlung auf das alltägliche Leben über die der üblichen Ortsgemeinde weit hinaus ging. Hierdurch lag die Befürchtung des Separatismus nahe, was auch den Hauptvorwurf diesbezüglich darstellte. Darüber hinaus waren immer wieder – mehr oder weniger deutliche – Hinweise angebracht worden, dass es durch die Teilnahme von Männern und Frauen gleichermaßen zu einer ruchbaren, unkeuschen Vermischung käme und zudem den Frauen ein ungehöriges Mitspracherecht eingeräumt würde. Der zweite Vorwurf bestand in der (empfundenen) Vernachlässigung der offiziellen kirchlichen Einrichtungen durch die Teilnehmer der »Zusammenkünffte«, der dritte in der nach orthodoxem Bekunden irrigen pietistischen Ansicht, die Zusammenkünfte seien wichtige, sogar notwendige Einrichtungen des christlichen Lebens. Die Frage, inwiefern diese Befürchtungen begründet waren, wird im Folgenden von besonderem Interesse sein, wenn die pietistische Gemeinschaftsform der »Zusammenkünffte«, »Collegia« oder »Conventikel« charakterisiert wird, da ja vornehmlich die von der Bewegung eingeführten Neuerungen un24 Johannes Wallmann, Der alte und der neue Bund. Zur Haltung des Pietismus gegenüber den Juden, in: ders., Pietismus-Studien. Gesammelte Aufsätze II, Tübingen 2008, 258 – 283, hier : 259. 25 Auf grundlegende binnenpietistische Differenzen hinsichtlich der eschatologischen Erwartungen weist Dietrich Blaufuss, Zu Ph. J. Speners Chiliasmus und seinen Kritikern, in: Pietismus und Neuzeit 14 (1988), 85 – 109, v. a. 91ff hin.

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tersucht werden. Hilfreich ist allerdings dennoch, zunächst mit der Frage nach den pietistischen Begründungen für die Einführung dieser neuen Institution ins christliche Leben zu beginnen. Hier bietet es sich an, chronologisch vorzugehen und mit Speners Reflexionen über sein ›Collegium Pietatis‹ in Frankfurt zu beginnen und anschließend einen, das Bild ergänzenden, Blick auf die meist den frühesten 1690er Jahren entstammenden entsprechenden Quellen der Acta Pietistica zu werfen, um nicht nur die »Großen« des Pietismus zu Wort kommen zu lassen. Bereits in den Schriften Speners aus den 70er Jahren lässt sich die oben skizzierte Frömmigkeitskritik an vielen Stellen nachweisen. So gibt Spener in seinem zentralen Reformwerk Pia Desideria gleich zu Beginn seine Motivation an: »Das Elend so wir beklagen lieget vor augen / und ist je niemand verbotten / seine Thränen über dasselbe nicht nur in geheim zu vergiessen / sondern sie auch an den orten fallen zu lassen / wo sie andere sehen […]. Wo man aber noht und kranckheit sihet / ists natürlich / daß man umb mittel sich umbthut. Und daher liget allen ob […] darvor zu sorgen / wie tüchtige Artzeney zu seiner heylung möge gefunden und appliciret werden.«26

Hiermit ist die Zielsetzung der zentralen Maßnahme, die er im Folgenden dem Leser unterbreitet, vorgegeben: Sie soll »Artzeney« sein zur »heylung« der Krankheit mangelnder Frömmigkeit. Wie aber sieht die »Artzeney«, die Spener dem evangelischen Christenvolk verabreichen möchte, aus? Was für eine Idee steht hinter der von der Orthodoxie diagnostizierten Sektiererei? Schon im Vorwort seiner Pia Desideria skizziert Spener den Kern seiner Idee: »Lasset uns erstlich die jenige / welche noch selbst willig sind / was man zu ihrer aufferbauung thut / gern anzunehmen / am meisten befohlen seyn / jeglicher in seiner Gemeinde dieselbe vor allen zu versorgen / daß sie mehr und mehr mögen wachsen zu dem maaß der gottseligkeit / damit nachmahl ihr exempel auch andern vorleuchte : Biß wir folgends auch die jenige / bey denen es noch zur zeit verlohren scheinet / durch Göttliche gnade allgemach näher herbey = bringen / ob auch noch dieselbe endlich möchten gewonnen werden.«27

Sein Kerngedanke ist auch vor der Veröffentlichung der Pia Desideria, von der Gründung seines Frankfurter Collegiums gegen 1670 an, die ›Sammlung der Frommen‹. Diese Idee wird auch durch seine Erläuterungen, wie es zur Gründung des Collegiums gekommen sei, belegt: »Es ist aber solches angefangen worden 1670. in dem Augusto auß nachfolgender gelegenheit. Etliche Gottseelige freunde […] beklagten sich einige mahl gegen 26 Spener, Pia Desideria, Vorbemerkung. 27 Ebd.

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mich / wie alle conversation und gespräch in dem gemeinen leben so gar verderbet seye / daß man fast selten mit ohnverletztem gewissen / wo man dasselbe undersuchet / auß einer Gesellschaft komen könte. In deme wo auch die jenige / die doch den nahmen Christi und der Christen tragen wollen / zusammen kommen / man von nichts anders nie reden höre / als von den dingen / die diese welt allein angehen / meistentheils aber von lauter eyteln wol gar sündlichen dingen / in richten deß neben = menschen / narrentheidungen / unziemlichen schertz / und andern dergleichen / so unter dem nahmen der kurtzweil und zeitvertreib / ohne sorge daß man sich dran versündige getrieben werden […] Von dingen aber / welche zur erbauung dienlich wären / werde so gar still geschwiegen / daß wo noch etwa ein gutes gemüth von dergleichen einiges wort anhebe / andere so bald ihr missfallen zeigen / mit stillschweigen oder wiedrigen gebärden / auffs wenigste gleich suchen das gespräch zu unterbrechen / und es auff eine andere ihnen beliebigere materi zu ziehen / und also gleichsam als mit einem speichel das gute füncklein / damit es nichts fassen möchte / außzuleschen. Weßwegen sie fast einen verdruß hätten mit leuten umbzugehen / bey denen sie niemahl einige erbauung finden / wol aber das gute in ihnen durch jene verstöret würde. Sie wünscheten aber gelegenheit zu haben / daß zuweilen Gottseelige gemüther möchten zusammen kommen / und von dem einigen ihnen allen nothwendigen […] in einfalt und liebe sich besprächen […].«28

Demnach wandten sich also 1670 einige gleichermaßen engagierte wie enttäuschte Gemeindemitglieder an ihren Pastor Spener, weil sie nach einer Möglichkeit suchten, ihr Christentum auszubauen – was ihnen offensichtlich in ihrem Umfeld nicht möglich war, ohne die gesellschaftliche Isolation zu riskieren. Deutlich in die Position des Verteidigers gerückt zeigt Spener hier auf, dass die Initiative keineswegs nur von ihm, dem Pfarrer, sondern von Gliedern seiner Gemeinde ausging, die das Problem, auf das er bereits hingewiesen hatte – in einer Reihe im Vorfeld der Gründung des Collegiums gehaltener Predigten29 – ebenso ernst nahmen wie er. Johannes Wallmann mutmaßt, dass möglicherweise die eingangs angeführten Verfallsklagen somit nicht originär von Spener, sondern von jener Gruppe ausging, ja sogar die Anstöße für das Collegium dementsprechend nicht auf Spener selbst zurückgingen.30 Das Angebot nun, dass er dieser Gruppe von Personen, die mehr sein wollten als nur äußerlich »den nahmen Christi und der Christen« zu tragen, unter28 Dieser ›Gründungsmythos‹ des spenerschen Collegiums findet sich beispielsweise in Spener, Sendschreiben an einen Christeyffrigen außländischen Theologum, 44ff; ebenso in ders., Warhafftige Erzehlung, 44; Vgl. hierzu ausführlicher die Aufsätze Das Collegium Pietatis und Johann Jakob Schütz von Johannes Wallmann in dessen mittlerweile zum Standard der Pietismusforschung gewordenen Sammelband Philipp Jakob Spener und die Anfänge des Pietismus, Tübingen 1986, 264 – 298 resp. 299 – 324; zum Lebensweg von Johann Jakob Schütz und seiner Rolle bei der Entstehung v. a. des Frankfurter Pietismus vgl. Andreas Deppermann, Johann Jakob Schütz und die Anfänge des Pietismus, Tübingen 2002. 29 Vgl. Spener, Sendschreiben an einen Christeyffrigen außländischen Theologum, 42 ff. 30 Wallmann, Philipp Jakob Spener und die Anfänge des Pietismus, 269 f.

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breitete, war letztlich denkbar einfach: Die Versammlung der Gemeinde über die Predigten, also die regulären Gottesdienste, hinaus, in einem Rahmen, in dem sich die Anwesenden (und nicht nur der Pfarrer) zur Information und Erbauung aller äußern durften. In Anlehnung an »die alte Apostolische art der Kirchen = versamlungen« schlägt er vor, dass »neben den gewöhnlichen Predigten / auch andere versamlungen gehalten würden […] wo nicht einer allein aufftrette zu lehren / welches zu andernmahlen bleibet) sondern auch andere / welche mit gaben und erkanntnüß begnadet sind / jedoch ohne unordnung und zancken / mit darzu reden / und ihre gottselige gedancken über die vorgelegte Materien vortragen / die übrige aber darüber richten möchten.«31

Diese erbauliche Zusammenkunft fand, wie Spener bereits 1675 betont, um jeden Zweifel über etwaige Unordnungen oder gar Separatismus auszuräumen, zunächst in seinem eigenen Wohnhaus, später, als der Platz nicht mehr ausreichte, in der Kirche statt, und immer war Spener selbst anwesend.32 1677 verteidigt er seine Idee der erbaulichen Zusammenkünfte gegen etwaige Angriffe, indem er kurzerhand schildert, wie diese abzulaufen pflegten: »Was die Art anlanget / haben wir uns diese vorgenommen / daß / wo wir beysammen sind / welches die woche ordinari zweymal zugeschehen pfleget / ich zu erst ein kurtzes gebet thue / Gott um seine gnade anzuruffen: So dann auß einem buch etwas vorlese / auß deme und veranlassung solcher matery / wir nachmals uns untereinander besprachte / was jeglicher in solchem gelesene beobachtet / so zu der aufferbauung deß lebens oder bekräftigung deß einfältigen glaubens dienlich wäre. […] wie es sonst in guter freunde geprächen zu geschehen pfleget / daß reden mag weme beliebet / und wo der ein aufhörte ein anderer / der etwz darbey zu erinnern hätte / darinnen fortführe […]. Nur dieses einige wurde unter uns außgemacht / daß alle reden verhütet würden / die nicht zu unserer erbauung sonderlich diensam wären […]. So war auch die absicht / daß also unter Christlichen gemüthern eine heilige und genauere freundschaft gestifftet würde / daß je einer deß andern Christenthumb / und wie weit er darinnen gekomen / erkenen lernete / wodurch das feur der liebe unter uns mehr und mehr enflamete / auß diesem aber ein so viel brünstigere begierde entstünde / sich unter sich selbst bey jeglicher gelegenheit zuerbauen / und mit ihrem exempel andere neben sich zu einem hertzlichen ernst zu reitzen.«33

Wenig spektakulär klingt, was Spener als den Ablauf des zweimal wöchentlich stattfindenden Treffens schildert: Nach einem Eingangsgebet las er aus einem Erbauungsbuch vor, im Anschluss daran durfte sich ein jeder der Anwesenden »wie es sonst in guter freunde geprächen zu geschehen pfleget« über das gehörte 31 Spener, Pia Desideria, 98. 32 Spener, Pia Desideria, 46: »[…]damit aber destoweniger verdacht anderer unziemlicher dinge daher entstehen möchte / erbote ich mich selbst / daß ich darbey sein wollte / und darzu meine Studier = stube und hauß hergeben.« 33 Spener, Sendschreiben an einen Christeyffrigen außländischen Theologum, 49 ff.

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äußern. Es schloss sich ein Gespräch über andere interessierende Sachverhalte an, dessen einzige Bedingung es war, dass die Äußerungen erbaulichen Charakters sein sollten. Die Treffen wurden grundsätzlich mit einem Gebet abgeschlossen. Nach der anfänglichen Lektüre erbaulicher Bücher konzentrierte sich die Arbeit in Speners Collegium bereits nach kurzer Zeit vor allem auf die Bibel34 und es ging schlichtweg darum, dass »wo gottselige hertzen beysammen sind / und in der schrifft miteinander lesen / daß jeglicher das jenige zu deß andern aufferbauung bescheidentlich / und in der liebe vorbringe / was ihn sein GOtt in der Schrifft erkennen lassen / und er zu deß andern erbauung dienlich achtet.«35 Bereits Spener zielte mit seinem Collegium also auf die Gestaltung »echter christlicher Gemeinschaft«36 mit dem Zweck gegenseitiger Erbauung und Anleitung zwischen gleichgesinnten Gläubigen; nur mittelbar wurde auf eine Ausstrahlung dieser Gemeinschaft aus dem Collegium heraus hin gearbeitet (»mit ihrem exempel andere neben sich zu einem hertzlichen ernst zu reitzen«), in der die Verbesserung der Gesamtkirche angestrebt wurde; zunächst aber sollte es um die Sammlung und Förderung der Frommen gehen, sie standen im Mittelpunkt von Speners Interesse. Ähnliches aber lässt sich auch den aus den frühen 1690er Jahren stammenden Schriften entnehmen. Beispielsweise der unter dem Synonym ›D. S. Symphonium‹ veröffentlichende Verfasser stellt in Epikrisis Oder kurtz verfasste Gegen = Judicia, das als direkte Anwort auf die im selben Jahr herausgegebenen Unterschiedliche[n] Iudicia37 zu verstehen ist, die Lächerlichkeit der gegnerischen Argumentation dar, indem er die Merkmale der pietistischen Collegia vorstellt: »Aber der Author [der Unterschiedlichen IUDICIA, d. Vf.] handelt betrüglich / redet wider sich selbst / wider sein Gewissen / und wider Gottes Wort / weil er / was er einmahl zugibt und Gottes Wort gemäß hält / nachgehends wieder nimt / indem er diese Art un weiß / durch Collegia privata, da Christen zusammen kommen / in Gottes Wort lesen / und sich darauß erbauen / nicht dulden will.«38 34 Vgl. in Speners Sendschreiben an einen Christeyffrigen außländischen Theologu, 51; hier führt er auch auf, welche Werke konkret gelesen wurden; hierzu zählen Bayle und Hunnius. 35 Philipp Jakob Spener, Das Geistliche Priesterthum Auß Göttlichem Wort kürtzlich beschrieben / und mit einstimmenden Zeugnüssen Gottseliger Lehrer bekräfftiget, Frankfurt a.M. 1677, 58 f. 36 ebd., 313. 37 Unterschiedliche IUDICIA, Darauß zu sehen / Was von denen so genannten Pietisten / Und ihren COLLEGIIS PIETATIS zu halten / Ob und wie sie eigentlich Nach ihren Wercken zu loben oder zu straffen? Für das viele Fragen und Forschen derer / die davon Nachricht begehren / wohlmeinend auffgesetzet und zum Druck übergeben / von Johann Hansen Sohn [Synonym], 1690. 38 Epikrisis Oder Kurtz verfasste Gegen = Judicia Uber die vor einiger Zeit herauß gegangene

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Wie Spener sieht er in den Collegia die beste Möglichkeit, »die Gottesfurcht pro nosse & posse zu allen Zeiten / an allen Orten / bey allen Menschen so viel immer möglich zu Vermehrung des Reichs Gottes« zu treiben, weil sich »die Christen hierinnen untereinander selbst auffmuntern / ermahnen und erbauen sollen.«39 Entsprechendes gilt für den Fürsprecher eines Gießener Collegiums unter der Leitung eines Theologieprofessors namens May. Auf die Bitte eines unbekannt bleibenden, »etwas gewisses von dem Collegio Pietatis zu Giessen zu vernehmen«, ist er dazu bereit zu »berichten« und alles zu »entdecken«40, und so wird deutlich, dass, auch wenn das Gießener Collegium primär für »Studiosi und andere Gelahrte« konzipiert war, dennoch aus durchaus vergleichbarer Motivation heraus entsprechende Ziele verfolgt wurden – dass »dadurch jederman nähere Gelegenheit zur Erbauung und Vorkomung der Straffen Gottes« erhalte, es ging also auch hier um Erbauung und Unterweisung im christlichen Glauben.41 Auch glich der Ablauf des Collegiums in Gießen demjenigen des spenerschen: »1. Erklärt D. May einen Versch[!] nach dem andern von Wort zu Wort […] da er dann bey jeglichem Wort / wo es vonnöthen / Lehren und Vermahnungen / die zu nötiger Begründung des Glaubens / und dann vornehmlich zur Erbauung des Christenthums dienen / hinzu zu fügen […] 2. Wann dann ein oder etliche Vers also erkläret und appliciret sind / so gibt Er denen die solches vermögen / oder auch vonnöthen befinden / Erlaubnis, was etwan weiter zu jedermans bessern Verstand und Application zu erinnern wäre / ordentlich und bescheidentlich mit Andacht vorzubringen […] 3. Wird selbiges / gleich wie es mit einem andächtigem Gebeth oder Lesung eines Psalmen angefangen / also auch mit demselbigen beschlossen / ohne weitere Ceremonien.«42

Ebenso übernahm der Hamburger Pastor zu St. Michaelis, Johann Winckler, die Idee Speners, um »die Seelen in der heilsamen Lehre zu erbauen / zu befestigen und fertig zu machen / zu kämpfen über ihren allerheiligsten Glauben / daß sie sich nicht wie Kinder wegen und wiegen liessen von allerley Wind der Lehre«43, nachdem er drei Jahre darüber gegrübelt hatte, wie er »am besten solchem grossen Volck dienen möchte«, dass sein »Gewissen darüber konnte zufrieden seyn«44. Auch er verfuhr ähnlich wie Spener und May, jedoch mit der Betonung,

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Judicia Von denen so benahmten Collegiis Pietatis. An einen guten Freund eylfertigst überschicket / und abgefertiget durch D. S. Symphonium, 1690, Bl.2. Ebd. Vgl. Warhafftiger Bericht / Sampt Ablehnung alles ungleichen Verdachts Von einem Collegio Biblico zu Giessen. Der Wahrheit zu Lieb und jederman zur Nachricht zum Druck befördert An. 1690, Bl.2. Ebd. Ebd., Bl. 2 f. Johann Winckler, Send = Schreiben An den Hoch = Ehrwürdig / Großachtbahr und Hoch = Gelahrten Herrn / Hn. Philippum Ludovicum Hannekenium […] Auf dessen Send = Schreiben Betreffende die so genandte Collegia Pietatis, o.O. 1690, 3. Ebd., 4; neben der Einrichtung eines Collegiums begann er zudem, den jeweils in der Predigt

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dass er auch die Teilnehmer seines Collegiums selbst die Bibel aufschlagen und darin lesen ließ. Zudem wird in Wincklers Sendschreiben deutlich, dass seine zusätzliche Einrichtung aus der Not heraus entstand, die sich aus der Situation in seiner Gemeinde ergab.45 Um das Bild zu vervollständigen soll noch ein Blick auf die »Zusammenkunfft« August Hermann Franckes geworfen werden, die dieser in Leipzig einrichtete. Im Gerichtlichen Leipziger Protocoll erfahren wir, dass Francke vom Bäcker Martin Meinig in der Ritter = Straße 1690 eine Stube angemietet hatte, in der er Bänke und eine kleine Bühne mit einem Stuhl aufstellte.46 ; auch hier fingen die Sitzungen, welche nach der sonntäglichen Predigt anberaumt waren, mit einem Gebet an und hörten mit einem solchen auf. Zum Ablauf des Collegiums gibt Johann Christian Lange im Verhör zu Protokoll: »Sie nähmen den Text durch / und sagten / das wenden wir zu unser pietät also an / zögen loca paralella mit an / und tractireten es Teutsch und Lateinisch«.47 Entsprechendes findet sich über das Donnerstags-Collegium, über das Andreas Friedel Auskunft gibt: »Collegia wären zur Erbauung angefangen […] Donnerstags analysirten sie den Text / tractirten hernach sensum literalem, porismata dogmatica, practica, elenchtica, applicirten sie ad pietatem, und proponirten sie Teutsch und Lateinisch.«48 Wenn auch hier der universitäre Ursprung durchscheint, so ist doch das Schwergewicht auf der Frömmigkeit, die Anwendung »ad pietatem« nicht zu übersehen. Alle angeführten Belege zeigen, dass die pietistischen Zusammenkünfte darauf abzielten, an ihrer Erbauung und Unterrichtung interessierte Christen zusammenzubringen und so eine wahrhaft christliche Gemeinschaft zu gründen. Zunächst also war das pietistische Hauptziel tatsächlich die Bildung einer nach innen gewandten christlichen Gemeinschaft, einer Glaubenselite. Insofern ist die orthodoxe Befürchtung von Separatismus und Sektiererei durchaus nachzuvollziehen. Inwiefern aber war sie begründet? Wohnt der pietistischen Sozialform der »Collegia« oder »Zusammenkünffte« tatsächlich eine Neigung, gar eine Absicht der Lösung aus oder Abspaltung von der lutherisch-evangelischen Kirche, wie der Hauptvorwurf der Gegner lautete? Oben wurde bereits angedeutet, dass sich schon Spener bei der Gründung

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entfalteten Bibelvers in der Woche vorher bekannt zu geben, so dass sich die Gottesdienstbesucher bereits vorbereiten konnten, häufig auch die Bibel mit in den Sonntagsgottesdienst brachten, um mitzulesen; vgl. ebd., 4 ff. So sind etwa »biß 600 Arme eingeschrieben / welche der Kirchen Beneficien geniessen / gewiß aber sind ihrer mehr als 1500. die dergleichen verlangen oder bedürffen […] Uber unser Michaelische aber [ist] bißher nur ein Pastor und drey Prediger [eingesetzt].« Nicht zuletzt ist sein Collegium deshalb als Versuch zu werden, das schlechte Betreuungsverhältnis zu kompensieren und seinen Pflichten als Prediger nachzukommen. Gerichtliches Leipziger Protocoll, 11. Ebd., 31. Ebd., 33.

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seines Collegiums dieser Gefahr bewusst war, weshalb er von Anfang an auch die äußerliche Form des Zusammenseins sorgfältig bedachte. Mit seinen Überlegungen soll also wiederum begonnen werden. Zu seinen Prämissen hinsichtlich der Gestaltung gemeindlicher Praxis über den institutionalisierten Gottesdienst hinaus gehörte, dass grundsätzlich ein Prediger den Vorsitz haben sollte49 ; aber auch der Hinweis, dass das Collegium anfangs in seinem Arbeitszimmer stattgefunden habe, ist als Versuch zu verstehen, allen Verdächtigungen zu wehren. Auch mehrten sich mit der Zeit offensichtlich die Angriffe, weshalb es zu einer begrifflichen und inhaltlichen Weiterentwicklung kam: Markus Matthias zeigte vor mittlerweile mehr als 30 Jahren diesen Wandel auf, der sich vermutlich mit dem Separatismusvorwurf begründen lässt: Stellte zu Beginn der 1670er Jahre das Collegia-Prinzip den zentralen methodischen Ansatz Speners dar, so entwickelte er von etwa 1675 an das ›Ecclesiola-Prinzip‹.50 Obwohl sich beide auf den ersten Blick ähneln, so unterscheiden sich beide Konzepte doch wesentlich voneinander. Während Spener noch in den Pia Desideria die Versammlungen der Gemeinde über den Gottesdienst hinaus als für alle empfehlenswerte Einrichtung darstellte, so erfuhr sie in der Folgezeit eine Umwertung: er empfahl »jetzt solche Versammlungen nur für einzelne, geistlich fortgeschrittene Gemeinden […].«51 Für alle Gemeindemitglieder arbeitete er ein Konzept aus, das schon terminologisch die Absage an alle separatistischen Tendenzen in nuce enthält: die ›ecclesiola in ecclesia‹, das ›Kirchlein in der Kirche‹, »was die Sammlung der Frommen gerade innerhalb der Volkskirche« proklamierte.52 Auch an den Eigenschaften der ›ecclesiola‹, wie sie von Spener entwickelt wurden, kann man ablesen, dass hier vor allem dem Vorwurf des Separatismus entgegen gegangen werden sollte: Waren die Collegia, wie sie von Spener eingeführt worden waren, noch an die »Vorstellung einer nach Ort, Zeit und Personen gesonderten regelmäßigen Versammlung« gebunden, so wurde dies nun aufgeweicht zu einem »gelegentliche[n] und persönliche[n] Austausch zwischen Pfarrer und einzelnen Gemeindegliedern.« War die organisatorische Einrichtung oben schon nur als wenig ausgeprägt vorgestellt worden, so wird sie für das ›ecclesiola-Konzept‹ gänzlich aufgegeben.53 Auch das Zusammensein mehrerer Laien zum Studium der H. Schrift war nicht mehr Teil der Konzeption, sondern 49 Vgl. etwa Spener, Pia Desideria, 98 f. 50 Markus Matthias, Collegium pietatis und ecclesiola. Philipp Jakob Speners Reformprogramm zwischen Wirklichkeit und Anspruch, in: Pietismus und Neuzeit (1977 / 78), 46 – 59, hier : 48; Wallmann, Philipp Jakob Spener und die Anfänge des Pietismus, 283 hält dagegen, dass gerade in der Anfangszeit kaum von einer planmäßigen Entwicklung eines regelrechten Prinzips die Rede sein könne, vielmehr »die Wirklichkeit […] eher dagewesen [sei] als die Idee.« 51 Matthias, Collegium pietatis, 47. 52 Vgl. ebd., 52. 53 ebd., 55.

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nur noch das des Pfarrers und des einzelnen Gemeindemitgliedes bzw. einzelner Glieder untereinander.54 Alles in allem lässt sich also klar zeigen, dass Spener die Gefahr erkannte, die seiner Konzeption innewohnte und ihr bewusst entgegenwirkte. Keineswegs aber finden sich bei ihm separatistische Tendenzen: Vielmehr betonte er immerzu, dass er den Boden der evangelisch-lutherischen Kirche keinesfalls verlassen wollte. Dies lässt sich mit direkten Zitaten am besten belegen: »also daß ich so gar keine neue sonderung und secte intendire, daß vielmehr verlangte / daß durch das mittel der wahren einfalt und Gottseeligkeit die irrende zur einigkeit des glaubens kommen möchten.«55 Auch das zur Überschrift gewählte Zitat, »daß Pietismus, als eine sondere Secte angeführet / nichts als ein blosses gedicht seye […]«56 betont dies, ebenso sein Bekunden, »daß ich den Lutheranern / unter denen / in rechtem verstand das wort genommen / ich zu leben und zu sterben begehre […].«57 Ähnlich deutlich werden auch die Verteidiger der Collegia im Zusammenhang der Streitigkeiten der 90er Jahre. Hier findet sich zudem häufig der Hinweis, dass es andere Gesellschaften geben würde, denen trotz ihres wesentlich uneindeutigeren Charakters derartige separatistische oder umstürzlerische Tendenzen nicht zugeschrieben würden: »Zwar wird verschiedener weiß davon discuriret / dann einige halten die Sache von so keiner grossen Schwürigkeit / weil ja kein Gefahr in einem solchen Collegio stecke / der man nicht zehenfach begegnen könnte / wo ein jeder gebührende Auffsicht hätte; viel besser / als bey denen aller Orten gewohnten und nunmehr eingerissenen Gesellschafften / da dem Gott der Welt / in Augenlust / Fleischeslust / und hoffärtigem Leben mehr gedienet wird / als dem wahren Gott / dem wir alles schuldig sind / dennoch aber so billich zu beklagen / findet sich bey sothane Collegiis mehr Widersprechung / als bey jenen gottlosen und ärgerlichen Gesellschaften / und dergleichen Institutis, daher es dann scheine / daß es viel zugelassener sey etwas böses zu thun als gutes welches zuverwundern […].«58 54 Vgl. ebd., 55 f. 55 Spener, Sendschreiben an einen Christeyffrigen außländischen Theologum, 43. 56 Philipp Jacob Spener, Warhafftige Erzehlung / Dessen was wegen des so genannten Pietismi in Teutschland von einiger Zeit vorgegangen, Frankfurt a. M. 1697, 92; eine vergleichbare Formulierung findet sich in ders., Gründliche Beantwortung des Unfugs der Pietisten, 7. 57 Philipp Jacob Spener, Auffrichtige Ubereinstimmung mit der Augsp. CONFESSION, Zu nöthiger vertheidigung seiner reinen lehr […], Frankfurt a.M. 1695, 67. 58 Warhafftiger Bericht von einem Collegio Biblico zu Giessen, Bl. 1; vgl. auch Kurtzer doch Gründlicher Beweis Der Christen / Nicht allein erlaubten und nützlichen sondern auch nothwendigen erbaulichen Freyen Zusammenkünfften / Nach allen Natürlichen und Göttlichen Rechten / mit Zeugnüssen der Symbolischen Bücher des S. Lutheri, auch alter und neuer Lehrer / Nebst Beantwortung einiger Einwürffe / Auß einigen bißhero in dieser Materie außgegangenen Schrifften gezogen / Samt einem Post-Scripto eines vornehmen Freundes, o.O. 1691, 23 f; vergleichbar ist auch Unmaßgebliches Bedencken Von denen also genandten PIETISTEN Und COLLEGIIS PIETATIS, Bl. 9 f.

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Zumeist unter Berufung auf Mt 18, 20 (»Denn wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.«) aber ist das immer wieder angebrachte Credo, dass keinerlei Trennung von der lutherischen Kirche angestrebt sei.59 Auch Francke bemühte sich nach eigenem Bekunden keinesfalls, um einen »sectirischen Anhang«, wie ihm vorgeworfen worden war, sondern erfüllte lediglich seine Pflicht als Pfarrer.60 Die Frage nach einem gezielten, in der Idee der pietistischen Zusammenkünfte veranlagten Separatismus lässt sich somit abschlägig beantworten; die zweifelsohne vorhandene Gefahr war jedoch meist bekannt – auch zeitlich vor den gegnerischen Hinweisen hierauf. Denn mit der Zielsetzung, in einem kleinen Kreis gleichgesinnter »wahre christliche Gemeinschaft« zu leben wohnte der Idee selbst bei der spenerschen Terminologie des Kirchleins in der Kirche ein gewisser Hang zur Absonderung von vornherein inne – schließlich wollten sich auch die Initiatoren des Frankfurter Collegiums in freundschaftlichem Rahmen ungestört über christliche Themen unterhalten.61 Aber auch die Vorwürfe von unkeuschen, unzüchtigen Geschehnissen zwischen Männern und anwesenden Frauen in seinem Collegium sowie die Behauptungen, Frauen würden dort lange, aufrührerische Predigten halten, bescheidet er abschlägig.62 Ähnliches belegen etwa die Kurtz verfasste Gegen = Judicia63 sowie der Warhaffte Bericht Von einem Collegio Biblico zu Giessen64, und auch Francke stellt fest, dass nie viele Frauen an seinem Collegium teilgenommen hätten, mithin eine Unordnung zwischen Männern und Frauen nicht stattgefunden habe65, was den Schluss nahelegt, dass es sich zumindest hinsichtlich des sexuellen Momentes dieser Bezichtigung um einen gezielt desavouierenden Vorwurf handelt. Auch der antipietistischen Behauptung, es käme durch die Zusammenkünfte zu einer Vernachlässigung der öffentlichen Einrichtungen der Kirche, namentlich des regulären Gottesdienstes, begegnen die pietistischen Autoren mit 59 Vgl. beispielsweise Winckler, Send = Schreiben, 25; Warhafftiger Bericht von einem Collegio Biblico zu Giessen, Bl. 6; auch die als eine weitere Antwort auf Philipp Ludwig Hannekens Send = Schreiben anzusehende Gründliche Erörterung der Frage / ob die Collegia Pietatis Nothwendig / und nützlich / Oder aber Unnöthig / unnützlich / ja gar schädlich seyen? Verannlasset durch ein neulich heraußgegangenes Send = Schreiben / Hn. Phil. Lud. Hannekenii […] Eilfertigst auffgesetzet von Pio Desiderio, o.O. 1691, 7; 17 gibt dies mit Nachdruck an. 60 Francke, Verantwortung gegen die so genandte Beschreibung des Unfugs der Pietisten, Bl. 30; vgl. auch die differenzierenden Erläuterungen Bl. 63. 61 Und separierten sich wiederum, als Spener das Collegium 1674 / 75 für jedermann und jederfrau öffnete, vgl. Wallmann, Philipp Jakob Spener und die Anfänge des Pietismus, 293 – 296. 62 Vgl. ebd., 77; auf den folgenden Seiten erfolgt eine ausführliche Entkräftigung der Vorwürfe. 63 Vgl. Epikrisis Oder Kurtz verfasste Gegen = Judicia, Bl. 2. 64 Vgl. Warhaffter Bericht Von einem Collegio Biblico zu Giessen, Bl. 3, v. a. aber Bl.5. 65 Francke, Abgenöthigte Fürstellung, 8.

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Schulterschluss: Zwar musste Spener zugeben, dass einige seiner Frankfurter Collegiumsteilnehmer das Abendmahl zeitweilig nicht mehr besuchten, einen Zusammenhang zu seinem Collegium jedoch sieht er nicht.66 Aufs Ganze betrachtet stellt er statt dessen immer wieder fest, dass die Teilnehmer der Collegia »bey jeglicher Kirchen = Anstalten« bleiben67, die pietistischen Zusammenkünfte also keineswegs in Konkurrenz zu den kirchlichen Institutionen treten sollen, was ja schon dadurch deutlich wird, dass es nicht zu zeitlichen Überschneidungen kam. Die pietistischen Zusatzangebote waren vielmehr darauf ausgelegt, die regulären kirchlichen Einrichtungen in ihrer Heilswirkung zu unterstützen. Dem stimmen die anderen Befürworter der Erbauungszusammenkünfte zu: die öffentlichen Gottesdienste wollen auch sie nicht herabsetzen68, selbst, wenn sie, anders als noch Spener, die Zusammenkünfte nicht prinzipiell in Kirchenräumen anberaumen.69 Kurzum: Die Collegia nehmen per se dem öffentlichen Gottesdienst nichts. Vielmehr sind sie als unterstützendes Mittel konzipiert und verstärken seinen positiven Effekt sogar, da sie das im Gottesdienst Gehörte nochmals vertiefen, denn »es muß und kann keine andere Weise der Auffrichtung und Erbauung seyn / als dessen Ubung.«70 Winckler unterstreicht die hiermit aufgezeigte Lächerlichkeit der gegnerischen, in diesem Fall seines Schwagers, Befürchtung mit dem Bild, dass sich ja auch ein Offizier nicht beschweren würde, wenn seine Soldaten mehr als nötig trainierten.71 Nützlich sind diese zusätzlichen Übungen praktischen Christentums allemal, da sind sich die Pietisten einig und bekunden dies auch überzeugt und überzeugend gleichermaßen. Über den dritten Diskussionspunkt, der zu dieser Zeit »erreget / und hefftig ventilirt wird: Ob die Collegia Pietatis nöthig […] oder aber / ob sie unnöthig […] seyen«72 hingegen finden sich nur relativ wenige Bekundungen. Vor allem wiederum tritt Spener hervor: Seine Argumentation entfaltet er in fünf Punkten: Zunächst führt er das historische Argument der urchristlichen und nachapostolischen Verbürgtheit der pietistischen Gemein66 Vgl. den direkten Bezug auf die Anschuldigungen in Philipp Jacob Spener, Gründliche Beantwortung Einer mit Lästerungen angefüllten Schrifft / (unter dem Titul: Außführliche Beschreibung Deß Unfugs der Pietisten m.s.w.) Zu Rettung der Warheit / und so seiner als unter schiedlicher anderer Christlicher Freunde Unschuld, Frankfurt a.M. 1693, 171. 67 Spener, Warhafftige Erzehlung, 93. 68 Vgl. etwa Gegen = Judicia, Bl.7; Kurtzer doch Gründlicher Beweis der Christen, 4. 69 Wie es wohl in Gießen der Fall war: Warhaffter Bericht von einem Collegio Biblico zu Giessen, Bl.7. 70 Winckler, Send = Schreiben an Hanneken, 28. 71 Ebd., 3. 72 [Philipp Jakob Spener,] Gründliche Erörterung der Frage / Ob die Collegia Pietatis Nothwendig / und nützlich / Oder aber Unnöthig / unnützlich / ja gar schädlich seyen? Veranlasset durch ein neulich Heraußgegangenes Send = Schreiben / Hn. Phil. Lud. Hannekenii, Theolog. Doct. &c. Der Wahrheit und nothwendiger Erbauung zu gut / Eilfertigst auffgesetzt von Pio Desiderio, 1691, 2.

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schaftsform an, wenn er sein Collegium und die hierin angewandte Methodik gegen Angriffe verteidigt: »Ja; dann die Exempel Christi und der Apostel / welche ohne Unterscheid in Tempeln / Schulen / Häusern und andern Orten publicÀ und privatim gelehret haben / haben ihre Zuhörer gefragt / sich fragen / wieder geantwortet / sc. […] So kann man [d.h. die Gegner, d. Vf.] sich auch nicht auff die erste Kirch beruffen nach der Apostel Zeiten. Dann dieselbige hat ihren Gottesdienst nicht an den Ort gebunden / hat es auch nicht gekont / sondern sie ist darinnen frey geblieben […] Erweiset es das Exempel Philemonis, der hatte eine Kirche in seinem Privat = Hauß […].«73

Mit andern Worten: Es handelt sich bei den pietistischen Versammlungen – in welcher Art auch immer – nicht nur um keine Neuerungen, sondern um eine urchristlich verbürgte Versammlungsform, was sie nach Speners Auffassung durchaus notwendig macht. Neben dieses geschichtliche Argument stellt »Pio Desiderio«, wie Speners unschwer aufzulösendes Pseudonym lautet, das Prediger- bzw. Seelsorgerethos, das – ähnlich, wie es bereits Winckler darstellte – die zusätzlichen Übungen als notwendiges Mittel aufgreift, die Aufgaben, die der Beruf mit sich bringt, überhaupt erfüllen zu können. Da der Prediger seinen (Be-)Ruf ganzheitlich erfüllen müsse, könne er keineswegs nur öffentlich lehren, sondern müsse seinem Amt auch privat nachkommen. Hinzu kommt die notwendige Verquickung von öffentlicher Lehre und Einübung derselben im privaten Bereich. »Also gebührets auch einem Diener des Worts Gottes / daß er auff alle Gelegenheit dasselbige zu lehren / anhalte zur rechten Zeit oder zur Unzeit.«74 Soll heißen: Die Aufgaben des Geistlichen hören nicht außerhalb des Kirchengebäudes auf, sondern sind örtlich und zeitlich in keiner Weise gebunden. Hiermit direkt verknüpft ist das dritte Argument Speners, das man durchaus als ökonomisches Kriterium bezeichnen könnte: Zwar seien die regulären Gnadenmittel, namentlich die Predigt und die Bibelstunden der Hausväter, für sich allein hinreichend für Lehre und Erbauung; jedoch könne durch die Collegia ein erbaulicher Effekt erreicht werden, der allein durch die traditionellen Formen der Vermittlung viel länger dauere, nicht zuletzt deshalb, weil nur durch die regelmäßige Übung der »Ernst des wahren Christenthums« gemehrt würde, »welcher fast verloschen war.«75 Auch hier tritt also wieder die zunächst am einzelnen Christen orientierte Intensivierungsbestrebung hervor, selbst wenn die Rede von der Vergemeinschaftungsform ist. Speners viertes Argument ist eines, das an dieser Stelle – also in der Verteidigung gegen antipietistische Angriffe – zunächst überrascht: die pietistischen 73 Ebd., 8. 74 Hiermit zitiert Spener den »sel. Herrn D. Menzer« d. Ä., ebd., 10. 75 Ebd., 25.

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Zusammenkünfte bzw. deren Zielsetzung seien in der Kirchenordnung vorgeschrieben. Spener selbst gibt sich überrascht, dass jemand die Kirchenordnung gegen die Zusammenkünfte ins Feld führt: »hab ich mich verwundert / daß jemand sich auff selbige [gemeint ist die »Hessische Kirchen = Ordnung«, d. Vf.] beruffen möge; weil in der Ordnung 1634 außgegeben / pag. 6. und 7.&seqq. Puncto 1.&2. außerdrücklich stehet: Daß es mit den Predigen nicht alleine außgerichtet seye / und können Prediger dabey nicht acquiesciren / bey Pflicht ihrer Seelen / sondern es müsten auch noch häußliche und privat-Ubungen hinzukommen / und sollen sie dieselbige individualiter, das ist / einen jeglichen absonderlich kennen.«76

Mit seinem letzten Argument für die Notwendigkeit der erbaulichen Versammlungen nimmt er dann die ›Laien‹ in die Pflicht, deren Christsein sich auch nicht allein im Kirchgang erschöpfe, weshalb die Geistlichen sie weiter unterweisen müssten. Zudem betont er, dass auch das Gebet der ›Laien‹ hier seinen Raum finde.77 Gerade in seiner Gründlichen Erörterung führt Speners Argumentation letztlich zu dem einfachen und klaren Schluss: Die Collegia Pietatis sind weder »unnöthig / unnützlich / ja gar schädlich«, sondern vielmehr »nothwendig und nützlich«. Keinesfalls muss befürchtet werden, dass es – unter den skizzierten Grundbedingungen – durch das zusätzliche Angebot pietistisch gesinnter Geistlicher zu einer Vernachlässigung oder gar dem Abfall von öffentlichen kirchlichen Einrichtungen kommen soll; vielmehr, dies zeigt der Überblick über die Zielsetzungen der unterschiedlichen Autoren recht deutlich auf, handelt es sich um eine zur Unterstützung der ›regulären‹ Gnadenmittel der lutherischevangelischen Kirchen (angesichts der länderübergreifenden Darstellung ist der Plural durchaus angebracht) entwickelte Konzeption. Wo von antipietistischer Seite ein ausschließendes ›statt‹ befürchtet wird, da setzen die pietistischen Quellen souverän ein widersprechendes ›zusätzlich‹ entgegen, wie es die von Winckler eingebrachte Metapher vom Offizier und seinen fleißigen Soldaten verdeutlichte. Wie zuletzt, entsprechend der gegnerischen Feststellung, betont, ist zumindest bei Spener diese Gemeinschaftsform zudem nicht mehr nur nützlich, sondern sogar notwendige Übungsform des aktiven Christentums, wie sie nach ihrer Einführung im Sommer 1670 zur kennzeichnenden Institution für den Pietismus avancierte.78 Besonders angesichts dieser prägenden Sozialform 76 Ebd., 28. 77 Vgl. ebd., 43. 78 Eine kurze, prägnante Formulierung bietet Wallmann, Pietismus-Studien II, 137: »Seit dem Sommer 1670 sammelt sich im Pfarrhaus Speners zweimal wöchentlich eine Gruppe Frankfurter Bürger zu gemeinsamer Lektüre religiöser Literatur und zu gemeinsamer Aussprache darüber. Dies sind die unscheinbaren Anfänge einer Institution, die fortan kennzeichnend wird für den Pietismus: die Collegia Pietatis, oft auch Konventikel oder

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ist die gegnerische Befürchtung, von pietistischer Seite würde der Aufruhr gegen alle traditionellen Autoritäten gewagt, sicherlich leicht nachzuvollziehen. Der Frage, inwiefern diese Befürchtung begründet war, wird im Folgenden nachzugehen sein.

2.2

Aufrührer wider die Autoritäten?

Im vierten Kapitel hatte sich gezeigt, dass die Befürchtung, von pietistischer Seite ginge eine Störung der Ordnung aus, sich in die Behauptung ›allgemeinen pietistischen Unruhestiftertums‹ einerseits und Differenzierungen innerhalb dieser Behauptung in einige Unterpunkte andererseits aufspalten lässt. Bevor die spezifizierten Aspekte, die von eigentlichem Interesse sind, aus pietistischer Perspektive in den Blick genommen werden, ist der Hinweis angebracht, dass auch die allgemeine Behauptung eines aufrührerischen Wesens seitens der Pietisten nicht, wie man es vielleicht erwarten könnte, als leere, rein denunziatorische Verleumdung verstanden und etwa durch Nichtbeachtung abgetan wurde. Man ging – vermutlich gezwungenermaßen – auch hierauf ein, weshalb es sinnvoll scheint, stellvertretend für die anderen pietistischen Autoren Spener zu Wort kommen lassen, der sich vehement gegen die Behauptung wehrte, durch seine Vorschläge und sein Handeln sei Unordnung zu befürchten. Gerade hinsichtlich der gegnerischen Fokussierung auf die Collegia betonte er unermüdlich, dass, solange die oben aufgezeigten Regeln – hierzu zählte er vor allem den Vorsitz eines ordinierten Predigers (vgl. 2.1) – eingehalten würden, keinerlei Unordnung oder »Zerrüttung« aus dem Studium der Heiligen Schrift durch Laien und Geistliche gleichermaßen entstehen könne: »Was die praetendirende zerrüttung in Kirchen / policey und haußwesen betrifft / ist abermal nichts weniger / als dergleichen / zu sorgen oder zu befahren. Wie sollen die jenige in der Kirchen eine zerrüttung machen / welche sich alle Christlichen ordnungen gehorsam unterwerffen / und ihr werck allein davon machen / daß sie das jenige in dem leben thun und ihre freunde mit darzu stettig reitzen möchten / was alle ihre prediger ihnen stetig auff der cantzel vorsprechen / was des Christenthumbs art und pflicht seye? […] In der policey wird keine obrigkeit nie gehorsamere unterthanen haben / als welche einmal sich resolvirt / ihr Christenthumb ihre vornehmste sorge seyn zu lassen / die werden gewisslich niemal etwas gegen die obrigkeit noch gegen andere freveler weise thun / daß dieselbige ihrentwegen ungelegenheit haben. Also auch in dem haußwesen kann keine verwirrung folgen / wo man nur die liebe vor das vornehmste erwehlet hat / desen man sich sein lebtag befleissen will.«79 »Stunden« genannt, religiöse Versammlungen außerhalb des volkskirchlichen Predigtgottesdienstes auf freiwilliger Basis zur wechselseitigen Erbauung der Christen.« 79 Spener, Sendschreiben an einen Christeyffrigen außländischen Theologum, 92 f.

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Wichtig allerdings ist, dass Laien und Geistliche hier den Regeln Christi nachfolgen, um jeden Anlass zur Unordnung zu vermeiden.80 Diese ›Regeln‹ für die Collegia, die sich aus Zielsetzung oder Ablauf ergaben, wurden oben dargestellt. Die anderen konkreteren Anlässe für orthodoxe Befürchtungen von Aufruhr und Unordnung sollen im Folgenden untersucht werden. 2.2.1 Das ›geistliche Priestertum‹: die Rolle der Laien im Pietismus Bereits im Zusammenhang der pietistischen Zusammenkünfte war darauf hingewiesen worden, dass die neue Gemeinschaftsform vor allem darauf abzielte, interessierten Laien einerseits einen unmittelbaren Zugang zur Bibel zu ermöglichen und andererseits ihre Erbauung, auch untereinander, zu befördern. Auch war gezeigt worden, dass, obwohl in erster Linie die Geistlichkeit ansprechend, Spener etwa in seiner Reformschrift Pia Desideria hierüber hinaus auch Vorschläge anbrachte, die unmittelbar an die Laien adressiert waren. Nicht nur bei seinen geistlichen Kollegen setzt er an, sondern auch bei beiden Laienständen. Nicht zuletzt hier wird deutlich, dass dem zweiten und dritten Stand von pietistischer Seite ein besonderes Interesse zukommt. Dies bestätigt auch, zumindest indirekt, der ›Hans-omnis-Vorwurf‹, hinter dem sich wiederum die Befürchtung von »Unordnung« und »confusion«, nämlich die Verwischung der Standesgrenzen und letztlich die Angst vor Bedeutungsverlusten für das reguläre Lehr- und Predigtamt verbirgt. Auch hier ist also zunächst, um die Leitlinie aufzuzeigen, nach der Berechtigung einer solchen Befürchtung zu fragen. Ähnliches, was über die vermeintliche Vernachlässigung öffentlicher kirchlicher Einrichtungen festgestellt wurde, lässt sich auch für den Pietismus sagen: Eine Geringschätzung, Verachtung oder gar eine beabsichtigte Abschaffung des geistlichen Standes ist nicht pietistisches Ziel. Auf den Punkt bringt Spener die pietistische Haltung, die über die reine Positionierung hinaus auch deutlich macht, woher das antipietistische Ressentiment gegen die vermuteten Aufrührer entspringt: »Ich erkenne gern unseres Göttlichen beruffs heiligkeit ; So weiß ich auch / daß GOTT in unserem orden die seinige übrig behalten hat / die das werck deß HErrn mit eyffer meynen. Ich bin auch nicht deß gemüths / mit einem Elia Praetorio auff die extrema zu gehen / und kind und bad zusammen außzuschütten. Sondern der allsehende Hertzenkündiger sihet / mit was betrübnuß meiner seelen ich offt hieran gedencke / und jetzo dieses schreibe: Daß ich gleichwol nicht anders sagen kann / als daß wir prediger

80 Klare Stellungnahmen finden sich etwa in Spener, Das Geistliche Priesterthum, 50 sowie erläuternde Ergänzungen auf S. 68; des Weiteren in Spener, Gründliche Beantwortung Einer mit Lästerungen angefüllten Schrifft, 116 (§19).

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in unserem stande so viele reformation bedürffen / als immer einiger stande bedürffen mag.«81

Keineswegs stellt Spener das Predigtamt als solches in Frage – nicht übersehen werden sollte hierbei, dass Spener sowie die meisten anderen pietistischen Autoren selbst in Amt und Würden steht; allerdings bedarf es seines Erachtens einiger Reformen. Hierbei gilt wiederum die Reformwürdigkeit weniger dem Amt als solchem, sondern einzelnen Predigern, die ihren Aufgaben nicht hinreichend nachkommen, wobei er sich selbst nicht ausnimmt.82 So kennzeichnet er eine ganze Klasse falscher Hirten: »Also sind der untreuen Hirten Kennzeichen und Eigenschafften / 1. Daß sie nach der Heerde nicht fragen; sie sind damit zufrieden / daß sie das Hirten = Ampt und dessen Vortheil haben / bey der Heerde zugegen sind / sie insgemein ansehen / und das äusserliche nothwendigste an ihnen verrichten […]. 2. Ist auch eine eigenschafft der falschen hirten und miedlinge / welche nicht so wol die heerde als sich selbst weiden / das ist / dero absicht in ihrem hirten = ampt nicht hauptsächlich ist die seeligkeit / und um derselben willen die erbauung der schafe / also daß sie derselben alles / was sie haben / ehre / leben / gesundheit / güter und wie jedes heissen mag / nachsetzen […] Sondern dero absicht vornemlich ist / wie sie gute besoldungen und accidentia, ein geehrtes / bequemes und gemächliches leben haben mögen […] Dazu kommet 3. das strenge und harte herrschen / daß nemlich die hirten ihnen ein unziemliche macht über die gewissen der zuhörer nehmen / und sie mehr auf sich / als auf Gott weisen.«83

Speners Kritik an vielen berufenen Geistlichen zielt zum einen klar auf das mangelnde Engagement derselben ab, die oftmals nur ihren eigenen (häufig rein materiellen) Vorteil im Blick haben, ohne sich dabei der Bedeutung ihres Amtes für das Seelenheil ihrer »Heerde« bewusst zu sein (oder dieses schlichtweg zu missachten). Gerade aber auch hinsichtlich der an anderen Orten von engagierten Pfarrern geäußerten Probleme bei der Betreuung ihrer Gemeinden84 erschöpft sich die pietistische Kritik eben nicht nur in Angriffen gegen ordentliche Prediger, sondern hebt auch hervor, dass Lehre und Erbauung nicht ausreichend gewährleistet werden können, wenn sie nur als Aufgabe der Pfarrer angesehen werden. Vielmehr sind sie nach pietistischer Auffassung Aufgabe aller Christen. Sind also die ›functiones sacerdotales‹ im Pietismus tatsächlich nicht mehr 81 Spener, Pia Desideria, 11 f. 82 Vgl. ebd. 83 Philipp Jakob Spener, Die Freyheit der Gläubigen / Von dem Ansehen der Menschen In Glaubens = Sachen / In gründlicher Beantwortung der so genanndten Abgenöthigten Schutz = Schrifft / Welche im Namen Deß Evangelischen Hamburgischen Ministerii von Herrn D. Johann Friederich Meyern / Außgefertiget worden, Frankfurt a.M. 1691, 21 f. 84 Vgl. etwa Wincklers Send = Schreiben an Hanneken.

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nur Aufgabe des ›sacerdos‹, des berufenen Geistlichen, wie es aus den Antipietistica hervor ging? Ja und nein, muss die Antwort lauten, und der pietistische Weg diesbezüglich ist tatsächlich eine Gratwanderung, die nicht immer völlig eindeutig zu interpretieren ist, was die gegnerische Aufregung nachvollziehbar macht. An dem einen Ende stehen die Beteuerungen Speners und anderer Pietisten, dass dem Predigtamt keinerlei Abbruch getan werden soll. An dem anderen die unmissverständliche Übertragung der priesterlichen Funktionen auf alle Christen. In beider Synthese sollen »predigamt und das geistliche priesterthum in einer lieblichen harmonie neben einander« stehen.85 Dieses »geistliche priesterthum« gilt es im Folgenden genauer zu betrachten, da sich aus dieser – nicht von Spener, sondern von Luther stammenden – Begrifflichkeit einerseits die pietistische Hochachtung des Laienstandes ableiten und begründen lässt und andererseits die pietistische Position zum berufenen Predigerstand bestimmbar wird. Bereits in seiner Reformschrift Pia Desideria zeigt Spener die Leitlinien auf, innerhalb deren er in späteren Schriften seine Konzeption des »geistlichen Priestertums« entfaltet. Wichtig sind hierbei vor allem wiederum die zentralen Aspekte von Lehre und Erbauung: Nicht ohne zu betonen, dass er sich hierbei mit Luther bzw. der Urgemeinde auf autoritative Instanzen gründet, stellt Spener heraus, dass beides keineswegs nur Aufgabe der berufenen Geistlichen seien, sondern ebenso sollten die Laien füreinander sorgen und sich auch über die Predigt hinaus dem Bibelstudium widmen.86 Diese beiden zentralen Aufgaben führt Spener in seiner Konzeption des ›Geistlichen Pristerthums‹ zusammen, nicht ohne wiederum hervor zu heben, dass es sich nicht um seine eigene Konzeption handele, sondern dem »offt = erwehnte[n] D. Lutherus« zuzuschreiben sei: »Neben dem würde unser offt = erwehnte D. Lutherus noch ein anders […] mittel vorschlagen […] die auffrichtung und fleissige übung deß Geistlichen Priesterthums. Niemand wird seyn / der etwas fleissig in Lutheri Schrifften gelesen / der nicht beobachtet haben solte / mit was ernst der selige Mann solches Geistliche Priesterthum / da nicht nur der Prediger / sondern alle Christen von ihrem Erlöser zu Priestern gemacht / mit dem Heiligen Geist gesalbt / und zu geistlichen priesterlichen verrichtungen gewiedmet sind / getrieben habe.«87

Unter Nennung seiner Quelle (»der lese seine Schrifft an die Böhmen«) fährt er fort: »[…] da wird er sehen / wie stattlich erwiesen seye / daß allen Christen ins gesamt ohne unterscheid alle geistliche ämpter zu stehen / ob wol deren ordentliche und offentliche 85 Spener, Auffrichtige Ubereinstimmung mit der Augsp. CONFESSION, 27. 86 Vgl. etwa Spener, Pia Desideria, 44; 97. 87 Ebd., 104 f.

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verrichtung denen darzu bestellten Dienern anbefohlen ist / unterdessen im fall der noht sie auch von andern verrichtet werden mögen: Sonderlich aber die jenige / welche nicht zu den öffentlichen verrichtungen gehören / immerfort zu hauß und in dem gemeinen leben von allen getrieben werden sollen. Ja / gleichwie dieses eine sonderbare list deß leidigen teuffels gewesen / daß derselbe in dem Pabstthum es dahin gebracht / daß alle solche geistliche ämpter allein der Clerisey […] heimgewiesen / und die übrige Christen darvon außgeschlossen hat / gleich ob gehörte denselben nicht zu / in dem wort deß HErrn fleissig zu studiren / vielweniger andere neben sich zu unterrichten / zu vermahnen / zu straffen / zu trösten / und das jenige privatim zu thun / was zu dem kirchendienst offentlich gehöret / sondern es wären solches lauter dinge / die an ihrem ampt allein hiengen.«88

Dass diese Ausführungen, wenn auch nicht sofort, für Furore sorgen sollten und die Befürchtung, die Pietisten wollten das Predigtamt abschaffen, aufkommen ließ, verwundert eigentlich nicht, werden doch die geistlichen Ämter allen Christen zugesprochen, unter ihnen das Schriftstudium, das Unterrichten, Ermahnen, Strafen und Trösten, auch, wenn dies zunächst nur im häuslichen Bereich der Fall ist. Es gilt also, nicht zuletzt angesichts der diesen Sätzen scheinbar diametral gegenüberstehenden Beteuerungen des Pfarrers Spener, das Amt nicht anzurühren, genauer hinzusehen, wie dieser sich das ›Geistliche Priestertum‹ vorstellt. Eine ausführliche Darlegung bietet die Schrift Das Geistliche Priesterthum Auß Göttlichem Wort kürtzlich beschrieben / und mit einstimmenden Zeugnüssen Gottseliger Lehrer bekräfftiget aus dem Jahre 1677.89 Auch jetzt, 2 Jahre nach der Veröffentlichung seiner Pia Desideria, ist Spener überzeugt, dass es sich bei dem ›geistlichen Priestertum‹ um einen der wichtigsten Vorschläge handelt90 und so stellt er unmissverständlich fest, dass durch die bei der Taufe erfolgende Wiedergeburt alle Christen zu Priestern werden: »Wie in dem alten Testament die priester nicht darzu erwählet / sondern gebohren wurden / also ist auch die wiedergeburt in der tauff das jenige / so uns in das Göttliche kinds = recht / und also das damit verbundene geistliche priesterthum setzet.«91 Auch wenn nur in »geringerer maaß«, so haben doch auch alle Christen die Salbung zum Priester erhalten.92 Im Hinblick auf die Lehre nun ist es nach Spener, der hier in gewohnter Manier sehr nah am alttestamtentlichen Text entlang geht, Aufgabe aller Christen dafür zu sorgen, dass »das wort GOttes reichlich unter ihnen wohnen 88 Ebd., 105 f. 89 Erschienen in Frankfurt a. M.; ediert in Philipp Jakob Spener, Schriften. Erste Abteilung: Band I-III. Frankfurter Zeit, Bd I durch Erich Bereuther und Dietrich Blaufuß im Olms Verlag, Hildesheim und New York, 1979, 549 ff. 90 Vgl. Spener, Das Geistliche Priesterthum, Zuschrifft [Ed. S. 558 f]. 91 Ebd., 4 f. 92 Ebd., 5.

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solle.«93 Unmittelbar an diese Feststellung anschließend betont er allerdings, dass dies keineswegs bedeute, dass alle Christen Prediger seien, denn »darzu gehöret ein sonderbarer beruff / offentlich in der gemeinde das amt vor allen und über alle zu führen.«94 Unterscheidende Nuance zwischen dem »geistlichen« und dem »beruffenen« Priestertum ist demnach das »offentlich […] vor allen und über alle«, denn generell sollen auch die Laien das Wort Gottes »vor sich selbst / und bey oder mit andern handlen«, was konkret bedeutet, dass »sie es nicht nur / wo es gepredigt / und in der gemeinde vorgetragen wird / hören / sondern auch fleissig lesen und sich lesen lassen«, denn »haben sie alle zu lesen recht und befehl.«95 In Anlehnung an Luther ist auch Spener der Meinung, dass auch Laien alles, was zu ihrer Erbauung nötig ist, in der Bibel verstehen könnten.96 Keinesfalls sollten sie hierin allein ihrem Prediger Glauben schenken, »sondern sie sollen auch die Schrifft forschen / damit sie ihres predigers lehr darnach prüfen / auff daß ihr glaube nicht auff dem ansehen und glauben eines menschen / sondern Göttlicher wahrheit beruhe.«97 Jedem Christ wird dieser Weg der eigenen Lektüre und damit eine gewisse Kontrollfunktion über den Geistlichen zugetraut, ja sogar vorgeschrieben, lediglich die öffentliche Predigt ist Aufgabe allein des Predigers; die private Predigt in einem kleineren Rahmen wiederum ist durchaus auch Laiensache.98 Zudem soll er bei schwierigen Passagen (»dunckele ort der schrifft«) – generell ist die Bibel für Laien nicht unverständlich99- als Ansprechpartner fungieren.100 Schließlich führt Spener, etwa in seiner Gründlichen Beantwortung Einer mit Lästerungen angefüllten Schrifft hinsichtlich der Lehre noch folgende Differenzierung an, durch welche berufenes und »geistliches« Priesteramt diesbezüglich unterschieden werden: Während alle Christen die Schrift zu ihrem eigenen Heil verstehen könnten, bliebe die Schriftauslegung, wo erforderlich, Aufgabe der berufenen Prediger.101 Passagen, die nicht sofort für Laien verständlich seien, sollten übergangen werden, um unnötige Spekulation zu unterbinden: Derartige Stellen seien für das Seelenheil, und hier geht Spener d’accord mit seinen orthodoxen Widersachern, schlichtweg nicht notwendig.102 Statt dessen sollten hierfür die studierten Prediger zur Verfügung der Laien stehen, wobei nicht vergessen werden dürfe, dass 93 94 95 96 97 98 99 100 101 102

Ebd., 27. Ebd., 27 f. Ebd., 28 f. Vgl. etwa Spener, Auffrichtige Übereinstimmung mit der Augsp. CONFESSSION, 57. Spener, Das Geistliche Priesterthum, 29. Spener, Sendschreiben an einen Christeyffrigen außländischen Theologum, 71; auch in Pia Desideria wird die Rolle etwa des ›Hausvaters‹ betont; vgl. ebd., im Vorwort. Vgl. Spener, Das Geistliche Priesterthum, 30. Vgl. ebd., 68. Vgl. Spener, Gründliche Beantwortung Einer mit Lästerungen angefüllten Schrifft, 103. Vgl. ebd., 105.

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oft das rechte Verständnis nicht komme, solange der rechte Geist nicht erlangt sei.103 Dies wird nicht zuletzt darauf zurück zu führen sein, dass Spener zwar Kenntnisse in den Ursprachen auch für alle Laien andachte, um hierdurch das Wort Gottes weiter zu verbreiten, diesen Gedanken allerdings nicht weiter ausführte, da er seine Unmöglichkeit oder zumindest Unwahrscheinlichkeit erkannte – zumal es akzeptable Übersetzungen gebe.104 Dies erklärt auch, warum die Befürworter der Collegia, Zusammenkünfte etc. auch immer wieder betonten, dass den Vorsitz grundsätzlich ein berufener Geistlicher führen solle – sei es nun ein Pfarrer, ein Doktor der Theologie oder gar ein Professor. Wenn dieser vermöge, seine Zuhörer zudem zu Lehrern zu machen, umso besser.105 Auch bei Francke nimmt das Selbststudium der Laien einen hohen Rang ein, wofür etwa die an Laien gerichtete Schrift Einfältiger Unterricht Wie man die H. Schrifft zu seiner wahren Erbauung lesen solle, die vermutlich 1694 erstmalig erschien106, Zeugnis bietet: Didaktisch heruntergebrochen stellt Francke in sieben Schritten vor, wie sich der Laie der eigenen Schriftlesung zu nähern habe, indem er vor allem zur rechten Leserhaltung anleitet.107 Ebenso sei noch auf eine andere Schrift Franckes hingewiesen, die sich zwar nicht nur, aber explizit auch an Laien wendet: die Einleitung Zur Lesung Der Heiligen Schrifft Insonderheit Des Neuen Testaments (auch 1694).108 Anders als der Einfältige Unterricht jedoch will die Einleitung zur Lesung der Heiligen Schrifft nicht nur die rechte Leserhaltung erzeugen, sondern hierüber hinaus auch weitergehende Informationen bieten. Alternativ könnte man die Schrift auch als Einführung für ein biblisches Laienstudium bezeichnen: »Denn es lehret die Erfahrung / daß die Unwissenheit des göttlichen Worts so groß ist / daß wenn man gleich vielen die heilige Schrifft Altes und Neues Testaments in die Hand giebet / doch die allerwenigsten wissen / zu welchem Zweck die heilige Schrifft von GOtt gegeben sey / und was der Inhalt sey in dem Alten oder in dem Neuen Testament: daher ihnen denn vieles dunckel und undeutlich vorkömmet / werden bald 103 104 105 106

Vgl. ebd., 106. Vgl. ebd., 37. Vgl. Wahrhafftiger Bericht von einem Collegio Biblico, Bl. 6. Die Schrift liegt ediert vor in August Hermann Francke, Schriften zur Biblischen Hermeneutik I. Herausgegeben von Erhard Peschke†, zum Druck befördert von Udo Sträter und Christian Soboth, Berlin, New York 2003. 107 Sein hier entfalteter Zugang lässt sich in Schlagworten recht schnell skizzieren: 1. Der Leser muss sich seiner Motivation bewusst werden; 2. er muss mit einfältigem Herzen, mit dem Ziel, sich zu seiner Seligkeit aus der Schrift unterweisen zu lassen, der Lektüre widmen; 3. am Anfang muss das Gebet stehen; 4. Lob und Dank dürfen nicht fehlen; 5. jede Passage muss meditiert werden, indem der Leser auf ihr verharrt; 6. auch am Ende muss ein Gebet stehen; 7. werden die Schritte eingehalten, wird Gott es bei ihm »nicht fehlen lassen an innerlichen und äusserlichen Creutz und Leiden und allerley Anfechtungen«, sodass sich der Leser bewähren kann. 108 Sie ist ebenso wie der Einfältige Unterricht ediert und befindet sich ebendort, 126 ff.

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verdrossen die Schrifft zu lesen / und sehen sich nach andern Büchern um / in welchen sie hoffen besser fort zu kommen. Solchen nun wird dieses Büchlein zu ihrem Besten dargeboten; daß sie daraus lernen können / wie sie insgemein die heilige Schrift und insonderheit zum Anfange die Bücher Neues Testamentes um einen rechten Grund in der Christlichen Lehre und in der Gottseligkeit zu legen / lesen sollen. Solche werden dann diese Arbeit also zugebrauchen haben: daß sie entweder / wenn sie das Neue Testament mit Fleiß zu lesen vornehmen wollen / vorhero dieser Anweisung sich bedienen / und daraus verstehen lernen / welches der Zweck und die Absicht / und also auch der eigentliche Inhalt eines jeglichen Buches sey / wozu er ein jegliches lesen / und wie sie es zur Gründung und Stärckung ihres Glaubens und zur Besserung des Lebens anwenden sollen […].«109

Hinsichtlich dieser pragmatischen Anleitungen trifft auch auf die beiden Schriften die Bezeichnung ›Frömmigkeitstheologie‹ zu, wird doch zu praktischer Frömmigkeit (dem Bibelstudium) und frömmigkeitlicher Haltung gleichermaßen angeleitet. Auch der sich an die Hauptschrift anschließende »kurtze Auszug« zeigt das Bemühen Franckes gegenüber den Laien, in diesem Fall der lieben »Schuljugend / so zu Glaucha an Halle« unterrichtet wird. Wurde von Spener gefordert, Laien sollten durch eigene Lektüre ihre Pfarrer kontrollieren, so möchte Francke seine Schüler zu rechtem Verstand anleiten, nicht zu auswendigem Daherreden.110 Überhaupt fängt bei Francke das Bemühen um die Bibellektüre auch des Laienstandes bereits bei den Kindern an, die schon so früh wie möglich die Bibel selbst lesen sollen, wozu alle an der Erziehung beteiligten Erwachsenen beitragen sollten.111 Hier, angesichts derart pragmatischer Anleitungen, tritt das pietistische Bestreben, auch Laien, sogar Kindern und Jugendlichen die Fähigkeit zu selbstständiger und selbstverantwortlicher Reflexion des eigenen spirituellen Standpunktes zu vermitteln, offenkundig vor Augen. Vor allem der Betonung dieses selbstverantwortlichen Momentes, das sicherlich eine der bedeutenden Parallelen zum Chassidismus darstellt, wird nachzugehen sein. Ähnlich sehen es auch die Verfasser der viel umstrittenen Gothaer pietistischen Konfession:

109 Francke, Einleitung zur Lesung der H. Schrifft, 131 [Ed.]. 110 Vgl. ebd., 177 [Ed.]. 111 In didaktisch bereits relativ ausgereifter Form stellt Francke sein Anliegen auch in Kurzer und einfältiger Unterricht, wie die Kinder zur wahren Gottseligkeit und Christlichen Klugheit anzuführen sind, ehemals zu Behuf Christlicher Informatorum entworfen, und nun auf Begehren in Druck gegeben, o.O.u.J., in: D. G. Kramer (Hg.), A. H. Francke’s Pädagogische Schriften. Nebst der Darstellung seines Lebens und seiner Stiftungen, Langensalza 21885, 25ff dar ; besonders hervorzuheben ist auch, dass Francke die Bedeutung aller an der Erziehung der Kinder Beteiligten auf deren weitere christliche Entwicklung betont, neben den Informatoren eben auch Vater und Mutter gleichermaßen

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»Hingegen sind wir gewiß und versichert / daß auch Ungelehrte / und wie man sie zu nennen pfleget / gemeine Leute / sowohl Manns als Weibspersohnen / wenn sie mit hertzlichem Gebet in der Heil. Schrifft forschen / von denen Dingen / die ihnen zur Seligkeit zu glauben und zu thun nöthig sind / bey aller ihrer Einfalt eine solche obenbeschriebene Erleuchtung haben und erlangen können / massen der Heil. Geist den Unterschied der Persohnen gar nicht ansiehet / sondern in einem Ungelehrten und Einfältigen so kräfftig ist / als in einem Gelehrten […].«112

Das Studium der Schrift, dies lässt sich zusammen fassen, wird im frühen Pietismus mit Nachdruck als Aufgabe eines jeden Christen, egal welchen Standes, aufgefasst, wobei dies spätestens von den pädagogischen Ansätzen August Hermann Franckes an bereits ebenso für Kinder gilt. Jeder Mann, jede Frau und auch alle Kinder werden auf diese Weise, den gegnerischen Schilderungen so gegensätzlich gar nicht, zu Lehrenden und Lernenden gleichermaßen, da das Bibellesen keineswegs nur alleine betrieben werden soll, sondern auch in gemeinschaftlichem Rahmen – im häuslichen Bereich oder in einer der Zusammenkünfte oder einem Collegium. Insgesamt leuchtet in dieser Anleitung zum Laienstudium das pietistische Ziel hervor, »die Bibel ganz anders in der Kirche zur Geltung, ja noch schärfer gesagt: zur Sprache zu bringen, als das unter dem Vorzeichen der herrschenden Orthodoxie, ihrer Lehre wie ihrer Praxis möglich war.«113 Auch, wenn von pietistischer Seite immer wieder darauf hingewiesen wurde, dass dies keineswegs das geistliche Amt in Frage stellen solle, da doch immer ein berufener Amtsträger den Vorsitz habe und auch die öffentlichen Einrichtungen ihre Bedeutung behielten, so wurde doch durchaus auch von pietistischer Seite gesehen, dass die antipietistischen Befürchtungen einer gewissen Berechtigung nicht entbehrten, wenn dem berufenen Predigerstand das ganze Christentum als »geistliche Priester« zur Seite gestellt wurde und deutlich und nicht eben selten der Hinweis erfolgte, es sei unbiblisch, wenn sich einer zum Lehrer über andere aufschwinge.114 Da kann auch der Hinweis, die pietistischen Kreise seien nur zur Unterstützung der Heilswirkung der Predigt da, kaum helfen, selbst, wenn die Predigten als alleine hinreichend bezeichnet werden – zumal, wenn sie im selben Atemzug als durch die zusätzlichen Veranstaltungen in ihrer Wirkung ›optimierbar‹ bezeichnet werden. 112 Confessio, Oder Glaubens = Bekäntniß derer Pietisten in Gotha. Sampt einem darüber gestellten kurtzen Bedencken, 1693, 5 f; das Bekenntnis, dass aufgesetzt wurde, nachdem alle anderen Versuche der Klarstellung gescheitert waren und die Autoren »allbereit zum zwayten mahl im Consistorio verhöret worden« wurde signiert von J. H. Wiegleb, P. J. Heybach, J. C. Kesler, J. A. Jacobi und J. Meyfart. 113 Martin Schmidt, Philipp Jakob Spener und die Bibel, in: Kurt Aland (Hg.), Pietismus und Bibel, Witten 1970, 9 – 58, hier: 9. 114 Vgl. nicht zuletzt Spener, Freyheit der Gläubigen, 6, jedoch auch an anderer Stelle wird vor hochmütiger (Selbst-)Überschätzung von Geistlichen gewarnt, vgl. etwa Unmaßgebliches Bedencken Von denen also genandten Pietisten, Bl. 5.

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Hinzu kommt, dass auch der zweite Aufgabenbereich der Geistlichen, die Seelsorge, in die ›Sphäre‹ der Laien gezogen wurde, indem diese nicht nur lernen und ihre Mitmenschen lehren sollten115, sondern sich gleichermaßen um ihre und ihres Nächsten Erbauung zu sorgen hätten. Hierzu zähle die Bekehrung der »neben = menschen«116, das Beten für dieselben (was nicht nur Spener in umfangreicher Form und nach einem festen Schema täglich tat)117 und sogar Mahnen und Strafen seien Aufgaben auch der »geistlichen Priester«: »So haben glaubige Christen der Schrifft sich zu allen diesen absichten zu gebrauchen / und also zu lehren / zu bekehren von den irrthumen / zu vermahnen / zu straffen und zu trösten; wie die schrifft selbst solches hin und wieder angezeigt hat.«

So fasst Spener die für alle Christen geltenden Aufgaben zusammen, wobei er an anderer Stelle ergänzt, dass diese priesterlichen Pflichten nur dort an Laien weitergegeben werden sollten, wo es sich um die Erfüllung der Pflicht zur Nächstenliebe handele118- diese wird immer wieder in den Mittelpunkt der Pflichten der ›geistlichen‹ Priester gestellt, wodurch auch die Überschneidungen mit sowie die Unterschiede zu den Aufgaben der berufenen Priester herausgestellt werden sollen: Indem sich jeder Christ um seinen Nächsten kümmern soll, muss er auch an dessen Seelenheil interessiert sein119, was allein von den berufenen Priestern nicht gewährleistet werden kann. Das wohl wichtigste Mittel, dies sei an dieser Stelle nochmals angemerkt, ist hierbei das Gebet, nicht zuletzt in der Form der Fürbitte.120 Letztlich sollen »predigamt und das geistliche priesterthum in einer lieblichen harmonie neben einander«121 stehen, was natürlich eine nicht eben einfache Forderung ist, wenn die einen ihre Pfründe schwinden sehen. Und wirklich unterscheiden lassen sich die beiden Sphären tatsächlich nur noch schwer. Was bleibt, ist nurmehr das differenzierende »vor allen«, das Spener zur Unterscheidung von geistlichem und berufenem Priestertum einführt: Zwar sollen alle Christen Träger der ›functiones sacerdotales‹ sein, jedoch nicht vor der ganzen Gemeinde. Nur die öffentliche Predigt und die sozusagen ›amtliche‹ 115 Als zusammenfassender Nachklapp sei noch einmal Spener angeführt: »[…] und muß nach demselben einer so wol von dem andern zu lernen / als in Göttlicher ordnung zu lehren bereit seyn.« Das Geistliche Priesterthum, 68. 116 Vgl. Spener, Das Geistliche Priesterthum, 19. 117 Vgl. ebd., 22. 118 Spener, Auffrichtige Ubereinstimmung mit der Augsp. CONFESSION, 200. 119 Vgl. Speners Predigt Christliche angelegenheit deß heils deß nächsten über Luk. 15,1 – 10, gehalten am 3. Sonntag nach Trinitatis 1688, in seiner Predigtsammlung Die Evangelische Lebens-Pflichten, Anderer Theil / Von Pfingsten biss zu Ende: Samt dem Anhang, 110 ff, hier : 117. 120 Vgl. z. B. ebd., 122. 121 Spener, Auffrichtige Ubereinstimmung mit der Augsp. CONFESSION, 27.

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Erbauung im Christentum bleibt Aufgabe allein der berufenen Pfarrer. Dies noch einmal zusammenfassend sollen die Fragen 53 und 54 samt Antwort aus Speners Geistlichem Priesterthum angeführt werden: »53. Stehet dann alles solches zu thun allen Christen zu? Ja / nach den gaben / die GOtt jeglichem dazu gegeben hat / und daß solches nicht geschehe offentlich bey der gantzen gemeinde / sondern absonderlich bey allerhand gelegenheit / und also ohne hindernüß deß offentlichen ordentlichen predig = amts. 54. Wie haben dann Christen zu lehren? Daß sie / wo sie mit unberichteten leuten umbgehen / sie trachten in der einfalt deß glaubens zu unterrichten / und zu der schrifft zu führen: Also auch / wo gottselige hertzen beysammen sind / und in der schrifft miteinander lesen / daß jeglicher das jenige zu deß andern aufferbauung bescheidentlich / und in der liebe vorbringe / was ihn sein GOtt in der schrifft erkennen lassen / und er zu deß andern erbauung dienlich achtet.«122

Bereits für die frühen Jahren lässt sich also feststellen, dass die Rolle, die dem Laienstand zugedacht wird, sich verändert: Aus der pietistischen Kritik einer lutherischen ›Schäfchen-Mentalität‹ des »Heuchel«- oder »Maulchristentums«– der nahezu schon werkgerechten Haltung, durch den Besuch des sonntäglichen Gottesdienstes und das Bemühen des institutionell zuständigen Geistlichen wäre das eigene Seelenheil gesichert – wird die einzig mögliche Konsequenz gezogen und jeder Christ für sein eigenes Seelenheil sowie das seines Nächsten in die Pflicht genommen. Diesbezüglich ist von pietistischer Seite weniger das Gefühl vorherrschend, man betätige sich reformatorisch oder gar innovativ, sondern es wird betont, dass es sich um eine Rückbesinnung handele: Viele Aufgaben, die eigentlich immer von Laien ausgefüllt wurden, müssten neu gegründet werden.123 Doch auch eine Rückbesinnung kann typisch sein und sollte deshalb – nicht zuletzt unter dem Eindruck einiger ebenso als ›Neuauflagen‹ erarbeiteten Merkmalen des Chassidismus – ausreichend Beachtung erhalten. Hinzu kommt jenes betonte Zugeständnis reflexiver Fähigkeiten, das auch dem Laienchristentum eingeräumt wird. Treffend formuliert dieses Ziel Winckler : »Meine Intention war / die Seelen in der heilsamen Lehre zu erbauen / zu befestigen und fertig zu machen / zu kämpffen über ihren allerheiligsten Glauben / daß sie sich nicht wie Kinder wegen und wiegen liessen von allerley Wind der Lehre.«124

Prüfende Reflexion sowohl fremder Einflüsse als auch des eigenen Standortes ist oberstes Gebot eines jeden Christen: »Da soll der Mensch sich selbst erst recht

122 Spener, Das Geistliche Priesterthum, 58 f. 123 Vgl. Spener, Sendschreiben an einen Christeyffrigen außländischen Theologum, 71 ff. 124 Winckler, Send = Schreiben an Hanneken, 3.

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erkennen lernen an seinen eigenen Früchten […]«125 befiehlt Francke, während Spener betont, dass die Zuhörer der Predigten keineswegs alles ungeprüft übernehmen müssen.126 Schon für Kinder gilt, dass diese ihr Handeln reflektieren müssen, damit »sie allezeit ihre rationes und Gründe bringen, welche sie bewegen, eine Sache fürzunehmen.«127 Pietistischer Standpunkt ist das selbstbestimmte Christsein. Dass diese pietistische Intention, die durchaus als Aufruf zur Überprüfung eines jeden einzelnen Pfarrers ob seiner Motivation und Authentizität zu verstehen ist, nicht automatisch eine Minderung oder gar Verachtung des geistlichen Standes mit sich bringen und somit zwangsläufig in Unordnung und Vermischung der Stände übergehen muss, sehen die gegnerischen Polemiker freilich nicht ein (oder übergehen es beflissentlich).

2.2.2 Die Sakramente Nicht ausschließlich, allerdings mit einem deutlichen Übergewicht in Hinsicht auf den Laienstand war den Antipietistica zu entnehmen gewesen, dass diversen Zeichen der sichtbaren Kirche – allen voran den Sakramenten – durch Pietisten nicht die Achtung entgegengebracht wurde, wie es den lutherischen Theologen lieb gewesen wäre. Neben der scheinbaren Verachtung des geistlichen Standes (s. o.) betraf dies vor allem die Sakramente (Taufe und Abendmahl) so wie das Beichtamt. Bevor letzteres in den Blick genommen wird, soll zunächst die Rolle, welche die beiden Sakramente in den pietistischen Quellen spielen, betrachtet werden. Zunächst kann unter Heranführung einiger weniger Belegstellen gezeigt werden, dass weder die Sakramente noch andere der genannten Zeichen, wie der Beichte, per se gering geschätzt wurden – zumindest nicht im Bereich des ›orthodoxen‹, innerkirchlichen Pietismus128 : Für sich spricht beispielsweise, dass Spener in allen Predigten, die er in der Homiliensammlung Die Evangelische Lebenspflichten zusammenstellte, unter anderen Taufe und Abendmahl als wirkkräftige Gnadenmittel angibt.129 Als ein anderes Beispiel, dass die Sakra125 August Hermann Francke, Am VIII. Sonntage nach Trinitatis. Von den falschen Propheten [1698 in Glaucha a. Halle gehalten], ediert in: Peschke, Predigten I, 438 – 484, hier: 472. 126 Spener, Auffrichtige Ubereinstimmung mit der Augsp. CONFESSION, 75. 127 Francke, Kurzer und einfältiger Unterricht, 64. 128 Anders sieht dies im Bereich des separatistischen Pietismus aus; hier »bildete die kirchliche Sakramentsverwaltung einen Hauptangriffspunkt«; etwa »das Beispiel der Frankfurter Separatisten zeigt, wie man von der Kritik an der volkskirchlichen Abendmahlspraxis weiterschritt zur Kritik an der diese begründenden Abendmahls- und Rechtfertigungslehre und so zu heterodoxen Weiterungen gelangte.« Hans Schneider, Der radikale Pietismus im 17. Jahrhundert, in: Martin Brecht (Hg.), Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert, Göttingen 1993, 391 – 437, hier : 399 f. 129 Die anderen Mittel, die er regelmäßig anführt, sind die Schrift und das Gebet.

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mente im Pietismus keinesfalls verworfen werden, kann herangeführt werden, dass Francke 1694 jeweils eine Adventspredigt über Taufe und Abendmahl hielt, denen er zudem eine Predigt vorausschickte »Von Sacramenten insgemein«, um seinen Zuhörern notwendiges Wissen zu vermitteln.130 Insgesamt kann von einer Geringschätzung oder gar Verachtung nicht die Rede sein, doch wenn nicht von einer bloßen Verunglimpfungsabsicht ausgegangen werden soll, muss der Vorwurf ernst genommen werden und im Detail nach möglichen Begründungen gesucht werden. Angaben über die Taufe hatten sich in den orthodoxen Texten nur wenige gefunden, lediglich die wenig glaubhafte Aussage der Zeugin Anne Petersen über das Konventikel in der Hamburger Neustadt enthält die (knappe) Ausführung, »es habe bey ihnen ein jeder die Freyheit zu täuffen«131 gehabt. Die verallgemeinerte Antwort Speners diesbezüglich, »es bleibet gewiß genug / daß niemand ohne ordentlichen beruff die Sacramente reichen soll«132, ist absolut deutlich. Allerdings differenziert er diese Aussage: Im »Nothfall«, d. h. wenn kein berufener Geistlicher vor Ort ist, kann auch ein unberufener die Taufe durchführen – sogar »Weibspersonen« wird dieses Recht zugestanden.133 Es ist jedoch beinahe obsolet darauf hinzuweisen, dass er sich mit dieser Spezifikation durchaus mit beiden Beinen auf dem Boden lutherischer Orthodoxie weiß, was wiederum die wenigen und zudem verhaltenen antipietistischen Äußerungen diesbezüglich erklärt. Anders sieht es mit dem Abendmahlsgebrauch der Pietisten aus. Hierbei waren den Schilderungen vor allem zwei zunächst widersprüchliche Tendenzen zu entnehmen: Zum einen wurde kritisiert, dass Pietisten dem Abendmahl fern geblieben seien, weil sie mit den unbekehrten Sündern nicht Gemeinschaft halten wollten; zum anderen lautete der Vorwurf, »es habe bey ihnen ein jeder die Freyheit […] das Heilige Abendmahl außzuspenden« bzw. »das H. Abendmahl theileten [sie, d. Vf.] unter sich selbst auß«. Widersprüchlich sind diese Vorwürfe nur in der oberflächlichen Betrachtung: Auf der einen Seite wurde zwar das Mahl so hoch gehalten, dass eine strenge Auslese bei der Mahlsgemeinschaft durchgeführt werden sollte. Gegenläufig scheint dem zu sein, wenn »bey ihnen jeder die Freyheit […] das Heilige Abendmahl außzuspenden« habe, doch fügen sich beide Vorwürde als logische Schlussfolgerung ineinander, denn: wenn ›unwürdige‹ Mahlgemeinschaft gemieden wird, muss eine ›würdige‹ Gemeinschaft gesucht werden. Innerhalb einer solchen elitären Gemeinschaft aber war es den Pietisten, so die gegnerische Annahme, egal, wer das Mahl spendet. 130 Die Predigt ist ediert in Erhard Peschke (Hg.), August Hermann Francke. Predigten II, Berlin, New York 1989, 602 ff. 131 Außführlicher Bericht / von denen[…]Quäcker = Zusammenkünfften, 8. 132 Spener, Auffrichtige Ubereinstimmung mit der Augsp. CONFESSION, 263. 133 Vgl. Spener, Das Geistliche Priesterthum, 69.

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Spener nun muss gestehen, dass einige seiner Frankfurter Collegiumsmitglieder zeitweilig dem Abendmahl fern blieben; er bekundet jedoch, dass dies mit dem Collegium und mithin mit der pietistischen Gesinnung nichts zu tun habe, denn schließlich hätten »so viel hundert glieder an dergleichen nie gedacht«134. Die Separation von der kirchlichen Mahlsgemeinschaft war kein Ziel des (kirchlichen) Pietismus. Wie aber verhält es sich mit dem pietistischen Mahlsverständnis im Allgemeinen und dem damit eng verknüpften Recht, es auszuteilen, im Besonderen? Aufbauend auf einer vornehmlich allegorischen Exegese von Mt 22, 1 – 14 (›Die königliche Hochzeit‹) führte Spener in seiner Predigt Rechter gebrauch der gnaden = güter135 seine Auffassung auch über den rechten Gebrauch des Abendmahls aus. Insgesamt blickt man hier auf eine recht konservative, traditionell lutherische Darstellung: Zunächst warnte er davor, die »gnaden = güter« als »operis operati« zu verstehen und den Vollzug selbst als heilswirksam aufzufassen.136 Vor allem zum Abendmahl gehöre der Glaube, sonst sei es die »schädlichste Heucheley vor GOttes augen.«137 Indem er das Bild vom getragenen oder nicht getragenen Hochzeitskleid aus Mt 22 aufgreift, formuliert er eindrücklich seinen Standpunkt und kommt zu dem Schluss, dass der Gebrauch der Mittel – allen voran des Abendmahls – vorsichtig zu erfolgen habe, da jeder, der das Kleid nicht an habe, also den rechten Glauben nicht habe und dennoch (Hochzeits-)Mahl hielte, ein schweres Gericht auf sich laden würde. Durchaus kann man also sagen, dass dem »gnaden = gut« Abendmahl eine große Bedeutung eingeräumt wird, und auch hier steht vor dem Ritus die Selbstprüfung, ob die richtige Haltung vorhanden ist, das Hochzeitskleid angezogen ist. Hat der Kommunikant es nicht an, so muss er es erst überstreifen und sich entsprechend vorbereiten, will er nicht schwere Schuld auf sich laden. Hinzu kommt, dass die Teilnahme am Mahl zu einem heiligen Leben auch hierüber hinaus verpflichtet Auch wenn Spener bewusst war, dass nur wenige Menschen des Hochzeitsmahls würdig waren, so sprach er sich doch vehement dagegen aus, deshalb in Separatismus zu verfallen und eine elitäre Mahlsgemeinschaft abseits der offiziellen kirchlichen zu gründen: »rechte Christen bekennen sich auch zu dem Christenthum / und halten sich zu der wahren christlichen kirchen / ob sie schon sehen / daß andere böse und heuchlerische auch in derselben äusserlicher gemeinschafft sind; lassen sich also das ansehen derselben zu keiner trennung verleiten. Dann obwol das ärgernüß / wann böse und heuchler in der kirchen sind / grossen schaden thut; ob man auch wol so groß sich nicht 134 Spener, Gründliche Beantwortung des Unfugs der Pietisten, 171. 135 Philipp Jacob Spener, Am 20. Sontag nach Trinitatis. Rechter gebrauch der gnaden = güter. Evangelium Matth. XXII, 1.–14., in: ders., Die Evangelische Lebens-Pflichten, 458 ff. 136 Vgl. ebd., 468. 137 Ebd.

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bekümmern dörffte / wann die böse sich selbs trenneten / sondern man ihnen ihren willen lassen müste / so haben gleichwol die fromme sich von demjenigen / wozu sie GOtt beruffen hat / nicht zu trennen / um der andern willen / weil böse mit unter dem hauffen seyn. Dann die trennung ist noch gefährlicher / und bringt noch schwerer ärgernuß als das andere ist / daher stehet sie einmal dem Christenthum selbs entgegen.138

Der einzige Grund, dem Abendmahl fern zu bleiben, ist somit die Feststellung der eigenen Unwürdigkeit durch mangelnden Glauben. »Genießen sie alsdann der göttlichen gnaden = güter auff einer seit mit behutsamer sorgfalt / auf der andern seiten mit getroster zuversicht. Sie wissen / GOTT gönne ihnen die güter / den trost des evangelii / den leib und blut seines lieben sohnes / und die versicherung des ewigen erbes / also geniessen sie ihr so reichlich / als sie sie haben können / freuen sich derselben / und dancken GOtt davor.«139 Zwar ist das grundlegende pietistische Prinzip seit Speners Frankfurter Zeit die Sammlung der Frommen, mithin die Bildung eines elitären Kreises; dem eignet jedoch nicht generell die Abwendung von der restlichen Gesellschaft, selbst »wann böse und heuchler in der kirchen« sind. Diesem Standpunkt schließt sich Francke völlig an: »[…] und, daß ein jeder, der zum H. Abendmahl gehet, insonderheit sagen mag, er sey theilhaftig worden des Fleisches und Blutes unsers Herren Jesu Christi; siehe auf diesen besondern Nutzen sollen wir wohl sehen, der bey den H. Sacramenten ist; damit ein jeder seinen festen Grund darauf setzen möge, daß ihm selbsten auch solche Gnade zugeeignet werde: Hiebey aber haben wir wohl in acht zu nehmen, daß, wie die H. Sacramenta nicht allein eine äußerliche Sache sind, also werde solcher Nutzen der Sacramenten nicht ergriffen ohne durch den Glauben, wo also nun der Glaube nicht ist, da hat der Mensch den Nutzen auch nicht davon, daß sein Glaube gestärket werde; und darauf sollen wir sonderlich sehen, denn die Menschen stehen mehrentheils in dem Wahn, als wenn die Sacramenta ihnen Nuzzen schaffeten, wie man in Schulen nennet, ex opere operato […].«140

Besonderes Augenmerk gilt hier Warnung davor, die Sakramente selbst als rechtfertigend anzusehen (»ex opere operato«): Das Abendmahl ist nicht heilswirksamer, weil es in einem besonders exzellenten Kreis genossen wurde, sondern der Glaube der Kommunikanten ist es, auf den es ankommt. Wie steht es nun mit der Ausgabe des »gnaden = gutes« des Mahls durch Laien im Pietismus? Dem erteilt Spener weder eine klare Absage noch stellt er es leichthin frei: Während er für das Spenden der Taufe durch Laien den Notfall als legitime Begründung anführt, stellt er einen solchen hinsichtlich des Abend138 Ebd., 465. 139 Vgl. ebd. 140 Francke, Von Sacramenten insgemein, 609 f.

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mahls als wesentlich schwieriger dar, wobei er zur Verteidigung seiner Schrift Das Geistliche Priesterthum gut lutherisch bzw. in der Tradition lutherischer Theologen argumentiert: »Ob ich wol mich auf den nothfall in dem H. abendmahl nicht bezogen / sondern davor gehalten habe / daß er sich ordentlicher weise nicht begeben könne / so habe ich gleichwol anderswo gewiesen / daß ausserordentliche und an solchen orten / wo man gar kein predig = amt hat / solcher fall müglich sey […].«141

Um allen Irrtum auszuschließen zitiert er abschließend Luther selbst: »In einer gemein / da jedem das recht frey ist / soll sich desselben niemand annehmen / ohne der ganzen gemeine willen und erwehlung / aber in der noth brauche sich desselben ein jeder wer da will.«142

Hiermit distanziert er sich gleichermaßen von egalitären Tendenzen, wie sie von der Zeugin Anne Petersen über die pietistische Zusammenkunft in der Hamburger Neustadt behauptet worden waren, da hier ja berufene, mit Johann Winckler (der seit 1684 Hauptpastor zur St. Michaelis in der Hamburger Neustadt war143) zudem sehr engagierte Geistliche durchaus vorhanden waren, und ließ doch die Möglichkeit des urchristlichen Liebesmahles, wo das kirchliche nicht möglich war, freigestellt. Hier gelingt ihm die beeindruckende Gratwanderung zwischen der Abwehr separatistischer Tendenzen einerseits und der Rechtfertigung von gemeinschaftlicher, über die offiziellen kirchlichen Institutionen hinaus gehender christlicher Frömmigkeitspraxis, wobei sicherlich gesagt werden kann, dass es sich keinesfalls um einen Umgang mit den »gnaden = gütern« handelt, der dazu berechtigt, die Anhänger der Bewegung als Novatores zu bezeichnen. Eher kann auch hier die Rechtfertigung eines Weges angenommen werden, der dem einzelnen Christen eine Bedeutung beimisst, die ihm ehedem vielleicht nur eher theoretisch zukam. Abschließend muss noch ein kurzer Blick auf die Rolle der Beichte im Pietismus geworfen werden, welche von dessen Anhängern angeblich »an Nagel gehenckt«144 wurde. Die hier bezeichnete Praxis der Einzelbeichte, die bereits seit der Reformationszeit von den reformierten Kirchen als nicht-biblisch abgelehnt wurde und auch, wo sie in lutherischen Landeskirchen Ende des 16. Jh. nicht zur rechtlich verordneten Pflicht geworden war, von einigen lutherischen, vornehmlich norddeutschen Gemeinden nicht mehr praktiziert wurde, befand sich spätestens seit dem Dreißigjährigen Krieg im Umbruch. Im Pietismus nun 141 Spener, Auffrichtige Ubereinstimmung mit der Augsp. CONFESSION, 263 f. 142 Ebd. 143 Vgl. Carl Bertheau, Art. Winckler, Johann, in: ADB 43 (1898), 365ff, hier : 367; vgl. v. a. auch die neuere Biografie von Claudia Tietz, Johann Winckler (1642 – 1705). Anfänge eines lutherischen Pietisten, Göttingen 2008. 144 Pietistische Erzehlung, 16.

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wurden reformorthodoxe Bestrebungen der zweiten Hälfte des 17. Jh. aufgenommen, die sich auch in den pietistischen Stellungnahmen, die bis zum »Berliner Beichtstuhlstreit« der späten 1690er Jahre jedoch recht spärlich sind, wiederfinden. Auch, wenn hier zwar wieder die unterschiedlich gearteten Persönlichkeiten der ›Väter des Pietismus‹ durchschimmern, tritt insgesamt diese Tendenz deutlich hervor. Anhand weniger Zitate lässt sie sich aufzeigen. Zwar noch auf dem Boden lutherischer Tradition145 stehend formuliert Spener, vor allem hinsichtlich der auf das Abendmahl vorbereitenden Funktion der Einzelbeichte: »So haben wir auch die beicht vor dem prediger nicht bloß außzuschliessen / sondern sie ist auch in gewisser maaß ein stück dieses unsers richtens. Zwar ist solches beichten vor dem prediger kein göttliches gebot […]: daher es solche fälle geben kann / da man auch ohne solche beicht zum H. abendmahl gienge.«146

Die eindeutig respondierende Formulierung »nicht bloß außzuschliessen« deutet bereits an, dass Spener mit seiner einer Freistellung gleichkommenden Fortsetzung »daher es solche fälle geben kann / da man ohne solche beicht zum H. abendmahl gienge« keineswegs als einzelner Revolutionär zu verstehen ist, sondern es auch in den auslaufenden 1680er Jahren – auch in lutherischen Kreisen, zu denen sich Spener, zumal vor den Leipziger Unruhen, dezidiert zählte – bereits Auflösungs- oder zumindest Umbruchtendenzen gegeben haben wird. Dementsprechend wirkt sein Nachsatz auch eher wie eine halbherzige Beruhigungsfloskel, wenn er erläutert, dass jeder, der sich zur Kirche bekenne und dem es bei seiner Selbstprüfung hilfreich scheine, vor seinem Prediger beichten solle. Eine wesentlich größere Bedeutung für die Vorbereitung auf die »würdige niessung deß H. abendmahls« allerdings als der institutionalisierten Einzelbeichte kommt bei Spener der Selbstprüfung zu, denn andere zu prüfen obliegt uns nicht – und auch der Prediger kann eine solche Prüfung letztlich nicht gewährleisten, da er nicht ins Innere des Beichtkindes blicken kann.147 Der Diplomat Spener griff die Institution der Beichte nicht per se an, was etwa sein vorsichtiges Verhalten im »Berliner Beichtstuhlstreit« zeigte.148 In seiner Betonung des eigentlichen, im Inneren des Menschen durch dessen Glauben stattfindenden Vorgangs bei der Beichte zeigte sich allerdings klar die pietistische 145 Vgl. insgesamt über das protestantische Verständnis der Beichte Art. Beichte, in: TRE 5, 411ff, hier v. a. III. Reformationszeit (Ernst Bezzel) und IV. Neuzeit (Helmut Obst). 146 Philipp Jakob Spener, Würdige niessung deß H. abendmahls [Predigt, gehalten »Am grünen Donnerstag« 1688], in: Die Evangelische Lebens-Pflichten, 470ff, hier: 477. 147 Vgl. hierzu ebd., 473 f. 148 Interessant ist in die in diesem Zusammenhang gehaltene Predigt »Des Beichtwesens in der Evangelischen Kirchen rechter Gebrauch und Mißbrauch«, die Helmut Obst, Der Berliner Beichtstuhlstreit. Die Kritik des Pietismus an der Beichtpraxis der lutherischen Orthodoxie, Witten 1972, 23ff exzerpiert, kommentiert und in das Geschehen einordnet.

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Tendenz. Dennoch kritisierte er mit einem Blick fürs Detail auch die alltäglichen Probleme, die die großen Mängel unterstützen: »Das schematische Aufsagen einer oft unpassenden Beichtformel. Die Zeitnot der Prediger, vor allem in den großen Städten. Die ungünstigen Beichtzeiten. Das gilt vor allem für die Frühbeichte vor dem Gottesdienst, dort ist die Zeit so knapp, ›daß alles fast (wie) auf der post hergehen und übereilet werden muß.‹ Ungeeignete Beichtstühle. Sie sind meist derart gebaut, ›daß Beicht = vater, und Beicht = kind nicht gegen einander ihr hertz so ausschütten können / wie sichs geziehmet / ohne daß andere es auch hören und gewahr werden‹.«149 Eben hier setzte auch Francke – wohlgemerkt, nachdem die Diskussion durch den »Berliner Beichtstuhlstreit« unter Johann Caspar Schades (s. u.) bereits die maximale Radikalisierung erfahren hatte – an. Etwa in seiner Predigt über Die Erlassung und Behaltung der Sünde vom 19. April 1696150 fand er wesentlich schärfere Worte als Spener, wenn er beklagte, dass viele meinten, ihnen würden im Beichtstuhl die Sünden erlassen, ohne dass sie an ihrem Gewissen etwas verändern müssten, zumal er die Bedeutung der Beichte nicht nur für die Vorbereitung zum Abendmahl, sondern für das Seelenheil allgemein betonte.151 Hiermit direkt verbunden war bei Francke die Klage über die Laxheit der Praxis der meisten Pfarrer, ihre Beichtkinder ohne weiteres von der Sünde loszusprechen. In Ausrichtung an dem zugrundeliegenden Predigttext (Joh 20, 19 – 23, v. a. 22b.23: Nehmet hin den heiligen Geist; welchen ihr die Sünde erlasset, denen sind sie erlassen; und welchen ihr sie behaltet, denen sind sie behalten) beschwerte er sich darüber, dass jeder, der den Beichtstuhl betreten würde, automatisch die Erlösung erführe152, ungeachtet, ob er nun ein bußfertiges Herz habe oder nicht. Doch gerade hierauf komme es an: Nur durch ein bußfertiges Herz würde die Sünde vergeben, sonst nicht. In Anlehnung an Joh 20, 23 plädierte er deshalb dafür, dass »ein Unterscheid gehalten wird zwischen den Bußfertigen und Unbußfertigen«153, was konkret heißen soll: einem Beichtkind, bei dem unklar ist, ob es sich seiner Sünden bewusst ist und diese bereut, soll die Absolution nicht gewährt werden, und solange, bis eine Besserungsabsicht erkennbar ist, kann auch der Ausschluss aus der Mahlsgemeinschaft erfolgen.154 Doch auch schon vor dem Berliner Beichtstuhlstreit war in Halle eine kurfürstliche Untersuchungskommission eingesetzt worden, die auf einen Streit 149 150 151 152 153 154

Ebd., 25. Ediert in Peschke, Predigten I, 133ff; vgl. auch die einleitenden Sätze Peschkes, ebd., 133. Vgl. ebd., 135 bzw. 136. Ebd., 140. Ebd., 148. Diese inhaltliche Fortsetzung findet sich in Franckes Predigt Der unverantwortliche Missbrauch des heiligen Abendmahls vom 6. April 1699, in: Peschke, Predigten I, 511 – 555, hier : 542.

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zwischen Francke und seinen Pfarrkindern zurückging, »der durch die strenge Beichtpraxis Franckes verursacht« worden war.155 Bereits 1692 hatte Francke mehreren Gemeindegliedern die Absolution verwährt, da ihm diese nicht bußfertig erschienen. So hart es auch klingt: Diese Regelung wollte Francke in letzter Konsequenz auch für Sterbende durchgesetzt wissen, denen Absolution und hiermit verknüpftes (letztes) Abendmahl nicht zu gewähren seien, »[…] andern zu einem Exempel, daß sie sich nicht darauf verlassen und dencken sollen, man müsse es ihnen doch auf dem Krancken-Bette endlich geben, ob man sie auch noch so lange bey gesunden Tagen davon zurück hielte, sondern daß sie vielmehr daraus schliessen, daß man bey erkantem Mangel der wahren Bußfertigkeit sie eben so wenig als andere mit dem Abenmahl des HErrn versehen werde.«156

Während Francke deutlich machte, dass letztlich jeder Christ seinem Nächsten die Sünde vergeben und erhalten könne, da diese Aufgabe keineswegs nur den berufenen Predigern zustehe,157 eine »rechte Erlassung der Sünden« grundsätzlich nur aus der zerknirschten Bußhaltung heraus erfolge158, positionierte sich sein Freund aus Studientagen Johan Caspar Schade (1666 – 1698159), der Urheber des »Beichtstuhlstreits«, wesentlich radikaler. Er stellte generell infrage, dass ein Außenstehender Absolution erteilen könne, da er doch niemals in den Menschen hinein sehen könne.160 Einen wirklichen Nutzen für das Seelenheil durch den »Beicht = stuhl« sah er nicht, und wenn es einen solchen gegeben haben sollte, so wäre dies reiner Zufall.161 Stattdessen würde diese menschengemachte Institution vor allem anderen missbraucht, zumal durch die Prediger. Die Institution, die Schade in tiefe Depressionen stürzte, wird bei ihm tatsächlich in der überkommenen und von ihm kritisierten Form »an Nagel gehenckt«, was in seiner viel zitierten, oftmals aus dem Zusammenhang gerissenen Dichtung »Beicht = stuhl / Satans = stuhl: Feuer = Pfuhl«162 gipfelte. Schade, bei dem die Sorge um die rechte Buße im Zeremoniell der Beichte durch die gegebene Situation in Berlin, die nur eine routinemäßige, reichlich oberflächliche 155 Mori, Begeisterung und Ernüchterung, 204. 156 Ebd., 543. 157 Francke, Die Erlassung und Behaltung der Sünde, 138 f; genau wie der Glaube an den Beichtstuhl ist bei Francke der Glaube an eine solche Ermächtigung des Pfarrers reiner Aberglaube, da dieser ja »kein Herr im Lande« sei, der Macht habe über »Erlassung und Behaltung der Sünde« zu entscheiden habe; ebd., 145 f. 158 Vgl. ebd., 139. 159 Einen kurzen Überblick über das Leben J.C. Schades bietet Obst, Beichtstuhlstreit, 11 – 19. 160 [Johann Caspar Schade] Die schändliche Praxis des Beicht = Stuhls und Nachtmahls des Herrn […], o.O. 1697, Bl.3; vgl. zu Die schändliche Praxis des Beicht = Stuhls und Nachtmahls des Herrn Obst, Beichtstuhlstreit, 28 – 30. 161 Vgl. ebd., Bl. 20. 162 Ebd., Bl. 21.

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Beschäftigung mit dem Beichtling ermöglichte163, zu ernsthaften Gewissenskonflikten führte, versuchte nach wenig erfolgreichen Versuchen der Selbsterklärung vor seinen Kollegen164, das Beichtwesen mit fünf konkreten Vorschlägen zu reformieren. Zunächst war ihm viel daran gelegen, die Beichte persönlicher zu gestalten, wofür er »eine Vorbereitungsstunde mit Gelegenheit zu seelsorgerlichem Gespräch« vorschlug, in der vor allem den Beichtkindern der Heilsweg durch den Pfarrer in kurzer, verständlicher Form gezeigt wurde. Ermahnung, Trost und Lehre sollten hier stehen, so dass auch Unwissende den rechten Weg erführen.165 Am Samstag vor dem sonntäglichen Abendmahl sollte es eine weitere Vorbereitungsstunde geben, in denen den Kommunikanten nochmals die Bedeutung und der Nutzen des Sakramentes verständlich gemacht werden sollte.166 Anschließend sollte Gelegenheit zur Einzelbeichte sein, wobei vor allem die dieser zugrundeliegende Freiwilligkeit betont wurde.167 Über den Beichtpfennig schrieb Schade, dass er nicht verpflichtend sein und keineswegs ein Zusammenhang zwischen Absolution und Beichtgeld hergestellt werden dürfe.168 Das Abendmahl setzte Schade dann am folgenden Sonntag an. Es kann demnach keineswegs die Rede davon sein, dass die Beichte insgesamt im Pietismus »an Nagel gehenckt« wird, weder in ihrer erbaulichen der Tröstung noch in ihrer zum Mahlsgebrauch vorbereitenden Funktion. Sie erfuhr allerdings eine markante Umwidmung, eine ›Entinstitutionalisierung‹, wenn einerseits die Institution bewusst aus den prägenden Angeln gehoben wird (etwa hinsichtlich der Zeit und des Ortes der Beichte) und andererseits und vor allem der »Beichtiger«, wie ihn Luther in seinem Kleinen Katechismus nennt, das Beichtkind selbst wird: Die Leitidee des pietistischen Verständnisses der Beichte ist, dass die wahre, immer mit ernsthafter Buße verbundene Beichte sowie die anschließende Absolution nur durch den rechten Glauben erfolgen kann, dem die strenge Selbstprüfung vorausgehen muss. Wer beichten möchte und wahrhaftige Befreiung von seinen Sünden sucht, muss »dem lieben GOtt dancken, daß er durch seinen eingebornen Sohn JEsum Christum, ihn habe von Sünde, Tod, Teufel und Hölle erlöset, und nur darauf dencken, daß er hinfüro ein neues Leben führen möge, auch GOtt bitten, daß er ihm dazu die Kräfte

163 Vgl. Obst, Beichtstuhlstreit, 20. 164 Zu denen auch die 30 suggestiven Gewissensfragen zu zählen sind, die er Die schändliche Praxis des Beicht = Stuhls und Nachtmahls des Herrn veröffentlichte, nachdem er sie zur Beantwortung an seine Kollegen versandt hatte. 165 Vgl. ebd., 42 f., der hier die zentrale Schrift Schades, Vom Conscientia erronea, Oder also genannten Irrigen Gewissen / eines Predigers Wegen Absolution und Außtheilung des H. Abendmahls […], 1697, zusammenfasst. 166 Vgl. ebd., 43. 167 Vgl. ebd. 168 Vgl. ebd.

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seines heiligen Geistes wolle darreichen: so ist dieses ein wahrhaftiges Beichtsitzen, und eine rechte Absolution […].«169

Die Absolution hat ein jeder selbst zu erkämpfen: »Ihr müsst euch prüfen, ob ihr nicht Heuchler, und in euren Hertzen unbekehret und unverändert seyd.«170 An die Institution der Kirche oder das Amt des berufenen Predigers ist sie im Pietismus jedenfalls nicht mehr gebunden. 2.2.3 Die pietistische Kritik am akademischen Betrieb Ein weiteres Charakteristikum, mit dem die Pietisten durch ihre Gegner beschrieben worden waren, waren ihr vermeintlicher Antiintellektualismus sowie die Verachtung aller philosophischen Wissenschaften samt ihren Methoden (wie der weit verbreiteten akademischen Disputationen) und sogar die Geringschätzung der Hochschulen insgesamt. Wiederholt war bereits angedeutet worden, dass den Bezichtigten grundsätzlich die Bibel genug sei. Dass bei derartig verallgemeinerten Vorwürfen das Abzielen auf einen denunziatorischen Effekt nicht zu unterschätzen sein wird, liegt auf der Hand, zumal es in einem direkten Zusammenhang mit der vermeintlichen Verachtung des geistlichen Standes gesehen werden kann. So lässt sich die Allgemeingültigkeit der Beschuldigung schnell relativieren: Auch, wenn in der jungen Bewegung Laien eine große Rolle zugedacht wurde, so muss doch betont werden, dass die mit den Vorwürfen des Antiintellektualismus und der Wissenschaftsfeindlichkeit zunächst und hauptsächlich angegriffenen Pietisten durchweg studierte Theologen und Pfarrer waren, zudem oftmals auch Träger akademischer Würden und Lehrende an Universitäten, besonders an theologischen Fakultäten. Diesen Magistern, Doktoren und Professoren nun wurde Antiintellektualismus, ja Verachtung des akademischen Betriebes vorgeworfen, was auf den ersten Blick unwahrscheinlich anmutet. Dennoch wurden die Vorwürfe öffentlich angebracht und nicht eben selten wiederholt aufgegriffen – es ist deshalb anzunehmen, dass auch hinter diesen Behauptungen eine Begründung steht. Wie oben aufgezeigt wurde, war es keineswegs als pietistisches Ziel anzusehen, das Predigeramt abzuschaffen. Kritik von pietistischer Seite war meist personal und individuell angelegt. Bei der pietistischen Vorstellung des geistlichen Priestertums handelte es sich nicht um eine konkurrierende Konzeption zum geistlichen Stand, vielmehr sollten das »berufene« und das »geistliche« Priestertum, sich gegenseitig unterstützend, nebeneinander gestellt werden. 169 Francke, Die Erlassung und Behaltung der Sünde, 147. 170 Ebd., 156; vgl. auch S. 157 wo Francke in gewohnter Pragmatik Fragen bietet, die sich ein jeder vor der Beichte stellen soll.

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Ebenso wenig wie nun das berufene Priestertum abgeschafft werden sollte, griffen die pietistischen Autoren das Universitätsstudium generell an.171 Im Detail allerdings hatten sie an der Theologenausbildung – und mit ihr hing auch die Auffassung etwa von den philosophischen Wissenschaften zusammen – nicht eben wenig Kritik zu üben, woraus sich auch jener Glaube an die pietistische Wissenschaftsfeindlichkeit gespeist haben wird.172 Der vermeintliche Antiintellektualismus rührte aus einer anderen Quelle, die zwar mit der behaupteten Wissenschaftsfeindlichkeit in Verbindung stand, hierüber aber hinaus ging; sie soll im Anschluss kurz aufgegriffen werden. Die pietistische Kritik an Details des zeitgenössischen akademischen Betriebes jedenfalls lässt sich bündeln zu einem Hauptanliegen: Es wurde bemängelt, dass das Studium, das die zukünftigen Pfarrer absolvierten, zu wenig an der späteren beruflichen Praxis ausgerichtet sei, womit sich ein Gutteil der bestehenden Probleme des evangelischen Christentums erklären ließe.173 Sich selbst nicht ausschließend forderte Spener deshalb seine Kollegen auf: »Lasset uns gedencken / daß dermaleins nicht werde gefragt werden / wie gelehrt wir gewest und solches der Welt vorgelegt haben […] Sondern wie treulich und mit einfältigen hertzen wir das Reich GOttes zu befördern getracht / mit was rein = und gottseliger Lehre / sodann würdigen Exempeln […] wir unserer Zuhörer erbauung gesuchet […].«174

171 Vgl. explizit etwa Spener, Sendschreiben an einen Christeyffrigen außländischen Theologum, 40. 172 Die orthodoxe Bezichtigung des Pietismus als ›wissenschaftsfeindlich‹ meint im engeren Sinne ›theologiefeindlich‹; die in der Forschung hier und da behauptete Feindlichkeit des Pietismus gegenüber den Naturwissenschaften taucht in den Antipietistica nicht auf; dass allerdings auch die Behauptung einer allgemeinen (Natur-)Wissenschaftsfeindlichkeit im frühen Pietismus nicht haltbar ist, weist Udo Sträter, Zum Verhältnis des frühen Pietismus zu den Naturwissenschaften, in: Pietismus und Neuzeit 32 (2006), 79 – 100. Sträter führt eine Vielzahl von Quellenbelegen heran, die belegen, dass weder Spener noch Francke eine »generelle Wissenschaftsfeindlichkeit« vorgeworfen werden könne (99), dass vielmehr beide »zwei unterschiedliche Grundzüge wahrgenommen und den einen als Gegener, den anderen als Verbündeten interpretiert« hätten (ebd.), wobei der Gegner der Rationalismus, »insofern er der Theologie Grenzen setzen, ihr methodische Vorschriften machen und ihr gegenüber ein autonomes System der Welterklärung konstruieren« wollte, und der »mutmaßliche Verbündete« die »Empirie, die Erfahrungswissenschaft« gewesen sei (ebd.). 173 Dass diese Kritik nicht unbedingt als ureigenstes pietistisches Interesse ohne vergleichbare Beispiele in der Kirchengeschichte aufgefasst werden kann, zeigt etwa Martin H. Jung, ›Est omnino Sapienta donum Die‹. Spirituelle Aspekte des Theologiestudiums bei Melanchthon, Gerhard und Francke, in: Johanna Loehr (Hg.), Dona Melanchthoniana. Festgabe für Heinz Scheible zum 70. Geburtstag, Stuttgart 2005, 171 – 192; er erstellt exemplarisch die Reihe Philipp Melanchthon – Johann Gerhard – August Hermann Francke, um den Zusammenhang zu verdeutlichen. 174 Spener, Pia Desideria, im Vorwort.

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Letzten Endes müssten die Geistlichen vor dem Richter nicht belegen, wie gelehrt sie gewesen seien, sondern ob sie ihrer seelsorgerlichen Aufgabe nachgekommen seien. An dieser Aufgabe aber müsse sich ebenfalls die universitäre Theologenausbildung ausrichten, was jedoch oftmals nicht der Fall sei. Stattdessen würde viel Zeit verschwendet für Inhalte, die zwar unter Umständen auch den Studenten für ihr späteres Amt helfen könnten, letztlich aber doch nur Methoden, Werkzeuge seien. Hierzu zählen die verbreiteten Disputationen, durch die nach pietistischer Auffassung oftmals nur die Gemüter zumal der jungen Studenten verdorben würden.175 Auch hier allerdings differenzierte Spener, indem er den Disputationen nicht grundsätzlich eine schädliche Wirkung zuschrieb, sondern nur dann, wenn sie zu viel Zeit kosten würden, die anderweitig wesentlich sinnvoller und verantwortungsbewusster investiert wäre. Auch im 17. Jahrhundert spielt das ökonomische Argument bei der Zusammenstellung des Stundenplans eine wichtige Rolle: »Es können die disputationes so wol eine hindernüß der studiorum als dero beförderung seyn. Der wahre nutzen ist vornemlich der / daß die studirende durch diese gleichsam spiel = kämpfe zu denjenigen ernstlichen und wichtigen bereitet werden / wo der kirchen und der warheit daran liget / daß dergleichen angestellet werden / ferner daß auch die ingenia geübet werden / und eine fertigkeit erlangen / daß ihrige geschwind zu erweisen / und auff die einwürffe zu antworten : welche gewonheit und fertigkeit das natürliche urtheil trefflich stärcket / und in dem gantzen leben viel nutzet. Also wer allerdings sich der übung der disputationen enthält / der beraubet sich des jenigen vortheils […]. Auff der andern seiten rathen ihnen selbst nicht wohl / sonderlich aus der zahl der jenigen / welcher studia nicht hoch steigen werden / welche allzu viel zeit auff die disputationen wenden / so sie auff andre dinge / die nöthiger und auffs künfftige nützlicher wären / wenden sollten.«176

Hinsichtlich der Streittheologie vermögen die Disputationen die Studierenden enorm zu trainieren, sowohl hinsichtlich Festigung des lutherischen Standpunktes, als auch der rhetorischen Schulung. Deshalb sollten sich auch pietistische Studenten dieser Übungen nicht gänzlich enthalten. Ähnliches lässt sich aber auch über die im akademischen Betrieb viel verwendeten systemata theologica finden, welche durch die Pietisten angeblich verworfen würden: Auch sie seien, wenn man sie recht als »menschliche erfindung« und als Hilfsmittel auffasse, durchaus nützlich zu gebrauchen, da hierdurch viel Zeit gespart werden könne177, was wiederum gerade ärmeren Studenten zugute komme. An diesen verdeutlicht Spener auch das pietistische Problem mit den philosophi175 Vgl. z. B. Spener, Pia Desideria, 119 ff. 176 Spener, Gründliche Beantwortung Deß Unfugs der Pietisten, 137 f. 177 Vgl. ebd., 99 f, zudem 130 f.

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schen Wissenschaften insgesamt: Keinesfalls möchte er sie abschaffen, wie ihm vorgeworfen wird, sondern »daß collegia philosophica, sonderlich logica und metaphysica, gäntzlich verworffen / und junge leute vom studio philosophico abgezogen worden / ist bloß dahin die klage zu nehmen unerfindlich. […] Sondern wie ich / also auch andre / halten die Philosophiam, und alle deroselben disciplinen / vor eine gute gabe Gottes / die zu ehren und dienst des Schöpffers zu behalten und anzuwenden seye. Daher auch dieselbe in rechter ordnung der Theologie einige nützliche dienste leisten können / und deßwegen / welche mehr zeit auf ihre studia zuwenden / zeit und mittel haben / billich auch an dieselbe etwas wenden. Aber wo man auf das sihet / was ins gemein geschiehet / da selten einer ist / auch unter denen / die kaum ein jahr oder anderthalben auf Universitäten zuzubringen vermögen / der nicht ein zimliches theil der doch so kurtzen zeit auff die jenige studia wendet / die ihm in den stellen / zu denen er etwa nachmal kommet / nichts mehr nutzen werden / so ists nicht unrecht / wo man saget / daß die meiste studiosi Theologiae nicht wol thun / wo sie sich mit versäumung des nöthigern / nemlich des studii theologici selbst / auf die Philosophie legen / sondern sie sollten die wenige zeit desto sparsamer auf das allernothwendigste wenden / dessen sie sich am wenigsten reuen zu lassen hätten.«178

Angesichts der Beobachtung, dass viele Studenten nur wenig Zeit und Geld hätten, um umfangreichere Studien zu betreiben, schlägt Spener vor, dass sich vor allem diese Studenten nicht in den Randbereichen der Theologie verlieren sollten. Er spricht aus eigener Erfahrung, wenn er berichtet, dass kaum ein Student in den Prüfungen, denen er beiwohnte, exegetische Methoden, das Handwerkszeug des Geistlichen, wirklich beherrscht habe179, woran vornehmlich das »verderben der Academien« schuld sei, da hier diejenigen, die »dermaleins hirten der heerden zu werden bereitet werden sollten« ein Leben gelehrt würden, das »sehr weit von den reglen Christi« entfernt, »ja wol gar denselben schnur stracks entgegen wäre.«180 Auch, wenn Spener hier nicht so weit ging wie einige seiner Mitstreiter, die gegen diejenigen polemisierten, die »von ihren Studiren so auffgeblasen und sochend in Fragen und Wort = kriegen sind / daß ihr Haß / Neyd und böser Argwohn gegen alle / die göttlich leben wollen« sich offenbahrte181, so ist doch auch bei ihm unmissverständlich hierin »ein Stück fundamentalistische Reaktion auf die lebensferne und zum Selbstzweck gewordene Gelehrsamkeit der Orthodoxie«182 erkennbar. Speners Streben ging v. a. 178 179 180 181

Ebd., 97 f. Ebd., 62. Spener, Warhafftige Erzehlung, 7. [Anonym] Anzeige Gewissenhaffter Behertzigung / Des Gießischen Sendschreibens / Wider Der Christen freye und erbauliche Zusammenkunfften, o. O. 1690, 9. 182 Hartmut Lehmann, »Absonderung« und »Gemeinschaft« im frühen Pietismus. Allgemeinhistorisch und sozialpsychologische Überlegungen zur Entstehung und Entwicklung des Pietismus, in: Pietismus und Neuzeit 4 (1977 / 78), 54 – 82, hier : 63.

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gegen die Übertreibung der Disputierfreudigkeit183, gegen die Gelehrsamkeit um ihrer selbst willen, die das Ziel der Seelsorge aus den Augen verloren hatte. Denn eben hier, in dieser notwendigen Rückbindung an den existentiellen Praxisbezug und die Lebensführung der zukünftigen Pastöre gleichermaßen, erwies sich der Unterschied zwischen der Theologie und den anderen Fakultäten. Ohne die Umsetzung in die Glaubenspraxis wären »sie zwar Studiosi einer so zu reden Philosophiae de rebus sacris, nicht aber Studiosi Theologiae, die da in dem liecht deß Heiligen Geistes allein erlernet wird […].«184 Die vielzitierte zentrale Passage in Speners Reformschrift, die seinen Standpunkt pointiert, lautet: »Weilen aber eben der ursachen wegen / daß die Theologia ein habitus practicus ist / und nicht in blosser wissenschafft bestehet / nicht gnug ist das blosse studiren / und anderseits das blosse profitiren und informiren. So wäre dahin zu gedencken / wie allerhand übungen angestellet werden möchten / in denen auch das gemüht zu denjenigen dingen / die zu der praxi und eigenen erbauung gehören / gewehnet und darin geübet würde. […].«185

Studierende der Theologie müssten sich von anderen Studenten abheben: Sie müssten einen »Habitus« entwickeln, der aber eben nicht nur des Studierens und des (idealerweise) hieraus resultierenden Gelehrtseins bedürfe, sondern des Heiligen Geistes186, da es in der Gottesgelehrtheit um geistliche Dinge gehe, »die der natürliche mensch […] nicht verstehet noch verstehen kann […].«187 Hierin liege der Hauptunterschied zu den Profanwissenschaften, die auch ohne den Heiligen Geist auskommen könnten: »Es bleibet auch die Professio Theologiae die Königin vor allem als ein instrument des Heiligen Geistes : sie halte sich aber auch also / daß sie auff gantz andere weise als die übrige menschliche wissenschafften lehre / daß ihr geschäffte meistens seye / dem Heiligen Geist durch eben seine gnade tüchtige subjecta zuzubereiten […] daß sie nicht nur menschen gelehrte / sondern Gottes = gelehrte von ihnen auß ihrer schule gelassen werden.«188

Nach dieser einigermaßen ausführlichen Klärung des ›status controversiae‹, der, in wenigen Worten zusammengefasst, die gegnerische Behauptung der pietistischen Wissenschaftsfeindlichkeit als falsch entlarvt und demgegenüber die pietistische Kritik des akademischen Betriebs um seiner selbst willen und ob seines Theorieübergewichtes aufzeigt, soll aber vornehmlich der eigentliche Vgl. Wallmann, Philipp Jakob Spener und die Anfänge des Pietismus, 20 f. Spener, Pia Desideria, 134. Ebd., 144. Auch in seinem Sendschreiben an einen Christeyffrigen außländischen Theologum, 38 führt er den Begriff vom notwendigen »Habitus« des Theologen an. 187 Ebd. 188 Ebd., 43.

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pietistische Reformvorschlag interessieren. Es liegt nahe, diesen in der Orientierung des Theologiestudiums an der Pfarramtspraxis der zukünftigen ›Hirten‹ zu sehen, wobei durch die gegnerischen Schilderungen bereits die Richtung vorgegeben wurde, denn: »man müsse [nach pietistischer Auffassung, d. Vf.] nur allein der Lesung und Betrachtung der heiligen Schrifft und zwar Neuen Testaments obliegen […]. Endlich so müsse alles / was man in der heiligen Schrifft lese / nur allein zur Heiligung gerichtet werden.«

Während der zweite Vorschlag der Heiligung, also die praktische Anwendung der »reglen Christi«, wie es oben hieß, im alltäglichen Leben, an anderer Stelle Beachtung finden wird (vgl. V.2.4.2) ist hier vor allem die pietistische Sonderstellung der H. Schrift auch im Bereich des Theologiestudiums besonders als Reformvorschlag hervorzuheben: Bereits in 2.1 und 2.2.1 des vorliegenden Kapitels war deutlich geworden, dass im Pietismus der Heiligen Schrift eine Zentralstellung eingeräumt wurde, die in dieser Form vorher nicht derart betont wurde. Nicht nur die berufenen Prediger sollten sich vor allem in der Bibellektüre üben, sondern ebenso wurde den Laien – Männern wie Frauen – dieses sowohl als Recht als auch als Pflicht angetragen. Auch in den Vorschlägen zur Behebung des »verderben[s] der Academien«189 kommt der spenerschen Zielsetzung, das »Wort Gottes reichlicher unter die Menschen« zu bringen, zentrale Bedeutung zu. Zwar überließ es Spener dem Gutdünken und der Phantasie der einzelnen Professoren, Möglichkeiten zu finden, das Theologiestudium neu an der Heiligen Schrift auszurichten und es als »habitus practicus« zu verankern, indem etwa auch das Gemüt der Studierenden angesprochen werden solle; für Spener ist die Theologie »eine Wissenschaft, in des es um ›experienz‹ und Erfahrung geht«190. Als Beispiel für eine solche Maßnahme schlug er die Übertragung des Collegium-Prinzips auf den universitären Bereich vor : »Sollte ich erlaubnuß haben einen vorschlag zu thun / so würde ich folgendes vor dienlich achten: daß ein fromer Theologus die sache anfangs mit nicht gar vielen / aber solchen unter der zahl seiner Auditorum, anfienge / bey denen er bereits eine hertzliche begierde / rechtschaffene Christen zu seyn / bemerckte / und also mit ihnen das N. Testament vorneme zu tractiren / daß sie ohngesucht einiges / so zu der erudition gehört / allein darauff acht geben / was zu ihrer erbauung diensam: Und zwar / daß sie selbsten die erlaubnuß haben / jeglicher jedesmahl zu sagen / was ihn von jeglichem versicul deuchtet / und wie er denselben zu eigenem und anderer gebrauch anzuwenden finde / da der Professor als Director was wol beobachtet / mehr bekräfftigen / wann er aber von dem rechten zweck sie abzuweichen sihet / denselben freundlich und

189 Spener, Warhafftige Erzehlung, 7. 190 Sträter, Zum Verhältnis des frühen Pietismus zu den Naturwissenschaften, 90.

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klärlich auß dem Text zeigen / und in was gelegenheit diese oder jene Regel in die übung zu bringe / weisen würde. […].«191

In die Praxis umgesetzt wurde dieser Vorschlag etwa durch Francke192 und Schade – die hierdurch bekanntlich die Leipziger Unruhen der Jahre 1689 / 90 maßgeblich auslösten. Die im Zusammenhang der ›collegia philobiblica‹ befragten Zeugen betonten denn auch, dass es den ›Rädelsführern‹ lediglich darum gegangen sei, dass (beispielsweise durch die Philosophie) kein »abusum« getrieben würde.193 Dem entsprechend sei es in den Collegia Franckes und Schades immer vor allem um praktische Schlüsse gegangen194 – um die Übung des »habitus practicus«. An anderer Stelle ist zudem der Vorschlag zu finden, die Heilige Schrift besonders im akademischen Bereich mehr in den Mittelpunkt zu stellen, indem die alten Sprachen, vor allem das Griechische, vornehmlich anhand biblischer Texte gelehrt würden, denn hierfür müssten auch in der Philosophie keineswegs immer nur heidnische »Profan-Scribenten« herangezogen werden.195 Die 21. Frage, die den Zeugen für die Leipziger Collegia gestellt wurde, lautete: »Ob sie [Francke, Schade etc., d. Vf.] ihre Auditores auff das Lesen der Bibel alleine führeten / und vorgäben / der hätte genug / und dürffte sich in andern Büchern nicht umbsehen?«196 Die hierauf gegebenen Antworten sind zwar teilweise widersprüchlich, einig allerdings darin, dass die Moderatoren der Collegia keine Alleinstellung der Bibel gefordert, wohl aber das Schwergewicht hierauf gelegt hätten.197 Francke selbst antwortete auf die Frage, »die Schrifft wäre gnug zur Seeligkeit; er schliesse aber von dem Studio Theol. andere Bücher nicht auß / sondern recommendire sie viemehr.«198 Die Wissenschaften mitsamt ihren Methoden erfuhren im Pietismus keine Geringschätzung, dies kann an dieser Stelle also betont werden. Auch zählte auf keinen Fall die Destruktion oder die vollständige Umstrukturierung der Universitäten zu den erklärten pietistischen Zielen. Dagegen durchaus beabsichtigt war die Relativierung der Bedeutung der »Hilfswissenschaften« und ihrer Methoden gegenüber der Theologie als Königsdisziplin sowie deren Neubesinnung auf ihre eigentlichen Ziele, wozu die Vorbereitung der Studierenden auf ihr 191 Spener, Pia Desideria, 146, vgl. aber auch die Fortsetzung auf den folgenden Seiten. 192 Francke führt sich selbst als Negativbeispiel für ein fehlgeleitetes Theologiestudium an, wie er in seinem Lebenslauf schildert; vgl. auch die Skizze der Ereignisse bei Peschke, Bekehrung und Reform, 13 ff. 193 Vgl. Gerichtliches Leipziger Protocoll, 19. 194 Vgl. ebd., 15. 195 Vgl. Unmaßgebliches Bedencken Von denen also genandten PIETISTEN Und COLLEGIIS PIETATIS, Bl. 5. 196 Gerichtliches Leipziger Protocoll, 20. 197 Ebd., 20. 198 Ebd., 38.

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späteres Amt gehörte, insbesondere aber deren Konzentration auf die Heilige Schrift. Dies sollte durch die besondere Hervorhebung der Bedeutung exegetischer Handwerkszeuge genauso erfolgen wie durch häufige Erbauungsübungen, wie sie in den Collegia praktiziert wurden. Zur Verdeutlichung noch eine Passage aus dem Leipziger Protocoll: »Was in solchen Collegiis vorbringen? […] 2. [bezeichnet den 2. Zeugen, d. Vf.] S. Meistens Practica, so ad pietatem dieneten / und Philologica. 3. S. Er hätte Zeithero bey M. Francken und M. Anthoni Collegia gehalten / da sie einen gewissen Text vorgenommen / selbigen exegeticÀ tractiret / darauß sensum literae&literalem, und hernach usum ad mores&vitam gezogen. […] 6. S. In dem Collegio, darinne er gewesen / hätten sie lauter pia tractiret / porismata herauß gezogen / und ad Theologiam practicam appliciret.«199 Diese existentielle Orientierung an der Heiligen Schrift und die aus ihr für das alltägliche Leben abzuleitenden »reglen« – den »usum ad mores&vitam« – stellt in der pietistischen Anschauung notwendig das Leitmotiv des Theologiestudiums dar. Dass diesem biblischen Existentialismus die Theorielastigkeit des überkommenen Theologiestudiums, die sich in der Hochschätzung des spitzfindigen Disputs, der rhetorisch ausgefeilten Gelehrtenpredigt oder das sklavische Verharren auf den traditionellen Lehrwerken (den Systemata Theologica) schlichtweg zuwider war, liegt auf der Hand. Die pietistische Entgegnung lag in der Neubesinnung auf die christliche Praxis. Hierbei spielt einerseits die spätere Berufspraxis zukünftiger Geistlicher eine große Rolle, andererseits aber auch deren eigenes Leben, dass spätestens im Studium in die rechte Bahn gebracht werden sollte, um später, in der Funktion als ›Hirten‹ vor allem auch mit gutem Beispiel voran zu gehen. Zentral war die »notwendige Verknüpfung von rechter Lehre und persönlicher Glaubwürdigkeit, von Glauben und Leben, von Theorie und Praxis«200. Ein weiteres bedeutendes Element vor allem im Umgang mit der Heiligen Schrift, das sich in der gegnerischen Bezichtigung des Antiintellektualismus, auch über den wissenschaftlichen Bereich hinaus, ausdrückte, war die pietistische Betonung der Einfalt. So geißelten pietistische Autoren die rhetorisch ausgefeilten Predigten vieler Geistlicher, die an der Realität ihrer Zuhörer gänzlich vorbei gingen und somit zu deren Seelenheil nicht beizutragen vermochten.201 Stattdessen wurde dem auch hier die Bedeutung des Heiligen Geistes entgegen gesetzt. Ebenso aber wurde hervorgehoben, dass das Bibelstudium 199 Es handelt sich um die achte Frage sowie die hierauf vorgebrachten Antworten; ebd., 15. 200 Martin Brecht, Für eine geistliche Theologie. Zur Theologiekritik des Pietismus, dargestellt an den Reformforderungen Philipp Jakob Speners, in: Una Sancta (1975), 313 – 325, hier : 314. 201 Vgl. etwa Spener, Pia Desideria, 150; ders., Evangelische Lebens = Pflichten. Ander Theil, 589; Unmaßgebliches Bedencken Von denen also genandten PIETISTEN Und COLLEGIIS PIETATIS, Bl. 16.

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einfältig betrieben werden müsse, wobei dies für angehende Geistliche ebenso gelte wie für Laien. Francke polemisiert gegen jene, die aus unlauteren Gründen die Bibel studieren: »Oder wenn man nur zu dem Ende die heilige Schrifft für sich nimmt / daß man Schrifft-gelehrt werde / und vieles Wissen erlange […] Und dieses ist heute zu Tage vieler Gelehrten Zweck / welche dann der Schrifft-Meister seyn wollen / und wissen nicht was sie sagen / oder was sie setzen / 1. Tim. I.7. Ja auch durchaus ist dieses die verkehrte Art der Menschen / daß sie sich in der heiligen Schrifft mehr auff unnütze Fragen / oder hohe Geheimnisse befleißigen […] Wo einer nun diese obberührte / oder sonst dergleichen falsche Absichten in seinem Hertzen hat / warum er die heilige Schrifft lieset / der kann mit aller seiner Schrifftgelehrsamkeit in den Grund der Höllen verdammet werden / wenn er gleich die gantze Schrifft auswendig lernet. So bringe dann ein jeder 2. Zur Lesung der heiligen Schrifft ein recht einfältiges Hertze / daß ist / ein auffrichtiges und ungeheucheltes Verlangen / daß er durch die heilige Schrifft möge unterwiesen werden zu seiner Seligkeit […].«202

Auch in seinem kurzen Text Philotheia oder Die Liebe zu Gott, in der er sich an die Jugend in den Schulen des Waisenhauses wendet, betont er, dass alles Lernen ohne die Liebe Gottes müßig sei, alles Wissen – er spricht von »äußerlichen Wissenschaften und Sprachen« – nichts hilft.203 Der innerkirchliche Pietismus wurde von seinen Gegnern letztlich zu Unrecht als wissenschaftsfeindlich oder antiintellektualistisch bezeichnet, da sein Anliegen, besonders die Theologenausbildung praxisorientierter und vor allem bibelzentrierter zu gestalten wohl entweder missverstanden oder (bewusst) überinterpretiert wurde. Der Quellenbefund verbietet es, diese Orientierung an der existentiellen Wirklichkeit des seelsorgerlichen Amtes, in das die Heilige Schrift neu eingebettet werden muss, schlicht als Ablehnung der Wissenschaften, vor allem der Theologie, zu werten, auch, wenn der Erfahrung, dem Innerlichen ein wesentlich höherer Wert beigemessen wird als in der die Bewegung umgebenden lutherischen Orthodoxie.204 Auch dieser Aspekt pietistischer Frömmigkeit kann als Beleg für das »gleichsam dialektische Verhältnis von re-

202 August Hermann Francke, Einfältiger Unterricht Wie man die H. Schrifft zu seiner wahren Erbauung lesen solle. (1694, 16952) 1702, ediert in Erhard Peschke (Hg.), August Hermann Francke. Schriften zur biblischen Hermeneutik I, Berlin, New York 2003, 118 – 125, hier : 120 f. 203 August Hermann Francke, Philotheia die Liebe zu Gott. Der Jugend in den Schulen des Waysenhauses zu Glaucha an Halle, als ihre allerhöchste und theureste Pflicht, nach gehaltenem Examine, den 20. Martii 1706, in: D.G. Kramer (Hg.), A.H. Francke’s Pädagogische Schriften. Nebst der Darstellung seines Lebens und seiner Stiftungen, Langensalza 2 1885, 98 – 106, hier : 106. 204 Ebd., 314 f. belegt allerdings, dass es auch im orthodoxen Vorfeld zumindest theoretisch vergleichbare Bestrebungen gab.

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ligiöser Erfahrung und theologischer Reflexion«205, das in der pietistischen Frömmigkeit vorherrscht, angesehen werden. Gerade in den Äußerungen führender Vertreter der Bewegung hinsichtlich des Verhältnisses gegenüber den Wissenschaften wird so die zentrale Bedeutung der Erfahrung als Ausdruck des Innerlichen deutlich, was wiederum in der Zentralstellung der Heiligen Schrift kumuliert. Für eine rein als menschliche Wissenschaft verstandene Theologie ergeben sich in göttlichen Dingen allzu deutlich Grenzen, welche die natürliche Vernunft nicht zu überwinden vermag. Der Pietismus betont dementsprechend die Bedeutung der Erfahrung als notwendige Ergänzung.206

2.2.4 Freies Gebet vs. »Gebetsformulen« Zwar waren nicht allzu viele Passagen zitiert worden, in denen von orthodoxer Seite den Pietisten vorgeworfen wurde, sie würden hinsichtlich der überkommenen frömmigkeitstheologischen, auch erbaulichen, Standardwerke – Gesangbücher, Gebetbücher – mit der Tradition brechen; dennoch ist es an dieser Stelle wichtig, diesen Behauptungen nachzugehen, da sich hierhinter ein Aspekt pietistischer Frömmigkeit verbirgt, der nahtlos an die sich bis hierher aufzeigende Tendenz anschließt. Bezüglich der traditionell gebrauchten Kirchenlieder war über die Pietisten des Ortes Kelbra geschrieben worden, sie würden die »ordentlichen Melodeyen der Lieder« derartig abwandeln, dass diese eher einem Gebet denn einem »ordentlichen« Lied ähnelten (s. o., V.3.2.4). Zu diesem Vorwurf finden sich auf pietistischer Seite keine Stellungnahmen, was vermuten lässt, dass es sich um eine regionale Besonderheit der Pietisten in Kelbra gehandelt haben könnte. Nur rein hypothetisch lässt sich, wenn man den Vorwurf ernst nimmt, vermuten, dass die Kelbraer Pietisten sich durch die Umwandlung der Gesänge in Gebetsform von der mechanisierten und somit äußerlichen Form lösen wollten. Da die Spur durch die fehlenden pietistischen Belege im Sande verläuft, kann sie allerdings nicht weiter verfolgt werden. Anders sieht es mit dem häufiger angebrachten Vorwurf aus, die auch im lutherischen Umfeld noch weit verbreiteten Gebetbücher würden durch die Pietisten verworfen, welche stattdessen nur das spontane Herzensgebet propagieren würden: Zum einen tauchte dieser Vorwurf häufiger auf, zum anderen finden sich hierauf durchaus pietistische Repliken. Zunächst zu dem Vorwurf der Verwerfung der Gebetbücher : Auch, wenn 205 Greschat, Christliche Gemeinschaft, 306. 206 »Die ratio der Theologie ist eine andere als die der Philosophie und der übrigen Wissenschaften, in denen Verstand, Fleiß und Bildung den Ausschlag geben.« Brecht, Geistliche Theologie, 320.

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beispielsweise weder Spener noch Francke die »Betbücher«, Sammlungen von Gebeten häufig mit Formularcharakter, die sich seit dem frühen Mittelalter vor allem im monastischen Bereich entwickelt hatten und sich über verschiedene Stufen bis hin zu den im 17. Jahrhundert im lutherischen Protestantismus verwendeten »Sammelgebetbücher[n]«, welche »die Gesamtheit möglicher Gebetszeiten, Anlässe und Anliegen in systematischer Anordnung zu erfassen suchten«207 entwickelten, explizit verwarfen, so wird doch deutlich, dass sie beide nicht eben große Freunde der vorformulierten Gebete waren. »Thut auch sehr viel / wo man sich auß dem eigenen hertzen zu beten gewöhnet. Zwar ists nicht unrecht / wann ein mensch auch gebete auß büchern lieset / oder solche herbetet / die er außwendig gelernet hat / wo sie sich nur auch eigentlich auff ihn und seinen zustand schicken / ja es bedarff zuweilen ein sonsten auch geübter beter einiger dergleichen auffmunterung.«208

Der Gebrauch von Gebetbüchern oder auch auswendig gelernten Gebeten ist demnach ratsam als »auffmunterung«, also als Anhaltspunkt oder Beispiel für ein situationsgerechtes Gebet (»auff ihn und seinen zustand«), allerdings sei es viel wichtiger, »auß dem eigenen hertzen zu beten« als die rechte Form zu wahren, da den wirklichen Seelenzustand des Beters niemals ein vorformuliertes Gebet erfassen könne: »Indessen ists ein trefflicher vortheil / wo sich ein Christ gewöhnet / auß seiner eigenen seele vor GOtt meistens ohne gewisse formuln zu beten ; dann da in den außwendig gelerneten gebeten die gedancken leichter außschweiffen / so bleibet hingegen die andacht viel besser beysammen / wo man auff seine gedancken und wort / die man reden soll / acht geben muß. So wird auch keiner nimmermehr in einigem buch allezeit solche gebete finden / welche sich so eigentlich auff seinen stand und anligen jedesmal schicken wie diejenige / die einer von selbsten vor GOtt außschüttet.«209

Zudem sei die im Gebet notwendige Andacht bzw. Konzentration bei einem vorformulierten Gebet schwieriger aufrecht zu halten als bei einem spontan formulierten. Auch hinsichtlich des Gebetes tritt die pietistische Betonung der Innerlichkeit hervor, die gewiss als Entsprecheung zur chassidischen Kawanna verstanden werden kann. Es sei explizit darauf hingewiesen, dass hier, in der Predigt Speners, vor allem Laien als Adressaten zu denken sind. Hinzu kommt noch der zum freien Beten ermunternde Nachtrag, dass auch einfache Menschen – Laien – sich nicht zu schämen bräuchten, wenn ihr Gebet nicht wohl klinge oder schlicht gestrickt sei, solange es nur aus ihrem tiefsten Inneren komme, 207 Frieder Schulz, Art. Gebetbücher III, in: TRE Bd.12, 109 – 119, hier: 115. 208 Philipp Jakob Spener, Am Sontag Rogationum. Gottgefälliges gebet. Evangel. Joh.XVI, 23.–33, in: ders., Die Evangelische Lebens = Pflichten, 621 – 644, hier : 638. 209 Ebd.

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»dann sie müssen wissen / sie haben vor GOtt und mit ihm zu reden / wie ein kind mit seinem leiblichen vater : je hertzlicher nun sie ihre noth vor ihm außschütten / als wann sie es einem leiblichen vater klagen wollten / ob auch die worte nirgend an einander hängen wollten / ist doch dergleichen gebet GOtt angenehm / ja wol meistens gefälliger / als wo sie die allerzierlichste wort ohne gleiche andacht außzusprechen lernen.«210

Beinahe Identisches findet sich bei den angeklagten Pietisten in Leipzig. Im Verhör beantworteten von den sieben Zeugen sechs die Frage »Ob sie statuiret / daß man sich mit gutem Gewissen der Gebet = und Gesang = Bücher nicht bedienen könne?« negativ (»Nesciunt, und nichts gehöret.«)211, während der siebte antwortete: »Nicht verworffen / sondern beyde hätten gesaget / gleichwie ein Kind vor sich könnte Worte machen / den Vatter etwas zu bitten / also könnte auch ein Mensch vor sich selbst Worte machen / GOTT zu bitten.«212 Auch hier also wurde den Collegiumsbesuchern das freie innerliche Gebet angeraten, selbst wenn die äußere Form zu wünschen übrig ließe. Erläuterndes findet sich bei Francke in seinen an die »Eltern und Informatoribus« gerichteten Instruktionen zur christlichen Erziehung. Auch für ihn waren letztlich vor allem Gewohnheit und fehlende Andacht die Widersacher des Gebetes, nur aus diesem Grund riet er auch nicht zu Gebetbüchern: »Daher siehet man, wie die meisten ihr Gebet vor und nach Tische, morgens und abends, ohne alle Andacht, auch wohl darzu mit großer Frechheit, ja gar mit Untermischung anderer Geschäfte, bloß nach der Gewohnheit dahin sagen, und wann sie gebetet haben, sich kaum selbst dessen zu erinnern wissen, und wohl andere fragen, ob sie gebetet haben, denen man auch wohl sicher mit Nein antworten möchte […] Doch lassen es viele bei solchen auswendig = gelerneten und ohne Andacht recitirten […] Gebetsformulen bewenden. Die aber weiter gehen wollen, lesen wohl noch in einigem Gebetbuche, so doch aber auch bald auf eine kaltsinnige Gewohnheit hinaus zu laufen pfleget. Die wenigsten lernen ihr Herz, und was etwa dasselbige drücket, selbst vor Gott ausschütten […].«213

Nicht die Gebetsformulare per se, wie sie in den Gebets- und Gesangbüchern zur Verfügung standen, sind verpönt, sondern die gewohnheitsmäßige, unbewusste Verwendung der Vorlagen, wie sie in den auswendig gelernten Gebeten zu Tisch oder abends verwendet werden, geißeln Spener und Francke, auch, wenn durch das spontane Formulieren des Gebets, das ja die einzige Alternative darstellt, »das sprachliche Niveau leiden« kann, »indem die Gefahren der Trivialität, 210 211 212 213

Ebd. Vgl. Gerichtliches Leipziger Protocoll, 21. Ebd. August Hermann Francke, Kurzer und einfältiger Unterricht, wie man die Kinder zur wahren Gottseligkeit, und Christlichen Klugheit anzuführen sind, o.O.u.J., in: D.G. Kramer (Hg.), A.H. Francke’s Pädagogische Schriften. Nebst der Darstellung seines Lebens und seiner Stiftungen, Langensalza 21885, 15 – 90, hier: 39.

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Banalität oder der Versatz abgeschliffener frommer Formeln und Floskeln drohen.«214 Hinsichtlich der frömmigkeitlichen Tendenz allerdings interessiert vor allem die Frage, wodurch sich nach ihrer Vorstellung demgegenüber das gute Gebet auszeichnet. Wieder soll zunächst bei Spener nachgesehen werden. Wichtig bei ihm ist, dass, da der Beter es mit der allerhöchsten Macht zu tun hat, alles »mit größtem bedacht« getan werden müsse215, wozu zählt, dass man bedenke, dass Gott auch das Herz beachtet. Deshalb müssten wir »ein brünstiges Feuer glaubiger andacht in uns fühlen«, damit »unsere gebet ihm gefällig seyen.«216 Beten dürfe deshalb nicht »nur so ein herzehlen einiger worte allein« sein, sondern die innerlichen Vorgänge seien wesentlich bedeutsamer als das, was man mit dem »äußeren Ohr« hören könne.217 In einem Zehnpunkteprogramm fasst Spener das »Gottgefällige gebet« zusammen218 : Zunächst müsse der Beter selbst gottgefällig sein, was in der Spenerschen Terminologie bedeutet, dass er bußfertig sein müsse. Zweitens müsse das Gebet im Glauben geschehen. Drittens solle das Gebet in großer Demut erfolgen, »daß man hingegen sein Hertz zu einer tieffen ehrerbietung vor GOTT neige«; »Da ist nichts besseres / als sich seine nichtigkeit vor augen stellen […].« Obwohl sich die Demut auch in äußeren Gebärden zeigen müsse, habe man sich aber vor Heuchelei oder dem Aberglauben, dass nur das Gebet auf den Knien wirksam sei, zu hüten. Tief im Menschen müsse empfunden werden, dass alle Menschen »arme erd = würme« seien. Zentral sei dann viertens, dass das Gebet mit Andacht geschieht: Jederzeit müsse sich der Beter auf das konzentrieren, was er betet, weshalb auch das Gebet in einer Sprache geschehen solle, die er versteht. Doch die reine Konzentration sei nicht ausreichend, vielmehr müsse das Gebet (fünftens) »mit eyfer und warhafftigen Verlangen deßjenigen / was wir bitten« geschehen, »damit nicht bete allein der Mund / sondern daß es gehe auß hertzens grund.« Bitten sollten allerdings sechstens nur mit »geziemender Bescheidenheit« angebracht werden – es solle nur erbeten werden, was zur Ehre Gottes und des Seelenheils des Beters notwendig ist. Hierzu dürfe dann durchaus auch das leibliche Wohl gezählt werden, allerdings sei es (siebtens) wichtig, mit »geziemender Ordnung das Gebet zu führen, kurzum: Um Gottes Ehre und unser Seelenheil müssen wir häufiger beten als um unser leibliches Wohl. Als gutes Beispiel hierfür führt Spener das Vaterunser an. 214 Martin Brecht, Die Frömmigkeit des Pietismus, Bad Oeyenhausen 2003, 15. 215 Vgl. Spener, Gottgefälliges gebet, 625; auf Anhieb fallen chassidische Formulierungen etwa in Tzava’at Harivasch ein, die dazu auffordern, jedes Gebet mit so großer Andacht zu beginnen, dass es möglicherweise das letzte ist. 216 Ebd., 622. 217 Vgl. ebd., 624 ff. 218 Zum Folgenden vgl. ebd., 626 ff.

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Nicht vergessen werden dürfe (achtens) die Fürbitte für die Mitmenschen, für die Spener exemplarisch Heiden, Prediger und die Obrigkeit anführt. Das Gebet müsse zudem »beständig und unaufhörlich« sein, »wann man unter allen seinen andern verrichtungen vor und zwischen denselbigen betet / ein und andern seuffzer zu Gott schicket […]« (neuntens). Abschließend dürfe die Danksagung nicht versäumt werden. All diese umfangreichen Anforderungen lassen leicht verstehen, warum sich nicht wenige an die bereits vorliegenden »Gebetsformuln« gehalten haben werden, denn selbst mit der Bereitschaft, mit Gott »wie ein kind mit seinem leiblichen vater« zu sprechen bleibt doch recht viel zu beachten. Kaum kann deshalb bei Spener die Rede sein von der Propagierung eines spontanen Gebetes. Tatsächlich findet sich bei ihm der Hinweis, dass das Gebet früh genug vorbereitet werden müsse, indem der Beter etwa sein Vorhaben bereits im Vorfeld reflektiert, ja sogar das präparierende Fasten schlägt er vor.219 Hans-Jörg Nieden weist zudem nach, dass gerade bei Spener dem temporalen Moment große Bedeutung zu kommt: »Ausgehend von den neutestamentlichen Monita Lk 18,1 und insbesonders 1. Thess 5,17 […] rügt Spener […] denjenigen, der ›nur etwa des tages zu gewissen zeiten / morgends / abends / und bey den mahlzeiten betet / die übrige zeit aber an das gebet gar nicht gedencket‹ und übt damit Kritik an einem selbstgenügsamen Vollzug des turnusgemäßen Betens.«220 Der Pragmatiker und Pädagoge August Hermann Francke bietet in seinem Oeuvre verschiedene Werke, in denen er zum rechten Gebet anleitet. Stellvertretend für diese soll im Folgenden die Position aufgezeigt werden, die er in der Anweisung zu Beten aus dem Jahr 1695 einnimmt.221 Auch Francke war sich bewusst, dass viele Menschen falsch beteten: »Wie Glaub und Liebe unter denen Christen mehrentheils verloschen ist / also ist auch das warhafftige Gebeth bey wenigen zu finden.«222 Eine Vielzahl von Gründen 219 Vgl. ebd., 637 f. 220 Hans-Jörg Nieden, Herzenseinkehr. Zum Beten in Mönchtum und Pietismus, in: HansJörg und Marcel Nieden (Hgg.), Praxis Pietatis. Beiträge zu Theologie und Frömmigkeit in der Frühen Neuzeit, Stuttgart 1990, 135 – 149, hier : 148. 221 August Hermann Francke, Schrifftmäßige Anweisung recht und Gott wolgefällig Zu beten Nebst hinzugefügten Morgen = und Abend Gebetlein und einem kielischen Respons[] Die Gewissheit und Versicherung der Erhörung des Gebets betreffend, Halle 1695. Es wird das Exemplar 4H10 der Bibliothek der Franckeschen Stiftungen zitiert, das eingebunden ist mit dem erwähnten Responsum der hochlöbl. Theolog. Facultät auf der hoch = Fürstl. Hollsteinischen Universität Kiel / Die Gewissheit und Versicherung der Erhörung des Gebets betreffend / in einem besonderen Casu, auf vorhergegangene Anfrage ausgefertiget Anno 1685 und zu allgemeiner Erbauung zum Druck befördert Anno 1695. Wallmann, PietismusStudien II, 303. weist darauf hin, dass es sich bei diesem Text um einen der ersten handelt, die Francke in Halle herausgab und der auch im 18. Jh. diverse Auflagen fand. 222 Francke, Schrifftmäßige Anweisung, 30; das »I. Capitel« handelt rein von dem »grossen Greuel und gar verderbten Zustande«.

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kann nach Francke hierfür angeführt werden, u. a. beispielsweise, dass sich viele Menschen des Betens schämen oder die Kirche für den einzigen rechten Ort des Betens halten223 oder dass sie andere Ablenkungen höher schätzen (etwa ihre »Hurische Romane«).224 Auch Gebetbücher oder auswendig gelernte Gebete machte er für den Niedergang des rechten Betens verantwortlich – allerdings, ganz im Sinne Speners, nicht per se, sondern durch ihren falschen Gebrauch: Dann nämlich, wenn es »auff eine bloße äusserliche Gewohnheit und Mund geplapper hinauß« liefe.225 Zwar war auch er der Meinung, »daß in denen Gebet = Büchern mannichmahl zwar die Gebete selbst auf die rechten und gehörigen Zufälle gerichtet« seien, häufig jedoch seien sie nicht im Sinne des Geistes abgefasst, »ob dieselben wohl an sich selbst gut und unverwerflich wären.«226 Auch hier ist also keine grundsätzliche Verachtung der Bücher nachweisbar, jedoch äußert er Kritik sowohl an der mangelnden Individualisierung der Gebetsformulare als auch an der ungenügenden Andacht des Lesers. Das zweite Kapitel wendet sich der Frage zu, »wie man sich von der heuchlerischen und Heydnischen Weise zu beten zu einem wahren Gott wohlgefälligen Gebet wenden / und einen rechten Grund dazu legen soll.«227 Wie bei Spener, so stand auch bei Francke die initiale und permanente Selbstprüfung im Mittelpunkt, wobei »nicht zu läugnen ist / daß es im Anfange einen Menschen ungewohnet und beschwerlich fürkommet / sich bey allen seinem Thun zu prüffen / ob es aus einem warhafftigen Grunde oder aus Heucheley herkömmet.«228 Wer »Gott wolgefällig« beten lernen möchte, müsse bei sich selbst beginnen und sich seines elenden Zustandes bewusst werden: »frage nicht / wie du so oder so sollest beten lernen / sondern frage vielmehr / wie du sollest Buße thun? Ist dirs darum ein rechter Ernst / und beginnest nur den Zorn Gottes über deine Sünde recht zu fühlen / O wie wird dir solche Gewissens = Angst / und solch geängstigtes und zerschlagenes Hertz ein so guter Lehrmeister seyn / und dich gleichsam das ABC vom rechten wahrhaftigen Gebet lehren.«229

Allerdings wollte Francke nicht nur mahnen, indem er die Latte für das Individualgebet allzu hoch hängte, sondern eben auch zum Beten ermuntern. Niemand sollte sich von vermeintlicher Unfähigkeit vom Gebet abhalten lassen: »Gedenckest du: Ich weiß ja die Worte nicht so zu machen / und wenn ich gleich bete / so hengets doch nicht recht an einander / und kommet mir alles zu albern und 223 224 225 226 227 228 229

Vgl. ebd., 35. Vgl. ebd., 44. Vgl. ebd., 69. Vgl. ebd., 77 f. Ebd., 149. Ebd., 160. Ebd., 176 f.

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untüchtig für ; so laß dich doch ja solchen Einwurff deiner thörichten Vernunfft nicht davon abhalten. Genug / wenn dein Hertz treu und auffrichtig gegen GOtt ist. GOtt siehet nicht / wie ein Mensch auff die Geschicklichkeit der Worte / sondern er siehet das Hertze an.«230

Hier lässt sich auch in einer Nuance ein Unterschied feststellen zwischen Spener und Francke: Betonte jener die Wichtigkeit der Ausrichtung der Konzentration auf die gesprochenen Worte, so hielt dieser die sich hierin äußernde Vernunft zwar nicht für verkehrt, achtete jedoch die Reue und das hieraus resultierende Leid höher hinsichtlich der zentralen Beterhaltung.231 Dies wird sich mit dem franckesche Drängen auf Bekehrung begründen lassen (siehe V.2.4), der sein eigenes Bekehrungserlebnis unter großen Anstrengungen erfuhr und auf dieser Erfahrung aufbauend den für die pietistische Bekehrung (zumindest in Halle) typischen Bußkampf gleichsam institutionalisierte. Wie Spener allerdings hob auch Francke hervor, dass das beste Gebet das beständige sei, der Beter solle in einem »stetigen andächtigen Gebet« verharren.232 Auch er schlug vor, im Zweifelsfall die Gemeinschaft zu suchen. Wie bereits eingangs erwähnt verwarf auch Francke nicht die »Gebets = Formuln« an sich, er lieferte sogar jeweils am Ende der einzelnen »Capitel« selbst vorformulierte Gebete; jedoch war er sich darüber im Klaren, »daß kein Gebet schwerer ist mit beständiger Auffmercksamkeit des Hertzens zu beten / als was man auswendig gelernet hat« oder was man liest, da dies schnell dazu führe, dass das Gebet »kaltsinnig hingesprochen« wird233 – adäquat zu Speners Formulierung des »herzehlen[s]«. Die skizzierten Positionen können durchaus als typisch für den frühen Pietismus234 betrachtet werden, in dem »auf die üblichen Gebetbücher nahezu völlig verzichtet wurde und das freie Gebet wieder in den Vordergrund trat«.235 Das Gebet muss aus dem Herzen kommen, das ist der zentrale Aspekt. Mithilfe von »Gebets = formuln« ist dies zwar möglich – besonders Francke empfiehlt häufig, möglichst viele Psalmen auswendig zu lernen, um mit der Hilfe von Versen als Versatzstücken ein gefälliges Gebet zu formulieren – im Großen und Ganzen allerdings wird die Übung des freien Gebetes propagiert, vor allem, weil hierdurch am einfachsten dem gewohnheitsmäßigen ›Herunterbeten‹ gewehrt werden kann. Hinzu kommt, dass nur in dieser individualisierten, persönlichen Form ein Gebet wirklich den Ansprüchen und Anfordernissen des Beters ge230 231 232 233 234

Ebd., 198 f. Ebd., 245 ff. Ebd., 265. Ebd., 293. Schulz weist darauf hin, dass sich dies im 18. Jh. änderte, vgl. Schulz, Gebetbücher III, 116 f. 235 Francke, Schrifftmäßige Anweisung, 288.

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recht werden kann, sei es hinsichtlich seines Standes oder seines seelischen Status. Wie gezeigt wurde, bedeutet dies keinesfalls, dass Spener oder Francke mit dem ›Herzensgebet‹ in ihren Anleitungen das spontane Gebet meinten; »das freie Gebet ist für Spener, und hier dürfte er sich vom durchschnittlichen Spiritualismus unterscheiden, kein spontanes Gebet. Spener hat seine Gebete, die privaten in der Hausandacht und die seinen Predigten angefügten Gebete, sehr sorgsam ausgearbeitet.«236 Gleiches gilt für Francke, der die büßende Reflexion vor das eigentliche Gebet stellte und so die einleitende Meditation quasi zur Pflicht machte. Falsch wäre es, hinter diesem Bemühen etwas grundsätzlich Neues anzunehmen, allenfalls das pragmatische Anleiten zur Eigenständigkeit – auch für Kinder – kann wiederum als neu aufgefasst werden. Vielmehr bemühten sich Spener und Francke gleichermaßen, ihre Orthodoxie zu belegen, indem sie ihre Orientierung an Luther belegen, der ebenso wie sie mit den vorformulierten Gebeten haderte.237 Ihnen ging es auch beim Gebet darum, eine oftmals um ihrer selbst willen überhöhte Institution wieder zu relativieren. Dies taten sie, indem sie deren Menschengemachtheit betonten und aufzeigten, welche Missbräuche hieraus geschehen könnten – und zur Genüge geschahen. Der Institution wird eine, an den Idealen Urgemeinde und Bibel orientierte, personalisierte, d. h. am Individuum oder der Kleingruppe ausgerichtete Form entgegengesetzt, deren Wert von außen objektiv kaum bewertbar ist. Die dem entgegneten pietistischen Schlagwörter sind rein subjektiver Natur: »mit größter andacht«, »brünstiges Feuer glaubiger andacht in uns fühlen«, »Dehmut«, »Ehrerbietung, »aus hertzens grund« – Begriffe, die betonen, dass auch das Gebet als pietistische Frömmigkeitspraxis von einem selbstreflexiven, vor allem aber selbstkritischen Individuum ausgeht, die Form hingegen zweitrangig ist. Die andächtige Geste etwa kann Ausdruck der Innerlichkeit sein; ob dem so ist, muss der Betende ständig selbst überprüfen, damit sein Gebet weder »Heucheley« noch »heydnisch« ist. Dem Gebet eignet als Charakteristikum im Besonderen, was Martin Brecht als »eines der organisierenden Zentren pietistischen Exisitierens und Agierens« im Allgemeinen ausmacht: »die religiöse Wahrnehmung des eigenen Ichs sowie des Menschen überhaupt«238(vgl. VI.3).

236 Wallmann, Pietismus-Studien II, 299. 237 Vgl. Schulz, Gebetbücher III, 109 f; trotz Luthers vehementer Abneigung (»Unter anderen viel schedlichen leren und büchlin / damit die Christen verfuret vnd betrogen / vnd unzeliche misglauben auff komen sind / acht ich nicht für die wenigsten / die bettbüchlein […]«, zitiert ebd., 109), veröffentlichte auch er selbst ein Betbüchlein (1536). 238 Martin Brecht, Zwischen Schwachheit und Perfektionismus. Strukturelemente theologischer Anthropologie des Pietismus, in: Udo Sträter u. a. (Hgg.), Alter Adam und Neue Kreatur. Pietismus und Anthropologie. Beiträge zum II. Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2005, Tübingen 2009, 63 – 85, hier : 63.

272 2.3

Fromm sein aus pietistischer Sicht

Entzückung und Begeisterung

Mit den Schlaglichtern »Entzückung« und »Begeisterung« öffneten die Autoren diverser Antipietistica vor allem aus den frühen 1690er Jahren den Blick für ein weiteres Feld, das sie als bezeichnend für die pietistische Bewegung ansahen: die unmittelbare Geisterfahrung. Es hatte sich gezeigt, dass in den zeitgenössischen antipietistischen Schilderungen zwar keine terminologisch scharfe Abgrenzung erfolgte, inhaltlich aber sehr wohl eine Unterscheidung von rein ekstatisch-visionären Zuständen, die auch prophetisch-offenbarenden Charakter haben konnten, auf der einen und inspirierten Erfahrungen auf der anderen Seite möglich ist, wobei ein differenzierendes Element gewiss der Einfluss des zweiten, inspirierten und inspirierenden Momentes auf das alltägliche, evtl. alltäglich-liturgische Leben war. Diese Unterscheidung findet sich – unbestimmt, unterschwellig und eher fließend als trennscharf – auch in den pietistischen Quellen, um die es im Folgenden gehen soll. Wie sich zeigen wird, ist die inhaltliche Grenzziehung nicht unwichtig, wenn auch aufgrund des jeweils zugrundeliegenden subjektiven Sachverhaltes gleichsam reflexartig terminologische Schwierigkeiten eintreten.239 In den letzten Jahren hat es verschiedene Veröffentlichungen gegeben, die sich mit dem Thema bzw. den Themen auseinandersetzen.240 An dieser Stelle soll dementsprechend vor allem der Frage nachgegangen werden, inwiefern ein Zusammenhang zwischen Begeisterung, Entzückung etc. und der pietistischen Frömmigkeitskonzeption besteht. Zunächst einmal lässt sich lapidar feststellen, dass es sich bei den beiden skizzierten Richtungen um direkte, unmittelbare Geisterfahrung handelt – ob nun von Ekstasen oder von orakelartigen, evtl. prophetisch-offenbarenden Zuständen einerseits oder der Behauptung von inspirierter Sinngebung und Lebensgestaltung andererseits die Rede ist. Diese Geisterfahrung wurde von gegnerischer Seite als dem Pietismus eigen bezeichnet – lässt sich diese Beobachtung bei genauerer Lektüre der pietistischen Quellen bestätigen? 239 Vgl. hierzu Hans Wissmann, Art. Ekstase, in: TRE 9, 488 – 491, hier insbesondere 488 f. 240 Hervorzuheben ist vor allem Ryoko Mori, Begeisterung und Ernüchterung; aus religionswissenschaftlicher Perspektive nahm sich zudem kürzlich Claudia Wustmann, Die »begeisterten Mägde«. Mitteldeutsche Prophetinnen im Radikalpietismus am Ende des 17. Jahrhunderts, Leipzig 2008 des Themas an. Zu den verschiedenen Formen von Visionen vgl. die wohl immer noch als maßgeblich zu bezeichnende Monographie monumentalen Ausmaßes von Ernst Benz: Die Vision. Erfahrungsformen und Bilderwelten, Stuttgart 1969; interessantes Quellenmaterial zu den Leipziger Entzückungen, auf das, soweit ich erkennen kann, weder Mori noch Wustmann näher eingehen, liefert zudem das 6. Kapitel: Die separatistische und enthusiastische Bewegung in Leipzig sowie der folgende Anhang in: Leube, Orthodoxie und Pietismus, 235 – 267; vor allem die in Auszügen zitierte Schrift des Schmiedes Tostleben bieten Aufschluss über die Natur der Ekstasen.

Die Frömmigkeitsmerkmale in den frühen pietistischen Quellen

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»Es fällt auf, daß in der ecclesiola in ecclesia, die sich um Spener und seinen Freund Johann Jakob Schütz in Frankfurt am Main seit 1670 bildete, enthusiastische und charismatische Geisterfahrungen offensichtlich völlig fehlen.«241 Auch in den Schriften der Frankfurter sowie der Dresdener Zeit spielen diese bei Spener keine nennenswerte Rolle. Erst mit den Leipziger Unruhen und den hieran anknüpfenden enthusiastischen Geschehnissen in verschiedenen Mitteldeutschen Städten, vor allem im ersten Drittel der 1690er Jahre erhielten Stellungnahmen hierzu in die spenerschen Schriften Einzug. Ohne an dieser Stelle auf die Fälle im Detail eingehen zu müssen, auf die Spener sich bezog,242 so lässt sich seine Position relativ einfach skizzieren: Grundsätzlich, so stellte er wiederholt fest, sind Offenbarungen durchaus möglich, schließlich seien sie nach 1. Kor 14 auch in der Urgemeinde akzeptiert worden.243 Unordnung allerdings, wie sie aus den zeitaktuellen Geschehnissen in Quedlinburg, Erfurt und andernorts beispielsweise um Kratzenstein oder die ›begeisterten Mägde‹ entstanden sei, gehöre »auffs wenigste […] zu dem so genandten pietismo« und selbst von den Urhebern der Leipziger Unruhen hätte damals (Spener schreibt dies 1693) nicht auch nur einer »einen gedancken von dieser materie gehabt«.244 Dies belegte er damit, dass die ›Entzückten‹ selbst dies betont hätten und zudem die meisten der Geschehnisse vor der eigentlichen Geburtsstunde des Pietismus stattgefunden hätten.245 Andere »gesichte und sonderbare bezeugungen« wiederum beruhten auf (wohlgemerkt eingestandenen) Fehlinterpretationen von Angehörigen der pietistischen Sache.246 Spener erarbeitete in der Annahme, dass Visionen oder Offenbarungen insgesamt nicht auszuschließen seien, drei mögliche Erklärungen: Sie könnten göttlichen, teuflischen oder schlichtweg psychosomatischen Ursprungs sein. Während göttliche Offenbarungen bereits im Alten und Neuen Testament zwar durchaus möglich, aber weder die Regel noch die beste Art der Gotteserkenntnis gewesen seien247, habe die Häufigkeit seitdem weiter nachgelassen, was daran 241 Wallmann, Geistliche Erneuerung, 29. 242 Vgl. hierzu die oben aufgeführten Monographien; zur religionsgeschichtlichen Klassifizierung von Visionen vgl. Marco Frenschkowski, Art. Vision. I. Religionsgeschichtlich, in: TRE 35, 117 – 124, hier v. a.: 117. 243 Vgl. beispielsweise Spener, Sendschreiben an einen Christeyffrigen außländischen Theologum, 68. 244 Spener, Gründliche Beantwortung des Unfugs der Pietisten, 123. 245 Zur ›Causa Kratzenstein‹ siehe Philipp Jakob Speners Predigt Erklärung / Was von gesichten / erscheinungen und dergleichen offenbahrungen zu halten seye / In einer Predigt vorgestellet: Samt Dessen Theologischem bedencken / In sachen Henrich Kratzensteins / und dessen vorgebender offenbahrung, Frankfurt / Oder 1693, Bl. 8 der Vorrede; zitiert wird das Exemplar AB 44 / 13 h, 12 (7) der ULB Halle. 246 Vgl. Spener, Gründliche Beantwortung des Unfugs der Pietisten, 180 ff. 247 Vgl. Spener, Erklärung / was von gesichten, 14 f; als das beste Mittel bezeichnet er die mündliche und schriftliche Fortpflanzung des göttlichen Wortes.

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liege, dass alle zur Seligkeit nötigen Schriften beisammen seien.248 Die Unterscheidung von göttlicher und teuflischer Offenbarung sei schwer, da auch der Teufel die Menschen so vereinnahmen könne, dass sie ihre Erscheinung für göttlich hielten.249 Speners Vorschlag zur Unterscheidung ist, dass bei allem, was Heils- oder Glaubenssachen anginge, man sich »fest und allein an göttliches Wort« halten solle. Alles hiervon Abweichende dürfe keine Beachtung finden; was dem gemäß sei, könne zur Erklärung herangezogen werden. Allerdings müsse man immer äußerste Vorsicht walten lassen, da es aufgrund der Hinlänglichkeit der Bibel keiner weiteren Offenbarungen bedürfe.250 Die Visionen Kratzensteins, dies sei am Rande erwähnt, vermutete Spener auf dessen psychosomatische Konstitution zurückführen zu können und entschied so über die Qualität von dessen Offenbarungen.251 Göttlich jedenfalls könne dessen Offenbarung nicht sein, da er sich nie sonderlich um die Heilige Schrift gekümmert habe.252 Besonders in Speners Beurteilung von Kratzensteins Offenbarung wird allerdings deutlich, dass seine Einschätzung sehr individuell erfolgte und er göttliche oder andere Offenbarungen hiermit keinesfalls a priori ausschloss.253 An der Positionierung Franckes kann nachvollzogen werden, was Ryoko Mori als »Begeisterung und Ernüchterung« bezeichnet: Gerade zu dem Zeitpunkt, als Francke nach Halle kam, traten dort und andernorts »die ›extraordinären‹ Erscheinungen auf.«254 Im Umfeld verschiedener pietistischer Zirkel in Halle gab es diverse Vorfälle, in denen Einzelne oder sogar Gruppen in Ekstase gerieten, Visionen hatten oder Prophezeiungen verkündeten255, so dass Francke Anfang 248 249 250 251

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Vgl. ebd., 16. Vgl. ebd., 17 f. Vgl. ebd., 19 ff. Ebd., 45: »Ob im übrigen aus seiner leibes Constitution etwas abzunehmen wäre / daraus man sehen könnte / wie fern er seines verstandes mächtig oder nicht seye / muß ich billig auf der Medicorum untersuchung und aussage lassen kommen. Wo ich im übrigen meine gedancken / wie mirs aus der verlesung der gantzen sachen vorkommet / sagen solle / hielte ich den ursprung alles dieses unwesens daher entsprungen zu seyn. 1. Daß der arme Mann in unvergnügter ehe zu gebracht / wie er über seines weibes boßheit […] hefftig klaget / auch dinge anführet / welche einen auch sanfftmüthigen Mann zur ungedult bringen können. 2. Dieses langwährende leiden / da er mit gedult offt zu streiten gehabt / hat ihm leicht eine starcke milz = beschwerde zu ziehen können / die endlich also eingewurtzelt / daß 3. da sein stetes verlangen gewesen / seines Weibes loß zu seyn / und hingegen der zustand die Phantasie / wie leicht geschehen kann / in einige Confusion gebracht / was er stets verlanget / sich in dieselbe also eingedrucket / daß er solches vor eine Göttliche offenbahrung gehalten. […]«; vgl. auch ebd. 44, wo Spener die Offenbarung Kratzensteins als Betrug bezeichnet, da die von diesem für Quedlinburg prophezeite Feuersbrunst ausblieb; über den ›Propheten‹ Kratzenstein vgl. Ryoko Mori, Begeisterung und Ernüchterung, 160 ff. Vgl. Spener, Erklärung / was von gesichten, 28. Vgl. ebd., 30 f, 34. Mori, Begeisterung und Ernüchterung, 189. Im Detail hierauf einzugehen würde den Rahmen sprengen; es sei dem genüge getan,

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1692 ›begeistert‹ an Spener berichtete: »In den vorigen wochen haben wir fast alle Tage etwas ungewöhnliches erfahren an einige studiosis, deren einer nach dem andern in einen sonderlichen Zustand gesetzet worden […].«256 Mori zeigt, dass sowohl Francke als auch die meisten anderen Pietisten in Halle – unter ihnen viele, die mit Francke noch aus Leipziger, Jenaer und Erfurter Zeiten befreundet waren – anfangs überzeugt waren, dass sie Zeugen, ja sogar Teil wahrhaftig göttlicher Offenbarungen würden: Die in Die Eigentliche Nachricht Von Dreyen Begeisterten Mägden enthaltenen Briefe, die bereits in Kap. V. zitiert wurden257, sind, auch, wenn sie von antipietistischer Seite kompiliert und veröffentlicht worden sein sollten, ein (veröffentlichter) Beleg für diese ›begeisterte‹ Phase nicht zuletzt Franckes. Auch gibt es von pietistischer Seite Schilderungen, die zu den chassidischen Darstellungen in den Schibche haBescht erstaunliche Parallelen aufweisen – als Beispiel sei der Kampf der Anna Maria Schuchart im Kreis der Ringhammer-Pietisten gegen den Satan angeführt, in dem die Erfurter Magd wie Alexander Schochet mit den Fäusten auf die Wand einschlug.258 Ende des Jahres 1692 kam es in verschiedenen mitteldeutschen Städten neben Halle (v. a. Quedlinburg, Halberstadt, Erfurt) zu weiteren Ekstasen und Visionen. Während die in Halle einberufene Untersuchungskommission Francke, Breithaupt und die anderen Pietisten für rechtgläubig erklärte259, begegneten die »Obrigkeiten jener Orte« den Ekstatikern und ihren Fürsprechern feindlich, indem sie sie teils verhörten, teils festnahmen; auch wurden Befehle erlassen, mit welchen die Ruhe wieder hergestellt werden sollte.260 »Angesichts dieser verschärften Gegensätze äußerte Philipp Jakob Spener in seinen Briefen an Francke wiederholt seine Sorge über die ekstatischen Erscheinungen und mahnte ihn zur Vorsicht.«261 Francke begann, die oben bereits skizzierte zurückhaltende Position Speners zu übernehmen und zog sich »in den folgenden Wochen von den ekstatischen Momenten langsam zurück«262, sehr zum Ärger der bis dahin von ihm protegierten Ekstatikerkreise.263 Schon in der Ende 1692 herausgegebenen Entdeckung der Boßheit264, seiner Antwort auf die Eigentliche

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nochmals vor allem auf die minutiöse Rekonstruktion der Geschehnisse durch Ryoko Mori zu verweisen, zum Folgenden besonders 185 ff. Zitiert in ebd., 191. Sie stellt die Hauptquelle für Wustmanns Dissertation dar (s. o.). Vgl. Mori, Begeisterung und Ernüchterung, 200 und SHB H32; der einzige Unterschied ist, dass der Schuchart nach ihrem Kampf nicht derart eigentümliche Fingernägel wuchsen wie Alexander Schochet. Vgl. hierzu Mori, Begeisterung und Ernüchterung, 210 ff. Vgl. ebd., 216 f. ebd., 217. ebd., 219. Vgl. ebd., 221 ff. August Hermann Francke, Entdeckung der Boßheit / So mit einigen jüngst unter seinem

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Nachricht, bindet er dementsprechend alle Offenbarungen an die Heilige Schrift. Bekenntnisgleich formuliert er hier : »Das ist meine bißherige beständige Meinung / (1.) daß der Glaube / so durch die Liebe thätig ist / eine höhere und herrlichere Gabe sey / als hohe Offenbahrungen / und Entzückungen biß in den dritten Himmel. (2.) Ob gleich dem Menschen dergleichen / ohne sein gaffen und warten / wiederführe / daß doch das Prophetische und Apostolische Wort die einige Regul und Richtschnur sey / und bleybe / darnach alles müsse geprüffet werden. (3.) Und daß diejenigen / so darauf warten oder gaffen wollten / gar leichtlich könten verführet werden / und mannigfältige Illusionen würden unterworffen seyn. (4.) Daß auch die Welt vergeblich darauf warten soll / daß ich vermessentlich zuplatze / und nur gleich sage / es sey alles vom Teuffel / da ich dessen in meinem Gewissen durch sattsame Proben noch nicht überzeuget bin / daß dem geoffenbahrten Worte GOttes etwas zu wider lauffe / und mich zum wenigsten / wo sich die wahren Früchte der Busse / daraus man einen von GOTT gewürckten Glauben prüfen soll / sehen lassen / nothwendig befahren muß / ich möchte GOttes Werck zugleich antasten / ob gleich diß oder jenes von menschlichen / absonderlich weiblichen / Schwachheiten mit unter lieffe. […]. Will aber damit andern an ihren Gaben nichts abbrechen / da vielleicht einem ausserhalb der SChrifft GOtt etwas würde offenbahren / durch Träume / Gesichte / oder durch die Engel. Ich lasse es zu / daß es Gaben seynd / aber ich achte / oder begehre mir derselben nicht / denn dazu beweget mich / daß so viel unzehliger Gespenst / Lügen / Verblendung des Gesichts / und anders Betrugs gewest […].265

Unter dem Eindruck der Verfolgung in einigen mitteldeutschen Städten sowie den Mahnungen Speners zur Vorsicht schloss Francke zwar nicht die Möglichkeit göttlicher Offenbarungen aus (was ja auch Spener nicht tat), betonte jetzt allerdings, dass die genaue Prüfung an der »einige[n] Regul und Richtschnur« der schriftlichen Überlieferung erfolgen müsse. Andere Pietisten, die jedoch eher dem radikalen Lager zuzurechnen sind, wie beispielsweise Johann Wilhelm Petersen, blieben auch trotz des erheblichen Widerstandes überzeugt, dass es sich um wahrhaft göttliche Offenbarungen handele.266 Da mit ihnen die Grenze des kirchlichen zum radikalen Pietismus überschritten wird, muss an dieser Stelle ein Strich gezogen werden. Festhalten lässt sich mit Mori, dass es auch im Bereich des kirchlichen Pietismus teils eine anfängliche ›begeisterte‹ Phase gab, in der tatsächlich ekstatischen und visionären Phänomenen zwar nicht überall in der Bewegung, aber vielerorts eine Nahmen fälschlich publicirten Brieffen von dreyen so benahmten begeisterten Mägden zu Halberstadt / Quedlinburg und Erffurt begangen, Cölln an der Spree 1692. 265 Ebd., 5 f. 266 Vgl. etwa das von Petersen allerdings bereits 1691 (anonym) veröffentlichte Send = Schreiben AN einige Theologos und GOttes = Gelehrte / Betreffend die Frage Ob GOtt nach der Auffahrt Christi nicht mehr heutiges Tages durch göttliche Erscheinung den Menschenkindern sich offenbahren wolle und sichd essen gantz begeben habe? Sampt einer erzehlten SPECIE FACTI Von einem Adelichen Fräulein / was ihr vom siebenden Jahr ihres Alters biß hieher von GOTT gegeben ist, o.O. 1691.

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gewisse Bedeutung beigemessen wurde, was sicherlich wenigstens zum Teil der in pietistischen Reihen vertretenen Endzeiterwartungen geschuldet war, der verschiedene Anzeichen voraus gehen sollten, die man erkannt zu haben meinte. Gerade in frömmigkeitlicher Hinsicht aber wird auch das mystische Element der unmittelbaren Geisterfahrung eine nicht unerhebliche Rolle gespielt haben, schließlich wurden die Ekstatikerinnen sowie die ebenso vertretenen Ekstatiker nicht nur als ›extraordinäre‹ Erscheinungen, als Objekte eines Interesses betrachtet, sondern auch als Mittelpunkt und sozusagen klammerndes Element einer die ganze Gruppe erfassenden spirituellen Haltung interpretiert, was beispielsweise in den zitierten begeisterten (im gegebenen Zusammenhang ein zweideutiger Begriff!) Schilderungen Franckes an Spener deutlich wird (»haben wir fast alle Tage etwas ungewöhnliches erfahren«). In den Ekstasen erfahren keineswegs nur die Ekstatikerinnen den Heiligen Geist, sondern ebenso die Zuschauer, die eben hierdurch diesen Status überschreiten und gleichsam zu Akteuren werden. Wichtig allerdings ist zu betonen, dass diese ›begeisterte‹ Phase, die zudem keineswegs von allen Pietisten getragen wurde, abgelöst wurde durch die schnell eintretende »Ernüchterung«, die das ekstatische, enthusiastische Element de facto ausschloss. Weder Spener noch Francke leugneten zwar die Möglichkeit göttlicher Offenbarungen, beide jedoch betonten dann die Hinlänglichkeit der schriftlichen Überlieferung und die Notwendigkeit der Rückbindung und Überprüfung aller mündlichen Offenbarungen an dieser Referenz.267 Offenbarungen haben, zumindest im kirchlichen Pietismus, nicht einmal ergänzenden Charakter : Alles, was zum Heil notwendig ist, wurde bereits geoffenbart und bedarf der Ergänzung nicht. Mit der Notwendigkeit der Überprüfung an der Heiligen Schrift kann Offenbarung somit nur noch Bestätigung sein. Als schwärmerisch oder enthusiastisch kann Offenbarung dann nur schwer bezeichnet werden. Bereits hierin liegt gegenüber der anfänglichen Euphorie, der zumindest auch Francke verfallen war, eine deutliche Relativierung der Bedeutung des ekstatischen Elementes. Interessanter als diese zwar gewiss spektakuläreren ›extraordinären‹ Erscheinungen jedoch ist im Untersuchungszusammenhang jene andere, allgemeine »Begeisterung«, welche in den gegnerischen Schilderungen dargestellt wurde und sich auf Felder der alltäglichen Frömmigkeitspraxis der Laien, aber auch der geistlichen Berufspraxis erstreckte. Beispielsweise wurde pietistischen Predigern vorgeworfen, sie würden sich bei der Vorbereitung ihrer Predigten auf die Inspiration verlassen. Ein weiteres Beispiel war die Behauptung, die exege267 Unmissverständlich formuliert Spener : »Und widersprechen also getrost allen denen / die uns aus vorgebender erscheinung / offenbahrung und träumen / neue und andere Glaubens = Articul / sonderlich von einer anderen art selig zu werden / als uns bereits offenbahret ist / aufdringen wollten […].« Erklärung / Was von gesichten / erscheinungen und dergleichen offenbahrungen zu halten seye, 16.

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tische Arbeit sowohl der Geistlichen als auch der Laien würde sich nur auf die Begeisterung gründen anstatt die theologische Vernunft urteilen zu lassen, die ›Eingebung‹ sei das pietistische »principio cognoscendi« (s. u.) schlechthin. Diesem Vorwurf, das pietistische ›principio cognoscendi‹ sei die Eingebung vor allem in exegetischer Hinsicht, wendet sich Spener in seiner Gründlichen Beantwortung zu. Da die Passage aufschlussreich auch hinsichtlich anderer Aspekte ist, folgt ein längeres Zitat: »Der erste locus solle seyn de principio cognoscendi, und zwar der Heil. Schrifft / so fern sie nach dem sinn des Heil. Geistes verstanden / welcher den menschen auf vorhergegangenes fleissiges gebät vor lesung der schrifft unmittelbar erleuchtet / und ihm die gedancken eingibet / nach welchem er die H. schrifft erklären muß. Darzu er auß der Gothaischen confession den andern absatz / und meine allgemeine Gotts = gelehrtheit anführet. I. Es bleibet eine unumstößliche warheit / daß unser principium cognoscendi seye die H. schrifft / und zwar / wie sie nach dem sinn des Heil. Geistes verstanden wird. Oder meinet vielleicht der autor, es gelte gleich / ob es nach oder wider den sinn des Geistes verstanden werde ? aber das wort GOttes ist nicht das wort Gottes mehr / wo ich den sinn des Heil. Geistes darvon nehme / und die worte in verkehrten sinn verstehe. 2. Solcher sinn des H. Geistes kann nicht anders als auß der erleuchtung der[!] H. Geistes erlernet werden. Diese habe ich in meiner allgemeinen Gottes = gelehrtheit zur gnüge auß der H. schrifft / den vätern und unsern lehrern mit den stattlichsten zeugnüssen erwiesen […]. 3. Daß das gebät in göttlicher ordnung ein mittel der erlangung des H. Geistes seye / hoffe ich nicht / daß jemand mir läugnen werde […].«268

Unmissverständlich zeigt Spener auf, welche Bedeutung der Heilige Geist für ihn spielt: »Es bleibet eine unumstößliche warheit / daß unser principium cognoscendi seye die H. schrifft / und zwar / wie sie nach dem sinn des Heil. Geistes verstanden wird.« Nur mit Hilfe des Heiligen Geistes aber kann die Bibel gelesen und verstanden werden, Erleuchtung erhält sie nur durch den Geist, nicht durch den menschlichen Verstand. Zur Erlangung des Geistes verhilft das Gebet. Bereits im Zusammenhang des ›geistlichen Priesterthums‹ – bei dem schon im Namen die Betonung des Heiligen Geistes deutlich wird – wurde aufgezeigt, dass mithilfe des Heiligen Geistes die ›functiones sacerdotales‹ größtenteils auch von Laien übernommen werden könnten. Das Schriftstudium wurde gar als Pflicht eines jeden Christen dargestellt. In der Auseinandersetzung mit seinen Gegnern bekennt sich Spener zur confessio augustana und betont, er »glaube / bekenne und lehre« mit seinen »gegenern / daß das wort Gottes an und für sich nicht seye ein todter buchstabe / sondern ein wort des lebens«. Allerdings, »so lang die Schrifft da in den buchstaben ligt / und nicht gehöret oder gelesen wird / wie sie allein in dem blat stehet / da ist sie freylich nicht die krafft GOttes / sondern in seiner maß und auf solche weise ein todtes und unkräfftiges 268 Spener, Gründliche Beantwortung Deß Unfugs der Pietisten, 118 ff.

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werck.«269 Erst in der Auseinandersetzung des Menschen, unabhängig von seinem Stand, wird die Schrift zur »krafft Gottes«, zu seinem »liecht«270. Um von diesem »liecht« erleuchtet zu werden, bedarf es nicht der menschlichen Vernunft, sondern des Heiligen Geistes.271 Spener erläutert den von seinen Widersachern behaupteten vermeintlichen Gegensatz: »ich sage nur / daß ein gottloser / der dem H. Geist bey sich nicht platz gibt / nicht erleuchtet / und also nichts von dem liecht des worts theilhafftig werde / welches hingegen der der gnade folgsame mensch in dem wort erkennt / und also erleuchtet wird: sondern seine erkäntnüß ist allein ein liecht seiner vernunfft / damit er allein den buchstaben der Schrifft einsiehet / und dero göttlichen liechts nicht gewahr wird. Damit benehme ich bey den ungläubigen dem wort Gottes durchaus nicht seine krafft zu erleuchten / sondern lege die schuld auf den menschen / der die augen zudruckt / da es ihn erleuchten will.«272

Die »Erleuchtung« durch den H. Geist sei nicht an den Stand gebunden, auch Laien könnten die H. Schrift, wenn sie die Erleuchtung erfahren hätten, selbst ohne Gelehrtheit verstehen, sei sie nun theologischer oder weltlicher Art. Alle, die Gott angerufen hätten, könnten diese Erleuchtung erfahren273, wobei freilich wiederum zu unterscheiden sei zwischen dem für das individuelle Seelenheil erforderlichen Schriftverstehen und der theologischen Schriftauslegung, die ja nach Spener in Händen der Theologen bleiben soll.274 Vergleichbar steht es auch in der umstrittenen Gothaer Confessio oder Glaubens = Bekäntniß: »welches Göttliche geoffenbahrete Wort wir allein vor hinlänglich / lebendig und kräfftig zur Menschen Bekehrung und Seeligkeit halten / so / daß es im geringsten nicht nöthig ist / auff andere Offenbarungen […] zu warten. Dieses Göttliche Wort aber mag nicht heilsamlich und recht nach dem Sinn des Heil. Geistes verstanden werden / ohne die Erleuchtung Gottes des werthen Heil. Geistes […].«275

Francke, nach anfänglicher Begeisterung mittlerweile ›ernüchtert‹, beschreibt in seiner Predigt Die Lehre von der Erleuchtung276 1698 die Erleuchtung als einen 269 Spener, Auffrichtige Ubereinstimmung mit der Augsp. CONFESSION, 48. 270 Ebd., 52. 271 Die Betonung des heiligen Geistes steht bei Spener in einem direkten Zusammenhang mit dem von ihm diagnostizierten »verderbten Zustandes« der Kirche und seinen Reformvorschlägen, die auf der »Hoffnung besserer Zeiten« gründen, »der zufolge noch vor dem Jüngsten Tag hier auf Erden eine Reihe göttlicher Verheißungen erfüllt werden soll und eine grßere Ausgießung des Heiligen Geistes erwartet werden darf. […] Spener rechnet auch mit außerordentlichen Geisterfahrungen, die Gott für die letzten Zeiten dieser Welt verheißen hat.« Wallmann, Geistliche Erneuerung, 22. 272 Ebd. 273 Spener, Das Geistliche Priesterthum, 38. 274 Vgl. Spener, Gründliche Beantwortung Deß Unfugs der Pietisten,103; 106 f. 275 Confessio oder Glaubens = Bekäntniß, 3 ff. 276 August Hermann Francke, Die andere Predigt Am Sonntage Esto Mihi oder Quinquagesi-

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langwierigen, nicht plötzlich oder unmittelbar auftretenden Stufenprozess, der sich nur durch Selbsterkenntnis, Bibelstudium und Gebet initialisieren könne, der aber über den Zusammenhang der Bibel hinausginge und die Bedeutung der Erleuchtung, die somit als eine Art allgemeine Begeisterung oder allgemein zugängliche Geisterfahrung aufgefasst werden kann, auf das ganze Christendasein ausdehne. Vermutlich, um allen enthusiastischen Verdacht auszuschließen vergleicht er sie mit dem Sonnenaufgang: »Also gehet es auch zu mit der Erleuchtung des Menschen. Wenn er seine Sünden in etwas erkennet, so ist er gleichsam in der Demmerung; er siehet wol, es sey nicht recht, er müsse anders werden, weiß aber gleichwol sich nicht zu rathen und zu helfen, sondern es gehet ihm als einem, der im dunckeln gehet, und sich immer fürchtet, er möge über etwas stolpern oder fallen; wenn aber der Mensch darinnen treu ist, auf die anbrechende Sonne ie mehr und mehr hoffet, und im Glauben wartet, so werden ihm seine Augen auch ie mehr und mehr erleuchtet, daß er immer zu höherer und hellerer Erkäntniß kommet, eines von dem andern recht zu unterscheiden […].«277

Über die in pietistischen Predigerkreisen angeblich weit verbreiteten ›Stehgreifpredigten‹, »die in der eil geschehen / wie sie der geist eingibet«278, dies sei noch kurz angemerkt, schreibt Spener, dass sie ohne förmliches, vollständiges Konzept und vorausgehende Meditation nicht in seinem Sinne seien, vielmehr sei die Predigtkunst – vorausgesetzt, sie ziele auf die Erbauung der Zuhörer und stelle nicht die Kunst selbst in den Mittelpunkt – wie sie gelehrt wird, gut.279 Auch Francke antwortete, als er gefragt wurde, ob er gepredigt hätte, was ihm der Geist eingegeben hätte, mit einem klaren Nein.280 Der zweite Aspekt der Begeisterung bzw. Inspiriertheit, der im pietistischen Sprachgebrauch als ›Erleuchtung‹ beschrieben wurde – wobei von einer konsistenten Verwendung nicht die Rede sein kann – erweist sich gegenüber den Visionen vom Blutschwitzen, dem Kampf gegen den Satan oder aufsehenerregenden Bußprophetien vor diesem Hintergrund zwar als der weniger spektakuläre, in der Tragweite jedoch als der wesentlich weiter reichende. Hier findet die pietistische Frömmigkeit sozusagen ihr Fundament, auf das sich die meisten der anderen bedeutenden Frömmigkeitsmerkmale zurückführen lassen: Jeder Christ, der ›erleuchtet‹ ist, der, um sich wieder von der pietistischen Terminologie zu lösen, inspiriert ist, gehört dem »geistlichen Priesterthum« an, was bedeutet, dass er spirituell weitgehend selbständig und somit institutionell ungebunden ist (was nicht bedeutet, dass er sich aus dem Gefüge der Kirche ausgliedern darf) – er ist,

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mae. Die Lehre von der Erleuchtung [gehalten am 16. 3. 1698 in Glaucha], ediert in: Peschke, Predigten I, 380 – 399. Ebd., 388. Spener, Gründliche Beantwortung des Unfugs der Pietisten, 139. Ebd., 139 ff. Gerichtliches Leipziger Protocoll, 39.

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mit allen hiermit verbundenen Rechten und Pflichten – für sein eigenes Seelenheil und das seiner Nächsten verantwortlich. Er kann, dank seines inspirierten Status, auch ohne akademische Gelehrtheit in der Bibel lesen und seine Eindrücke in einer kleinen Gruppe – mit geistlicher Leitung, siehe oben – äußern, da er unter den gleichen Voraussetzungen dem berufenen Prediger in nichts nachsteht. Wichtig ist hierbei die Unterscheidung zwischen dem Verstehen, das für das eigene Seelenheil notwendig ist, und der nach wie vor den Gelehrten vorbehaltenen Auslegung. Auch der Laie kann, ja muss sogar einen ständig währenden spirituellen Zustand anstreben, wie er sich beispielsweise im ständigen Gebet ausdrückt. Es bleibt zu betonen, dass mit dieser ›allgemeinen Begeisterung‹ von (innerkirchlicher) pietistischer Seite keineswegs der in den gegnerischen Polemiken behauptete Enthusiasmus vertreten wird, da grundsätzlich die Selbstreflexion an erster Stelle steht, wofür auch das Stufenmodell Franckes über die Erleuchtung als Beispiel herangezogen werden kann. Die skizzierte ›allgemeine Begeisterung‹, die Erleuchtung, kommt nicht plötzlich, sondern muss erarbeitet werden, und zwar mit relativ konventionellen Mitteln (Gebet, Schriftstudium, Selbsterkenntnis). Überhaupt stellt dieser bedeutendere der beiden Aspekte der ›Begeisterung‹ generell nicht eben ein revolutionäres System dar, das mit überkommenen Traditionen bricht – dies zeigten die pietistischen Autoren, indem sie sich beispielsweise auf die Kirchenväter oder Luther beriefen. Das eigentlich Neue wird vielmehr in der Durchsetzung theoretisch schon lange vertretener Prinzipien durch die Pietisten zu sehen sein, die somit in der Tat in gewisser Weise die lutherische Reformation fortsetzten, wie sie selbst es ja behaupteten. Auf den Punkt bringt es Francke in seiner im Zusammenhang der Leipziger Unruhen verfassten Apologia oder DEFENSIONS = Schrifft: »Das sey dem grossen GOtt im Himmel mit Thränen und Seuffzen geklaget / daß man fur einen Ubelthäter und bösen Menschen geachtet wird unter Christen und von Christen / wann man nur anf[ä, Textverlust]nget das außzuüben / was in öffentlichen Predigten von jederman erfordert wird?«281

2.4

Der neue Mensch – pietistische Lebensführung

Kann man eine Pietistin oder einen Pietisten erkennen? Ohne dass diese Frage selbst konkret gestellt wurde, wurden in den antipietistischen Streitschriften Beschreibungen geliefert, in denen Haltungen, Züge oder Verhaltensweisen, aber auch banal wirkende Äußerlichkeiten skizziert wurden, die die Vermutung 281 August Hermann Francke, Apologia, Oder DEFENSIONS = Schrifft An Ihre Chur = Fürstl. Durchl. zu Sachsen., o.O. u.J., 14; mitgeliefert in Gerichtliches Leipziger Protocoll, am Ende.

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Fromm sein aus pietistischer Sicht

zulassen, dass die Gegner ein bestimmtes Bild vor Augen hatten, wenn sie sich über Angehörige der Bewegung äußerten. Auch auf pietistischer Seite stellte man sich diese Frage. Vor allem bis zur Mitte der 1690er Jahre waren sich die Protagonisten der Bewegung auch im Klaren darüber, dass der Begriff selbst zwar pejorativer Natur war282, jedoch das Anliegen durchaus bezeichnete, das sie selbst vortrugen.283 Erst allmählich setzte sich der Begriff deshalb auch auf pietistischer Seite durch. Ein schönes, allerdings auch sehr frühes Beispiel ist das Leich-Carmen Joachim Fellers (1638 – 1691), welches dieser zu Ehren des 1689 verstorbenen Studenten der Theologie, Martin Born, verfasste und das sehr schnell große Berühmtheit erlangte. In seinem in fester Form angelegten Sonnet (vierzehnzeilig, zwei Quartette, zwei Terzette, Reimschema abbaabbaccdccd, sechshebig) bekennt sich der Leipziger Professor für Poesie zunächst zum Pietismus, indem er dessen zentrale Züge skizziert; anschließend greift er das sowohl bei Spener als auch den Leipziger Pietisten um Francke, Schade usw. vertretene Anliegen der Relativierung von Wissenschaft und Kunst auf, um abschließend den hierum bemühten Verstorbenen zu ehren. An dieser Stelle interessiert vor allem der bekannte einleitende Teil des ersten Quartetts. Der Vollständigkeit halber wird dessen ungeachtet das vollständige Sonnett zitiert: Es ist itzt Stadtbekanndt der Nahm der Pietistn Waß ist ein Pietist? der Gottes wort studirt Und nach demselben auch ein heilig Leben führt daß ist ja woll gethan, ja woll von jedem Christn denn dieses machts nicht auß, wenn man nach Rhetoristen und disputanten arth sich auff der Cantzl zirth und nach der Lehre nicht lebt heilig wie gebührt die Pietät die muß vorauß im Hertzn nistn der baut auch zehnmahl meer alß wollgefaste wort Ja alle wißenschaft: Sie nützt auch hier und dort drümb weil der Selge war bey mancher sch[önen] gabe undt nimmer müdn fleiß, ein guter Pietist

282 Weshalb auch besonders von den im Zusammenhang der Leipziger Unruhen entstandenen pietistischen Schriften eine große Anzahl das relativierende Attribut »so genandt« im Titel führen. 283 Vgl. etwa August Hermann Francke, Antwort-Schreiben an einen Freund zu Regenspurg geschrieben den 25. Febr 1706. Eine ihm von demselben aus Regenspurg communicirte Relation von einer sich damals zu Schwartzenau befindenden gottlosen Gesellschaft […], Halle 1707, in: Peschke, August Hermann Francke, Streitschriften, 217 – 230, hier : 225: »Es hat ja der Läster-Geist vor einigen Jahren den Pietisten-Namen auf die Bahn gebracht / die Lehre von der Gottseligkeit damit zu beschmeissen / und diejenigen / so auf ein rechtschaffenes thätiges CHristenthum dringen / einer Ketzerey und Sectirerey / oder wenigstens eines gefährlichen Schismatis durch solchen Namen schuldig zu machen. […]«

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283

so ist Er nunmehr auch ein guter Quietist die Seel lebt woll in Gott, der Leib ruth woll im grabe.284

Auf die Bedeutung des Bibelstudiums im Pietismus wurde bereits ausführlich eingegangen. Hier, in Fellers bekanntem Sonnett, wird es als erste Eigenschaft angeführt, die einen Pietisten charakterisiere: Ein Pietist ist, »der Gottes wort studirt«. Es wurde auch schon darauf hingewiesen, dass die Bibellektüre praktische Auswirkungen auf das Leben haben solle. Wenig überrascht deshalb die dritte Zeile. Interessant ist, was dann folgt, jenes unscheinbare »das ist ja woll gethan, ja woll von jedem Christn«, das bis jetzt m. W. noch nirgends Beachtung gefunden hat: Das Studium der Bibel wird hier nicht nur als zentrales Charakteristikum jedes Pietisten dargestellt, sondern als Aufgabe eines jeden »Christn«: »daß ist ja woll gethan, ja woll von jedem Christn.« Selbstverständlich lässt sich »Christn« als nurmehr notwendiger Reimpartner des folgenden »Rhetoristen« behaupten, in diesem Fall würde die Polarität von ›Pietist‹ und ›Kunst‹, mithin dem hier positiv konnotierten Frommsein der Pietisten und dem schalen Künstlerischen der »Rhetoristen« stark gemacht. Vermutlich steckt allerdings doch eher die Absicht hinter der vierten Zeile, die Pietisten aus dem gesellschaftlichen Abseits zu holen und zu zeigen, dass das hier angebrachte Charakteristikum der Pietisten eigentlich jeden Christen auszeichnen sollte. Dem wird jene oben bereits dargestellte Geringschätzung des akademischen Habitus als Negativexempel entgegengestellt: Die (rhetorische) Form, der kein heiliges Leben eignet, ist wertlos (Zeile 5 – 7). Erst »die Pietät«, die im Herzen »nisten« muss, füllt die Form mit Sinngebung. Sie ist jene den Pietisten unterscheidende Haltung, die es genauer zu bestimmen gilt – auch, wenn sie nicht den Pietisten vom Nichtpietisten, sondern ganz allgemein den Christen vom Nichtchristen unterscheiden sollte, wie es Feller in seinem Sonnett nahelegt. Auch die eingangs erwähnten gegnerischen Darstellungen jener rein äußerlichen Merkmale des ›pietistischen Habitus‹ sind, wenn man sie von ihrem polemisch überhöhten Kleid befreit, vor allem performativer Ausdruck spezifisch pietistischer Haltungen nicht zuletzt im ganz alltäglichen Bereich, die pietistischerseits – etwa in Fellers Sonnett – als ›heiliges Leben‹ bezeichnet werden, das ein jeder Christ zu führen habe. Den Charakteristika dieses pietistischen, ›heiligen Lebens‹, auf dessen Distanziertheit zum üblichen Leben bereits in den Antipietistica hingewiesen wird, widmen sich die folgenden Abschnitte (VI.2.4.1-VI.2.4.3). 284 Es wird die Variante der Göttinger Acta Pietistica (handschriftliche Abschrift) zitiert (Actorum Pietisticorum Vol I, #11); sie unterscheidet sich teilweise geringfügig im Wortlaut von edierten Varianten, wie etwa bei Dietrich Blaufuß (Hg.), Orthodoxie und Pietismus. Gesammelte Studien von Hans Leube, Bielefeld 1975, hier : 191 (hier beispielsweise in der letzten Verszeile »die Seel ruht wohl in Gott«).

284

Fromm sein aus pietistischer Sicht

2.4.1 Bruch mit dem bisherigen Leben: Erleuchtung und Wiedergeburt Während oben gezeigt worden war, dass sich die führenden Köpfe der Bewegung, aber auch die weniger bekannten Vertreter als Kritiker eines Gewohnheitsoder ›Maulchristentums‹ verstanden, wurde ihnen vorgeworfen, sie hielten sich für etwas Besseres (Ebenbild der Pietisterey), das pietistische Christentum bestehe in »lauter Heucheley / Pharisäischen Hochmuth / Eigensinnigkeit / selbsterwehlten Schein […]« (UnTHeologische und abgeschmackte Lehr = Sätze), kurzum: sie würden sich weit besser als »etliche Mitburgers« erachten (Pietistische Erzehlung). Bei beiden Streitparteien findet sich somit die Behauptung unterschiedlicher spirituelle Zustände in der pietistischen Anthropologie. Worin aber besteht nach pietistischer Auffassung eine solche Unterscheidung verschiedener Status des Christentums? Was ist die Grundlage einer solchen Unterscheidung? Die Richtung weist das folgende Zitat von Francke. In der Absicht, die Behauptung zu widerlegen, dass »Pietismus eine Secte und zwar eine neue Secte sey« definiert er den pietistischerseits angestrebten Zustand und gleichermaßen dessen hiermit genetisch zusammenhängende Bestimmung des Pietismusbegriffes: »Es lehrets aber die tägliche Erfahrung / daß nicht mehr darzu gehöre / ein Pietiste genennet zu werden / als daß man GOttes Wort ihm lasse zu Hertzen gehen / die heilsame Gnade GOttes / die allen Menschen erschienen ist / erkenne / die weltlichen Lüste und alles ungöttliche Wesen verläugne / und züchtig / gerecht und gottseelig in dieser Welt lebe. Es versuche es ein jeder / und fange dieses mit allem Ernst an / sich von Hertzengrund zu GOTT zu bekehren / und sehe dann zu / ob ihn die Welt mit dem Nahmen eines Pietisten verschonen wird. So groß ist die Blindheit des grösten Haufens mitten in der Christenheit / daß wahre Busse thun und sich zu GOTT ernstlich bekehren / nun so viel heisen muß / als eine neue Religion anfangen / einen neuen Glauben annehmen / sich zu einer neuen Secte begeben. Ich aber verlange keine neue Religion, sondern neue Hertzen / daß man neuen Wein nicht in alte Schläuche fasse / nach der Ermahnung Christi Matth. IX.17. Daß man den alten Menschen aus = und den neuen anziehe / und eine neue Creatur sey in Christo Jesu.«285

Zwei Metaphern in der zitierten Passage zeigen den Wandel auf, der nach Franckes Auffassung notwendigerweise erfolgen muss, wenn der ideelle Zustand erreicht werden soll, in dem der Pietist sich von den übrigen Gewohnheitschristen abhebt: die »neue[n] Hertzen« und das Bild vom An- bzw. Ausziehen des »neuen« resp. »alten« Menschen. Beide verwendeten Bilder stehen für eine generelle Verwandlung, die Martin Brecht als »Existenzwende« bezeichnet.286 Francke identifizierte das ›Pietistsein‹ im Kern mit diesem Wandel des 285 Francke, Abgenöthigte Fürstellung, 27 f. 286 Brecht, Die Frömmigkeit des Pietismus, 16.

Die Frömmigkeitsmerkmale in den frühen pietistischen Quellen

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Menschen, der, im obigen Zitat sehr allgemein, den »neuen Menschen« als denjenigen Christen beschreibt, der »die weltlichen Lüste und alles ungöttliche Wesen verläugne / und züchtig / gerecht und gottseelig in dieser Welt lebe«, sprich: der sich wahrhaftig Gott zu- und sich von den weltlichen Ablenkungen abwendet, wobei adäquat zum Kernpassus von Fellers Sonnet die Formulierung »daß man GOttes Wort ihm lasse zu Hertzen gehen« die Heilige Schrift als Medium aufgezeigt wird. Bereits in Speners Pia Desideria stellt dieser neue Mensch, »der aus dem Glauben Wiedergeborene, der die Gnadenmittel der Kirche nicht länger rein äußerlich gebraucht« den »Dreh- und Angelpunkt« dar287; schon hier spielt Spener mit der Gegenüberstellung von »dem innern oder neuen menschen / dessen Seele der glaube und seine würckungen die früchten deß lebens sind« auf der einen und »dem äusserlichen menschen«, der sich in seiner Ethik von der heidnischen nicht unterscheidet, auf der anderen Seite.288 Um den innerlichen Menschen aber geht es ihm, darum, »daß wir den grund recht in dem hertzen legen; Zeigen / es seye lauter heucheley / was nicht auß diesem grunde gehet / und daher die leute gewehnen / erstlich an solchem innerlichen zu arbeiten / die liebe GOttes und deß nächsten bey sich durch gehörige mittel zu erwecken / und nachmahl auß solchem erst zu würcken. Daher auch solle man fleissig treiben / wie alle Göttliche mittel deß Worts und Sacramenten / es mit solchem innerlichen menschen zu thun haben / und es ja nicht gnug seye / daß wir das wort mit dem äusserlichen ohr hören / sondern wie wirs auch in das hertz tringen müssen lassen / daß wir daselbst den Heiligen Geist reden hören / das ist / seine versiegelung und krafft deß worts mit lebendiger bewegung und trost fühlen: Also / daß es nicht gnug seye / getaufft seyn / sondern / daß unser innerlicher mensch / darinnen wir CHristum vermittels desselben angezogen / ihn auch müsse anbehalten / und dessen zeugnüß an dem äusserlichen leben zeigen […].«289

Auch, wenn der äußerliche Mensch in der hier nurmehr angerissenen, aber viel weiter reichenden Konzeption durchaus noch eine Rolle spielt (s. u.), so steht am Anfang doch der innere Mensch. Wie aus dem obigen Zitat hervor geht, konstituiert sich der innere Mensch aus seinem eigenen Bemühen einerseits und dem Wirken des Heiligen Geistes andererseits. In Speners Postillenvorrede geht es ihm allerdings in erster Linie um den inneren Menschen, nicht aber um den Prozess der Verwandlung, um das Ausziehen des alten und das Anziehen des neuen Menschen.290 Hierzu muss man an anderer Stelle im spenerschen Oeuvre nachsehen, doch findet sich über den Wandlungsprozess selbst – Spener ver287 288 289 290

Greschat, Christliche Gemeinschaft, 307. Spener, Pia Desideria, 151 f. Spener, Pia Desideria, 153 [irrtümlich: 135]. Vgl. hierzu Johannes Wallmann, Wiedergeburt und Erneuerung bei Philipp Jakob Spener. Ein Diskussionsbeitrag, in: Pietismus und Neuzeit (1977), 7 – 31., v. a. 17ff; 21.

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Fromm sein aus pietistischer Sicht

wendet neben dem Begriff der ›Bekehrung‹ wie gesagt noch ›Erleuchtung‹ und zudem ›Wiedergeburt‹ – bei Spener fast nichts. Was man findet sind vor allem Beschreibungen des menschlichen Anteils an diesem Wandlungsprozess, der auch als unterscheidendes Merkmal zwischen dem bekehrten (erleuchteten, wiedergeborenen) Menschen und dem nicht bekehrten (nicht erleuchteten, nicht wiedergeborenen oder heidnischen) Menschen verstanden werden kann, auf der einen Seite und relativ allgemein bleibende Beschreibungen des göttlichen Anteils auf der anderen. Vor allem in den Werken ab den 90er Jahren finden sich solche Beschreibungen, in denen deutlich wird, dass »die Erneuerung […] immer wieder als Folge von der Wiedergeburt abgesetzt« gedacht werden muss.291 Beispielsweise in der Predigt Erneurung und Wachsthum im guten292 entfaltet er seine Konzeption der Wiedergeburt in drei Schritten auf gerade einmal fünf Seiten, während er sich im Anschluss daran wesentlich ausführlicher der ›Erneuerung‹ als der menschlichen Aufgabe widmet. Die Wiedergeburt stellt er (I.) als notwendig dar, da der Mensch fleichlich verdorben, »sein gantzes wesen mit der sünde durchgifftet ist« und er infolgedessen nicht selig werden könne.293 Die Wiedergeburt selbst (II.) komme von Gott, sie würde durch den H. Geist gewirkt. Das Mittel, durch das die Wiedergeburt erfolge, sei die Taufe.294 In der Wiedergeburt erführe der Mensch eine wahrhaftige Veränderung, die Spener wiederum in drei Aspekten manifestiert sieht: »Indessen ists gleichwol eine warhafftige geburt / es ist etwas da / das vorhin noch nicht da gewesen / der mensch ist in der that anders / als er gewesen war. Daher es so offt […] eine geburt genennet wird. […] Wo wir aber / wie es sich eigentlich mit der wiedergeburt verhalte / kürtzlich auß der schrifft zusammen ziehen wollen: so mögen wir sagen / daß gleichsam dreyerley dinge in derselben vorgehen: 1. Ist dieses / daß der H. Geist in der seele / die er wiedergebähren will / sein liecht und also den glauben entzündet. Dieser ist der erste funcken des geistlichen lebens in der wiedergeburt / und also der anfang des neuen menschen. Daher zu mercken: Wann wir vorher den glauben / das mittel der wiedergeburt auch genennet haben / daß solches von den folgenden stücken in der wiedergeburt / und nicht von dero erstem anfang zu verstehen seye; dann derselbe geschiehet nicht durch den glauben / sondern zu dem glauben / der darinnen gegeben wird. 2. Weil nun so bald der glaube in einer seele ist / GOtt dieselbe gefället / und er gleich seinen Sohn mit allen seinen gütern derselben schencket / also ist so bald das andere in der wiedergeburt / daß GOTT einem menschen / in dem er nun durch seinen Geist den glauben gewürcket hat / stracks alle seine sünde vergiebet / und hingegen die gerechtigkeit seines Sohns / die der glaube in seiner ordnung ergreif291 Brecht, Zwischen Schwachheit und Perfektionismus, 66. 292 Philipp Jakob Spener, Am Fest der H. Dreyeinigkeit. Erneurung und Wachsthum im guten [Predigt über Joh 3, 1 – 15], in: ders., Die Evangelische Lebens = Pflichten. Anderer Theil / Von Pfingsten biß zu Ende, 41 – 63, hier : 44 ff. 293 Ebd., 44 f. 294 Vgl. ebd., 46.

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ft / zurechnet: damit ist der mensch vor GOttes gericht gerecht […]. 3. So bald nun GOTT einen menschen durch den glauben gerecht gemacht / und zu seinem kind angenommen hat / will sichs nicht ziemen / daß er denselben bloß in seiner alten verderbnuß lasse / daher folget so bald / da er in demselben einen neuen menschen oder eine neue art schafft / daß er nun ein gantz anderer mensch ist. Diese drey stücke sind an sich unterschieden / folget aber immer eines auß dem andern / und geschehen der zeit nach gleichsam in einem augenblick / nicht aber erst lange zeit eines nach dem andern […].«295

Nach dieser Charakterisierung der Wiedergeburt als durch den H. Geist gewirkten dreischrittigen Prozess mit der Entzündung des Glaubens als erstem, der sodann erfolgenden Rechtfertigung als zweitem und der Genese des Menschen als »ein gantz anderer« als drittem Schritt liegt das Ergebnis für Spener in zwei Gesichtspunkten bzw. »Früchten« vor (III.): zum Einen in Form des neuen oder geistig veränderten Menschen296, zum Anderen in der nun vorliegenden Seligkeit des Menschen. Hierdurch steht die »Lehre von der Wiedergeburt« »aller einbildung der verdienste« »schnurstracks entgegen«.297 Deutlich nun unterscheidet sich dieser wiedergeborene Mensch von dem ›normalen‹ tugendhaften Menschen, der auch ein Heide sein kann, da dieser zwar ein äußerlich gutes Leben zu führen vermag, jener aber am inneren Menschen verändert ist, »in des hertzens grund«.298 Einher mit diesem nicht weiter ausgearbeiteten Wandel des Menschen geht ein Sinneswandel; dieser stellt das Leitmotiv der spenerschen Konzeption von der ›Erneuerung‹ dar, die von der Wiedergeburt unterschieden wird.299 Dieser Teil, den der Mensch aktiv vollzieht, während die Wiedergeburt für ihn eher als passiver Empfang zu beschreiben ist300, ist aber letztlich auch das Fundament seines ganzen Reformansatzes, der bei der Sammlung der Frommen beginnt. Denn in der Sammlung derjenigen Christen, die wiedergeboren und somit innerlich verändert sind, ist eine Personengruppe erfasst, die zwar ihren neuen Status nicht unverlierbar inne hat301, jedoch ständig darum bemüht ist, ihren Anteil am »neuen Menschen« zu leisten, der als Frucht der Wiedergeburt (nicht als Werkgerechtigkeit), aber auch als Zeichen ihres Vollzuges302 zu verstehen ist. Auch bei demjenigen, bei dem der Wandel durch den Heiligen Geist angestoßen wurde, müssen Fleisch und Blut immerzu 295 296 297 298 299 300 301

Ebd., 48. Vgl. ebd., 48 f. Ebd., 49. Spener, Auffrichtige Ubereinstimmung mit der Augsp. CONFESSION, 144. Vgl. ebd., 24. Vgl. ebd., 26. An verschiedenen Stellen weist Spener darauf hin, dass die Wiedergeburt auch wieder verloren werden kann; vgl. etwa Auffrichtige Ubereinstimmung mit der Augsp. CONFESSION, 160. 302 Vgl. Spener, Pia Desideria, 13.

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überwunden werden, wodurch der innere Mensch von Tag zu Tag erneuert wird.303 Martin Schmidt formuliert, wenn auch nicht auf den ersten Blick verständlich, dennoch sehr treffend: »Der innere Mensch, den Gott in der Wiedergeburt schuf, ist zum äußeren geworden. Darin liegt der eigentliche Sinn des Vorgangs, darin die wesentliche Überlegenheit über die Rechtfertigung. Der Wiedergeborene wächst und bildet sich in die Ähnlichkeit mit Jesus Christus hinein.«304 Eben dieses ständige Bemühen ist das Unterscheidungsmerkmal der Wiedergeborenen von den Nichtwiedergeborenen: Zwar finden sich durch die Erbsünde auch bei allen Wiedergeborenen »allerley wercke des fleisches«305, durch sein Mühen aber ist er dennoch ganz neu geschaffen. Auch ist es den Wiedergeborenen nicht möglich, diesseitig den höchsten Grad zu erreichen; immer jedoch muss man darum bemüht sein, zu wachsen und sich darum anzustrengen.306 Die Unterscheidung von Wiedergeburt und Erneuerung, dies sei noch einmal resümierend angeführt, liegt darin, dass »jene [die Wiedergeburt, d. Vf.] der anfang des geistlichen lebens / diese [die Erneuerung] aber die fortsetzung des Lebens ist.«307 Spener macht jedoch auch konkrete Vorschläge, wie das Bemühen des erneuerten Menschen gegen die Sünde zu unterstützen sei. Ohne an dieser Stelle bereits den beiden Konsequenzen, die sich aus der Wiedergeburt als praktische Schlussfolgerungen des Strebens nach Vollkommenheit (Erneuerung) ableiten, vorzugreifen (vgl. hierzu VI.2.4.2 und VI.2.4.3), sollen seine fünf »Mittel der Erneuerung« kurz genannt werden: Als solche führt Spener selbstverständlich die Bibel an, die Taufe, das Abendmahl, das Gebet (»das vortrefflichste tägliche mittel«) und das Kreuz; hinzu kommen »besondere beförderungs = mittel«, zu denen die ständige Meditation bzw. Reflexion gehört, unter anderem, dass »wir ohne die erneuerung endlich die wiedergeburt selbs wieder verliehren«, »daß uns GOtt alles geistliche dazu gegeben habe / daß wir solches treulich anwenden«, dass die in der Wiedergeburt erlangte Seligkeit zum Nutzen unseres Nächsten eingesetzt wird, dass der Fleiß hierzu aufrecht gehalten werden muss und letztlich, dass der eigene Stand täglich einer strengen Prüfung unterzogen wird.308 Wenn auch dem Begriff der Wiedergeburt bei Francke und dem von ihm eingeleiteten hallischen Pietismus nicht dieselbe Bedeutung beigemessen 303 Vgl. Spener, Auffrichtige Ubereinstimmung mit der Augsp. CONFESSION, 146. 304 Martin Schmidt (Hg.), Wiedergeburt und neuer Mensch. Gesammelte Studien zur Geschichte des Pietismus, Witten 1969, hier : 179. 305 Vgl. Spener, Auffrichtige Ubereinstimmung mit der Augsp. CONFESSION, 147 f. 306 Vgl. ebd., 210. 307 Ebd., 237; in der Fortsetzung heißt es: »[…] jene ist vollkommen / dann wir werden gantz zu Gottes kindern gebohren / diese aber ist unvollkommen: jene geschiehet auf einmahl / an dieser aber hat man täglich noch zu arbeiten.« 308 Vgl. die Auflistung in Spener, Erneurung und Wachsthum, 56 ff.

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wird309, so lässt sich doch feststellen, dass die Verwandlung des Menschen auch in der Theologie Franckes als Scharnierstelle bezeichnet werden kann. Allerdings kann man auch Francke nicht eben nachsagen, dass er eine regelrechte Lehre der Verwandlung entworfen hätte. Ähnlich Spener hält er sich relativ allgemein, wenn es um die Verwandlung des Menschen durch den Geist geht: Selbst seine Predigt Die Lehre unsers HErrn JESU CHristi von der Wiedergeburt310 bleibt recht vage, wenn er diese, in Anlehnung an Spener, beschreibt: »Wenn wir nun vors dritte die Art und Weise der Wiedergeburt betrachten wollen, so müssen wir erstlich erkennen, daß es eine wahrhaftige Geburt seyn müsse, und dannenhero das Wort Wiedergeburt, und was davon aus GOttes Wort geredet wird, nicht etwa ein Rätzel oder Gleichniß sey, darunter was anders verstanden werden. Dann so pfleget es meistentheils zu geschehen, daß denen Menschen, wann sie hören von einem göttlichen Licht im Hertzen, von der Wiedergeburt, Erleuchtung, Heiligung, Erneurung u.s.f. es lauter Rätzel und Gleichnisse sind. Deshalben müssen wir wissen, daß die Wiedergeburt eine wahre Geburt sey, und etwas reales, etwas wahrhaftiges in uns anfange und darstelle. Es saget unser Heyland im Evangelio, es werde Geist aus Geist geboren. […] Wie nun das, was vom Fleich gebohren wird, nicht in einer blossen Einbildung bestehet, sondern es ist etwas wirckliches und wahrhaftiges, daß der Mensch leider! wohl erfähret, nemlich Fleisch, das ist ein fleischlicher Sinn, Art und Natur : also kann auch das, was vom Geist geboren ist, nicht etwas bloß-eingebildetes seyn, sondern es ist etwas wirckliches und wahrhaftiges, nemlich Geist, das ist, ein geistlicher Sinn, Art und Natur.«311

Ebenso mit der Konzeption Speners vergleichbar ist die Wirkung der Wiedergeburt, die bei Francke allerdings in vier Schritten erfolgt: Zunächst wird der Glaube entzündet, sodann eine »gläubige Zuversicht erwecket«, drittens erfährt der Mensch seine Rechtfertigung und wird dann letztlich viertens seiner »Kindschaft GOttes versichert«312. Ein derart wiedergeborener Mensch erfährt eine gänzliche Veränderung seines Herzens, es entsteht ein neuer Sinn, der z. B. keineswegs mehr nach irdischen vergänglichen Dingen verlangt.313 Zweck der Wiedergeburt ist auch bei Francke der »neue Mensch«, »der in Gerechtigkeit und Reinigkeit vor GOtt ewiglich lebe.«314 Wiederum vergleichbar mit der spenerschen Konzeption ist auch bei Francke der Mensch in diesem neuen »Stande der Gnade« nicht vor dem Verlust desselben gefeit, sondern muss immerzu »Glauben, Treue und Gehorsam« prak309 Vgl. Wallmann, Wiedergeburt und Erneuerung, 10 ff. 310 August Hermann Francke, Am Fest der heiligen Dreyeinigkeit. Die Lehre unsers HErrn JESU CHristi von der Wiedergeburt [Predigt, gehalten am 30. Mai 1697 in Glaucha], ediert in: Peschke, Predigten I, 162 – 204. 311 Francke, Die Lehre unsers HErrn JESU CHristi von der Wiedergeburt, 187 f. 312 Vgl. ebd., 188 ff. 313 Vgl. ebd., 192 sowie den folgenden Abschnitt V.2.4.2. 314 Ebd., 202.

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tizieren und »dem Teufel und allen seinen Wercken, und allem seinem Wesen« entsagen.315 Bricht der Mensch als der eine Vertragspartner den Bund, so ist auch Gott als der andere »nicht schuldig das seine zu halten«316, der Mensch fällt aus dem Stand der Gnade und muss sich erneut um seine Wiedergeburt bemühen. Auch bei Francke gründet sich in der Verwandlung bzw. der Erhaltung des neuen Menschen die Notwendigkeit eines steten praktischen Christentums mitsamt den hieraus folgenden Konsequenzen (vgl. V.2.4.2). Allerdings unterscheidet sich die Lehre der Umwandlung an einer entscheidenden Stelle. Zwar steht hier wie dort die vollständige Verwandlung des alten Menschen hin zum neuen im Zentrum, jedoch ist bei Francke »nicht Wiedergeburt, sondern Bekehrung« der »Zentralbegriff seiner Lehre«.317 Was aber bedeutet diese zunächst wie eine bloße terminologische Spitzfindigkeit anmutende Unterscheidung für die pietistische Frömmigkeitspraxis? Tatsächlich lässt sich ein nicht unerheblicher Unterschied der beiden Ansätze feststellen, wenn man Franckes Lebenslauff318 vor der Matrize von Speners Konzeption liest. Der Lebenslauff, der vermutlich Anfang 1691 in Glaucha verfasst wurde319, sollte unter anderem auch als Exempel für die erfolgreiche Verwandlung des Menschen dienen320 ; dies lässt sich beispielsweise an der Übersetzung ins Lateinische, die durch Franckes Sohn Gotthilf August angeregt wurde, um ihn einem internationalen akademischen Publikum präsentieren zu können, ebenso belegen wie an der Übersendung desjenigen Teiles des Lebenslaufes, der Franckes Bekehrung thematisiert, an Spener, um es als Exempel zu verwenden.321 Obwohl dem Lebenslauff zumindest in früher Zeit nicht allzu 315 316 317 318

Ebd., 184. Ebd. Wallmann, Wiedergeburt und Erneuerung, 10. Im Folgenden wird die im zweiten Band der Reihe Kleine Texte des Pietismus (KTP) durch Markus Matthias arrangierten Edition zitiert; spannend wie ein Roman liest sich die Geschichte des der Edition zugrunde liegenden einzigen Manuskriptes, vgl. ebd., 74ff; vgl. zum Lebenslauf Franckes auch Erhard Peschke, Bekehrung und Reform. Ansatz und Wurzeln der Theologie August Hermann Franckes, Bielefeld 1977, §1.1: Francke über seine Bekehrung. 319 Vgl. Markus Matthias (Hg.), Lebensläufe August Hermann Franckes, Leipzig 1999, hier : 73. 320 Er kann jedoch auch als Modell der pietistischen Bekehrung schlechthin bezeichnet werden: »I regard these elements as part of a structural and functional model of pietistic conversion. The development of particular ways to express them, and their trans formation [!] under reformed Pietism and the revival movements, should be investigated more closely […].« Hans-Martin Kirn, The penitential struggle (›Bußkampf‹) of August Hermann Francke (1662 – 1727). A model of pietistic conversion?, in: Jan N. Bremmer u. a. (Hgg.), Paradigms, poetics and politics of conversion, Leuven u. a. 2006, 123 – 132, hier : 124; 321 Vgl. ebd., 73 sowie 79; hier zitiert Matthias aus einem Brief Franckes an Spener vom 15. März 1692: »Wegen des jüngst uns zugesandten Brieffes eines mit dem Atheismo luctirenden Menschen, sende hiebey den anfang und fortgang meiner Bekehrung, weil die Exempel mehr zu moviren pflegen […]«.

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viel Breitenwirksamkeit beizumessen sein wird322, kann er nichtsdestoweniger als (auch literarisch interessantes) Exempel für die Franckesche und, mit einigen Abstrichen, auch für die Hallisch-pietistische Konzeption der Verwandlung des Menschen Verwendung finden. »Francke beschreibt in ihm nämlich seinen geistlichen Weg von seiner mit leiblicher Geburt und Taufe gegebenen alten zu seiner durch Bekehrung und Wiedergeburt gewonnenen neuen Existenz«323, wobei anzumerken ist, dass dies ex post und nicht in Form etwa eines Tagebuches erfolgte. »The main moments in Francke’s conversion story are typical: the crisis experience, the turnaround and the reconstructions of the biography in the light of the new identity.«324 Deutlich unterscheidet er seinen »natürlichen«325 Zustand vor der Verwandlung von dem neuen danach. Was ist das Besondere an Franckes Verständnis von der Verwandlung des Menschen? Auch bei Francke geht von Gott ein treues, geduldiges Bemühen um den (alten) Menschen aus, weshalb Francke auch, inmitten der Schilderungen seines eigenen verdorbenen weltlichen Zustandes, über diesen göttlichen Aspekt der Wiedergeburt schreibt: »Uber Gott hab ich wol keine Ursache mich dißfalls zu beklagen. Denn Gott unterliesse nicht mein Gewissen offtmahls gar kräfftig zu rühren, und mich durch sein wort zur busse zu ruffen.«326

Besonders durch das »offtmahls« wird deutlich, dass bei ihm auch im Zustande vor der eigentlichen Verwandlung immer wieder dieses göttliche Bemühen zu bemerken war. Das eigentlich Bemerkenswerte in der Franckeschen Wiedergeburtslehre ist die Notwendigkeit des menschlichen Ergreifens der gebotenen Hand Gottes: Obzwar die Initiative von Gott aus geht, hat der Mensch, und hier unterscheidet sich der Franckesche vom Spenerschen Ansatz, bereits vor der Verwandlung die Pflicht des Entgegenkommens. In der Fortsetzung der oben zitierten Passage heißt es: »Ich war wol überzeuget, daß ich nicht im rechten zustande wäre. Ich warff mich auch offt nieder auff meine knie, und gelobete Gott eine besserung. Aber der ausgang bewieß, daß es nur eine fliegende hitze gewesen. Ich wuste mich wohl zu rechtfertigen für den Menschen, aber der herr erkante mein hertz. Ich war wol in großer Unruhe und in großem Elend, doch gab ich Gott die Ehre nicht, den Grund solches Unfriedens zu 322 323 324 325

Vgl. ebd., 80. Ebd., 133. Kirn, Penitential struggle, 127. Ebd., 14: »Für der welt ward ich wol für einen frommen und fleissigen studenten gehalten, der seine zeit nicht übel angewant, ward auch von vielen lieb und wehrt gehalten, aber in der that war ich nichts als ein blßer natürlicher mensch, der viel im Kopff hatte, aber vom rechtschaffenen wesen, das in Jesu Christo ist weit genug entfernet war.« 326 Ebd., 22.

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bekennen, und bey ihm allein den warhafftigen Frieden zu suchen. Ich sahe wol, daß ich in solchen principiis, darauff ich mein thun setzte, nicht acquiesciren könnte, doch ließ ich mich durch die verderbte Natur immer mehr einschläffern, meine busse auffzuschieben von einem tage zum andern. Demnach kann ich anders nicht sagen als daß ich wol vierundzwantzig Jahr nicht viel besser gewesen als ein unfruchtbarer baum, der zwar viel laub aber mehrentheils faule Früchte getragen.«327

Zentral ist der Passus »doch gab ich Gott die Ehre nicht, den Grund solches Unfriedens zu bekennen«: Der Wandel beginnt erst mit dieser bewussten Hinwendung, wobei zu betonen ist, dass nicht allein das reine Bewusstsein hinreichend ist, sondern die Hinwendung tief im Inneren vollzogen werden muss – bereits vorher, so erkannte Francke im Nachhinein, hatte er ja die äußerlichen Zeichen getragen. Erst 1687 allerdings, als er in Lüneburg eine Predigt über Joh 20,31 halten sollte, vermochte Francke nach eigenen Angaben diesen Schritt zu vollziehen: »Aber gegen das 24 Jahr meines alters fienge ich an in mich zu schlagen, meinen Elenden zustand tieffer zu erkennen, und mit größerem Ernst mich zu sehnen, daß meine Seele davon möchte befreyet werden. […] Ich lebte noch mitten unter weltlicher Gesellschafft, war mit anlockungen zur Sünde um und um begeben. Darzu kam die lange Gewohnheit, aber des alles ungeachtet, war mein hertz von dem allerhöchsten Gott gerühret, mich für ihm zu demütigen, ihn um Gnade zu bitten, und offtmahls auff meinen knien anzuflehen, daß er mich in eine andere Lebensbeschaffenheit setzen, und zu einem rechtschaffenen kinde Gottes machen wollte.«328

Gott hebt nach Franckes Auffassung »die klözer und plöcke« aus dem Weg, und letztlich ist auch die Bekehrung selbst »sein werck«.329 Die Zusage muss aber vom Menschen kommen. Hierin liegt denn auch, nicht nur bei Francke, die Begründung für die ständige Hervorhebung der Selbstreflexion: Denn nur, wenn der eigene Zustand bewusst ist und empfunden wird, kann von Seiten des Menschen der notwendige Schritt auf Gott zu getan werden: »Indem ich nun mit allem Ernst hierauff bedacht war, kam mir zu Gemüth, daß ich selbst einen solchen Glauben, wie ich ihn erfordern würde in der predigt, bey mir nicht fünde. […] Denn solches, nemlich, daß ich noch keinen wahren Glauben hätte, kam mir immer tieffer zu hertzen.« Bei Francke ist dieser Prozess der Auseinandersetzung mit sich selbst mit »viel thränen aus den augen«, mit viel jammervoller Zerknirschung verbunden.330 »Im Durchbruch seines Bekehrungserlebnisses gewann Francke eine Glaubensgewißheit, die nicht im intellektuellen Bereich der philoso327 328 329 330

Ebd. Vgl. ebd., 23. Ebd., 25. Vgl. etwa ebd., 27.

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phisch.theologischen Argumentation, sondern in der Erfahrung verankert war.«331 Das äußert sich etwa darin, dass Francke in seinem Bekehrungsbericht verschiedene ›erfahrene‹ Anstöße Gottes als Anlässe zu seiner eigenen Selbstreflexion aufzeigt, etwa das dem Augustinischen »tolle lege« der Confessiones durchaus verwandte zufällige Aufschlagen des griechischen Neuen Testaments, in dem er den Satz, den unmittelbar vorher sein »Tischwirth« ausgesprochen hatte, aufschlägt, oder den auf seinen Zustand zugeschnittenen Diskurs des besuchten Superintendenten.332 Erst nach der durch die folgende Selbstbetrachtung ›erfahrene‹ Bewusstwerdung seines weltlichen, natürlichen Zustandes und die hierauf zurückgehende Bußhaltung (»In solcher großen Angst legte ich mich nochmals an erwehntem Sontag abend nieder auff meine knie, und rieffe an den Gott, den ich noch nicht kante, noch Glaubte, um Rettung aus solchem Elenden zustande […]«333) kommt es endlich zur »Erlösung«334 : »Da erhörete mich der Herr, der lebendige Gott, von seinem h. Thron, da ich noch auff meinen knien lag«, und er erfährt die vollkommene Verwandlung bzw. Wiedergeburt: »Denn wie man eine hand umwendet, so war alle mein zweiffel hinweg, ich war versichert in meinem hertzen der Gnade Gottes in Christo Jesu, ich kunte Gott nicht allein Gott sondern meinen vater nennen […]. Ich stund gar anders gesinnet wieder auff, als ich mich niedergeleget hatte. Denn mit großem kummer und zweiffel hatte ich meine knie gebogen, aber mit unaußsprechnlicher Freude und großer Gewissheit stand ich wieder auff.«335

Franckes Lebenslauff gipfelt in seiner Bekehrung und endet ebendort. Auf das hieraus resultierende veränderte Leben wird im Folgenden noch zu sehen sein. Wichtig an dieser Stelle ist, dass der Unterschied zu Speners Wiedergeburtslehre darin liegt, dass es bei Francke einer bewusst erfahrenen »Wieder- oder Neugeburt bedarf, um ein wahrhafter Christ zu werden. Dabei spielt die innerliche Buße eine entscheidende Rolle. Sie ist der Ort, wo der Christ sich von der gottfernen ›Welt‹, nach deren Gesetzen er bislang gelebt hat, lossagt und sich für Gott entscheidet. Wie sehr die Pietisten die Buße auch als göttliches Wesen bestimmt haben [s.o., d. Vf.], so hat die Buße immer den Willensentschluss des Menschen zum Ziel, fortan ein spezifisch christliches Leben zu führen.«336 Bei Spener ist dieses spezifisch christliche Leben rein als Frucht der durch den Geist 331 Udo Sträter, August Hermann Francke und Martin Luther, in: Pietismus und Neuzeit 34 (2008), 20 – 42, hier : 28. 332 Vgl. ebd., 27 f. 333 Ebd., 29. 334 Ebd., 31. 335 Ebd., 29; vgl. auch Martin Brecht, August Hermann Francke und der Hallische Pietismus, in: ders. (Hg.), Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert, 439 – 539, hier besonders 440 – 446. 336 Matthias, Lebensläufe August Hermann Franckes, 136.

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gewirkten Wiedergeburt zu verstehen – selbst die oben als menschlicher Anteil der Verwandlung dargestellte »Erneuerung« bleibt so letztlich nur eine Antwort, deren Exerzierung durch den Menschen zwar notwendig ist, wodurch er sich zudem von den Nichtwiedergeborenen abhebt. Bei Francke allerdings muss der Mensch die Frage stellen, die Frage nach seinem Ist-Zustand und seinem SollZustand. Dementsprechend kann der Lebenslauff auch als »eine Art Generalbeichte mit Bekehrungsbericht«337 verstanden werden. Nur, wer wirklich vor sich selbst diese Beichte des eigenen Daseins abzulegen bereit ist, kann die Bekehrung, die neue oder Wiedergeburt, erfahren und fortan das neue Leben führen. Weniger die Vorstellung einer geistlichen Veränderung des Menschen338 als vielmehr die als »Früchte« auf die wahrhaftige Veränderung folgende empirische Verhaltensmodifikation, das Bejahen des heiligen Lebens und der sich hierin spiegelnden neuen Gottesbeziehung stellt das Besondere an der pietistischen Konzeption der Wiedergeburt dar. Zwei Aspekten dieser ›neuen‹, Lebensführung, die ja auch in den antipietistischen Quellen bezeugt wurde, widmen sich die beiden folgenden Abschnitte. 2.4.2 Ein »Heiliges Leben«339 führen: Weltflucht und Askese vs. Wirken in der Welt Wie sahen die Konkretionen dieses neuen Lebens aus? Antworten auf diese Frage geben diverse Antipietistica, die in zwei – auf den ersten Blick unvereinbare – Richtungen gehen: Die pietistische Lebensführung sei einerseits asketisch und weltflüchtig, würde aber andererseits, dem diametral gegenüber eben auch die ›vita activa‹ betonen, was bis zu einem gewissen Punkt schon als Werkgerechtigkeit zu interpretieren sei. Beide Aspekte lassen sich auch aus den pietistischen Quellen belegen, und ebenso lassen sich beide Aspekte des »Heiligen Lebens« pietistischerseits als logische Konsequenzen aus der Wiedergeburt zusammenführen, welche eine »dramatic reorientation of the person’s complete existence« darstellt und eine »radical devaluation of the past« erfordert.340 Gegenüber den Behauptungen, Pietisten würden sich nicht satt essen, trügen nur knielange schwarze Mäntel und ließen den Kopf den ganzen Tag hängen, äußerte Francke zwar in seinem Verhör, dass er seinen Zuhörern keinerlei 337 Ebd., 139. 338 Welche eine ntl. Metapher und deshalb eher christliches Allgemeingut darstellt; vgl. Manfred Marquardt, Art. Wiedergeburt. II. Christentum. 2. Dogmatisch, in: RGG4 8, 1530 – 1531, hier : 1530. 339 Z. B. Spener, Auffrichtige Ubereinstimmung mit der Augsp. CONFESSION, 737. 340 Kirn, Penitential struggle, 127.

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Vorschriften gemacht habe341, und auch in seiner Apologia schrieb er über solch eine behauptete pietistische Lebensweise: »Was aber von einem gewissen habitu […] ist nun mehro schon gantz ungegründet erfunden worden.« So »ungegründet erfunden«, wie es Francke darstellt, waren die Vorwürfe jedoch nicht. Als Beleg reicht ein Blick allein auf Speners oder Franckes Oeuvre aus, in denen sich eine Vielzahl von Quellen findet, die bereits im Titel das ›Kopfhängen‹ sozusagen programmatisch enthalten.342 Allerdings: Es geht nicht um Weltfeindlichkeit um ihrer selbst Willen. Vielmehr ist mit der Wiedergeburt und dem hiermit verbundenen menschlichen Bemühen um das Heilige Leben ein Ausschließlichkeitsanspruch verbunden. Spener bringt dies auf die konzise Formel, wenn er über die akademischen ›Maulchristen‹ urteilt: »Sonderlich aber 8. führen dabey ein fleischliches leben / daß der H. Geist nicht bey ihnen wohnen kann.«343 Das »fleischliche Leben« muss jeder Christ mit der Wiedergeburt abschließen, und auch danach darf er nicht wieder mit ihm anbandeln; an seine Stelle muss ein rein geistliches Leben treten. Alle Äußerungen des weltlichen Lebens sollen dementsprechend im Hinblick auf die Wiedergeburt bei Spener gemieden werden, weil sie ein Hindernis der Erneuerung sind. In seiner Predigt Mässigkeit vom 2. Adventsonntag des Jahres 1687344 beispielweise wird dies deutlich. Dem übermäßigen Gebrauch von Speise und Trank soll sich der Wiedergeborene enthalten, um Herz und Seele nicht zu beschweren. Anhand der beiden Beispiele expliziert er : »Wird auch gedacht deß beschwerens deß hertzen / daß eure hertzen nicht beschweret werden mit fressen und sauffen. Hierauß sehen wir / worinnen die rechte art der unmässigkeit bestehe / und gleichsam was das eigentliche lasterhaffte darinnen seye / nemlich die beschwerung des hertzens. Das hertz und unsere seele sollen allezeit so bereit als geschickt seyn / daß es seine verrichtung selbs und durch den leib zuthun vermöge / wie so zu reden ein diener / der einem herrn auffwart / allezeit fertig seyn muß […].«345

Unmäßiger Gebrauch der Speisen würden so zu einem »Missbrauch der gaben Gottes«346, und gerade die Bankette oder großen Tischgemeinschaften lüden zu Völlerei oder Trinkerei ein. Die Verlockungen müssten demnach gemieden 341 Vgl. Gerichtliches Leipziger Protocoll, 43. 342 Vgl. etwa diverse Predigt-Titel in Speners Evangelischen Lebens = Pflichten oder bei Francke, nicht zuletzt auch die beiden von Francke herausgegebenen Traktate Gründ = und ausführliche Erklärung der Frage: Was von dem Weltüblichen Tantzen zu halten sey? In zwey Tractätlein verfasset, Halle 1697 oder andere Schriften, die er schon zu Beginn seiner Tätigkeit in Glaucha veröffentlichte. 343 Spener, Das Geistliche Priesterthum, 46. 344 Philipp Jakob Spener, Am 2. Sontag deß Advents. Mässigkeit [Predigt, über Lk 21, 25 – 36], in: ders., Die Evangelische Lebens = Pflichten, 21 – 43. 345 Ebd., 24. 346 Ebd., 35.

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werden, wolle ein Wiedergeborener in der Erneuerung verbleiben. Nahrung zu genießen sei prinzipiell gut, nicht rechtens sei jedoch der quantitativ unmäßige Gebrauch sowie der ständige Genuss etwa von luxuriösen Speisen, der zu Verachtung von ›normalen‹ Speisen und zu Unzufriedenheit gleichermaßen führe, was wiederum die Erneuerung gefährde.347 Ähnliches gelte auch für andere weltliche Ablenkungen, wie vor allem alles, was den Sexualtrieb reize (die »lust = seuche«348) – Heiligung ist hier vor allem zu verstehen als Zähmung der unordentlichen Begierden: Mann und Frau müssen sich den Stand erarbeiten, wie er in der ersten Schöpung war349. Wer Speners konkrete Vorschläge liest, weiß jedenfalls, woher die Vorwürfe der Orthodoxie kommen: Um die notwendige Keuschheit des Heiligen Lebens zu behalten, darf sich der oder die Wiedergeborene nicht lüstern umsehen, auch unzüchtige Rede muss verhindert werden, ja sogar Scherzen ist »hurerey«.350 Wider das Heilige Leben »streitet nun alle thätliche unreinigkeit / unzüchtiges küssen / betasten / die grobe hurerey / ehebruch / muthwillige befleckung der eigenen leiber […].«351 Auch leichtfertige Kleidung, »sonderlich bey den weibs = personen / die jenige / welche viel ihres leibes / nemlich mehr als man jedes orts insgemein an denselben zu sehen gewohnt ist / entblössen«, vor allem aber, »wo noch schmincken und anders dazu komt«, des weiteren »leichtfertige gemählde / kupfferstück / bilder und dergleichen«.352 Der Beförderung des Heiligen Lebens dienten demgegenüber das Fasten sowie die fleißige Arbeit.353 Der Mensch müsse in der Erneuerung deshalb »in stäter übung stehen / in allen stücken unser fleisch samt seinen lüsten und begierden zu creutzigen […].«354 Vergleichbares findet sich bei Francke, der sich allerdings am liebsten über das »weltübliche Tantzen«, über das »Comoedien halten und besuchen« oder das »Karten und Würffel-spielen« ereiferte355, ebenso jedoch in anderen pietistischen Schriften.356 Wichtig ist allerdings die Differenzierung der pietistischen Position von den polemisierenden gegnerischen Beschuldigungen: Keineswegs 347 Vgl. ebd., 29. 348 Philipp Jakob Spener, Am Tage der Verkündigung Maria. Keuschheit [Predigt, über Lk. 1, 26 – 38.], in: ders. Die Evangelische Lebenspflichten, 404 – 428, hier : 412. 349 Vgl. ebd. 350 Ebd., 413 f. 351 Ebd., 414 f. 352 Vgl. ebd., 423. 353 Vgl. ebd., 419 f. 354 Ebd., 427. 355 Hier: August Hermann Francke, Verantwortung Gegen die so genandte Beschreibung des Unfugs der Pietisten / und die darinnen enthaltene alte und neue Aufflagen. Dabey Zu mehrer Erbauung des Lesers angefüget ist Eine Beatrachtung von Gnade und Wahrheit. Halle, o. J., in: Peschke, Streitschriften, 161 – 216, hier: 192. 356 Etwa: Unmaßgebliches Bedencken Von denen also genandten PIETISTEN Und COLLEGIIS PIETATIS, Bl. 14; Confessio oder Glaubens = Bekäntniß, 17 f.

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geht es ja um die asketische Haltung selbst, die hier zum Ideal erhoben würde, um die bewusste Unterdrückung einzelner Triebe, wie dem Sexualtrieb. Vielmehr geht es um die notwendige Ausschließlichkeit Gottes, der jeglicher weltliche Anspruch des Menschen weichen muss: »Das natürlich-weltliche Leben wird bestimmt von Fleisch und Sinnen, also den Trieben. Pietistische Frömmigkeit ist asketische Frömmigkeit. Für den älteren Pietismus ist, entgegen einer weitverbreiteten Ansicht, weniger der Sexualtrieb, der Fortpflanzungstrieb, sondern der Ich-Trieb, der Geltungstrieb der vorherrschende Trieb der sündigen Natur.«357 Um es mit Franckes Worten zu sagen: der Mensch soll allem »Creatürlichen« entsagen, das eigentliche Ziel dieser Enthaltsamkeit ist die »Zerschlagung des Hertzens«358. Auch die Betonung Franckes, dass diese asketische Frömmigkeit gerne geübt würde, sobald die göttliche Liebe einmal »geschmeckt« wurde359 oder die Hervorhebung Speners, es sei zwar sinnvoll, dann und wann einmal zu fasten, um den inneren Menschen zu stärken360, der Leib aber müsse immer hinreichend versorgt werden, damit der Mensch mit Herz und Seele gleichermaßen unbeschwert dienen könne (s. o.) zeigen auf, dass es im Pietismus nicht um Askese selbst als Frömmigkeitspraxis geht, sondern vielmehr der gesamten Idealform pietistischen Lebensführung, dem Heiligen Leben der Wiedergeborenen, ein asketischer Zug inne wohnt. Nicht die Verweigerung von Speise und Trank oder aufwendiger Kleidung wird an sich wertgeschätzt, sondern die dahinter stehende Geringschätzung des »Ich-Triebes«. Den wirklich notwendigen Bedürfnissen361 muss der Wiedergeborene nachkommen, alles andere aber ist eine reine »anhängigkeit des hertzes«, wodurch er »sein eigener Gott« wird.362 Sich selbst muss der Mensch gering achten. Luxus und Komfort sind Sammelbegriffe, in denen sich alles Weltliche abgebildet wiederfinden lässt, 357 Johannes Wallmann, Was ist Pietismus? in: Wallmann, Pietismus-Studien II, 211 – 227 hier : 221. 358 August Hermann Francke, Die wahre Glaubens = Gründung / Kräfftigung / Stärckung / und Volbereitung / In einer Predigt aus dem Evangelio am XXI. Sontage nach dem Feste der H. Dreyeinigkeit Johann. IV. v. 47 – 54. Anno 1691. Zu Halberstadt in der Kirchen zum H. Geiste öffentlich gezeiget […] Franckfurt 1698, Bl. 11. 359 Francke, Verantwortung Gegen die so genandte Beschreibung des Unfugs der Pietisten, 192: »Weil sie denn nach der einmahl geschmeckten Liebe Gottes keine warhafftige Freude mehr im tantzen und springen / in Karten und Würffel-spielen / in Comoedien und andern dergleichen Dingen / darinnen die Welt ihre Lustbarkeiten setzet / zu suchen wissen / und vielmehr einen rechten Eckel und Verdruß gegen alle solche Dinge in ihrem Hertzen verspueren / ja klar vor Augen sehen / daß sie sich in solchen Dingen äuserlich der Welt nimmermehr gleichstellen können […].« 360 Vgl. Spener, Mäßigkeit, 30. 361 Neben der ausreichenden Versorgung mit Speis und Trank sieht Spener auch hinsichtlich der Bekleidung des menschlichen Körpers, den er auch als »madensack« bezeichnet, zwei Begründungen: »die decke unserer schand = blösse« und »die beschirmung unsers schwachen leibes«, Erneurung und Wachsthum im guten, 67. 362 Vgl. ebd., 72 f.

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und als solche nur Hindernisse der Wiedergeburt oder der Erneuerung. Nicht sie selbst müssen bekämpft werden, sondern das sich in ihnen betätigende Ich. »Ordenliche selbs = liebe«363 heißt dann, ein asketisches Leben zu führen, wo es den Körper nicht vom Gottesdienst abhält. Auch der Luxus eines guten Weines, dies betont der Elsässer Spener, ist gut, wenn damit die Gesundheit erhalten bleibt. Pietistische asketische Frömmigkeit ist deshalb keine ab und an zu übende Frömmigkeitsform oder kasteiende Bußübung, sondern eine alltägliche Lebenshaltung, eben doch ein Habitus. Er ergibt sich notwendig aus der Wiedergeburt: die asketische Lebensführung hat nicht mit einer »absonderlichen Heiligkeit« zu tun, die Wiedergeborenen »begehren ausser der Gefahr zu seyn / ihren Gott zu beleidigen«, indem sie selbst sich zum Gott machen.364 Den in den gegnerischen Polemiken beschriebenen weltfeindlichen Habitus, der sich etwa in schwarzer Kleidung oder niedergeschlagenen Augen ausdrückte, erlebte Spener nach eigenem Bekunden teils selbst, hielt ihn aber für moderat.365 Die ebenso von seinen »Widrigen« angeführte pietistische Praxis, Nicht-Pietisten auf ihre Haltung gegenüber Weltdingen hinzuweisen, befürwortete er sogar, da es um deren Seelenheil ginge.366 Eben hier beginnt der zweite Aspekt des Heiligen Lebens: das Wirken in der Welt. Die »Verbesserung des unheiligen Lebens« und das »thätige Christenthum« in verschiedenen antipietistischen Schriften waren bereits als pietistische Anliegen dargestellt worden, wenngleich hier freilich der Hinweis nicht fehlte, dass diesem – an sich löblichen – Ansinnen aufgrund der pietistischen Heuchelei kein Erfolg beschieden war. Aber auch von pietistischer Seite wurde, etwa im Zusammenhang der Reformvorschläge des Theologiestudiums, die Bedeutung der Praxis (»weil Theologia ein habitus practicus ist«) hervorgehoben. Das »thätige Christenthum« allerdings prägt das Streben nicht nur der zukünftigen (pietistischen) Theologen und ist zudem ein wesentlich zentralerer Aspekt pietistischer Frömmigkeit, als es die relativ wenigen und auch recht knappen gegnerischen Schilderungen vermuten lassen. Dies beginnt damit, dass Spener in seinen Pia Desideria die Urgemeinde idealisiert, wenn er sie als Referenz anführt, an der sich das Verhalten einer jeden christlichen Gemeinschaft ausrichten soll: Alle müssen sich um einander 363 Vgl. zum Folgenden die gleichnamige Predigt Speners Am 18. Sontag nach Trinitatis. Ordenliche selbs = liebe [Predigt über Mt 22, 34 – 46], in: Die Evangelische Lebens = Pflichten. Anderer Theil, 426 – 442. 364 Vgl. Francke, Verantwortung gegen die so genandte Beschreibung des Unfugs der Pietisten, 44. 365 Vgl. Spener, Gründliche Beantwortung des Unfugs der Pietisten, 109; er erwähnt eigene Bekannte, die tatsächlich ob ihres Seelenzustandes niedergeschlagen gewesen seien sowie Studenten, die in den Leipziger Unruhen ihren Schmuck und Pomp abgelegt hätten. 366 Vgl. ebd.

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kümmern, in geistlicher ebenso wie rein materieller Hinsicht.367 Spener führt alle solche Sorge umeinander in der christlichen Liebe zusammen, die innerhalb der Gemeinde vorherrschen muss: »Es ist bekannt […] daß unser gantzes Christenthum in glauben und Liebe / oder glauben und gottseligem leben / bestehet […].«368 Die Besserung des Lebens, die nicht zuletzt aus der Lektüre der Bibel hervorgehen soll369, muss sich auch praktisch im alltäglichen Leben erweisen. Die pietistische Lebensführung kann sich nicht im vollkommenen Rückzug aus der Welt äußern, die weltliche Arbeit muss erfüllt, Müßiggang verhindert werden.370 Wichtig ist, dass die tätige Liebe nicht mit Werkgerechtigkeit verwechselt werden darf, vielmehr bekanntermaßen die Frucht der Wiedergeburt ist. Nicht wird das »thätige Christenthum« gelebt, um sich die Wiedergeburt zu erwerben, sondern es geht aus der Wiedergeburt als Frucht hervor, sobald es in Dankbarkeit gelebt wird.371 Hieraus abgeleitet gilt weiterhin: Gute Werke sind nicht nur Teil der Schuldigkeit durch die Wiedergeburt, sondern auch Teil der christlichen Seligkeit372 : Das Heilige Leben ist notwendig Teil des Glaubens.373 Zudem kann an den »sichtbaren Kennzeichen« festellen, »wer ein Kind Gottes und wer ein Kind der Welt ist«. Hierbei handelt es sich offenkundig um ein genuin Pietistisches Ansinnen, »das den Grundprinzipien der Theologie Luthers« widerspricht.374 Keineswegs theoretisch bleiben denn auch die pietistischen Ansätze zur Umsetzung dieses Programmes. Beispiele hierfür sind nicht zuletzt die unterschiedlichen Spielarten pietistischen sozialen Engagements, die über den Bereich der direkten Gemeinde, wie er oben bereits angesprochen wurde, weit hinaus gehen. Hierzu können die beruflichen Anstrengungen, die von pietistischen Pfarrern um ihre Gemeindeglieder aufgenommen wurden, ebenso wie etwa das über das Übliche hinausreichende soziale Engagement bei Spener375 um eine Reform des Frankfurter Armenwesens sowie seine hierauf gründenden 367 368 369 370 371 372

Vgl. etwa Spener, Pia Desideria, 43 ff. Spener, Das Geistliche Priesterthum, Zuschrifft. Ebd., 42 f. Vgl. ebd., 51. Vgl. Spener, Auffrichtige Ubereinstimmung mit der Augsp. CONFESSION, 207 ff. »also gehöret zu der selitkeit nicht allein das anschauen Gottes in jener herrlichkeit / sammt der verklärung der leiber und der himmlischen freude / sondern auch die erstattung des verlohrnen göttlichen ebenbilds […] Es gehören aber alle tugenden / und also innere gute wercke / zu der erstattung des göttlichen bildes.« Spener, Auffrichtige Ubereinstimmung mit der Augsp. CONFESSION, 212. 373 »[…] weil ohne solches Leben / wie wir gehöret haben / kein mensch den wahren glauben haben und behalten kann […].« Ebd. 374 Peschke, Bekehrung und Reform, 38. 375 Vgl. den (fast) gleichnamigen Aufsatz von Udo Sträter, Soziales Engagement bei Spener, in: Pietismus und Neuzeit 12 (1986), 70 – 83; vgl. desweiteren Udo Sträter, Soziales, in: Hartmut Lehmann, Glaubenswelt und Lebenswelten, Göttingen 2004, 616 – 645.

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Bemühungen in Berlin exemplarisch angeführt werden, genauso jedoch natürlich das unermüdliche Bemühen Franckes in Glaucha vor den Toren Halles. Vor allem die weltberühmt gewordenen, auf eine von Francke initiierte Armenschule zurückgehenden ›Franckeschen Stiftungen‹, in denen unter anderen Waisenkindern ein »Heiliges Leben« ermöglicht werden sollte, sind hier zu nennen.376 All diese Bemühungen können unter dem Aspekt des Heiligen Lebens als Teile einer universalen Konzeption der »thätigen« Nächstenliebe verstanden werden377, auch, weil sich hier hinter eben nicht nur eine reine Einrichtung zur Versorgung der Armen mit dem Lebensnotwendigen verbirgt, sondern eine reflektierte, dezidiert christliche Position, die auch das Seelenheil der Armen nicht aus den Augen verliert.378 Ein schönes Beispiel hierfür ist Franckes Predigt Die Pflicht gegen die Armen379 : 1697, zwei Jahre nach der ersten Waisenhausgründung380, prangert er den Reichtum der Reichen als unchristlich an und bietet gleichzeitig praktische Ratschläge an, wie den Armen, die »in der Irre gehen, und an Leib und Seel verderben müssen«381 zu helfen sei. Das Leitmotiv der Lk 16, 19 – 31 (die Lazarusgeschichte) auslegenden Predigt ist eben diese Bias von Gebet und Almosen, »welches die beyden vornehmsten Stücke seyn eines rechtschaffenen Wandels gegen GOtt und gegen den Nächsten.«382 Es sei nur kurz darauf hingewiesen, dass selbstverständlich auch das Gebet – in Form der Fürbitte – eine weltzugewandte Seite beinhaltet.383 376 Vgl. Martin Brecht, August Hermann Francke und der Hallische Pietismus, in: , Geschichte des Pietismus, 440 – 539., v. a. 473ff; hierüber hinaus beschäftigt sich eine Unmenge von Literatur mit den Stiftungen oder anderen Wohlfahrtsbemühungen Franckes, der jedoch auch selbst eine Vielzahl von Schriften verfasst hat, die die Armenfürsorge thematisieren, vgl. Peschke, August Hermann Francke, Predigten I, 205; vgl. auch die sich mit den pietistischen Einrichtungen für Waise, vor allem in Halle, beschäftigenden Aufsätze in Udo Sträter und Josef N. Neumann (Hgg.), Waisenhäuser in der Frühen Neuzeit, Tübingen 2003, v. a. Thomas Müller-Bahlke, Die frühen Verwaltungsstrukturen der Franckeschen Stiftungen, 41 – 52; Juliane Jacobi, ›Man hatte von ihm gute Hoffnung‹. Die soziale Kontur der Halleschen Waisenkinder, 53 – 69; über den weniger bekannten, aber in direkten Verbindungen mit Halle stehenden Wilhelm Christian Schneider: Udo Sträter, Wilhelm Christian Schneider und das Waisenhaus in Esens (Ostfriesland), 71 – 94. 377 Vgl. den ebd. verwendeten Begriff; zwar betont Brecht, dass sich die Anstalten »zunächst nicht aus einer großen Konzeption, sondern aus eher unscheinbaren Herausforderungen in der Glauchaer Gemeindearbeit« entwickelt hätten (ebd., 475); unter dem genannten Gesichtspunkt wird jedoch schnell deutlich, dass eben doch mehr als nur die schlichte, konkrete Anforderung des Augenblickes bedacht werden muss. 378 Vgl. hierzu ausführlicher Sträter, Soziales Engagement bei Spener. 379 August Hermann Francke, Am I. Sonntage nach Trinitatis. Die Pflicht gegen die Armen [Predigt, gehalten am 6. Juni 1697 in Glaucha über Lk 16, 19 – 31], in: Pesschke, Predigten I, 205 – 239. 380 Vgl. Brecht, August Hermann Francke, 477. 381 Francke, Die Pflicht gegen die Armen, 207. 382 Ebd., 209. 383 Francke, Kurzer und einfältiger Unterricht, 75.

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Vor allem in der Ausarbeitung der Pflichten der Reichen durch Francke findet sich eine Beschreibung beider Aspekte des Heiligen Lebens der Wiedergeborenen, also das asketische, weltfeindliche einerseits und das weltzugewandte, »thätige« Moment andererseits: Auch wenn es ihm nicht darum geht, Essen, Trinken, Kleidung etc. generell zu verbieten, so mahnt Francke doch auch hier die Vermögenden mit Nachdruck dazu, die verschiedenen Spielarten des Überflusses zu meiden und statt dessen das so gesparte Geld in die Armenfürsorge zu investieren384, selbst wenn das mit Eph 4,28 und 1. Thess 4, 11 bedeuten sollte, dass auch die Reichen arbeiten müssten, »damit man habe zu geben dem Dürftigen«.385 Hierüber hinaus wiederum führt Francke weiterhin an, aus welchem Grund der weltliche Beruf keinesfalls aufgegeben werden muss: die Arbeit in der Welt müsse zu Ehren Gottes geschehen: »Es muß alles zu GOttes Ehren, und des Nächsten Nutzen gerichtet seyn, in allem deinen Thun must du GOtt suchen, alles, was du vornimmst, muß aus dem Glauben herkommen, und dein gantzes Leben, Wesen und Thun, muß ein Weg zu GOtt seyn.«386

Der hier bereits vertretene absolute Alleinanspruch (»Wer alles fahren lässt und bleibet an Christo hangen, der hat sein Christenthum recht löblich angefangen«387) widerspricht nicht dem seelsorgerlichen sowie materiellen Fürsorgeanspruch. Er relativiert ihn allerdings und zeigt nochmals die eigentliche Zielsetzung in seiner über den konkreten Anlass weit hinausgehenden Dimension auf. Abschließend sei, auch oder vor allem im Zusammenhang der Franckeschen Stiftungen, darauf hingewiesen, dass »Fleiß und Liebe zur Arbeit« »auch höchst nötig in der zarten Jugend eingeflößet zu werden« sind.388 Obwohl die beiden Stoßrichtungen menschlicher Lebensführung nach der Wiedergeburt –Weltflucht und Weltzuwendung – sich scheinbar widersprechen, lassen sie sich durchaus als lediglich auf den ersten Blick antagonistische Phänomene entlarven, die bei einem zweiten, genaueren Hinsehen so widersprüchlich gar nicht mehr sind. Als die Leitlinie, der beide Aspekte folgen, kann die Selbstverleugnung des Menschen bezeichnet werden, die aus der Wiedergeburt hervorgehen und sich im Heiligen Leben ausdrücken muss. Sie wird in dem Sich-Zurück-Ziehen aus der Welt, in welchem das Ziel konkret gestaltet wird, sich in jeglicher Hinsicht von aller weltlichen Inanspruchnahme zu lösen, ebenso geübt wie in der selbstlosen Aufopferung für den Nächsten, und zwar um 384 Vgl. ebd., 223 f. 385 Vgl. ebd., 214. 386 August Hermann Francke, Am XX. Sonntage nach Trinitatis. Die Wenigkeit der rechten Kinder GOttes [Predigt, gehalten am 17. Oktober 1697 in Glaucha über Mt 22, 1 – 14], in: Peschke, Predigten I, 328 – 353, hier : 339. 387 Ebd., 352. 388 Francke, Kurzer und einfältiger Unterricht, 28.

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deren geistliches wie materielles Heil willen gleichermaßen. Die zitierten pietistischen Positionen stellen sich somit dar als lediglich unterschiedliche Gesichtspunkte einer völligen Umwidmung des menschlichen Lebens. Interessant ist hierbei vor allem das Zusammenspiel völlig individualisierter Frömmigkeitspraxis einerseits, wie sie sich etwa im Bußkampf vor der eigentlichen Wiedergeburt bei Francke ebenso findet wie in Speners Konzeption der ›Erneuerung‹ nach der eigentlichen Verwandlung des Menschen und andererseits dem Versuch der völligen Zernichtung all dessen, was das Individuelle des Menschen konstituiert: seine (inner-)weltlichen Bezüge.389 Sie werden nach pietistischer Auffassung im negativen Sinne zusammengeführt und könnten, modern gesprochen, als Selbstsucht, als Egozentrismus bezeichnet werden. Auf Anhieb fällt auf, dass dieses Ideal einer vollständigen Umwidmung oder Neuausrichtung alles menschlichen Bemühens auf Gott hin in vergleichbar individualisierter Form auch für den Chassidismus unter den Stichpunkten ›Kawanna‹ und ›Devekut‹ skizziert wurde. Auf diese offensichtliche Parallelität wird aufgrund ihrer konsitutiven Bedeutung für die Frömmigkeit der Bewegungen im Fazit noch ein Schwerpunkt zu setzen sein. 2.4.3 Perfectio Kann dann ein solches wiedergeborenes Menschenleben, ein in der pietistischen Terminologie als »Heilig« bezeichnetes Leben ›perfekt‹ sein, sprich: den göttlichen Ansprüchen gerecht werden? Letztlich geht der Aspekt über die heiß diskutierte Frage, »ob man die Gebotte Gottes halten könne?«390 hinaus, vor allem graduell muss genau hingesehen werden, wie zu zeigen ist. Martin Schmidt stellt fest, dass die Konzentration auf den neuen Menschen, die der spenerschen Konzeption eigen ist und auf die oben bereits hingewiesen wurde, »grundsätzlich zum Perfektionismus« führe, »so sehr Spener dessen unmittelbare Konsequenzen für die Empirie«391 auch ablehne. Auch Brecht stellt fest. »Der Perfektionismus dürfte als Movens pietistischer Ethik schwerlich zu übersetzen sein […].«392 Und so eindeutig, wie die pietistische Position in den gegnerischen Quellen dargestellt wurde, erweist sie sich denn auch in der Tat nicht, wobei tatsächlich gerade die von Schmidt herausgestellte Differenz zwischen theologischem Ideal und Ablehnung der»empirischen Konsequenz« ein fraglos spannendes, bei Spener und anderswo jedoch nicht sonderlich tiefgrei389 An dieser Stelle sei verwiesen auf das dritte Kapitel von Niklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Frankfurt am Main 1989, 149 – 258. 390 Vgl. die bereits in Kap. IV. zitierte Schrift. 391 Schmidt, Wiedergeburt und neuer Mensch, 176 f. 392 Brecht, Zwischen Schwachheit und Perfektionismus, 69.

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fend ausgearbeitetes Feld eröffnet, dessen wissenschaftliche Bearbeitung zudem noch aussteht. Für Philipp Jakob Spener ist es nicht nur keineswegs verboten, nach Vollkommenheit zu suchen, sondern für ihn stellt das Streben nach Vollkommenheit den Antrieb der Pietisten in ihrem Tun schlechthin dar.393 Deshalb interpretiert er es auch als eine der Ursachen des Heuchelchristentums, wenn seine Gegner behaupten, der Versuch, ein sündenfreies Leben zu führen, sei aufgrund der Rechtfertigung unnötig, denn wer dies ständig gesagt bekomme, würde irgendwann glauben, dass es »nicht nöthig seye / daß er mit solcher sorgfalt in den wegen deß HErrn wandele / und sein leben mit eusserstem fleiß den regeln und exempel deß Heylandes nachrichte.«394 Die einfache Annahme der Rechtfertigung ohne nachweisbare Früchte sind mit der pietistischen Wiedergeburtslehre, ob nun in der spenerschen oder der franckeschen Spielart, schlichtweg nicht vereinbar. Eine andere Ursache nun ist nach Spener die Behauptung, »Dz auch den glaubigen in diesem leben nit möglich seye / auß göttlicher gnade ein solch leben zuführen / daß er die sünde nicht mehr sollte bey sich herrschen lassen.«395 Gerade dem praktischen Christentum täten diese beiden, tief in den »gemüthern« verwurzelten Behauptungen (»so zwo starcke stützen deß Satanischen reichs sind«) großen Abbruch.396 Spener führt seine Position in der Formulierung zusammen, »daß unsere von Christo erworbene freyheit nicht bestehe in einer freyheit zu sündigen / sondern frey von sünden zu seyn; so dann daß unser liebreichste Heyland so gütig gegen uns seye / daß er zu leistung deß neuen Gehorsams / welchen er erfodert / seinen H. Geist zu geben willig sey / wo wir nur seine bewegungen bey uns wollen lassen kräftig seyn.«397

Hinzu tritt hier in der imitatio der Vollkommenheit Christi demnach ein Orientierung bietendes, mithin erbauliches Element. Dem gegenüber fällt allerdings immer wieder die Klarheit auf, mit der Spener festhält, dass die angestrebte Vollkommenheit niemals erreicht werden könne – das, was Schmidt als »unmittelbare Konsequenzen für die Empirie« bezeichnet: »[…] ob wirs wol freylich nimmermehr in diesem leben werden zu dem jenigen grad der vollkomenheit bringen / daß nichts mehr darzu gethan werden könnte oder sollte […].«398 Auf keinen Fall möchte sich Spener als Vertreter einer aktiven (gesetzlichen) Rechtfertigung verstanden wissen. Ebenso fatal und einer 393 394 395 396 397 398

Vgl. Spener, Pia Desideria, 81. Spener, Sendschreiben an einen Christeyffrigen außländischen Theologum, 54. Ebd. Ebd. Ebd., 55. Spener, Pia Desideria, 82; vgl. auch ders., Sendschreiben an einen Christeyffrigen außländischen Theologum, 57.

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Selbstaufgabe gleichkommend wäre s. E. jedoch die Resignation aufgrund der von Spener vorgehaltenen orthodoxen Überschätzung der oben zitierten Auffassung. Wirkliche ›perfectio‹ sei zwar nicht in diesem Leben zu erreichen, »so sind wir gleichwol verbunden zu einigem grad der vollkommenheit zu gelangen.«399 Die pietistische Anthropologie spenerscher Denkart bewegt sich hier zwischen den Polen »Schwachheit« und »Perfektionismus400 : So seltsam und paradox diese Vorstellung von einem »Bisschen«, das heißt einer graduellen Vollkommenheit auch klingen mag, so bedeutsam ist sie für die praktische Frömmigkeit im (spenerschen) Pietismus – worin sicherlich auch der Grund liegen wird für die Polemik gegen den pietistischen Perfektionismus. Zwar ist die christliche Vollkommenheit in diesem Leben unerreichbar, dem Bemühen hierum allerdings kommt eine enorme Bedeutung zu. Die pietistische Betonung der praxis pietatis, von der Theologie als »habitus practicus« bis zum »geistlichen Priesterthum«, muss verstanden werden als Ringen um ein möglichst hohes Maß an Perfektionismus. Das »thätige Christenthum«, die Frucht der Wiedergeburt, kann so auch verstanden werden als gradueller Aufstieg auf einer Leiter der Vollkommenheit. Spener ist sich durchaus im Klaren darüber, dass es auf der Grundlage einer solchen Anthropologie zu einer Spreu und Weizen trennenden Elitenbildung kommen muss, wenn er schreibt, dass die weltübliche Lebensweise vieler sich selbst als Christen bezeichnender Menschen in pietistischen Kreisen nicht gern gesehen, ja geradezu gemieden würde.401 Hieraus erklärt sich auch der vielerorts behauptete Hochmut der Pietisten – allerdings verwehrt sich Spener gegen den Vorwurf, die ›perfekteren‹ Pietisten würden ihre weltlicher gesinnten Mitmenschen verachten. Auch hier sei der Hinweis auf deren Sündhaftigkeit keineswegs als Überheblichkeit zu interpretieren, sondern vielmehr als vollzogene Nächstenliebe: Wenn den »Nahmen = Christen« eine realistische Selbsteinschätzung nicht möglich ist, müssen die Wiedergeborenen ihrer Pflicht des geistlichen Priestertums nachkommen und den Verirrten den rechten Weg weisen, selbst, 399 Spener, Pia Desideria, 82. 400 »Ein volles Halten der göttlichen Gebote lässt die menschliche Schwachheit nicht zu, aber mit Hilfe der Gnade lässt sich doch zu einer relativen Vollkommenheit gelangen«, resümiert Brecht, Zwischen Schwachheit und Perfektionismus, 72. 401 Spener, Sendschreiben an einen Christeyffrigen außländischen Theologum, 98 f: »Das ist zwar nicht ohne / daß die jenige / welche sich ihr Christenthumb lassen angelegen seyn / von denselbigen [d.h. den weltlich gesinnten, d. Vf.] gesellschafften sich absonderen / wo man spielens oder andern üppigen wesens wegen zusammen kommet / sich auch nicht gern finden lassen / aufs wenigste nicht ohne sonderliche ursach erscheinen / bey grossen festinen und gastereyen […] als die sich verbunden wissen / ihrem Gott dermaleins rechenschafft zugeben vor alle zeit und stunden / wie sie dieselbe angewendet / und vor alle wort / welche sie geredet. Daher sie sich gern hüten vor orten und gelegenheiten / wo sie sehen / daß sie ihre zeit übel anwenden / und sich frembder sünden theilhafftig machen würden.«

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wenn eine Einschätzung von außen schmerze – denn schließlich seien es nur wenige, die aus Verzweiflung ihre Seligkeit verlieren würden, viele aber, »die in falschem Trost und Sicherheit verloren gehen.«402 Hier zeigt sich, dass auch die innere Mission als ein notwendiger Schritt im pietistischen Streben nach Vollkommenheit angesehen werden kann, denn auch die auf der Vollkommenheitsleiter höher stehenden Wiedergeborenen dürfen sich den unter ihnen stehenden nicht entziehen.403 Deshalb kann auch Spener dem christeyffrigen außländischen Theologum aus den Collegia berichten, dass »diese liebe leut gelernet ihren bruder nicht zu richten / aber wol / wo sie etwa hoffen können etwas gutes außzurichten / so in ihrer gegenwart unrechts gethan wird / mit liebe und bescheidenheit zu zeigen / was dem Christenthum gemäß und nit gemäß seye.«404 Ergänzend sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass Francke hinsichtlich des auch in seiner Lehre vom Menschen eine wichtige Rolle spielenden Vollkommenheitsstrebens selbstreflexiv, »mit der Erkenntnis der Sünde einsetzt: ›Welcher Mensch zu Gott kommen, gerecht und selig werden soll, der muß erst vor Gott zur Erkenntnis seiner Sünde und Haß derselbigen gebracht werden, also dass er nun ferner der Sünden nicht mehr dienen will sodnern ihr feind ist.‹«405 Vollkommenheit in der Erfüllung der Gebote ist auch nach pietistischer Vorstellung zumindest praktisch unmöglich. Allerdings ist von der Wiedergeburt an, die an sich ja eine geistliche Veränderung darstellt, der Mensch zumindest bestrebt, so vollkommen wie möglich zu sein, einen gewissen Grad an Vollkommenheit zu erreichen. Dadurch ließe sich wenigstens ein Status erreichen, »auff art und weise wie der himlische Vater mit unserer schwachheit will zu frieden seyn / und den ihme aus seiner kraft leistenden aufrichtigen gehorsam um Christi willen sich wolgefallen lassen.«406 Eine vor Gott rechtfertigende Vollkommenheit ist dies auf keinen Fall, »in der maaß daß wir Gott genug zu thun vermöchten / und damit aus solcher haltung selig werden sollten; daß ich also den Papisten nichts einraume. Ich treibe aber auch auf die haltung / daß wir nicht auß einbildung blosser unmöglichkeit träge werden gutes zuthun / und Gott die früchten seiner gnade zu tragen […].«407 Diesem Schlusswort Speners bleibt nichts mehr hinzuzufügen als der Hinweis, dass andernorts vergleichbare Standpunkte vertreten wurden. Etwa im Gothaer Confessio oder Glau-

402 Philipp Jakob Spener, Abgenöhtigte Erörterung derer Lehr-Puncten, Merseburg 1678, ediert in: Erich Beyreuther (Hg.), Philipp Jakob Spener. Schriften. Band I, Hildesheim, New York 1979, 853 – 899, hier : 897. 403 Vgl. Spener, Sendschreiben an einen Christeyffrigen außländischen Theologum, 830. 404 Ebd., 96 f. 405 Brecht, Zwischen Schwachheit und Perfektionismus, 79. 406 Ebd., 57. 407 Ebd.

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bens = Bekäntniß, um nur ein Beispiel zu nennen, heißt es in der entsprechenden Passage: »Gleichwie nun ein erneueter Mensch / auch in der Erneuerung wandeln muß / so entstehet annoch die Frage / ob denn ein solcher Mensch die Gebot GOttes halten könne? worauff unsere in der Schrifft gegründete Antwort ist / daß allerdings ein Wiedergeborener könne und solle die Gebot Gottes halten / nicht daß er die Erb = Sünde / und die daher auffsteigende böse Lüste und Begierden in seinem Hertzen nicht mehr fühlen und empfinden sollte […] So ist auch dieses nicht unsere Meynung / als wenn ein Wiedergebohrner das Gesetz GOttes erfüllen / oder in solcher Vollkommenheit halten könnte / daß er GOtt damit etwas abverdiente / sondern die Gebot Gottes halten heisset hier so viel / wenn der Mensch durch die in der Wiedergeburt empfangene göttliche Krafft […] sich hütet / daß er die Sünde nicht mehr thue […]. Wer aus GOtt gebohren ist / thut keine Sünde / daß ist […] Er lässet die Sünde nicht herrschen in seinem sterblichen Leibe ihr Gehorsam zu leisten in ihren Lüsten: und hingegen nicht nur eusserlich ein gantz unsträfflich Leben führet / welches auch wohl die Tugendhafften Heyden gethan haben / sondern es auch in dem Gehorsam des Hertzens / und im innerlichen es weit bringet […].«408

2.5

»Wird dadurch der libertinismus eingeführet …«. Verräter an der lutherischen Orthodoxie?

Die Vertreter der lutherischen Orthodoxie, die wider die »sectirische Pietisterey« eiferten, hatten – vorsichtig ausgedrückt – immer wieder darauf hingewiesen, dass den Pietisten mit ihrer Betonung der praxis pietatis, der praktischen Frömmigkeit oder dem »thätigen Christenthum«, neben dem eh schon festgestellten Bruch mit der lutherischen Tradition zudem eine unnötige monolaterale Annäherung an die konfessionellen Gegner oder gar an Angehörige anderer Religionen eigen sei, die zudem einherginge mit der Übernahme von Praxismerkmalen aus jenen Denominationen. Ihrer Auffassung nach ging hieraus ein dem Pietismus typischer Indifferentismus hervor, der es schwierig mache, die Orthodoxie der Vertreter der Bewegung glaubwürdig zu belegen. Dies ging bis zu dem libertinistischen Vorwurf, ein jeder könnte, solange er sich auf das Heilige Leben berufe, tun und glauben was er wolle. Neben den zahlreichen pietistischen Orthodoxiebekundungen, auf die bereits hingewiesen wurde, finden sich relativ wenige Repliken auf diesen Vorwurfskomplex. Aus den wenigen Stellungnahmen lässt sich allerdings, aufgrund des knappen Befundes mit angemessener Vorsicht, eine Tendenz der Öffnung ablesen: Spener beispielsweise schämt sich durchaus nicht, die Reformierten verschiedentlich zu loben, 408 Confessio, oder Glaubens = Bekäntniß, 15.

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»nicht allein in dem punct / daß sie wegen einiger vorfallender steitigkeit in der lehr bey ihrer kirchen nicht so bald lermen anfangen / sondern sich untereinander in sachen / die den grund des glaubens nicht angehen / mehr freyheit lassen / sondern auch noch wol in andern / was kirchen = disciplin und dergleichen anlangt / da man gewiß zuweilen eines und anders an ihrem exempel zu lernen hat.«

Aber er findet »auch bey Papisten / bey Armenianern / bey Sociniandern / bey Mennisten / bey Quackern / was sein lob / ja auch auf gewisse maaß nachfolge / verdienet.«409 Die Tatsache, dass er etwa die größere Toleranz der Reformierten und ihr weniger ausgeprägtes Beharren auf dogmatischen Standpunkten, die das christliche Leben nicht berühren, lobt, heißt für Spener jedoch nicht einen Verrat an der lutherischen Orthodoxie: »Indessen begebe ich unserer kirchen nichts von der gnade / welche der Herr ihr in mehrer reinigkeit der lehr vor den andern gegeben hat […].«410 Verdammt wissen möchte Spener lediglich die »falschen und verführischen lehren / und derselbigen halstarrige lehrer und lästerer / die wir in unsern landen / kirchen und schulen keines weges zu gedulden gedencken […].«411 Für diejenigen, »so aus einfalt irren / und die warheit des Göttlichen worts nicht lästern / vielweniger aber gantze kirchen in = oder ausserhalb des Röm. H. Reichs teutscher nation«412 sieht er Anlass zu hoffen, ob sie nun der »Calvinischen gemein«, der »Päpstischen kirchen« oder auch der »Griechische[n] / Morgenländische[n] und Mittagische[n] kirchen« angehören413. Ohne die lutherische Kirche in ihrer Führungsrolle einschränken zu wollen fasst er seinen Standpunkt zusammen: »Ich spreche mit unsern Symbolischen büchern und andern Theologen einigen den glauben und die seligkeit zu / welche in der äusserlichen gemeinschafft der irrenden kirchen leben / nicht als solchen / sondern als gliedern der allgemeinen wahren unsichtbaren kirchen / auß denen bey ihnen noch übrigen grund = warheiten des christlichen glaubens / die GOTT durch die irrthume nicht hat lassen umgestossen werden.«414

Hiermit verschenkt der Lutheraner Spener den anderen Denominationen oder gar Religionen (den »Heyden«) nichts.415 Er schließt aber auch nicht von vornSpener, Gründliche Beantwortung Deß Unfugs der Pietisten, 86 f (fälschlich: 78). Ebd., 87 (78). Spener, Auffrichtige Ubereinstimmung mit der Augsp. CONFESSION, 224. Ebd. Ebd., 224 f. Ebd., 225; vgl. auch ebd., 139 f: Auch die »Juden und Türcken kinder« können noch auf Gottes Erbarmen hoffen, »weil Christus alle menschen erlöset / keinen zu verdammen / daß GOTt damit solchen bund auch mit denselben gemacht / keinen zu verdammen / der nicht mit einigerley massen wircklicher boßheit die angebottene gnade Jesu Christi / so auch ihn angehet / verstossen habe.« 415 Dass sich Spener an anderer Stelle zeitweilig sogar Ökumenefeindlich zeigt, erwähnt Brecht, Die Frömmigkeit des Pietismus, 26.

409 410 411 412 413 414

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herein aus, »daß GOtt auch in solchem Babel noch einige der seinen / zu einem heiligen saamen / auff ihm bekante weise erhalte«.416 Wer den rechten Glauben habe, könne trotz irriger Kirchenzugehörigkeit selig werden. Für Francke ist dieser Glaube die Herzensreligion. Deswegen kann er auch guten Gewissens in seinem Lebenslauff die von ihm arrangierte Übersetzung Molinos verteidigen, mit der er sich den Verdacht der Heterodoxie zuzog: »Welches um des willen nach der warheit anführe, weil mir nach der zeit solche übersetzung von einem und dem andern übel gedeutet worden […] Dabey ich aber nicht leugne, daß mir allezeit sehr missfallen, daß viele so blind über diesen Autorem hergefallen, und ihn verdammet, darinnen sie ihn nicht verstanden, ja nicht einmahl gelesen, und ihm daher opiniones beygemessen, die dem Autori wol lebenslang nicht in den Sinn kommen, ja daß ich auch im Gegentheil wol gesaget, daß viel nützliches und zur Erbauung höchst vorträgliches in dem buche enthalten, welches ich in Ewigkeit nicht verwerffen oder verdammen könnte. Denn man ja die warheit allezeit lieben sol, sie finde sich bey einem freunde oder Feinde; ja man soll alles prüffen, und das beste behalten 1. Thess: V.!«417

In Franckes Augen stellt dieser Erbauungstext, obwohl durch einen Katholiken verfasst, ein bedeutendes Werk dar, dass in seinen Kernaussagen die Gotteserfahrung des Menschen bestätigt und deshalb ein Werk ist, dass auch von einem Lutheraner rezipiert werden sollte – auch ohne dass gleich alles zu billigen sei, »was im Molinos stehet«.418 Francke habe Molinos Schriften gelesen und übersetzt, sie jedoch »nie weiter gebillichet, als sie der göttlichen warheit der H. Schrifft gemäß sind […].«419 Hierin ist sicherlich eine tolerantere Linie abzulesen, als sie in der üblichen Streittheologie der einzelnen Konfessionen des auslaufenden 17. Jahrhunderts üblich war, da eben nicht nur auf die eigene Kirche fokussiert wird420, sondern die »allgemeine wahre unsichtbare kirche« (s. o.) als Faden propagiert wird, der sich durch alle Konfessionen hindurch zieht. Sicherlich wäre es übereilt, den frühen Pietismus deshalb gleich zu einem Vertreter toleranter Ökumene zu stilisieren; wäre dies der Fall, so müssten wesentlich mehr explizite Belege bzw. Stellungnahmen zu finden sein. Die Rolle eines Vorreiters aber, dies mag angesichts der auch heute landläufig eher negativen mitschwingenden Konnotierungen von Pietismus im Sinne einer strengen, evtl. ›frömmelnden‹, sicherlich aber intoleranten Religiosität verwundern, kann ihm auf der Grundlage der zitierten Stellen schon zugedacht werden, da ein Abrücken von der dogmati416 417 418 419 420

Ebd., 224. Francke, Lebenslauff, 19 f. Ebd., 19. Ebd., 21. Ausführlich stellt Alfred Schindler den ›Null-Toleranz‹-Gegenpol als »Häresiengeschichte« dar ; vgl. ders., Art. Häresie. II. Kirchengeschichtlich, in: TRE 14, 318 – 341.

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schen Streitkultur sich ja nicht nur hier, sondern auch etwa im Blick auf die Relativierungen hinsichtlich der Hochschätzung des akademischen Disputierens äußert. Auch das große Interesse Speners, »der die gelehrten Diskussionen seiner Zeit aufmerksam verfolgte«, an den Fortschritten im naturwissenschaftlichen Bereich kann an dieser Stelle als Anzeichen für eine sich von der theologischen Streitkultur allmählich entfernende neue Richtung angeführt werden, da zunehmend nicht mehr die anderen Konfessionen, sondern »der naturkundige, gebildete Atheist« der Gegner war, auf den es sich einzustellen galt.«421 Aus der wiederholten Betonung, dass trotz der Möglichkeit Heiligen Lebens auch in anderen Konfessionen, ja sogar Religionen die einzige echte Kirche die lutherische sei, lässt sich dennoch ableiten, dass der Begriff des Libertinismus übers Ziel hinausschießt. Weiter gingen hier eher Vertreter des radikalen Pietismus wie Gottfried Arnold, die danach strebten, die verloren gegangene »ursprüngliche geistgewirkte Einheit der Christen«422 wieder herzustellen. Sie wendeten sich dezidierter als die Vertreter des kirchlichen Pietismus gegen einseitige, intolerante und streitbare Positionen, was sie natürlich einerseits als radikale Kirchenkritiker ausweist, ihnen andererseits jedoch eine große Toleranz bescheinigt, da eine derart nach innen gewandte Kirchenauffassung Konfessionsgrenzen nahezu ignorieren muss.423 Gerade hinsichtlich der ständig wiederkehrenden Betonung des praktischen Christentums lässt sich deshalb mit Brecht konstatieren, »das Interesse am heiligen Leben und am realisierten Christentum konnte sich im Pietismus vor die Reinheit des Glaubens schieben und die Grenzen der Konfessionen relativieren. Ähnlich wirkte sich möglicherweise der Biblizismus aus.«424 Zudem lässt die Beobachtung, dass in vielen der analysierten Merkmalen pietistischer Frömmigkeitspraxis immer wieder eine Tendenz zum Individualismus zu erkennen war, annehmen, dass in dem neuzeitlichen Prozess der Individuierung, der eben auch in der Frömmigkeitspraxis markanten Ausdruck fand, ein maßgeblicher Auslöser für den Vorwurf des heterodoxen Libertinismus zu sehen ist. Die Vermutung liegt nahe, eher hier als in der Öffnung zu den anderen Denominationen die Hauptursache einer solchen Liberalisierungstendenz zu behaupten. Wichtig ist, zu betonen, dass es sich hierbei um eine Tendenz handelt, nicht um einen Bruch, denn weder Exegese noch praktische Frömmigkeit werden völlig dem individuellen Empfinden 421 Vgl. Sträter, Zum Verhältnis des frühen Pietismus zu den Naturwissenschaften, 84. 422 Katharina Greschat, Gottfried Arnolds ›Unparteiische Kirchen- und Ketzerhistorie‹ von 1699 / 1700 im Kontext seiner spiritualistischen Kirchenkritik, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 116 (2005), 46 – 62, hier : 54. 423 Ebd., 62. bezeichnet Katharina Greschat die Position Arnolds als »überkonfessionelles unparteiisches Geistchristentum«. 424 Brecht, Die Frömmigkeit des Pietismus, 25.

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frei gelassen: Sowohl Spener als auch Francke werden nicht müde darauf hinzuweisen, dass jedes christliche Individuum seinen Glauben immer und immer wieder unter Zuhilfenahme der Heiligen Schrift zu prüfen habe. Dann, und wirklich nur dann »sind die Christen in der freyheit / daß jeder nach der gabe / die ihm gegeben ist / in der schrifft forsche / und ohne absehen auff menschliche autorität das jenige allemal erwehle / was er mit dem sinn deß geistes nach fleissiger prüfung überein zu kommen findet.«425 Der Individuierung der Frömmigkeitspraxis wird hier Vorschub geleistet, nicht jedoch einer schwärmerischen Beliebigkeit, »die die christl. Freiheitsbotschaft im Sinn von ›alles ist erlaubt‹ versteht […]«426.

425 Spener, Gründliche Beantwortung Deß Unfugs der Pietisten, 206; vgl. auch Francke, Abgenöthigte Fürstellung, 8. 426 Konrad Hilpert. Art. Libertinismus, in: RGG4 5, Sp. 325 f, hier : 325.

Kapitel VI: Resümee, oder: Tendenzen des Frommen in der Neuzeit

Nach den Einzeldarstellungen pietistischer und chassidischer Frömmigkeit, die jeweils durch die diskursive Gegenüberstellung von Außen- und der Innenperspektive eine Reihe prägnanter Merkmale zu Tage förderten, soll der Schluss der Untersuchung ganz im Zeichen einer vergleichenden Gegenüberstellung stehen. Bei einigen der erarbeiteten spezifischen Merkmale der Frömmigkeit von Pietismus und Chassidismus sind hierbei die Parallelen, trotz zweifelsohne vorhandener Differenzen und systematisch notwendiger Differenzierungen vor allem auf der Seite der inhärenten Anleitung bzw. Erklärung, augenscheinlich. Gerade deshalb muss bedacht werden, dass die direkte Gegenüberstellung solcher Merkmale die Gefahr von ›Kurzschlüssen‹ birgt, schließlich liegen jeweils unterschiedliche Religionssysteme zugrunde. Es wäre dementsprechend wenig gewinnversprechend, eventuell sogar irreführend, an dieser Stelle resümierend schlicht die einzelnen zentralen Merkmale chassidischer Frömmigkeit mit den pietistischen Gegenstücken zu vergleichen. Das eigentliche, spezifische Moment aber entfaltet sich oft erst bei der Betrachtung des mit der jeweiligen orthodoxen Seite geführten Diskurses vollständig; wird diese Perspektive ausgeblendet, bleibt an manchen Stellen nur die Feststellung, dass es sich eigentlich nicht um etwas Neues handelt (siehe unten, Tradition oder Avantgarde?). Stattdessen soll deshalb zusammenfassend eine Annäherung geschehen, indem in eher essayistischer Weise Tendenzen oder Gedanken aufgezeigt werden. Gerade in der vergleichenden Perspektive werden solche durch die einzelnen Merkmalen vor Augen geführt, die in der Einzelperspektive nicht so deutlich in Erscheinung treten. Nicht zuletzt lassen sich hierdurch auch Bezüge zu gesamtgesellschaftlichen neuzeitlichen Perspektiven oder Strömungen aufzeigen, die über den Fragehorizont nach der spezifischen Frömmigkeit der ›Frommen‹ hinaus reichen. Sie können nur angerissen werden und laden zum Weiterdenken ein. Das Resümee der vorliegenden Untersuchung kann somit perspektivisch auch als Ausblick verstanden werden, der Ansätze für weitere Fragehorizonte bietet.

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Resümee, oder: Tendenzen des Frommen in der Neuzeit

Bevor allerdings so die erarbeiten Merkmale pietistischer und chassidischer Frömmigkeit in ›Schlaglichtern‹ zusammengeführt werden, sollen noch zwei Leitlinien aufgezeigt werden, in deren Bahnen die ›Tendenzen der Frömmigkeit‹ sich aufhalten.

Pietismus, Chassidismus und die Krise der Frömmigkeit Die Frage, ob die im 17. und 18. Jahrhundert vielerorts entstehenden Frömmigkeitsbewegungen – neben dem hier behandelten protestantischen Pietismus und dem ostjüdischen Chassidismus lassen sich beispielsweise der reformierte, vornehmlich niederländische Pietismus, der englische Puritanismus, der katholische Jansenismus oder der Quietismus anführen1 – als Reflex auf eine über konfessionelle Grenzen hinaus wahrnehmbare äußerliche Krise verstanden werden können, wurde in den letzten Jahren in der (Kirchen-)Geschichtsforschung diskutiert. In seiner 1995 veröffentlichten Habilitationsschrift Meditation und Kirchenreform in der lutherischen Kirche des 17. Jahrhunderts2 trägt Udo Sträter die von den Diskutanten vertretenen Positionen zusammen. »Von Zeller abweichend und mit Lehmann übereinstimmend übernimmt er die Auffassung einer Langzeitkrise, die dem 17. Jahrhundert eine vom vorangehenden wie vom folgenden Jahrhundert unterschiedene Prägung geben soll.«3 Diese von Lehmann festgestellte Krise, fasst Sträter zusammen, »sieht Lehmann verursacht durch eine Vielzahl kontingenter wie auch miteinander verflochtener quantitativ erfassbarer, in einem deutlichen Bevölkerungsrückgang manifestierter Faktoren, die von einer langfristigen Klimaverschlechterung über den Rückgang der wirtschaftlichen und landwirtschaftlichen Produktion, Ernährungskrisen und erhöhte Mortalität, wiederkehrende Epidemien der Pest und anderer Seuchen zu den fast das gesamte Jahrhundert durchziehenden Kriegen, Revolten und Bürgerkriegen mit ihren ökonomischen und sozialen Folgen […].«4 Dass das siebzehnte Jahrhundert ein von äußerlichen Krisen nicht eben armes war, bestreitet Sträter nicht. Dass diese äußerliche Krisenstimmung mit 1 Was etwa im ersten Band der vierbändigen Geschichte des Pietismus auch geschieht, vgl. Brecht, Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert, hierin: Klaus Deppermann, Der Englische Puritanismus (11 – 56); Johannes van den Berg, Die Frömmigkeitsbestrebungen in den Niederlanden (57 – 112); Johannes Friedrich Gerhard Goeters, Der reformierte Pietismus in Deutschland 1650 – 1690). 2 Udo Sträter, Meditation und Kirchenreform in der lutherischen Kirche des 17. Jahrhunderts, Tübingen 1995. 3 Johannes Wallmann, Zur Frömmigkeitskrise des 17. Jahrhunderts, in: ders., PietismusStudien. Gesammelte Aufsätze II, 118 – 131, hier: 120. 4 Sträter, Meditation und Kirchenreform, 10.

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ihren Deutungsmustern »Not, Angst Hoffnung«5 jedoch der Nährboden gewesen sei, dem die Frömmigkeitsbestrebungen der unterschiedlichen Bewegungen entwuchsen, dass »diesen objektiven, quantitativen Faktoren der Krise des 17. Jahrhunderts« qualitativ »die Angst als zentrale Komponente ihrer [der betroffenen Menschen, d. Vf.] ihrer Mentalität« entspricht, mithin Angst als Deutungsschlüssel »zum Verständnis von Theologie und Frömmigkeit dieses Zeitalters« aufzufassen sei, bezweifelt er : »Es erscheint zumindest fraglich, ob das Paradigma einer allgemeinen Krise und die Annahme einer Funktionalrelation von Angst und Trost hinreichen […].«6 Sträter macht stattdessen deutlich, dass weder bei Spener als ›Vater‹ des kirchlichen Pietismus vierzig Jahre nach Ende der wohl bedeutendsten jener Katastrophen des 17. Jahrhunderts, dem Dreißigjährigen Krieg, noch während dieses Krieges selbst der von Lehmann behauptete Trost das Leitmotiv der Predigten gewesen sei, sondern Buße7, denn »ein ausgeprägtes Sündenbewusstsein scheint das exklusive Vorrecht empfindsamerer Seelen gewesen zu sein.«8 Nicht das intensive Hadern mit Gott, der Zweifel an der eigenen Rechtfertigung sei das Leitmotiv pietistischer Bemühungen, sondern das Gegenteil, die Kritik mangelnder Sorge hierum, und dies in allen Ständen. Es sei deshalb nicht der Trost, der die pietistischen frömmigkeitstheologischen Äußerungen präge, sondern der Aufruf zur Buße. Sträter schließt, dass zwar durchaus die Rede von einer Krise des 17. Jahrhunderts sein könne, jedoch: »Die Verwendung des Begriffs der Krise ist dabei näher zu spezifizieren. Es handelt sich nicht um eine allgemeine, alle Schichten der Bevölkerung erfassende elementare Krise, wie sie durch Klimaverschlechterung, Hungersnot oder Krieg verursacht wird. Als krisenhaft stellt sich die kirchliche Situation des 17. Jahrhunderts in erster Linie im Bewusstsein der kirchlichen Theologenschaft dar.«9 Die Krise, die von den pietistischen Geistlichen des 17. Jahrhunderts ausgerufen wurde, war eine Krise der Frömmigkeit, nicht der äußerlichen Not.10 Dies deckt sich mit dem oben skizzierten Quellenbefund, nach dem die erarbeiteten pietistischen Frömmigkeitsmerkmale als Ansätze interpretiert wurden, um der diagnostizierten Krise der Frömmigkeit zu begegnen – an kaum 5 Vgl. Harmut Lehmann, Das Zeitalter des Absolutismus. Gottesgnadentum und Kriegsnot, Stuttgart u. a. 1980, 105. 6 Sträter, Meditation und Kirchenreform, 22. 7 Vgl. ebd., 20. 8 Ebd., 23. 9 Ebd., 32. 10 Wallmann untermauert die These: »Blickt man auf sein [Speners, d. Vf.] reiches literarisches Schrifttum, so fällt auf, dass sich darunter, anders als bei seinen orthodoxen Zeitgenossen und Freunden, etwa […] keine Predigten oder Gebetbücher befinden, die durch äußere Not, durch Krieg, Pest, Hunger oder Naturkatastrophen veranlasst worden sind […]«, Wallmann, Zur Frömmigkeitskrise, 128.

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einer Stelle war dagegen eine Bezugnahme auf äußere Begebenheiten aufgefallen, welche einen Aspekt frömmigkeitlicher Praxis in diesen Zusammenhang stellen würde. Trost und Erbauung spielen in den pietistischen frömmigkeitstheologischen Schriften kaum eine Rolle. Sie wenden sich in erster Linie an ihre Adressaten, um diesen ihren »verderbten« Zustand aufzuzeigen beziehungsweise sie dazu zu befähigen, ihren Status – ihre Haltung, ihren geistlichen Standpunkt – selbständig zu reflektieren. Nicht die Angst, der Selbstzweifel ist das Leitmotiv, dem die pietistischen Schriften begegnen wollen, sondern der Mangel an Angst, die falsche Sicherheit. Sie stellen in Frage, anstatt Antworten zu geben. Ebenso deckt sich der Befund einer ›Frömmigkeitskrise‹ mit der Kritik, die von chassidischer Seite geäußert wurde: Auch hier stellten die Protagonisten den Zustand der jüdischen Gesellschaft im achtzehnten Jahrhundert als zumindest reformwürdig dar. Zwar gibt es hier, etwa in den chassidischen Legenden, wie sie anhand der Sammlung Schibche haBescht exemplarisch behandelt wurden, durchaus immer wieder Anspielungen auf äußerliche Not. Grözinger macht gar auf einen ganzen Erzählbereich innerhalb der Legenden aufmerksam, der die »materiell-physischen Diesseitssicherung« thematisiert.11 Vorherrschend allerdings ist dieser Erzählbereich innerhalb der Schibche haBescht nicht, eine wesentlich größere Rolle spielen beispielsweise die Geschichten »von der spirituellen Diesseitsbewältigung und Jenseitssicherung« – mitsamt den Themenkomplexen »Bußerzählungen« und »Himmlische Gerichte«.12 Zudem weist Rosman in seiner Biographie des Founder of Hasidism explizit darauf hin, dass gerade Miedzyboz, der Ausgangspunkt des Wirkens des Ba’al Schem Tov, in der Entstehungszeut des Chassidismus kein Ort extremer Bedrängung für das Hause Israels war, vielmehr »the Jews were promised physical safety, basic freedom of religion, the right to maintain autonomous institutions, and a broad field of economic enterprise.«13 Rosman zeigt, dass das von Dubnow geprägte historische Bild der Chassidim, das diese rein als Opfer einer feindlichen Umwelt suggeriert, dem sie einen weltflüchtigen, völlig verinnerlichten mystischen Weg als Antwort entgegenstellten, in den letzten Jahren relativiert werden musste. Deutete Dubnow den Erfolg der jungen Bewegung im 18. Jahrhundert als Reflex auf die äußere Situation, als »Gegenmittel auch gegen die Not und Unterdrückung, die im jüdischen sozialen Leben herrschte«14, so ist die Chassidismusforschung hier heute vorsichtiger. Zwar wird nach wie vor keinesfalls bestritten, dass die Lebenssituation zumal für Juden in Südostpolen im 17. und 18. Jahr11 12 13 14

Vgl. Grözinger, Der Ba’al Schem Tov – Legende oder Wirklichkeit, XXII. Vgl. ebd., XXIII. Rosman, Founder of Hasidism, 83. Dubnow, Geschichte des Chassidismus I, 68.

Pietismus, Chassidismus und die Krise der Frömmigkeit

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hundert viele Unwägbarkeiten und Gefahren bereithielt; Gershon David Hundert etwa stellte jedoch auch fest, dass Mitte des 18. Jahrhunderts die Hälfte des binnenländischen und des internationalen Warenhandels in jüdischer Hand war und folgerte: »A realistic recovery of the situation of the Polish-Lithuanian Jewry in the eighteenth century shows that neither the economic nor the security conditions were such as to warrant their use as causal or explanatory factors in the rise and reception of hasidism.«15 Soll heißen: Wer den Chassidismus als Kind einer Krise interpretieren möchte, muss zumindest sehr genau hinsehen. Als weiterer Beleg lässt sich auch die verdienstvolle Zusammenstellung Samuel Dresners anführen, der aus den Homilien bzw. Traktaten (auf die Problematik der Differenzierung wurde hingewiesen) Jakob Josefs Passagen auswählte, die sich mit der Frömmigkeitskrise des Judentums befassen16 : Wiederholt schildert er den armseligen spirituellen Zustand der einfachen Menschen, vor allem jedoch Defizite der gesellschaftlichen Elite. Es wurde aufgezeigt, dass er hier einerseits ungenügende Gesetzesstrenge, etwa die mangelnde Beachtung der jüdischen Reinheitsgesetze oder fragwürdiges Verhalten im Bereich der Synagoge, anklagte, andererseits aber auf nicht hinreichende persönliche Involviertheit deutete, was sich beispielsweise in einem mechanischen, eiligen Modus des Gebets oder im Mangel an Kawwanna äußerte. Auch er schildert demnach einen Niedergang innerhalb der jüdischen Mehrheitsgemeinde, auch die chassidischen Frömmigkeitsmerkmale können somit letztlich als Alternativvorschläge gegen diese Frömmigkeitskrise aufgefasst werden. Hier liegt also ein erster Parallelbefund vor: Die erfolgreiche Etablierung beider Bewegungen kann nicht in einem monokausalen Erklärungszusammenhang als Folge einer allgemeinen, elementaren Krise interpretiert werden, wie es schon oft versucht wurde und nach wie vor wird. Zweifelsohne gab es im Entstehungszeitraum von Pietismus und Chassidismus jede Menge größere und kleinere Krisen. Bei genauem Hinsehen allerdings stellt sich heraus, dass die Bewegungen häufig gerade nicht an solchen Orten, die von äußerster Not gekennzeichnet sind, entstehen, sondern an prosperierenden Orten und Städten und in Friedenszeiten. Derlei sozialhistorische Forschungen, die sich sehr präzise mit konkreten Orten bzw. Städten innerhalb relativ enger Zeitfenster befassen müssten, und hierbei »demographic developments, economic conditions, the degree of physical security, class conflict, the stability of communal institutions«17 in die Überlegungen einbeziehen müssten, stehen oft noch aus. 15 Gershon David Hundert, The Conditions in Jewish Society in the Polish-Lithuanian Commonwealth in the Middle Decades of the Eighteenth Century, in: Ada RapoportAlbert (Hg.), Hasidism Reappraised, London, Portland 1996, 45 – 50, hier: 50. 16 Samuel H. Dresner, The Zaddik. The Doctrine of the Zaddik According to the Writings of Rabbi Yaakov Yosef of Polnay, Northvale, London 1994, v. a. 75 – 112. 17 Hundert, The Polish-Lithuanian Commonwealth, 46.

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Pauschale Behauptungen schlechter Zeiten aber helfen hier nicht weiter. Hinzu kommt, dass die sorgfältige Analyse besonders frömmigkeitstheologischer Quellen solcherart kausal angelegte Erklärungsansätze schlichtweg ausschließt. Die Situation stellt sich als wesentlich komplexer dar. Dennoch, auch die Feststellung, dass Pietismus und Chassidismus in der Behauptung einer Krise der Frömmigkeit bei Laien und Geistlichen gleichermaßen übereinstimmen, ist ein Befund. Ein Befund zwar, der den Erfolg beider Bewegungen nicht zu erklären vermag, der jedoch dabei hilft, die auf beiden Seiten angestrebte Reform der Frömmigkeit einzuordnen. Deutlich etwa wird bereits an dieser Stelle, dass weder das pietistische noch das chassidische Hauptanliegen in der Spendung von Trost lag, auch wenn die Trostkomponente ohne Frage bei Pietismus und Chassidismus gleichermaßen vorhanden war. Gegen eine solche Interpretation spricht nicht zuletzt die häufige Betonung der Buße.

Tradition oder Avantgarde? Bevor die aus dem Diskurs der jeweiligen Entstehungszeit systematisch erschlossenen spezifischen Frömmigkeitsmerkmale von Pietismus und Chassidismus unter dem Gesichtspunkt ableitbarer Tendenzen betrachtet werden, soll in wenigen Zügen noch einer zweiten Frage nachgegangen werden, die bei der synoptischen Erschließung jener Merkmale hilfreich ist: der apriorischen Frage nach der Verortung der Frömmigkeitsmerkmale zwischen Tradition und Avantgarde. Diese Frage mag angesichts der zugrunde gelegten Methodik, die spezifische Merkmale der praktischen Frömmigkeit von Pietismus und Chassidismus aus dem Diskurs heraus entwickelte, den die Bewegungen mit der jeweiligen Orthodoxie zu führen hatten, zunächst befremdlich oder gar obsolet wirken. Natürlich möchte man meinen, dass die Äußerung einer spezifischen Frömmigkeit, die von einer Außenperspektive aus dargestellt wurde, welche sich selbst dezidiert als orthodox verstand, sich vom rituellen orthodoxen Instrumentarium unterschied. Wieder einmal allerdings stellt sich der Sachverhalt im Detail als nicht ganz so einfach dar : Bei der Darstellung einiger Merkmale war bereits darauf hingewiesen worden, dass es sich hierbei, obwohl die Rede von den »Gräueltaten der Chassidim« oder vom »Unfug der Pietisterey« war, nicht eben zwangsläufig um ›Sondergut‹ pietistischer oder chassidischer Frömmigkeit im eigentlichen Sinne handelte, sondern hier und dort als Rückgriff oder Rückbesinnung auf ältere Traditionen zu interpretieren war. Besonders bei der Darstellung der pietistischen Frömmigkeitsmerkmale war hier und dort etwa auf eine betonte Orientierung an der Urkirche hingewiesen worden; als Beispiel

Tradition oder Avantgarde?

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kann Speners Hinweis auf die Verbürgtheit der pietistischen Gemeinschaftsform in der urchristlichen Gemeinde angeführt werden18 ; auch die Einführung des ›geistlichen Priestertums‹ verteidigte er mit dem Hinweis, dass es sich ja nicht um seine eigene Erfindung handele, vielmehr sei es bereits bei den Aposteln und bei Luther gleichermaßen nachweisbar.19 Gleiches war für den Chassidismus angeführt worden: Auch hier stellte das von der Orthodoxie bereits im ersten Cherem von 1772 erwähnte chassidische Konventikeltum keine genuin chassidische Neugründung dar, sondern ließ sich zurückführen auf die schon lange vorher etablierten Kabbalistenkreise. Nun rennt die Beobachtung, dass einzelne Merkmale – oder auch nur Aspekte derselben –, die von orthodoxer Seite als »Gräuel« oder »Unfug«, als spezifische Frömmigkeitspraxis der Bewegungen bezeichnet wurden, letztlich in der gegenwärtigen Forschung offene Türen ein. Auch ist das Erneuerungsstreben, dass aus der Kritik an der lutherischen Kirche respektive der ostjüdischen Kehila hervorgehend dargestellt wurde, keine Teleologie, die sich nur bei den beiden Bewegungen findet. Der Befund bestätigt hier demnach nur in transreligiöser Perspektive, was Johannes Wallmann in der Pietismusforschung als das »Dilemma, in das uns die den gründlichen Forschungen Hans Leubes zu verdankende, inzwischen durch eine Vielzahl von Einzeluntersuchungen bestätigte Einsicht geführt hat, dass Frömmigkeits- und Reformstreben nicht ein exklusives Kennzeichen erst des Pietismus gewesen ist, sondern daß beides, Frömmigkeits- und Reformstreben, bereits in der lutherischen Orthodoxie des 17. Jahrhunderts zu finden ist, nicht nur in der Randströmung einer sogenannten Reformorthodoxie, sondern in der ganzen Breite der lutherischen Kirche und bei allen oder nahezu allen bedeutenden Repräsentanten der Orthodoxie«20. Ähnliche Stellungnahmen lassen sich auch in der Chassidismusforschung finden. Ein besonders hartes Beispiel stellt diesbezüglich sicherlich das bereits zitierte Dictum Gershom Scholems (»Wenn man mich fragen würde, was die neue Lehre dieser Mystiker sei, […] so würde ich um eine Antwort einigermaßen verlegen sein.«21) dar, auch wenn es hier in erster Linie um den eher theoretischen Bereich der Lehre geht. Als ›mystische Strömung‹ sortiert Scholem den 18 [Philipp Jakob Spener,] Gründliche Erörterung der Frage/ Ob die Collegia Pietatis Nothwendig/ und nützlich/ Oder aber Unnöthig/ unnützlich/ ja gar schädlich seyen? Veranlasset durch ein neulich Heraußgegangenes Send = Schreiben/ Hn. Phil. Lud. Hannekenii, Theolog. Doct. &c. Der Wahrheit und nothwendiger Erbauung zu gut/ Eilfertigst auffgesetzt von Pio Desiderio, 1691, 8. 19 Spener, Pia Desideria, 104 ff. 20 Johannes Wallmann, Pietismus contra Pietismus. Zum Frömmigkeitsverständnis der lutherischen Orthodoxie, in: ders., Pietismus-Studien. Pietismus-Studien. Gesammelte Aufsätze II, 105 – 117, hier : 105. 21 Gershom Scholem, Die Jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Frankfurt am Main 1980, 370.

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Chassidismus in eine klare Entwicklungslinie ein. Man kommt letztlich nicht umhin festzustellen, dass hier die ältere Forschung, die Pietismus und Chassidismus gerne in unvereinbarer Bipolarität gegenüber einer dogmatischen, ›versteinerten‹ Frömmigkeit der Orthodoxie verortete, bei genauerem Hinsehen schlichtweg falsch lag, auch wenn eine solche Deutung sicherlich bequem ist.22 Insofern gibt es viele Aspekte, die eine Interpretation des Frömmigkeits- und Reformstrebens der ›Erneuerungsbewegungen‹ eher als ›Tradition‹ nahelegen. Ist hiermit die Suche nach einer besonderen Frömmigkeit der ›Frömmigkeitsbewegungen‹ Pietismus und Chassidismus also obsolet und jedes weitere Wort überflüssig? Im ersten Satz der Einleitung wurde Martin Brecht zitiert, der den Pietismus als »die bedeutendste Frömmigkeitsbewegung des Protestantismus nach der Reformation«23 bezeichnete, und auch Gerschom Scholem zeichnet indirekt die Bedeutung des Chassidismus in jener Reihung der »jüdischen Mystik« aus, wenn er das Kapitel über den Chassidismus einleitet mit den Worten »Über keinen Teil der jüdischen Mystik ist auch nur annähernd so viel geschrieben worden wie über ihr letztes Stadium, den Chassidismus.«24 Gleichwohl also neben der fehlenden Originalität im theologischen Bereich ideengeschichtlich zumindest auch einzelne Aspekte praktischer Frömmigkeit als Bestandteile des traditionellen Bezugsrahmens verbucht werden müssen, braucht die Frage nach dem Besonderen, das beiden Bewegungen eignet, nicht aufgegeben werden. Dies ließ sich mit Hilfe des gewählten diskursgeschichtlichen Zugangs belegen, durch den die in der zeitgenössischen Wahrnehmung fraglos vorhandenen ›novatorischen‹ Momente aufgezeigt werden konnten. Wenn einzelnen Merkmalen aus heutiger, gegebenenfalls vornehmlich ideengeschichtlicher Forschungsperspektive deshalb ein eher traditioneller denn ein avantgardistischer Zug eignen mag, heißt das dementsprechend noch längst nicht, dass zur Entstehungszeit der Bewegungen tatsächlich kein solches ›novatorisches‹ Element vorhanden war. Häufig reicht deshalb eine leichte Verschiebung des Blickwinkels auf die vorgestellten Merkmale aus, um das Neue, das genuin Pietistische bzw. Chassidische zu erkennen. 22 Simon Dubnow, Geschichte des Chassidismus. Erster Band, Königstein/Ts. 1982, 22 bietet eine solche Deutung: »[…] dieser [der Geist des Gläubigen, d. V f.] war es, in dem das Gefühl über den Verstand, die Gottverbundenheit über die Gotteserkenntnis, die Thora im Herzen über die Thora als Buch die Pberhand gewinnen sollte […].« Für den Pietismus fasst Wallmann, Pietismus contra Pietismus, 106 den Wandel in der Forschung zusammen: »Gleichwohl besteht heute doch wohl ein Konsens unter den Erforschern des 17. Jahrhunderts, dass das vor allem auf Gottfried Arnold zurückgehende Bild von der toten, lebensfernen Orthodoxie als überholt und endgültig antiquiert angesehen werden kann.« 23 Martin Brecht, Einleitung, in: ders. (Hg.), Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert, Göttingen 1993, 1 – 10, hier: 1. 24 Scholem, Die jüdische Mystik, 356.

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Hinzu kommt, dass dieses Originelle oftmals tatsächlich nicht im Augenscheinlichen der Merkmale selbst liegt, sondern erst im synoptischen Blick des über Religionsgrenzen hinausgehenden Vergleichs einerseits und der Kombination der Einzelmerkmale andererseits, gleichsam einem Hologramm, erscheint. Das Besondere innerhalb der von den Bewegungen angestrebten Frömmigkeit, so die Konsequenz aus den dargestellten Überlegungen, liegt deshalb weniger in den Einzelmerkmalen, sondern eher im Tendenziellen, das durch diese praktischen Äußerungen zum Ausdruck gebracht wird. Im Folgenden sollen daher schlaglichtartig die wichtigsten Tendenzen, wie sie sich aus den Einzelmerkmalen ableiten lassen, aufgezeigt werden. Durch den Blick auf diese durchscheinenden Tendenzen werden zudem Bezüge zu anderen neuzeitlichen Perspektiven – gesamtgesellschaftliche sowie nur gesellschaftliche Ausschnitte betreffende – deutlich. Auch wenn häufig die Abhängigkeiten umstritten sind, muss betont werden, dass trotz der hier und dort nachgewiesenen traditionellen Verankerung des Frömmigkeitsstrebens von Pietismus und Chassidismus ebenso wegbereitende, stimulierende oder eben sogar avantgardistische Impulse ausgingen. Vor allem hinsichtlich der Prägekraft des Pietismus wurden bereits verschiedene derartige Thesen vorgebracht. Die bekanntesten hiervon sind sicherlich »die Interpretationen, die Ernst Troeltsch (1865 – 1923) und vor allem Max Weber (1864 – 1920) vorlegten. Die bis zum heutigen Tage immer wieder diskutierte ›Weber-These‹ über › die protestantische Ethik und den Geist des Kapitalismus‹ besagt, dass bestimmte Formen eines asketischen Protestantismus […] einen stimulierenden mentalen Hintergrund für die Entwicklung des modernen Kapitalismus geboten haben und deswegen unter dessen Entstehungsbedingungen zu rechnen seien.«25 Hierüber hinaus sind weitere vergleichbare Perspektiven möglich. Sie werden, wo sie im Zusammenhang mit den Tendenzen der Frömmigkeit von Pietismus und Chassidismus stehen, an gegebenem Ort angebracht.

1.

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Bereits in den Einzeldarstellungen war stellenweise darauf hingewiesen worden, dass nicht eben wenige der pietistischen und chassidischen Frömmigkeitsformen darauf abzielten, das Religiöse erfahrbar zu machen. Dem Chassidismus etwa schlossen sich (siehe Salomon Maimon) viele an, »welche einen religiösen 25 Udo Sträter, Zum Verhältnis des frühen Pietismus zu den Naturwissenschaften, in: Pietismus und Neuzeit 32 (2006), 79 – 100, hier: 96.

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Drang fühlten, und ihn weder durch ein strenges Büßerleben, noch durch ein mechanisches Hersagen vorgeschriebener Formeln befriedigen zu können vermeinten.«26 Auch, wenn Graetz’ Kapitel über »Das neue Chaßidäertum« in seiner Polemik, die sich etwa von Semir Arizim weCharboth Zurim inhaltlich sowie stilistisch nur marginal unterscheidet (und wohl auch zu weiten Teilen hieraus übernommen wurde) kaum mehr zitierfähig ist, trifft diese Beobachtung durchaus einen Kern chassidischer Frömmigkeit: Beinahe alle der erarbeiteten Merkmale zielen an der einen oder anderen Stelle darauf ab, diesen Drang zu befriedigen. Zum Rabbinismus und der mit dem Chassidismus gleichsam parallel entstehenden Haskala, die beide in ihrer intellektuellen Prägung vor allem den Verstand ansprachen, bot er hiermit eine Alternative, die in einem ganzheitlichen Ansatz auch das Gefühl als Rezeptionsinstanz hinzu nahm. Die Äußerungen Jakob Josefs über das äußerliche, formale Religionsverständnis, das von Dresner als das Problem bezeichnet wurde, auf das der Chassidismus eine Antwort bot, wurden, genau wie die Einstellung des Bescht zur Konzentration auf das Studium oben aufgezeigt; aber auch Dov Bär geißelte die ausschließliche Konzentration auf den Verstand mit seinen Frömmigkeitsformen: Während Wissen (NF7) »Trennung [von] der Schechina [und deiner] Weise [bedeutet], [ist] Sprache [des Gebetes] Paarung [und] Beischlaf, Ruhm [deiner] Weise.«27 Jedoch lässt sich dieser ›Trend‹ auch für das protestantische Luthertum, insbesondere den Pietismus aufzeigen: »Im 17. Jahrhundert wird das Verhältnis von »Kopf« und »Hertz« zur drängenden Frage der innerlutherischen Kirchenkritik und Reformbewegung, die seit Johann Arndt das Jahrhundert prägt.«28 Auch hierauf wurde bereits an diversen Stellen hingewiesen, einige sollen im Folgenden expliziert werden. Offensichtlich ist dieser Trend etwa bei dem gefühlsschweren, ekstatischen Beten der Chassidim, während dem die Beter (und diverse Gegenstände in ihrer Umgebung) ›bebten wie der Sinai‹ und sich ihre psychische Involviertheit durch Schreien und Wiegen auch physisch ausdrückte. Dieser ekstatische Zustand mit den geschilderten Interjektionen trat vor allem in den regulären Gebeten mit ihren vorgeschriebenen Texten ein, also vornehmlich in einem traditionell streng definierten Bereich; er tauchte aber auch hier und da in den individuell formulierten Bittgebeten auf (vgl. etwa die oben zitierten Beispiele über die inbrünstigen Gebete des Ba’al Schem Tov). Der gefühlvolle, inbrünstige Zustand des Betenden war somit sowohl Ausdruck des Entbrennens als auch der erste Schritt dazu, überhaupt erst in den angestrebten Zustand der Devekut zu ge26 Heinrich Graetz, Geschichte der Juden vom Beginn der Mendelsohnschen Zeit (1759) bis in die neueste Zeit (1848), Leipzig 1900, 99. 27 Maggid Devarav le Ja’akov, #24. 28 Sträter, Meditation und Kirchenreform, 1.

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raten. Sinnlich-emotionale Beteiligung war offensichtlich ein wichtiger Bestandteil des innerlichen chassidischen Gebetes; laute Gebetsekstase, wie sie die Gegner darstellten, allerdings wohl nicht. Jedoch war sie häufig notwendiges Mittel zum Zweck, um der Seele zur Anhaftung zu verhelfen. Auf dem Weg der Seele auf ihre anvisierten Höhen stand somit nicht nur die Anstrengung des Verstandes als vielmehr die Erregung, das Gefühl, kurzum: eine vollständige Involviertheit. Das Durchschreiten der himmlischen Kammern während des Gebetes, wie es vom Bescht durch seinen Brief bezeugt ist, war weniger eine intellektuelle Aufgabe denn eine emotionale. Auch angesichts der Feststellung, dass die Chassidim der Anfangszeit das Studium keinesfalls als wichtige Frömmigkeitsform ausschlossen, gilt es, dies zu betonen: Das gefühlvolle Gebet wurde oft höher geschätzt als das Studium, da es, mit der richtigen Intention und mit Devekut eine anspruchsvollere Aufgabe darstelle als die Mitzwa etwa des Torastudiums. An dieser Stelle sei auch an die hervorgehobene Wertschätzung einiger Zaddikim für die jiddische Volkssprache erinnert, die ihren Anhängern empfahlen, das Mode Ani ruhig in ihrer Muttersprache zu beten, damit sie es mit einem freudigen Herzen sprechen könnten, ohne die formale Hürde der heiligen Sprache, die immer eine gewisse Mittelbarkeit bestehen ließe. Der Chassidismus suchte dagegen die Unmittelbarkeit des Berührtwerdens. Letztlich wird an vielen Stellen hinsichtlich des chassidischen Gebetes die Betonung des Gottesdienstes mit dem Herzen, in seiner Tendenz zur Verinnerlichung deutlich. Vergleichbares gilt für das auch im Pietismus vertretene ekstatische Moment. Hier wurde zudem aufgezeigt, dass neben der eigentlichen ›Entzückung‹, der als direkter, sinnlich erfahrbarer Geisterfahrung die größte Ähnlichkeit zum ekstatischen Gebet der Chassidim eignet, noch die ›Begeisterung‹ als Gegenmoment des reinen Vernunftdenkens eine Rolle spielte. Sie wurde als pietistisches »principio cognoscendi« in den gegnerischen Darstellungen eingeführt und pietistischerseits nicht völlig widerlegt. Hierbei darf ›Begeisterung‹ an dieser Stelle nicht als ekstatisches Erkenntnisprinzip verstanden werden, also als Erkenntnis, die »außer sich stehend« empfangen wird. Es wird dennoch hier angeführt, da es als inspiriertes Erkenntnisprinzip in der Spannung zwischen ›Kopf‹ und ›Herz‹ steht: In der Gottesgelehrtheit ist irgendwann ein Punkt erreicht, von dem aus der Verstand allein nicht weiter führt. Sicherlich ist dieses im Pietismus vertretene Erkenntnisprinzip weit davon entfernt, als eine den ganzen Menschen erfassende Wahrnehmung aufgefasst werden zu können, da das untere, rein sinnliche Erkenntnisvermögen nicht angesprochen ist, dem der Pietismus bekanntlich nicht viel zutraute. Ein gutes Beispiel aus dem frühen Pietismus, das in der Spannung von religiösem Erfahrbarkeitsstreben und Ausblendung der Sinnesempfindung steht, ist Franckes Bekehrungsbericht: Der theologisch umfassend gebildete Francke verzweifelte schier daran, dass ihm all seine theologische Vernunft bei der anvisierten Predigt in Lüneburg nicht

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weiterhelfen sollte, er drohte an der seelsorgerlichen Realität zu scheitern, da die reine Verstandeserkenntnis bereits bei der Selbstapplikation der auszulegenden Passage nicht ausreichte. Francke wollte, aber er konnte den Glauben nicht erfahren, was ihm »viel thränen aus den augen pressete«29. Erst die gottgewirkte Veränderung, die aus der Rührung hervorging, vermochte dies, seiner »verirreten vernunfft« wurde »ein zaum angeleget.«30 Ebenso offensichtlich ist dieses Streben nach Erfahrbarkeit im Bereich von Kawwanna aufzuzeigen: Hier findet, wie beschrieben, im Chassidismus eine regelrechte Transformation der lurianischen Kawannot-Technik, die in der Kabbala als vornehmlich kognitiver Prozess mit streng formalen Vorgaben verstanden wurde, statt: Mit Kawwanna sollte das Gebet »ein Ausdruck deiner Empfindungen und deiner Bitten zu Gott«31 sein, um die Sprüche der Väter (Pirke Awot) zu zitieren. Statt der exakten Kenntnis der von Luria festgelegten Bedeutung von Schlüsselwörtern innerhalb der Gebete sollte der aus Sinnlichkeit und Verstand, Körperlichkeit und Geislichkeit gleichermaßen bestehende Mensch zuständig sein für die Intentionalität. Mehr als deutlich wurde dies von Dov Bär, dem Großen Maggid, formuliert. Die entsprechende Passage sei noch einmal angeführt: »This resembles a door which one opens with something which can break iron. Thus the ancients employed in meditation the Kavvanah suitable for each thing. Now that we have no Kavvanah only the breaking of the heart will open [the door] to everything.«32

Nicht das formale Wissen ob der kabbalistischen Bedeutung einzelner Schlüsselbegriffe hilft zur innerlichen Meditation, sondern »the breaking of the heart«. Die chassidische Andacht ist enthusiastisch-emotional, nicht kognitiv bestimmt. Relevant ist das Erlebnis.33 Dies hatte zur Folge, dass die meisten Merkmale chassidischer Frömmigkeitspraxis – sowohl die prägnanten, die als zentrale Merkmale behandelt wurden, als auch die vielen kleinen Bräuche und Gesten des (auch alltäglichen) spirituellen Lebens – eine hochgradige emotionale Aufwertung erfuhren. Auch für den Pietismus war eine Verschiebung der Wertschätzung in der Gebetstradition aufgezeigt worden. Ähnlich der Emotionalisierung der ehemals 29 Francke, Lebenslauff, 27. 30 Ebd., 29. 31 A9KB8 =DH@ A=D9D;N9 A=B;L 4@4 F5K ýN@HN MFN @4; auch wenn A=B;L in seiner eigtl. Bedeutung mit Liebe übersetzt wird, bleibt der Sinn bestehen; Pirke Awot, 2, 18. 32 Weiss, The Kawanoth of Prayer in Early Hasidism, 177 zitiert hier aus Or haEmet. 33 Vgl. auch die Formulierung von Ysander, Studien zum bestschen Hasidismus, 139: »Was neu hinzugekommen ist und durch Best’s prophetisches Werk und seine Verkündigung ein fast gewaltsames Leben erhält, ist das religiöses Erwachen, das individuelle Erlebnis, zu Gott vorzudringen und ohne alle Spitzfindigkeiten in Gedanken und Riten die Nähe des ewigen(!) und des ewigen Gottes zu empfinden […].«

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primär intellektuell geprägten lurianischen Kawwannot-Meditation wurde hier der pietistische Vorzug des freien Betens vor den »Gebetsformulen« dargestellt, wenngleich hier auch nicht von einer adäquaten ›Deintellektualiserung‹ bzw. ›Emotionalisierung‹ die Rede sein kann, da auch das freie Gebet in der vorgestellten Weise eine nicht zu unterschätzende kognitive Herausforderung darstellt. Dennoch steht auch hinter dem Vorzug des freien Gebets sichtbar der Drang zur religiösen Erfahrung, wenn Spener betont »Thut auch sehr viel/ wo man sich auß dem eigenen hertzen zu beten gewöhnet.«34 Wo das freie, auf die individuellen Bedürfnisse zugeschnittene Gebet nahegelegt wurde, da wurde vor allem mit der Andacht argumentiert, die im freien Gebet viel besser zu erhalten sei (»Dann da in den außwendig gelerneten gebeten die gedancken leichter außschweiffen/ so bleibet hingegen die andacht viel besser beysammen/ wo man auff seine gedancken und wort/ die man reden soll/ acht geben muß«35). Auch aus dieser Lösung von traditionellen rituellen Formen, wie sie die »Gebetsformulen« darstellen, kann das Streben nach religiöser Erfahrung herausgelesen werden. Denn natürlich ist auch das Beten von, etwa in Gebetbüchern überlieferten, vorgegebenen Texten idealtypisch mit voller Konzentration durchzuführen. Die Befürworter des freien Gebetes, allen voran Spener und Francke, sind sich allerdings bewusst, dass hierbei die Gefahr, dass »die gedancken leichter außschweiffen« nicht unerheblich ist, das Gebet zur äußerlichen Formsache gerät. Zumindest für den Chassidismus lässt sich dieser Trend auch in Hinblick auf literarische Gattungen (bzw. deren mündliche Pendants) aufzeigen: Die Beobachtung, dass die Erzählungen (s. o. die Ausführungen zu den Legenden) sowie die aggadischen Passagen der Tora in der chassidischen Wertschätzung den traditionell höher geachteten Gattungen – dem gelehrten Vortrag, dem Traktat oder der Homilie bzw. den halachischen Passagen innerhalb der Tora – gleichgestellt wurden, rückt ein Genre in den Vordergrund, das viel weniger den Verstand anspricht, als es den anderen genannten Gattungen eigen ist. Tatsächlich handelt es sich bei dieser Hochschätzung von alle Sinne ansprechender Literatur mit der gleichzeitigen Absicht, frömmigkeitstheologische Inhalte zu vermitteln, so weit ersichtlich, um ein Alleinstellungsmerkmal. Zumindest hinsichtlich des Pietismus ist keine Parallele erkennbar. Etwas weniger offensichtlich, aber in dieselbe Richtung steuernd lässt sich entsprechendes auch über die neuen Gemeinschaftsformen sagen. Sowohl die speziellen chassidischen Gebetszirkel als auch die auf die Oberhäupter fokussierende Gemeindeordnung können als Wege betrachtet werden, durch die es einfacher möglich gewesen sein wird, dem »Drang« (Graetz) nach erfahrender 34 Spener, Gottgefälliges gebet, 638. 35 Ebd.

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Religiosität gerecht zu werden, als im Rahmen der örtlichen Kehila möglich oder üblich. Zunächst wird in den kleinen Zirkeln Gleichgesinnter ein ganz anderes Gemeinschaftsgefühl vorgeherrscht haben als in den auf Gemeindeebene stattfindenden Synagogenversammlungen – zumal hierdurch Männer miteinander beteten, die dasselbe Interesse an einem innerlichen Gottesdienst des Herzens verband, was für erhebliche ›Synergieeffekte‹ gesorgt haben wird. Darüber hinaus und nochmals verstärkend ist auf die besondere Rolle hinzuweisen, die die neuen Gemeindeoberhäupter für ihre Anhänger gespielt haben: Sie standen ihren Anhängern ständig in ihrer Funktion des Fürsorge tragenden Vermittlers, aber auch des spirituell anleitenden Lehrers zur Verfügung. Sie befanden sich auf einer Stufe zwischen Himmel und Erde, standen in stetiger Verbindung zu Gott, ja hafteten ihm an. Die chassidischen Oberhäupter hatten einen göttlichen Anteil, sie holten den Himmel auf die Erde. In ihnen wurde in gewisser Weise das Göttliche erfahrbar, eine Erfahrung, die dem Urteil Jakob Josefs (und wohl vieler Zeitgenossen) zur folge in der Distanz zwischen gelehrten und ungebildeten Juden fehlte. In der Devekut des Rebbe war der Gerechte nahe bei Gott. In Devekut des Chassids an seinen Rebbe war deshalb auch der Chassid bei Gott: seh-, hör- und greifbar. Wenn auch weniger mystisch geprägt kann ebenso die pietistische Gemeinschaftsform des Konventikels mit der, im »geistlichen Priestertum« ihre theologische Legitimation erfahrenden Ausstrahlung auf alle Lebensbereiche angeführt werden. Explizit wurde auf die geistlichen Aufgaben hingewiesen, welche von allen Christen untereinander zu üben seien, angefangen bei der gegenseitigen Unterrichtung über die Erbauung bis hin zur Strafe. Hier wurde ein viel engeres christliches Gemeinschaftsleben zu verwirklichen gesucht, als es durch die örtliche, lokal definierte Pfarrei üblich war. Gerade in der oben als ›Gründungsmythos‹ des spenerschen Collegiums zitierten Erläuterung Speners über den Zusammenhang, der zur Entstehung der Erbauungsstunde mit den angegebenen Zielsetzungen führte, wird dies deutlich: Es wollten sich Frankfurter Bürger zusammenfinden, um ihr Christentum intensiver leben zu können.36 Wenn auch nur mittelbar, so sind doch die in Pietismus und Chassidismus vorherrschenden Gemeinschaftsformen als Belege für das dargestellte Streben nach erfahrbarer Religiosität zu interpretieren. Hinzuweisen ist hierbei allerdings auf die unterschiedliche Entwicklung von Pfarrer und Rabbi: Während dem chassidischen Oberhaupt schon sehr früh in der dargestellten Form eine regelrechte Scharnierstellung zugesprochen wurde, verlor die Rolle des Pfarrers 36 »Sie wünscheten aber gelegenheit zu haben / daß zuweilen Gottseelige gemüther möchten zusammen kommen / und von dem einigen ihnen allen nothwendigen […] in einfalt und liebe sich besprächen […].« Spener, Sendschreiben an einen Christeyffrigen außländischen Theologum, 44 ff.

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trotz aller gegenteiligen Behauptungen klar an Bedeutung, wenigstens für das individuelle Seelenheil. Insofern kann der Pietismus sicherlich als neuzeitlichdemokratischer bezeichnet werden als der charismatisch-herrschaftliche Chassidismus. Einen singulären Zug, der auch unter das Signum ›religiöser Erfahrung als Kennzeichen neuzeitlicher Frömmigkeit‹ gefasst werden kann, stellt dagegen das pietistische Bestehen auf der dezidierten persönlichen Bekehrung mit der hierauf gründenden Wiedergeburt dar. Bezeugte Salomon Maimon, wer Chassid sein wolle, habe »nichts mehr nöthig, als sich an die hohen Obern zu wenden, und eo ipso gehöre [man] schon als Mitglied zu dieser Gesellschaft«37, so stellt sich der Sachverhalt im Pietismus anders dar. »Die […] religiöse Erneuerungsbewegung, die man als Pietismus bezeichnet, erweist sich darin als einheitliche Bewegung, dass sie für ein entschiedenes Christentum innerhalb einer christlichen […] Gesellschaft kämpft.«38 Die pietistische Bekehrung bezeichnet diese bewusste Hinwendung zum Christentum, eine klare Entscheidung, die etwa mit einem gänzlich veränderten Lebenswandel einhergeht. So deutlich taucht dieses Moment der Entscheidung, das auch als Bruch mit dem bisherigen Leben aufgefasst werden kann, im Chassidismus nicht auf. Hier zeichnet sich der Wesenszug eines neuzeitlichen Individualismus im Pietismus ab, im Chassidismus nicht. Eine mögliche Begründung dieses augenfälligen Unterschiedes kann in der mystischen Ausrichtung des Chassidismus gesehen werden; einen anderen Erklärungsansatz könnte die Zugrundelegung unterschiedlicher anthropologischer Konzepte bieten. Sicherlich würde eine eingehende Untersuchung hier Interessantes zutage fördern können. Gewinnversprechend ist ein Blick auf die skizzierte Tendenz hin zu erfahrbarer Religiosität im Zusammenhang der allgemeinen Geistesgeschichte: Wurde die jüdische Frömmigkeitskultur, die ihren Schwerpunkt im 17. und 18. Jahrhundert ansonsten wohl vor allem auf den Verstand gelegt hatte, mit dem Aufkommen des Chassidismus durch dessen regelrechten Gefühlskult um diese vornehmlich sinnliche Ebene ergänzt, so fällt auf, dass sich hierdurch eine interessante Parallele zur geistesgeschichtlichen Entwicklung in West- und Mitteleuropa feststellen lässt: Während bereits in den frühesten Phasen des Chassidismus ab der Mitte des 18. Jahrhundert die jüdische Frömmigkeit in Osteuropa die beschriebene Emotionalisierung durchmachte, brach parallel dazu weiter westlich die Epoche der Empfindsamkeit an. Hier wie dort analysierte man eine »erstarrende Formkultur«39 – hier den »spätbarocken Stil« und die 37 Maimon, Lebensgeschichte, 226. 38 Markus Matthias, Bekehrung und Wiedergeburt, in: Hartmut Lehmann (Hg.), Glaubenswelt und Lebenswelten, Göttingen 2004, 49 – 79, hier : 50. 39 Ulrich Karthaus (Hg.), Sturm und Drang und Empfindsamkeit, Stuttgart 2002, 12.

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»herrschenden Überzeugungen in moralischen, ästhetischen und theologischen Fragen«, dort die äußerlichen, formalen, mithin scheinheiligen Frömmigkeitsformen – und engagierte sich, dem Verstand das Gefühl helfend zur Seite zu stellen. Insofern liegt der Chassidismus ganz im zeitgeistlichen Trend. Während allerdings hierbei die ›Empfindsamen‹ in West- und Mitteleuropa, sich häufig auf die Bußstimmung des Pietismus gründend40, eher Tränenströme vergossen, richteten die Chassidim das Fühlen mit den Begriffen Simcha (Freude) und Gleichmut positiv aus, was bereits durch die Gegner bezeugt wird. Wichtiger noch aber ist, dass ihr Fühlen weder um des Fühlens selbst willen geschah, noch wie bei den Empfindsamen die »nervöse Bereitschaft zur Erschütterung«, die in »scheinbar geringfügigen Anlässen Erfüllung« zu finden hoffte41, das Ideal darstellte. Das Ideal chassidischer Frömmigkeit war vielmehr durch die Freude an der Anwesenheit Gottes in der Schechina und durch die Ausrichtung des glaubenden Subjekts hierauf durchweg freudig. Nicht wenige der kurzen, anleitenden Lehren des ›Testaments‹ des Ba’al Schem drücken dies aus: »Weeping is very bad because man must serve [God] with joy. Weeping that results from happiness, however, is very good.«42

Mit diesem Bonmot, dass den markanten Unterschied zu den lurianisch beeinflussten ›alten‹ Chassidim aufweist, ist die chassidische Empfindsamkeit treffend charakterisiert; jedoch werden auch die Unterschiede zur christlichen europäischen Empfindsamkeit des ausgehenden 18. Jahrhunderts deutlich: Zwar lässt sich der vom »Drang« nach dem religiös Erfahrbaren getriebene Chassidismus in der tendenziellen Ausrichtung seiner Frömmigkeitsformen auf die Empfindung durchaus als Kind eines allgemein-europäischen Zeitgeistes bezeichnen, doch ging es letztlich in der chassidischen Freudigkeit nur um die seelischen Empfindungen, die angesichts der Anwesenheit Gottes in der Welt angebracht sind. Weltliche Gemütsregungen sollten spätestens dann, wenn die angestrebte Anhaftung erlangt war, abgelegt werden. Die empfindsamen Gemüter des westlicheren Europas dagegen strebten das Gefühl um seiner Erschütterungskraft wegen an. Auch, wenn sich hierin die Macht der Empfindsamkeit nicht erschöpfte, sondern vielmehr seit der Aufklärung die Empfindungen als erkenntnisleitende Kräfte neben die Vernunft gestellt wurden, lässt sich hier ein qualitativer Unterschied feststellen. Schwieriger ist diesbezüglich die Einordnung des Pietismus, der als sozial erfassbare Bewegung wesentlich früher entstand – beinahe ein Jahrhunderts 40 Vgl. die Beschreibungen des pietistischen Habitus, nach denen die Pietisten mit hängendem Kopf, schwarzen Mänteln usf. charakterisiert wurden. 41 Gerhard Kaiser, Aufklärung, Empfindsamkeit, Sturm und Drang, Tübingen u. a. 2007, 34 f. 42 Tzava’at Harivash, #45.

Hochschätzung religiöser Erfahrung als Kennzeichen neuzeitlicher Frömmigkeit

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steht zwischen dem Zusammentreten des Frankfurter Collegium Pietatis um Spener und Schütz und der Hochzeit des Sentimentalismus. Galt hier früher der Pietismus als religiöser Vorgänger der Empfindsamkeit, oder, von hinten aufgezäumt, die Empfindsamkeit als »säkularisierter Pietismus«43, so formuliert man heute vorsichtiger, dass das Erbe des Pietismus in der Epoche der Empfindsamkeit vor allem in der »von pietistischen Metaphern durchsetzte[n] dynamischen Empfindungssprache« und durch »Gefühlsinnigkeit, sprachliche Kraft und Formbeherrschung«44 aufzeigbar sei. Das Hauptproblem, durch welches der Pietismus als Vorgänger der ›säkularen‹ Empfindsamkeit desavouiert würde, sei hierbei seine Verdammung der Sinnlichkeit als solche. Anthropologisch stellt dies vermutlich eine entscheidende Grenzziehung zwischen den beiden Strömungen dar. Während »die mit Nachdruck vertretene These […] von der Verderbtheit der Sinne«45 den Pietismus als von der »Idee des ganzen Menschen als ein zentrales Stichwort im Denken der Aufklärung«46 noch nicht berührtes, stattdessen noch tief in der lutherischen Erbsündelehre verwurzeltes anthropologisches System und zudem letztlich als doch noch recht ›kopflastig‹ ausweist, ist der Chassidismus hier eventuell weiter. Trotz aller Weltfeindlichkeit ist hier eine »Kultur der Sinnlichkeit«, wie sie im europäischen Sentimentalismus vorherrschte und als »unteres Erkenntnisvermögen« gemeinsam mit dem »oberen Erkenntnisvermögen« die »Lehre von der Bildung des ganzen Menschen, das Ideal der Humanität« bildete, durchaus vertreten.47 Ein wunderbares Beispiel stellt hierbei die – im frühen Pietismus allenfalls im radikalen, separatistischen Milieu denkbare48 – bis hinein in die chassidische Homilie Verwendung findende sexualmetaphorische Sprache dar.

43 Gerhard Sauder, Empfindsamkeit. Band I Voraussetzungen und Elemente, Stuttgart 1974, 58 – 64 zeichnet diesen Wandel nach und kommt zu dem Schluss: »So bleibt von der so oft und mit erstaunlicher Selbstversändlichkeit vorgetragenen These, die Empfindsamkeit sei die weltliche Tochter des Pietismus, nicht viel übrig, was sich in literarischen Texten belegen ließe.« (S. 62). 44 Hans-Jürgen Schrader, Die Literatur des Pietismus – Pietistische Impulse zur Literaturgeschichte. Ein Überblick, in: Hartmut Lehmann (Hg.), Glaubenswelt und Lebenswelten, Göttingen 2004, 386 – 403, hier: 390 bzw. 394. 45 Carsten Zelle, Zur Idee des ›ganzen Menschen‹ im 18. Jahrhundert, in: Udo Sträter u. a. (Hgg.), Alter Adam und Neue Kreatur. Pietismus und Anthropologie. Beiträge zum II. Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2005, 45 – 61, hier: 50. 46 Ebd., 45. 47 Vgl. ebd., 50. 48 N.b.: Vorfindbar ist Vergleichbares später bei Nikolaus Ludwig von Zinzendorf, etwa im Kultus vom ›Seitenhöhlchen‹, der oftmals als Mittel gegen die Erbsünde interpretierbar ist; auch diesem eignet ein auffälliger Hang zur Sexualmetaphorik.

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2.

Resümee, oder: Tendenzen des Frommen in der Neuzeit

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Bei die Analyse der aus den Antichassidica herausgearbeiteten chassidischen Frömmigkeitsmerkmale war aufgezeigt worden, dass oftmals nicht die analysierten Merkmale selbst – die letztlich nur selten wirkliche Neuerungen innerhalb der jüdischen Frömmigkeitsgeschichte darstellen – der eigentliche Stein des Anstoßes für die Gegner gewesen sein werden. Vielmehr bildet die Durchführung von bis dahin esoterischen Kreisen vorbehaltenen Praktiken durch die Massen den eigentlichen Kritikpunkt. Dominierend und vor allem prägend ist hier der Bereich der Kawwanna: Nicht nur die Transformation des Kawwannotbegriffes hin zu jenem beschriebenen emotionalen Modell, sondern auch die Gelehrten und Ungelehrten gleichermaßen zugebilligte Wirkebene im individuellen sowie kosmologisch-sefirotischen Bereich zeigen diese Tendenz auf. Auch durch die verbreitete Verwendung von Elementen des lurianischen Nussa in der chassidischen Liturgie wird diese Verschiebung elitärer Techniken in den Zugriffsbereich der Laien belegt. Anders als der lurianische Kawwannabegriff beschreibt der chassidische eine Technik bzw. einen Zustand, der prinzipiell von jedem Chassid erlangt werden kann und als solcher die Grundlage aller Frömmigkeitspraxis auf dem Weg zum höchsten Ziel, der Devekut, darstellt. Diese Anhaftung erfolgt nicht nur mittelbar durch die Anhaftung an den Rebbe, sondern auch den einfachen Männern ist der unmittelbare Weg durch das Gebet durchaus möglich, wie es das Testament des Ba’al Schem Tov (Tzava’at Harivash) an vielen Stellen formuliert. Wie die oben angebrachten Zitate zeigten, muss hierfür zunächst die richtige Andacht (Kawwanna) vorbereitet werden, bevor die Ausrichtung des Gebetes bzw. des Beters (was auch als Kawwanna bezeichnet wird) möglich ist; der höchste devotionale Zustand des Anhaftens an den Schöpfer soll zum Zeitpunkt des Betens der bedeutendsten Abschnitte des täglichen Gebetsgottesdienstes erfolgen, da hier eine besondere Wirkträchtigkeit vorausgesetzt wird; oftmals geht hiermit bereits der Zustand der Ekstase einher, was von Körper und Seele nicht eben wenig abverlangt, nicht jedoch eine rabbinische oder kabbalistische Ausbildung voraussetzt. Devekut durch die richtige Kawwanna (Intention/Andacht) und die hiermit erstrebten Einungen im sefirotisch-kosmologischen Bereich sind deshalb als Ergebnis eines Gottesdienstes mit dem Herzen aufzufassen, nicht in erster Linie des Verstandes. Insgesamt erfolgt somit eine Simplifizierung der komplexen Methode intellektueller Konzentration, indem ein emotionalisiertes Modell dem intellektualistischen lurianischen gleichgesetzt, ja sogar übergeordnet wird. Hierdurch wiederum geschieht zudem eine Rückbesinnung auf die Unmittelbarkeit der Gebetstexte, die Identifikation voraussetzt. Hierüber hinaus lässt sich auch über den chassidischen Nussa, dessen breite Verwendung den Zorn der Mitnaggedim hervorrief, sagen, dass er in allen seinen

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diversen Erscheinungsformen immer die Kawwannot und den ihnen in der lurianischen Kabbala zugesprochenen (kosmologisch-sefirotischen) Effekt enthielt. Es wird auch diesbezüglich nicht die Verwendung von lurianisch-sefardischen Passagen an sich gewesen sein, welche die Mitnaggedim so erzürnte; vielmehr ging es auch hier letztlich um die allgemeine Verwendung von Texten, die eigentlich esoterischen Kreisen von besonders qualifizierten Kabbalisten vorbehalten waren, was durch jenes im letzten Schriftstück von Semir Arizim enthaltene Verbot der Verwendung lurianischer Elemente im Ritus deutlich wurde: Nicht generell wurden diese verboten, jedoch durften nurmehr die altbekannten Kabbalisten weiter nach dem speziellen Vorlagen beten (allerdings nur in ihrer Klause). In diesem Zusammenhang der Popularisierung von genuin esoterischen Praktiken und Begriffen muss noch einmal auf den Sprachaspekt hingewiesen werden, der dieser Tendenz scheinbar widerspricht: Wie oben bereits mehrfach betont wurde, steht diesem Trend das Vorherrschen hebräischer Werke in der chassidischen bibliotheca pietatis (zumal der Anfangszeit) offensichtlich unvereinbar gegenüber, da hierdurch große Teile der jüdischen Bevölkerung von der schriftlichen Anleitung ausgeschlossen waren.49 Dies kann einerseits durch die herausragende Bedeutung der Beziehung der chassidischen Oberhäupter zu ihren Anhängern schlüssig erklärt werden, welche eine wesentlich engere gewesen sein muss als jene zwischen den Rabbinern und der ihnen assoziierten Gemeinde. Dies wiederum entspricht der Kritik Jakob Josefs hinsichtlich der ›eremitischen‹ Zurückgezogenheit der rabbinischen ›Gelehrtenklasse‹. Den chassidischen Oberhäuptern wird man somit in ihrer Funktion als spiritueller Lehrer einen durchaus aktiven Anteil daran zuzusprechen haben, dass einiges, was die Mitnaggedim am liebsten weiterhin in der sicheren Verwahrung gelehrter Hände gewusst hätten (siehe Semir Arizim im letzten Schreiben) auch den einfachen Chassidim anvertraut wurde. Es muss demnach einen nicht unerheblichen Wissenstransfer zwischen halachischen Experten und Laien gegeben haben, in dessen Zusammenhang viele dieser Wissensbestände neu verteilt bzw. zumindest neuen Adressatenkreisen Zugangsmöglichkeiten eröffnet wurden. Hier wird der Transformationsprozess der chassidischen Tradition deutlich: Die eigentlichen Anleitungen im devotionalen Bereich erfolgten weniger auf literarischer50, sondern eher auf mündlicher Ebene, wodurch der potentielle Rezipientenkreis innerhalb einer semiliteralen Gesellschaft erheblich erweitert wurde. Eine andere Erklärung für die scheinbare Unvereinbarkeit der offensichtlichen Popularisierungstendenz mit der hebräischen Tradition ist neben der Mündlichkeit aber auch die Hochachtung und vielfältige Verwendung an49 Vgl. hierzu die oben angeführten Angaben v. a. aus Dynner, Men of silk. 50 Abgesehen von den oben angeführten ›Laienbüchern‹, wie sie etwa die Legendensammlungen darstellen.

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derer literarischer Gattungen im frühen Chassidismus: Neben den Predigten der Oberhäupter (für die uns Salomon Maimon jenes eindrückliche Beispiel von R. Dov Bär liefert) spielten von Anfang an etwa die berühmten Legenden sowie eine Vielzahl von gesungenen (und getanzten) Niggunim51 eine große Rolle, die in der jiddischen Alltagssprache zum Besten gegeben wurden. Mit dieser Entwicklung ist ein nicht zu unterschätzender Schritt hin zu dieser Richtung der Popularisierung getan, weshalb Dynner sein Kapitel mit Fug und Recht und durchaus treffend Marketing Hasidism nennt. Gerade der Quellenüberblick in III.1.1 und III.1.2 veranschaulichte diesen Wandel, der ebenso ein nicht unwichtiger Aspekt hinsichtlich der emotionalen Rezeption durch die Chassidim ist. Auch der Pietismus kann als von einer ›Laiisierung‹ geprägt beschrieben werden, obwohl er – wie der Chassidismus auch – keine Laienbewegung darstellt. Exemplarisch sollen die Einrichtung der Collegia Pietatis ebenso wie das, was von gegnerischer Seite als pietistische Bestrebungen, den geistlichen Stand abzuschaffen beschrieben wurde – und von Spener in Anlehnung an Luther die Bezeichnung ›geistliches Priestertum‹ erhielt – angeführt werden. Auf den ›Gründungsmythos‹ des spenerschen Collegiums, den Spener selbst in seinem Sendschreiben an einen christeyffrigen außländischen Theologum begründete, war oben bereits eingegangen worden.52 Die zitierte Passage endet damit, dass Spener das Anliegen, das zur Gründung des Collegiums führte, zusammenfasst: »Sie [die Frankfurter Gemeindemitglieder, die an ihn herangetreten waren, d. Vf.] wünscheten aber gelegenheit zu haben / daß zuweilen Gottseelige gemüther möchten zusammen kommen / und von dem einigen ihnen allen nothwendigen […] in einfalt und liebe sich besprächen […].«53 Ziel der rasch zu einer Institution avancierenden Einrichtung war, interessierten Laien einerseits einen unmittelbaren Zugang zur Bibel zu ermöglichen und andererseits ihre Erbauung, auch untereinander, zu befördern.. Es soll nicht noch einmal die gesamte Konzeption der ›Sammlung der Frommen‹ wiederholt werden, nur ein Detail soll herausgegriffen werden: »Sämtliche Berichte [über die Gründung des Collegiums, d. Vf.] stimmen darin überein, daß nicht Spener selbst, sondern Männer der Frankfurter Gemeinde den Anstoß gegeben haben. […] Offensichtlich wünschten die an Spener herantretenden Frankfurter Bürger die Gründung einer christlichen Liebesgesellschaft oder Gesprächsgesellschaft […].«54 Ohne die Notwendigkeit 51 Auch hierzu sei auf das Kapitel Sermons, Stories, and Songs: Marketing Hasidism in ebd., 197 ff. verwiesen sowie Wertheim auf die entsprechenden Abschnitte bei Wertheim, Law and Custom und Ysander. 52 Vgl. Spener, Sendschreiben an einen Christeyffrigen außländischen Theologum, 44ff; ebenso in ders., Warhafftige Erzehlung, 44. 53 Ebd. 54 Johannes Wallmann, Das Collegium Pietatis, in: ders., Philipp Jakob Spener und die Anfänge des Pietismus, Tübingen 1986, 264 – 298, hier : 270 f.

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einer sozialen Zuordnung sind es diese »Männer der Frankfurter Gemeinde«, die interessieren: es waren Laien, um deren willen das Collegium begründet wurde. Auch Speners Reformschrift Pia Desideria wendet sich mit konkreten Vorschlägen nicht zuletzt an Laien bzw. beschäftigt sich mit der dort als gesamtgesellschaftlich beschriebenen Frömmigkeitskrise. Dasselbe gilt für eine große Anzahl anderer frömmigkeitstheologischer Texte, die sich längst nicht nur an den geistlichen Stand wenden. Vielmehr richten sich diverse Anleitungen unmittelbar an Männer, Frauen und sogar Kinder aller Stände, der Laie rückt regelrecht in den Mittelpunkt der Frömmigkeitsbestrebungen. Auf die diesen frömmigkeitstheologischen, zur pietas anleitenden Texten eigene Betonung der Selbstreflexion, zum Überdenken des eigenen Zustandes (etwa hinsichtlich der Wiedergeburt) war oben eingegangen worden. An dieser Stelle soll dementsprechend nur noch einmal betont werden, dass in der Beobachtung, dass nicht nur eben jene Fähigkeit zur Reflexion des spirituellen Zustandes, sondern auch die Macht, diesen zu ändern, unterschiedslos allen Laien zugestanden wurde, deutlich ein moderner Zug eignet. Die Diskussion um die vermeintliche Abschaffung des geistlichen Standes ist ein zeitgenössischer Beleg für die gesellschaftliche Brisanz, die in der Neubewertung beider Laienstände mitschwingt. Hier setzt der zweite Aspekt an: In der Berufung auf das geistliche Priestertum als jeder christlichen Gemeinschaft zugrunde liegende Ordnung, das Spener zurückführte auf die Urkirche, es aber auch bei Luther nachwies, wohnte insoweit natürlich immer die Gefahr der Geringschätzung des berufenen Priestertums inne, als das in der lutherischen Kirche traditionell primär dem Aufgabenbereich des geistlichen Standes zugedachte gemeindliche Angelegenheiten nunmehr auch dem ›geistlichen Priestertum‹ anheimgestellt wurden. Zwar betonte Spener unermüdlich das Gegenteil55, wollte »predigamt und das geistliche priesterthum in einer lieblichen harmonie neben einander«56 stellen und war darauf bedacht, zwischen ›vor Allen‹ und ›vor dem Einzelnen‹ zu differenzieren.57 Dennoch, die geistlichen Ämter wurden bereits im frühen Pietismus allen Christen zugesprochen, darunter das Schriftstudium, das Unterrichten, Ermahnen, Strafen und Trösten. Wenn auch zumindest im kirchlichen Pietismus nur im privaten Bereich, waren dies Aufgaben aller Christen untereinander, und schließlich: Wo hört das Private auf, wo fängt das Öffentliche an? Die entschiedene Stellungnahme des Pietismus gegen ein unreflektiertes, unbewusstes »Heuchelchristentum«, die in der Bekenntnisforderung an alle Christen inhärent ist, kann deshalb auch als Forderung zur religiösen Mündigkeit des Laienstandes ausgelegt werden. Dasselbe wurde über die ›Popularisierung‹ vor allem kabbalistischer Techniken durch den Chassidismus gesagt. 55 Vgl. etwa Spener, Pia Desideria, 11 f. 56 Spener, Auffrichtige Ubereinstimmung mit der Augsp. CONFESSION, 27. 57 Spener, Geistlichtes Priesterthum, 27 f.

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Resümee, oder: Tendenzen des Frommen in der Neuzeit

Gegen die landläufige Interpretation beider Bewegungen als ›Widersacher der Aufklärung, die vermutlich im Kern auf aufklärerische Polemiken zurück geht, liegt hier ein Ideal der Aufklärung in praktischer Anwendung vor.

3.

Individualisierung der Frömmigkeit: das religiöse Ich

Wie aus der Frömmigkeitskritik Philipp Jakob Spener, aber auch Jakob Josefs heraus aufgezeigt wurde, liegt ein Hauptanliegen des (frühen) Pietismus sowie des (frühen) Chassidismus in der Bekämpfung des zur Form, zur Routine gewordenen Gottesdienstes, in welchem der Glaubende nur für den Vollzug des vorgeschriebenen Ritus zuständig ist. Dem stellen beide Bewegungen ein Streben nach Innerlichkeit entgegen. Ohne sich nun hierbei von den orthodoxen Werten – Talmud-Tora etc. – loszusagen, welche tendentiell eher als intellektorientiert zu beschreiben sind, setzt der Chassidismus hierfür mit den beschriebenen Frömmigkeitsmerkmalen das Gefühl als zentrale, das heißt sowohl rezipierende als auch vermittelnde und ausdrückende, Instanz des gelebten Glaubens ein. Diese Tendenz der Emotionalisierung der Frömmigkeitspraxis wurde oben bereits vorgestellt. Durch die Orientierung am Gefühl des einzelnen Chassids setzt jedoch ein weiterer Transformationsprozess ein, der den Schwerpunkt von den (relativ) empirisch nachvollziehbaren Qualitäten der traditionellen jüdischen Gesellschaft in die individuelle Gefühlswelt verlagerte. Dies drückt sich etwa in der Betonung des religiösen Erlebens aus. Ein eindrucksvolles Beispiel bietet Salomon Maimon in der Schilderung seines ersten Besuchs beim Großen Maggid. In der Schildung seines ersten Besuches beim Großen Maggid hebt er vor allem das individuelle, sich bloß auf ihn beziehende Moment in der Predigt hervor.58 Mit der Auflösung jenes »Dranges« (Graetz) nach Innerlichkeit durch die Konzentration auf das Gefühl nun, das notwendig immer eine individuelle, weil objektive, empirische Kriterien und Maßstäbe missende, Instanz ist, geht die Bewegung einen Weg, der – zunächst – das Subjekt in den Mittelpunkt des Interesses rückt und hierin durchaus im Trend der Neuzeit liegt. In der ständig wiederholten Betonung, dass nur diejenige Handlung spirituellen Wert besitzt, die in Kawwanna getan wird59 schwingt gleichzeitig diese subjektorientierte 58 Vgl. Maimon, Lebensgeschichte, 232 f. 59 Wobei im Umkehrschluss ja auch gilt (vgl. jene Perikope über die Schuhbänder Dov Bärs): Mit Kawwanna wird jede Handlung zu einem spirituellen Akt. Keinesfalls aber ist dann der Akt hinsichtlich seines Wertes ausschlaggebend, sondern die Intentionalität; diesbezüglich hat es in der Betrachtung des Chassidismus (und nicht zuletzt des Ba’al Schem Tov) nicht eben wenige Missverständnisse gegeben, die, meist ausgehend von Martin Bubers romantisierendem Bild des Chassidismus, zu oberflächlichen Betrachtungen geführt haben, wie es

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Note mit: Einen spirituellen Wert erhält nur diejenige Tat – etwa das Sprechen eines Gebetes – die durch den Handelnden diesen Wert intendiert bekommen hat. Sie trägt ihn nicht per se. Auch coram der obigen Feststellung, dass sich die frühen Chassidim nicht generell von der Tradition, in der sie standen, lossagten, ist doch – zumindest aus den gegnerischen Äußerungen und den oben aufgezeigten Popularisierungsstendenzen heraus – feststellbar, dass auf die alten stratifikatorischen Inklusionsmechanismen60, die der Analyse Jakob Josefs nach in ihrer Äußerlichkeit erstarrt waren, weniger Wert gelegt wurde. Mit den erweiterten Aufgabenbereichen auch der einfachen Männer (bis hinein in den kosmologischen Bereich) wächst auch die Verantwortung des Subjekts, könnte man sagen. Mit der äußerlichen, mechanischen Erfüllung der Mitzwa, mit dem routinierten Rezitieren des Gebetes ist es nicht getan: Sie tragen (zumindest gilt dies für die Oberhäupter) keinen Wert in sich. Dieser muss ihnen erst noch durch die richtige Intention beigegeben werden: Die Regeln, etwa den Beginn der vorgeschriebenen Gebete betreffend, werden weiterhin grundsätzlich befolgt. Sie können jedoch, wenn die rechte Andacht noch nicht erlangt ist, außer Kraft gesetzt werden, wobei dem religiösen Subjekt (dem Chassid) die Kompetenz zugesprochen wird, eine solche Entscheidung (nämlich jahrhundertealte Regeln auszusetzen) zu treffen – auf der Basis seines Gefühls. Was bis dahin dem Urteil der Rabbiner unterworfen war, wird hiermit dem individuellen Gefühl zur Entscheidung gestellt. Letztlich herausgelöst aus den Bindungen der Tradition wird das religiöse Subjekt unabhängiger in der Ausübung spiritueller Performanz. Insofern wird dem Subjektiven im Bereich der chassidischen Frömmigkeitspraxis eine ganz neue Qualität beigemessen, gerade auch hinsichtlich seines Verhältnisses zur jüdischen Gemeinschaft: Trotz der oben beschriebenen intensivierten Gemeinschaftsformung entsteht ein neues Bewusstsein (religiöser) Individualität, wenn derartige Entscheidungen und Kompetenzen nicht mehr nur der Schicht der Gelehrten zugetraut werden. Auch in der Öffnung der spirituellen Oberschicht für neue (nämlich charismatische) Herrschaftstypen drückt sich dies aus: Während die rationale bzw. traditionale Herrschaft nach Weber61 (und als solche ist die Autorität der rabbinische Elite wohl zu bezeichnen) sich auf die »Legalität gesatzter Ordnungen« oder auf den »Alltagsder Untertitel der 4. Sequenz: Israel Baal Schem Tov und der Chassidismus, 1740 – 1760. Das Wichtigste ist immer das, womit man sich gerade abgibt, in: Michel Clévenot und Michael Lauble, Krise des Glaubens – das Zeitalter der Aufklärung. Geschichte des Christentums im XVIII. Jahrhundert, Luzern 1997, 31 – 36 belegt. 60 Im Folgenden wird es bei der Reflexion der Befunde neben dieser noch weitere begriffliche und gedankliche Anlehnungen an Niklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Frankfurt am Main 1989 geben, hierbei vor allem an das Kapitel 3, Individuum, Individualität, Individualismus (149ff). 61 Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Tübingen 1972, 124 ff.

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glauben an die Heiligkeit von jeher geltender Traditionen« gründen, ist die Grundlage charismatischer Herrschaft eine viel ›weichere‹, weil subjektivere: die »außeralltägliche Hingabe an die Heiligkeit […] einer Person.«62 Auch dies kann als Beleg für die Fokussierung der chassidischen Frömmigkeit auf das Subjekt bewertet werden, ebenso wie die hiermit verbundenen Bestrebungen, die Beziehung zwischen Oberhäuptern und Anhängern durch möglichst viele Besuche zu intensivieren – zu Zeiten Beschts dessen Reisen zu den Gemeinden, später dann die Wallfahrten der Chassidim zu den »Hohen Oberen«. Oben wurde jedoch darauf hingewiesen, dass die Bewegung hierin nur zunächst das Subjekt in den Mittelpunkt rückt. Ist dies nämlich hinsichtlich der Frömmigkeitspraxis durchaus der Fall, so muss betont werden, dass das eigentliche, mystische Ziel im Chassidismus eines ist, das alles Individuelle des Subjektes abzulegen anstrebt. Devekut, Anhaftung, beschreibt einen Zustand, in dem sich der Chassid alles Weltlichen und somit subjektiv Wahrnehmbaren entledigt, um zu einem göttlichen Nichts zu werden, wie Dov Bär lehrt: »But when he cleaves to the Holy One, blessed be He, who is the Master of the World, he becomes man… and man must separate himself from all corporeality, so that he ascends via all the worlds and unites with the Holy One, blessed be He, until he himself ceases to exist entirely, and then he is called Adam […].«63

Auch das ›Handbuch für chassidische Frömmigkeit‹, Tzava’at Harivash, betont an einigen Stellen die Notwendigkeit der Auffassung des eigenen Selbst als Nichts.64 Diese Spannung zwischen Subjektivierung und Auflösung des Subjektiven beschreibt Rivka Schatz-Uffenheimer treffend als »struggle for the passive life […] in constant tension with the requirements of the active life«65 und erfasst hiermit das sich jeder Beschreibung chassidischer Frömmigkeit stellende Problem: Auf der einen Seite leben viele Praktiken alltäglicher und liturgischer Frömmigkeit der Chassidim davon, dass in ihnen das religiöse Subjekt zu Wort kommt. Dies weiter zu verfolgen, könnte einer der Schlüssel zur Beantwortung der Frage sein, warum die Bewegung einen derartigen Erfolg hatte. Andererseits zielen diese Praktiken mit Devekut darauf ab, dieses subjektive Moment, das in seiner Weltlichkeit verankert ist, letzten Endes doch auszulöschen (vgl. das fünfte Schlaglicht Weltflüchtig und doch innerweltlich). 62 Ebd., 124 ff. 63 Maggid Devarav le Ja’akov, zitiert in: Schatz-Uffenheimer, Hasidism as mysticism, 73.; auch Salomon Maimon bestätigt in seiner Analyse der zentralen Anliegen der Bewegung diesen Befund: »Ihr Gottesdienst bestand in einer freywilligen Entkörperung, d. h. Abstrahirung ihrer Gedanken von allen Dingen außer Gott, ja sogar von ihrem individuellen Ich, und in Vereinigung mit Gott; woraus eine Art von Selbstverläugnung bey ihnen entstand […].« Lebensgeschichte, 221. 64 Vgl. etwa #5 – 6; #35; #53; #62 und andere. 65 Ebd., 71.

Individualisierung der Frömmigkeit: das religiöse Ich

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Dies gilt umso stärker für den Pietismus, da er einerseits nicht mystisch orientiert ist und andererseits das Festhalten an der Konzeption von Erb- oder Grundsünde das Auslöschen von Individualität letztlich unmöglich macht: »Die religiöse Wahrnehmung des eigenen Ichs sowie des Menschen überhaupt dürfte eines der organisierenden Zentren pietistischen Existierens und Agierens ausmachen.«66 Für die neuzeitliche Erfindung des Ichs stellt der Pietismus – trotz der »mit Nachdruck vertretene[n] These […] von der Verderbtheit der Sinne«67 – sicher einen Markstein dar. Dies soll anhand eines Blickes auf einige der pietistischen Frömmigkeitsmerkmale exemplarisch aufgezeigt werden. Dreh- und Angelpunkt ist auch hier das pietistische Drängen auf Bekehrung. Der Prozess, den der Mensch in der pietistischen Bekehrung durchmacht68 ist schon von der Idee her ein höchst indiviudalisiertes Vorgehen. Der Bekehrung geht, auch ohne den oft behaupteten Schematismus69, grundsätzlich die Selbstprüfung voraus, im Halleschen Pietismus einhergehend mit einem intensiven Bußkampf – die Bekehrung soll bewusst ›erfahren‹ werden. Eine große Anzahl pietistischer frömmigkeitstheologischer Texte befasst sich denn auch mit der Selbstprüfung und wendet sich an Geistliche, werdende sowie bereits berufene, und Laien gleichermaßen. Hierbei fällt auf, dass – vornehmlich im Halleschen Pietismus mit seinem pädagogischen Engagement – diese Betonung der Notwendigkeit permanenter Selbstprüfung schon bei Kindern angesetzt wird. Schon früh wird diesen so vermittelt, dass sie selbst die eigene Heilsverantwortung tragen. Die Erfahrung der Bekehrung, die Feststellbarkeit der Früchte der Wiedergeburt – dies sind die Siglen des bewussten, bekennenden Christentums, die der Pietist an sich suchen muss. Medium hierfür sind, so paradox es auf den ersten Blick scheint, nicht zuletzt die Collegia Pietatis. Sie »fungierten gleichsam als Nährboden für das Wachstum des eigenständigen Individualismus, indem sie ihren Teilnehmern die Gelegenheit zur Selbstreflexion und Selbstäußerung boten. Ihre Glaubenspraxis bestätigte den Pietisten ihren Status als souveräne Wiedergeborene. Ihr Selbstbewusstsein, die unmit66 Brecht, Zwischen Schwachheit und Perfektionismus, 63. 67 Carsten Zelle, Zur Idee des ›ganzen Menschen‹ im 18. Jahrhundert, in: Udo Sträter u. a. (Hgg.), Alter Adam und Neue Kreatur. Pietismus und Anthropologie. Beiträge zum II. Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2005, 45 – 61, hier: 50. 68 Ungeachtet verschiedener, auch terminologisch nicht immer konsequent differenzierter Stufenmodelle; vgl. oben, V.2.4.1; eine Übersicht bietet zudem Matthias, Bekehrung und Wiedergeburt, v. a. 58 – 62. 69 Vgl. Matthias, Bekehrung und Wiedergeburt, 58 f; auf die große Bedeutung des Schreibens für die Bildung der »Pietistisch-bürgerliche[n] Identität weist Gleixner, Pietismus und Bürgertum, im gleichnamigen dritten Kapitel hin, vgl. ebd. 119 – 208; zur notwendigen Fokussierung auf das religiöse Ich im radikalen Pietismus vgl. auch den kritischen Aufsatz von Ryoko Mori, Ich-Entdeckung unter Zwang. Die Suche nach dem Selbst im radikalen Pietismus, in: Wolfgang Breul u. a. (Hgg.), Der radikale Pietismus. Perspektiven der Forschung, Göttingen 2010, 377 – 392.

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telbare Gemeinschaft mit Gott zu erleben, intensivierte sich, bis sie die Stimme Gottes direkt zu erfahren glaubten.«70 Schon in der Schilderung der Gründe, die die Frankfurter Gemeindeglieder an Spener herantreten ließen, war hierauf hingewiesen worden; besonders gegenseitige Erbauung und Prüfung, die als zwei Aspekte der Erneuerung aus der Wiedergeburt hervorgingen, haben hierbei synergistische Effekte geweckt, weshalb auf den zweiten Blick die Schlagwörter ›Vergemeinschaftung‹ und Individualisierung gar nicht mehr so paradox sind. Udo Sträter sieht zudem mittelbare Auswirkungen des pietistischen Hangs zur ständigen Prüfung im Verhältnis des Pietismus auf die Entstehung der modernen Naturwissenschaften: »Die Forschung ›nach innen‹ förderte mit Selbstbeobachtung und Tagebuch über die ›Erfahrungsseelenkunde‹ die Entstehung der empirischen Psychologie und die Pädagogik; die Forschung ›nach außen‹ war mit ihren Berichten, Übersetzungen und Kuriositäten beteiligt an der Grundlegung ethnologischer, kulturanthropologischer, religionswissenschaftlicher und nationalphilologischer Forschungen.«71 Explizit sei darauf hingewiesen, was Sträter en passant erwähnt: Literaturgeschichtlich ist der Pietismus mit »Selbstbeobachtung und Tagebuch« als Initiator des Genres der (Auto-)Biographie anzusehen, die sich im 18. Jahrhundert ausbildet. Ein weiteres markantes Symptom neuzeitlicher Individualisierung der Frömmigkeit, das als letztes Beispiel angeführt werden soll, stellt im Pietismus der Vorzug des freien Gebetes vor den traditionellen vorformulierten Gebetstexten dar. Wurden von gegnerischer Seite pietistische Erläuterungen hierzu als Indizien eines angestrebten »Aufruhrs wider die Autoritäten« eingeordnet, müssen sie sich nun als neuzeitliche Orientierung am Individuum auslegen: »Indessen ists ein trefflicher vortheil/ wo sich ein Christ gewöhnet/ auß seiner eigenen seele vor GOtt meistens ohne gewisse formuln zu beten ; dann da in den außwendig gelerneten gebeten die gedancken leichter außschweiffen/ so bleibet hingegen die andacht viel besser beysammen/ wo man auff seine gedancken und wort/ die man reden soll/ acht geben muß. So wird auch keiner nimmermehr in einigem buch allezeit solche gebete finden/ welche sich so eigentlich auff seinen stand und anligen jedesmal schicken wie diejenige/die einer von selbsten vor GOtt außschüttet.«72

Der Pol, an dem sich das Gebet auszurichten hat, ist in der pietistischen Anschauung das Individuum, weshalb »gewisse formuln« nicht hinreichen. Ein bereits verschriftlichtes Gebet ist »stand und anligen« des Betenden niemals völlig angemessen. Wurde oben die im Chassidismus vorherrschende individuelle, selbständige 70 Mori, Begeisterung und Ernüchterung, 2 f. 71 Sträter, Zum Verhältnis des frühen Pietismus zu den Naturwissenschaften, 100. 72 Ebd.

Weltflüchtig und doch innerweltlich

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Orientierung hervorgehoben, so gilt diese anthropologische Ausrichtung für den Pietismus umso mehr : »Spener ist insofern Wegbereiter für die Aufklärung geworden, in der der Mensch zu seiner Mündigkeit gelangt, seine Subjektivität und Individualität betont wird. Er ›ist der erste deutsche kirchliche Theologe, welcher der Subjektivität und Individualität im Bereich der theologischen Überzeugung gerecht zu werden sucht.‹ […] Die Übergangslinien zwischen Pietismus und Aufklärung sind gerade in der Anthropologie zu beachten.«73 Da die jüdische Aufklärung eine verspätete war, ist zu vermuten, dass, bei einer (noch ausstehenden!) eingehenden Untersuchung von Chassidismus und Haskala hinsichtlich der aufgezeigten ›Erfindung‹ des Individuums auch hier interessante anthropologischen Bezüge erkennbar würden.74 An dieser Stelle allerdings muss der Ausblick genügen.

4.

Weltflüchtig und doch innerweltlich

Im Zusammenhang der skizzierten Individualisierungstendenz drängt sich förmlich der Gedanke auf, dass die Ausrichtung einiger der dargestellten Frömmigkeitsmerkmale von Pietismus und Chassidismus am Individuum mit dem andernorts aufweisbaren ›Ich-feindlichen‹ Moment konfligiert. Solcherart dezidiert ›Ich-feindliche‹ Züge gehen freilich bereits vom Vorhandensein eines individuellen Aspektes des Menschen aus, zielen sie doch gerade auf seine Auslöschung ab. Insofern stellen sie keine Gegentendenz zur beschrieben Individualisierung dar. Sie relativieren jedoch beide Bewegungen hierbei wiederum in ihrer Bedeutung im Hinblick auf etwaige neuzeitliche Vorreiterrollen oder Parallelen zur Aufklärung. Gleichzeitig eröffnet dieser Konflikt einen weiteren Fragehorizont: Wenn das Subjektive, an dem sich die notwendig immer innerweltlich verankerten Frömmigkeitsformen orientieren, vernichtet werden 73 Peter Schicketanz, Zur Anthropologie Philipp Jakob Speners. Von der Heilsgeschichte Jesu Christi zum Heilsgeschehen des Christen, in: Udo Sträter u. a. (Hgg.), Alter Adam und Neue Kreatur. Pietismus und Anthropologie. Beiträge zum II. Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2005, 167 – 171, hier: 171; Schicketanz zitiert a. a. O. Emanuel Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie, Gütersloh 1951, Bd. 2, 119. 74 Für Pietismus und Chassidismus gilt deshalb, was David Warren Sabean, Selbsterkundung. Beichte und Abendmahl, in: Richard van Dülmen (Hg.), Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Köln 2001, 145 – 162, hier : 145 für alle »Sektenbewegungen« feststellt: »Die Bedeutung der Sektenbewegungen während des ganzen siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts für die Bildung des politischen und philosophischen Denkens kann überhaupt nicht genug betont werden. Die Fragen der individuellen Freiheit, des Gewissens des Einzelnen, des Rechts, unmittelbare Gemeinschaft mit Gott zu haben, sein eigener Priester zu sein und einen inneren Gott zu haben, wurden hier gestellt.«

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Resümee, oder: Tendenzen des Frommen in der Neuzeit

soll – müssen diese Frömmigkeitsmerkmale dann nicht automatisch weltflüchtiger Natur sein? Beide Wesenszüge, der weltfeindliche bzw. –flüchtige sowie der innerweltliche, weltzugewandte, lassen sich an einzelnen Frömmigkeitsmerkmalen festmachen. Um nur jeweils eine der sich abzeichnenden Konfliktpaarungen zu nennen: Der panentheistisch begründeten Nichtungsfrömmigkeit des Chassidismus (hinter allem muss Gott gesehen werden, die weltlichen Aspekte der Wesenheit sind hierüber hinaus gering zu achten) steht die Möglichkeit entgegen, mit der richtigen Intentionalität Gott in jeder Tat dienen zu können (die englischsprachige Forschung prägte hier den Begriff »worship through corporeality«). Die Handlung selbst erfährt hierdurch eine völlige Spiritualisierung – in ihrem praktischen, innerweltlichen Bezugsrahmen wiederum eine völlige Sinnentleerung.75 Im Pietismus eignet dem ausgeprägten asketischen Moment im Pietismus, das der Unterdrückung der »verderbten Sinne« dient, auf der anderen Seite das ausgeprägte soziale Engagement. Interessant ist in dieser Spannung zwischen Weltflucht und Weltzugewandtheit auch der von beiden Bewegungen betonte Eigenanteil des Menschen an seinem Heil, wie er etwa in der Bußwilligkeit bzw. –bereitschaft Niederschlag findet (siehe die pietistischen Bekehrungsberichte oder die chassidischen Bußlegenden).76 Pietist und Chassid sind gleichermaßen selbst verantwortlich, jede wie auch immer geartete Frömmigkeitsform ist rückgebunden an die ständige Reflexion des eigenen Zustandes – der in der vollständigen Ausrichtung auf Gott, oder, anthropologisch betont, in der vollständigen Neuausrichtung des Menschen bestehen soll.77 Ausrichtung aber ist keine prinzipiell eschatologische, wenn auch eschatologische Teleologien zweifelsohne vorhanden sind. Das sollte deutlich geworden sein. Die Hoffnung Speners beispielsweise auf »bessere Zeiten« für die Kirche sind innerweltlich, seine bei allen Ständen ansetzenden Reformvorschläge sind ein Beleg hierfür. Ihm, Francke und den meisten anderen bedeutenderen Pietisten geht es »um das fromme Leben hier auf Erden vor dem Tod, um die Wiederherstellung des Bildes Gottes in der Seele, um die […] Vereinigung der Seele mit Gott […] Ein Interesse an der Eschatologie fehlt.«78 Auch die dargestellten Merkmale der Frömmigkeit des Chassidismus sind nicht 75 Oben war auf das Beispiel aus Tzava’at Harivash hingewiesen worden, in dem die Frau als Werkzeug zur Erfüllung der Mitzwa beschrieben wurde, an die Mann sich nicht geistig binden dürfe. 76 Vgl. Brecht, Zwischen Schwachheit und Perfektionismus, 66 f. 77 So einfach wie ein Paul Gerhard (»Ihr dürft euch nicht bemühen / noch sorgen Tag und Nacht, / wie ihr ihn wollet ziehen / mit eures Armes Macht […]«, Paul Gerhard, Wie soll ich dich empfangen, EG 11) konnte sich der Pietist offensichtlich nicht in seine Rechtfertigung einfühlen. 78 Wallmann, Zur Frömmigkeitskrise des 17. Jahrhunderts, 124.

Weltflüchtig und doch innerweltlich

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jenseitsorientiert, sondern diesseitsbezogen. Die zugrundeliegende gleichmütig-freudige Lebenshaltung etwa ist kein eschatologisch motivierter Aufruf zum Durchhalten im irdischen Jammertal, sondern muss mit ihrer sich teils auf sehr alltägliche Zusammenhänge beziehenden Ausrichtung als innerweltlich angesehen werden. Auch die erstmals von Gershom Scholem vorgetragene These von der »›Neutralisierung‹ des messianischen Elementes«, welches in den das Judentum des 17. und 18. Jahrhunderts aufrührenden Strömungen des Sabbatianismus und des Franckismus mit ihrem »paradoxen Messianismus« eine große Rolle spielte, ist in diesem Zusammenhang zu stellen.79 Weder der Pietismus jedenfalls mit seinem teilweise vertretenen Chiliasmus noch der Chassidismus sind Behaupter eines apokalyptischen Fatalismus. Beide – noch ein Beleg für die innerweltliche Ausrichung – waren als Vertreter einer betonten Ethik, ja geradezu einer Alltagsethik dargestellt worden. Weil die Orientierung am religiösen Subjekt das Scharnier sowohl pietistischer als auch chassidischer Frömmigkeit darstellt, gleichzeitig aber eben dasjenige Moment ist, dem die wenigste Aufmerksamkeit gewidmet werden soll, bleibt die Spannung bestehen: Der Frömmigkeit von Pietismus und Chassidismus wohnen weltflüchtige Elemente inne, aufs Ganze betrachtet handelt es sich aber um innerweltliche Frömmigkeit. Die aus den gegnerischen Schilderungen herausgearbeiteten Elemente oder Merkmale pietistischer bzw. chassidischer Frömmigkeitspraxis haben gezeigt, dass dem zeitgenössischen Urteil nach die neue Frömmigkeit avantgardistisch vor allem in Bezug auf die Sprengung überkommener Traditionen war. Was von Maskilim, Mitnaggedim oder der lutherischen Orthodoxie als Anstifung zu Unruhe und Unordnung bezeichnet wurde, muss von der angebotenen komparatistischen Perspektive aus und vor dem Hintergrund der neuzeitlich-aufklärerischen ›Entdeckung des Individuums‹ und seiner Befreiung aus Unmündigkeit und Fremdbestimmung nicht zuletzt auch als Einforderung spiritueller Mündigkeit verstanden werden. In der pietistischen Berufung auf das geistliche Priestertum etwa, aber auch in der spiritualistisch-mystischen Aufwertung an sich belangloser Handlungsvollzüge im Chassidismus, die sich nach den Möglichkeiten des Gläubigen richten, äußert sich auch ein Streben nach Mündigkeit, nach der ›Freiheit der Gläubigen‹. Dass dies nicht zu zersetzender Beliebigkeit führen sollte, belegen die pietistischen und chassidischen Bekundungen einer Orientierung am Althergebrachten, die einhergehen mit der Diagnose einer Krise der Frömmigkeit. Der einzig gangbare Weg, dieser Krise zu trotzen, war der individuelle, aktive Weg eines jeden Gläubigen.

79 Vgl. Scholem, Die jüdische Mystik, 361.

Quellen- und Literaturverzeichnis

a)

Quellenverzeichnis

Anzeige Gewissenhaffter Behertzigung / Des Gießischen Sendschreibens / Wider Der Christen freye und erbauliche Zusammenkunfften, o.O. 1690. [Anonym] Ausführliche Beschreibung des Unfugs / Welchen Die Pietisten zu Halberstadt im Monat Decembri 1692. umb die heilige Weyhnachts = Zeit gestifftet. Dabey zugleich von dem Pietistischen Wesen in gemein etwas gründlicher gehandelt wird. 1693. [Anonym] Außführlicher Bericht / von denen Sich anitzo ereigenden verdamlichen und unrechmässigen Quäcker = Zusammenkünfften / so leyder GOttes! an diesen reinen Lutherischen Orth / und zwar in der Neu = Stadt / nunmehro wollen observiret werden / In einer freygethanen Geständnüß und Aussage entdecket / allen denen / so hiervon entweder nicht zur gnüge / oder doch falsch berichtet worden / zu Erkäntnüß solches vefluchten teuffelischen Unweesens / ertheilet / von einem / der gerne sehe / Daß es in der wahren Lutherischen Kirche / an einen reinen und sonst unbefleckten Orth / so wohl unter Lehrern als Zuhörern / ordentlich zugehe. Hamburg 1693. [Anonym] Berckelman, Johann Christian, Die rechte und wahre Hertzens = Bekehrung / Der falschen und eingebildeten Heuchel = Buße und Beichte / nach dem klaren Worte GOttes entgegen gesetzet / und seinen anvertrauten Seelen durch ein wohlmeinendes Schreiben Zur Innerlichen Christenthums Ubung Vorgestellet […], Franckfurt an der Oder 1692. Biederweg, Jacob, Rettung Des öffentlichen Nachtmahl = Gebrauchs / oder Beantwortung Der Privat = Communicanten vornehmsten Einwürffe, Frankfurt und Leipzig 1691. Calmanson, Jacques, Essais sur l’¦tat actuel des juifs de Pologne, et leur perfectibilit¦, Warschau 1796. Carpzov, Johann Benedikt, Bey Christlichem Begräbnüß Herrn Martin Borns / von Belgrad aus Pommern / der H. Schrifft Studiosi, Den 7. AUgusti Anno 1689. Gehaltene Leich = Predigt / Sampt Herrn L. Joachim Fellers / Poeseos P.P. sel. Damahls verfertigten Epicedio, Worauf die Inqvisition wider die Pietisten angegangen, 1692. Casparis Sagittarii, UnTheologische[n] und abgeschmackte[n] Lehr = Sätze vom Pietismo Nicht zur Ehre GOttes / sondern Verwirrung der CHristl. Kirche / und Hinderniß der wahren Gottseligkeit / im Druck heraus gegeben / und von einem der mit Gegen = Sätzen Erläutert im Monat Julio des 1691. Jahres. [Anonym]

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Quellen- und Literaturverzeichnis

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Quellenverzeichnis

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Gottseeligkeit deutlich gezeiget wird, Halle [1694 u. a.], in: Erhard Peschke (Hg.), August Hermann Francke. Schriften zur Biblischen Hermeneutik, Berlin, New York 2003, 126 ff. Ders., Entdeckung der Boßheit / So mit einigen jüngst unter seinem Nahmen fälschlich publicirten Brieffen von dreyen so benahmten begeisterten Mägden zu Halberstadt / Quedlinburg und Erffurt begangen. Cölln an der Spree 1692. Ders., Kurzer und einfältiger Unterricht, wie die Kinder zur wahren Gottseligkeit und Christlichen Klugheit anzuführen sind, ehemals zu Behuf Christlicher Informatorum entworfen, und nun auf Begehren in Druck gegeben, o.O.u.J., in: D.G. Kramer (Hg.), A.H. Francke’s Pädagogische Schriften. Nebst der Dastellung seines Lebens und seiner Stiftungen, Langensalza 21885, 25 ff. Ders., Lebenslauff, in: Matthias, Markus (Hg.), Lebensläufe August Hermann Franckes, Leipzig 1999. Ders., Nachmittags-Predigt, Von Sacramenten insgemein. Domin: II Advent. 1694. Text. Rom. 2.28.29, in: Erhard Peschke (Hg.), August Hermann Francke. Predigten I, Berlin, New York 1989, 602 ff. Ders., Philotheia, oder Die Liebe zu Gott. Der Jugend in den Schulen des Waisenhauses zu Glaucha an Halle als ihre allerhöchste und teureste Pflicht nach gehaltenem Examine, den 20. Martii 1706 vorgestellet und übergeben, in: D.G. Kramer (Hg.), A.H. Francke’s Pädagogische Schriften. Nebst der Darstellung seines Lebens und seiner Stiftungen, Langensalza 21885, 98 ff. Ders., Schrifftmäßige Anweisung recht und Gott wolgefällig Zu beten Nebst hinzugefügten Morgen = und Abend Gebetlein und einem kielischen Respons[] Die Gewissheit und Versicherung der Erhörung des Gebets betreffend, Halle 1695. Ders., Verantwortung gegen die so genandte Beschreibung des Unfugs der Pietisten / und die darinnen enthaltene neue und alte Aufflagen. Dabey zu mehrer Erbauung des Lesers angefüget ist eine Betrachtung von Gnade und Wahrheit, Halle 1694. Gerichtliches Leipziger Protocoll In Sachen die so genannten Pietisten betreffend / Samt Hn. Christian Thomasii, berühmten JC. Rechtlichem Bedencken darüber ; Und zu Ende beygefügter Apologia oder Defensions-Schrifft Hn. M. Augusti Hermanni Franckens / An Ihro Chur = Fürst. Durchl. zu Sachsen. Wie solches zusammen von einem vornehmen Freund ist communicirt / und hiemit getreulich / zu Complirung der bißhero herauß gegebenen Actorum Pietisticorum, zum Truck befördert worden. 1692. [Anonym] Götzen, George Heinrich, Nöthiger Unterricht von denen stoltzen Reden / Derer Pietisten und Fanatischen Schwärmer / welche sie vom Reiche Gottes fürbringen / nach Anleitung Der Fest = Lection, aus der Apostel = Gesch. I.II., 1693. Jacob Ander Sohn / Holsati, Send = Schreiben auss Hamburg, An Einen vornehmen Freund / Von den Leipzigischen Collegiis Biblicis, Und daher so genanten Pietisten, 1690. [Anonym] Jakob Josef Hakohen, Ben Porat Josef, Koretz 1781. Ders., Ketonet Passim, 1866. Ders., Toldot Jakob Josef al haTora, [8L9N8 @F GE9= 5KF= N97@9N], Mie˛dzybûrz 1781. Ders., Zofnat Pane’ach, Koretz, 1782. Jechiel, Jakob, Degel Machane Ephraim, Koretz 1810 [eine hebräische Ausgabe ist online abrufbar unter http://www.hebrewbooks.org/3723; Stand November 2009].

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Quellen- und Literaturverzeichnis

Kurtze Nachricht Von Dem Autore der neuen Läster = Schrifft / titulirt / Ausführliche Beschreibung des Unfugs / Welchen Die Pietisten in Halberstadt in Monat Decembr. 1692. um die heilige Weihnacht = Zeit gestifftet / sc. Anno 1693. [Anonym] Kurtzer doch Gründlicher Beweis Der Christen / Nicht allein erlaubten und nützlichen sondern auch nothwendigen erbaulichen Freyen Zusammenkünfften / Nach allen Natürlichen und Göttlichen Rechten / mit Zeugnüssen der Symbolischen Bücher des S. Lutheri, auch alter und neuer Lehrer / Nebst Beantwortung einiger Einwürffe / Auß einigen bißhero in dieser Materie außgegangenen Schrifften gezogen / Samt einem PostScripto eines vornehmen Freundes, o. O. 1691. [Anonym] Löbel, Israel, Glaubwürdige Nachricht von der in Polen und Lithauen befindlichen Sekte: Chasidim genannt, in: Sulamith, eine Zeitschrift zur Beförderung der Kultur und Humanität unter der jüdischen Nation 2 (1807), 308 – 333. Maimon, Salomo, Salomon Maimons Lebengeschichte. Von ihm selbst geschrieben und herausgegeben von Karl Philipp Moritz, herausgegeben von Zwi Batscha, Frankfurt am Main 1984. Maimon, Salomon. Gesammelte Werke, Band 1, herausgegeben von Valerio Verra, Hildesheim 1965. Maß des Unmaßgeblichen Bedenckens / Das ist: Das Unmaßgebliche Bedencken Von den Pietisten und denen Collegiis Pietatis, Nach dem Maße der Warheit abgemessen / und überall zu kurtz befunden / Von einem Liebhaber der Göttlichen Warheit Zu Hintertreibung derselben abgefasset und in Druck gegeben. Im Jahre 1692. [Anonym] Mayer, Johann Friederich, Prüfung des Geistes / so sich durch ein Adeliches Fräulein itzo offenbahren soll. Bey Erklährung des ordentlichen Sontags Evangelii Dom. IV. Adventus Joh. I. in offentlicher heiliger Versammlung der Jurcgeb GOttes zu St. Jaob vorgestellet, Hamburg 1692. Mentzer, Balthasar, Kurtzes Bedencken / Von den Eintzelen Zusammenkunfften / Wie dieselbe etlicher Orten wollen behauptet werden / Beneben auch andern nothwendigen Erinnerungen. Sampt einer Vorrede Phil. Ludov. Hannekenii, SS. Th. Doct. Und Superintendenten zu Giessen. Giessen 1691. Petersen, Johann Wilhelm, Send = Schreiben an einige Theologos und GOttes = Gelahrte / Betreffend die Frage / ob GOTT nach der Auffahrt Christi nicht mehr heutiges Tages durch Göttliche Erscheinung den Menschen = Kindern sich offenbahren wolle / und sich dessen gantz begeben habe? Sampt einer erzehlten Specie acti von einen Adelichen Fräulein / was ihr vom siebenden Jahre ihres Alters / biß hiher / von GOtt gegeben ist. 1691. Pietistische Erzehlung Eines Aufrichtig = Augspurgischen Confessions = Verwandten / und der Fürstl. Hessen = Darmstättischen Kirchen = Ordnung Zugethanen / An Christoph Laelium, genannt Purgold. 1690. [Anonym] Sagitarius, Caspar, Theologische Lehr = Sätze von dem Rechtmäßigen Pietismo Zur EhreGOTTes / Beruhigung der CHristl. Kirche / und Fortpflanzung der wahren Gottseligkeit / in Druck herauasgegeben / im Monat Julio, des 1691. Jahres. Schade, Johann Caspar, Die schändliche Praxis des Beicht = Stuhls und Nachtmahls des Herrn In drey unterschiedenen Schrifften […], o. O. 1697. Ders., Vom Conscientia erronea, Oder also genannten Irrigen Gewissen / eines Predigers Wegen Absolution und Außtheilung des H. Abendmahls […], 1697. Schelwig, Samuel, Die Sectirische Pietisterey / In denen Artickeln / Von der Freygeiste-

Quellenverzeichnis

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rey / von Lehr = Büchern der Evangelischen Kirchen / von der Chiliasterey / von der Heil. Schrifft / und der hieraus entspringenden Erleuchtung / und von der Enthusiasterey / Aus Hn. D: Philip Jacob Speneres und seines Anhangs Schrifften / Zur Unterricht und Warnung Fürgestellet / Von Samuel Schelwigen […], 1696. Ders., Itinerarium Antipietisticum, Das ist Kurtze Erzehlung einiger Dinge / so Er auff seiner / schon im vorigen 1694sten Jahre verrichteten Reise / der Pietisten wegen / in Teutschland wahrgenommen / Auff Veranlassung zweyer Pasqvillen / numehr Durch offentlichen Druck gemein gemacht 1695. Schivche ha-Bescht, herausgegeben von Karl Erich Grözinger [Die Geschichten vom Ba’al Schem Tov. Schivche ha-Bescht], Wiesbaden 1997. Schne’ur Zalman von Ljadi, Likutei Amarim Tanya, Brooklyn, NY 1993. Shivhei ha-Bescht, herausgegeben von Dov Baer ben Samuel, Dan Ben-Amos und Jerome R. Mintz [In praise of the Baal Shem Tov. (Shivhei ha-Besht) The earliest collection of legends about the founder of Hasidism], London 1972. Spener, Philipp Jacob, Am 20. Sontag nach Trinitatis. Rechter gebrauch der gnaden = güter. Evangelium Matth. XXII, 1.–14. Ders., Auffrichtige Ubereinstimmung mit der Augsp. CONFESSION, Zu nöthiger vertheidigung seiner reinen lehr / von ihm selbs entgegen gesetzt der so genannten Christ = Lutherischen Vorstellung / Mit welcher die jetzige Wittebergische Professores Theologiae, Herr D. Johann Deutschmann / Herr D. Caspar Löscher / Herr D. Philipp Ludwig Hannekenius und Herr D. Johann Neumann / Ihn der führenden lehr halben vor der gantzen Evangelischen kirchen zu beschuldigen / und vertächtig machen / vergebens und zu eigenem schaden sich unterstandenhaben. Samt einem Anhang gegen Herr D. Johann Benedict Carpzovium, und Herrn D. Johann Friederich Mayern, Frankfurt a.M. 1695. Ders., Warhafftige Erzehlung / Dessen was wegen des so genannten Pietismi in Teutschland von einiger Zeit vorgegangen / Auß Gelegenheit Hn. Gerhard Craesi seiner Historiae Quackerianae einverleibter Historiae Pietistarum und zu dero Verbesserung Auffgesetzt, Frankfurt a.M. 1697. Ders., Am grünen Donnerstag .Würdige niessung deß H. abendmahls. 1. Cor. XI, 23.–32., in: ders., Die Evangelische Lebens-Pflichten, 470ff [Erich Beyreuther (Hg.), Philipp Jakob Spener. Schriften Bd. III.2 / 1, Hildesheim u. a. 1992]. Ders., Am Sontag Rogationum. Gottgefälliges gebet. Evangel. Joh.XVI, 23.–33, in: ders., Die Evangelische Lebens = Pflichten, 621ff [Erich Beyreuther (Hg.), Philipp Jakob Spener. Schriften Bd. III.2 / 1, Hildesheim u. a. 1992].. Ders., Das Geistliche Priesterthum Auß Göttlichem Wort kürtzlich beschrieben / und mit einstimmenden Zeugnüssen Gottseliger Lehrer bekräfftiget, Frankfurt a.M. 1677. Ders., Die Evangelische Lebens = Pflichten In einem Jahrgang der Predigten Bey den sonn = und Fest = Täglichen ordentlichen Evangelien Auß H. Göttlicher Schrifft […] Frankfurt a.M. 1692 [Erich Beyreuther (Hg.), Philipp Jakob Spener. Schriften Bd. III.2 / 1, Hildesheim u. a. 1992]. Ders., Die Evangelische Lebens-Pflichten. Anderer Theil. Franckfurt am Mayn 1692 [Erich Beyreuther (Hg.), Philipp Jakob Spener. Schriften Bd. III.2 / 2, Hildesheim u. a. 1992]. Ders., Die Freyheit der Gläubigen / Von dem Ansehen der Menschen In Glaubens = Sachen / In gründlicher Beantwortung der so genanndten Abgenöthigten Schutz = Sch-

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