Gefühl, Bild und Form: Édouard Vuillard und die Ästhetik der mémoire [1 ed.] 9783412519605, 9783412519582

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Gefühl, Bild und Form: Édouard Vuillard und die Ästhetik der mémoire [1 ed.]
 9783412519605, 9783412519582

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GEFÜHL, BILD UND FORM ÉDOUARD VUILLARD UND DIE ÄSTHETIK DER MÉMOIRE

Michaela Gugeler

Studien zur Kunst 44

Michaela Gugeler

Gefühl, Bild und Form Édouard Vuillard und die Ästhetik der mémoire

BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein und der Richard Stury-Stiftung.

D 93 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar. © 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung  : Edouard Vuillard, Interior, ca. 1892–95, Öl auf Karton, 42 × 52,5 cm, Bequest of Edith Malvina K. Wetmore, Yale University Art Gallery, © Yale University Art Gallery. Korrektorat: Rainer Landvogt, Hanau Einbandgestaltung  : Michael Haderer, Wien Satz  : Michael Rauscher, Wien Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-51960-5

Inhalt

Dank  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1 Einleitung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

Recollection (Vuillard)  . . . . . . . . . . . . . . . . . Die mémoire in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts  : Imagination – Gefühl – Bild   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsstand  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methode und Aufbau der Arbeit  . . . . . . . . . . . . . .

11

16 23 31

2 Vuillards Suche nach einer ästhetischen Strategie  . . . . . . . . . 38

Introspektion und Psychologisierung  . . . . . . . . . . . . Innere Bilder  : Au lit (1891) – Schlaf- und Traumbild  ?   . . . . . . . Umweg über die Aktmalerei – Corots L’Odaliske romaine (Marietta à Rome) (1843)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabula rasa  : Zu einer Reflexion der inneren Bilder  . . . . . . . . »Essaye de peindre de mémoire«  . . . . . . . . . . . . . .

43 49 53 59 65

3 »Mémoire – Ce sujet capital sur lequel rien n’a été dit«  : Der MémoireDiskurs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts   . . . . . . . . . 69 3.1 Baudelaire – Die Entdeckung der mémoire und der art ­mnémonique  . 69

Mémoire – eine Spielart der Imagination  . . . . . . . . . . . Der Salon de 1846  : Grundlagen einer Kunsttheorie der mémoire   . . . Der Salon de 1859 und Le Peintre de la vie moderne (1863)  : L’Art mnémonique – Reflexion der psychischen Prozesse des Malers als Grundlage einer Produktionsästhetik  . . . . . . . . . . . . Ästhetische Qualitäten der Kunstwerke nach der mémoire und Aspekte der Medienspezifik  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Corot – Malen nach der mémoire  . . . . . . . . . . . . . . Die Ästhetik von Corots Souvenir-Gemälden  . . . . . . . . . . Corot in der Kunstkritik – die Grundlagen der mémoire als ästhetische Strategie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Blick auf Corot Ende des 19. Jahrhunderts   . . . . . . . . . . Exkurs  : Die mémoire in Malereitraktaten  . . . . . . . . . . . 3.3 Taine und Ribot – Von der mémoire zur mémoire affective  . . . . . Die Bedeutung der Psychologie  . . . . . . . . . . . . . . Psychologie und Kunst im fin de siècle  : Opposition oder Austauschbeziehung  ?  . . . . . . . . . . . . . . . . . .

69 72

76 88 96 99 108 114 119 122 122 124

6  |  Inhalt

Das Subjekt als »série des événements«   . . . . . . . . . . . . Die Aufwertung des image – die Psyche als »vertigineux cinématographe d’images, d’oublis, de velléités, de passivités«  . . . . . . . . . . Die Rolle der mémoire als Identitäts- und Formstifterin  . . . . . . Die Aufwertung der sentiments als grundlegender Funktionsmotor der menschlichen Psyche und die Kulmination des Diskurses in der mémoire affective  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischen-Resümee  : Paradigmenwechsel. Die ästhetische Strategie der mémoire affecitve als Formfindungsproblem zwischen Bilderfluss und affektivem Erinnerungsgewebe  . . . . . . . . . . . . . . .

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4 Édouard Vuillard und die Ästhetik der mémoire  : Ein vergessenes Kapitel der französischen Kunst  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 4.1 Das Textile als Reflexion von Gemälde und inneren Bildern (images)  . . 154

Das Motiv der versunkenen Handarbeit im Kontext der Bildtradition  . Das Motiv der Versunkenheit als Reflexion von ästhetischer Wahrnehmung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hinwendung zum Textilen als Betonung der produktiven Dimension von ­ästhetischer Wahrnehmung  . . . . . . . . . . . . . . Das Vorbild Vermeer – Strukturanalogie zwischen Textilem und (innerer) Bildschöpfung  . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Textile als Materialisation der psychischen images  . . . . . . .

154

Die Ästhetik des Flirrens  . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Metapher des vibrierenden Bildes in der Psychologie der mémoire  . Medienspezifischer Bezug zwischen Metaphern der Erinnerungspsychologie und Malerei  . . . . . . . . . . . . Weitere ästhetische Dimensionen der Gefühlserinnerung  . . . . . Das Prinzip der Wiederholung  : »La seconde cause des réviviscences longues et complètes [des images  ; M.G.] est la répétition elle-même.«  . Das paradigmatische Sujet  : Die Familie und die Welt der Frauen  . . .

175 182

Grand Intérieur aux six personnages (1897) – Rhythmus und Form  . . . L’Album (1895) – Ornament und Tanz  . . . . . . . . . . . . Die Metapher des Tanzes der Nervenzellen in der Psychologie  . . . . Status der Erinnerungsbilder hinsichtlich Form und Zeit  : Zwischenresümee  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Erinnerung und Bild als Palimpsest  : Interpikturale Praxis  . . . . . Spontane Erinnerungsassoziation  : Eine Skizze nach Antoine Watteaus Pierrot (ca. 1719)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

211 217 225

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4.2 Ästhetik des Flirrens – »[…] cette émotion seule doit me servir et je ne dois pas chercher à me souvenir du nez ou de l’oreille […]«  . . . . . 175

189 196 201 205

4.3 Die Ästhetik des Rhythmischen – Affektiver Bilderfluss und Tanz der Nerven  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209

231 239 243

Inhalt | 7

Stimmungspalimpsest als in sich widerstreitende Harmonie  : Der Desmarais-­Zyklus (1892) und die Rezeption von Watteau, Puvis de Chavannes, Corot  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 Stimmungspalimpsest als unabschließbare Gefühlssemantik  : Intérieur, Mère et Sœur de l’Artiste (1893) und interpikturale Verweise  . . . . . 263 5 Coda  : »La mémoire  : une vision dans le temps«  . . . . . . . . . . 283 6 Resümee und Ausblick  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 Tafeln  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 7 Literaturverzeichnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Archivmaterial  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317

Vuillard, Carnets  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317

Literatur  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 8 Abbildungsverzeichnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350

Dank

Diese Arbeit ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, mit der ich im Juli 2018 am Institut für Kunstgeschichte der Universität Stuttgart promoviert wurde. Angelehnt an ein afrikanisches Sprichwort aus inhaltlich scheinbar gänzlich anderem Kontext, ist es mehr als zutreffend zu sagen  : Um eine Dissertation zu schreiben, braucht es ein ganzes Dorf. Meine Dankbarkeit gilt daher einer Vielzahl von Personen, zuallererst Kerstin Thomas, die diese Arbeit von Beginn an konstruktiv und wohlwollend begleitet hat. In idealer Weise hat sie mir zielsichere Ratschläge und kenntnisreiche Anregungen gegeben. Für ihre Unterstützung und ihr Vertrauen danke ich sehr. Beate Söntgen, die die Aufgabe der Zweitgutachterin übernommen hat, danke ich für dieses Engagement und ihr profundes Gutachten, das die Arbeit mit entscheidenden Impulsen bereichert hat. Beide sorgten zudem für eine unschätzbar konstruktive und produktive Atmosphäre in der Disputatio. An wertvollen akademischen Lehrerinnen und Lehrern hat es mir zu meinen Studienzeiten in Frankfurt am Main nicht gemangelt. Hervorgehoben sei an dieser Stelle Klaus Herding, der mich als zentraler Vertreter der kunsthistorischen Emotionsforschung schon früh mit dieser in Kontakt brachte und ohne dessen Forschung und Lehre diese Arbeit so sicherlich nie entstanden wäre. Meine Forschungen im Rahmen der Emmy Noether-Nachwuchsgruppe »Form und Emotion« an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz unter der Leitung von Kerstin Thomas bilden das Substrat vorliegender Arbeit. Dabei waren mir insbesondere Christoph Groß, Susanne Mersmann und Katrin Weleda inspirierende Gesprächspartner im kritischen Austausch über Kunst und Gefühl im langen 19. Jahrhundert Frankreichs. Meine Doktorschwester Andrea Haarer, die Fragen von Form- und Bildwerdung aus gänzlich anderer Perspektive bearbeitet hat, ist diesen Weg besonders herzlich und intensiv mit mir gegangen. Zudem führte mich die Arbeit in der Emmy Noether-Nachwuchsgruppe mit Philipp Engel und dessen Forschung zur Diskursgeschichte der mémoire affective zusammen. Dank gebührt auch den Kolleginnen und Kollegen des IKM Abteilung Kunstgeschichte der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, wo ich viele vertrauensvolle und hilfreiche Gespräche mit Christian Berger, Clara Wörsdörfer, Juliane von Fircks und Joel Fischer führen konnte. Gregor Wedekind hat großzügigerweise wiederholt sein Kolloquium als Arena zur Erprobung meiner Thesen und Ergebnisse geöffnet. Herzlich danken möchte ich auch Freunden und Familie, die mich begleitet haben. Dörte Wetzler war mir eng vertrauter und ermutigender Coach, ohne sie wäre so manche Sinnkrise ausgeufert. Gottfried Kerscher hat mir den Rücken gestärkt, war einsatzfreudiger Diskussionspartner und Korrekturleser. Stefanie Cossalter war einfach immer da für mich. Linda Behringer stand für die Welt jenseits von Kunst und Wissenschaft und half mit dieser Außenperspektive regelmäßig den Arbeitsfuror auf ein sinnvolles Maß zu reduzieren. Christian Freigang unterstützte den Prozess aus verschiedenen Perspektiven

10  |  Dank

wohlwollend und beherzt. Und obwohl ihr die Sinnhaftigkeit dieses Unterfangens bisweilen fraglich erscheinen musste, stand meine Familie, insbesondere Dieter Gugeler und Birgit Heinkele, verlässlich und stolz hinter mir. Die Arbeit wäre ohne die zahlreichen helfenden Mitarbeiter in Bibliotheken und Archiven nicht möglich gewesen. Hervorheben möchte ich das Bibliotheks-Team des Institut de France in Paris, wo ich mit Herzklopfen die Tagebücher Vuillards sichten durfte. Die Beschaffung der Digitalisate wurde durch Doris Reichert und ihr Team der Bildstelle des Kunsthistorischen Instituts der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt a. M. immens erleichtert. Beim Böhlau Verlag danke ich für die professionelle und unkomplizierte Zusammenarbeit Kirsti Doepner und Julia Beenken. Für die Gewährung von Druckkostenzuschüssen bin ich der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften und der Richard Stury Stiftung dankbar. Sie haben, zusammen mit dem Deubner-Preis des Verbandes Deutscher Kunsthistoriker e.V., die Publikation in dieser Form überhaupt erst möglich gemacht. Von Beginn ihres Lebens an hat Emilia das Zustandekommen dieser Arbeit begleitet. Ihr sei dieses Buch gewidmet. Berlin, im Oktober 2020 Michaela Gugeler

1 Einleitung

Recollection (Vuillard)

Das 1899 entstandene Gemälde Le Déjeuner en famille (1899  ; Tf.  1)1 von Édouard Vuillard zeigt die Familie des Malers in häuslichem Umfeld. Vertraute Familiarität scheint ins Bild gesetzt  ; in ein Bild, das ansonsten durch die eigentümliche Kombination aus Untersicht und Frontalität geprägt ist und überzogen wird von einer schier unstillbaren Flut an ungegenständlichen Farb- und Formtupfern. Das Gemälde ist Teil eines Œuvrekomplexes, der zwischen 1890 und 1900 entstanden ist und Werke vereint, die sowohl motivisch wie auch ästhetisch miteinander korrespondieren. Die Werke dieser künstlerischen Phase stehen im Zentrum der vorliegenden Arbeit. In dieser Periode widmet sich Vuillard in zahlreichen seiner Werke seiner Familie und seinem Wohn- und Lebensumfeld  : dem Familienleben, der Schneiderwerkstatt seiner Mutter, den dort verarbeiteten Stoffen, den typischen Handlungen und Interaktionen zwischen Mutter, Großmutter, Schwester sowie den Schneiderinnen  : »L’œuvre de Vuillard est peuplée des personnes et objets familiers.«2 Vuillard umkreist diesen Mikrokosmos immer und immer wieder, ausdauernd und aufmerksam. Der Fokus richtet sich nahezu obsessiv auf die genannten Motive. Jedoch nicht nur die verhandelte Thematik, sondern auch die Bildsprache und die Ästhetik, die Vuillard in diesen Jahren entwickelt und auslotet, vereinen die entsprechenden Gemälde. Den Alltagsszenen eignet eine spezifische Zeitlichkeit, eine scheinbare Momenthaftigkeit friedlicher Augenblicke  : »Le peintre évoque les gestes de la vie quotidienne – le repas, la lecture, le jeu de cartes ou de dames, la couture, la toilette, le concert dans le cercle familiale – ou tout simplement les instants paisibles passés dans une compagnie choisie.«3 Dies geht spannungsvoll einher mit einer komplexen ornamentalen Belebung des Bildes. Denn trotz der Suggestion von momenthaftem Stillstand bietet sich dem Auge kaum Orientierung oder Ruhe, die Bildfläche wandelt sich während der Rezeption beständig  ; oftmals ist es kaum möglich, das gesamte Gemälde mit einem Blick stillzustellen und mithin wahrzunehmen. Zudem sind Figuren und Objekte vielfach derart verunklärt, dass sie kaum vom Rest des Gemäldes zu unterscheiden sind  : »Sous son pinceau, les figures et les objets se dissolvent dans l’interprétation décorative de la forme par la pure couleur.«4 Oftmals sind die Figuren nachgerade verflochten in ihre Umgebung, und beide sind im 1

2 3 4

Werke von Édouard Vuillard werden in den Bildunterschriften ohne den Namen des Künstlers geführt. In Klammern steht der Verweis auf die Katalognummer im Œuvreverzeichnis von Jacques Salomon und Guy Cogeval (Salomon et al. 2003). In einzelnen Fällen ist nur der englische Titel aus dem Œuvrekatalog bekannt. Thomson 2000, S. 12. Zutter 2000, S. 29. Zutter 2000, S. 29.

12  |  Einleitung

Bild als Passagen eines ornamentalen Gefüges eingewoben, welches die Bildfläche überzieht. Vuillard löst die Bildgegenstände auf in Farben und vage Formen. Die Gemälde haben so die Anmutung von farbig belebten Flächen, von endlos aneinandergereihten Mustern, sie alludieren mit ihrer Ästhetik auf die Stoffe, die sie in den Schneiderszenen auch innerbildlich verhandeln, sie erscheinen als rhythmisierte Oberflächen ohne hervorgehobenes Zentrum. Die Werke bieten ein ästhetisches Kontinuum ohne Fokus, an den Rändern offen. Der ornamentale Fluss ist nicht mit einer Borte gefasst, sondern schlicht abgeschnitten. So scheint die imaginative endlose Fortsetzung des im Bild angestimmten Rapports möglich  : »[…] il n’y a que des instants, des suites d’instants, et ces suites d’instants sont discontinues et réversibles.«5 Zugleich sind die Bilder offenbar mehr als bloße Bildteppiche, die über ein beliebig gewähltes Motiv harmlos hinwegplätschern, vielmehr weisen sie eine subtile Kompositionsstruktur auf sowie eine eigentümliche Konzentration und Dichte. Ähnlich wie verschwommene Traumbilder kennen sie kein klares Zentrum, sind geprägt von der Unmöglichkeit, ihrer präzise habhaft zu werden, erzeugen zugleich aber eine hohe Prägnanz und Präsenz des Dargestellten. Paradoxerweise erscheinen die Gemälde gerade in dieser Vagheit6 als Konzentrate, als gefühlsmäßige Essenzen des tagtäglich von Vuillard beobachteten familiären Alltagslebens. Hat man anfangs also den Eindruck, es handle sich um spontan eingefangene Momentaufnahmen, die in rascher Manier auf die Leinwand gebracht worden sind, finden sie in jener ästhetischen Praxis eine Behandlung, die ihnen die Anmutung einer zeitenthobenen Essenz verleiht, die weit über den Moment hinausreicht. Der Ausgangspunkt der Malerei sind ganz konkrete Szenen und Personen. Für Vuillard sind sie jedoch keine flüchtigen Alltagswahrnehmungen, keine lebensweltlichen Singularitäten, deren habhaft zu werden nur in einem erhaschenden Blick möglich wäre. Nein, es sind Szenen, wie sie sich Vuillard immer, tagtäglich von früh bis spät bieten. Szenen, die ihm zutiefst vertraut sind, mit denen er aufgewachsen ist. Szenen, die ihre Intensität nicht der Besonderheit des Einmaligen verdanken, sondern der Konzentration des Gewohnten. Sie bilden eine biografische Folie, die ihn selbstverständlich umgibt, an deren Präsenz das Auge gewöhnt ist, da es diese Situationen immer und immer wieder einfangen konnte. Zugleich sind sie offenbar nicht beliebig. Es sind keine Bilder des schnöden und austauschbaren Immergleichen, sondern trotz der großen Gewöhnung an sie, ja wegen der großen Vertrautheit mit ihnen eignet ihnen eine spezifische ästhetische wie auch emotionale Dichte. In einer ganz erstaunlichen Arbeit hat sich Richard Artschwager, ein Doyen der postmodernen Kunst, auf Le Déjeuner en famille (Tf. 1) bezogen.7 2004 widmet Artschwager dem französischen Vorbild eine Reprise (Tf. 2), in der er sowohl motivisch als auch stilistisch auf Vuillard rekurriert und gleichermaßen an den Fin-de-siècle-Maler wie auch 5 6 7

Monery 2000, S. 47. Vgl. zum Begriff des Vagen Bodei 2005. Vgl. Schaffner 2013, S. 149. Für den Hinweis auf die Rezeption von Vuillards Interieur durch Richard Artschwager danke ich Christian Berger.

Einleitung | 13

das eigene postmoderne Werk anknüpft. Denn beide Künstler verbindet die ästhetische Beschäftigung mit der häuslichen Umgebung, dem Interieur, dessen Ausstattung, Mobiliar und Einrichtung. Beide reflektieren das Interieur als künstlerisches Motiv, in dem sich im Anschein des Nützlich-Alltäglichen – wenn auch je unterschiedlich – die Essenz menschlichen Lebens zu erkennen gibt.8 Ebenfalls widmen beide Künstler der Beschaffenheit der Bildoberfläche größte Aufmerksamkeit.9 Sind es bei Vuillard elaboriert entwickelte Ornamente, die das gesamte Gemälde überziehen, so kombiniert Artschwager die unruhige Oberflächenstruktur der Hartfaserplatte mit ornamentalen Binnengliederungen. Verschwiegen werden darf bei all dem nicht, dass Artschwager in seinem Rekurs die genannten Aspekte absichtsvoll vergröbert und damit eine ironische Distanz markiert, die analog zu verstehen ist zur grundsätzlich ironischen Bezugnahme der Postmoderne auf den Fundus der Moderne. Entscheidend innerhalb der postmodernen Strategie Artschwagers ist bei all dem der Titel Recollection (Vuillard), der den Bezug auf Vuillard als Erinnerung – »recollection« – markiert. Ist der Postmoderne das interpikturale Verweisen und Rückgreifen auf bestehende Bilder per se inhärent, so benennt der Titel mit »recollection« die ganz besondere Dimension des Erinnerns mitsamt ihrem »mnemonic meaning«10. Das Erinnern ist eine besondere Praxis, die scheinbar naiv bereits Vorgängiges reproduziert, dieses dabei indes in spezifischer Weise überformt. Artschwagers Werk verdeutlicht dieses Paradox auf anschauliche Weise. Ein wenig erstaunt es, dass Artschwager innerhalb der postmodernen Zitat-Praxis, die generell auf der Differenz der Wiederholung beharrt,11 gerade das Erinnern als eine solche Praxis hervorhebt. Ganz besonders erstaunlich ist aber, dass Artschwager den Mechanismus der Erinnerung ausgerechnet an Vuillard exemplifiziert. Und es liegt nahe, diesem Umstand Signifikanz zuzumessen. Ist eine Erinnerung an Vuillard deswegen besonders schlagend, weil dessen Gemälde eine besondere Verbindung zur Erinnerung haben, möglicherweise selbst Ergebnisse der überformenden Erinnerung sind  ? So verstanden wäre die Wahl Vuillards als Referenzwerk kein beliebiger Zufall, sondern in der Logik einer mise en abyme begründet, bei der der Ausgangspunkt, einmal aufgebrochen, stets weiter auf analoge und dennoch abweichend geformte Erinnerungsbilder verweist  : Artschwager erinnert sich an Vuillard, der sich seinerseits an Vorläufer erinnerte, und auch Artschwagers Recollection wird Anlass oder Bestandteil für andere Erinnerungen und Kunstwerke sein. Das verbindende Analogon zwischen Artschwagers Recollection und Vuillards Interieur wäre dann die Erinnerungsarbeit, der mnemonische   8 Vgl. Schaffner 2013, S. 149 f.   9 Was die Bezugnahme Artschwagers auf Vuillard betrifft, kann Schaffner im Werk des Postmodernen eine Vielzahl von Verbindungen benennen, sei es die Arbeit mit Möbeln, mit dem gleichermaßen formalästhetischen wie auch haptischen Verfahren der Frottage, mit der Assoziation von Interieur und Landschaft, der spezifischen Semantik von fragmentiertem Raum etc. Nicht verwunderlich ist daher, dass Artschwager 2007 zudem Vuillards Gemälde Le Grand Intérieur aux six personnages (1897) rezipiert. Vgl. Schaffner 2013, S. 162–164. 10 Schaffner 2013, S. 150. 11 Grundlegend hierfür ist die Differenzphilosophie Gilles Deleuzes, der sie signifikanterweise von den Arbeiten Henri Bergsons ableitet  ; vgl. Deleuze 1992.

14  |  Einleitung

Dialog im kleineren oder größeren Kunst- und Diskurs-Rahmen, verstanden als spezifisch ästhetisches Verfahren. Am Beginn der vorliegenden Untersuchung stand zuallererst die Beobachtung, dass Vuillard zwischen 1890 und 1900 eine ganz spezifische Ästhetik entwickelt, die gemeinhin als immens gefühlsdicht gilt – ohne dass der jeweilige Gefühlsgehalt immer eindeutig benannt werden könnte –, und dass es de facto bis heute keine Erklärung für diese Ästhetik und deren Gefühlshaftigkeit gibt. Wie lässt sich diese Ästhetik herleiten und verstehen  ? Ist es eine bewusst ersonnene Malweise des Künstlers oder eine auf anderen Wegen gewonnene Strategie  ? Gibt es größere diskursive Zusammenhänge, in denen das Werk Vuillards gesehen werden muss, und auf welcher Ebene könnten dieser Kontext und das Werk ineinandergreifen  ? Wie ist das mögliche Verhältnis zwischen Diskurs und Œuvre zu denken, ohne in simplifizierende Kategorien von Einfluss bzw. Umsetzung abzugleiten  ? Welcher Qualität ist das Gefühlshafte in den Werken Vuillards  ? In welchem Verhältnis steht es zur Welt  : Ist es Darstellung, Abbildung, Ausdruck, Eindruck, Einfühlung, Abstraktion, Narration, Symbol, kodifiziertes Zeichensystem oder eine Form des impressionisme d’intérieur, wie Jacques Salomon 194512 vorgeschlagen hat  ? Und anschließend  : Wie sind die Gemälde »lesbar«  ? Wie wird subjektives Empfinden für den Rezipienten nachvollziehbar  ? Ist das Gefühl an sich teilbar oder nur das »Wie«, die Empfindungsqualität  ? Bergen die Werke konkrete Gefühle oder regen sie komplexe Assoziationsprozesse an, die ihrerseits gefühlsgeleitet sind  ? Zweifelsohne sind diese Fragen nicht nur in Bezug auf Vuillard, sondern in grundsätzlicher Weise von erheblicher Relevanz. Evident ist zugleich, dass eine mögliche allgemeine Betrachtungsweise dieser emotions-, aber auch bildhistorischen Fragen nur auf Basis intensiver Fallstudien und Einzelanalysen überhaupt denkbar ist. Als eine solche Analyse versteht sich vorliegende Arbeit. Im Zuge der Diskurs-, Werk- und Quellenanalyse und insbesondere der Betrachtung der zeitgenössischen Debatten über die Psyche des Menschen, die den Maler rege interessierte, kristallisierte sich eine Spur heraus, die sich im Hinblick auf die aufgeworfenen Fragen als fruchtbar erwiesen hat. Wie ich zeigen möchte, ist die ästhetische Qualität der Werke zwischen 1890 und 1900 das Ergebnis der Auseinandersetzung Vuillards mit der zeitgenössischen Auffassung von Erinnerung und Gedächtnis – mit der mémoire – und insbesondere mit der Spezifik des Diskurses über die mémoire.13 Die Erinnerung, das Erinnerungsvermögen, das Erinnerte, dessen Qualität, dessen Zustandekommen, dessen kulturelle und ästhetische Verhandlung und Diskursivierung ist spätestens ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in allen Disziplinen omnipräsent und ist – ebenso wie das Fühlen oder das Wahrnehmen – weniger anthropologische 12 Salomon 1945, S. 85. 13 Mémoire bedeutet im Deutschen sowohl »Erinnerung« als auch »Gedächtnis«. Angelehnt an Aleida Assmann kann man unter Gedächtnis die »virtuelle Fähigkeit« verstehen und unter Erinnerung den »aktuellen Vorgang des Einprägens und Rückrufens spezifischer Inhalte« (Assmann 1991, S. 14). Um den französischen Begriff nicht dieser Komplexität zu berauben, wird er im Folgenden weitgehend als Terminus beibehalten und nicht übersetzt.

Einleitung | 15

Konstante als Ergebnis kultureller Formulierungsprozesse. Die maßgeblichen Einflüsse dieser Debatten auf die Literatur, den Impulsgeber vielfältiger ästhetischer Meilensteine, müssen an dieser Stelle nicht eigens hervorgehoben werden, denn der schier unüberblickbare Kosmos zwischen Jean-Jacques Rousseau und Marcel Proust ist bekannt. Was nun die Malerei betrifft, ist hierzu – zur Bedeutung der Mémoire-Diskurse für die bildende Kunst – punktuell sehr Erhellendes, auf das Ganze betrachtet jedoch noch zu wenig gedacht worden. Vuillard hat, wie gezeigt werden wird, um das Jahr 1890 intensiv mit seiner malerischen Ausrichtung gerungen, sein frühes Werk legt darüber beredtes Zeugnis ab. Quälend beschäftigt ihn die Frage, was der zentrale Gehalt seiner Malerei sein solle und wie dies adäquat ästhetisch umzusetzen sei. Es geht ihm dabei um seine Empfindungen und Gefühle, genauer  : um die Reflexion des ästhetischen Empfindens und dessen Zusammenspiel mit dem kreativen Denken und Schaffen. Vuillard schwingt ganz in der Grundstimmung seiner Zeit, und so tritt in diesem Kontext die Erinnerung in seinen Fokus. Welche Rolle spielt die Erinnerung bei diesem Zusammenspiel zwischen ästhetischer Empfindung und kreativem Wirken  ? Vuillards Reflexion über die Erinnerung wird zur Richtschnur seiner ästhetischen Strategie. Der Rekonstruktion dieses Prozesses widmet sich diese Arbeit  ; Vuillards Reflexion wird dabei weiträumig in den Diskurs der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eingebettet. Seine ästhetische Strategie ist damit weniger als des Malers persönliche Kunsttheorie zu verstehen denn als Teil des allgegenwärtigen Mémoire-Diskurses, der, weit entfernt von eng gezirkelten Kunstthemen, die Erinnerung befragt als Kern des kreativen Vermögens, als Anker menschlicher Identität und als Motor einer stets fühlenden Wahrnehmung. Produktionsästhetische Analysen gehen mit diskurshistorischen Rekonstruktionen Hand in Hand. Dieser historische Diskurs zur mémoire birgt einerseits zentrale Schnittmengen mit Fragen, die für Vuillard im Mittelpunkt standen. Vor allem aber ist dieser Diskurs, wie zu zeigen sein wird, selbst zwar weitgehend sprachlich verfasst, dabei jedoch von einer bildlichen, metaphorischen Logik geprägt. Vuillard adaptiert nicht diese oder jene Theorie, sondern seine Werke sind Teil der ohnehin bildhaft geführten Debatte. Erstmals soll unter dieser Perspektive versucht werden, das diskursive Netz zu rekonstruieren, in das die Kunstwerke eingewoben sind, dessen Teil sie sind, das sie stellenweise maßgeblich akzentuiert und ihrerseits weitergeknüpft haben (und das womöglich bis zu Artschwager und darüber hinaus reicht). Betrachtet man die Werke Vuillards aus der Perspektive des Mémoire-Diskurses und als Teil desselben, werden frappante Parallelen und Gemeinsamkeiten erkennbar zwischen der metaphorischen Behandlung der mémoire und den Werken Vuillards, aber auch zwischen der Vorstellung der mémoire als schöpferischer Instanz, deren Funktionslogik und zeitgenössischen Ideen von Kreativität und Imagination. Die Reflexion über das Erinnerungsvermögen war für den Künstler der Ausgangspunkt, um Gefühltes im medialen Gepräge der Malerei erfahrbar zu machen.14 Denn die Erinnerung wird im 19. Jahrhundert 14 Hiermit meine ich umfassend Aspekte, die man theoretisch nochmals differenzieren könnte in Empfindungen, Gefühle/Emotionen und Stimmungen. Ganz bewusst wähle ich jedoch eine offene

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dezidiert affektiv, kreativ und bildlich gedacht. Im Ergebnis macht Vuillard in seinen Werken (Gefühls-)Erinnerungen nachvollziehbar, indem er mit Formstrukturen und Bildqualitäten arbeitet, die weder im herkömmlichen Sinne narrativ lesbar sind noch konkrete Gefühle bezeichnen. Die ästhetische Arbeit mit der Erinnerung führt nicht zu Darstellungen, Repräsentationen oder einem Ausdruck von Emotion. Vielmehr machen die Gemälde die phänomenologische Dimension von Gefühlen erfahrbar, die der Maler angesichts verschiedener Situationen erlebte.15 Die entscheidende kulturhistorische Volte hierbei ist, dass das Medium des Gefühls nicht etwa die Wahrnehmung selbst ist, sondern die Erinnerung daran. Die Erinnerung vermag Affektives überhaupt erst vorstellbar zu machen, sie ist es, die dem Gefühlsmäßigen überhaupt erst eine Form zu geben vermag. Evident ist, dass sie hierzu nicht nur reproduziert, sondern selbst nach je eigenen Funktionslogiken die Dinge formt und hervorbringt. Die Erinnerung vermag Bilder zu generieren, die das Gefühl nicht begrifflich oder analytisch darstellen, sondern dessen Empfindungsqualität aufrufen. Es geht um die Empfindungsqualität und nicht um die als kognitiv oder intentional zu klassifizierenden Komponenten von Gefühl, also nicht um den Teil, der wortsprachlich erfasst werden kann.16 Die Arbeit wird zeigen, inwiefern der Diskurs um die mémoire einerseits strukturelle Querbezüge zu jenen Debatten des Kreativen, des Bildlichen, des Formwerdens und des Gefühlsmäßigen birgt, die mit Vuillards Suche nach einer ästhetischen Strategie verwoben sind, und inwiefern insbesondere die Metaphern hier neue Impulse setzen. Andererseits werden die Werkanalysen zeigen, wie selbständig der Beitrag Vuillards zu den damals (und bis heute) unbeantworteten Fragen nach dem Wesen und der Funktionsweise von Erinnerung ist. Das malerische Werk wird sich dabei als eigenständiger Beitrag zum Diskurs über die mémoire erweisen. Die mémoire in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts  : Imagination – Gefühl – Bild

Die mémoire ist in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts omnipräsent und nicht zuletzt im ästhetischen Kontext bei Malern und Literaten von zentraler Bedeutung.17 Natürlich fällt in diesem Zusammenhang zwangsläufig der Name von Marcel Proust und von Begrifflichkeit, da dies dem historischen Sprachgebrauch (vgl. dazu Dixon 2003, S. 139 f.) entspricht. Zudem würde eine begriffliche Engführung dem Werk von Vuillard nicht gerecht werden. Ich argumentiere damit analog zu Hartmann, der in seiner philosophischen Arbeit über die Theorie der Gefühle ebenfalls einen breiten Gefühlsbegriff heranzieht (vgl. Hartmann 2010, S. 32). 15 Vgl. zur phänomenologischen Dimension von Gefühlen Hartmann 2010, S. 84 f. 16 Vgl. zur Differenzierung von kognitiven, voluntativen, intentionalen und phänomenologischen Bestandteilen von Gefühlen Hartmann 2010, S. 84 f. 17 Insbesondere in der Literatur und der Lyrik hat die mémoire vor allem auch vor der Mitte des 19. Jahrhunderts eine lange Vorgeschichte. So ist bekannt, dass sie bereits in der klassischen Lehre der Rhetorik von zentraler Bedeutung war. Vielfältig beschäftigten sich die englischen Sensualisten

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dessen epochalem Erinnerungsroman À la recherche du temps perdu, der seine spezifische Struktur einer elaborierten Reflexion über die Erinnerung verdankt.18 Tatsächlich geht die Beschäftigung Prousts mit der mémoire bereits bis in die frühen 1890er Jahre zurück.19 Im Kontext dieser literaturhistorischen Rekonstruktionen, aber auch unabhängig davon, ist bekannt, dass sich die Literatur seit dem späten 18. Jahrhundert durchweg mit dem Phänomen der Erinnerung beschäftigt. Eine Reihe bekannter Namen ist mit der literarischen Verarbeitung des Erinnerungserlebnisses verknüpft, etwa François-René de Chateaubriand, Jean-Jacques Rousseau, Gérard de Nerval und Charles Baudelaire.20 Das menschliche Erinnerungsvermögen, die mémoire, war für die Literatur von zentraler Bedeutung. Seit der Romantik diente sie nicht nur als Quelle und inszeniertes Thema von Kunst, sondern wurde zunehmend in ihrer psychischen Funktionsweise als Vorlage ästhetischer und poetischer Verfahren reflektiert. Die literarischen Positionen waren aber keine isolierten Einzelfälle, sondern Teil eines breiten Diskurses, der das gesamte 19. Jahrhundert durchzieht und ab 1880 eine ganz besondere Konjunktur erfährt. So schreibt Elisabeth Czoniczer  : »Proust n’est pas un phénomène isolé  : il est profondément enraciné dans son temps«21. Elizabeth R. Jackson präzisiert  : »Etonnante […] est la prolifération d’écrits touchant ce sujet [der mémoire  ; M.G.] dans la période 1880–1900 […].«22 Terdiman bringt es auf den Punkt  : »Around the turn of the century, memory and memory phenomena were clearly on the cultural agenda.«23 Zentral für die Untersuchung der mémoire als ästhetischer Strategie sind die Arbeiten von Walburga Hülk, die aus kulturhistorischer Sicht die Bedeutung der Erinnerung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und damit auch für die Moderne betont hat. Sie ist damit Teil eines umfassenden fächerübergreifenden Forschungsfeldes, das die Erinnerung als Schlüsselthema verhandelt und untrennbar mit den Arbeiten von Aleida Assmann verbunden ist.24

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mit ihr. In Frankreich erlebt die mémoire im Rahmen der Romantik eine komplexe Konjunktur. Zum Einstieg in die hier nur knapp skizzierte Ideengeschichte zu mémoire vgl. Dockhorn 1964  ; Pabst 1964  ; Hölz 1973  ; Swift 1977  ; Kern 1983  ; Roth 1989  ; Redman et al. 1985  ; Terdiman 1993  ; Siegmund 2001. Die Literatur zu Prousts Recherche kann hier nicht angemessen wiedergegeben werden. Es sei daher nur verwiesen auf das Standardwerk von Hans Robert Jauß, Zeit und Erinnerung. in Marcel Prousts »À la recherche du temps perdu«. Ein Beitrag zur Theorie des Romans  ; Jauß 1986. Ryan 1991, S. 173. Vgl. dazu Perrin 1993 und Perrin 1995. Czoniczer 1957, S. 162. Vgl. dazu auch Alden 1943 und Redman et al. 1985, S. 12 f. Jackson 1966, S. 11. Terdiman 1993, S. 186. Vgl. dazu Assmann 1991, 1993, 1999 und Assmann et al. 1991. Erwähnung finden sollte zudem der interdisziplinäre SFB »Erinnerungskulturen« der Universität Gießen, aus dem etwa der von Günter Oesterle herausgegebene Sammelband Erinnerung, Gedächtnis, Wissen. Studien zur kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung hervorgegangen ist  ; vgl. Oesterle 2005, jüngeren Datums  : Nikulin 2015a. Dort auch weiterführende Literaturverweise.

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Die Forschung hat gezeigt, dass die Erinnerung de facto ein kulturhistorisch permanent virulentes Feld ist  ;25 insbesondere aber ab der von Reinhart Koselleck als Sattelzeit benannten Spätaufklärung des 19. Jahrhunderts kann von einer besonderen Konjunktur der Erinnerung gesprochen werden, die bis in das heutige moderne Verständnis reicht. Für Aleida Assmann ist die Gestalt der Erinnerung, der Sattelzeit entsprechend, janusköpfig  : »In die Vergangenheit blickt das Gesicht der ›Memoria‹ mit Sitz im Leben in der jahrtausendealten rhetorischen Tradition, in die Zukunft blickt das Gesicht einer immer schwerer verfügbaren individualisierenden ›Erinnerung‹.«26 Eine regelrechte Beschleunigung des Diskurses findet ab den späten 1850er Jahren statt und hält bis zum Vorabend des Ersten Weltkrieges an – mit prominenten Stimmen wie Aby Warburg, aber auch in Vergessenheit geratenen Diskursen, etwa der anthropologischen Forschung des 19. Jahrhunderts.27 Mit dem modernen Aufkommen der Neurowissenschaften28 ist heute eine erneute Konjunktur zu verzeichnen.29 Die Auseinandersetzung mit Erinnerung deutet auf eine kulturelle Befragung von »repetition, change, representation, authenticity, and identity« hin. Sie ist damit eine Facette des – mit der Postmoderne möglicherweise als gescheitert zu bezeichnenden – Versuchs, ein modernes, das heißt differenziertes Zeit- und Geschichtsverständnis jenseits metaphysischer Wahrheiten zu etablieren.30 Individuell wie auch kollektiv werde das zeitliche Gewordensein zum Wesenskern der Dinge, und mithin geschehe eine umfassende Dynamisierung.31 Heute wie damals spielt die Psychologie in diesem Diskurs der Erinnerung eine bedeutende Rolle. Denn die Erinnerung ist zuallererst Teil der menschlichen Psyche und damit Objekt der Bewusstseinsphilosophie, die ab der Mitte des 19. Jahrhunderts zusehends in ein komplexes Verhältnis mit der Psychologie tritt. Prominente Figuren in diesem Prozess sind Hippolyte Taine, Théodule Ribot und Henri Bergson.32 Ebenso wie Sandra Janßen hat Hülk den Mémoire-Diskurs als Teil der psychologischen Bewusstseinsforschung untersucht und dabei dessen Relevanz für die Historisierung von Ästhetik und künstlerisch-kreativen Strategien erkannt.33 Der Diskurs über die mémoire und deren medizinische Aushandlung von Normalität und Pathologie ist mithin Ausdruck des kulturellen Ringens um die richtige »relation of past and present«34 und über das rechte Maß und die Art und Weise der Konservierung und Reproduktion von Vergangenheit.35 Die Psychologen hatten in 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35

Vgl. dazu exemplarisch Nikulin 2015a und Bohler 2004. Assmann 1993, S. 359 f. Vgl. zur anthropologischen Erforschung des Gedächtnisses im 19. Jahrhundert Severi 2018, S. 26 f. Vgl. dazu Schmidt 1991  ; Assmann 1999  ; Tadié et al. 1999  ; Shaw 2016a  ; Draaisma 2016. Vgl. zur memory crisis im 19. Jahrhundert Terdiman 1993. Vgl. Roth 1989, S. 49, Zit. ebd. Zum kulturhistorischen Wandel von Zeit vgl. Kern 1983. Vgl. Nikulin 2015b, S. 5. Vgl. dazu Kap. 3.3 in dieser Arbeit. Hülk 2007 und 2012  ; Janßen 2002. Roth 1989, S. 50. Vgl. Roth 1989, S. 51.

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ihren neuen Entwürfen die Psyche derart fragil gezeichnet, dass sicher geglaubte Ordnungschemata hinfällig wurden. Das Prekärwerden der Erinnerung geht einher mit dem, was Pierre Nora die Beschleunigung der Geschichte genannt hat.36 Durch die Studien von Ribot und Taine wurde die Frage danach, wo sich die Vergangenheit befindet, wenn sie nicht gesichert in unserer Psyche ist, signifikant überformt. Wenngleich Ribot keine gesicherte Vergangenheit annimmt, so bemüht er sich in Les Maladies de la mémoire (1881) immerhin, Kriterien einer normalen, also gesunden Form der Erinnerungskonstruktion zu analysieren.37 Im Gegensatz zu Ribot geht Bergson in Matière et mémoire (1896) davon aus, dass die Vergangenheit unabhängig davon existiere, ob man sich ihrer erinnert oder nicht. Das Vermögen der Erinnerung bringt dann die Vergangenheit nicht hervor, sondern ist die Schaltzentrale, die die Verbindung mit ihr herstellt.38 Eine gesicherte Verbindung besteht auch hier nicht. Aufschlussreich ist, dass diese Verunsicherung unmittelbar auch eine produktive Wendung erfuhr. Stephen Kern summiert lakonisch  : »For Bergson it [die Vergangenheit  ; M.G.] was a source of freedom, for Freud a promise of mental health, for Proust a key to paradise.«39 Zuvor galt die Erinnerung als passiv und nur konservierend, dies ändert sich nun radikal.40 Indem sie konstruktivistisch Vergangenheit herstellt, eignet ihr ein kreatives Moment. In radikaler Ausdeutung mündet dies 1904 in Sigmund Freuds Theorie des Gedächtnisses, die in gewisser Hinsicht auf dem zentralen Paradox des französischen Diskurses – Freud verbrachte Teile seines Studiums in Paris – gründet  : dem unauflöslichen Paradox der Erinnerung, die als gleichermaßen radikal bewahrend und zugleich radikal überformend erscheint. Freud resümiert in Psychopathologie des Alltagslebens, dass alle Impressionen bewahrt würden, aber der »Theorie zufolge […] sich also jeder frühere Zustand des Gedächtnisinhaltes wieder für die Erinnerung herstellen [ließe  ; M.G.], auch wenn dessen Elemente alle ursprünglichen Beziehungen längst gegen neuere eingetauscht haben.«41 Mit dieser Dynamisierung wurde die mémoire interessant für die Künste, denn sie bot die Basis dafür, die Erinnerung und ihre konstruktivistische Prozessualität als Inspiration für poetologische und produktionsästhetische Konzepte zu befragen.42 Ausgehend von Charles Baudelaire, Hippolyte Taine und Paul Valéry hebt Hülk entsprechend die Aspekte der Bewegung und hervorbringenden Prozessualität als Leitmotive im Diskurs hervor.43 Der Ursprung im großen kulturhistorischen Rahmen hierfür ist kaum eindeutig zu identifizieren  ; Stephen Kern versammelt eine immense Bandbreite an Ereignissen im

36 Vgl. Roth 1989, S. 64. Roth verweist hier auf das kulturhistorische Standardwerk von Pierre Nora, Les Lieux de mémoire, Paris 1984. 37 Ribot 1906. 38 Bergson 1990  ; vgl. Roth 1989, S. 54. 39 Kern 1983, S. 37. 40 Vgl. Lombardo 2014, S. 2. 41 Freud 1907, S. 128. Vgl. dazu Kern 1983, S. 40–45. 42 Vgl. Roth 1989, S. 65. 43 Hülk 2006, 2007 und 2012. Vgl. dazu auch das entsprechende Kapitel »Speed« bei Kern 1983.

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19. Jahrhundert, die dazu führten, dass man Zeit und Zeitlichkeit neu dachte.44 Im Kontext der bildenden Kunst spielt die Etablierung der Fotografie ab den 1830er Jahren eine große Rolle sowie die Erfindung des Phonographen (1877 durch Thomas Alva Edison), der bereits 1857 in Frankreich mit Édouard-Léon Scott de Martinvilles Phonautographen erste Vorläufer hatte  ; später kam der Film hinzu.45 Wenn ein Phänomen aufgezeichnet, damit also Vergangenheit technisch präzise konserviert werden kann und dadurch Unterschiede zum menschlichen Erinnerungsvermögen technisch-objektiv ersichtlich werden, wird die spezifische konstruktivistische Eigenqualität des Letzteren im Umkehrschluss im anschaulichen Vergleich unmittelbar evident. Neben strukturellen Veränderungen in der Auffassung von Erinnerung sind im Diskurs zudem mediale Verwerfungen zu erkennen, die das Verhältnis von Schrift und Bild betreffen. War die Erinnerung in abendländischer Tradition lange an das Primat der Schrift gebunden, indem Bilder allenfalls die Funktion des Werkzeugs zur besseren Memorierbarkeit hatten, ist im 19. Jahrhundert zu beobachten, dass das genuine Gepräge der Erinnerung zusehends bildlich gedacht wird. Dies mündet bei Sigmund Freud, trotz dessen Sprachfixierung, in die eminente Rolle der Bilder in seiner Lehre  ; auf die besondere Bedeutung der Bilder für Aby Warburgs Werk über Gedächtnis muss nicht eigens hingewiesen werden.46 Die Erkenntnis über die konstruktivistische und kombinatorische Mobilität von Erinnerung ist damit Teil eines kulturellen Denkprozesses, in dem statische Systeme der Repräsentation und Darstellung abgelöst und ersetzt werden durch die Suche nach prozessual und aktional funktionierenden Bildern. Die ästhetische Herausforderung besteht im Problem »der Re-Repräsentation von Ereignissen […], die, wenn überhaupt in Bildern, nur in Bewegungsbildern dargestellt werden können und grundsätzlich die Frage nach der Möglichkeit der Formgebung aufwerfen.«47 Judith Ryan hat das verwickelte und nicht 44 Vgl. Kern 1983, S. 36–64. Für den Zeitraum bis 1850 legten jüngst Bettina Gockel und Miriam Volmert einen interdisziplinären Sammelband vor  ; vgl. Gockel et al. 2018. 45 Vgl. zur Verbindung von Fotografie und Gedächtnis-Diskurs Albers 2001, S. 545 f.; Bal 2015 und Chu 2011, aus poststrukturalistisch inspirierter Perspektive  : Haverkamp 1993. Zum Phonographen vgl. den Essay La mémoire et le phonographe aus dem Jahr 1880 von Jean-Marie Guyau  ; vgl. Guyau 1880. 46 Die Wurzeln dieser Verschiebung im Erinnerungsdiskurs von Schrift zu Bild liegen noch immer nicht klar zu Tage, wie auch die Dimensionen dieses kulturhistorischen Phänomens seitens der Kunstgeschichte noch nicht annähernd erkannt worden sind. Die Ursprünge der medialen Rochade zu erörtern ist hier nicht der Ort. Wie tiefgreifend Erklärungen sein könnten, lässt indes Carlo Severis Studie einer vergleichenden Anthropologie des Gedächtnisses erahnen, in der er nachzeichnet, wie die westliche Anthropologie des 19. Jahrhunderts durch die Beschäftigung mit sprachlich und vor allem bildlich (ikonografisch) verfassten Erinnerungskulturen das eigene Primat der Schriftkultur hinterfragt. Vgl. Severi 2018. Insbesondere für die Erforschung von bildenden Künstlern, die sich sowohl mit der Erinnerung wie auch mit außereuropäischen Kulturen beschäftigten – zuallererst wäre hier freilich an Paul Gauguin zu denken –, wäre nach der Bedeutung dieser historischen Anthropologien zu fragen. Gründet die künstlerische Beschäftigung mit Übersee auch in der Auseinandersetzung mit außereuropäischen Gedächtnis- und ergo Bildkonzepten  ? 47 Hülk 2007, S. 181.

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immer offen zu Tage liegende Zusammenspiel zwischen Kunst und Psychologie profund rekonstruiert.48 Die Umwälzung innerhalb der Theoretisierung der mémoire geht einher mit einer neuen Auffassung vom Subjekt. Ganz grundsätzlich scheint, wie Saporiti betont, die Erinnerung »[…] die Bedingung beinahe jeder anderen kognitiven Fähigkeit zu sein. Ohne die Fähigkeit, etwas im Gedächtnis zu behalten, könnten wir weder etwas lernen noch etwas erkennen. Wir könnten vom individuellen Sinneseindruck nicht abstrahieren und keine Begriffe bilden. Wir verfügten weder über Sprache noch über ein Bewusstsein unser selbst.«49 In der historischen Debatte tangiert sie Künstler vor allem deswegen, weil die Neuverhandlung der mémoire insbesondere auch ein neues Modell von imaginativen Prozessen bedingt, wie Sandra Janßen gezeigt hat.50 Umgekehrt sind die Künste von höchstem Interesse für die Psychologen. Künstler und Psychologen verbindet die von Hippolyte Taine formulierte Frage nach Formfindungsprozessen, nach »[…] la façon dont les figures se forment dans son [des Künstlers  ; M.G.] esprit, sa manière de voir mentalement les objets imaginaires, l’ordre dans lequel ils lui apparaissent, si c’est par saccades involontaires ou grâce à un procédé constant etc.«51 Entscheidend ist dabei weniger, dass der Diskurs zunehmend mit psychologischem Fachwissen imprägniert und angereichert wird, sondern dass diese Auffassung das Denken über menschliches Tun verändert. Die Debatten bewegen sich weg von einer transzendenten Verkoppelung (Romantik), weg von einer normativen Ausrichtung (Klassizismus) und hin zu einer Perspektive, die nach den Binnenstrukturen des Menschen fragt. Grundlegend wird das Verfahren der Introspektion, welche in der Tradition des Sensualismus den Fokus weg von metaphysischen oder idealistischen Denkmustern und hin zur Tätigkeit des menschlichen Bewusstseins verschiebt.52 Derart gerät zudem die Frage nach den Gefühlen und ihrem Zusammenhang mit der menschlichen Psyche und hier der Funktionsweise von Imagination und Erinnerung mit in den Fokus.53 Diesen ganzen Komplex nehmen die Künstler des 19. Jahrhunderts in den Blick, wie Patrizia Lombardo, ausgehend von Charles Baudelaire, feststellt  : »[…] there are writers and artists who, consciously or unconsciously, have a more compelling grasp of the complexities of emotions and the working of the mind […].«54 Die Relevanz der mémoire im gesellschaftlichen Diskurs sowie dessen Verstrebungen mit den Debatten über das Kreative und Künstlerische seien damit in Grundzügen skizzenhaft angedeutet. Neben den im Diskurs verhandelten Themen ist die Debatte insbesondere aufgrund der angesprochenen introspektiven Reflexionen, die um Empfindungen und Gefühle kreisen, für die Künstler anschlussfähig. Wie eingangs erwähnt, sind für Vuillard die Gefühle von Beginn an einer seiner Ausgangspunkte. Die Reflexion darüber 48 49 50 51 52 53 54

Vgl. Ryan 1991. Saporiti 2018, S. 30. Janßen 2002. Taine 1892, Bd. I, S. 14. Vgl. Lombardo 2014, S. 2. Vgl. dazu Lomardo 2014, S. 2. Lombardo 2014, S. 2.

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führt zum Nachdenken über den eigenen kreativen Prozess sowie über das Verhältnis von Wahrnehmung und Erinnerung und damit zwangsläufig hinein in die psychologischen Diskurse der Zeit, die sich mit ebenden gleichen Fragen beschäftigen. Wenngleich in dieser Arbeit, was die Auswirkung auf die bildende Kunst betrifft, der Fokus auf das Werk Édouard Vuillards sowie eine exemplarische Auswahl an Vorläufern gerichtet wird, sei darauf hingewiesen, dass all dies keine Einzelphänomene waren. In der Forschung sind Hinweise zu finden, dass zahlreiche Maler mit der mémoire experimentierten. So wissen wir durch die Arbeit von Michèle Hanoosh, dass bereits der eng mit Charles Baudelaire befreundete Eugène Delacroix mit der Erinnerung als schöpferi­schem Prinzip arbeitete.55 Ähnliches ist für Henri Fantin-Latour und James McNeill Whistler bekannt.56 Überraschend ist zudem, dass dies auch für Claude Monet zuzutreffen scheint. Ohne detailliert darauf eingehen zu können, darf konstatiert werden, dass dies besonders signifikant ist, da Monet, der ursprünglich Teil des die Erinnerung samt und sonders verdammenden Mythos des Impressionismus war, in späteren Arbeiten gerade die Erinnerung als zentrales Moment benennt.57 Bereits 1985 schreibt Gottfried Boehm, bei Monet werde entscheidend, »dass die innere Natur des Menschen von der Ansichtigkeit der äußeren Natur nicht länger abgehoben werden kann, dass sich im Strom der inneren Wahrnehmung eine Wirklichkeit aufbaut, die jenseits der alten Unterscheidung«58 von innen und außen gesehen wird. Monet male damit aus der »Erinnerungssicht«59. Barbara Wittmann hat sich mit großer Präzision erneut dem »temps retrouvé« bei Claude Monet gewidmet. Sie zitiert den Stiefsohn Monets, Jean-Pierre Hoschedé, der berichtet, Monet habe sich immer wieder ins Atelier zurückgezogen, um anhand von Erinnerungen »se retrouver face à face avec la même émotion, avec la même volonté de l’inscrire sur sa ­toile.«60 Komplementär zum Narrativ der Moderne, das ausgehend von den Impressionisten dazu neigt, die Erinnerung (und auch die Gefühle) abzuwerten, gibt es mithin eine Reihe von Hinweisen, die auf das genaue Gegenteil hindeuten.61 Auch weit ins 20. Jahrhundert hinein spielen Erinnerungen eine zentrale Rolle. Yves-Alain Bois stellt Henri Matisse etwa in 55 Vgl. Hanoosh 1995, S. 53 f. 56 Vgl. Hermens et al. 2009b  ; Chu 2011, S. 5–11. 57 Vgl. dazu Wittmann 2004 und auch die frühen Hinweise in diese Richtung bei Boehm 1985, S. 48. Mit dem Telos des von John Ruskin inspirierten »unschuldigen Auges«, das durch Jules Laforgue in eine rudimentäre Philosophie des »impressionistischen Sehens« überführt worden war, ging die Ablehnung der Erinnerung, verstanden als Quelle einer akademisch-traditionellen Verbildung des Auges, einher. Vgl. Shiff 1984, Isaacson 1994 und Lamer 2009. 58 Boehm 1985, S. 48. 59 Boehm 1985, S. 48. 60 Jean-Pierre Hoschedé, Claude Monet. Ce mal connu, Genf 1960, Bd. 1, S. 107–108  ; zit. nach Wittmann 2004, S. 222. 61 Von Henri Matisse zurückblickend schildert Isaacson die Verdammung der Erinnerung als Teil der Legitimationsstrategie der Impressionisten. Vgl. Isaacson 1994. Wie sehr dies eine bloße rhetorische Konstruktion im Sinne einer Mythologie der Avantgarde war, macht der Essay von Bois über Matisse deutlich, da Matisse darin gerade als Vertreter einer Malerei nach dem Gedächtnis geschildert wird. Vgl. Bois 1994, S. 78 ff. Erstaunlich ist ebenfalls bei der Lektüre der beiden Essays, dass

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einen Zusammenhang mit Proust  ;62 Joan Miró und Pablo Picasso wiederum beschreiben die Auseinandersetzung mit der mémoire als Teil ihres Schaffens.63 Bekannt ist für den deutschsprachigen Diskurs Aby Warburgs Mnemosyne-Projekt, das letztlich auch von der produktiven Verquickung von Erinnerung und Pathos ausgeht. Weniger bekannt sind weitere Vertreter einer Kunsttheorie der Erinnerung  ; etwa der österreichische Physiologe Sigmund Exner, der bereits 1882 die Hervorbringung und gelingende Rezeption von Kunstwerken auf eine kulturell fundierte, stimmungsgeleitete Ideenassoziation durch Erinnerungsbilder zurückführt.64 Die Debatten um die mémoire waren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mithin über Gattungen und Ländergrenzen hinweg im Gange und Vuillards Auseinandersetzung damit kein Einzelfall. Forschungsstand

In der allgemeinen Vuillard-Forschung gibt es cum grano salis zwei Richtungen. Jene, die das Dargestellte innerhalb einer im weitesten Sinne biografischen Interpretation verstehen, wonach die Gemälde »stories of his [Vuillards  ; M.G.] life, real dramas that affected him«65 erzählen. Und jene Mehrheit der Forschung, die dem Narrativ der klassischen Moderne entspricht, Vuillard sei Teil der Entwicklung hin zu einer vom Sujet unabhängigen Autonomie künstlerischer Mittel. In diesem Sinne ist die Ästhetik der Werke Vuillards verschiedentlich untersucht worden. Schweicher macht bereits 1949 den Versuch, eine formalästhetische Analyse jenseits von Biografie und Zeitgenossenschaft vorzulegen.66 Dabei stellt er das Dekorative und das Ornamentale ins Zentrum seiner Arbeit. Was die künstlerischen Kontexte und Einflüsse in formalästhetischer Hinsicht betrifft, sind sowohl die Japonismus-Forschung von Klaus Berger und Ursula Perucchi-Petri als auch jene zum Einfluss des Theaters auf Vuillard grundsätzlich von zentraler Bedeutung.67 Die japanische Grafik war für ihn nachweislich ein reicher Schatz an Vorbildern einer komplett flächigen

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beide für die jeweils konträre Position den Poeten Stéphane Mallarmé ins Feld führen. Ähnliches ist für Cézanne beobachtbar. Vgl. Bois 1994, S. 78  ; eine andere Perspektive auf die Rolle der mémoire bei Matisse schlägt Elderfield vor  ; vgl. Elderfield 1998, S. 46–48. Vgl. zu Miró Mink 2016, S. 10. Vgl. Weigel 2007, S. 259–262  ; Exner erklärt die Möglichkeit, dass Bilder fliegender Gestalten, von Engeln etwa, plausibel und nicht absurd irreal wirken, mit der »psychischen Plausibilität der Figuren für den Betrachter, in dem durch die Bilder eigene Gedächtnisbilder oder Ideenassoziationen wachgerufen würden« (Weigel 2007, S. 260). Dies basiere auf einem kulturellen »Gedächtnisschatz, nicht nur von Thatsachen sondern, was viel mehr in’s Gewicht fällt, von Stimmungen« (Exner 1882, S. 15). Damit erkläre sich, dass Kunstrezeption immer auch kulturell und historisch begründet ist  : Einem antiken Griechen fehlt der entsprechende Gedächtnisschatz im obigen Sinne. Weigel sieht hierin zu Recht eine Verbindung mit Warburgs Pathosformel  ; vgl. Weigel 2007, S. 261 f. Salomon et al. 2003, Bd. I, S. IX. Schweicher 1949. Berger 1980  ; Perucchi-Petri 1976 und 1993.

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Bildanlage. Die Zusammenarbeit mit dem symbolistischen, sogenannten Intimen Theater und dessen Einfluss auf die Malerei Vuillards wiederum wurde grundlegend von George Mauner erarbeitet und ist vielfältig von der Forschung fortgeführt worden.68 Hervorzuheben sind dabei die Arbeiten von Guy Cogeval, der weiteres biografisches Quellenmaterial ergänzen konnte.69 Mireille Losco-Lena legte eine Rekonstruktion der ästhetischen Strategie des Theaters vor, die zeigt, wie diese darauf abzielte, mittels die Sinne verwirrender und abstrahierender Effekte eine diffuse Stimmungshaftigkeit zu evozieren.70 Auch Susan Sidlauskas und Katherine M. Kuenzli führten die vergleichende Betrachtung von Theater und der Malerei Vuillards fort. Sidlauskas bezieht dabei insbesondere die in den Dramen dominanten Konzepte des Häuslichen und Innerlichen auf Vuillards Gemälde.71 Ausgehend von der Verbindung zum Theater hat Katherine M. Kuenzli den komplexen Versuch unternommen, nicht nur Kunst im privaten Raum neu zu vermessen, sondern dies zudem mit einer dem Wagner’schen Gesamtkunstwerk entlehnten Ästhetik zu korrelieren.72 Ihre Absicht ist vor allem zu zeigen, dass die spezifische Umwandlung der dekorativen Malerei in eine private Malerei nicht pejorativ als Rückzug und Subjektivismus gedeutet werden dürfe, sondern darin vielmehr der Ursprung einer jenseits überkommener Moderne-Narrative zu verortenden modernen Kunst zu sehen sei. Was die auffällige, eingangs beschriebene visuelle Verunklärung im Werk Vuillards betrifft, sind vor allem die Arbeiten von Dario Gamboni zu nennen.73 Er sieht das Spiel mit mehrdeutigen Formen als überhistorische Konstante der Kunst, wobei er unter dem Stichwort der »Suggestion« einen gewissen Schwerpunkt in der sogenannten Moderne und auch bei Vuillard identifiziert.74 Vuillards Werke seien insofern von den Erkenntnissen über Sehen, Wahrnehmen und Imagination geprägt, als die Gemälde überkommenen Erwartungen an eine eindeutige Form bzw. Gestalt entgegenträten. Stattdessen böten sie etwa an Vexierbilder angelehnte Infragestellungen der Wahrnehmung und erzeugten derart ein Gefühl spannungsvoller Irritation.75 Gamboni hebt darauf ab, dass insbesondere Formen der Ambiguität den Künstlern epochenübergreifend dazu gedient haben, die konstruktivistische Natur des Sehens zu reflektieren.76 Es stellt sich indes die Frage, ob der Ansatz Gambonis die Ästhetik Vuillards vollständig erfasst. Denn zentral und von Gamboni weitgehend vernachlässigt ist die Dimension der Gefühlsdichte, die auch von den Zeitgenossen immer wieder in Anschlag gebracht wird. Handelt es sich stets nur um 68 69 70 71 72 73 74 75 76

Mauner 1971 und 1978. Cogeval 2005 und 2010. Losco-Lena 2010. Sidlauskas 1989, 1996 und 2000. Kuenzli 2010a und 2010b. Vgl. Gamboni 2000, 2002 und 2003a. Vgl. Gamboni 2002. Vgl. Gamboni 2002, S. 100–104 und 2003a. Vgl. zum Begriff der Ambiguität Krieger, die zu Recht betont, dass auch dieses Werkzeug der substantiellen Historisierung bedarf, die die Ambiguität selbst historisiert und zum Reflexionsgegenstand macht. Krieger 2007, S. 88.

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das Gefühl visueller Verwirrung oder sind der Malerei Vuillards nicht facettenreichere Gefühlsdimensionen inhärent  ? Zudem bleibt die Frage, mit welcher ästhetischen Strategie Vuillard zu diesen Bildern kommt. Diese Frage zielt nicht nur auf mögliche Vorbilder oder Anregungen ab, sondern auf den diskursiven Kontext, der ebendiese Fragen verhandelt. Wie entstehen Bilder, die von Zeitgenossen als ästhetisch gleichermaßen intensiv wie irritierend vage empfunden worden sind  ? Welcher visuellen Kultur, welchem historischen Konzept von Imagination, Wiedererkennen und Erinnerung entspringt dies  ?77 Gewinnbringende Impulse zu einer Historisierung der emotionalen Valenzen im Werk Vuillards gehen grundsätzlich von der bereits genannten Forschung zum symbolistischen bzw. Intimen Theater aus. Indes wird vom symbolistischen Theater eher das eingeschränkte Gefühlsspektrum des Unheimlichen und Unheilvollen vermessen, weswegen dieser Ansatz unbestritten gehaltvoll ist, jedoch spätestens dort seine Grenzen findet, wo die Werke Vuillards anders gelagerte Atmosphären und Gefühle verhandeln.78 Ein Ansatz, der nach einem Erklärungsmodell für die stimmungsvolle Malerei Vuillards jenseits des Intimen Theaters sucht, ist von Merel van Tilburg eingebracht worden.79 Als ästhetische Inspiration für Vuillard bringt sie den synthétisme Paul Gauguins ins Spiel, ebenso das Prinzip der Arabeske und der papillotage des Rokoko.80 Vuillard setze dies als malerisches Mittel ein, um den Effekt einer bestimmten Art der stimmungshaften Wahrnehmung des Malers wiedergeben zu können.81 Man folgt diesem Ansatz gerne, jedoch fehlt ihm der größere diskursive Rahmen. Aus welchem Diskurs heraus wählt Vuillard sein Ziel und seine Mittel  ? Van Tilburg bietet hier zwar eine Antwort an – sie beruft sich auf Alois Riegls Aufsatz Die Stimmung als Inhalt der modernen Kunst von 1899, der seinerseits einen Zusammenhang zwischen einer bestimmten Form von Wahrnehmung und Stimmungshaftigkeit erörtert82 –, diese ist aber eher als Parallelphänomenen zu Vuillard zu verstehen und weniger als Erklärung. Hier wäre vielmehr der Blick auf Kontexte um 1890 und Traditionen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts notwendig, der das Thema der mémoire perspektiveren müsste. Ebendies, die Behandlung der mémoire durch die Forschung zu Vuillard, hat sich lange Zeit in sehr allgemeinen Anmerkungen erschöpft, bevor jüngst erste Ansätze einer Historisierung erfolgten. Die Rolle der mémoire wurde stets nur genannt oder angerissen, aber kaum in der notwendigen Weise ausgeführt. Immer wieder liest man, dass Vuillard mit der Erinnerung experimentiert habe, jedoch ohne zu erfahren, was es damit auf sich hat.83 Zurück geht dies auf den Kunstkritiker Claude Roger-Marx, der schon früh die Bedeutung 77 Gamboni reißt diese Fragen zwar an, sie sind indes nicht sein Fokus  ; vgl. Gamboni 2003a, S. 407 und 413. 78 Vgl. Mauner 1978  ; Aitken 1993  ; Akat. Theater, Paris 2005  ; Cogeval 2005 und 2010  ; Krämer 2007  ; Losco-Lena 2010. 79 Van Tilburg 2010. 80 Vgl. van Tilburg 2010, S. 189 f. 81 Vgl. van Tilburg 2010, S. 187 und 189. 82 Vgl. van Tilburg 2010, S. 179 f. und Riegl 1996. 83 Vgl. etwa Schweicher 1949, S. 88  ; Perucchi-Petri 1976, S. 140  ; Berger 1980, S. 219  ; Gamboni 2003,

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der mémoire für Vuillard gesehen hat.84 Roger-Marx kannte Vuillard persönlich und war ihm freundschaftlich verbunden, weswegen seine Arbeit mit der notwendigen Distanz als ein Hybrid aus Forschung und historischer Quelle zu verstehen ist. Es ist vermutlich nicht zuletzt dieser Janusköpfigkeit geschuldet, dass Roger-Marx der mémoire ein ganzes Kapitel (»La mémoire visuelle«) widmet, das Phänomen dann aber, seiner Zeitgenossenschaft geschuldet, nicht präzise historisierend in den Blick nimmt. Dabei leitet er sein Verständnis der mémoire visuelle von zwei Polen her  ; einerseits von der idealistischen Tradition eines Nicolas Poussin und eines Jean-Auguste-Dominique Ingres, die ebenfalls nicht vor dem Modell und also aus dem Gedächtnis gearbeitet hätten, und andererseits von der mit Horace Lecoq de Boisbaudran verbundenen Lehre, die die Schulung des visuellen Gedächtnisses als Grundlage der Malerei sieht. Beides läuft auf das Gleiche hinaus  : Der Maler nutzt seine Erinnerung als Fundus für Formen, Farben und Relationen, auf deren Basis er dann fein ponderierte Kompositionen hervorbringen kann. Hiervon abgesetzt (und deutlich abwertend) sieht Roger-Marx diejenigen Maler, die impulsiv und ohne Konzept (im Stile der Impressio­ nisten, muss man wohl hinzufügen) arbeiten. So gesehen lassen sich aber nur schwer die ästhetischen Besonderheiten Vuillards erklären, denn wenn er auch nicht impressionistisch arbeitet, so sind seine Werke doch kaum mit jenen Poussins oder Ingres’ zu vergleichen. Oder anders formuliert, wenn dieses Verständnis von mémoire richtig wäre, so wäre es offenbar zur Analyse der verschiedenen Ästhetiken, von Ingres bis Vuillard, kaum geeignet. Das muss auch Roger-Marx geahnt haben, sodass er beiläufig Anmerkungen einfügt, die die besondere Gedächtnistätigkeit Vuillards suggerieren sollen. Vuillard habe die Farbakkorde seiner Werke »[…] retrouvés, recréés, dans les laboratoires actifs du souvenir où le réel se décante, où la sensation s’épure, où l’imitation, au lieu de s’épuiser à rivaliser avec l’objet, n’est que la traduction d’une vérité transposée.«85 Zweifelsohne handelt es sich hierbei um gleichermaßen idealistische (vérité) wie genieästhetische Argumente, die zu wenig zur historischen Kontextualisierung der Wechselwirkung zwischen mémoire und Malerei beitragen. Ab den 1990ern nahm die Vuillard-Forschung die Impulse, die Roger-Marx gesetzt hatte, auf und ging erste Schritte hin zu einer Historisierung der mémoire. Anne Dumas bringt Vuillard über das tertium comparationis der Erinnerung mit Henri Bergson und Marcel Proust in Verbindung. Die Erinnerung sei es, die unbewusst Wahrgenommenes strukturiert.86 Wie dies aber im Einzelnen vorzustellen wäre und inwiefern in diesem Kontext tatsächlich nur Bergson von Relevanz ist, wird nicht genauer ausgeführt. Auch Sandrine Nicollier87 greift das Thema auf und versucht kursorisch Zusammenhänge zwischen Vuillard, Henri Bergson und Marcel Proust zu identifizieren. Dabei bezieht sie

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S. 407  ; Perucchi-Petri 2008, S. 66  ; Akat. Vuillard, Winterthur 2014, S. 29. Ähnliches gilt für den ebenfalls zu den Nabis gehörenden Pierre Bonnard  ; vgl. dazu Elderfield 1998, S. 50, Fn. 33. Vgl. Roger-Marx 1945  ; es verwundert – nebenbei bemerkt – nicht, dass Roger-Marx auch über den von Baudelaire als Mnemotechniker so geschätzten Constantin Guys arbeitete, vgl. Roger-Marx 1949. Roger-Marx 1945, S. 176. Dumas 1990, S. 60–62. Nicollier 2000, S. 68.

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sich jedoch überwiegend auf Vuillards Werke nach 1900, die mithin parallel zu Prousts Roman À la recherche du temps perdu entstanden sind.88 Diese Engführung mit Proust führt zu zwei Missverständnissen. Zunächst steht, abgeleitet von Prousts Recherche, die mémoire involontaire im Zentrum und hier die Frage nach der Möglichkeit der bewussten Regulation einer spezifischen Erinnerungsform. Weiterhin wird die mémoire als ästhetische Strategie nur für den Zeitraum befragt, während dessen sie auch ihren Niederschlag in Prousts Recherche hat, also erst im 20. Jahrhundert. Die Autorin verkennt indes, dass die mémoire (auch für Proust)89 eine lange Vorgeschichte hat, für die unter anderem Baudelaire und die psychologischen Theorien ab 1870 maßgeblich sind. Wenn Vuillard also bereits 1890 über das Malen nach der mémoire nachdenkt, ist es sinnvoll, dieses Phänomen auch für diesen Zeitraum zu untersuchen. Die Frage nach der willentlichen Kontrollierbarkeit der sinnlich-affektiven Erinnerung – das Spezifikum der mémoire involontaire ist, dass sie nur unwillentlich in Kraft tritt – war wiederum nur einer unter vielen verhandelten Aspekten. Und wenig spricht dafür, dass dieser spezifische Aspekt für Vuillard relevant war. Vielmehr gilt es, in Bezug auf Vuillard die Facetten des Mémoire-Diskurses unabhängig vom Spezialfall der mémoire involontaire in den Blick zu nehmen. Zuletzt hat Cogeval erste Schritte in die ebenfalls von mir anvisierte Richtung getan und auch vereinzelt Werke der 1890er Jahre unter dem Stichwort der mémoire angeführt.90 Ebenso wie Nicollier macht aber auch er nur vage Andeutungen, in die nur Henri Bergsons Matière et mémoire (1896) einbezogen wird. Dabei liegt es nahe, dass auch Matière et mémoire nicht isoliert entstanden ist, sondern als Teil einer komplexen, vielstimmigen kulturhistorischen Verhandlung. Auch die Kunstgeschichte jenseits der Vuillard-Forschung ist dem Komplex der mémoire erstaunlich ferngeblieben. Eine Thematisierung der Erinnerung findet sich vornehmlich in Forschungen zur frühen Neuzeit, die sich im Rahmen von rhetorischen Erinnerungstheorien bewegen oder das Feld der politischen und herrschaftlichen, seltener auch der persönlichen Memorialkultur vermessen, etwa in dem ikonologischen Standardwerk Gedächtnis und Erinnern aus dem Jahr 1966 von Frances A. Yates.91 Es fällt auf, dass die Kunstgeschichte just bezüglich des Untersuchungszeitraums, für den die anderen Diszi­ plinen die Erinnerung intensiv befragen – nach dem Ende der Neuzeit –, das Interesse an der Erinnerung weitgehend verliert. Allein der Strang der (kollektiven) Memorialkultur, etwa des Denkmalwesens, der Denkmalpflege, und die Erforschungen des Historismus sind etabliert. Vor allem jene Dimensionen, die das Phänomen der Erinnerung für die Literatur so attraktiv gemacht haben, wurden kaum in einem möglichen Analogieschluss in der bildenden Kunst gesucht  ; gemeint sind historische Debatten über die poetische, kreative, 88 Ähnlich stellt es Monery dar  ; vgl. Monery 2000. 89 Proust beschäftigte sich spätestens ab Jean Santeuil (1895) mit der mémoire. Vgl. Ryan 1991, S. 173 f. 90 Cogeval 2003a, S. 54 f. Dumas folgend greift er das Thema dann für das spätere Werk Vuillards nochmals auf  ; vgl. Cogeval 2003a, S. 94–97. 91 Yates 1990.

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schöpferische Dimension der Erinnerung sowie deren besondere Beziehung zu dem, was wir Wirklichkeit nennen, ihr Verhältnis zu ästhetischen und anderen (möglicherweise) epistemischen Systemen, weiterhin ihre Rolle in der Verfasstheit menschlicher Subjektivität und Imagination. Welche formbildenden Strukturen gehen mit ihr einher, welche Bildprozesse, welche Auswahlmechanismen, welche Gewichtungskriterien, welche Inhalte  ? Kurzum, welche ästhetische Strategie lässt sich an der Erinnerung beobachten und fruchtbar machen  ? Bereits der antike Hesiod wusste beredt davon zu künden, dass die Mnemosyne ununterscheidbar die Kunst und die Erinnerung umfasst.92 All diese Fragen stellen sich nicht, wenn man für Gedächtnis und Erinnerung ein einfaches kopierendes und speicherndes Modell annimmt. Ein solches ist unter anderem bereits im Kunstdiskurs Ende des 19. Jahrhunderts in Anschlag gebracht worden. Allerdings in polemischer Manier mit der Funktion, das impressionistische Sehen argumentativ hervorzubringen, zu legitimieren und als Befreiung von Tradition und überkommenen Dogmen zu inthronisieren.93 Hat die Kunstgeschichte dies möglicherweise zu wörtlich genommen und damit übersehen, dass in der Malerei sehr wohl auch im 19. ­Jahrhundert und danach mit der Erinnerung gearbeitet worden ist  ? Auch die Frage Gottfried Boehms, ob die Erinnerung nicht eine notwendige Kategorie bildkünstlerischer Arbeit und mithin der Kunstgeschichte sei, verhallte weitgehend unbeantwortet.94 Patrick H. Hutton stellte immerhin früh die Verbindung zwischen Erinnerung und Kunst her  ; dabei verfolgt er die Frage nach der Korrespondenz zwischen Memoria in der rhetorischen Tradition und der Erinnerung als romantischer Technik der Erkundung von Innerlichkeit, welche in der Psychoanalyse kulminiere. Da er von der romantischen Autobiografie als »saga of emotio­ nal discovery«95 indes direkt zur Psychoanalyse Freuds springt, bleibt das hier in Rede stehende Zeitintervall unthematisiert. Zwar erschienen 1991 und 1993 die von Anselm Haverkamp und Renate Lachmann verantworteten Bände Gedächtniskunst. Raum – Bild – Schrift. Studien zur Mnemotechnik und Memoria. Vergessen und Erinnern, doch ohne dass beide – und ebenso wenig das Jahresthema »Memory« 1994/95 am Getty Institute for the History of Art and the Humanities – zu einer Aufnahme des Themas in die Erforschung der französischen Malerei um die Jahrhundertwende geführt hätten.96 Auch der 2017 erschienene Band Wahrnehmen, Speichern, Erinnern, herausgegeben von Bettina Gockel und Miriam Volmert, beschäftigt sich nun zwar erfreulicherweise mit memorialen Praktiken und Theorien in den Bildkünsten, jedoch nur bis 1850. Tatsache ist indes, dass man vielerorts Hinweise und Belege dafür findet, wie präsent diese Praktiken auch nach 1850 nicht nur in der Literatur, sondern auch in der bildenden Kunst waren und sind. 92 Vgl. Boehm 1985, S. 37, zur antiken Tradition der Mnemonik vgl. Yates 1990, S. 11–53. 93 Ein Beispiel hierfür ist die programmatische Schrift von Jules Laforgue, L’Impressionisme, in der er ein œil naturel fordert, welches frei von Erinnerungsspuren sein solle. Laforgue arbeitet spätestens ab 1881 an seinem Text  ; vgl. Laforgue 2000b. Für eine Rekonstruktion der Debatte um das von Erinnerungen freie und unschuldige Auge bei den Impressionisten vgl. Isaacson 1994. 94 Vgl. Boehm 1985, S. 37. 95 Hutton 1987, S. 384. 96 Vgl. https://www.getty.edu/research/scholars/years/1994-1995.html [letzter Zugriff  : 01.02.2020].

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Eine kunsthistorische Arbeit, die die mémoire im gesamten 19. Jahrhundert in den Blick nimmt, gibt es also bislang nicht. Vorherrschend sind Beiträge, die die mémoire als Teil der Romantik bzw. des Idealismus sehen. Claudia Denk kommt das Verdienst zu, Jean-Baptiste Camille Corots Spätwerk unter kurzem Verweis auf Baudelaire und die Malereitraktate des 18. Jahrhunderts als »malerische Analogie zum Akt des Erinnerns«97 gedeutet und damit an die romantische Gedächtniskunst von Gérard de Nerval zurückgebunden zu haben. In einem close reading von Corots Souvenir de Mortefontaine (1864) betont sie neben knappen Verweisen auf die Ästhetik vor allem die Erinnerung an andere Kunstwerke als interpiktorale Referenzen, die in Corots Werk aufblitzen und es zu einer Gedächtniskunst machen. Gemeinsam mit Vincent Pomarèdes Forschung zum souvenir bei Corot relativiert sie so die Überbetonung der als Vorläuferschaft zur Schule von Barbizon gewerteten Plein-air-Malerei in Corots Werk.98 Ebenso wie Pomarède, der bei Corot das idealistische Erbe betont, richtet Denk damit aber überwiegend den Blick zurück und übersieht, dass bereits bei Charles Baudelaire nicht mehr nur die Romantik Stichwortgeber ist, sondern vielmehr die in die Moderne vorausweisende introspektive individualpsychologische Befragung des kreativen Prozesses. Erst dadurch aber wird Corot als Teil einer Tradition erkennbar, die bis ins 20. Jahrhundert reicht und in deren Zentrum die Reflexion über die Erinnerung als Basis einer ästhetischen Strategie steht, die auch den Ausgangspunkt dieser Arbeit bildet.99 Die mémoire in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, im Sinne Hülks verstanden als zentrales bis ins 20. Jahrhundert reichendes Dispositiv, hat bisher in ersten Schritten nur durch Petra ten-Doesschate Chu Beachtung gefunden. In ihrer frühen Arbeit stellt sie den Kunstlehrer und Theoretiker Horace Lecoq de Boisbaudran und seine Arbeiten zur mémoire pittoresque (publiziert zwischen 1848 und 1876) in den Fokus.100 Wie Chu zeigen kann, führte unter anderem die von Boisbaudran vertretene Schulung des visuellen Gedächtnisses im Rahmen der Künstlerausbildung zur Befreiung vom musealen Kanon und in der Folge zur Aufwertung von Subjektivität und, wie Sidlauskas ergänzend betont, von Gefühl.101 Erma Hermens und Margaret F. MacDonald wiederum haben darauf hingewiesen, dass der Einfluss Boisbaudrans bis nach England zu dem Maler James McNeill Whistler nachweisbar ist.102 Thielemans legt mit ihrer nicht publizierten Arbeit den Versuch vor, Boisbaudran mit Charles Baudelaire und Hippolyte Taine zu kontextualisieren, um daran anschließend das Werk Édouard Manets zu befragen.103 Damit greift sie erweiternd eine Fragestellung ihres Doktorvaters Michael Fried auf, der ebenfalls Manet und dessen Bildergedächtnis alter

 97 Denk 2007, S. 17.  98 Pomarède 1998, 2005, 2010.  99 Die neuere Corot-Forschung hat das von Denk und Pomarède etablierte Thema der Erinnerung auf­gegriffen  ; vgl. Akat. Corot, Karlsruhe 2012. 100 Chu 1982. 101 Sidlauskas 1989 und 2000. 102 Hermens et al. 2009b. 103 Thielemans 2000.

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Meister ins Zentrum eines Essays stellte.104 Beide fokussieren den Zeitraum zwischen 1850 und 1860 und zielen auf die Frage nach Manets Umgang mit der kunsthistorischen Tradition. Zu Recht stellt Thielemans im Fazit ihrer Arbeit die Frage, inwiefern die regelrechte Verdammung der mémoire als Mittel der Malerei ab ca. 1870 durch die Impressionisten zugunsten des reinen bzw. unschuldigen Sehens wörtlich zu nehmen ist oder ob die mémoire nicht auch nach 1870 weiterhin von Bedeutung sei.105 Dass der Blick alleine auf Boisbaudran nicht genügt, sondern die mémoire in der gesamten zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von Relevanz ist, wurde auch von Chu erkannt. Sie legte 2011 eine entsprechende Studie nach.106 Darin rekonstruiert sie die Grundzüge der kunsttheoretischen Debatte zur mémoire. Erhellend in Chus Ausführungen ist, wie kontrovers ab 1860 um dieses Thema gerungen wurde. Befürworter lobten die mémoire als Mittel höchsten Realismus, aber auch als prädestiniert für bewegliche und flüchtige Phänomene, als Motor der Synthese oder Quelle der Imagination. Gegner wiederum ziehen sie der Detailversessenheit und als Ursprung unkreativer Habitualisierung, die das offene Sehen versperre. Dieser Rekonstruktion legt Chu allerdings nur Boisbaudran und Baudelaire zugrunde, was zu gewissen Verzerrungen führt. Corot etwa oder das Gefühlsmäßige, auf das Sidlauskas verwiesen hatte, werden von ihr nicht verhandelt, und die psychologischen Debatten finden nur am Rande Erwähnung  ; Künstler des fin de siècle, die mit der mémoire experimentierten (die Nabis oder Vuillard) werden nur per Fußnote vermerkt. Kerstin Thomas kommt das Verdienst zu, auf das in der Kunstgeschichte noch unerforschte Phänomen der mémoire afféctive hingewiesen zu haben und hier insbesondere auf die psychologische Theoriebildung durch Taine und Ribot.107 Jüngst wurde die mémoire in der Ausstellung Pierre Bonnard – The Colosur of Memory immerhin prominent auf den eng mit Vuillard befreundeten Maler Bonnard bezogen. Indes dient die Erinnerung hier überwiegend als Stichwortgeber.108 Die Ausstellungsmacher stützen sich dabei insbesondere auf den Essay von John Elderfield, Seeing Bonnard, von 1998, in dem dieser den Versuch unternommen hatte, die ästhetische Reflexion des Zusammenspiels von Kreation und Wahrnehmung in Bonnards Kunstwerken neu zu konzeptualisieren.109 Auch die Erinnerung spielt hier eine Rolle, indes hat die Forschung sie bislang nur in Zusammenhang mit Bonnards Werk ab 1912 diskutiert,110 in Bonnards Tagebüchern finden sich Verweise darauf erst ab den 1920er Jahren.111 Die bisherige Forschung eint, dass sie das Phänomen der Erinnerung punktuell bemerkt, jedoch nicht hinreichend im kulturhistorischen Diskurs kontextualisiert, weswegen ihr entgeht, dass das Thema bereits Ende des 19. Jahrhunderts Wirkung entfaltet 104 Fried 1984. 105 Thielemans 2000, S. 170 f. 106 Chu 2011. 107 Thomas 2010b, S. 152. 108 Akat. Bonnard, London/Kopenhagen/Wien 2019. 109 Vgl. Elderfield 1998. 110 Die zentralen Arbeiten zu diesem Thema in Bezug auf Bonnard sind  : Clair 1984, Elderfield 1998 und Bois 2006. 111 Terrasse 2002.

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und etwa Boisbaudrans Lehre oder Corots Werk Teil eines umfassenden »Gedächtnisbooms«112 sind. Methode und Aufbau der Arbeit

Um die historischen Debatten um die mémoire und deren Zusammenhang mit der Malerei Vuillards in den Blick nehmen zu können, ziehe ich den methodischen Ansatz der historischen Diskursanalyse und damit verbunden der Metaphorologie heran. Dem liegt in der Tradition Michel Foucaults die Annahme zugrunde, dass Diskurse Wirklichkeit hervorbringen. Diskurse bilden nicht ab, sondern sind ihrerseits realitätsstiftend.113 Ihre Analyse lässt historische Denkmuster und Normen deutlich werden und deren je ­spezifische Ausformulierung in den unterschiedlichen Medien (hier  : Text/Bild) und Kontexten (hier  : Psychologie/Kunst). Medien, Kontexte und Akteure sind dabei nicht getrennt voneinander zu denken, sondern, wie unter anderem Richard Terdiman in Bezug auf den Mémoire-Diskurs betont hat, Teile eines kulturellen Gewebes. Zwischen Individuum und Kollektiv herrscht ein dialektischer Austauschprozess, in dem der kollektive Diskurs nicht die Quelle, sondern die Kondition ist, die individuelle Ideen und Texte ermöglicht.114 Für die hier in Rede stehende Zeit ist zudem entscheidend, dass die Annahme von Hierarchien des Wissens – in diesem Fall zwischen Wissenschaft und Kunst – irreführend ist, wie Martin Urmann in seiner Studie zum »gestimmten Wissen« gezeigt hat. Stattdessen plädiert er dafür, »die Genese von Wissen als einen prinzipiell offenen Aushandlungsprozess zwischen unterschiedlichen kulturellen Reflexionssystemen zu beschreiben.«115 Vielmehr stellt sich die Frage nach der »Spezifik der Übersetzungsleistung zwischen wissenschaftlichem und ästhetischem Denken«, welche beide vor demselben »grundsätzlichen [diskursiven  ; M.G.] Problemzusammenhang« agieren.116 Was für die Produktion unterschiedlichen Wissens durch Kunst und Wissenschaft gilt, trifft auch für den Status der Bilder innerhalb eines herkömmlicherweise (und vielerorts immer noch) sprachlich respektive begrifflich gedachten historischen Diskurses zu.117 Denn wie es in Bezug auf das Zusammenspiel zwischen Kunst und Wissenschaft notwendig ist, deren unterschiedliche »kulturelle Reflexionssysteme« mit zu bedenken, so ist 112 Hülk 2007, S. 172. 113 Vgl. Foucault 2003  ; vgl. dazu Landwehr 2009 und zu einer kritischen Diskussion der etablierten kunsthistorischen Methoden und der Gründe, die für eine Beschäftigung mit der Diskursanalyse sprechen, vgl. Kurth 2010, S. 164–167. 114 Vgl. Terdiman 1993, S. 190 f. 115 Urmann 2008, S. 252 f. 116 Urmann 2008, S. 252 f. 117 Wenngleich sie einen völlig anderen Untersuchungsgegenstand verhandelt, verdanke ich zahlreiche Anregungen zu den folgenden Gedanken über den Status von Bildern im Diskurs der Studie zum Sicht- und Unsichtbaren in der holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts von Daniela Hammer-­ Tugendhat. Vgl. Hammer-Tugendhat 2009.

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es ebenso geboten, die unterschiedlichen medialen Systeme zu beachten. Das heißt, Bild und Text sind gleichwertige Bestandteile des Diskurses.118 Der Text ist dabei dem Bild nicht vorgängig, sondern beide sind vielmehr mediale Symbolsysteme, die Wirklichkeit nicht repräsentieren, sondern überhaupt erst hervorbringen. Es gibt kein »prämediales Denken«, welches dann in Text oder Bild oder in einem anderen Medium ausgedrückt werden würde, sondern Bedeutung, Sinn oder Inhalt existiert überhaupt nur in einer je medialen Beugung.119 Anstatt einzelne Medien höher oder niedriger einzustufen, ist die Herausforderung vielmehr, die jeweilige Medienspezifik zu beachten. Textanalyse und Bildanalyse werden in der Arbeit mithin gleichermaßen ihren Ort finden. Dass in vorliegender Arbeit die Textanalyse der Bildanalyse vorausgeht, hat zunächst chronologische Gründe, zudem bieten die Texte die historisch validen Begriffe, mittels derer dann der eigenwertige Beitrag der Kunstwerke vermessen werden kann. Innerhalb dieses Unterfangens ist die Betrachtung der Metaphern in zweifacher Hinsicht bedeutsam. Walburga Hülk und mit ihr Aleida Assmann, Douwe Draaisma, Henry L. Roediger, Harald Weinrich und Nicolas de Warren haben betont, dass speziell im historischen Diskurs über die mémoire den Sprachbildern eine besonders prominente Rolle zukommmt.120 Warren erklärt  : This conceptual transformation [der Erinnerung  ; M.G.] must also be seen in relation to a widespread reevaluation of traditional metaphors for memory, either through the recalibration of a metaphor’s meaning or the displacement of an entrenched metaphor by a newly invented metaphor, most often inspired by contemporary technological inventions. Concepts of memory are inseparable from metaphors of memory.121

Aleida Assmann geht über diese Einschätzung hinaus, wenn sie schreibt  : Wer über Erinnerung spricht, kommt dabei nicht ohne Metaphern aus. Das gilt nicht nur für literarische oder vorwissenschaftliche Reflexionen. Auch in der Wissenschaft geht jede neue Gedächtnis-Theorie meist mit einer neuen Bildlichkeit einher. Das Phänomen Erinnerung verschließt sich offensichtlich direkter Beschreibung und drängt in die Metaphorik. […] Die Frage nach den Gedächtnis-Bildern wird damit zugleich zur Frage nach unterschiedlichen Gedächtnismodellen, ihren Kontexte, Bedürfnissen, Sinnfigurationen.122

118 Vgl. dazu Landwehr 2009, S. 56–59. 119 Vgl. dazu auch Jäger 2008, S. 46 f. und Jäger 2002. 120 Vgl. Hülk 2007, 170  ; Weinrich 1964, Roediger 1980, Assmann 1991, Draaisma 1999, Warren 2015. Zu einer kritischen Betrachtung der Metaphern bei Taine vgl. Guthmüller 2007, S. 91–95. 121 Warren 2015, S. 229. 122 Assmann 1991, S. 13.

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Naheliegend ist es damit, sich bei der Untersuchung des Mémoire-Diskurses auf die Metaphorologie Hans Blumenbergs zu berufen.123 Ralf Konersmann erörtert als deren methodische Grundüberlegung, dass die Metapher ein Bild sei, das als »funktionale Entsprechung einer visualisierten Struktur«124 diene. Notwendig sei die Metapher, so Konersmann, also immer dort, wo Neuland betreten werde, und zwar als Orientierungswissen.125 Gekennzeichnet sei sie dadurch, dass sie keine begrifflich-präzise Logik etabliere, sondern eine jeweils kulturhistorisch verankerte bildliche Assoziationslogik. Ja, Letztere sei sogar im Hinblick auf Erstere »transformationsresistent«126. Man kann also folgern, dass das »Wissen, das Metaphern vermitteln, das Ergebnis einer kulturellen Praxis sprachbildinduzierten Weltverstehens [ist].«127 Blumenberg bringt diesen Gedanken in seinen späteren Schriften radikal auf den Punkt, indem er das Wissen von Metaphern, in dem sich »der Geist in seinen Bildern selbst voraus ist«128, als »authentische Leistung«129, als eigenständige Episteme versteht. Warren erkennt in den Metaphern für die mémoire sogar absolute Metaphern, in Blumenbergs Sinn, als Metaphern, die per se nicht sprachlich-begrifflich auflösbar sind, sondern stets nur von neuen Metaphern abgelöst werden können. Begründet ist dies in der komplexen diskursiven Verflechtung mit der mémoire, die nur in der medialen Komplexität, Kompaktheit, assoziativen Anschlussfähigkeit des Sprachbildes erfasst werden könne.130 Hinzu kommt, dass die Untersuchung der Metaphern insbesondere um 1900 auch historisch geboten ist. Denn signifikanterweise war man sich gerade um die Jahrhundertwende genau dieses Phänomens, des immensen Gehalts, den Bilder und Sprachbilder (Metaphern) bergen, bewusst. So schrieb etwa Otto Neurath 1915 im Rahmen der Wissenschaftsgeschichte der Physik  : Man muss sich darüber klar werden suchen, wie weit bei einer physikalischen Theorie die jeweils verwendeten Bilder von Bedeutung sind, wie weit dagegen jene Merkmale der Theorie, die bei der Darstellung und Erklärung wirklich eine Rolle spielen. Vielleicht können gewisse Entwicklungen der Physik nur dann verstanden werden, wenn man die Bilder und Bildchen ins Auge fasst, welche die einzelnen Forscher sich machten […].131

Wie zu zeigen sein wird, findet bei Hippolyte Taine in dessen psychologischem Grundlagenwerk De l’Intelligence (1870) eine enorme Aufwertung des image als psychischer Grundkategorie statt. Zudem verhandelte er selbst stellenweise den erkenntnistheoretischen Wert von Metaphern und sprach ihnen unter Rekurs auf Shakespeare »eine besondere Form 123 Vgl. Blumenberg 1983a, 1983b und 1983c. 124 Konersmann 2007b, S. 15. 125 Vgl. Konersmann 2007b, S. 15 126 Konersmann 2007b, S. 12. 127 Konersmann 2007b, S. 14. 128 Blumenberg 1983a, S. 288 129 Blumenberg 1983c, S. 87. 130 Vgl. Warren 2015, S. 231. 131 Zit. nach Rheinberger 2007, S. 31.

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der Erkenntnisfähigkeit«132 zu. Jean-Marie Guyau hatte bereits 1880 in einem Essay zur Erinnerung in der Revue philosophique die Notwendigkeit der Metapher erklärt  : »Bien souvent une découverte a commencé par une métaphore. […] avant de savoir, il faut commencer par nous figurer.«133 Die von mir im Rahmen der Diskursanalyse hervorgehobene Betrachtung der Metaphern kann sich also auf moderne Konzepte der Metaphorologie ebenso berufen wie auch darauf, dass die Denker der Jahrhundertwende sich selbst dieser Dimension bewusst waren. Die gewählte methodische Legitimierung und die historische Situation greifen unmittelbar ineinander. Hier ergibt sich der zweite Aspekt, der die Auseinandersetzung mit den Metaphern im Mémoire-Diskurs für eine kunsthistorische Arbeit fruchtbar macht. Sie sind nicht nur ein hervorragender Schlüssel zum Verständnis der mémoire, sondern ganz offenbar geben sie auch Auskunft darüber, wie und in welchen Zusammenhängen um 1900 bevorzugt im Modus des Bildlichen gedacht wurde. Nimmt man die Metaphorik unter diesem Gesichtspunkt in den Blick, können im Sinne der visual cultures Erkenntnisse über die epistemische Funktion des Visuellen und des Bildlichen und über deren semantische Kernfelder um 1900 gewonnen werden.134 Dort, wo gehäuft Metaphern angewandt werden, zudem Metaphern des Sehens und des Bilds, sind Themen zu finden, die diskursiv mit dem Medialen des Bildes verkoppelt sind. Denn nicht nur dort, wo expressis verbis über das Visuelle und Bildliche geschrieben wird, ist ein Bezug zur Malerei möglich, sondern auch da, wo Metaphern an sich gehäuft vorkommen. Und genau dies ist anlässlich der mémoire ganz klar zu konstatieren. Deren Rekonstruktion macht ein grundlegendes historisches Verständnis von Sehen und Bildlichem möglich. Die Anlyse von Metaphern erlaubt es, Diskursräume zu rekonstruieren, die auf eine grundsätzliche kulturelle Semantik des Bildlichen zurückschließen lassen, zu der ebenfalls die Malerei Vuillards gehört. Gelingt es, diesen »champ sémantique« (Paul Zumthor) zu vermessen und den Gehalt der Metaphern und der Bilder Vuillards in Beziehung zueinander zu setzen, ergäbe sich aus der Perspektive der mémoire eine neue semantische Dimension des malerischen Werks und überdies ein Baustein für die Rekonstruktion der Kultur des Visuellen und Bildlichen, wie sie Ende des 19. Jahrhunderts gleichermaßen für das Denken und das künstlerische Schaffen prägend war. Produktionsästhetische und werkimmanente Analysen gehen Hand in Hand mit Diskursrekonstruktion und Metaphern-Analyse, was folgenden Aufbau der Arbeit ergibt. 132 Guthmüller 2007, S. 78. Vgl. hier auch das Kapitel zur Funktion und Ausgestaltung der Metaphern bei Taine, S. 71–98. 133 Guyau 1880, S. 319, Hervorhebung i.O. 134 Zu den visual cultures vgl. Rimmele et al. 2012. Einschlägige Texte der Kunstgeschichte, die dieser Ausrichtung nahestehen, sind mit Rimmele und Stiegler  : Erwin Panofsky, Die Perspektive als »symbolische« Form, Leipzig 1972  ; Svetlana Alpers, The Art of Describing. Dutch Art in the Seventeenth Century, Chicago 1983  ; Michael Baxandall, Die Wirklichkeit der Bilder. Malerei und Erfahrung im Italien der Renaissance, Berlin 1990  ; Norman Bryson et al., Visual Culture  : Images and Interpretations, Hannover und London 1994  ; Hans Belting, Florenz und Bagdad. Eine westöstliche Geschichte des Blicks, München 2008. Vgl. Rimmele et al. 2012, S. 45.

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Das erste Kapitel beleuchtet knapp das Frühwerk des Malers, um dann auf jene neuralgische Zeit zu fokussieren, die die gedankliche Grundlage für die hier in Rede stehende Werkphase bildet. Das Gemälde Au lit (1891) sowie Tagebucheinträge des Malers werden dabei als Wendepunkt und Programmatik gedeutet. Klar hervor tritt die immense Bedeutung der Introspektion für die Entwicklung Vuillards, in der er das Zusammenspiel von Wahrnehmung, Gefühl und inneren Bildern umkreist und dabei als Motor und Medium der Gefühle die mémoire zu erkennen glaubt. Methodisch in mehrfacher Hinsicht fragwürdig wäre es, die Notizen des Malers so isoliert zur Erhellung des Werks heranzuziehen. Notwendig ist es deswegen, die Introspektionen des Malers zum Thema der mémoire im anschließenden zweiten Kapitel zuallererst zu kontextualisieren. Der entsprechende Diskurs wird daher anhand der ästhetischen Position des Kunstkritikers Charles Baudelaire, der künstlerischen Position des Malers Camille Corot sowie der wissenschaftlichen Position der Psychologen Hippolyte Taine und Théodule Ribot untersucht werden. Baudelaires Kunsttheorie bildet das Scharnier zwischen Romantik und Moderne und genießt unter den Malern Ende des 19. Jahrhunderts breite Bewunderung. Auch Vuillard waren die Texte Baudelaires vertraut, denn der Maler verweist mehrmals auf deren Lektüre.135 Vor allem hatte sich der Kunstkritiker in seinen theoretischen und kritischen Schriften wiederholt mit der mémoire beschäftigt und sie zunächst zum entscheidenden Kriterium der Kunstkritik erhoben, später dann ihr hintergründiges »psychologische Konzept«136 der künstlerischen Imagination erkannt. Damit vermittelt er zwischen der Romantik, der das ästhetische Verfahren der Erinnerung noch ambivalentes »Glücksversprechen«137 war, und der psychologischen Wende der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die den Wunsch, Vergangenes in irgendeiner Form authentisch bewahrbar zu machen, als Illusion entlarvte. Vor allem ist bereits bei Baudelaire die Affinität zwischen Erinnern und Empfinden angelegt, ebenso wie das diskursive Verständnis der Erinnerung als bildhaft verfasstes psychisches Vermögen. Das malerische Œuvre Jean-Baptiste Camille Corots verdient in zweifacher Hinsicht Beachtung. Zum einen ist die Auseinandersetzung Vuillards mit ihm belegt. Zudem kann Corot als einer der prominentesten Maler gelten, die sich mit dem Thema der Erinnerung beschäftigt haben. Dies prägt den Blick auf ihn schon zu Lebzeiten und ebenso Ende des 19. Jahrhunderts. In diesem Kontext bezieht auch Vuillard sich auf ihn, denn bereits Corot erprobt, wie die Erinnerung dazu dienen könnte, Gefühle im Kunstwerk zu verhandeln. In nuce finden sich bereits bei ihm ästhetische Verfahren, die auch Vuillard anwendet. In diesem Zusammenhang ist ebenfalls mit einem knappen Blick zu beleuchten, welche Rolle die Erinnerung in den Malereitraktaten des 19. Jahrhunderts spielte.

135 Vgl. einen Brief, den Vuillard 1899 an Lucy Hessel geschrieben hat, in dem er auf die wiederholte Lektüre Baudelaires hinweist, zit. in Akat. Vuillard, Winterthur 2014, S. 104. 136 Mehnert 1978, S. 18. 137 Westerwelle 2001, S. 352.

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Im dritten Schritt der Diskursrekonstruktion wird die Ausdifferenzierung des Mémoire-­ Diskurses durch die Psychologen erörtert. Denn ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts verhandeln nicht mehr nur Künstler, Kunstkritiker und mit der Ästhetik befasste Philosophen die mémoire und ihr ästhetisch kreatives Potential, sondern sie wird vor allem auch von der Psychologie her befragt. Damit erweitert sich der Diskurs um eine Stimme, die eine radikal neue Perspektive etabliert. Hier sind vor allem Hippolyte Taine und Théodule Ribot von Relevanz.138 Die Traditionslinien, die sich von Baudelaire und Corot her ergeben – Erinnerung und Imagination, Erinnerung und Gefühl, Erinnerung und Bild bzw. Form –, erfahren durch die Psychologie eine signifikante Überformung und der Diskurs der mémoire eine aufschlussreiche Neuvermessung. Ausgehend von der Erinnerung wird Bewusstsein und damit Kreativität radikal neu gedacht werden. Der mémoire kommt dabei eine zentrale Rolle zu. Sie erfährt eine diskursive Verkoppelung mit dem Visuellen (Bild) und den Gefühlen. Das in Frankreich vornehmlich als sprachlich und kognitiv verfasst verstandene Bewusstsein wird damit radikal umgedeutet  ; es wird zu einem sogartigen Strudel aus Bildern, der seine Dynamik dem assoziativen Ineinandergreifen von Sinneseindrücken und Gefühlen verdankt. Bild und Gefühl lösen damit das Primat von Sprache und Ratio ab und erlangen dadurch zwangsläufig eine radikale epistemische Rehabilitation. In der Gesamtschau münden diese Stränge in jenes historische Diskursgewebe, in das auch das Werk Vuillards eingebettet ist. Sein malerisches Œuvre ist in seinem Gepräge verständlich, wenn es in und aus dem diskursiven Zusammenspiel heraus betrachtet wird. Zunächst wird gezeigt, wie der Künstler im Sujet der Handarbeit ein mit der ästhetischen Wahrnehmung strukturanaloges Motiv bildet. Das Textile, traditionell ein Bild für Innerliches und die Psyche, gewinnt bei Vuillard jedoch eine darüber hinausreichende Bedeutung, da der Künstler es als Strukturprinzip für seine gewebehaft verfassten Gemälde anwendet und damit ein Äquivalent zum produktionsästhetischen Prozess der Visualisierung des Gedankenflusses der mémoire ins Bild setzt. Damit lässt sich das Werk Vuillards in einem weiteren Schritt ausgehend von der Metaphorologie der mémoire als Ensemble flirrender, nicht stillstellbarer Bilder sowie als rhythmisch-tänzerischer Bilderstrom deuten. Dabei zeigt sich, dass diese Bilder vom gleichen Strukturprinzip geprägt sind wie die Vorstellung der Psychologen vom Zustandekommen innerer Bilder durch die mémoire. Vor allem loten die Werke Vuillards jene Dimensionen der Gedächtnistätigkeit aus, die als genuin gefühlsmäßig galten. Der Maler löst damit 138 Henri Bergson wird nur am Rande erwähnt werden. Seine Position ist im Vergleich zu den Psychologen, was die philosophische Kohärenz anbelangt, zwar die anspruchsvollere, sodass in jeder philosophisch orientierten Rekonstruktion Bergson von großer Bedeutung ist. Bergson ist jedoch eher als Parallelphänomen zu Vuillard zu sehen und weniger als Teil der hier in Rede stehenden Vorgeschichte. Denn große Bekanntheit erlangte Bergson erst nach der Veröffentlichung von Matière et mémoire 1896, also zu einem Zeitpunkt, als Vuillard bereits zu seiner Ästhetik gefunden hatte. Es fragt sich zudem, ob die hochkomplexe These Bergsons tatsächlich so schnell in den Diskurs einfließt. Eher stellt sie eine eigenständige Position dar, die erst im 20. Jahrhundert Eingang in den nicht unmittelbar philosophischen Diskurs findet.

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nicht einfach den Impuls der Psychologen ein, sondern gerade die bildende Kunst vermag im Medium des Visuellen Phänomene zu verhandeln, denen sich die Psychologen nur annäherungsweise über Sprachbilder nähern konnten. Darin erweist sich das epistemische Potential der Malerei – nicht trotz, sondern wegen ihrer Medienspezifik. Die bildende Kunst entwickelt so Konzepte der Formauflösung, die eine spezifische Dimension von phänomenalem Erfahren umkreisen und hier zu ästhetisch neuartigen Lösungen finden. Abschließend stellt sich die Frage nach dem Umgang mit der kunsthistorischen Tradition aus dem Blickwinkel der Palimpsest-Metapher. Es wird sich zeigen, dass den Werken Vuillards als Teil des Diskurses der mémoire eine Auffassung von Produktionsästhetik und Fragen der Möglichkeit von Form ebenso ­inhärent sind wie Eckpunkte zu einer eigenständigen ästhetischen Strategie, die auf das Engste mit der Vermittlung und Erfahrung von gefühlsmäßigen Bewusstseinsinhalten korreliert. Das Erinnern erweist sich nicht als isoliertes Verfahren, sondern als jener konstitutive, das Bewusstsein sinnlich-affektiv anreichernde Anteil, der die Begegnung mit Welt (und Kunst) zu einer ästhetischen Erfahrung – verstanden nicht zuletzt als Gefühl – macht.

2 Vuillards Suche nach einer ästhetischen Strategie

»On ne saurait rien imaginer qui se puisse comparer à la subtilité du charme, au raffine­ ment de la séduction que M. Vuillard fait jouer dans ses tableaux et qui chantent.«1 Thadée Natanson, Freund und Mäzen von Édouard Vuillard sowie Intellektueller und Publizist im Paris des ausgehenden 19. Jahrhunderts, greift 1899 zu diesen schillernden Worten, um das Werk des Malers zu loben. 1899 neigt sich eine Phase in der Malerei Vuillards zum Ende, die die vergangenen zehn Jahre seines Schaffens geprägt hatte, jene Werkphase, mit der er berühmt wurde, mit der sich noch heute sein Name verbindet und die im Zentrum dieser Arbeit steht. Sie ist gekennzeichnet durch eine Vielzahl an Interieurdarstellungen und dekorativen Zyklen. Ein zentrales und immer wiederkehrendes Motiv sind die nähenden Frauen. Marie penchée sur son ouvrage dans un intérieur aus den Jahren 1892/93 (Tf. 3) kann als exemplarisch gelten. Das Gemälde zeigt die Schwester des Malers, vertieft in Näharbeiten. Mit ihrem blauen Kleid sticht sie einerseits heraus aus der übervollen Bildfläche, zugleich scheint andererseits der Farb- und Stoffreichtum um sie herum kurz davor zu sein, sie umhüllend in sich aufzunehmen. Bei der Passage um Maries Kopf wird dies besonders anschaulich. Er befindet sich vor einer aufgefalteten Öffnung im nicht näher definierbaren Hintergrund, die ihn umschmeichelt  ; dass der Farbton ihrer Haare in jenen des Hintergrundes übergeht, betont den Effekt der Verschmelzung von Figur, Grund und Raum, der das gesamte Werk prägt. Weder die genaue Tätigkeit Maries ist erkennbar noch die genaue räumliche Situation  ; ob es sich bei den gemusterten Flächen um Stoffe, Vorhänge oder Tapeten handelt, ist kaum differenzierbar. Das Gemälde besticht durch seine fein abgestimmte Farbigkeit. Vuillard kreiert hier, wie in vielen anderen Werken auch, eine Palette, deren Geschmeidigkeit (»souplesse«), wie schon der Zeitgenosse Natanson bemerkt, »fera vibrer à l’infini toutes les harmonies possibles qu’on sera conquis.«2 Das Bild wird durchwirkt von einem komplexen Kontrastgewebe aus Rot und bis ins Grüne abgestuften Blautönen. Warme und kalte Nuancen halten sich die Waage, dies allerdings weniger aufgrund ihres quantitativen Einsatzes, wo die kalten Töne deutlich überwiegen, sondern vielmehr deswegen, weil die ornamentalen und mäandernden Formen im Bild jeglichen kalten Farbton in weiches Fließen und Ondulieren umlenken. Trotz aller Härte, mit der Rot und Rosé auf Tiefblau und Petrol treffen, ergibt sich so ein sanftes Bildgewebe, das sein Zentrum in der ruhenden und in Arbeit versunkenen, in kräftigem Blau gehaltenen Marie findet. Von dort leitet Inkarnat und das Braun ihrer Haare über in die Rot-, Braun- und Roséfarbigkeit des sie umgebenden Interieurs. Das Blau ihres Kleides wiederum taucht im Blaugrau, Petrol und Blaugrün insbesondere der sie umgebenden Stoffe auf. Der Blau-Rot-Kontrast wird im gesamten Bild aufgenommen 1 2

Natanson 1899, S. 511. Natanson 1899, S. 511.

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und durch Ornamente, Kurvaturen, silhouettenhafte Anmutungen in ein belebtes Spiel verwandelt. Der an und für sich starke Kontrast findet so seine Milderung und ornamentale Vermittlung im Bild. André Mellerio attestiert Vuillard »un œil excessivement fin saisissant les rapports de tons, auxquels il [Vuillard  ; M.G.] s’intéresse profondément et qu’il rend avec une délicate justesse.«3 Dadurch entsteht eine äußerst lebendige, kleinteilige, ornamentale Bildoberfläche, die durch die Kontraste und die Formrhythmik belebt und flirrend – »vibrer«, wie Natanson schreibt – erscheint. Die Bildfläche wird zum Farbenmeer, bisweilen selbst zum gemusterten Stoff  : »Il aime les étoffes parsemées de points, ou zébrées de rayures, particulières à notre actuel féminin.«4 Zwar sind hier und da räumliche Elemente auszumachen, der Stuhl, auf dem Marie sitzt, und ein weiterer gegenüber sowie eine im Hintergrund erkennbare Kommode, indes sind Perspektive und Raumkonstruktion völlig suspendiert. Es gibt keine wahrnehmbaren Raumkanten, Wände oder Ecken  ; Decke und Boden sind nicht sichtbar, und die genannten Möbel sind zu flächigen Bildzeichen verkürzt, ohne Raum zu entwickeln. Es bleiben vereinzelt Farbkurvaturen, die ein gewisses Volumen vor allem der Stoffe anzeigen. Damit geht einher, dass Vuillard sich eine Bildpraxis aneignet, die seine Sujets nicht zentral und fokussiert vor einem Hintergrund herausarbeitet. Vielmehr entwickelt er dezentrale Kompositionsmuster, die sich, die Bildfläche zergliedernd, über den gesamten Malgrund erstrecken. Es gibt keine klare Figur-Grund-Trennung mehr. Die Dinge und Menschen erfahren eine Gleichbehandlung und sind subtil ineinander verwoben. So taucht etwa das Blau von Maries Kleid in fast allen Stoffen und Ornamenten wieder auf. Natanson schreibt von der »virtuosité avec quoi il subordonne les figures à l’ensemble, et, comme à dessein, en efface le mouvement au profit de l’éclatante confusion où se mêlent les objets.«5 Auch Mellerio hebt dies hervor  : »Les silhouettes des meubles, les tons des tentures prennent à son regard de peintre l’égale importance presque des êtres qui s’y meuvent […].«6 Nicht nur formal, sondern auch inhaltlich wird das Sehen und Erkennen vielfältig thematisiert. Marie ist in konzentrierter Betrachtung ihrer Handarbeit versunken  ; der Betrachter kann dies zwar identifizieren, jedoch sieht er keine präzise Szenerie oder Gegenstände und Figuren  ; auch kann er das Ziel von Maries Aufmerksamkeit nicht sehen oder gar erkennen. Dem Anblick, den das Gemälde bietet, sind die Grenzen des Sehens eingeschrieben und damit auch die Dimension der inneren Bilder, die jedem Sehen notwendig hinzugefügt werden muss. Radikalisiert findet sich all dies auch in der zentralen Tafel L’Album (Tf. 25) des gleichnamigen Zyklus, den Vuillard für die befreundeten Thadée und Misia Natanson schuf. Man erkennt Frauen, die sich dem Arrangieren von Blumen oder der Lektüre widmen oder in stillem Versonnensein verharren. Von Raum kann kaum mehr die Rede sein, das Motiv ergießt sich über die Bildfläche ohne klares Zentrum, ohne klare Ränder, ohne 3 4 5 6

Mellerio 1896, S. 48 f. Mellerio 1896, S. 48. Natanson 1899, S. 511. Mellerio 1896, S. 48.

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klar geschiedene Konturen  ; die Punkte, Linien und Flächen ondulieren mit- und durcheinander. Die Bildfläche wird dynamisiert, und die Farbarrangements entrollen sich entlang der wellenartigen Komposition oder verknäulen sich in der kaum mehr als solche erkennbaren floralen Pracht. Der Leichtigkeit und Belebtheit eignet etwas Tänzerisches und Rhythmisches, anhand dessen Vuillard es vermag, die »vivacité de sensations fugitives«7 einzufangen. Mellerio betont über die formalästhetischen Qualitäten hinaus die hohe atmosphärische Dichte der Gemälde Vuillards. »A les [die Gemälde  ; M.G.] examiner plus longuement, on y respire le parfum d’intimité des atmosphères closes.«8 Den Werken hafte ein Hauch von Intimität und vertrauter Atmosphäre an. Der Begriff »Parfum« zeigt die synästhetische Note an, die hier mitschwingt, und vor allem auch den Umstand, dass diese Qualität nur schwer greifbar ist. Zusammengenommen ergebe dies einen »microcosme de sensations douces et raffinées des existences calmes.« Dieser Mikrokosmos der Empfindungen resultiere, so der Zeitgenosse Mellerio weiter, daraus, dass der Maler sich nicht mit bloßen visuellen Impressionen abgebe, sondern nach deren »somme d’intensité« trachte. Nicht die kalte visuelle Erscheinungsweise ist ästhetisch leitend, sondern die damit verbundenen Empfindungsqualitäten und Emotionen. Im Mittel der Farbe und der Art und Weise ihres Auftrags werden diese umgesetzt, ohne nach einem visuell nachahmenden Ergebnis zu streben. »Il [Vuillard  ; M.G.] s’arrête lorsqu’il a épuisé l’émotion directe, sans chercher à finir au sens du vulgaire, c’est-à-dire en surchargeant de froids détails selon la formule d’une rhétorique d’art conventionnelle.«9 Damit wird gleichermaßen eine diffizil ausgearbeitete Farbigkeit sowie eine summarische Handhabung des Gegenständlichen zum Qualitätskriterium. Im Ergebnis vermag Vuillard, wie Mellerio schreibt, »sous la sensation vive […] cache un sentiment concentré qui donne à ces taches colorées une réelle valeur d’expression.«10 All dies ist spätestens ab 1891 prägend im Werk Vuillards – das Flächige, das Dezentrale, das Ondulierende, der atmosphärisch gefühlsdichte Raum – und synthetisiert sich zu ästhetischen Spielarten, die für die kommenden zehn Jahre bestimmend sein werden. Vuillard kreiert auf dieser Basis eine ganz eigene Ästhetik, deren Entstehung und Semantik noch immer weitgehend unklar ist. Diese spezielle Ästhetik ist um 1891 auf einmal da. Woher kommt sie  ? Es ist immerhin zu beobachten, dass sich die Wende relativ radikal und mit wenigen Zwischenschritten um die Jahre 1890/91 vollzieht. Im Folgenden wird es darum gehen, diese ästhetische Entwicklung in ihren Grundzügen zu betrachten. Mit welchen Kunstwerken setzt Vuillard sich auseinander  ? Welche Reflexionen löst dies bei ihm aus  ? Einerseits ist bereits die Analyse der Art, wie sich der Maler gedanklich bewegt, aufschlussreich. Denn sie macht die originelle Herangehensweise Vuillards deutlich, in der er sehr frei und spielerisch Vorbilder und Einflüsse kombiniert. Andererseits zeigt sich   7   8   9 10

Mellerio 1896, S. 49. Mellerio 1896, S. 48. Mellerio 1896, S. 48, Hervorhebung i.O. Mellerio 1896, S. 49.

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dabei aber vor allem, dass Schlüsselmomente in seiner Entwicklung jene sind, in denen der junge Maler seine Gemälde in Bezug setzt zur psychischen Dimension, die sowohl Produktion wie auch Rezeption innewohnt. Zu Beginn, während seiner Lehrjahre ab 1886, gibt es bereits gewisse Andeutungen, die auf die Ästhetik der 90er Jahre verweisen, jedoch wiederum keine signifikanten Anzeichen. Vuillard bewegt sich innerhalb dessen, was unter den jungen Malern an der Académie Julien, die er ab 1886 besucht, Usus war. 1887 wird er nach drei vergeblichen Versuchen endlich an der École des Beaux-Arts angenommen. Vuillard macht strebsam und aufmerksam Skizzen, Perspektivstudien, Geometrie und Anatomie. Bereits früh begann Vuillard, regelmäßig in den Louvre zu gehen und die Meister dort zu studieren, sie zu kopieren oder geleitet von spezifischen Interessen Detail-, Kompositions- oder Farbstudien zu erstellen. Für die Jahre vor 1890 lässt sich dabei eine gewisse Vorliebe für jene Vorbilder beobachten, die gemeinhin als Koloristen gelten, Paolo Veronese und Eugène Delacroix etwa11, oder jene Maler, die sich auf ihre je historisch unterschiedliche Weise mit dem Sehen und der sinnlich-atmosphärischen Präsenz der Dinge beschäftigt haben, allen voran etwa Jean Siméon Chardin oder auch Édouard Manet.12 Vuillards Werk beginnt damit, dass er die Dinge und Menschen seiner Umgebung aus großer Nähe studiert. Die Gegenstände in den Gemälden sind alle dicht vor den Betrachter gerückt, sodass kaum eine bildräumliche Konstruktion erkennbar ist. Zwar sind die Objekte selbst durchaus plastisch und perspektivisch moduliert, ihre Umgebung ist jedoch nicht hin zu einer räumlichen Struktur ausgeführt. Mit Chardin erprobt er den feinen Schmelz, mit dem die Bildgegenstände in malerisches Licht getaucht sind, das jedes noch so banale Objekt mit einem auratischen Strahlen versieht.13 Manet wiederum verhilft ihm zur Sensibilität für die nicht weniger faszinierende Kraft der mutig gesetzten Pinselstriche, die kantig und harsch das Dargestellte beleben und zugleich metapikturaler Fingerzeig sind.14 Gemein ist ihnen eine Praxis, die das Malen mit Farben, Pinseln, Gesten stets zur Schau stellt. Bei Delacroix und Manet etwa geht dies in den markig aufgetragenen Pinselhieben einher mit der Inszenierung der malerischen Geste, die gleichermaßen schafft und zeigt. Michael F. Zimmermann hat jüngst differenzierend hinzugefügt, dass im Laufe der Jahrhunderte eine Verschiebung innerhalb dieser Art zu malen stattfindet  : von der malerischen Malerei als Deixis hin zum Malen als »zu sehen geben«.15 Die Auseinandersetzung mit dem Kolorismus ist gut ablesbar an der Beschäftigung mit Veroneses Hl. Barnabas (um 1566) (Abb. 1). Vuillards Kopie des alten Meisters, den er während seines Militärdienstes in Rouen studierte, macht die Orientierung am Venezianer 11 Vgl. etwa Salomon et al. 2003, Bd. I, Kat. I-56. 12 Vgl. zu Manet Lüthy 2003 und Akat. Manet, Hamburg 2016  ; zu Chardin vgl. Hosseini 2016. 13 Vgl. etwa Vuillards Decanter and four Peaches, 1888, Öl auf Leinwand, 23 × 28 cm, unbekannt (Salomon et al. 2003, Kat. I-28). Vgl. zu Vuillards Bezug auf Chardin auch Easton 2002, S. 27. 14 Vgl. dazu etwa Vuillards The Smoked Herring, 1888, Öl auf Leinwand, 26 × 40 cm, Privatsammlung (Salomon et al. 2003, Kat. I-39). 15 Vgl. Zimmermann 2015, S. 66.

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Abb. 1  Paolo Veronese  : Der Hl. Barnabas heilt die Kranken, um 1566, Öl auf Leinwand, 260 x 193 cm, Musée des Beaux-Arts, Rouen

unter dem Einfluss von Delacroix deutlich (Tf. 4, Tf. 5).16 Aus dieser Perspektive interessiert Vuillard die Anordnung der Farbmassen, wie sie ineinander verflochten das Bild strukturieren und aufbauen. Wie Farbkontraste zur Rhythmisierung beitragen und wie die schemenhafte Kopie, obgleich zugunsten eines verschwommenen Gesamteindrucks jegliches Detail eliminiert ist, dennoch in hohem Maße Ausdrucksqualität und Dynamik birgt. Vuillard geht damit sogar noch weiter, als Delacroix in seiner Studie nach Veronese, die ebenfalls in Rouen verwahrt wird, gegangen war, da der Ältere die Figuren noch klar erkennbar und unter Zugabe von Details zeigt. In Vuillards Blatt resultiert die atmosphärische Dichte aus der kontrastiven Arbeit mit starken Farben und der Unterdrückung jeglichen Details. Seine tatsächlich etwas naive Entdeckung bestand in der Erkenntnis, dass das Gemälde ein Ensemble aus Farbakkorden sei und keine naturalistische Nachahmung. Lakonisch hält er in seinem carnet fest  : »Concevons bien un tableau comme un ensemble d’accords, s’éloignant définitivement d’idée naturaliste.«17 Ab diesem Zeitpunkt 16 Vgl. zum Militärdienst von Vuillard Salomon et al. 2003, Bd. I, Kat. I-56 und einen Brief Vuillards an Alfred Natanson, Sonntag, November 1894  ; in dt. Übersetzung abgedruckt in Akat. Vuillard, Winterthur 2014, S. 43 f. 17 Vuillard, Carnets, I.1., loses Blatt (Nr. 71) (31. August 1890)  ; Dat. gem. Alexandre 1998, S. 201.

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war ihm klar, dass die malerischen Mittel kein Werkzeug sind, sondern einen ästhetischen Selbstwert besitzen. Er beginnt Georges Seurats Stil und Paul Gauguins cloisonnisme und Synthetismus zu imitieren. Hier hat die von der Forschung unablässig wiederholte, mittlerweile aber zu Recht hinterfragte Initiations-Episode der Künstlergruppe Nabis (hebr.: Propheten) ihren Platz.18 1888 gründete der Gauguin-Schüler Paul Sérusier gemeinsam mit Pierre Bonnard, Henri-Gabriel Ibels, Paul-Élie Ranson und Maurice Denis die Nabis. Im Zentrum dieses Zusammenschlusses stand das von Sérusier unter Anleitung Gauguins gemalte Werk Talisman, welches 1888 entstanden war.19 Im Jahr darauf war zudem im Café Volpini eine Gauguin-Ausstellung zu sehen. Vuillard schloss sich mit Ker-Xavier Roussel 1890 der Gruppe an. Zwar ist im Werk Vuillards der Niederschlag des Talisman und der Malerei Gauguins spürbar, jedoch nur punktuell und im Nachahmen vereinzelter Aspekte. Der Einfluss durch Sérusier führt aber bei Vuillard nicht zu einer eigenständigen Auffassung von Malerei. Und wenn Vuillard auch kein Freund der großen Theorien war, so war ihm ebendies, zu einer genuinen vollgültigen Malerei zu finden, die mehr ist als stilistische Aspekte oder eine oberflächliche Schulzugehörigkeit, ein Ziel. Introspektion und Psychologisierung

Vielen seiner Gemälde ist ein innerer, mal zaudernder, mal augenzwinkernder Dialog eingeschrieben, den er mit ihnen und durch sie mit sich selbst führt. Paradigmatisch führen dies die Selbstporträts der Jahre 1888/89 vor. Zweifelsohne orientiert sich der junge Maler an Bildnissen der alten Meister, in den Vordergrund tritt aber weniger der versichernde Rückbezug auf eine mögliche Tradition als vielmehr die Inszenierung des aufmerksam geneigten Kopfes, aus dem sich der durchdringend fragende Blick aus dem Bild richtet. Im Selbstbildnis von 1887/88 (Abb. 2) etwa zeigt sich der Maler in einem nicht bildparallel angelegten, sondern schräg angeschnittenen Spiegel, den man an dessen Mit carnets bezeichnet die Forschung die ersten beiden Bände von Vuillards Tagebüchern, die den Zeitraum von 1888 bis 1905 umfassen. Sie sind der Forschung seit 1981 zugänglich (vgl. Salomon et al. 2003, Bd. I, S. X). Allgemein werden sie unter römisch eins zusammengefasst und dann in Heft eins und zwei unterschieden, gefolgt von den Seitenangaben (I.1., 35v). Die carnets liegen in der Bibliothek des Institut de France in Paris. Seit einigen Jahren ist eine Edition unter der Leitung von Guy Cogeval in Arbeit, die jedoch bis heute nicht abgeschlossen und publiziert worden ist. Es existieren zwei Transkriptionen der carnets (Court 1992 und Alexandre 1998). Die Transkriptionen sind jedoch immer wieder als fehlerhaft kritisiert worden (vgl. Cogeval 2003a, S. 49, Fn. 20). Dennoch werden sie, wo dies plausibel erscheint, herangezogen, um Transkription und Datierung der Tagebucheinträge zu validieren. Vgl. zu den carnets Pastoureau 2003  ; Alexandre 1998, 2004 und 2006. Zur Überlieferung der carnets und möglichen Gründen für deren Unvollständigkeit vgl. Cogeval 2003b, S. 6–8. 18 Ebenfalls kritisch sehen dies Bouillon 2006a und Kuenzli 2010a, S. 23. 19 Öl auf Leinwand, 27 × 22 cm, Musée d’Orsay, Paris.

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im Bild gezeigter Bambusrahmung erkennen kann. Gerade die nicht gegebene Frontalität der Bildausrichtung verleiht dem Bildnis eine Mischung aus Schüchternheit und ernsthafter Bedächtigkeit.20 Der Hintergrund unterstreicht die zurückhaltende Geste des Gemäldes, ist er doch aus dunstigen Farbwölkchen gebildet, die soeben im Evaporieren begriffen zu sein scheinen. Bedächtigkeit, Auflösung – unbeirrt und stark ist einzig der Blick, und selbst dieser ist in seiner fragenden Anmutung Ausdruck der fragilen Innenwelt des Malers. Auch die anderen Autoporträts dieser Zeit sind ähnlich geprägt und erscheinen so eindrucksvoll als Ergebnisse intensiver Selbstbefragung, Introspektion und beständigen Hinterfragens. Wie andere seiner Generation auch, beschäftigten den Maler Fragen danach, wie an der Oberfläche der Malerei und mit den sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften der Menschen und Dinge etwas zu kreieren sei, das mehr visualisiert als äußerliche Gemeinplätze. Wie die eigene Malerei zu einem ästhetisch gedachten Medium machen, ohne auf konventio­nelle Zeichensysteme zurückgreifen zu müssen  ? Wie mehr bieten als einen flüchtigen Augenblick, sei er gefärbt oder ungefärbt durch das Temperament des Malers  ? Wie das Sinnliche und Sichtbare so organisieren, dass mehr zu sehen ist als das bloß Sichtbare, ohne jedoch zur normativen Ordnung der idealistischen Malerei zurückkehren zu müssen  ? In seiner Bedeutung für diese Fragen weitgehend unterschätzt wurde bislang der breitere gesellschaftliche Diskurs, der jenseits der Malerei und jenseits des Freundeskreises Vuillards stattfand und von dem der Maler selbstverständlich Kenntnis hatte. Wie JeanPaul Bouillon gezeigt hat, wurde am Lycée Concordet und an der Académie Julien, die Vuillard besuchte, nicht nur altehrwürdig-kanonisches Wissen vermittelt, sondern auch die zeitgenössischen Positionen der Philosophie und der Psychologie.21 Nachweislich wurden die Principles of Psychology (1870) des englischen Philosophen Herbert Spencer und die Schrift De l’Intelligence (1870) seines französischen Kollegen Hippolyte Taine behandelt. Während Taines Werk ohnehin große Aufmerksamkeit erfuhr, ist die seit 1860 in Aufsätzen und ab 1870 in Buchform veröffentlichte Theorie des Engländers Spencer durch Théodule Ribots Abhandlung La Psychologie anglaise contemporaine (1870, 2. Aufl. 1875) in breiterem Umfang in Frankreich publik geworden. Vuillard hatte also schon früh Kenntnis von Taine und der modernen Psychologie, überdies lässt sich an der schnellen Aufnahme dieser Positionen in das Curriculum des Lycées der zentrale Stellenwert ablesen, den sie auch andernorts in der Gesellschaft bekamen.22 Fragen der Subjektivität, der Wahrnehmung, der Rolle der Affekte, des inneren Vorstellungsvermögens wurden insbesondere von Taine und Ribot breit thematisiert. In Anlehnung an Taines Ausführungen hat sich etwa Denis im Juni 1888, basierend auf dem Unterricht im Lycée, notiert  : »Le beau est-il objectif ou subjectif  ? S’il est subjectif et objectif tout ensemble, comment déterminer la 20 Vgl. zu diesem Selbstbildnis Ciaffa 1985, S. 105 und Easton 1989, S. 10. 21 Vgl. zum Curriculum Bouillon 2006a, S. 20–24. Bouillon hat dort vor allem rekonstruiert, inwiefern die Wurzeln für Maurice Denis’ Kunsttheorie im Lehrplan der Académie Julien zu finden sind. 22 Holger Friesen weiß zudem zu berichten, dass Vuillard mit Charles-Augustin Sainte-Beuve, Hippolyte Taine, Eugène Delacroix und Charles Baudelaire vertraut war. Vgl. Friesen 2008a, S. 15.

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Abb. 2  Autoportrait, ca. 1887/88, Öl auf Holz, 27,3 x 21,3 cm, Privatsammlung (I-77)

part de subjectivité et la part d’objectivité  ?«23 Was man gemeinhin als Befruchtung der Nabis durch Sérusier und Gauguin deutet, war mithin bereits weitgehend in der Académie Julien im Kontext der Lektüre moderner wissenschaftlicher Positonen thematisiert worden.24 Obgleich Vuillard kein Freund von dogmatischen Theorien war, waren, wie zu zeigen sein wird, die psychologischen Überlegungen intensive Anregung. Natanson schreibt im Rückblick über Vuillard  : »Où qu’il soit, sa sensibilité et son intelligence sont au travail. S’attachent à tout. Constament. Fiévreusement.«25 Schlüsselmoment in Vuillards künstlerischem und gedanklichem Kosmos ist das unermüdliche Erkunden des Aufeinandertreffens von Welt und Subjekt. Insbesondere unter Einbezug der zeitgleich entstandenen Tagebucheinträge gewinnt dieser Kosmos klarere Konturen. Die carnets des Malers bieten die Möglichkeit, seinen Gedanken und Überlegungen nachzuspüren. Sie sind eine Mischung aus Tagebuch und Skizzenheft, die Notizen wie auch zeichnerische Experimente und Eintragungen aus dem Geometrie- und Zeichenunterricht enthält. Zudem finden sich darin aneinandergereiht Notate Vuillards zu Farb- und 23 Zit. nach Bouillon 2006a, S. 23. 24 Vgl. dazu Bouillon 2006a, S. 19. 25 Natanson 1948, S. 371.

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Lichtverhältnissen bestimmter Szenen, die ihm bemerkenswert erschienen, Kommentare zu Werken im Louvre, logbuchartige Einträge zum Tagesverlauf, spontane Kommentare zum jeweiligen Tagesgeschäft. Versammelt in den carnets sind keine ausgearbeiteten Texte, sondern vielmehr lakonische und aphoristische Einträge, in denen Aufzeichnungen zu banalsten Verrichtungen neben tiefreichenden Gedankenblitzen stehen. Der interpreta­ torische Status der carnets ist mithin problematisch, und es wäre verfehlt, darauf eine eigenständige hermeneutische Ausdeutung zu gründen. Vielmehr bergen die carnets Spuren dessen, was den Maler bewegt hat  ; die Eintragungen sind oft schiere Addierung lapidarer Alltäglichkeiten, es fehlen autosuggestive Erhöhung oder Stilisierung, auch keinerlei publizistische Ambition ist zu spüren. Der Großteil der Einträge trägt die Spuren des spontanen Impulses, der sie hervorgebracht hat. Die carnets stellen eine Art persönliches Selbstgespräch dar, in dem Vuillard, bald grüblerisch, bald sich ermunternd, seine malerische Praxis reflektiert. Erschwerend kommt im Umgang damit hinzu, dass es sehr wahrscheinlich weitere Hefte gegeben hat, in die Vuillard eingetragen hat, sodass es sich um eine fragmentarische Überlieferungssituation handelt. Es stellt sich die methodische Frage nach dem epistemischen Wert der carnets in Bezug auf das malerische Werk. Bereits Erwin Panofsky hat den methodischen Umgang mit Künstlerzeugnissen zu definieren versucht  : »Wo von einem Künstler theoretische Aussprüche über seine Kunst oder über die Kunst im Allgemeinen erhalten sind, bilden sie in ihrer Totalität ein der Deutung fähiges und bedürftiges Parallelphänomen zu seinen künstlerischen Schöpfungen, nicht aber im einzelnen deren Erklärung – Objekte, nicht Mittel der sinngeschichtlichen Interpreta­ tion.«26 Eingedenk der postmodernen Kritik an Autorschaft und Intentionalität resultiert daraus zuallererst ein zurückhaltender Umgang mit den carnets. Keinesfalls können sie herangezogen werden als vorrangiger Schlüssel zum Werk und zu einem – ohnehin zweifelhaften – (wahren) Verständnis.27 Vielmehr sind sie ebenso wie das Werk selbst Objekt der historischen Betrachtung. Das heißt, sie müssen als Teile eines Diskurses ihrerseits historisiert und diskursiviert werden.28 So verstanden, dienen sie als das Werk durchdringendes und reflexiv darauf bezogenes Parallelphänomen zur Orientierung, die in der Untersuchung des Werks Anhaltspunkte und grobe Landvermessungspunkte bereithält. Parallel zu den erwähnten Selbstbildnissen der Zeit ziehen sich auch durch die Notate Vuillards in den carnets sowie durch seine Briefe die konstanten und beharrlichen Spuren der Innenschau, die der Maler vollzieht. Es hat den Anschein, als werde jegliche Wahrnehmung von Welt, jedes Empfinden, jede Art der schöpferischen Verfassung, jede Hemmung, jede Blockade, jeder Modus seines künstlerischen Daseins von ihm nicht nur beobachtet und wahrgenommen, sondern auch kritisch befragt. Es sind grüblerische Introspektionen, in denen oftmals der Zweifel und das Ringen um Anker und Orientierungspunkte der kreativen Arbeit dominieren. Greifbar wird dies in diversen zaudernden Eintragungen, 26 Panofsky 1998, S. 935. 27 Vgl. für einen Überblick über die Debatte zum methodischen Umgang mit Künstlerzeugnissen Blunck 2014. 28 Vgl. Kap. 3 der vorliegenden Arbeit.

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die sich getrieben und fetzenhaft in den carnets finden. Auch Briefe vermitteln einen Eindruck von Vuillards aufmerksamen, oftmals verzagten Reflexionen.29 Die schnelle und impulsive Schreibweise, die teils hektisch verstreuten Eintragungen zeugen von der Unmittelbarkeit, mit der sie eingetragen worden sind. Oft sind sie kein Ergebnis langen Nachsinnens, sondern direkter Ausfluss von Vuillards mentaler Befindlichkeit. Die Veräußerlichung der quälenden Gedanken in den carnets scheint als kathartisches, zumindest aber erleichterndes Moment zu fungieren. Wieder und wieder liest man über Vuillards Kämpfe mit unproduktiver Ohnmacht, die ihn blockieren und seinen Malfluss verzögern, ja den Beginn der kreativen Arbeit überhaupt vereiteln.30 Jörg Zutter schreibt  : »Vuillard, on le sait, est l’homme des brusques changements d’humeur et du profond manque de confiance en soi.«31 Trotz vieler Erfolge steht auch noch 1898 in Vuillards carnets  : »Peur du ridicule ou mauvais goût de la signification littéraire du tableau ou de l’estampe et à la fois impuissance à me laisser aller à une émotion plastique, à y concevoir un sujet. […] je n’ai confiance dans mon travail […].«32 Er ist nicht nur gequält von Phasen schöpferischer Unfähigkeit, sondern auch von flankierenden Zweifeln an seinem künstlerischen Potential, an der Qualität und Originalität seines Werks und an der Selbständigkeit seines Stils.33 Phasenweise kann nahezu von depressiven Verstimmungen ausgegangen werden, die sich in Lethargie und Langeweile ausdrücken. Vuillard ringt um Lösungen im Umgang mit den eigenen Werken  : »Penser à l’effet produit par les œuvres des autres  ; il faut regarder ces œuvres comme celles des autres pour en avoir une impression et juger de leur expression.«34 Es hat trotzdem den Anschein, dass diese Krisen und mentalen Kämpfe für Vuillard eine – wenn nicht sogar die – produktive Quelle seines Kunstschaffens waren.35 Denn untrennbar verbunden mit dieser Quelle ist die ständige Introspektion, die gedankliche Auslotung und Ausdeutung der inneren Vorgänge, Gedanken und Gefühle. Und es ist jene Perspektive, die für Vuillard offenbar zum fundamentalen Ausgangspunkt seines Kunstschaffens geworden ist. Der gefühlte Prozess des Kunstschaffens wird zur Richtschnur seiner Arbeit. Wie fühlen sich gewisse Wahrnehmungen an, wie entstehen sie vor dem inneren Auge, etwa jene einer Landschaft oder eines Interieurs, aber auch von Blumen, Ornamenten und einfachen Formen  ?36 Er schreibt  : »Les formes apparaissent à nos yeux. 29 Einige Briefe Vuillards sind abgedruckt im Akat. Vuillard, Winterthur 2014, S. 43–47, 102–115. Vgl. zum ostentativen Zweifel Vuillards Gamboni 2000. 30 Vgl. dazu Gamboni 2000 und Easton 1989, S. 18. Exemplarisch hier  : Vuillard, Carnets, I.2., 22v– 25r (24. Oktober 1890). 31 Zutter 2000, S. 32. 32 Vuillard, Carnets I.2., 57v–58r (Mai 1898). 33 Exemplarisch hier  : Vuillard, Carnets, I.2., 19v (vor September 1890)  ; I.2., 22v (24. Oktober 1890)  ; I.2., 32r (2. April 1891). 34 Vuillard, Carnets, I.2., 19v (6. September 1890). 35 Vgl. dazu Gamboni 2000 und Morehead 2007, S. 273–277. 36 Exemplarisch hier  : Vuillard, Carnets, I.1., loses Blatt (Nr. 71) (31. August 1890), Dat. gem. Alexandre 1998, S. 201  ; Vuillard, Carnets, I.2., 50v–51r (26. Oktober 1894).

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On les voit et elles apparaissent. Dans quelles conditions  ? Une forme se distingue c’est à dire existe séparée de se qui l’environne  ; elle est plus claire, ou plus sombre que ce qui est alentour.«37 Wie ist die Umsetzung des Wahrgenommenen ins Werk zu beschreiben, wie fühlt sich der malerische Prozess an  ?38 Bei jeder dieser Fragen horcht Vuillard in sich hinein und lotet aus, welche Strategie das Gefühl des reibungslosen Handelns, des Fließens birgt und welche Strategien sich gebremst, gestört oder unstimmig anfühlen. Wie ist das Verhältnis von Theorie zu Praxis, von Idee zu sensation  ?39 Unter welchem Primat entstehen organische Werkprozesse, unter welchen nicht  ? Es finden sich viele Fragen und kaum wirkliche Antworten in den carnets. Mit diesem Verfahren der Introspektion steht Vuillard den Prinzipien der Psychologie seiner Zeit nahe40 und befindet sich damit aber auch in einer romantischen Tradition der Selbstbefragung, die bereits bei Jean-Jacques Rousseau oder Charles Baudelaire von zentraler Bedeutung war. Tatsächlich ist die Introspektion jener Ort, an dem sich, insbesondere bei Baudelaire, die Wende von der Romantik zur Moderne gedanklich vollzieht. Denn die Selbstbefragung wird zusehends befreit von romantischen Ideen künstlerischer Geniehaftigkeit oder pantheistischer Welterfahrung und sukzessive überformt von in die Moderne weisenden psychologischen Strukturen  : der Einbeziehung des Körpers und physiologischer Prozesse, der völligen Säkularisierung künstlerischer Schöpfung, von der Abwendung von Geistesphilosophie zugunsten sensualistischer Modelle, bis hin zur protowissenschaftlichen Auffassung von der menschlichen Psyche, die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts dominant wurde. Vuillard befindet sich ganz offenbar in dieser Tradition und hier an einem Punkt, der eben qua Zeitgenossenschaft geprägt ist vom Primat der Psychologie. An diesem Umstand wird sich letztlich auch jener Streit entzünden, der am Ende des Jahrhunderts die Freundschaft zwischen Vuillard und Denis merklich abkühlen ließ. Denis war nach Italien gereist und vollzog dort die völlige Wende hin zum Neoklassi­ zismus, welche später bei Denis in einen politisch höchst fragwürdigen reaktionär-katho­ lizistischen Konservatismus münden sollte.41 Denis rang darum, Vuillard von seiner Idee, die sich wieder am Konzept des Idealschönen abarbeitete, zu überzeugen, und warf Vuillard letztlich subjektivistische Beliebigkeit in seinem Schaffen vor. In seiner Antwort legte Vuillard abermals die Fundamente seines Arbeitens dar.42 Sein Ausgangspunkt sei, verstehbar etwa im Sinne des Sensualismus, sein Erleben und Empfinden. In all den Jahren habe er gelernt, darin Vertrauen zu haben, sodass das instinktive Befolgen seiner inneren 37 38 39 40

Vuillard, Carnets, I.2., 32v (2. April 1891), Hervorhebung M.G. Exemplarisch hier  : Vuillard, Carnets, I.1., 12r–12v (22. November 1888). Exemplarisch hier  : Vuillard, Carnets, I.2., loses Blatt (Nr. 83–84) (September 1891). Dies hat vor allem Morehead betont  ; vgl. Morehead 2007, S. 283 f. Zu verweisen ist hier etwa auf das Konzept der »Aestho-Psychologie«, das Herbert Spencer in seinen Principles of Psychology entwickelt hatte und in dem er der Wahrnehmung von Nervenreizen eine gesonderte Bedeutung einräumt. Vgl. Spencer 1881, § 41 f. und § 533. 41 Vgl. dazu Marlais 1992, Kap. 6 und Freigang 2003, 97–101. 42 Vgl. Brief Vuillards an Denis, 19. Februar 1898, in  : Denis 1957, Bd. I, S. 136–138. Vgl. dazu Bouillon 2003 und Gamboni 2000, S. 53 f.

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Empfindungen und keine äußerlich definierten Kriterien das Prinzip seiner Malerei sei. Insofern liege der Fokus bei ihm nicht nur auf seiner Innenwelt, sondern – kunsttheoretisch bedeutsam – darin, dass er nicht das fertige Werk, sondern den Prozess zu diesem hin ins Zentrum seiner Arbeit stelle. Allison Morehead hat betont, dass dies eine Parallele zum zeitgenössischen Experiment der Psychologie aufweise, das analog durch die Versuchsanordnung bei offenem Ergebnis gekennzeichnet war.43 Hinzu kommt die Betonung der in sensualistischer Innenschau gefundenen ästhetischen Strategie und deren Fokussierung auf das prozessuale Verfahren, welches weder eines vorher gewussten Endproduktes bedarf noch das fertige Werk im Sinne eines monumentalen Meisterwerks überhöht. Vielmehr geraten die Werke so zu Ergebnissen einer Serie von kreativen Prozessen, die in ebendieser Entwicklung ihren Zweck finden und nicht in der Fixierung äußerlich definierter Ideale.44 In diesem Sinne fokussiert Vuillard auch das Gesamtwerk vor dem Einzelwerk. Das Gesamtwerk ist die Summe der einzelnen Empfindungsarbeiten. Ihr verbindliches Moment finden sie in der Persönlichkeit des Malers, der sie entspringen.45 Innere Bilder  : Au lit (1891) – Schlaf- und Traumbild  ?

Gleichzeitig mit Vuillards intensiven Selbstbefragungen entsteht Au lit (1891), das in viel komplexerer Weise als bisher angenommen als Schlüsselwerk und Wendepunkt im Werk Vuillards verstanden werden muss. Eine Person, vermutlich eine Frau, liegt im Bett und schläft (Tf. 6). Die gleiche absolute Ruhe und Ereignislosigkeit dieses Themas spiegelt sich in der Ästhetik des Gemäldes Au lit.46 Das Gemälde ist in ruhigen horizontalen Schichten aufgebaut, deren Grundordnung durch die Waagrechte im Hintergrund markiert ist. Angehängt an diese Waagrechte ist die Signatur des Malers samt Datierung in Taubenblau sowie eine nicht näher zu definierende braune Form, die entfernt an ein um den oberen Arm beraubtes Kreuz erinnert. In der unteren Bildhälfte ergießt sich horizontal ruhig und weich eine hügelige Bettenlandschaft mit Decken, die bis auf den Boden reichen. Zu den Bildrändern hin steigt sie jeweils an, links in eine sanfte Anhöhe verlaufend und rechts in einen großzügig aufgetürmten, schützenden Kissenberg mündend.47 Darin ist unter der braunen Kreuzform ein bis zur Nasenspitze zugedecktes Gesicht einer schlafenden Person erkennbar, das von Vuillard nur mit stark reduzierten Mitteln angedeutet wird. Es ist anzunehmen, dass das Gemälde für Vuillard persönlich eine große Bedeutung hatte. Dafür spricht nicht nur die für diese Schaffensperiode ungewöhnliche Größe 43 Vgl. dazu Gamboni 2000, S. 53 f.; Morehead 2007, S. 281–284. 44 Vuillard stand mit einer Werkgenese, die prozessual geprägt ist und daher das genieästhetisch motivierte einzelne Meisterwerk überwindet, nicht alleine, wie Berger für Degas herausgearbeitet hat. Vgl. Berger 2014b. 45 Vgl. Vuillard, Carnets, I.2., 30r–30v (März 1891). 46 Die Kohärenz von Form und Inhalt wird in der Forschung vergleichbar gesehen, etwa von Perucchi-­ Petri 2008, S. 65. 47 Auch die Forschung empfindet und beschreibt das Gemälde ähnlich, etwa Gamboni 2003a, S. 412.

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Abb. 3  Francisco de Goya  : Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer (Caprichos, 43), um 1793–1798, Aquatinta, 21,6 x 15,2 cm

(73 × 92,5 cm), sondern auch die Tatsache, dass es eines der ersten Werke ist, welche Vuillard datiert. Überdies wurde Au lit nie ausgestellt oder gar verkauft, es hing bis zum Tod des Malers in seinen privaten Räumen.48 Klaus Berger und Ursula Perrucchi-Petri berichten zudem, dass das Bild auf zermürbende Monate des Malers folgt, während derer er nach stilistischer Identität gesucht habe und deren Ende durch Au lit furios bezeugt werde.49 Trotzdem oder gerade deswegen hat Au lit die Forschung seit jeher herausgefordert, stellt es doch eine radikale und letztlich in Vuillards Werk abrupt auftauchende Komposition dar.50 In seiner ästhetischen Anlage ist Au lit einzigartig »radikal in der Umwandlung illusionistischer Darstellung in ein Flächengebilde von fast abstraktem rhythmischen Aufbau.«51 Auch Klaus Berger sieht darin eine Art Umschlagpunkt im Œuvre Vuillards, zwischen herkömmlich abbildender Malerei und den typischen Werken der 1890er Jahre, die durch 48 Vgl. Perruchi-Petri 1976, S. 98 und Perruchi-Petri 2008, S. 65, 68. 49 Vgl. Perruchi-Petri 1976, S. 97 f. und Berger 1980, S. 221. 50 Zuletzt etwa Perucchi-Petri, die bei der Besprechung von Au lit jenseits von groben Kontextualisierungen durch Japonismus und Theater im Vagen bleibt  ; vgl. Perucchi-Petri 2008. 51 Berger 1980, S. 221.

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Abb. 4  Paul Gauguin  : La petite rêve, 1881, Öl auf Leinwand, 60 x 74 cm, Ordrupgaard Museum, Charlottenlund

ihre Mischung aus Motivwiederholung, ornamentaler Formauflösung und dekorativer Gesamtwirkung gekennzeichnet sind.52 Die radikale ästhetische Reduktion in Au lit wird von Berger damit als Moment der klärenden Katharsis gedeutet, die jenen or­na­mentaldekorativen Stil Vuillards überhaupt erst möglich macht. Wie ist dieser Moment zu deuten  ? Au lit von Vuillard gehört zu einer kleinen Gruppe von Werken, die vorderhand das Thema des Schlafens behandeln und vom cloisonnisme abgeleitet sind. Die Forschung hat diese Werke Vuillards ohne größeres Aufhebens unter dem Stichwort des Schlafes und Traumes verortet, einem Thema, welches sich Ende des 19. Jahrhunderts vor allem im Symbolismus großer Aufmerksamkeit erfreute.53 Dass das Schlafen Motiv des Bildes ist, ist augenscheinlich, inwiefern jedoch das Träumen und der Traum fokussiert werden sollen, bleibt zunächst unklar. Gängige Bildformulare, die, von Francisco de Goya ausgehend 52 Vgl. Berger 1980, S. 221 und zur Einordnung im Frühwerk Vuillards zudem Perucchi-Petri 2008. 53 Vgl. etwa Akat. Vuillard, Washington/Montreal/Paris/London 2003, S. 77. Vgl. zum Traum in der französischen Kunst des 19. Jahrhunderts Heraeus 1998 und Hereaus 1999 und neueren Datums Guthmüller et al. 2016.

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(Abb. 3), die Wand hinter den jeweiligen Schläfern als Projektionsfläche für die wild-fantastischen Träume nehmen, werden von Vuillard mit der ostentativ leeren Wand gerade nicht in Anschlag gebracht. Insbesondere der Vergleich mit La petite rêve von 1881 von Paul Gauguin (Abb. 4), auf dem die schlafende Tochter Gauguins Aline dargestellt ist, macht dies deutlich. Das ältere Werk inszeniert vor dem harten Hell-dunkel-Kontrast der Wandfläche effektvoll die den Kopf des schlafenden Kindes bevölkernden, enigmatisch flottierenden Traumwesen.54 Ebenfalls prominente Zugabe zu Aline ist die Clownspuppe, in der Dario Gamboni einerseits ein dekoratives Attribut des Kindes, andererseits einen weiteren Verweis auf die inneren Bilder sieht, da die Puppe in der Kleinkindpsychologie als »Übergangsobjekt«, also als Hybrid aus realem Objekt und Projektionsobjekt der Fantasie des Kindes, verstanden wird.55 Es wäre indes eine weitere, nicht minder plausible Deutung der Clownspuppe in Bezug auf die säuberlich vom Bett abgegrenzte Wand mit den aufsteigenden Traumfetzen möglich. Beide betonen im Sinne der wenig später formulierten Psychoanalyse, und bei Goya ist dies bereits angelegt, dass die Träume des Mädchens zwar ihr zugehörig sind, ihr jedoch, im Sinne eines archaischen Animismus gedacht, als Produkte des jeglicher Kontrolle entzogenen Unterbewussten entgegentreten – sich dem Kind zumindest von außerhalb des schützendes Bettes nähern und insofern, einer Eigendynamik folgend, latent unheimlich sind. Dieser Bildtradition der Schlaf- und Traumbilder ist gemein, dass die imaginative Bewegung, zu der der Rezipient angeregt wird, vom Motiv der Schlafenden ausgeht und von dort anhand von suggestiven Bildelementen das Innenleben der Schlafenden und ihrer Träume befragt. Diese Bildlogik mag auch reflexiv auf den Akt der Rezeption bezogen werden, zuallererst richtet sie sich jedoch auf die Frage nach den Bildern im Kopf der dargestellten Schlafenden oder allgemeiner nach dem Wesen des Traumes.

54 Eine analoge Deutung wurde erst jüngst von Gamboni vorgelegt  ; vgl. Gamboni 2014, S. 86 f.; vgl. dort auch knappe Anmerkungen zur Motivik und Qualität der Traumbilder im Kontext historischer Traumpsychologie (S. 88 f.) sowie die Nennung weiterer, meist biografisch-allegorisch argumentierender Forschung zu La petite rêve (S. 89). Tatsächlich zielt Gamboni nicht auf eine Einzeldeutung von La petite rêve ab, sondern darauf, bereits Anfang der 1880er Jahre den Auftakt jener Reflexionen zu markieren, die dann 1888 zu Vision après le sermon führen sollten. Gamboni verfolgt damit ein neues, jenem der vorliegenden Arbeit durchaus verwandtes Narrativ, das Gauguins Werkgenese unter dem Aspekt der Reflexion über die Qualität und Verfasstheit innerer Bilder im Zusammenspiel mit der Wahrnehmung verstehen will. Was bei diesem ansonsten plausiblen Ansatz, der nicht zuletzt auch psychologische Diskurse einbezieht, verwundert, ist die Tatsache, dass Gamboni weder Erinnerung noch Affekt oder Gefühl diskutiert, obwohl sowohl die Erinnerung als auch die Funktion der Gefühle gerade in ebenjenen Diskursen über das Wesen des Kreativen, aus der Psychologie der inneren Bilder heraus verstanden, eine zentrale Rolle einnehmen. Auch die jüngere Forschung zu Gauguin und der Stimmung von Thomas (2010a) wird nicht diskutiert. Thomas hat ihrerseits auf die stimmungshafte Dimension der Traum-Bilder Gauguins hingewiesen und in Bezug auf die auf Tahiti entstandenen Gemälde darauf verwiesen, dass der Traum hier weniger Innenwendung als vielmehr Modus einer dissoziierten Weltwahrnehmung sei. Vgl. Thomas 2010a, S. 184–192. 55 Vgl. Gamboni 2014, S. 90 f.

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Zweifelsohne schwingt dies aufgrund des Schlafmotivs bei Au lit mit, indes gibt es keine Elemente im Gemälde, die die Befragung der Träume anregen würden. Je länger man den Vergleich auf sich wirken lässt, desto mehr scheint es, als ob es Vuillard gerade nicht um die Assoziation der Traumbilder gegangen ist. Mit Blick auf die motivische und kompositorische Verwandtschaft zu Gauguins La petite rêve wirkt Au lit geradezu wie ein Gegenentwurf, der in vergleichbarer Komposition demonstrativ nach etwas Anderem zu trachten scheint. Umweg über die Aktmalerei – Corots L’Odaliske romaine (Marietta à Rome) (1843)

Damit entspricht Au lit weder vollständig der Bildtradition der Schlaf- und Traumbilder noch konnte die Forschung konkrete Vorbilder oder Anregungen56 und auch keine präzisen Deutungsvorschläge57 nennen. 56 Klaus Berger (Berger 1980) und Ursula Perruchi-Petri (Perucchi-Petri 1976 und 1993) haben sich im Kontext ihrer jeweiligen Japonismus-Forschung ausführlich mit Vuillard beschäftigt. Vuillard profitierte, wie sie zeigen konnten, vom Einfluss der japanischen Grafik in Frankreich. Er setzte sich mit diesen Grafiken auseinander, und es konnten vielfältig direkte Einflüsse nachgewiesen werden. Vuillard war damit Teil eines komplexen Rezeptionsprozesses fernöstlicher Artefakte in Frankreich, der die gesamte zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts durchzog. Subtil rekonstruiert Berger auf der einen Seite die krisenhaften Umstände innerhalb der französischen Kunstszene, die diese langjährige und intensive Rezeption überhaupt erst ermöglichten. Jegliche Form der illusionistischen Abbildung steht ab den 1860ern massiv in Frage  ; das Bild als »Fenster zur Welt« vermag nicht mehr zu überzeugen, es stellt sich die Frage nach einem neuen Sehen von Welt. (Vgl. Berger 1980, S. 7–9.) Und auch der Impressionismus, der eine Antwort zu geben schien, verliert an Strahlkraft. Die Maler beklagen bald, durch das Primat der unvermittelten Seherfahrung zu keiner bildlichen Ordnung und Komposition zu kommen. (Vgl. Berger 1980, S. 8.) Beide Male vermag die japanische Kunst, entscheidende Impulse zu liefern und als »Rettungsanker« (Berger 1980, S. 22) der westlichen Krise der Repräsentation zu dienen. Hierbei ist jedoch keineswegs von »der« japanischen Kunst auszugehen, sondern von einem komplexen und reichen Spektrum stilistisch hoch unterschiedlicher Werke, die jeweils ganz verschieden Einfluss nahmen. Vuillard profitierte davon, dass der Japonismus Ende des 19. Jahrhunderts bereits mehrere Jahrzehnte im Gange war und japanische Artefakte vielfältig auf dem Kunstmarkt, bei Sammlern, Händlern, Intellektuellen und Künstlern zugänglich waren, unter anderem auch bei einer Ausstellung mit japanischer Grafik im Jahr 1890, die an der École des Beaux-Arts zu sehen war. Gerade in Bezug auf Au lit konnte jedoch von Berger und Perucchi-Petri kein eindeutiges Vorbild asiatischer Herkunft ins Feld geführt werden. 57 Im Œuvrekatalog wird von Cogeval und Salomon der Vergleich mit Totenbildern gezogen. Ästhetische Belege werden hierfür jedoch nicht formuliert. Stattdessen argumentieren Cogeval und Salomon mit einem Bildvergleich mit einer Fotografie des heute zeitgenössischen Fotografen Andres Serrano, welche ein an Meningitis verstorbenes Mädchen zeigt. Der Vergleich mit dieser Fotografie, die ja immerhin rund 100 Jahre später entstanden ist, vermag allerdings nicht zu überzeugen. Vgl. Salomon et al. 2003, Bd. I, S. 142–144 und Cogeval in Akat. Vuillard, Washington/Montreal/Paris/ London 2003, S. 77  ; einen Eindruck der Fotos von Serrano erhält man hier  : http://beautifuldecay. com/2013/09/13/andres-serranos-powerful-images-death/ [letzter Zugriff  : 01.02.2020]. Aus der

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Aus ganz anderer und auf den ersten Blick überraschend erscheinender Bildtradition heraus bietet sich jedoch der Vergleich mit Jean-Baptiste Camille Corots L’Odaliske romaine (Marietta à Rome) aus dem Jahr 1843 (Tf. 7)58 an. Wie wir durch die carnets von Vuillard wissen, schätzte und bewunderte er Corot sehr – ausführlicher dazu später, bleiben wir zunächst bei dem Vergleich der beiden Werke. Auf den ersten Blick hat Au lit mit Corots Akt wenig zu tun. Ein kecker, sich dem Rezipienten zuwendender Akt steht dem hermetischen Bild einer Schlafenden gegenüber. Allerdings fallen bei genauerem Vergleich wesentliche formale und kompositorische Parallelen zwischen den beiden Gemälden ins Auge. Beide Werke sind komponiert aus einem Hintergrund, der aus breiten fahlfarbigen, horizontal verlaufenden Schichten besteht. Vor diesem Hintergrund befindet sich auf beiden Werken ein bildparallel angeordnetes Bett, welches gänzlich von einer wattigen Bettdecken- und Kissenlandschaft verdeckt wird. Auf diesem Bett liegt jeweils eine Frau, nur im Fall von Corot nach der Tradition der europäischen Aktmalerei nackt, bei Perspektive ganz anderer kulturhistorischer Kontexte argumentierend, hat Dario Gamboni Au lit in Verbindung gebracht mit dem Thema der vieldeutigen Wahrnehmung Ende des 19. Jahrhunderts. Seine These dabei ist, dass sich ausgehend von den Impressionisten die Malerei Gauguins, Redons und eben auch Vuillards weiterhin aus Reflexionen über das Sehen und vor allem dessen Beschränktheit und Bedingtheiten in Bezug auf gestalthafte Eindeutigkeit speise. (Vgl. dazu Gamboni 2002, S. 86–104 und Gamboni 2003a) Neben einigen anderen Werken Vuillards gehört Au lit für Gamboni zu jenen Werken, die angeregt seien durch Rätsel- und Vexierbilder, in denen die Polyvalenz visueller Wahrnehmung spielerisch humoristischen Pointen zugeführt wird. (Vgl. Gamboni 2000, S. 57 f., 2002, S. 101–104 und 2003a, S. 411 f.) Vuillard habe sich von derlei uneindeutigen und absichtsvoll verunklärenden Darstellungsweisen wie auch dem Intimen Theater inspirieren lassen. Seine Werke seien ähnlich wie Kippbilder, in denen etwa Umrisslinien derart konstruiert sind, dass sowohl die Figur als auch der Grund gestalthafte Qualität hat, mithin eine Hierarchisierung in Vorder- und Hintergrund oder Positiv- und Negativform nicht mehr gelingt, sondern der Betrachter die paradoxale Gleichwertigkeit beider Formen erfährt – in der heutigen Forschung multistabile Wahrnehmung genannt. Dabei wird ihm die aktive und deutende Rolle des Sehens demonstriert, denn das Sehen des Betrachters entscheidet, auf welche Gestalt er fokussiert (die parallele Wahrnehmung beider Gestalten ist nicht möglich). Gerade Au lit biete laut Gamboni mit der Komposition aus klaren Linien und Flächen ähnliche Anregung zur Suche nach »verborgenen« Gestalten im vermeintlichen Hintergrund bzw. Negativformen. Anders als in Vexierbildern seien in Vuillards Werken jedoch keine konkreten Lösungen oder Pointen verbaut. Vielmehr blieben sie bei der Demonstration der uneindeutigen Verunklärung von Form und Gestalt stehen. (Vgl. dazu Gamboni 2003a, insbes. S. 412.) Gamboni lenkt damit den Blick weg von der Frage nach den möglichen Trauminhalten der Schlafenden und hin zu einer reflexiven Bewegung, die dem Rezipienten die aktive Dimension seiner Kunstbetrachtung vor Augen führt. Denn die Tatsache, dass man dieses und jenes in den Linien und Kurvaturen des Gemäldes erkennen zu glaubt, zeigt, wie groß der gegenständlich deutende Anteil beim Sehen ist. Dem ist zweifellos zuzustimmen. Indes gibt es Hinweise, die nahelegen, dass die reflexive Bewegung in Au lit wesentlich nuancierter angelegt ist als bloß in der formalästhetischen Verunklärung von Umriss und Gestalt. 58 Provenienz  : bis 1875 im Besitz des Malers, 1875  : vente posthume Corot (No 374) durch das Hôtel Drouot, erworben von M. Durand-Ruel  ; danach Sammlung Nicolas-Auguste Hazard, Orrouy, 1919 Verkauf an Victor Rosenthal, 1934 Verkauf durch die A.G. Galerie Charpentier, Paris, an das Musée du Petit Palais, Paris. Vgl. Akat. Corot, Paris/Ottawa/New York 1996, S. 202.

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Vuillard zugedeckt. Beiden Werken ist weiterhin der höchst spezifische Farbakkord aus Beige, Ocker und Grau gemein. Gerade dieser dezente Farbakkord, der sein Pendant in der reduzierten Bildausstattung hat, hebt Marietta in der französischen Akttradition als Sonderfall hervor.59 Vuillard zollte Corot in den carnets vielfach Bewunderung für dessen dezente Farbakkorde, seine Harmonien aus Grautönen. Im August 1890 etwa schreibt er über die subtilen Farbakkorde Corots  : »un accord parfait de gris nombreux«.60 Die in ihrer Fahlheit verwandte Farbkomposition in Au lit ist also kaum ein Zufall. Eine weitere Parallele findet sich in der Position der in den Bildern angebrachten Schriftzüge, die sich auf beiden Werken an der gleichen Stelle befindet, wenn auch der Inhalt des Schriftzugs keine Parallele aufweist. Bei Corot ist es die Identifikation der Dargestellten als ­»Marietta à Rome«, bei Vuillard ist es seine Signatur samt Datierung. Lässt man sich trotz der auf den ersten Blick unterschiedlichen Sujets auf den Vergleich ein, erscheint des Weiteren die auffällig gefaltete Anordnung der Kissen hinter der Schlafenden in Au lit als Reflex auf die gleichermaßen übliche und trotzdem extravagante Position des Ellbogens der römischen Odaliske. Schließlich sind auf beiden Werken die Gesichter mitsamt den Haaren in ähnlichem Farbton gehalten, und beide sind klar hervorgehoben, sei es durch den direkten Blick Mariettas aus dem Bild oder sei es durch die farbliche Absetzung von Gesicht und Haaren vom Rest des Gemäldes bei Vuillard. Ebenso evident wie die Ähnlichkeiten sind allerdings auch die Unterschiede. Corot malt einen Akt und knüpft damit bei aller Umwandlung dieses Motivs an jene in der Neuzeit fußende Akttradition an, die hin zum 19. Jahrhundert prominent durch Jean-­AugusteDominique Ingres und Eugène Delacroix, aber auch François Boucher und Francisco de Goya weiterentwickelt worden war. Vuillard wiederum malt keinen Akt, sondern eine völlig zugedeckte Schlafende. Marietta blickt forsch aus dem Bild, die Schlafende Vuillards wiederum erwidert naturgemäß den Blick des Betrachters nicht. Ebenso wenig vergleichbar ist der Bettenhügel links im Bild Vuillards, da er kein Pendant bei Corot hat, oder das braune »T« rechts oben im Bild des Nabis. Geht es bei dem einen um den sinnlich-persönlichen Bezug zur Frauengestalt, wählt der andere nachgerade eine völlig entkörperlichte Darstellung der Frau. Diese hier festgemachten starken Widersprüche beginnen indes zu schmelzen, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Vuillard, der im Allgemeinen gerade dem Akt auffällig wenig Aufmerksamkeit schenkte – der enge Freund Bonnard z.B. widmet sich zeit seines Lebens diesem Genre –, just in der Zeit, in der auch Au lit entstand, sich vielfältig mit dem Akt beschäftigte und um entsprechende Bildfindungen rang.61 Au lit ist also im Kontext von Vuillards Auseinandersetzung mit der Aktmalerei – und Corots römische Odaliske gehörte gewiss dazu – entstanden. 59 Vgl. zu Corots L’Odaliske romaine (Marietta à Rome) Pomarède 2011b. 60 Vuillard, Carnets, I.1., loses Blatt (Nr. 71) (31. August 1890), Dat. gem. Easton 1989, S. 16. 61 Vgl. zur Aktmalerei Vuillards Zettel 2014, die sich jedoch nicht weiter mit der Zeit um 1891 beschäftigt, sondern überwiegend mit Werken nach 1900, in denen Vuillard sich dann doch wiederholt diesem Genre widmete.

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Abb. 5  Petit nu, ca. 1891, Öl auf Karton, 19 x 33 cm, unbekannt (II-114)

Abb. 6  Nu avec couverture rouge, ca. 1891, Öl auf Karton, 14 x 41,5 cm, Privatsammlung (II-111)

Fast allen Akten Vuillards dieser Zeit ist die strikte Verweigerung der Darstellung des Gesichts gemein (Abb. 5, 6). Das ist ein Aspekt, den er zwar mit anderen Zeitgenossen teilt, der bei Vuillard jedoch auffallend stark ausgeprägt ist. Die Frauen verweigern nicht nur ihren Blick, oftmals haben sie sogar ihr Gesicht verborgen, haben den Kopf abgewandt oder das Gesicht mit ihren Händen bedeckt. Sie versuchen zudem den Anblick ihres Körpers mit gewundenen Posen zu verbergen. Beides aber und insbesondere der Blick der Frau aus dem Bild, zumindest aber die Preisgabe ihres Antlitzes, ist für das Genre der Aktmalerei zentral. Ungeachtet der Art, wie der Blick der weiblichen Figur gestaltet ist, ja selbst wenn sie die Augen geschlossen hat – allein der freie Blick des Betrachters auf das Antlitz des Aktes ist gleichnishafte Legitimation des Voyeuristischen und somit des Blicks des Rezipienten. Der Blick der Frau aus dem Bild ist darüber hinaus Angebot

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und Anregung zur imaginierten Interaktion.62 Vuillard bedient dieses Muster dezidiert nicht63, und in den carnets finden sich Hinweise darauf, dass Vuillard dieser traditionellen Behandlung des Motivs Frau distanziert gegenüberstand. Eine Skizze im August 1890 zeigt drei karikaturistisch verzerrte alte dickliche Männer, welche Vuillard unmissverständlich ironisch mit »peintres de femmes«64 beschreibt.65 Im Ergebnis schuf Vuillard Akte, die den Anblick des Körpers sowie den Blick der Frau und damit die Legitimation des unverhohlen voyeuristischen Blicks zwar nicht verweigern, zumindest aber brechen und damit Vuillards Unbehagen an der akademischen Tradition beredten Ausdruck geben. Innerhalb dieser Tradition stellt Corots Aktbildnis der Marietta eine ungewöhnlich persönliche und formalästhetisch avancierte Variante dar. Entscheidend ist zunächst, dass Marietta von Corot kein beliebiges Exempel der Aktmalerei des 19. Jahrhunderts ist, sondern, wie Linda Nochlin herausgearbeitet hat, in der ohnehin exzeptionellen Aktmalerei Corots abermals einen besonderen Status innehatte.66 Zwar malte Corot mehrere Akte, keiner ist jedoch so reduziert und persönlich wie das Bildnis der Marietta, welches 1843 in Rom entstand.67 Als Meister der »nu sans qualités«68 schreibe Corot die Tradition der Aktmalerei Ingres’ und Delacroix’ zwar fort, nicht jedoch ohne sie in seinen Akten subtil umzuformulieren. So habe Corot, laut Nochlin, den Akt entschieden, aber behutsam aus jeglichem ikonografischen Rahmen (biblisch, mythologisch, bukolisch, arkadisch, orientalisch) befreit und die weiblichen Figuren zudem in die Natur eingebettet, wie es paradigmatisch in La Nymphe de la Seine von 1837 der Fall ist.69 Die Akte werden so von der ikonografischen Projektionsfläche in Naturwesen verwandelt, zu denen Corot kommt, indem er zunächst persönlich sinnliche Aktstudien erstellt und diese dann in einem 62 Auf avancierte und als skandalös empfundene Art und Weise wurde die Funktionsweise der abendländischen Tradition des Aktes und der Rolle des Blicks darin bekanntlich in Édouard Manets Olympia (1863, Öl auf Leinwand, 130,5 × 190 cm, Musée d’Orsay, Paris) malerisch reflektiert. Vgl. dazu Lüthy 2003, S. 93–95. 63 Die Forschung hat hierzu psychologisierende Deutungen vorgeschlagen  : Francesca Berry und Susan Sidlauskas gehen von einer Form der Verklemmung des Malers aus  ; Kuenzli hingegen attestiert Vuillard in anderem Kontext eine nachgerade emanzipatorische Tendenz. Vgl. Berry 2011, Sidlauskas 1997 und Kuenzli 2010a, S. 13–15 und S. 187–193. 64 Vuillard, Carnets, I.1., 50v (April 1890)  ; Alexandre (1998, S. 186) entziffert die Datierung der Skizze abweichend mit August 1890. 65 Es ist nicht klar, welche Maler Vuillard hier karikiert. Alexandre hat folgende Maler vorgeschlagen  : William Bouguereau, Jules Lefebvre, Léon Bonnat und/oder Carolus-Duran. Vgl. Alexandre 1998, S. 186. 66 Vgl. Nochlin 1998, S. 337 und Pomarède 2011b, S. 110. 67 Vgl. dazu auch Pomarède 2011b, S. 110. 68 Wie Nochlin Corot im Titel ihres Aufsatzes nennt  ; vgl. Nochlin 1998. 69 Öl auf Leinwand, 30 × 45 cm, Privatsammlung. Die Befreiung des Aktes von einem ikonografischen Rahmen findet sich freilich an vielen Stellen der Kunstgeschichte, etwa bei François Boucher und dessen Gemälde Ruhendes Mädchen (Luise O’Murphy), 1751, Öl auf Leinwand, 59,5 × 73,5 cm, Wallraf-Richartz-Museum, Köln, oder bei Francisco José de Goya y Lucientes La maja desnuda, ca. 1797–1800, Öl auf Leinwand, 97 × 190 cm, Museo del Prado, Madrid.

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zweiten Schritt in seine arkadischen Stimmungslandschaften hineinprojiziert.70 Der akademisch-präzise Blick eines Ingres, aber auch jener sinnlich besitzergreifende Blick eines Delacroix wird mit Corot dadurch zunehmend modifiziert. Spätestens mit dem Bildnis der Marietta formulierte Corot den weiblichen Akt als eine private und nicht mehr akademisch oder öffentlich vermittelte Angelegenheit. Die Name Mariettas an der Wand, welcher die Dargestellte aus der Anonymität befreit und dem Bild einen Erinnerungscharakter und persönlichen Bezug zwischen Maler und Modell einschreibt, betone, wie Nochlin herausstellt, zudem den informellen und intimen Charakter des Bildes.71 Dass es sich jedoch nicht um eine spontane und momenthafte Bildfindung handelt, sondern um eine a posteriori aus der Erinnerung, ergibt sich aus der reduzierten Farbskala und der elaborierten, kaum spontan gefundenen Komposition des Werks.72 Die schlichte, streng bildparallele Komposition entfaltet sich ausschließlich im Farb­ akkord Braun – Weiß – Beige. Die Farbtöne, welche sich sowohl an der Wand als auch im Inkarnat finden und zudem der ungrundierten Leinwand höchst ähnlich sind, werden von Corot subtil verflochten und machen die im akademischen Akt stets latent mitschwingende Analogisierung von Leinwand und Frauenkörper als Projektionsflächen unumwunden transparent.73 Die Bildlogik, die dem Aktgenre inhärent ist, zielt auf die imaginative Reaktion des Rezipienten angesichts eines Motivs, das als Ausgangspunkt dient für eine imaginative Bewegung der intimen und assoziativen Ausschweifung. Im Moment der ostentativen Transparentmachung dieser das Modell zum Objekt degradierenden Bildlogik des Akts wird Letztere aber, wenn nicht gebrochen, so doch gestört. Das Gemälde Corots nimmt so zweifach Stellung zur Tradition der Aktmalerei, zunächst als persönlich emotionale Hommage74 und sodann, indem es dazu beiträgt, die Inszenierung des Frauenkörpers als Teil einer Bildlogik zu verstehen, in der der dargestellte Körper Abstoßungspunkt zu einer imaginativen Aneignung dessen ist.75

70 Vgl. dazu Pomarède 2011a, S. 30 f. Zu den lyrischen Landschaften als Stimmungslandschaften vgl. Thomas 2012, S. 365. 71 Nochlin 1998, S. 337. 72 Vgl. Pomarède 2011b, S. 110. 73 Vgl. zu diesem Verständnis von Visualität und dem Blick als Austragungsort der geschlechterspezifischen Machtverhältnisse im Genre des Aktes die exemplarische Analyse zu diesem Thema von Penz 2015. 74 Vgl. Pomarède 2011b, S. 112. 75 Die Corot-Forschung hat gewisse Probleme mit dem Bildnis der Marietta, da es allzu vorschnell als private Erinnerung abgetan wird, ohne seine Ästhetik vollends zu analysieren. So ist der Forschung unter anderem bislang auch entgangen, dass das in einer Karikatur von André Gill (Abb. 14) zu Recht fixierte Kompositionsmuster, welches allen Landschaften Corots unterliege, das gleiche ist, welches auch dem Bildnis der Marietta unterliegt. Ebenso wurde zu wenig beachtet, dass Corot diese Komposition in Grundzügen (Bildanlage, Schriftzug an der Wand etc.) bereits 1825 im Gemälde Jeune Italien assis dans la chambre de Corot à Rome anwandte (Öl auf Papier, aufgezogen auf Leinwand, 24 × 30 cm, Musée des Beaux-Arts, Reims).

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Abb. 7  Le Rideau jaune, ca. 1893, Öl auf Leinwand, 35 x 39 cm, National Gallery of Art, Washington, D.C. (IV160)

Tabula rasa  : Zu einer Reflexion der inneren Bilder

Die zugedeckte Schlafende in Au lit ist mithin nicht nur eine im fin de siècle gängige Schlafdarstellung, die zunächst an eine nach dem Trauminhalt fragende Bildlogik denken lässt. Vielmehr macht die spezifische Auseinandersetzung mit Corot und der abendländischen Akttradition Au lit zu einem ironischen Kommentar zu ebendieser Tradition. Man kann das Vorbild Corots als Ermutigung für Vuillard verstehen, sich die Tradition der Aktmalerei frei anzueignen und hier weniger auf das Motiv des nackten Körpers zu fokussieren als, wie zu zeigen ist, auf die damit verbundene Assoziationen auslösende Bildlogik. Gleichwohl und trotz der Abwendung von der Tradition und auch von Corot bleibt Au lit doch der interpikturale Verweis auf das Bildnis der Marietta eingeschrieben. Was genau ist die gedankliche Bewegung, die Vuillard in Au lit weg vom Akt, aber dennoch Corots Marietta verbunden und motivisch an Schlafdarstellungen anknüpfend, vollzieht  ?

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Abb. 8  La femme au placard, ca. 1894/95, Öl auf Karton, auf Holz, 37 x 33,5 cm, Wallraf-RichartzMuseum, Köln (IV-159)

Zeitgenossen haben immer wieder den subtilen Humor und die raffinierten Wendungen Vuillards betont.76 In Au lit findet dies in bildlicher Weise einen pointierten Niederschlag. Der gleichermaßen sensible wie gewitzte junge Maler Vuillard nimmt, so muss man es verstehen, Marietta zum Anlass, die Aktmalerei zu reflektieren im Hinblick auf ihre Bildlogik, in der die Bildoberfläche Ort von Zurschaustellung und Projektion ist. Noch 1899 schreibt Camille Mauclair über das Motiv der Frau  : »Son corps est secret […] elle est sans mystère moral, elle attend, comme une page blanc, que la sensibilité de l’homme y inscrive son rêve.«77 Was auf Corots Akt noch zutrifft – die Frau als blanke Projektionsfläche –, wird von Vuillard gebrochen, indem er die Frau sorgfältig mit einer Decke zudeckt. Die Referenz auf den Akt und das Spiel mit der Decke führen zu der eigentlichen Pointe von Au lit, nämlich einem wesentlich differenzierteren Hinweis darauf, wie die spezifische Beziehung zwischen Bild und Betrachter ist. Das Bild ist nicht nur mehr oder weniger eindeutige Form, sondern auch »Decke«, insofern als es nicht nur zeigt, sondern ebenso sehr verbirgt. Die Malerei als verbergende, als nicht zu sehen gebende ist ein Thema, das 76 Vgl. Friesen 2008a und Gamboni 2000, S. 57. 77 Camille Mauclair, La Femme devant les peintres modernes, in  : La Nouvelle Revue, (n.F.) 1, 1899  ; zit. nach Silverman 1992, S. 62.

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Abb. 9  Le placard à ligne, ca. 1893, Öl auf Karton, 25 x 20 cm, Musée d’Orsay, Paris (IV-137)

sich durch eine Vielzahl der Werke Vuillards zieht und durch zugezogene Vorhänge, nicht einsehbare Schubladen oder Paravents angezeigt wird (Abb. 7–10). Entscheidend ist jedoch die Farbe der Decke, die an ein leeres Blatt oder eine leere Leinwand erinnert und mit der Vuillard die Schlafende großzügig überzieht. Ja, die Farbe erinnert nicht nur an eine Leinwand, sondern der trockene Farbauftrag lässt die Leinwand hier und da sogar durchblitzen, sodass beides buchstäblich in eins fällt. Ironischerweise unterläuft er mit der Verhüllung nicht nur die Bildlogik des Aktes, sondern macht sie unhintergehbar präsent. Der derart »zugedeckte« Akt zeigt sein Wesen als bespielbare Fläche. Die Analogie zwischen Akt und Leinwand als Projektionsfläche wird so ein zweites und buchstäbliches Mal im Bild vollzogen. Die Frauenfigur ist nackt wie auch derart zugedeckt stets Anlass zur projizierenden Eigentätigkeit des Rezipienten. Die Bildlogik des Aktes wird damit zu einer alle Bilder betreffenden gemacht. Wenn Vuillard durch die Referenz auf den Akt die Aneignung des Gemäldes durch den Rezipienten hervorhebt, dies aber kombiniert mit dem Motiv des Schlafes, welches die imaginative Einfühlung in die Traumwelt der Dargestellten evoziert, so führt er diese zwei Bildlogiken zusammen und hebt sie auf eine generelle Ebene. Ausgehend vom gescheiterten Versuch, das Motiv, die inneren Bilder der Schlafenden nachzuvollziehen, wird der Blick, in der Logik des Aktes auf sich selbst zurückgeworfen als Verweis auf die Eigentätigkeit der inneren

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Abb. 10  Le Tiroir, 1892, Öl auf Leinwand, 48 x 36 cm, Privatsammlung (IV-55)

Bilder des Betrachters. Dadurch wird diese Eigentätigkeit bewusst gemacht als die normalerweise durch ein Gemälde ausgelösten Gefühle und Assoziationen, Erinnerungen, hochgespülten Reminiszenzen und Gestalterkennungen, die den Wahrnehmungsvorgang prägen. Diese Reflexion geht über die von Gamboni beschriebene formalästhetische Ambiguität weit hinaus und damit auch über die zeitgenössische Aussage Maurice Denis’, wonach ein Gemälde zuallererst ein Formensemble aus Farben, Flächen und Linien sei, bevor es durch die Rezeption gegenständlich semantisiert werde  : »Se rappeler qu’un tableau – avant d’être un cheval de bataille, une femme nue, ou une quelconque anecdote – est essentiellement une surface plane recouverte de couleurs en un certain ordre assemblées.«78 In seiner subtilen Auseinandersetzung mit der Tradition und in der Folge mit der verblüffenden Verbindung von Akt und Schlafbild geht Vuillard hinaus über 78 Vgl. Denis 1913a, S. 1  ; vgl. dazu Thomson et al. 2012. Belinda und Richard Thomson haben den Essay kürzlich einer präzisen Rekonstruktion unterzogen, wonach sich das eigentlich nicht verwunderliche Bild einer recht improvisierten Schrift des ambitionierten und vor allem rhetorisch gebildeten 19-Jährigen ergab, der mit heißer Nadel eine Proklamation formulierte, die – und das ist unbestritten die große Qualität des Essays – den Nerv der Zeit traf, im Kern jedoch alles andere ist als ein subtiles und wohlponderiertes Manifest.

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Abb. 11  Paul Gauguin  : Mette Gauguin dormant sur un canapé, ca. 1875, Öl auf Leinwand, 24,5 x 32,5 cm, The Kelton Foundation

eine bloße Umsetzung des von Denis prägnant verbalisierten grundlegenden bildtheo­ retischen Umwälzungsprozesses. Das Spezifikum des Aktes – die imaginative Aneignung durch den Betrachter – wird derart zu einer allgemeinen metapikturalen Tatsache. Es handelt sich dabei um einen psychischen Vorgang, in dem diverse Assoziationen und Abschweifungen aufgerufen werden. Das ist mehr als die bloße Formerkennung. Au lit wird so zur gemalten Position, zu einer künstlerischen Erforschung von Mechanismen der Bildwahrnehmung. Für diese auf die Malerei als solche gerichtete Deutung spricht auch jenes bisher rätselhaft verbliebene braune kreuzförmige Konstrukt oben rechts über der Schlafenden. Hierzu hilft ein erneuter Blick auf Gauguin und dessen kleine und intime Darstellung seiner schlafenden Frau Mette aus dem Jahre 1875 (Abb. 11). Auch hier vermag der Betrachter nicht in die innere Sphäre der Schlafenden einzudringen, der nackte Arm wirkt dabei nachgerade wie eine schützende Abschrankung. Ebenso wie bei Vuillard ist der Betrachter auf der Suche nach einem imaginativ verwertbaren Indiz und wird bei Gauguin in dem kleinen Haufen zur Wand gestellter Leinwände auf rotem Tuch, unten rechts im Gemälde, fündig. Die motivische Integration von Gemälden in das Bild der Schlafenden stellt analog, wenngleich weniger subtil, einen reflexiven Verweis auf den Bezug zwischen

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inneren Bildern und dem Medium der Malerei her.79 Bezeichnenderweise handelt es sich um umgekehrte Leinwände, dem Betrachter wird nur ein braunes Kreuz, die kreuzförmige Stützkonstruktion eines Keilrahmens gezeigt. Seit der holländischen Malerei ist die umgedrehte Leinwand, erkennbar am Holzkreuz, als »Potentialität aller Bilder«80 zu verstehen. Diese Deutung trifft vermutlich auch für die braune Kreuzform in Au lit zu. Dann gipfelt die Betrachtung von Au lit also nicht in der Frage nach dem, was dargestellt ist, oder nach dem, was geträumt wird. Au lit ist vielmehr, der umgedrehten Leinwand gleich, der Verweis auf die unendlichen Möglichkeiten der gemalten Bilder, die ihrerseits angewiesen sind auf das ebenfalls endlose assoziative Zusammenspiel mit den inneren Bildern des Betrachters.81 Indem Au lit hierfür keinen gängigen Ansatzpunkt gibt, das freie assoziative Zusammenspiel ausgehend von konkreten oder suggestiven Bildelementen negiert, setzt Vuillard diesen Mechanismus radikal ins Bild. Gerade in seiner Verweigerung macht das Gemälde sensibel für die assoziativen und imaginativen Oszillationen, die die Wahrnehmung und ihre ästhetischen und emotionalen Anteile prägen. Ganz analog zu den Zeitgenossen, etwa Gauguin, bezieht Vuillard diese Überlegungen nicht nur auf den Prozess der Rezeption von Kunst, sondern ebenfalls auf deren kreatives Zustandekommen.82 Gleichermaßen wie der Rezipient in produktiven Austausch tritt, tut es der Maler in seiner Auseinandersetzung mit Kunst und Welt. Wie im Folgenden deutlich wird, kreist Vuillard eng um die Fragen der äußeren Reize und des inneren Zutuns in Form von Assoziationen, Erinnerungen und Gefühlen. Dabei wird sich die ästhetische Strategie des Malers immer mehr aus der Introspektion speisen, um das innere Erleben in seinen Gemälden, wie in den eingangs besprochenen Marie penchée sur son ouvrage dans un intérieur und L’Album, erfahrbar zu machen. Die carnets des Malers geben weiteren Aufschluss darüber, wie er diese Gedanken für seinen produktionsästhetischen Ansatz fruchtbar macht.

79 Auch Gamboni deutet dieses Gemälde als Verweis auf die inneren Bilder und deren konstitutive Relevanz für die Malerei  ; vgl. Gamboni 2014, S. 83. 80 Wagner 2004, S. 74, vgl. dazu auch Schindler 2015, S. 127. 81 Am Rande erwähnt sei der Vorschlag Perruchi-Petris, wonach das zentrale Thema von Au lit, das sie an der an ein Kreuzfragment erinnernden braunen Form festmacht, der religiöse Glaube Vuillards sei. Diese These gründet auf biografische Indizien, die mit dem Japonismus recht eigentlich nichts zu tun haben und mir im Hinblick auf das Werk und vor allem dessen Ästhetik nicht plausibel erscheinen. Vgl. Perruchi-Petri 1976, S. 100–102 und Perruchi-Petri 2008, S. 66  ; die gleiche These findet sich bei Cogeval, in  : Akat. Vuillard, Washington/Montreal/Paris/London 2003, S. 77. 82 Zu Gauguin vgl. Gamboni 2003b.

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»Essaye de peindre de mémoire«83

Ab 1888 finden sich wiederholt Eintragungen in Vuillards carnets, die sich mit der Frage beschäftigen, wie gelungene Malerei funktioniert. Dabei geht es dem Maler weniger um die Erörterung der Frage, wie das fertige Werk formalästhetisch beschaffen sein solle, als vielmehr um produktionsästhetische Fragen. Auch diese zielen letztlich auf das ästhetische Ergebnis ab, versuchen aber, den kreativen Akt nicht an einer apriorischen ästhetischen Norm (Ideal, das Schöne) zu orientieren, sondern ihn in seiner Prozessualität zu reflektieren. Im Gegensatz zur klassizistischen Kunstauffassung, die abstrakte Gesetze der Schönheit ins Zentrum stellt, nehmen die Gedanken des jungen Malers also ihren Ausgang von der Erkenntnis, dass das Kunstwerk nicht unabhängig von der Prozessualität seiner Hervorbringung gedacht werden kann. Ins Zentrum wird die Reflexion darüber gestellt, wie der kreative Prozess des Malens verlaufen müsse, welche Fähigkeiten und Bewusstseinsinhalte relevant für die Malerei seien, welche Theorie oder welche Praxis zielführend sei. Das Ergebnis ist dabei mitnichten irrelevant, die Prämisse ist aber, dass zu einer gelungenen Bildfindung nur über die Reflexion der kreativen Prozesse zu kommen sei. Die Bildfindung sei dann nicht isoliertes Ergebnis, sondern erhalte ihren ästhetischen Wert nicht zuletzt durch die dieses Ergebnis prägenden Spuren kreativer Arbeit. Das Gemälde ist so gleichermaßen Ergebnis wie Reflexion des ästhetischen Verfahrens  ; die reflexive Selbstbespiegelung wird damit zum zentralen Teil der anvisierten Ästhetik. In diesem Sinne hält Vuillard 1890 programmatisch für seine Gedanken fest  : »Il faut donc avoir une méthode pour la production dont on ne peut connaitre par avance le résultat.«84 Innerhalb der Reflexion über ebenjene Methode kommen in den über weite Strecken unsystematischen Eintragungen bestimmte Begriffe und Assoziationen immer wieder auf. Gerade in den frühen Jahren, die Vuillards Findungsphase markieren, dient die mémoire wiederholt als gedanklicher Anker. Es ist evident, dass Vuillard mit diesen Gedanken Teil eines umfassenden Diskurses ist, mit dem er auf vielfältige Weise verflochten ist. Die von ihm selbstverständlich verwandten Begriffe und Termini bedürfen daher der Kontextualisierung, um Vuillards Ansatz und seinen Beitrag zu diesem Diskurs verstehen zu können. Die mémoire taucht in den carnets verteilt über einen längeren Zeitraum in verschiedenen Kontexten auf. Ende 1888 beschreibt Vuillard die Notwendigkeit, das Gesehene als »ensemble« visuell verarbeiten zu müssen  ; das heißt, der Maler dürfe sich nicht an einzelnen Farben oder Formen orientieren, sondern müsse die Gesamtheit der Erscheinung zum Gegenstand seiner malerischen Praxis machen. Dazu sei eine entsprechende Erinnerung die notwendige Fähigkeit  :

83 Vuillard, Carnets, I.1., 32v (Dezember 1888). 84 Vuillard, Carnets, I.2., 22v (24. Oktober 1890). Morehead hat diesbezüglich auf die Parallele zwischen den ergebnisoffenen Experimenten der Psychologen und Vuillards Werkprozess hingewiesen. Morehead 2007, S. 251–259.

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Pour cela je reporte mon œil qui vient de saisir un rapport de forme ou de couleur sur le papier ou sur la toile, je dois retrouver le même rapport. […] Pratiquement nécessité de travailler surtout de mémoire et de voir toujours dans l’ensemble la masse l’air etc. Si l’appareil cérébral n’est pas en état de saisir ces rapports, de les garder un moment et de les reporter comme un somnambule sur le papier ou toile, inutile de dépenser son temps.85

Auffallend ist bereits hier die Betonung des »appareil cérébral«, was darauf hindeutet, dass Vuillard schon in dieser Zeit psychologische Ansätze in seine Gedanken integrierte. Es ist nicht das Auge oder der Geist, der die Eindrücke behalten müsse, sondern der zerebrale Apparat und hier insbesondere die Erinnerung. Diese trägt offenbar dazu bei, den Gesamt­ eindruck und die Verbindung der Objekte und Elemente (»rapports«) untereinander zu fokussieren und damit weniger abgeschlossene Formen, Figuren oder Gegenstände. Die Arbeit an dieser Methode beschäftigte Vuillard intensiv, im Dezember 1888 hält er lakonisch fest  : »Essaye de peindre de mémoire.«86 Im Verlauf der nächsten Monate differenzierte er seine Gedanken und die malerische Praxis dahingehend, dass er immer präziser danach fragte, was genau Inhalt der Erinnerung sein könne und solle und welche Qualität dies im Verhältnis zu Malerei und Objekt habe. So fragt er sich im Sommer 1890, ob und inwiefern die Malerei ihren Ausgang von einer »sensation« nehme und der kreative Prozess auf einer Erinnerung dessen, einem »renouvellement de sensation passé« basiere.87 Im Herbst stellt er fest, dass diese »sensations« nicht so sehr der Rekonstruktion gegenständlich (begrifflich) definierter Objekte dienen, sondern dass sie als »sensations« selbst im Zentrum stehen. »Sensations« können hierbei für Empfindungen im Kontext von Wahrnehmung und Gefühl stehen. Letztlich rückt Vuillard die Emotion, welche der Maler beim Anblick einer bestimmten Szenerie empfindet, in den Fokus, denn diese gelte es mittels der Erinnerung malerisch zu verarbeiten. Er schreibt  : »[…] une tête de femme vient de me donner certaine émotion, cette émotion seule doit me servir et je ne dois chercher à me souvenir du nez ou de l’oreille, cela n’importe en rien  ; regardons ce que je fais, le nez et l’oreille que je fais mais ne cherchons pas à nous rappeler autre chose que l’émotion chose fort complexe dans ses causes.«88 Im Zentrum stehen die Emotionen, die durch einen Anblick ausgelöst werden. Diese Emotionen, bei denen vorerst unklar ist, was genau Vuillard darunter versteht, sollen und können offenbar nicht unmittelbar auf die Leinwand übertragen werden, sondern nur mittels der Erinnerung. Im Gegensatz zur Meinung Allison Moreheads, die die Auseinandersetzung Vuillards mit der mémoire auf die Jahre 1888/89 beschränkt wissen will,89 85 Vuillard, Carnets, I.1., 12r (22. November 1888), Hervorhebung M.G. Gamboni widmet den Ausführungen zur mémoire, abgesehen von einer Beiläufigkeit, keine Aufmerksamkeit. Vgl. Gamboni 2003b, S. 407. 86 Vuillard, Carnets, I.1., 32v (Dezember 1888), Hervorhebung M.G. 87 Vuillard, Carnets, I.1., 55r (12. Juli 1890). 88 Vuillard, Carnets, I.2., 20v (6. September 1890), Hervorhebung M.G. 89 Vgl. Morehead 2007, S. 236–241.

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ringt Vuillard auch 1890 und danach noch immer mit seinen künstlerischen Zielen und der entsprechenden mnemotechnischen Strategie  : »Ainsi est-il faux de vouloir se rappeler un œil, une oreille, un souvenir quelconque, non pas un objet, suffit comme sujet d’une œuvre d’art, mais ce souvenir est la condition nécessaire. Maintenant de quelle nature peut-il être  ? Ce souvenir n’a rien de précis dans les objets, ce n’est pas une copie.«90 Die zentrale ästhetische Strategie muss die Erinnerung sein, sie sei die »condition nécessaire«, und entgegen landläufiger Auffassung ist die Erinnerung keine auf Ähnlichkeit zielende Kopie, sondern birgt offenbar ein genuin ästhetisches und emotionales Potential. Deutlich wird bis hierhin  : Nachdem Vuillard sich von der naturalistischen Einstellung verabschiedet hatte, das visuelle Erscheinungsbild von Welt als Ausgangspunkt s­einer Gemälde zu nehmen, und auch davon, gewisse Theorien, wie sie mit Gauguin oder den Neoimpressionsiten verbunden waren, zugrunde zu legen, definiert er ein neues Telos seiner Malerei  : das Gefühl. Die Idee, dass das Ziel der Malerei ein wie auch immer geartetes Abbild des visuellen Anscheins von Welt sein solle, wird abgelöst von der Idee, dass es die Emotion, das Gefühl einzufangen gilt, das sich mit einem Seherlebnis verbindet. Vuillard beginnt damit in einem umfassenderen Sinne die phänomenale Qualität dessen zu befragen, was er beim Anblick bestimmter Objekte verspürt. Der rein visuelle Seheindruck geht für Vuillard untrennbar einher mit einer gefühlsmäßigen Dimension, die indes mehr meint als das reine muskuläre Sehgefühl der Augenbewegung, das die Psychologen im Anschluss an Wilhelm Wundt im Sinn hatten. Vielmehr ist damit eine gefühlsmäßige Dimension gemeint, die das Gesehene nicht nur anreichert, sondern auch ästhetisch überformt. Diese Gedanken entstehen parallel zur Werkgenese von Au lit, das auf analoge Prozesse der komplexen Wechselwirkung zwischen Kunstwerk und inneren Bildern und Assoziationen verwies. Wo Vuillard bei Au lit die Frage nach den imaginativ-assoziativen Prozessen stellt, die ein Bild auslöst, aus dem Zusammenspiel von Form und sinnlich-affek­ tiver Betrachterreaktion, verfolgt er in den carnets ähnliche Fragen bei der introspektiven Selbstbefragung in Bezug auf Wahrnehmung von Welt und Kunst. Beide Male wird der Fokus auf die mentale Aktivität, auf das Reservoir der Erinnerung gelenkt, welche nicht nur reaktiv Assoziationen bereitstellt, sondern derart Wahrnehmung überformt wie auch durch ihre Bereitstellung von sinnlich-affektiven Bewusstseinselementen den Anblick einer Szenerie oder eines Kunstwerks überhaupt erst zur Erfahrung werden lässt. Vuillard beschäftigten mithin in Bezug auf die Wahrnehmung von Welt und Kunst verwandte Überlegungen. Zur Umsetzung dieser Wahrnehmung erscheint die Erinnerung das entscheidende Mittel zu sein. Sie ist es, die diese Erfahrungen künstlerisch umsetzbar macht. Das introspektive Nachdenken über die Wechselwirkungen zwischen Wahrnehmen, Gefühl und inneren Bildern führte zur Tabula rasa Au lit. Im Gegensatz zur impressionistischen Tabula rasa, die auf ein unschuldiges, erinnerungsfreies Auge abzielt,91 strebt Vuillard zu einer radikalen Reflexion psychischer Prozesse, die prägnant im Vorsatz »essaye de peindre de mémoire« zum Ausdruck kommt. Die eingangs angesprochenen Gemälde 90 Vuillard, Carnets, I.2., loses Blatt (Nr. 89) (September 1891), Hervorhebung M.G. 91 Vgl. dazu Isaacson 1994.

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Marie penchée sur son ouvrage dans un intérieur und L’Album müssten dann folgerichtig das Ergebnis einer solchen Malerei sein. Aber was heißt es konkret, nach der mémoire zu malen, inwiefern kann dies eine ästhetische Strategie darstellen, welcher Tradition ist es verpflichtet und welche ästhetischen Konsequenzen ergeben sich für das Verständnis der Gemälde daraus  ? Denn ebenso wie das Sehen eine Geschichte hat,92 haben auch die sich auf innere psychische Prozesse beziehenden Kunstansätze eine Geschichte  : die Imagination, die Idee, das Gefühl, die Erinnerung. All dies sind Phänomene kultureller Konstruktion, die zum Verständnis der Kunstwerke angemessen historisiert werden müssen. Dazu ist die Rekonstruktion des Diskurses mitsamt seinem historischen Vorlauf notwendig. Bevor auf die Kunstwerke zurückgekommen wird, ist der Blick auf den sie einbettenden Diskurs notwendig.

92 Vgl. zu dieser Frage Boehm 1999 sowie die mittlerweile ausufernden Studien zu diesem Thema, exemplarisch genannt seien  : Brennan et al. 1996, Jay 2005, Crary 1994, 1996, 1999 und 2002.

3 »Mémoire – Ce sujet capital sur lequel rien n’a été dit«1  : Der Mémoire-Diskurs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts

3.1 Baudelaire – Die Entdeckung der mémoire und der art ­mnémonique Mémoire – eine Spielart der Imagination

Bereits seit der Romantik hatte die mémoire – bzw. der souvenir, von dem zu dieser Zeit die Rede war – Eingang gefunden in die literarische und poetische Praxis Frankreichs. Von dort aus fand sie mit einiger Verzögerung ihren Weg zur Malerei.2 Die Theoretisierung der mémoire als eigenständige Kategorie und in dezidiertem Bezug auf die Malerei findet jedoch erst Mitte des 19. Jahrhunderts durch Charles Baudelaire statt, der in seinen kunstkritischen Schriften als einer der Ersten einen veritablen Entwurf zu einer »art mnémonique«3 entwickelt. Die Forschung hat sich diesem Phänomen bislang, wenn überhaupt, nur kursorisch gewidmet, wie bereits Westerwelle feststellte.4 Mehr als andere Termini jedoch ist die mémoire in ihrer Ausdeutung ganz besonders von einer präzisen Befragung ihres semantischen Gehalts abhängig. Anders als etwa bei der Imagination, die von der Forschung gemeinhin als abstraktes Konstrukt gesehen und entsprechend differenziert behandelt worden ist, fehlt es an Sensibilität dafür, dass auch die mémoire ein Produkt nicht nur historischer Vorgänge, sondern auch kultureller Konstruktion und kultureller Diskurse ist. Erinnern ist nicht gleich erinnern, und der diskursive Ort, den das Erinnern jeweils einnimmt, ist alles andere als banal und konstant. Denn es macht einen Unterschied, ob Imagination und mémoire getrennt voneinander gedacht werden oder nicht  ; ebenso ist es signifikant, wo im Gefüge der Psyche die mémoire ihren Platz hat.

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Valéry 1973, S. 1224 Der Tagebucheintrag Paul Valérys datiert auf 1914. Zur Reflexion der Erinnerung bei Valéry vgl. Jauß 1993b. Vgl. hierzu Siegmund 2001, S. 618 f. So lautet eine Zwischenüberschrift in Baudelaires zentralem Essay Le Peintre de la vie moderne (1863). Vgl. Baudelaire 1976, Peintre, S. 697. Westerwelle betont das Desiderat aus Perspektive der Baudelaire-Forschung  : »Für die kunstkritischen Schriften ist die Bedeutung von souvenir und mémoire, speziell im Verhältnis zum Imaginationsbegriff, von der Forschung noch nicht ausreichend erfasst worden. Auch die ästhetikgeschichtliche, philosophische Herkunft der Gedächtnis- oder Erinnerungskonzeption ist bislang nicht geklärt.« Vgl. Westerwelle 2001, S. 352 f., Fn. 1. Jüngst erschienen ist in diesem Zusammenhang Julien Zanet­ tas Studie Baudelaire, la mémoire et les arts, in der die kunstkritischen Schriften Baudelaires einer gründlichen Lektüre im Hinblick auf die mémoire unterzogen werden. Vgl. Zanetta 2019.

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Im Zuge der eminenten Aufwertung der Imagination, die durch Baudelaires Wirken und im Zusammenspiel mit der malerischen Praxis des Eugène Delacroix einen wahren Sieges­ zug durch Frankreich antrat, tritt auch die mémoire auf die Bühne der Kunsttheorie Baudelaires. Schon im Salon von 1846 skizziert der Kritiker anlässlich einer Besprechung von Werken des befreundeten Delacroix den Mechanismus, der in späteren Theoretisierungen grundlegendes Prinzip der Imagination und der mémoire werden wird  : Pour E. Delacroix, la nature est un vaste dictionnaire dont il roule et consulte les feuillets avec un œil sûr et profond  ; et cette peinture, qui procède surtout du souvenir, parle surtout au souvenir. L’effet produit sur l’âme du spectateur est analogue aux moyens de l’artiste. Un tableau de Delacroix, Dante et Virgile, par exemple, laisse toujours une impression profonde, dont l’intensité s’accroît par la distance. Sacrifiant sans cesse le détail à l’ensemble […].5

Aus dieser Stelle lassen sich erste zentrale Aspekte von Baudelaires Vorstellung von gelungenem Kunstschaffen ableiten. Die Natur sei nur ein Wörterbuch, welches nicht das Ziel, sondern der Ausgangspunkt des schöpferischen Prozesses ist. Dieser folgt der Dynamik der mémoire und damit einhergehend dem Streben nach Ganzheit, vermittelt im tiefen Eindruck, welchem gerne Details geopfert werden.6 Die Imagination steht also nicht im Dienste einer mehr oder weniger exakten Nachahmung der Natur, sondern dient dem Kreieren einer ästhetischen Gesamtwirkung, das zwar vom Naturbild ausgeht, sich jedoch frei über dieses hinwegsetzen darf, ja – versteht man es als Übersetzungsprozess – geradezu hinwegsetzen muss.7 Dieser zunächst noch undeutlich als aus der Erinnerung hervorgehend skizzierte Prozess hilft dem Künstler, von einer bloß kopierenden Wahrnehmung wegzukommen und zur Kreation des harmonischen Bildes zu gelangen.8 Zentral ist dabei unzweifelhaft die mémoire, denn Baudelaire stellt fest  : »J’ai déjà remarqué que la souvenir était le grand critérium de l’art  ; l’art est une mnémotechnie du beau  : or, l’imitation gâte le souvenir.«9 Die Erinnerung stiftet offenbar die notwendige Modifikation des Wahrgenommenen, um aus diesem die essentiellen 5

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Baudelaire 1976, Salon 1846, S. 433. Im Salon von 1859 wird er die Metapher wiederholen und jene, die nicht Herr dieses Vermögens seien, als bloße Kopisten schelten, die nichts mehr vermöchten, als das Wörterbuch abzuschreiben. Der Verweis auf die mémoire nimmt hier jedoch einen kleineren Teil ein. Vgl. Baudelaire 1976, Salon 1859, S. 625. Für Delacroix selbst ist ebenfalls die Reflexion der Erinnerung als Teil des kreativen Aktes überliefert, jedoch noch nicht hinreichend erforscht worden  ; vgl. Hanoosh 1995, S. 53. Anmerkung zur Terminologie  : In den frühen Texten spricht Baudelaire eher von souvenir, in den späteren von der mémoire. Darin scheint sich unter anderem auch die psychologische Diskurs-Wende abzuzeichnen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Terminus der mémoire in den Vordergrund rücken wird (vgl. Kap. 3.3), wohingegen souvenir eher im romantischen Diskurs gebräuchlich war. Vgl. Körner 1988, S. 275. Vgl. dazu Lombardo 2014, S. 7. Vgl. dazu auch Lombardo 2014, S. 6 f. Baudelaire 1976, Salon 1846, S. 455.

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Formen und Farben herauszudestillieren und sie in einem Neuschöpfungsprozess ins (harmonische) Bild fließen zu lassen.10 Dass es hier nicht nur um die immense Aufwertung der Imagination geht, sondern insbesondere um die der mémoire, belegt die Tatsache, dass vor Baudelaire und wie dieser mit antimimetischem Impuls bereits Théophile Gaultier 1844 die Natur als Wörterbuch bezeichnete.11 Auch er forderte den Umgang mit der Natur als Ausgangsmoment, das notwendig überformt werden muss. Bemerkenswert bei Baudelaire ist im Gegensatz dazu, dass er im obigen Zitat die Metapher des dictionnaire erstmals mit der psychischen Instanz der Erinnerung verknüpft. Er schreibt explizit  : »et cette peinture, qui procède surtout du souvenir, parle surtout au souvenir«12. Bei Gaultier spielte diese Instanz keine Rolle.13 Indem nun dezidiert per Erinnerung auf das dictionnaire zugegriffen werden soll, hebelt Baudelaire nicht nur eine klassische Naturnachahmung aus und befreit die Imagination, sondern inthronisiert überdies die mémoire als schöpferische Instanz, die offenbar eben nicht wie die Natur Verwahrerin von künstlerischem Material ist, sondern eigendynamisch auf dieses einwirkt. Was also auf den ersten Blick wie ein klassizistisches Programm klingen könnte, das ja ebenfalls keine Kopie der Natur proklamiert, sondern vielmehr deren Veredelung, erweist sich im Endeffekt als gravierend anders gewichtet. Denn Baudelaire hat ganz anderes im Sinn als eine Veredelung der Natur gemäß idealistischer Ästhetik. Ihm geht es um eine Neuschöpfung der Natur, vermittelt durch das Bewusstsein und Temperament des Malers, der damit sein Naturstudium nicht mehr gemäß akademischen Vorbildern überarbeitet, sondern gemäß der Beschaffenheit seines Temperaments.14 Wolfgang Drost hat Baudelaires Konzept der Imagination in diesem Sinne in die Tradition der englischen Theoretiker, etwa Samuel Taylor Coleridges, gestellt und das Verhältnis von Wirklichkeit und ästhetischer Überarbeitung so gefasst  : »Die Entwertung der Wirklichkeit in ihrer Eigenständigkeit ist die Grundlage für eine neue poetische Funktion, die der Dichter ihr zuweist  : die sichtbare Welt besitzt insofern eine höhere Bedeutung, als sie zum Träger eines Gedankens, eines Gefühls wird, das der Künstler ihr verleiht […].«15 Und der Ort der Zuweisung ist bei Baudelaire die mémoire. Sie nimmt die Eindrücke der Welt mit den Eigengesetzen der mémoire auf und gibt sie, ebenfalls eigengesetzlich, im Schaffensakt wieder. Mit Hans Körner kann von einer »zweifache[n] Aneignung« der Natur gesprochen werden  : »der Aneignung der Realität durch das Ich, Aneignung, die als ganzheitliches Erlebnis im Gedächtnis präsent bleibt, und Aneignung des erinnerten Erlebnisses durch Sprache [resp. Malerei  ; M.G.] im distanzierten Selbstbezug.«16 Baudelaire nimmt also nicht nur eine Umdeutung künstlerischer Kreativität vor und betont 10 Vgl. dazu auch Koch 1988, S. 103. 11 Gaultier schreibt am 26. März 1844 in La Presse, die Natur sei für den Maler das Wörterbuch, in dem er die Wörter suche, deren er nicht sicher ist. Vgl. dazu Drost 1977, S. 448. 12 Baudelaire 1976, Salon 1846, S. 433. 13 Vgl. dazu Drost 1977, S. 448. 14 Vgl. dazu Greiner 1993, S. 57–59. 15 Zit. nach Drost 1989, S. 310. 16 Körner 1988, S. 277.

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im Zuge dessen die Imagination, sondern benennt zudem den Ort, an dem die mémoire stattfindet  : »Das Gedächtnis […] wurde von Baudelaire in radikaler Abkehr von der traditionellen Fakultätenpsychologie mit der Imagination, der ›Königin der Fähigkeiten‹ ineins gesetzt.«17 Dies ist umso beachtlicher, als beide Vermögen, die Imagination und die mémoire, in Frankreich länger als anderswo in Europa als getrennte Systeme gedacht worden waren. Der Imagination wurde dabei größtes Misstrauen entgegengebracht  ; noch weit bis ins 19. Jahrhundert war die Imagination pejorativ besetzt.18 Die mémoire wiederum wurde, etwa bei Étienne Bonnot de Condillac, zur bloß wiedererkennenden Instanz, unfähig zu jeglichem produktiven Moment, degradiert19, während sie in England durch Thomas Hobbes, John Locke und David Hume längst als Konterpart der Imagination reflektiert worden war.20 Baudelaires Inthronisierung der Imagination und zugleich auch der mémoire kam folglich einem Paukenschlag gleich. Der Salon de 1846  : Grundlagen einer Kunsttheorie der mémoire

Bevor Baudelaire in späteren Texten intensiver darauf eingeht, was seine konkrete Vorstellung der mémoire, ihrer Verfasstheit und ihrer Tätigkeit sei, verhandelt er im Salon von 1846 noch tendenziell unverbundene Aspekte der mémoire im Kontext einer nach Wertungskriterien trachtenden Kunstkritik. In welcher Art von Gemälden schlug sich die Malerei nach der mémoire im weitesten Sinne nieder, welche Qualitäten waren damit verbunden  ?21 Baudelaire beantwortet diese Fragen zunächst aus der Perspektive des alten Streits zwischen den sogenannten Rubenisten und Poussinisten, der topischen Konkurrenz zwischen Farbe und Linie. Dabei verkörperte das Werk Delacroix’ cum grano salis Baudelaires Kunstideal schlechthin. So bot ihm Delacroix und dessen »Konkurrenz« zu Ingres die Möglichkeit, den herrschenden klassizistischen, vermeintlich mimetischen Imperativ und die Orientierung an der Naturnachahmung mit spitzer Feder und ätzender Ironie 17 Körner 1988, S. 175. 18 Vgl. Baumann 2011, S. 69 Dort heißt es  : Deutschland und England sind bei der Aufwertung der Imagination die Vorreiter, »während sich in Frankreich cartesianische Vernunft und aufklärerischer Klassizismus Boileauscher Prägung noch lange behaupten. Mit den theoretischen Schriften Baudelaires in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird erstmals auch ein französischer Beitrag für den ›Siegeszug‹ der Einbildungskraft in den Künsten ausschlaggebend.« 19 Vgl. Siegmund 2001, S. 616. 20 Vgl. Assmann 1999, S. 95–100, Siegmund 2001, S. 613, Chu 2011, S. 19. Dockhorn hat das Erbe der Rhetorik, in der die memoria starkes Werkzeug zur Affizierung der Zuhörer war, und dessen Wirkung bis zu den englischen Romantikern und Sensualisten betont  ; vgl. Dockhorn 1964, insbes. S. 31 f. Daraus geht hervor, dass das, was in Frankreich mühevoll erkämpft werden musste, in der angelsächsischen Tradition zum common sense gehörte. 21 Die folgenden allgemeinen Ausführungen basieren auf Drost 1976, Mehnert 1978 sowie den Sammelbänden Ward 2001 und Westerwelle 2007.

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zu torpedieren. Vor allem aber leitet er davon seine Argumente ab, um die Position des Kolorismus als ästhetisch überlegene Strategie zu begründen. Die Konkurrenz zwischen Farbe und Linie wird bei Baudelaire zur Gretchenfrage zwischen »le mouvement, la couleur, et l’atmosphère«22 und dem »système de lignes droites«23, zwischen Delacroix und Ingres, zwischen Temperament und Verstand. An diesem Punkt läuft noch alles auf ein Bewertungssystem von Kunst, eine normative Ästhetik hinaus, und entsprechend unterscheidet Baudelaire drei Formen der Zeichnung  : eine negative, die gerade wegen ihrer Wirklichkeitstreue zwar natürlich, jedoch völlig ungereimt ist, und zwei höheren Formen, die physiognomische und die imaginative. Erstere stellt eine noch naturnahe, jedoch bereits durch komponierendes und modifizierendes Zutun des Künstlers idealisierte Formfindung dar, verkörpert durch Ingres. Letztere schließlich »[…] peut négliger la nature  ; il en représente une autre, analogue à l’esprit et au tempérament de l’auteur«24, ideal vertreten durch Delacroix. Die Zeichnung der Imagination löst sich darin insofern völlig von der Natur, als die gesammelten Eindrücke nun einer subjektiven Überformung durch das Temperament des Malers unterworfen werden. Das Gestaltungsmittel ebendieser Kunst ist Bewegung und Atmosphäre, vor allem aber die Farbe, und der sie verbindende Modus ist die harmonisierende Synthese. Die Farbe ist nach Baudelaire die Grundlage jedweder innerbildlichen Harmonie oder auch Melodie, die für ihn zum Kriterium der Malerei schlechthin wird  : »L’harmonie est la base de la théorie de la couleur. La mélodie est l’unité dans la couleur, ou la couleur générale. […] Ainsi la mélodie laisse dans l’esprit un souvenir profond.«25 Ebenjene Harmonie aus Farbmassen macht große Kunst überhaupt erst aus. Sie beruht jedoch nicht nur auf Übersetzung der künstlerischen Intuition in das Mittel der Farbe, sondern allgemeiner auf einer automatisch ablaufenden konzentrierenden, synthetisierenden Bewegung im kreativen Prozess, die in der mémoire angesiedelt ist, in der das Detail Gesamtwirkung und Harmonie untergeordnet wird, sei es durch Auslassung oder sei es durch Übertreibung des Details.26 Zusammen mit der Inthronisierung der mémoire als Imagination war die Verbindung der mémoire mit sinnlichen Bewusstseinsinhalten der zweite Paukenschlag, denn noch bei Diderot in den Éléments de physiologie (1775) hieß es  : »L’Imagination est un coloriste, la mémoire est un copiste fidèle«.27 Ganz so eindeutig ist die Bewertung der mémoire bei Baudelaire indes nicht, denn er unterscheidet zwei Formen der Erinnerung. Es gibt jene kreative, oben geschilderte, die Quelle seines Kunstideals ist, da sie eigentätig ästhetisch in Wahrgenommenes eingreift. Daneben gibt es jedoch jene Erinnerung, die nichts weiter tut als kopieren. Sie nimmt das Wörterbuch der Natur nicht als Ausgangspunkt einer Übersetzungsleistung, sondern 22 23 24 25 26 27

Baudelaire 1976, Salon 1846, S. 434. Baudelaire 1976, Salon 1846, S. 434. Baudelaire 1976, Salon 1846, S. 434. Baudelaire 1976, Salon 1846, S. 425. Baudelaire 1976, Salon 1846, S. 425 und auch Baudelaire 1976, Peintre, S. 698. Diderot 1987, S. 480.

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schreibt es schlichtweg ab. Nebenbei bemerkt, greift Baudelaire damit eine Unterscheidung auf, die Denis Diderot 1765 ganz grundsätzlich in Bezug auf die Malerei gemacht hatte, indem er unterschied zwischen einer Malerei, die detailgetreu zeige, was da ist, und einer Malerei, die die Dinge aus einem spezifischen Blickwinkel zeige.28 Baudelaire verlegt den Ursprung für diese Unterscheidung in seine normative Theorie der mémoire. Erstere mémoire liefere nur einen mechanischen Abklatsch bzw. sei nur im Stande, vulgäre und banale Vorstellungen hervorzubringen. Er meint damit entweder eine bloße Kopie der Natur oder eine Form der Stilisierung, die ästhetisch ungenügend sei.29 Explizit brandmarkt Baudelaire damit illusionistische und eklektizistische Kunstwerke, die sich insbesondere durch Detailrealismus auszeichnen.30 Ihnen weist er das pejorative »chic« und »poncif« zu  : »Le chic est l’abus de la mémoire  ; encore le chic est-il plutôt une mémoire de la main qu’une mémoire du cerveau  ; car il est des artistes doués d’une mémoire profonde des caractères et des formes, […].«31 Der Kunstkritiker bringt die Unterscheidung besonders scharf bei der Besprechung des Malers Horace Vernet in Anschlag, dessen Werke er abschmettert  ; dies sei keine Malerei und biete statt einer gelungenen Farbharmonie lediglich Katzenmusik (»charivari«32). Vernet verfüge schlichtweg über zwei negative Qualitäten  : Er habe »nulle passion et une mémoire d’almanach  !«33 Im Rahmen der Abstrafung Vernets wird mithin bereits 1846 angedeutet, dass die richtige Form der Erinnerung auch mit einer Gefühlsdimension (»passion«) einhergeht und dadurch zu einem tiefen Gedächtnis für Charaktere und Formen werde.34 Unter Rekurs auf E.T.A. Hoffmann führt Baudelaire die schöpferische, auf der Ebene des Gemüts wirkende mémoire weiter aus  : La véritable mémoire, considérée sous un point de vue philosophique, ne consiste, je pense, que dans une imagination très vive facile à émouvoir, et par conséquent susceptible d’évoquer à l’appui de chaque sensation les scènes du passé, en les douant, comme par enchantement, de la vie et du caractère propres à chacune d’elles  ; […] Le maître avait raison, et il en est sans doute autrement des paroles et des discours qui ont pénétré profondément dans l’âme et dont on a pu saisir le sens intime et mystérieux, que de mots appris par cœur.35

Nicht verwunderlich ist, dass Baudelaire in Kohärenz mit dieser Kritik am bloß kopierenden Gedächtnis die Fotografie radikal verurteilt. In seinen Augen ist sie noch viel weniger

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Diderot 1984. Baudelaire 1976, Salon 1846, S. 468. Vgl. Hiddleston 1999, S. 30. Baudelaire 1976, Salon 1846, S. 468, Hervorhebung i.O. Baudelaire 1976, Salon 1846, S. 470. Baudelaire 1976, Salon 1846, S. 470. Vgl. Baudelaire 1976, Salon 1846, S. 468. Baudelaire 1976, Salon 1846, S. 470. Baudelaire bezieht sich hier auf eines von E.T.A. Hoffmanns Fantasiestücken in Callots Manier (1819), und zwar auf die Nachrichten von den neuesten Schicksalen des Hundes Berganza  ; vgl. Hoffmann 1957, S. 104 f.

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als die triviale realistische Malerei von ästhetischem Wert, da ihr jegliches »Transzendieren der sichtbaren Welt« fehle.36 Was die Differenzierung der Erinnerungsarten angeht  : Wenn die Imagination nichts anderes ist als die Erinnerung, die Erinnerung indes aber auch alltägliche Dienste zu leisten hat, so vollzieht Baudelaire damit eine notwendige Differenzierung von verschiedenen Erinnerungsleistungen, die zuvor nicht notwendig war. Er trägt damit entscheidend bei zu dem für die Moderne so zentralen Dualismus in der mémoire, den Henri Bergson in Matière et mémoire (1896) einführen wird. Aufschlussreich ist überdies, dass Baudelaire, wie in obigem Zitat »Ainsi la mélodie [des Kunstwerks  ; M.G.] laisse dans l’esprit un souvenir profond«37 anklingt, eine Art interpersonale Analogie der Gedächtnisse herstellt. Denn es ist nicht nur das Gedächtnis des Malers, das die Aneignung der Natur vornimmt, sondern es ist auch das Gedächtnis des Rezipienten, das in besonderer Weise auf diese Kunst reagiert. Harmonie und Melodie der Farbe und der Farbmassen sind hierfür grundlegend.38 Hinzu kommt die Betonung der Synthese und Reduktion der Details, die die mémoire hervorbringt, was sich wiederum stärker beim Rezipienten einprägt.39 Aus der mémoire geschaffene Kunst vermag mithin eine tiefe Erinnerung zu hinterlassen  : »J’ai déjà remarqué que le souvenir était le grand criterium de l’art  ; l’art est une mnémotechnie de beau  : or, l’imitation exacte gâte le souvenir.«40 So schließt Baudelaire einige seiner Besprechungen von Bildern mit der nobilitierenden bzw. vernichtenden Frage, ob diese eine dauerhafte Erinnerung (»souvenir durable«, »souvenir profond«)41 hinterließen oder eben nicht. Die Erinnerung ist Quelle und Richterin von Kunst in einem. Baudelaire bewegt sich damit zunächst im traditionellen Rahmen der Kunstkritik und greift ein auf die Rezeption bezogenes Argument auf, das sich bereits bei Denis Diderot findet. Demnach sei es ein Qualitätskriterium von bildender Kunst, wenn sie eine starke Erinnerung hinterlasse  ; umgekehrt gelte dies ebenfalls.42 Was sich indes verändert, ist die Begründung für diese Korrespondenz  ; waren es 36 Zit. Geimer 2009, S. 187. Dies wird insbesondere im Salon de 1859 deutlich  ; vgl. Baudelaire 1976, Salon 1859  ; vgl. dazu Geimer 2009, S. 186–190. 37 Baudelaire 1976, Salon 1846, S. 425. 38 Vgl. Hiddleston 1999, S. 18. 39 Vgl. Hiddleston 1999, S. 26. 40 Baudelaire 1976, Salon 1846, S. 455. Vgl. dazu Koch 1988, S. 103 f. und Hiddleston 2005, S. 138. 41 Baudelaire 1976, Salon 1846, S. 425. 42 Vgl. Diderot 1980. Deutlich wird im Salon 1761 zudem eine medienspezifische Differenzierung zwischen Imagination und mémoire im Rahmen der Kunstkritik. Dort heißt es  : »Il me semble qu’un grand peintre qui a précédé est plus incommode pour ses successeurs qu’un grand littérateur pour nous. L’imagination me semble plus tenace que la mémoire. J’ai des tableaux de Raphael plus présents que les vers de Corneille, que les beaux morceaux de Racine. Il y a des figures qui ne me quittent point. Je les vois. Elles me suivent. Elles m’obsèdent.« (Diderot 1980, S. 258) Diderot betont hier die weitaus intensivere Wirkung eines Gemäldes von Raffael im Unterschied zur Wirkung durch die Schriften von Corneille  ; er führt dies auf den medialen Unterschied zwischen Bild und Text zurück. Zudem ordnet Diderot die Bilder der Imagination zu und die Worte der mémoire, es herrscht eine klare Trennung. Des Weiteren deutet sich mit der Assoziation, von den Bildern

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bei Diderot noch der rhetorischen Tradition verpflichtete Wirkkriterien, so scheint Baudelaire eher eine Art déjà-vu im Sinn zu haben, bei dem der Rezipient das Gemälde aufgrund der koloristischen Expressivität und der suggestiven Unterschlagung von Details gewissermaßen selbst durch seine eigene Erinnerung in einer Art Äquivalenzerfahrung neu hervorbringen müsse.43 Der Kritiker macht indes in späteren Texten deutlich, dass es sich hierbei nicht um eine intellektuelle Leistung handelt, sondern um eine gefühlsmäßige, die sich auf der Ebene des Gemüts herstelle. Die frühen Reflexionen im Salon von 1846 markieren damit die Rolle, die der mémoire als Imagination grundsätzlich zukommt, und die Rolle des Kolorismus als Form einer sinnlich begründeten Ästhetik. Zugleich sind diese frühen Reflexionen noch eingebettet in den Kontext normativer Ästhetik. Im Zentrum steht der traditionsreiche Disput zwischen Farbe und Linie sowie die Betrachtung von Kunst hauptsächlich aus kunstkritischer Warte, also die Frage der Bewertung. Entscheidend in unserem Kontext ist, dass ebenjenes zentrale Kriterium ästhetischer Qualität, die Gesamtwirkung, in doppelter Hinsicht an das Erinnerungsvermögen gekoppelt ist. Denn der Maler bedient sich einerseits der Erinnerung als Filter, zur Aneignung der Natur und um zu einer harmonischen Komposition zu gelangen, wie auch andererseits die starke Wirkung ebenjener Kunst im Rezipienten daran messbar ist, ob sie eine tiefe Wirkung in der Erinnerung hinterlasse. Der Salon de 1859 und Le Peintre de la vie moderne (1863)  : L’Art mnémonique – Reflexion der psychischen Prozesse des Malers als Grundlage einer Produktionsästhetik

Bei Baudelaire findet sich nicht nur die strukturelle Verkoppelung von mémoire und Imagination und die Assoziation einer im Kolorismus, also im Sensualismus, gründenden Ästhetik mit dem Prinzip der mémoire, sondern im Salon de 1859 und in Le Peintre de la vie moderne (1863)44 überdies die aus psychologisierenden Überlegungen abgeleitete Skizze dessen, was ein moderner Maler und moderne Malerei sei. Unmissverständlich stellt Baudelaire klar, dass der moderne Maler nach dem Gedächtnis male und nicht nach Skizzen oder vor der Natur  : »En fait, tous les bons et vrais dessinateurs dessinent d’après l’image écrite dans leur cerveau, et non d’après la nature.«45 verfolgt zu werden, gar von ihnen besessen zu sein, an, dass Diderot die Bilder/Imagination noch in nächster Nähe zum Pathologischen verortet, wie es Rigoli entsprechend in der Psychologie des 18. Jahrhunderts rekonstruiert hat. Vgl. Rigoli 2006. 43 Vgl. Hiddleston 2005, S. 138. 44 Der Essay Le Peintre de la vie moderne teilt seine gedankliche Wurzel mit dem Salon von 1859. Zwar erscheint der Essay erst 1863, der Maler Guys, der im Zentrum des Essays steht, taucht jedoch bereits 1859 in einem Briefwechsel auf. In den folgenden Monaten muss der Essay entstanden sein, denn Baudelaire reichte ihn bereits August 1860 zur Veröffentlichung ein, die sich dann aber bis 1863 hinauszögerte. Vgl. den Kommentar zum Essay in  : Baudelaire 1976, S. 1414–1419. 45 Baudelaire 1976, Peintre, S. 698.

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Entsprechend räumt er den ins Gedächtnis geschriebenen Bildern der mémoire einen prominenten Platz ein und nennt im Essay Le Peintre de la vie moderne ein zentrales Kapitel L’Art mnémonique. Der Essay kreist um den Prozess des Kreativen und die Verfasstheit einer dazu befähigten Psyche. Baudelaire beleuchtet hier vielfältig die psychologische Dimension dieser Frage und bedient sich zu ihrer Erhellung der Introspektion bzw. der durch literarische Texte beispielsweise von Edgar Allan Poe inszenierten Introspektion.46 Dies ist ebenjene Dimension, die für den Rest des 19. Jahrhunderts und darüber hinaus als epistemische Matrix bedeutend bleiben wird. Baudelaire hat eine idealistische Ästhetik nicht nur insofern hinter sich gelassen, als er eine auf Wirkung und die Ebene des Gemüts abzielende Kunsttheorie entwickelte, sondern auch insofern, als »[…] Baudelaire, im Gegensatz zu den Klassizisten, die tieferen Bewusstseinsschichten als einen entscheidenden Faktor bei der Rezeption und Beurteilung von Kunst betrachtet.«47 In Bezug auf die oben genannten Texte der Jahre um 1859 und in Hinblick darauf, welche Entwicklung der Diskurs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nehmen wird, ist zu betonen, dass dieser Faktor vor allem auch bei der Darstellung und Analyse des kreativen Schaffensprozesses zentral ist. Denn das Analyseinstrument der Introspektion gewinnt bei Kritikern, Künstlern und Psychologen im Zuge des 19. Jahrhunderts zunehmend an Bedeutung. Baudelaire befragt im Peintre-Essay die zentralen Momente des kreativen Prozesses bzw. wie der Künstler mental disponiert sein müsse, um überhaupt in den Zustand der Schaffensfähigkeit zu gelangen. Bei dieser Rekonstruktion wird sehr schnell deutlich, dass es Baudelaire weniger nur um eine objektbezogene Ästhetik ging, sondern dass in seinem Konzept der mémoire gleichsam eine ganze prototypische Anleitung für den Maler enthal­ ten ist, die neben formalen Kriterien und innerpsychischen Abläufen auch die mentale Disposition des Malers umfasst. Ebenso thematisiert er Temperament und Habitus des Malers sowie Hinweise auf die stimmungshafte Qualität des kreativen Moments, welche sich im Werk niederschlägt, und die daraus resultierende Machart. Nicht zuletzt dies findet in Vuillards Gedanken seinen Widerhall, denn auch er reflektiert den Malprozess ganzheitlich, also nicht nur hinsichtlich der Werkspezifika, sondern auch hinsichtlich der psychischen Disposition des Malers, der Gestimmtheit, der Fokussierung, der notwendigen mentalen Herausforderungen. Wiederholt fragt er sich, wie das Verhältnis von Wahrnehmung und Erinnerung sei, ob der Blick fokussiert oder unvoreingenommen sein müsse oder was eigentlich dazu beitrage, dass man etwas als ästhetisch wahrnimmt. Baudelaire entfaltet seine kunsttheoretischen Überlegungen am Beispiel des auf Initia­ len anonymisierten Maler M.G., der unschwer als Constantin Guys (1802–1892) zu identifizieren ist.48 Liest man den Essay im Hinblick auf die mémoire, so widmet sich 46 Das Interesse für die psychologischen Forschungen und deren Einfluss auf Baudelaires Schaffen wurde vielfach untersucht. Exemplarisch dazu vgl. Westerwelle 2006. 47 So Wolfgang Drost in den Anmerkungen zum Salon von 1846, Baudelaire 1977, S. 444. Zu Baudelaires Beitrag zur Begründung einer Wirkästhetik vgl. Drost 1975. 48 Es gibt in der Forschung seit jeher die Diskussion darüber, dass das paradigmatische Beispiel für Baudelaire eigentlich der dem Dichter persönlich bekannte Maler Édouard Manet hätte sein müssen,

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Baudelaire in einem ersten Schritt der besonderen Beziehung zwischen Wahrnehmung und Erinnerung, die Grundlage für die Gedächtniskunst ist, während es in einem zweiten Schritt um Fragen der Produktionsästhetik geht. Im dritten Teil des Essays steht das Paradox der Unverfügbarkeit von Erinnerung. Movens des spezifischen Zusammenspiels von Wahrnehmung und Erinnerung des modernen Malers sei eine besondere, künstlerische Form die Neugier. Baudelaire stellt fest, »c’est que la curiosité peut être considérée comme le point de départ de son génie.«49 Um zu erörtern, was es mit dieser Neugierde auf sich hat, bedient sich der Kritiker der Kurzgeschichte Der Mann der Menge (1840)50 von E.A. Poe, die nach Baudelaire in Wirklichkeit ein »tableau«51 sei. Das Genre der Kurzgeschichte sowie die immense evokative Dichte, mit der Poe darin die Lust am Sehen und das Sehen als sinnlich imaginative Form der Weltaneignung schildert und dies der sprachlich-analytischen Weltaneignung gegenübersetzt, mögen Baudelaire dazu angeregt haben, in ebenjener Geschichte eher ein Gemälde denn einen Text zu sehen.52 Mit der rhetorischen Frage »Vous souvenez-vous d’un tableau (en vérité, c’est un tableau  !) écrit par la plus puissante plume de cette époque, et qui a pour titre L’Homme de foules  ?«53 spielt Baudelaire jedenfalls auf seine Gedanken von 1846 an, wonach nur die guten Gemälde einen Eindruck in der Erinnerung des Rezipienten hinterließen. Und das »tableau« Poes tue dies zweifelsohne. Die Handlung in Poes Erzählung besteht darin, dass ein gerade Genesener den Anblick des städtischen Treibens in allen Details genießt und die Menschen nach allen Regeln der Kunst analysiert und ausdeutet, irgendwann aber von einem Unbekannten so in den Bann gezogen wird, dass er ihm, von der Suche nach dessen Existenzgrund gefesselt, folgt. Schlussendlich muss der Protagonist jedoch einsehen, dass der Unbekannte sich jeglicher Erklärung oder Lesbarmachung entzieht. Allein die sinnlichen Resultate der Verfolgung und die daran anküpfenden Assoziationen evozieren eine Art intuitiver Ahnung, die sich jedoch jeder dem Lesen analogen Diskursivierung entzieht.54

49 50 51 52 53 54

da dieser, im Gegensatz zu Guys, die angemessene Qualität und Stilistik aufweise. Zahlreiche Aufsätze und Bücher diskutieren, dass dies so sein könnte und warum Baudelaire dennoch nicht Manet thematisiert habe. Vgl. dazu Fried 1984, Raser 2001 und Fischer-Loock 2007  ; Hiddleston erwägt indes sogar die fehlende mémoire bei Manet als möglichen Grund dafür, dass Baudelaire Manet nicht in den Fokus nimmt. »In Manet the appeal to memory is strangely absent, or silent«  ; Hiddleston 1999, S. 240. Baudelaire 1976, Peintre, S. 689, Hervorhebung i.O. Im Original 1840 als The Man of the Crowd in Burton’s Gentleman’s Magazine erschienen. Zur Rolle des Sehens in Poes Kurzgeschichte vgl. Hayes 2002. Baudelaire 1976, Peintre, S. 689. Überdies kann sich Baudelaire mit seiner Einschätzung auf E.A. Poe selbst beziehen, der in seinem Essay The Philosophy of Composition die Kürze eines Textes zum zentralen Qualitätskriterium erklärt hatte. Vgl. Poe 1846. Baudelaire 1976, Peintre, S. 689. Schon zu Beginn der Kurzgeschichte spielt Poe auf das spätmittelalterliche Gebetbuch Hortulus Animae an, welches sich nicht lesen lasse, sowie auf Geheimnisse, die sich nicht aussprechen ließen. Analog dazu schließt die Kurzgeschichte Poes unter erneutem Bezug auf das mittelalterliche

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Baudelaire rekapituliert jene Geschichte und eignet sie sich seinen Zwecken gemäß an als paradigmatische Schilderung eines unverstellten, von unbändiger künstlerischer Neugier getriebenen, nicht sprachlich umsetzbaren Sehens, also jenes Sehens, zu welchem seiner Einschätzung nach ein Künstler im Stande sein müsse. Entscheidend ist nun, wie Baudelaire dieses Sehen thematisch einleitet  ; denn ohne dass dies bei Poe explizit so vorkommt, begründet Baudelaire die künstlerische Neugier des Malers, den er sich als Genesenen vorstellt, mit der Erinnerung  : »comme il été sur le point de tout oublier, il se souvient et veut avec ardeur se souvenir de tout. […] La curiosité est devenue une passion fatale, irrésistible  !«55 Er dürstet danach, sich der Dinge zu erinnern, und nicht danach, sie wieder zu sehen  ! Um jedoch an die verschüttete Erinnerung heranzukommen, ist offenbar das Aufnehmen neuer Wahrnehmungen vonnöten, und zwar Wahrnehmungen, die ebenjener Gebetbuch, als der Erzähler von Angesicht zu Angesicht dem Fremden gegenübersteht, in der Erkenntnis, dass dessen Wesen nicht durchschaubar sei, sich nicht lesen lasse. Vgl. Poe 1976, S. 706 und 720. 55 Baudelaire 1976, Peintre, S. 690, Hervorhebung M.G. Bei Poe werden die Qualitäten des analytischen Blicks jenen des sinnlich-ahnungsvollen gegenübergestellt. Dass der im bewussten Erleben ahnungsvoll erscheinende Blick letztlich seine Intuition aus der Erinnerung bezieht, ist bei Poe, wenn überhaupt, nur implizit enthalten. Bei Poe ist es jener Moment, in dem der Genesene die Menschen nicht mehr nur beobachtet, sondern von der Neugierde derart gepackt wird, dass er die Verfolgung eines Unbekannten aufnimmt. Nachdem der Protagonist also, von dem Hayes (2002) annimmt, es handle ich um eine sehr belesene Person, möglicherweise einen Antiquar, die Passanten durch das Fenster eines Caféhauses minutiös beobachtet und solcherart »gelesen« hatte, liest sich der Wendepunkt bei Poe wie folgt  : »Je tiefer die Nacht herniedersank, desto mehr vertiefte sich meine Teilnahme für das Schauspiel, denn nicht nur wandelte sich der allgemeine Charakter der Menge wesentlich derweil (die sanfteren Züge schwanden daraus, schrittweis’, je mehr die ordentlichen, gesitteten Leute verschwanden, und schärfer trat das Abstoßende hervor, als nun die späte Stunde jede Art von Laster aus seiner Höhle kriechen ließ), sondern die Strahlen der Gaslaternen hatten, zu Anfang schwach noch in ihrem Ringen mit dem sterbenden Tageslicht, jetzt schließlich die Übermacht gewonnen und warfen über jegliches Ding einen launenhaften und grellhellen Schein. Alles war dunkel und doch zugleich dennoch strahlend […]. Die seltsamen Lichtwirkungen brachten mich dazu, den einzelnen Gesichtern nachzuspüren  ; und obschon die reißende Schnelle, mit welcher die Lichterwelt vor dem Fenster dahinflitzte, mich verhinderte, mehr denn einen kurzen Blick auf jede Physiognomie zu werfen, schien’s mir doch, in jener besonderen Geistesverfassung, als könnte ich häufig selbst in diesem kurzen Blickmoment die Gesichter langer Jahre lesen. […] als mir plötzlich ein Gesicht in den Blick kam […], welches sogleich meine ganze Aufmerksamkeit fesselte und in sich hineinsog.« Poe 1976, S. 712 f., Hervorhebung M.G. Es findet folglich ein Wechsel statt zwischen akribisch beobachtendem und analysierendem Interesse, welches die Menschen »lesen« kann, und einer Faszination, die in ratlose Mitgerissenheit umschlägt. Gerade Letztere ist jene derart motivierte Wahrnehmung, die mehr intuitiv erahnen denn tatsächlich »lesen« kann. Sie verdankt sich bei Poe zuallererst der vermutlich durch die lange Krankheit bedingten großen Lebensneugierde des Protagonisten, dessen großer Menschenkenntnis, sicherlich auch der besonderen Persönlichkeit des Unbekannten und nicht zuletzt der Änderung der Lichtverhältnisse, die die Dinge in eine seltsames Licht tauchte, »Abstoßendes« stärker hervortreten und alles dunkel und zugleich glänzend erscheinen ließ  ; kurzum  : den Dingen trotz der Verunklärung des Halbdunkels ein formal konzentriertes und zugleich auratisches oder numinoses Gepräge verleiht.

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Neugier entspringen. Wie ist dies Zusammenspiel von Neugierde und Erinnerung beim künstlerischen Sehen zu verstehen  ?56 In einem ersten Schritt schildert Baudelaire, was er unter einer kindlichen und unbefangenen Wahrnehmung versteht, die die Dinge ohne Deutung sehe. Es geht um ein Sehen, das vor allem offen ist für alle farbenkräftigen Eindrücke, Formen, Oberflächen, Haut- und Farbabstufungen, für alles Neue, was es auch sein mag, »visage ou paysage, lumière, dorure, couleurs, étoffes chatoyantes, enchantement de la beauté embellie par la toilette.«57 Der Künstler tritt keiner Erscheinung des Lebens abgestumpft gegenüber  ; im Gegensatz zur Alltagswahrnehmung geht es hier um eine Wahrnehmung, die aufmerksam bei den sinnlichen Eindrücken bleibt und diese nicht sofort in eine rationale Klassifizierung, Benennung und Analyse überführt. Im weitesten Sinne geht es zunächst um den Topos des unschuldigen Auges, wie er im 19. Jahrhundert vielfältig anzutreffen ist und wie er später im Impressionismus virulent werden wird.58 Indes ist nicht eine passive Aufnahme von Impulsen gemeint, wie man bei der Metapher der Elektrifizierung59, die er in diesem Kontext verwendet, noch denken könnte. Vielmehr schwebt Baudelaire etwas Affektives vor, wie es die Metapher der »congestion«60 – eines Blutandrangs im Gehirn, der als emotionale Erschütterung zu verstehen ist – nahelegt und ganz deutlich wird bei dem Vergleich des Künstlers mit einem Kaleidoskop61, das uns in seinem Verzerrungseffekt die »grâce mouvante de tous les éléments de la vie« erblicken lässt.62 Die ungefilterten, nicht analytisch oder begrifflich gefassten Eindrücke treffen also unmittelbar auf eine Überformung, die jedoch nicht im idealistischen Sinne zu denken ist, sondern als eine Art automatischer Mechanismus. Es geht Baudelaire darum, eine Haltung einzunehmen, die sinnliche Wahrnehmung unverstellt aufnimmt. Gleichwohl, und das wird mit den Metaphern der »congestion« und des Kaleidoskops deutlich, handelt es sich nicht um ein passives Aufnehmen und Abbilden, sondern um ein tätiges, das das Gesehene modifiziert oder gar anreichert. Hier wird deutlich, was Baudelaire sich darunter vorstellt, wenn der Maler mit unverstelltem Auge wahrnimmt, um sich dadurch zu erinnern  : Die Wahrnehmungen lösen durch den Nervenschock der »congestion« Erinnerungen aus, welche unmittelbar aufblitzen und dadurch das Wahrgenommene überformen. »Nicht, 56 57 58 59 60 61

Vgl. zur Deutung der curiosité auch Doetsch 2007, S. 145. Baudelaire 1976, Peintre, S. 690. Vgl. exemplarisch Lamer 2009. Baudelaire 1976, Peintre, S. 692. Vgl. zu dieser Metapher auch Doetsch 2007, S. 147 f. Baudelaire 1976, Peintre, S. 690. Vgl. zu dieser Metapher auch Doetsch 2007, S. 146 f. Baudelaire 1976, Peintre, S. 692. Die Metapher des Kaleidoskops hatte Baudelaire bereits im Salon de 1846 eingesetzt, wo er die Gemälde von Díaz de la Peña für ihre mangelnde Kohärenz kritisiert und betont, dass er dagegen den Anblick, den ein Kaleidoskop erzeugt, vorziehen würde. Vgl. Baudelaire 1976, Salon 1846, S. 453. Zum Ende des Jahrhunderts wird William James die Metapher ebenfalls in Bezug auf die aktive Tätigkeit des menschlichen Gehirns und dessen »transitive states« und »feelings of relation« einsetzen (James 1983, S. 239 f.). Vgl. dazu auch Hülk 2007, S. 178 und Doetsch 2007, S. 148 f. 62 Baudelaire 1976, Peintre, S. 692.

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dass etwas erscheint, nicht der passive Vorgang der Wahrnehmung steht für Baudelaire im Vordergrund, sondern der aktive Prozess der Formgebung, welcher zur Erscheinung bringt, welcher dem Unformbaren für einen Moment Form abtrotzt.«63 Der Wunsch, sich zu erinnern, ist also weniger ein weltabgewandter Rückzug als vielmehr eine besondere Art und Weise der formstiftenden »Selbstaffektion«64, also eines affektiven Zusammenspiels von Wahrnehmung und inneren Bildern aus der mémoire, das zu einer »résurrection«65 von vormals Vergessenem führt. Dies ist selbstverständlich nicht als Wiederbelebung, als einfache Wiederholung zu denken, sondern zu verstehen im Sinne von »Walter Benjamins paradoxer Formel der Erinnerung des Neuen«66. Aleida Assmann hat betont, dass die Verwendung der Metaphern der »mémoire résurrectionniste, évocatrice«67 und der Elektrifizierung in der Diskursgeschichte der mémoire den Umschlagpunkt in die Moderne markiert.68 Denn ausgehend von der Antike waren, wie bereits von Harald Weinrich dargelegt worden ist, die vorherrschenden zwei Metaphern üblicherweise die Wachstafel und jene des Magazins.69 Die Magazin-Metapher muss im Kontext der Sophistik und Rhetorik gesehen werden, bei dem es um einen pragmatischen Ansatz geht, der das Inhaltsvermögen des Gedächtnisses in technisch verfeinerter Weise als Werkzeug der Redekunst versteht. Die in der platonischen Tradition stehende Wachstafel-Metapher wiederum versteht das Gedächtnis als göttliche Gabe, die dem Innersten der Seele zugehört. Damit sind nicht nur die zwei dominierenden Metaphern angesprochen, sondern überdies lassen sich hieran die beiden Aspekte ablesen, die die Memoria zu einem komplexen Phänomen machen  : die Dimension des (passiven) Gedächtnisses als Ort der Inhaltsorganisation und die (aktive) Erinnerung als darauf zugreifende und zu Bewusstsein bringende Tätigkeit.70 Über Weinrich hinausgehend skizziert Assmann eine Reihe weiterer Metaphern, die den geistesgeschichtlichen Horizont ausdifferenzieren. Etwa jene Bilder des Gedächtnisses als Tempel und Bibliothek. Beiden architektonischen Sprachbildern eignet das Statische und Bewahrende, Unterschiede implizieren sie hinsichtlich ihres Zwecks. Wo der Tempel zum Zwecke der Verehrung des Vergangenen, der Logik des Denkmals verpflichtet, aufbewahrt, da verwahrt die Bibliothek als Ort des Wissens von der Vergangenheit, im Sinne eines Archivs. Mit der Bibliothek korreliert die Vorstellung von Gedächtnis als Buch, beide sind »räumlich geschlossene Gedächtnismodelle« und implizieren das Prinzip der »Totalität, die Kopräsenz und Vollständigkeit«.71 Stärker als die Bibliothek hingegen birgt das Buch auch die offene Dimension der Auslegung, die die Totalität seines Inhaltes einer potentiell 63 64 65 66 67 68 69 70 71

Doetsch 2007, S. 153. Doetsch 2007, S. 147. Baudelaire 1976, Peintre, S. 699. Zit.: nach Assmann 1991, S. 26. Vgl. zu dieser Beobachtung auch Shiff 1986, S. 441 f. Baudelaire 1976, Peintre, S. 699. Assmann 1991, S. 22–25. Weinrich 1964. Vgl. zur Metapherngeschichte der mémoire zudem Warren 2015. Vgl. dazu insbes. Weinrich 1964 und Assmann 1991, S. 13. Vgl. Assmann 1991, S. 16–18, Zit.: S. 18.

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unendlichen Interpretation unterwirft.72 Der Tradition der Wachstafel verpflichtet ist wiederum das Bild des Gedächtnisses als Schrift, bei der die Inhalte der Erinnerung als lesbare vorgestellt werden, die mit Wahrgenommenem abgeglichen werden. Der Abgleich des Wahrgenommenen mit Altem führt zu Erkennen und ergo Erkenntnis.73 Erwähnenswert ist zudem die Metapher des Gedächtnisses als Theater, wie sie von Giulio Camillo im Rahmen von L’Idea del Theatro (1550) formuliert wurde. In dieser »Merkarchitektur« steht der Denker auf der Bühne, wohingegen auf den Zuschauerplätzen »Sinnbilder für alle Dinge der Schöpfung« versammelt sind.74 Vergleichbar der Bibliothek wird hier der Aspekt der Kombinatorik betont. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts sind klare Veränderungen und eine rapide Anreicherung der Komplexität der Metaphern zu verzeichnen. Gesteigert wird die Metapher des Buches im Bild des Palimpsestes, einem »Buch ohne feste Gestalt, das dynamisierte Buch«, wie es von Thomas de Quincey prominent etabliert und von Baudelaire aufgegriffen worden war.75 Jenseits der Dynamisierung impliziert diese Metapher den Anfangspunkt eines konstruktivistischen (und ergo kreativen) Verständnisses von Gedächtnis, das weder statisch ist noch einzelne in sich geschlossene Sachverhalte umfasst.76 Ebenfalls im 19. Jahrhundert, unter anderem durch Friedrich Nietzsche, wurde das Bild der Erinnerungs-Schrift in eine Körper-Schrift des Schmerzes verwandelt. Das präzise lesbare Zeichen als Teil einer dekodierbaren Botschaft wurde so zu leiblich spürbar eingebrannten Schmerzen. Diese Zeichen entziehen sich einer klaren Lesbarkeit auf Basis verstandesmäßiger Verarbeitung und werden zu gespürten Markierungen, die in Form von »Narben, Malen und Tätowierungen«77 zudem bildlich-ästhetische Qualität erlangen. Die Schrift wird zur Spur, zur Spur einer energetischen Einwirkung, die ihrerseits eigendynamisch in der Psyche wirkt.78 Hinzu kommt die Einsicht in das Phänomen des Vergessens, das nun nicht mehr als Fehlleistung, sondern als konstitutiver Teil von Gedächtnis erkannt wird. Die »rätselhafte Kopräsenz von Dauerspur und Tabula rasa«79, die Untrennbarkeit von Bewahren und Vergessen fügt dem Diskurs die Dimension der psychischen Zeitlichkeit hinzu.80 Diese Zeitlichkeit wird zum Ursprung des Gefühls von »Alterität und Diskontinuität«81, wie es die Moderne prägen wird, denn wenn zum Gedächtnis das Vergessen gehört und dieser Mechanismus dem Zugriff des Willens entzogen ist, so wird Vergangenheit zum raren Gut. Abermals verschiebt sich der Fokus, weg von der Konstitution von Gedächtnis und 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81

Vgl. Assmann 1991, S. 19. Vgl. Assmann 1991, S. 20. Vgl. zur Gedächtnismetapher von Camillo Laube 2013, S. 31–33, Zit. S. 31 und Yates 1990, S. 131. Vgl. Assmann 1991, S. 18 f. Näheres hierzu in Kap. 4.4. Vgl. Assmann 1991, S. 20. Vgl. Assmann 1991, S. 20. Vgl. Assmann 1991, S. 20 f. Vgl. Assmann 1991, S. 21. Vgl. Assmann 1991, S. 21 f. Assmann 1991, S. 27.

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hin zur Frage danach, wie dieser Diskontinuität Herr zu werden ist. Zwangsläufig sind die Metaphern nun nicht mehr konkrete oder abstrakte Dinge, sondern werden zu Metaphern von Verlaufsformen, Prozesshaftigkeit und Bewegung. In diesem Zusammenhang ist Baudelaires Ausführung zu verstehen. Baudelaire schreibt sich mithin in die Metapherngeschichte der mémoire mit seinen Sprachbildern an prominenter Stelle ein und schafft so eine Vorstellung von Erinnerung, die im Sinne von Walter Benjamins Paradox vor allem in Bezug auf die Unverfügbarkeit von Vergangenheit verstanden worden ist. Mit dem Bild des Kaleidoskops zeichnet sich auch bereits die oben angesprochene Verlagerung an, in der sich die Mémoire-Metaphern weg vom Sprachlich-Begrifflichen und hin zum Bildlich-Sensuellen entwickeln. Im Kontext des Peintre-Essays ergibt sich im Zusammenhang mit Baudelaires Metaphern zudem eine klare Verbindung zwischen mémoire und Wahrnehmung. Entgegen dem Lob des reinen Sehens, dem sich – wenn auch nur topisch – die Impressionisten wenig später verschreiben werden, zielt Baudelaire damit auf eine sinnliche Wahrnehmung ab, die in seiner Vorstellung niemals passiv und nur aufnehmend sein kann, sondern stets gespeist wird einerseits von Empfindungen und Gefühlen, andererseits von dem mächtigen Apparat der mémoire, die Wahrnehmungen stets flankiert und assoziativ kommentiert. Dass die Wahrnehmung untrennbar mit Gefühlen einhergeht, wird deutlich, wenn Baudelaire die Neugierde des Malers mit »une passion insatiable, celle de voir et de s­ entir«82 erklärt. Nicht nur die Neugierde ist gefühlsgeleitet, sondern auch die erinnernde Wahrnehmung ist flankiert von Gefühl. In Summe geht es um ein Zusammenspiel von sinnlicher Wahrnehmung und den von dieser aktualisierten alten und verschütteten Erinnerungen, in dem sich beide wechselseitig anreichern. Die inneren Bilder und Gefühle der mémoire und jene der Wahrnehmung verschmelzen dabei zu einem Bild besonderer ästhetischer Qualität.83 Das reine Sehen bedarf der mnemonischen Synthese.84 Dies gilt indes nicht nur für die Wahrnehmung von Welt, sondern, wie Patrizia Lombardo betont, auch in Bezug auf die Kunsttradition. Auch dieser begegnet der Künstler, in Baudelaires Vorstellung, mit affektiver Motivation, sodass die Auseinandersetzung mit der Traditon »not as an academic study, but as an emotional reenactment«85 verstanden werden muss. Baudelaire hat sich diesen Vorgang keinesfalls als rein subjektiven gedacht, sondern anschließend an die im Salon de 1846 formulierte unmittelbare Wirkung zwischen der mémoire des Malers, vermittelt im Gemälde, und der mémoire des Rezipienten. Im Kontext seiner Theorie der correspondences versteht er den Schöpfungsprozess als Bewegung, die, obwohl sie aus dem rein Subjektiven schöpft, dennoch interpersonell Teilbares zu 82 Baudelaire 1976, Peintre, S. 691. 83 Vgl. dazu auch Lombardo 2014, S. 8 f., die ebenfalls betont, dass es um die »capacity to conceive something new on the basis of materials accumulated and stored in memory« (S. 8) geht. Das Zusammentreffen von Wahrnehmung und Erinnerung bezieht sie insbesondere auch auf die Rezeption und verbindet Baudelaire so mit der modernen Debatte über die spezifische Wirkqualität von Kunst, verstanden als »fiktionale Wahrheit« (S. 9). 84 Vgl. Newmark 2001, S. 80. 85 Lombardo 2014, S. 7.

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Tage fördert. In einem durchaus modernen Sinne versteht Baudelaire auch das Subjektive als immer schon kollektiv geprägt. Insofern birgt die art mnémonique das Vermögen, aus einer sinnlich-subjektiven Wahrnehmung des Schönen zu kreieren, also eine »Extraktion des Ewigen aus dem Flüchtigen«86 vorzunehmen, die wiederum gänzlich unbewusst die mémoire des Rezipienten in der Rezeption zu affizieren vermag.87 Im Weiteren widmet sich der Peintre-Essay der Schilderung des kreativen Schöpfungsvorgangs. Baudelaire stellt sich den malerischen Akt vor als Konzentration, als Rückzug von Ablenkungen und Sinnesüberflutungen, als höchst fragilen Moment. Er beschreibt, der Maler könne sich vor dem Modell angesichts der vielen Details gestört und paraly­ siert fühlen, da diese Details die Bildfindung mittels der mémoire behinderten  :88 »Il s’établit alors un duel entre la volonté de tout voir, de ne rien oublier, et de la faculté de la mémoire qui a pris l’habitude d’absorber vivement la couleur générale et la silhouette, l’arabesque du contour.«89 Baudelaire konnte sich hier an die Schilderungen Delacroix’ anlehnen, der über seine Malerei in Nordafrika schrieb  : »Je n’ai commencé à faire quelque chose de passable, dans mon voyage d’Afrique, qu’au moment où j’avais assez oublié les petits détails pour ne me rappeler dans mes tableaux que le côté frappant et poétique.«90 Baudelaire folgert, dass die Ablenkung durch Details zu einem Verlust der Harmonie und Poesie führe, da das Charakteristische angesichts der vielen Details untergeht. Deutlicher als Delacroix beschreibt er die Folge der Detailflut  : »[…] rien ne se fait voir, rien ne veut être gardé par la mémoire.«91 Baudelaire lehnt damit zweierlei ab  : das detailverliebte Malen, etwa eines Horace Vernet, sowie das Malen vor dem Objekt/Modell, wie es später der Impressionismus versuchte. Beides ist Baudelaire zu wenig ästhetisch pointiert. Dabei geht es nicht um eine Orientierung an einem idealistischen Kunstideal, sondern um die Vorstellung, dass ein qualitativer Unterschied bestehe zwischen Sehen, das nur äußere Sinnesdaten aufnimmt, und einer Art innerem Sehen, das mittels der Anreicherung durch die Inhalte der mémoire das Wahrgenommene vielfach mit inneren Bildern und Empfindungen überformt und so überhaupt erst in sich kohärent, also sichtbar macht (»se fait voir«92). Nach dieser Logik geht es bei der gelungenen Synthese oder Harmonie nicht um die Erfüllung abstrakter Normen, sondern um die Synthese des Sichtbaren zu etwas, das Form im Sinne von Gestalt annimmt. Es geht um einen Formfindungsprozess, der auf innerpsychischen Prozessen und nicht auf Normen beruht.93 Zwar ungleich lakonischer, aber dennoch bemerkbar findet dies sein Echo bei Vuillard, da dieser in seiner Intention einer Malerei nach der mémoire ebenso auf das Gesamtbild und nicht auf Singularitäten 86 87 88 89 90 91

Westerwelle 2001, S. 356. Vgl. Lombardo 2014, S. 6. Baudelaire 1976, Peintre, S. 698. Vgl. dazu auch Chu 2011, S. 16. Baudelaire 1976, Peintre, S. 698. Delacroix 1893–1895, Bd. 2, S. 246. Baudelaire 1976, Peintre, S. 699. Diese Sätze sind bei Baudelaire dezidiert doppeldeutig angelegt, denn sowohl die mémoire des Künstlers ist hier gemeint als auch jene des Rezipienten. 92 Baudelaire 1976, Peintre, S. 699. 93 Vgl. dazu auch Doetsch 2007, S. 150.

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abzielt. In seinen carnets hält er fest  : »Pratiquement nécessité de travailler surtout de mémoire et de voir toujours dans l’ensemble la masse l’air […].«94 Und ebenso versteht er darunter vor allem eine Befreiung von der detailreichen Feinmalerei  : »mais ce souvenir est la condition nécessaire. Maintenant de quelle nature peut-il être  ? Ce souvenir n’a rien de précis dans les objets, ce n’est pas une copie.«95 Um, so Baudelaire weiter, überhaupt in seinem Kopf etwas aus der mémoire erzeugen zu können, das sichtbar im Sinne von gestaltet ist, ist es vonnöten, sich ins Innere, hin zur mémoire, zu versenken. Damit können die mémoire des chic sowie neue Sinneseindrücke abgewehrt werden.96 Ist nun dieser Augenblick des Rückzugs und der Konzentration gekommen und gelingt es dem Künstler, sich nach innen zu fokussieren, so überrollt ihn ein Moment höchster Erregung, den festzuhalten und auf die Leinwand zu übertragen äußerste Geschwindigkeit und einen an Furor, Besinnungslosigkeit und Exzess grenzenden Malakt erfordert.97 Der Produktionsprozess muss rasch vonstattengehen, damit von der »impression extraordinaire […]«98 nichts verloren geht.99 Er ist geprägt von einer quasisakralen »[…] contention de mémoire résurrectionniste, évocatrice« und von »un feu, une ivresse de crayon, de pinceau, ressemblant presque à une fureur.«100 Begründet ist dies in einer Angst, »[…] de n’aller pas assez vite, de laisser échapper le fantôme avant que la synthèse n’en soit extraite et saisie  ; […] pour que jamais les ordres de l’esprit ne soient altérés par les hésitations de la main  ; pour que finalement l’exécution, l’exécution idéale, devienne aussi inconsciente, aussi coulante que l’est la digestion pour le cerveau de l’homme bien portant qui a dîné.«101 Innerpsychisch stellt sich Baudelaire diese Momente vor als explosive, rauschartige Zustände, in denen der Maler »ses couches superposées de  94 Vuillard, Carnets, I.1., 12v (22. November 1888).  95 Vuillard, Carnets, I.2., loses Blatt (Nr. 89) (September 1891), Hervorhebung M.G.  96 In diesem Kontext ist es legitim, auch Passagen heranzuziehen, die dem Kapitel Mangeur d’opium der längeren Abhandlung Paradis artificiels 1860 entstammen. Denn Baudelaire kommentiert die darin enthaltenen Schilderungen des Opiumkonsums so, dass evident wird, dass er sie als dem kreativen Schaffensprozess analoge Zustände versteht. Er schreibt  : »Rêver magnifiquement n’est pas un don accordé à tous les hommes, et, même chez ceux qui le possèdent, il risque fort d’être de plus en plus diminué par la dissipation modern toujours croissante et par la turbulence du ­progrès matériel. La faculté de rêverie est une faculté divine et mystérieuse  ; car c’est par le rêve que l’homme communique avec le monde ténébreux dont il est environné. Mais cette faculté a besoin de s­ olitude pour se développer librement  ; plus l’homme se concentre, plus il est apte à rêver amplement, profondément.« (Baudelaire 1975, Mangeur d’opium, S. 497) Hier klingt deutlich an, dass nicht nur die Imagination, sondern auch der Traum, der rêve und die rêverie, welche ebenfalls im Verlauf des 19. Jahrhunderts immer wieder als ästhetische Konzepte theoretisiert worden sind, eng mit der mémoire zusammenhängen. Dies wird im Kap. 3.2 im Zusammenhang mit Corot erneut aufgegriffen.  97 Vgl. zu dem Aspekt der massiven körperlichen Aktion bei Baudelaire, die das Gestische und Aktivistische des malerischen Akts stark hervorhebt, Siegmund 2001, S. 624.  98 Baudelaire 1976, Salon 1859, S. 626.  99 Vgl. zum Aspekt der Schnelligkeit Lombardo 2001, S. 486 f. 100 Baudelaire 1976, Peintre, S. 699. 101 Baudelaire 1976, Peintre, S. 699, Hervorhebung i.O. Hiddleston betont, dass Baudelaire das Schöpfen

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sentiments défunts, mystérieusement embaumés dans ce que nous appelons l’oubli«102 vor seinem inneren Auge und seinem Empfinden aktualisiert. Es kommt so vom ursprünglichen Anblick aus zu einer Neuschöpfung. »Tous les matériaux dont la mémoire s’est encombrée se classent, se rangent, s’harmonisent et subissent cette idéalisation forcée qui est le résultat d’une perception enfantine, c’est-à-dire d’une perception aiguë, magique à force d’ingénuité  !«103 Bezeichnend hierbei ist die Parallele mit Vuillards Notaten, in denen der Maler diesen Vorgang ebenfalls nüchtern als psychologische Angelegenheit des »appareil cérébral« bezeichnet  : »Si l’appareil cérébral n’est pas en état de saisir ces rapports, de les garder un moment et de les reporter comme un somnambule sur le papier ou toile, inutile de dépenser son temps.«104 Wenn auch die Metaphern der Verdauung (»digestion«), bei Baudelaire, und des Traumwandlers (»somnambule«), bei Vuillard, in gewisser Hinsicht nicht unterschiedlicher sein könnten, so teilen sie doch in diesem Kontext ihre Stoßrichtung. Denn sowohl die Verdauung als auch das Traumwandlerische unterliegen eben nicht einem kognitiv gesteuerten Akt, sondern vollziehen sich automatisch, als eigendynamische Prozesse. Baudelaires krude Metapher der Verdauung impliziert dabei noch präziser als jene des Traumwandlers, dass der Prozess, um den es hier geht, einer ist, in dem der Körper – im malerischen Akt die Psyche – bereits aufgenommene sinnliche Inhalte in einem komplexen Prozess mit anderen inneren Bildern amalgamiert und transformiert. Der Künstler richtet sein Augenmerk somit nicht mehr auf die Reflexion der konkreten Umsetzung von inneren Bildern in ästhetische Formen, sondern er ist gleichsam nur um die »Versuchsanordnung« bemüht, als Grundlage für einen ansonsten weitgehend automatischen Transformationsakt. Dabei rückt auch der Fokus auf die noch 1846 geforderte melodiöse Harmonie in den Hintergrund, zugunsten einer Harmonie, die auch Elemente der Störung und Übertreibung kennt.105 Tatsächlich ist die Vorstellung, dass all dies mit Raserei einhergehen müsse, eine Besonderheit bei Baudelaire, die ansonsten beim Malen nach der mémoire nicht zwingend ist.106 Zumindest findet sich hiervon bei Vuillard keine Spur, und man könnte sich den kreativen nach der Erinnerung dezidiert als quasisakralen Akt versteht, also als weit mehr denn die private Fantasie des Künstlers. Vgl. Hiddleston 1999, S. 41. 102 Baudelaire 1975, Mangeur d’opium, S. 506. 103 Baudelaire 1976, Peintre, S. 694, Hervorhebung i.O. 104 Vuillard, Carnets, I.1., 12v (22. November 1888), Hervorhebung M.G. 105 Vgl. dazu Newmark 2001, S. 76 f. 106 Der Topos des rauschhaften Schaffens hält sich das gesamte 19. Jahrhundert über. Offenbar wurde dies jedoch in Frankreich bisweilen als befremdlich und unheimlich empfunden, weswegen sich Ende des 19. Jahrhunderts eine beträchtliche diskursive Energie seitens der experimentellen Psychologie darum bemüht, diesen Furor als in Wirklichkeit rational gesteuert einzuhegen (vgl. Guthmüller 2008, S. 25 f.). Der Faktor der Geschwindigkeit wird so zusehends verdrängt von der Frage danach, ob kreatives Schaffen rational kontrollierbar sei oder unkontrolliert. Diese Diskussion kulminiert um 1900, was nicht zuletzt die Diskussion um Prousts Recherche belegt, die sich darum drehte, ob die mémoire tatsächlich »involontaire« (unwillkürlich) sei oder nicht. Vgl. dazu Thielemans 2000.

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Rückzug auch genauso gut als sinnlich versonnene folie vorstellen. So nämlich imaginierte Théophile Silvestre den schöpferischen Rückzug für den ebenfalls aus der mémoire malenden Corot, auf den im nächsten Kapitel eingegangen wird. In seiner Histoire des artistes vivants (1856) lässt Silvestre den Maler berichten  : Après mes excursions, dit-il, j’invite la Nature à venir passer quelques jours chez moi  ; c’est alors que commence ma folie  : le pinceau à la main, je cherche des noisettes dans le bois de mon atelier, j’y entends chanter les oiseaux, les arbres frissonner sous le vent, j’y vois couler les ruisseaux et les rivières chargés des mille reflets du ciel et de tout ce qui vit sur les rives  ; le soleil se couche et se lève chez moi.107

Deutlich wird dadurch, dass das Spezifische nicht so sehr die Raserei ist, sondern die Idee, dass Wahrnehmungen durch den schöpferischen Prozess der mémoire überformt werden, indem assoziierte innere Bilder, Sinneseindrücke und Gefühle aktualisiert und miteinander verschmolzen werden. Nicht mehr idealistische Kriterien leiten das Kunstschaffen, sondern die Struktur der Psyche moderiert und prägt den Formfindungsprozess. Abschließend lässt sich die Essenz des Zusammenspiels von Wahrnehmung, mémoire und Imagination wie folgt resümieren. Von der Natur, dem dictionnaire, verläuft der kreative Weg über das »œil sûr et profond«108 und die speichernde Erinnerungsarbeit, die im Prozess des Speicherns das Material immer schon mit der je spezifischen Subjektivität (Temperament) des Künstlers überformt und die so modifizierten, aber nicht abschließend fixierten Bilder im Gehirn ablegt. Mit dem Aufrufen dieser Bilder in der spezifischen Schaffenssituation greift die mémoire ein zweites, diesmal aufrufendes und abermals kreatives Mal zu. Erst im Anschluss an diese Bewegungen spielt die Imagination im finalen bildfindenden Akt eine Rolle. Alle Stationen sind dabei geprägt vom Kampf um das rechte Maß an Details und Formqualität.109 Mémoire und Imagination, so kann festgehalten werden, bilden in Baudelaires Schrift zur modernen Malerei von 1859/60 zwei innerpsychische Dynamiken, die ineinander verzahnt sind und ineinander übergehen, zwei Dimensionen ein und desselben Prozesses. Baudelaire führt damit einen Sachverhalt in die Kunsttheorie ein, der zeitgleich auch von Jules Baillarger, Alfred Maury und Léon d’Hervey de Saint-Denys verhandelt worden ist. Auch sie sind von einer Verkoppelung der Seelenvermögen Erinnerung und Imagination ausgegangen. Vor dem streng cartesianischen Erbe in Frankreich, das die mémoire von der Imagination getrennt sehen wollte, war ihnen dies jedoch vorerst nur im Rahmen der Halluzinations- und Traumforschung möglich gewesen.110 Kaum zufällig ist, dass Baillargers entsprechende Arbeit 1846 erscheint, die Arbeiten von Maury und Hervey de Saint-Denys 1861 und 1867 – und damit just in

107 Silvestre 1856, S. 89 f. 108 Baudelaire 1976, Salon 1846, S. 433. 109 Vgl. dazu Doetsch 2007, S. 155. 110 Vgl. Janßen 2002, S. 197 f.

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jenen Jahren, in denen auch Baudelaire die mémoire als eigentliche Imagination in seinen kunsttheoretischen Arbeiten reflektiert.111 Ästhetische Qualitäten der Kunstwerke nach der mémoire und Aspekte der Medienspezifik

Für die Künstler ergibt sich aus all dem ein Darstellungsproblem. Denn wenn die mémoire und ihre Inhalte offenbar nicht greifbar sind – denn die mémoire ist kein Behältnis und die Erinnerung besteht nicht aus fixierten Entitäten –, so wird ihr Inhalt zu etwas gleichermaßen Prekärem wie Wertvollem, und der fruchtbare Umgang mit ihr wird zum Vermögen. Nach Baudelaire vermag es nun vornehmlich der Künstler, die Existenz eigentlich vergessener Dinge – Empfindungen im weitesten Sinne – zu erahnen und diese, sie im Hier und Jetzt aufrufend, zu aktualisieren. So schreibt Baudelaire, Poe paraphrasierend  : »Il affirmait que celui qui ne sait pas saisir l’intangible n’est pas poète  ; que celui-là seul est poète, qui est le maître de sa mémoire, le souverain des mots, le registre de ses propres sentiments toujours prêt à se laisser feuilleter.«112 Das Ungreifbare ist also jener Erinnerungsinhalt, der dem Bewusstsein vergessen ist, den der Künstler aber im Schaffensakt über seine mémoire dennoch aktivierend anzusteuern vermag. Er erlangt so eine Erinnerung, diese ist aber weder leicht verfügbar noch liegt sie in fixierter Form vor noch bildet sie etwas Gewesenes ab, sie ist also nicht repräsentativ, sondern Ergebnis einer prozessualen Bewusstwerdung, die die Spuren dieses Prozesses immer in sich trägt. Im Betonen der Raschheit, mit der all dies vonstattengehen muss, findet sich nicht nur die Ungreifbarkeit des Vergangenen belegt, sondern auch ein Hinweis auf die spezifische Zeitlichkeit, die diesen Moment charakterisiert. Die Vergangenheit ist nur als vorbeihuschende Erscheinung verfügbar, die unmittelbar mit dem aktuellen Momenterleben zu einem Bild verschmilzt.113 Das heißt, die Fragilität der Vergangenheit und jene des aktualen Moments führen zu einem Zustand besonderer Intensität und Zeitlichkeit, der dem Zeitfluss enthoben ist und in jenes verdichtete und in Zeitlosigkeit getauchte Bild mündet, das sich in dem Moment aus Vergangenem und Präsentem amalgamiert, in dem sich die mémoire entrollt. Es ist evident, dass dies für die Künstler aller Gattungen ein großes Darstellungsproblem einschloss  ; weder die Bildfindung als solche noch wie deren ästhetisches Werkzeug aussehen könnte, ist in diesen Überlegungen konkret greifbar.

111 Vgl. dazu Janßen 2002, S. 197 f. 112 Baudelaire 1976, Poe, S. 331. 113 Ähnliches wird Walter Benjamin auch Marcel Proust und dessen Auseinandersetzung mit der mémoire als ästhetisch-literarischem Prinzip bescheinigen. Denn auch bei Proust ist es nicht leicht, diesen erinnernden Zustand herzustellen, sondern bedarf der Mühe, der geistigen Anstrengung. Dann ist die Freude über die so gewonnenen Bilder auch nicht die Freude darüber, einen Teil der Vergangenheit wiederzuhaben, sondern die Freude entspringt dem neuen »Verhältnis der Gegenwart zur Vergangenheit«. Vgl. Gagnebin 2006, S. 292.

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Dennoch finden sich bei Baudelaire Hinweise auf einzelne (formal)ästhetische Qualitäten, die sich cum grano salis bis zum Ende des 19. Jahrhunderts erhalten sollten und damit als typisch für aus der Erinnerung geschaffene Werke gelten. Denn mit der kulturellen Konstruktion einer Kunsttheorie der art mnémonique ergeben sich implizit und explizit bestimmte Qualitäten, die diese Kunstwerke auszeichnen. Baudelaires Schriften können durch die breite Rezeption, die sie erfuhren, als traditionsbildend verstanden werden. Grundsätzlich verdanken die Werke der mémoire ihre Qualität den malerischen Mitteln der Farbe, des Kolorismus und koloristischer Harmonien und Akkorde. Gemeint sind mithin Mittel, die sinnlich verfasst sind. Dies wird verstärkt durch die damit transportierten Inhalte. Dabei handelt es sich nicht mehr um Ideen oder andere kognitive Gehalte, sondern um sinnlich-visuelle Inhalte, die der Maler durch kräftige Eindrücke mit wonne­vollem Schauder aufnimmt und in sein Gehirn einlässt  : Farben, Oberflächenstrukturen, Sinnesreize aller Art, Linien sowie Formen114 und die Silhouette, die Arabeske des Umrisses.115 Als Beispiel hierfür gibt Baudelaire etwa die Epidermis, die für den Maler aufgrund der »dégradations de couleurs de la peau nuancée de rose et de jaune, et le réseau bleuâtre des veines«116 attraktiv sei. Objekte werden demnach geradezu auf die Qualität ihrer Oberfläche hin betrachtet  ; einer räumlichen, in Volumina organisierten Wahrnehmung tritt der flächig strukturierte Blick entgegen. Weiterhin erfährt das Prinzip der Harmonie eine Umdeutung  ; auch dies ist oben bereits angeklungen. Tendenziell versteht Baudelaire die Harmonie auf zwei unterschiedliche Weisen. Zunächst auf eine eher klassische Art, wenn er damit tatsächlich Farbharmonien und -akkorde meint. Vielfach hebt er darauf ab und bringt diese Qualitäten in Verbindung mit der mémoire. Etwa, wenn er über Corot schreibt  : »M. Corot est plutôt un harmoniste qu’un coloriste  ; et ses compositions, toujours dénuées de pédanterie, ont un aspect séduisant par la simplicité même de la couleur. Presque toutes ses œuvres ont le don particulier de l’unité, qui est un des besoins de la mémoire.«117 Weiterhin kommt zu dieser bereits in den frühen Schriften formulierten Idee von Harmonie in den späteren Texten eine anders gelagerte Harmonie hinzu, die Ergebnis der naiven und barbarischen Malerei sei.118 In Le Peintre de la vie moderne erörtert Baudelaire diese Harmonie der barbarischen Kunst als »synthétique et abréviateur«. Sie sei getragen vom »besoin de voir les choses grandement, de les considérer surtout dans l’effet de leur ensemble«119, der überdies auch vor Übertreibungen und starken, einfachen Farben und Formen nicht zurückschreckt.120 Damit 114 Vgl. Baudelaire 1976, Peintre, S. 690 f. 115 Baudelaire 1976, Peintre, S. 698. 116 Baudelaire 1976, Peintre, S. 691. 117 Baudelaire 1976, Salon 1846, S. 482. 118 Baudelaire 1976, Peintre, S. 697. 119 Baudelaire 1976, Peintre, S. 697 f. Vgl. dazu auch Chu 2011, S. 16. 120 Baudelaire 1976, Peintre, S. 697 f. Erstaunlicherweise hat sich diese Auffassung – ohne dass den Modernen die Wurzeln ihres Denkens stets bewusst wären – bis ins 20. Jahrhundert gehalten. So schreibt Rudolf Arnheim über Gedächtnistendenz und Kunst  : »In den bildenden Künsten findet man Parallelen zu diesen zwei gegensätzlichen [… T]endenzen. […] Formvereinfachung und

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geht zudem die dezidierte Inkaufnahme von Vagheit einher, die letztlich zu uneindeutigen Formen und mittels einer auf koloristischen Prinzipien beruhenden Malerei zu schillernder Formauflösung führt.121 Dem ästhetischen Objekt eignen überdies die Spuren des raschen malerischen Akts sowie die Qualität der Uneindeutigkeit hinsichtlich des Status des Wahrgenommenen. Denn dieses ist gleichermaßen als Wahrnehmung, als Erinnerung und als durch die mémoire überformte Abstraktion gekennzeichnet.122 Des Weiteren gilt es, die besondere stimmungshafte Qualität zu betonen, die den Schaffensmoment auszeichnet und deren Spuren wiederum die Bildfindungen der mémoire in sich tragen. Baudelaire sinniert anlässlich von Thomas de Quinceys Confessions of an English Opium-Eater (1821) und François-René de Chateaubriands Mémoires d’outre-tombe (1849/50), dass alle Lebenserinnerungen immer einen bestimmten Ton, eine bestimmte stimmungshafte Färbung haben. C’est ce que, d’une manière générale, j’appellerais volontiers le ton du revenant  ; accent, non pas surnaturel, mais presque étranger à l’humanité, moitié terrestre et moitié extra-terrestre, que nous trouvons quelquefois dans les Mémoires d’outre tombe, quand, la colère ou l’orgueil blessé se taisant, le mépris du grand René pour le choses de la terre devient tout à fait désintéressé.123

An anderer Stelle beschreibt er die Qualität der Erfahrung, wenn durch Wahrnehmung ausgelöste Erinnerung und Innovation in inneren Bildern untrennbar miteinander verschmelzen. Das Seltsame dieser Erfahrung, »ce n’est pas la simultanéité de tant d’éléments qui furent successifs, c’est la réapparition de tout ce que l’être lui-même ne connaissait plus, mais qu’il est cependant forcé de reconnaître comme lui étant propre«124.

Spannungsverminderung im Kompositionellen. Expressionistische Strömungen andrerseits erzeugen Verzerrungen und Spannungserhöhungen durch Dissonanzen […]. […] Sie klären und schärfen den visuellen Begriff.« Arnheim 1972, S. 87. 121 Vgl. dazu Koch 1988, S. 109. Die Vagheit als kreatives Prinzip hat bei Baudelaire Methode, denn wie Hans Körner ausführt, legte der Poet dieses Kriterium auch für seine Kunstkritik an. Denn auch dort werden Details und Vollständigkeit geopfert zugunsten einer produktiven Unpräzisheit und Vagheit, die der gemütsmäßigen Evokation der Einheit des Kunstwerks diene. Vgl. Körner 1988, S. 279 und 289. 122 Die Deutung von Baudelaires Auffassung von naiver und barbarischer Kunst als Teil des psychologischen Diskurses über das Verhältnis von Wahrnehmung und Erinnerung (inneren Bildern) und dessen Konsequenz für die bildliche Darstellung lassen sich mühelos mit anderen Akteuren dieses Diskurses verstreben. Bekannt ist etwa die Arbeit des Anthropologen Fritz Boas (der wiederum Aby Warburg intensiv beeinflusste), der in seinem Werk über Primitive Art 1927 zwei Darstellungsweisen unterscheidet  : die westliche, »realistische« Darstellung, die die Nachahmung der Perspektive des Sehens zum Ziel hat, und die »primitive«, abstrakte Darstellung, die sich an den im Geist repräsentierten, den inneren Bildern orientiert. Vgl. Boas 1927. 123 Baudelaire 1975, Mangeur d’opium, S. 496. 124 Baudelaire 1975, Mangeur d’opium, S. 506.

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Die künstlerischen Erzeugnisse der Erinnerung – sei es Literatur oder bildende Kunst – tragen also stets eine besondere stimmungshafte Färbung an sich, die am ehesten mit einer Form der Entrücktheit beschrieben werden könnte. Es stellt sich eine irreale Distanz zu den Dingen ein, jeglicher starke Affekt scheint abgemildert und ersetzt durch einen existentielleren Modus des Fühlens. Das im Kunstwerk neu Erfundene tritt einem als déjà-vu entgegen und stiftet angesichts dieses vernebelten epistemischen Status eine unauflösbare Irritation, deren einzig fruchtbarer Ausweg die ästhetische Erfahrung dieses Moments ist. Abschließend ist die These zu entfalten, dass Baudelaire eine Affinität zwischen der mémoire und dem Bildlichen herstellt. Denn einerseits stellt der poetische Erinnerungsbegriff bei Baudelaire eine Kategorie dar, die sowohl in seiner Poesie (Le Cygne in Fleurs du mal) wie auch in seiner Kunsttheorie zentral ist.125 Eine vorschnelle Zuordnung der mémoire zum Bildlichen wäre also verfehlt. Andererseits gibt es eine Reihe von Indizien, die auf eine hervorgehobene Stellung des Bildlichen im Rahmen des Mémoire-Konzepts hinweisen. Für die Affinität zwischen mémoire und Bildlichem spräche, dass die Kategorie der Erinnerung vor allem in den Kritiken zur Malerei (Salon de 1846 und Salon de 1859) in Anschlag gebracht wird. Zudem führt Baudelaire in seinem Aufsatz über die moderne Malerei explizit die Kategorie der art mnémonique ein. Weitere Hinweise finden sich im Peintre de la vie moderne und in der Auseinandersetzung mit E.A. Poe und E.T.A. Hoffmann. Ausgehend vom Peintre-Essay und der dort verwendeten metaphorischen Bezeichnung der Kurzgeschichte Poes als tableau ist bereits nahegelegt, dass Baudelaire – über Gattungsgrenzen hinaus – eine medientheoretische Sonderstellung des Bildlichen impliziert. Im Peintre hieß es, die Novelle Poes, die, wie Baudelaire explizit betont, sicher im Gedächtnis des Rezipienten starke Spuren hinterlassen habe, sei streng genommen als tableau zu bezeichnen. Zudem stellt Baudelaire in seiner Arbeit Notes nouvelles sur Edgar Poe (1857) Überlegungen zu den verschiedenen literarischen Gattungen an. Dort heißt es, in Einklang mit den von Poe selbst formulierten theoretischen Überlegungen  : »Elle [die Novelle  ; M.G.] a sur le roman à vastes proportions cet immense avantage que sa brièveté ajoute à l’intensité de l’effet. Cette lecture, qui peut être accomplie tout d’une haleine, laisse dans l’esprit un souvenir bien plus puissant qu’une lecture brisée, interrompue souvent […]. L’unité d’impression, la totalité d’effet est un avantage immense […].«126 Wenn hier auch nicht expressis verbis das Bildliche hervorgehoben wird, so stellt Baudelaire vermittels Poe just die wirkästhetischen Qualitäten der Novelle heraus, die seit G.E. Lessing und dessen grundlegender Abhandlung über die verschiedenen Gattungen (Laokoon, 1766, frz. Übersetzung 1802) als genuin bildmäßig galten  : die temporal gedachte Kompaktheit der Form, die es ermöglicht, das Werk mit »einem Blick« und nicht zeitlich ausgedehnt wahrzunehmen. Dies ist nun laut Baudelaire nicht nur für sich gesehen eine Qualität der Novelle, sondern vor allem zentrale Voraussetzung dafür, dass die Novelle eine eminente 125 Westerwelle 2001. 126 Baudelaire 1976, Poe, S. 329. Poe hatte seinerseits die Kürze als Qualitätskriterium von Literatur bereits 1846 formuliert. Vgl. Poe 1846.

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Wirkung in der Erinnerung des Lesers entfalten kann. In der Auseinandersetzung mit Poe und E.T.A. Hoffmann wird zudem die Bedeutung des Visuellen deutlich. In Poes Mann der Menge etwa geht es nicht zuletzt um eine Reflexion visueller Wahrnehmung. Die Rezeptionsmöglichkeit »mit einem Blick« sowie die genuin sinnlichen Inhalte des mit dem Bildlichen korrelierenden Visuellen scheinen mithin besonders den Strukturen der Erinnerung zuträglich zu sein. Ein weiterer Aspekt, der in diese Richtung weist, ist die oben angesprochene Metaphorik der Verdauung und der Elektrifizierung, die dem unmittelbaren Wirkpotential von Bildern ungleich näher steht als der vermittelten Rezeption des Lesens von temporal gestreckten Textgattungen. Auch die an anderer Stelle dieser Arbeit eingehender zu besprechende Metapher des Palimpsests für die Erinnerung des Menschen, welche, wie oben ausgeführt, Metaphern des Archivs ersetzt, bringt eine Verschiebung mit sich. Vom verstandesmäßigen Lesen von Dokumenten hin zu einem Bildhaften, denn Baudelaire versteht das Palimpsest weniger als Schriftstück denn als grafisches Schichtenphänomen, das ebenfalls auf einen Blick wahrgenommen werden kann. Vor allem der größere Diskursrahmen aber legt möglicherweise eine solche Annäherung von mémoire und Bild nahe. Wie Juan Rigoli eindrucksvoll gezeigt hat, war im psychologischen Diskurs bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts das Bildliche vornehmlich den Pathologien zugeordnet, die Sprache hingegen der Ratio und ergo der gesunden Psyche.127 Wie oben ausgeführt, stand insbesondere in Frankreich auch die Imagination tendenziell in enger Verwandtschaft zu dieser verstandesmäßig nicht kontrollierten Sphäre des Pathologischen. Entsprechend hatte Diderot der Erinnerung die Sprache zugeschlagen, der Imagination hingegen die Bilder. Wenn nun aber, wie im Falle Baudelaires gezeigt, die Imagination eins wird mit der mémoire, verändert sich zwangsläufig auch die medienspezifische Ordnung. Das Bild ist nun auch Teil der mémoire, und, wie sich bei den Psychologen Taine und Ribot zeigen wird, das Bild wird zum beherrschenden Akteur der Psyche. Der obige Einwand, dass Baudelaire auch in der Lyrik mit der Erinnerung als poetischem Mittel gearbeitet hat, widerspricht dieser These nicht. Denn die Auseinandersetzung mit Poe macht deutlich, dass es um eine Medienspezifik des Bildlichen in Bezug auf die mémoire jenseits von Gattungsgrenzen geht, und die Aufwertung des Bildes wird sich im weiteren Verlauf des Jahrhunderts fortsetzen. Um abschließend besser fassbar zu machen, worin der Beitrag Baudelaires zur Neukonturierung der mémoire besteht, ist es hilfreich, nochmals knapp auf seine eingangs erwähnte Scharnierfunktion zwischen romantischer Tradition und der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückzukommen. Bereits in der romantischen Auffassung von Erinnerung lassen sich zentrale Momente von Baudelaires Theorie finden. Klar erkennbar wird dies insbesondere beim Blick auf den französischen Vorläufer Jean-Jacques Rousseau, aber auch auf dessen britischen Zeitgenossen William Wordsworth. Der ergänzende Blick nach England ist in diesem Zusammenhang deswegen angebracht, weil Baudelaire diese Tradition durchaus intensiv rezipiert hat, zudem markiert er abermals, dass sich Frankreich in der Entdeckung der Erinnerung 127 Vgl. Rigoli 2006.

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als Imagination und der diskursiven Ausgestaltung dessen aufgrund seines cartesianischen Erbes im Vergleich zu England zeitlich nachgeordnet entwickelt. Es ist insbesondere das Verdienst von Aleida Assmann, diese Zusammenhänge für England hergestellt zu haben.128 Im Zuge der Etablierung eines neuzeitlichen Subjektbegriffs findet sowohl bei John Locke wie auch bei David Hume der Zugriff auf das Thema Gedächtnis und Erinnerung kaum mehr aus der Perspektive der Rhetorik, Mnemotechnik und genealogischer Memoria statt, sondern aus der genuin neuzeitlichen Perspektive der persönlichen Erinnerung und damit dem Fragekontext nach einer »individuellen Identität im ausschließlichen Horizont der persönlichen Lebensgeschichte.«129 In je unterschiedlicher Gewichtung stimmen Locke und Hume überein, dass das Gedächtnis kein Ort der sicheren Verwahrung ist, sondern zwangsläufig das Vergessen umschließt. Eine archivalisch konstituierte und versicherte Identität ist so schlechterdings nicht denkbar. Locke etabliert daher die Idee eine Identität, die auf der Überbrückung des Vergessensverlusts durch eine im Zusammenspiel mit dem Bewusstsein integrativ wirkende Erinnerung basiert.130 Hume seinerseits dekonstruiert diese Hoffnung und weist eine wie auch immer gedachte Identität als Fiktion zurück.131 Was bleibt, ist die dem Subjekt gleichsam mit seiner Entstehung untrennbar eingeschriebene Verunsicherung über die eigene prekäre Identität und vor allem der Verlust einer Rückbindung an sichere oder gar transzendente Ursprünge. Unschwer erkennbar stellt dies ein Zentralmotiv der Romantik dar  : das Subjekt, das, analog zur Vertreibung aus dem Paradies, im Moment seiner Selbst-Bewusstwerdung auch abgeschnitten wird von seiner Verbundenheit mit seinem Ursprung, der je nach Autor mit der Natur, der Kindheit oder dem Göttlichen markiert sein kann.132 An diesem Punkt nun setzte die romantische Auseinandersetzung mit der Erinnerung ein, die, in groben Zügen dargestellt, als Versuch gewertet werden kann, diese für das Subjekt konstitutive Verlusterfahrung durch die besondere Befragung und Aktivierung der Erinnerung erträglich zu machen oder gar zu heilen.133 Rousseau verschärft dieses Ausgangsproblem zudem, wenn er, weit über Locke hinausgehend, zwei voneinander getrennte Formen der Erinnerung annimmt  : jene des Kindes, die angefüllt ist mit sinnlichen Inhalten, und jene des Erwachsenen, die nur Ideen und logische Verknüpfungen speichert.134 Bei Rousseau muss die Erinnerung also nicht nur die Distanz zum romantischen Ursprung überbrücken, sie muss dabei zudem Zugang zum mit dem Übertritt ins Erwachsenenalter eigentlich verschütteten Reservoir der Kindheit finden. Sosehr sich die jeweiligen Positionen im Einzelnen unterscheiden, lassen sich im vergleichenden Blick doch klare Gemeinsamkeiten zwischen Wordsworth und Rousseau 128 Vgl. Assmann 1999. 129 Assmann 1999, S. 95. 130 Vgl. Assmann 1999, S. 98. 131 Vgl. dazu Assmann 1999, S. 95–99. 132 Vgl. Assmann 1999, S. 101–103 und 106–109 und Moser 2012, S. 27. 133 Vgl. Assmann 1999, S. 102. 134 Vgl. Moser 2012, S. 27.

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erkennen, die, wie gezeigt, bis zu Baudelaire fortwirken. Von entscheidender Bedeutung ist die Identifikation der Erinnerung nicht nur als zentraler Mechanismus für die Konstitution des Subjekts, sondern insbesondere als der Moment, in dem das Erinnerte trotz vielfacher Vergessensverluste im Zusammenspiel mit dem Bewusstsein eine besondere Intensität von Selbsterfahrung ermöglicht. Diese Feststellung ist gleichermaßen für den Briten wie für den Franzosen entscheidend.135 Diese besondere Form der Erfahrung gilt als flüchtiger, die Wunden des Verlusts lindernder Zustand, bei Rousseau erweist er sich als punktueller Moment, in dem das Subjekt »bruchlos mit sich eins ist.«136 Beiden Schriftstellern ist dabei klar, dass sich diese Momente höchstwahrscheinlich einem kreativen Akt verdanken, dass das Erinnerte in vielen Fällen nicht wahre Vergangenheit einspielt, sondern Erdachtes und Imaginiertes ist.137 Aus der Subjektphilosophie Lockes und Humes resultiert notwendig, dass die Erinnerung, die vom Vergessen untrennbar ist, weniger zuverlässig reproduziert, sondern ebenso erfindet und konstruiert. Das Erinnern ist nicht zweifelsfrei zu trennen vom Imaginierten, zugleich ist es die einzige Brücke in verloren geglaubte Ursprünge und wird damit zum Schlüsselthema und vor allem Schlüsselmechanismus der poetischen Schöpfung. In je unterschiedlicher Weise schreiben sowohl Wordsworth als auch Rousseau dem biografischen Stadium der Kindheit eine hervorgehobene Rolle zu. Für Wordsworth liegt es rein zeitlich dem schmerzlich vermissten Zustand transzendenter Rückbindung am nächsten,138 für Rousseau sind die Kindheitserinnerungen, aufgrund der oben genannten Spaltung des Erinnerungsvermögens im Moment des Erwachsenwerdens, ohnehin die einzig mögliche Quelle für sinnlich-affektives Erinnerungsmaterial. Entsprechend stammen insbesondere aus der Kindheit (wahre oder erdachte) Erinnerungen, die dann bei Wordsworth im Bewusstwerden als ein die Wunde der Zeit kurzzeitig milderndes »Supplement poetischer Imagination«139 gelten, bei Rousseau wiederum als Mittel, die »verlorene Einheit qua Erinnerung zu restituieren.«140 Entscheidend ist zudem, dass beide, ungeachtet der Unterschiede im Einzelnen, den gleichen Erinnerungsinhalt als hochpotent erachten, und zwar die Emotionen in Verbindung mit sinnlichen Wahrnehmungsinhalten.141 Nicht die narrativen oder faktischen Aspekte von Erinnerung versprechen poetische Heilung, sondern die Erinnerung von Gefühlen und Emotionen, die als recollection, im Sinne der Neuschöpfung im Bewusstsein, aktualisiert und so gleichsam zum Elixier einer punktuellen Ganzheitserfahrung werden.142 Die poetische Strategie versucht also, biografisch möglichst frühe Erinnerungen an Sinnliches und Gefühle zu aktivieren, um die Gefühlsqualität dieser Erinnerung im Bewusstsein künstlerisch umzusetzen. Die ansonsten so unterschiedlichen Autoren verbindet dabei der Fokus auf die Kindheit sowie auf die als 135 Zu Wordsworth vgl. Assmann 1999, S. 104 f. 136 Moser 2012, S. 27. 137 Vgl. Assmann 1999, S. 102 f. und Moser 2012, S. 32. 138 Vgl. Assmann 1999, S. 110 f. und Moser 2012, S. 24–27. 139 Assmann 1999, S. 102. 140 Moser 2012, S. 27. 141 Vgl. Assmann 1999, S. 102 und Moser 2012, S. 28. 142 Vgl. Assmann 1999, S. 104 f. und Moser 2012, S. 27.

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von dort stammend imaginierten Gefühle. Insbesondere Rousseau ist es, der dieses Ziel so intensiv durchdringt, dass er auf dieser Basis nicht nur Kreativität neu denkt, sondern vor allem als modus operandi eine neuartige Form des autobiografischen Schreibens, die Confessions, etabliert.143 Die Confessions sind für Rousseau das strukturelle, literarische und motivische Mittel, um via Erinnerung die romantische Empfindung von Entfremdung zu lindern und dem Subjekt dabei zu einem Moment der Ganzheitlichkeit zu verhelfen. Mit Wordsworth verbindet ihn bei alledem die Wahl des entsprechenden Mediums, nämlich der Schrift. Für beide ist diese das unbedingte Medium der Wahl, die poetische Spracharbeit sowie die sprachlich strukturierte Narration ist für sie von zentraler Bedeutung.144 Die Gleichsetzung von Erinnerung und Imagination sowie der Fokus auf Emotion und sinnliche Wahrnehmung, wie sie von Baudelaire stark betont wird, sind so neu also nicht, sondern treten bereits in der Romantik auf. Dennoch bestehen gravierende Unterschiede, die Baudelaires Position von der der Vordenker durchaus klar absetzen. Denn sosehr Wordsworth und Rousseau bereits auf die Moderne vorausweisende Anteile enthalten, sind sie doch durch die genuin romantische Strukturlogik der melancholischen Sehnsucht nach einem transzendenten oder transindividuellen Kern der Person gebunden an Motive und Themen der Natur- bzw. Kindheitsverehrung, seien sie religiös oder subjekttheoretisch fundiert. Die gesamte Logik der Erinnerung als Vademekum entfaltet sich bei ihnen stets unter der schwärmerischen Zielstellung des lindernden Effekts. Zwar hallt dies bei Baudelaire noch nach, indes hat sich die Ineinssetzung von Erinnerung und Imagination bereits stark von einer romantischen Heilslogik befreit und wird somit von Baudelaire als kreatives Prinzip per se proklamiert. In der Folge ist der schöpferische Mechanismus der Erinnerung auch nicht mehr an ein begrenztes Motiv- oder Themen­ spektrum der Natur bzw. der Kindheit gebunden, sondern kann sich an jedweder sinnlichen Wahrnehmung entfalten. Baudelaire verlässt damit nicht nur den Bereich der (göttlichen) Natur bzw. der eigenen Kindheit als Resonanzraum der Seele, sondern er leitet auch eine von der romantischen Heilslehre unbelastete Perspektive auf die menschliche Psyche ein. Weil er jedwedes Heilsversprechen dekonstruiert, vermag er, wie dargestellt, in Ansätzen einen nüchternen Blick auf den Bewusstseinsapparat zu werfen. Dabei erweist sich die Erinnerung weniger als Schlüssel zum retrograden Glücksversprechen, sondern als unzuverlässiger Akteur in der menschlichen Psyche, der jenseits des Vergessenen oft nur beliebige oder falsche Details erinnert. Nur im Ausnahmefall finden Wahrnehmung und Erinnerung derart zusammen, dass ein imaginatives und schöpferisches Fanal entsteht. Ist dies der Fall, dann qualifiziert das Ergebnis zudem eine klare Form der Konzentration, der Pointierung und der Essenz-Bildung. Ganz im Gegensatz dazu stand das Verfahren Rousseaus, der in den Confessions dezidiert jedwedem Detail seiner Erinnerung Bedeutung und Raum zumaß.145

143 Vgl. Moser 2012, S. 30. 144 Vgl. Assmann 1999, S. 111. 145 Vgl. Moser 2012, S. 28 f.

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Der Fokus rückt von romantische Ursprüngen weg und mitten in das moderne Leben  ; das Interesse an der Erinnerung als Imagination dient weniger der retrograden Sehnsucht als vielmehr der Intensivierung der Interaktion mit der modernen Welt. Lebensweltliches Erleben wird angereichert durch das prismatische Medium der Erinnerung zur sinnlich-emotional intensivierten Erfahrung. Die Betonung geht damit nicht nur weg von der Rückwärtsgewandtheit und hin zu einer Steigerung der Jetztzeit, sondern sie bewegt sich auch strukturell von einem narrativ strukturierten Prozess zu einem Prozess prägnant-anschaulichen Erfahrens. Ganz notwendig ergibt sich hierdurch auch der letzte entscheidende Unterschied zwischen den Romantikern und Baudelaire  : der Medienwechsel von Schrift zu Bild, der insbesondere, wie geschildert, in Frankreich eine immense Zäsur darstellt. Wie erörtert, ist Bauselaire es, der die ganze Thematik erstmals prominent mit der Malerei in Zusammenhang bringt, entsprechend theoretisiert und, mehr noch, in seinen Th ­ eorien derart eine mediale Umstrukturierung vornimmt, dass danach in Frankreich nicht mehr Schrift und Autobiografik eine hervorgehobene Rolle zukommt, sondern dem Bild.

3.2 Corot – Malen nach der mémoire Mehr oder weniger zeitgleich mit Baudelaire, in der Mitte des 19. Jahrhunderts, ist auch bei Jean-Baptiste Camille Corot die Auseinandersezung mit der ästhetischen Strategie der Erinnerung zu erkennen und wird entsprechend in der Kunstkritik reflektiert. Das Werk von Corot kann stellvertretend für eine Malerei nach der mémoire stehen und ist zentraler Bezugspunkt bei der Rekonstruktion derjenigen Tradition, in der Vuillards Werk gesehen werden muss. Neben der eingangs erörterten Auseinandersetzung Vuillards mit der Lesenden von Corot und vor allem dem Aktgemälde Marietta deuten verschiedene Einträge in den carnets von Vuillard zudem darauf hin, dass auch die Landschaften Corots einen tiefen Eindruck hinterließen. Vuillard verweist in seinen carnets an verschiedenen Stellen im Kontext mit der Malerei nach der mémoire auf Corot. Die Vuillard-Forschung hat bisher kaum einen Zusammenhang zwischen Vuillard und Corot hergestellt. Es wurde allenfalls ganz allgemein festgestellt, dass er in der französischen Tradition eines Chardin oder Corot stehe.146 Dass Vuillard aber auch bei der Landschaftsmalerei Corots, und hier vor allem bei den Werken, die aus der mémoire heraus geschaffen worden sind, Orientierung fand, blieb bislang unbemerkt. Lediglich Belinda Thomson stellt in einem Reflex auf Roger-Marx einen Bezug zur Landschaftsmalerei Corots her, jedoch ohne die mémoire zu thematisieren und zudem im Hinblick auf Vuillards Außenszenen nach 1900.147 Dass Corot darüber hinaus nicht in den Blick genommen worden ist, liegt zunächst an der Orientierung des Motivs der in Rede stehenden Werke. Corot als Landschaftsmaler und Vuillard als Interieurmaler stehen sich scheinbar nicht besonders nahe. Indes hat die Erörterung eingangs gezeigt, dass Vuillard 146 Vgl. etwa Roger-Marx 1945, S. 199. 147 Thomson 1988, S. 110 und Roger-Marx 1945, S. 62.

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schon früh seine ästhetische Strategie von konkreten Gattungen und Genres befreite. In den carnets reflektiert er über die Differenz zwischen Landschaft und anderen Gattungen, in diesem Fall dem Interieur. Aus produktionsästhetischer Perspektive notiert er  : La campagne le soir vous distrait absolument  ; grandes lignes, grandes masses  ; grand c’està-dire simple  ; dans la campagne un grand espace vous saisit pourquoi  ? C’est pourtant le même phénomène qui se passe dans une chambre devant un objet dont on sent la forme et la couleur  : dans ce cas il faut une prédisposition, dans l’autre vous y êtes amené par l’immensité de l’étendue que vous avez à parcourir de l’œil.148

Der ästhetische Effekt, der sich bei einer Landschaft ganz automatisch einstelle, sei auch in einem Zimmer vor einem Gegenstand möglich, nur bedürfe es im zweiten Fall der »prédisposition«, also einer bestimmten Veranlagung oder Empfänglichkeit. Vuillard schwebt damit eine Ästhetik und ein ästhetisches Verfahren vor, welches keineswegs an das Genre der Landschaft gebunden ist, sondern auf jegliches Objekt übertragen werden kann.149 In Bezug auf Corot hebt Vuillard vor allem auf dessen Farbharmonien, dessen Malerei in Farbakkorden und dessen eigenwillige Vagheit ab. Immer wieder kommt er im Kontext damit auf die allgemeine Überlegung, dass die Malerei nicht naturalistisch in dem Sinn sei, dass einzelne in sich abgeschlossene Formen in Malerei überführt würden, sondern dass die Wahrnehmung des Malers die Objekte in ihrer aus Farb- und Formrelationen zusammengesetzten Erscheinung auffasse und dies wiederum auf die Leinwand übertragen werden müsse  : »une forme une couleur n’existe que par rapport à une autre. La forme seule n’existe pas. Nous ne concevons que des rapports.«150 Die Objekte gingen auf in den rapports151 des Blickfeldes, welches sich nicht durch Ding-Grenzen gliedere (»ne pas fixer un seul objet pour avoir l’air de la chambre griserie – nerfs«152), sondern durch Farbakkorde rhythmisiert werde. Die Objekte und Figuren lösen sich zwar fast auf in diesem flirrenden Teppich, verschwinden jedoch keinesfalls. Vielmehr, so muss man die Notate wohl verstehen, fallen (begriffliche) Objektwahrnehmung und das Gefühl der sinnlichen Wahrnehmung der rapports in einem oszillierenden, nie stillstehenden Prozess 148 Vuillard, Carnets, I.1., loses Blatt (Nr. 71) (31. August 1890)  ; vgl. dazu Alexandre 1998, S. 201. 149 Ähnlich verhält es sich übrigens auch bei Corot selbst, der ebenfalls ästhetische Strategien jenseits von Gattungszuschnitten verfolgte. Vgl. dazu Bätschmann 1998, S. 317. 150 Vgl. Vuillard, Carnets, I.1., 12 (22. November 1888). 151 Zum Begriff des rapport in der Kunsttheorie und dessen zentraler Bedeutung bei Diderot hat Körner geschrieben. Auch er betont, dass das künstlerische Schaffen nach rapports dem klassizistischen Denken in geschlossenen Einheiten und Formen entgegensteht und im Kern ein sensualistischer Ansatz ist. (Vgl. Körner 1988, S. 72 f.) Allerdings verfolgt Diderot noch das Ziel, die rapports in Bezug auf eine Definition des Schönen fruchtbar zu machen, wohingegen am Ende des 19. Jahrhunderts das (Ideal-)Schöne zunehmend verdrängt worden ist. Im Zuge dessen erfährt der Begriff der rapports eine wahrnehmungspsychologische Umdeutung, die auf den Aspekt des Relationalen abhebt. 152 Vuillard, Carnets, I.1., 11v (22. November 1888)  ; zur Datierung vgl. Alexandre 1998, S. 38.

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in eins. Neben einer Wiedergabe dessen, was man sieht, geht es also ebenso sehr um eine Wiedergabe der damit, mit dem Akt der Wahrnehmung, verbundenen Erfahrung in Form eines Gefühls. Diese zentrale Frage, wie der sinnlich-affektive Eindruck auf die Leinwand zu übersetzen sei, umkreist Vuillard auch in den Einträgen der folgenden Jahre, und oftmals wird sein Ringen mit diesem Problem spürbar. An die Idee der rapports als Grundlage von Wahrnehmung und die Herausforderung bei deren malerischer Umsetzung, die damit verbundene Notwendigkeit, die rapports in ihrer Gesamtheit zu memorieren, anstatt sich zu einem fokussierten Sehen hinreißen zu lassen, schließt 1888 in den carnets der Hinweis auf die Vorbildhaftigkeit von Corots Landschaften an. »Exemple Corot les paysagistes. Faire nature c’est vous émotionner illusionner […]. – Pratiquement nécessité de travailler surtout de mémoire et de voir toujours dans l’ensemble la masse l’air […].«153 Zwei Jahre später, 1890, erhält der Gedanke in den carnets eine produktionsästhetische und psychologisierende Kontur.154 Vuillard umkreist abermals das Thema der Farbharmonien, unter anderem auch mit der Frage, ob eine diesbezügliche Analyse der alten Meister sinnvoll wäre und ob es denkbar sei, Klassifikationen nach Person und milieu zu erarbeiten.155 Und wieder geht es um die Frage, wie der Eindruck durch eine Wahrnehmung auf die Leinwand zu bringen sei, ohne dessen Intensität zu verlieren. Viel stärker wird nun deutlich, dass Vuillard diese Frage nicht allgemein stellt, sondern, wie oben bereits erörtert, vor allem in Hinblick auf das Gefühl, welches man bei der entsprechenden Wahrnehmung und der Erinnerung daran habe. Es geht um die Fähigkeit, die Gefühl auslösende Wahrnehmung von Gegenständen so zu memorieren, dass diese anschließend aufgeschlüsselt in rapports und Farbharmonien malerisch auf die Leinwand gebracht werden können, um dann ein analoges Gefühl beim Betrachter auszulösen. Egal, wie kurz die Zeit zwischen Anblick und malerischer Umsetzung auch sei, der Weg geht dabei immer über die Erinnerung  ; sie ist es, die weniger das mimetische Gepräge als vielmehr das Gefühl in rapports übersetzt. Man möchte bei diesen Einträgen fast einen Widerhall der Notate Corots vernehmen, der sich ähnlich in seinen Notizbüchern geäußert hatte  : »Le beau dans l’art, c’est la vérité baignée dans l’impression que nous avons reçue à l’aspect de la nature. Je suis frappé en voyant un lieu quelconque. Tout en cherchant l’imitation consciencieuse, je ne perds pas un seul instant l’émotion qui m’a saisi. Le réel est une partie de l’art  ; le sentiment complète.«156 Sich ebenso wie Corot bei der Bildfindung an seinen Emotionen zu orientieren, das schwebt auch Vuillard vor. Indes ist dies, so allgemein gesprochen, kaum mehr als eine solipsistische Formel, die wenig konkrete Hinweise zur ästhetischen Umsetzung gibt. Vuillards Gedanken fliegen eilig und ungeordnet über die Blätter seiner carnets. Corot, so muss man den Eintrag verstehen, habe für die oben skizzierte malerische Praxis ein 153 Vuillard, Carnets, I.1., 12 und 12v (22. November 1888)  ; vgl. zur Datierung Alexandre 1998, S. 40. 154 Vgl. Vuillard, Carnets, I.1., loses Blatt (Nr. 71) (31. August 1890). 155 Vuillard, Carnets, I.1., loses Blatt (Nr. 71v) (31. August 1890). 156 Corot, Carnet Nr. 9, zit. nach Pomarède 2009, S. 138.

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probates ästhetisches Instrumentarium entwickelt, welches Vuillard jedoch nur annäherungsweise beschreiben kann mit  : »Corot, un accent dans quelque chose de flou, dans un accord parfait de gris nombreux un son […]. Alors les tableaux de Corot sont toujours uniquement une symphonie de gris avec une seul ton différent.«157 Damit war es Vuillard nicht nur darum zu tun, die malerische Virtuosität Corots an sich zu ergründen, sondern er versucht vor allem auch jenes dahinterliegende Prinzip, jene ästhetische Strategie freizulegen, die zu solchen Werken führt. Es stehen die Farbharmonien, die rapports als Grundlage von bestimmten Wahrnehmungsakten und das Vage offenbar im Zentrum bei der Suche nach einer Praxis, die die entsprechende Wahrnehmungsessenz so festzuhalten und zu memorieren vermag, dass sie malerisch transferiert werden kann. Eine Praxis, die auf einer impliziten Annahme darüber beruht, wie das Verhältnis zwischen Sinneseindrücken und Empfindung bzw. Gefühl ist, ob es eine spezifische Art der Wahrnehmung gibt, ob diese an bestimmte Objekte gebunden ist, in welchen Sinnesdaten dies gründet und durch welche mentale Strategie dies in Ästhetik übersetzbar ist. Die Ästhetik von Corots Souvenir-Gemälden

Das Werk Corots stand bereits zu seinen Lebzeiten für eine besondere Ästhetik. Dies betrifft in Anklängen bereits die Werke der 1840er Jahre, vornehmlich dann aber die Arbeiten ab der Mitte des 19. Jahrhunderts.158 Schon die zeitgenössischen Kritiker bemerkten – mal 157 Vuillard, Carnets, I.1., loses Blatt (Nr. 71 und 71v) (31. August 1890). 158 Vgl. zu einer detaillierten Rekonstruktion von Corots künstlerischer Vita Pantazzi 1996b, Pomarède 1996 und Tinterow 1996. Zur Corot-Forschung und dem jungen Thema der mémoire sei an dieser Stelle kurz skizziert  : Nachdem die Forschung zu Corot lange Zeit vor allem dessen Italienwerk feierte und sein Frühwerk als Vorläufer des Impressionismus deutete, rückt ab den 1990er Jahren vermehrt in den Fokus, dass Corot stets als Poet und seine Werke als poetische Meisterwerke gefeiert worden sind. Michael Clarke und andere haben es unternommen, die genuine Qualität des Spätwerks zu analysieren. Erst in den letzten Jahren hat sich der Fokus der Corot-Forschung abermals verschoben. Ausgehend vom Befund der poetischen Qualität richtet sich die Frage jetzt mehr auf die ästhetische Strategie, welcher die Werke entsprangen, und darauf, wie die zeitgenössische Kunstkritik diese Strategie, wie oben skizziert, herleitete. Das heißt, die Forschung nimmt nun allmählich nicht nur das fertige Werk, sondern auch dessen prozessuale Entstehung bzw. die kunsttheoretische Diskursivierung dieses Prozesses in den Blick und stellt somit jene Begriffe ins Zentrum, welche schon bei den Zeitgenossen zentral waren  : die rêverie und den souvenir bzw. die mémoire. Seit den 1990er Jahren ist es vor allem Vincent Pomarède darum zu tun, den souvenir als entscheidende kunsttheoretische Kategorie für Corot herauszustellen. (Vgl. Pomarède 1998, 2005, 2009 und 2010  ; neuerdings auch Stuffmann 2012.) Denk legte bereits 2007 eine entsprechende Arbeit vor. Aber auch innerhalb der Forschungen zum souvenir verfolgen die Autoren unterschiedliche Fragestellungen. So ist es das Anliegen von Denk (2007), Corot in verschiedene Erinnerungstheorien des 19. Jahrhunderts einzubetten, ohne jedoch dezidiert nach den daraus resultierenden ästhetischen Konsequenzen zu fragen  ; Clarke (1991) hingegen argumentiert in seiner Monografie über Corot aus der Perspektive der Gattung Landschaftsmalerei. Pomarède wiederum legte bereits 1998 seine Ergebnisse thesenhaft dar, umkreist sie seitdem jedoch mit unterschiedlichen

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positiv, mal pejorativ – die Wiederholung bestimmter Motive und Kompositionsschemata in Corots Werken.159 So folgen zahlreiche Landschaften einem simplen Grundmuster  : Gerahmt von zwei unterschiedlich voluminösen Baumgruppen oder anderen Naturvolu­ mina öffnet sich ein lichtdurchfluteter Durchblick auf die dahinterliegende Landschaft, welche meist aus einem Gewässer, dem gegenüberliegenden Ufer und Himmel besteht. Grundlage für die Landschaft hinter der Repoussoir-Bildschicht waren teilweise Werke der frühen Schaffensperiode in Italien. So findet sich Le Lac de Piediluco von 1826 (Abb. 12) etwa als Erinnerungsbaustein zu Souvenir d’Italie von ca. 1861–1864 (Abb. 13), und Vue prise à Riva, Tyrol italien von 1834 (Tf. 8) diente als Vorbild für Souvenir de Riva von 1865–1870 (Tf. 9). Corot griff alte Motive also immer wieder auf und bezeichnete seine ästhetischen Variationen oftmals selbst als »souvenir«, was offenbar zweierlei andeutet  : zum einen die stimmungshafte Dichte der Gemälde, zum anderen ihre Zwitterstellung zwischen mimetischer Objektwiedergabe und kreativer Aneignung. Das Gemälde Souvenir de Mortefontaine von 1864 (Tf. 10), welches gleichermaßen für Corot wie für die französische Malerei der Folgezeit von zentraler Bedeutung war, gab Anlass zu besonders prägnanten Kritiken.160 Diese Erinnerungslandschaft war nicht nur im Salon zu sehen, sondern wurde dort unmittelbar von Napoleon III. angekauft und im Louvre präsentiert.161 Den Kritikern ging es besonders um die Bestandteile dieser charakteristischen Kompositionen. Das zugrunde liegende Schema hat André Gill 1864 anlässlich der Präsentation von Souvenir de Mortefontaine spöttisch in einer Karikatur eingefangen (Abb. 14). Sie zeigt eine mittig gezogene Horizontlinie, vor der sich ein ruhiges Gewässer befindet, welches zum Bildvordergrund von einer weich kurvierten Uferlinie gerahmt wird. Der sich so ergebende Blick wiederum wird an den Bildseiten eingefasst von Natur, rechts in Form von dichterem, aber keineswegs dunklem Baumbestand, links durch einen vereinzelten Baum, der mit filigranen Ästen in seiner Verletzlichkeit der Baumgruppe gegenübersteht. Maxime Du Camp lieferte eine ebenso bewundernde wie lakonische Kritik, in der er diese wiederkehrenden Komponenten von Corots Werken thematisiert  : »La simplicité des moyens qu’il emploie est extraordinaire  ; les scènes les plus vulgaires sont celles qu’il préfère, et en les interprétant il sait nous émouvoir  : un ciel, Gewichtungen. Letztlich sieht Pomarède in Corot eine Position neoklassizistischer Malerei, deren idealistischer Anteil die Emotion des Malers sei, welche als radikal subjektiver Gehalt der »realistischen« Naturwiedergabe klar entgegenstehe und eben eine neoklassizistische Landschaftsmalerei unter dem Vorzeichen der Emotion aufleben lasse. Pomarède 1998 und 2011a, wo er schreibt  : »In seinen Landschaften rekonstruiert der Maler geduldig und auf idealisierende Weise die Erinnerung an das, was er angesichts eines ganz bestimmten Motivs empfunden und gefühlt hatte […]«, S. 37. Aus der relativ jungen Bearbeitung der mémoire im Kontext Corot resultiert, dass bislang auch zu wenig erkannt worden ist, welche Rolle der souvenir in der Corot-Rezeption spielt. Ebenso rückt erst in jüngster Zeit die emotionale Dimension der Werke in den Fokus der Forschung, und auch diese wurde in der Rezeptionsforschung bislang zu wenig beachtet. 159 Vgl. dazu Eiling 2012, S. 209–211. 160 Vgl. zu Souvenir de Mortefontaine Pomarède 2010, zur zeitgenössischen Kritik insbesondere  : S. 6 f. 161 Vgl. dazu Pantazzi 1996a, S. 399.

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Abb. 12  Jean-Baptiste Camille Corot  : Le Lac de Piediluco, 1826, Öl auf Leinwand, 22 x 41 cm, Ashmolean Museum, Oxford

Abb. 13  Jean-Baptiste Camille Corot  : Souvenir d’Italie, ca. 1861–1864, Öl auf Leinwand, 61,3 x 89,9 cm, The Corcoran Gallery, Washington, D.C.

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Abb. 14  André Gill  : Karikatur, Le Salon pour rire, Paris 1864

un étang brumeux, un arbre lui suffisent.«162 Die immer gleichen Bausteine, welche die sich wiederholenden Motive bilden, werden von Corot überdies, auch darauf spielt die Karikatur von Gill an, meist wenig miteinander verschliffen  ; eher einem Bühnenprospekt gleich, sind sie als breite Schichten ins Bild gelegt. Die simplen Themen und Versatzstücke setzen sich so zusammen zu einer einfach erscheinenden Komposition, die auf ästhetischer Ebene zu einer deutlichen Reduktion an Bildräumlichkeit und in der Folge zu einer starken Flächigkeit der Darstellung führt. Was in der Karikatur Gills weniger zum Tragen kommt, sind der gleichermaßen freie und lockere Farbauftrag sowie der Umgang mit Farbe und Licht. Im Grunde genommen bestehen Corots spätere Werke ausschließlich aus flirrendem Farbauftrag  ; Umrisse oder klar definierte Formen fehlen, und die Gemälde werden so zu einem lockeren Teppich aus Farbflecken, die die Gegenstände mehr atmosphärisch denn detailliert wiedergeben. Alles bleibt vage und schemenhaft, das Atmosphärische scheint mit dem wachsenden Maß der Vagheit gerade zu korrelieren. Corot selbst stellte 1856 fest  : »Sur la nature, cherchez d’abord la forme  ; après, les valeurs ou rapports de tons, la couleur et l’exécution  ; et le

162 Du Camp 1864, S. 690.

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tout soumis au sentiment que vous avez éprouvé. Ce que nous éprouvons est bien réel.«163 Formen und vor allem Farbwerte und -akkorde sollen der jeweiligen Empfindung unterworfen werden. Dies sei die Essenz seiner Malerei. Wie wichtig dies vor allem für die spätere Malerei ab 1855 wird, macht der Vergleich von Souvenir de Riva (Tf. 9) mit dem Vorläufer Vue prise à Riva, Tyrol italien aus den 1830er Jahren deutlich (Tf. 8). Ohne Frage birgt bereits das frühe Werk stimmungshafte Qualitäten und ist keinesfalls einer minutiösen Feinmalerei zuzurechnen. Im Vergleich zur Erinnerung an den Anblick von Riva wird jedoch deutlich, wie sehr sich das späte Werk durch Verunklärung und Verschleierung, durch Ablösung der Gegenstandsbeschreibung zugunsten eines harmonisch weichen Farbteppichs auszeichnet. Was wiederum den Umgang mit der Farbe angeht, ist schon früh aufgefallen, dass Corot die gedämpften und ruhigen Farben bevorzugte. So ist eine Vielzahl der Werke Corots dominiert von einem reduzierten Beige-Ocker oder überzogen von »un léger voile de brume argentée«164. Jedes Werk erscheint in einem über Grau oder Ocker abgeleiteten minimalistischen Farbakkord entwickelt zu sein. Auch in Bezug auf die Farbakkorde, nicht nur in Bezug auf die Motive greift Corot reaktivierend auf frühere Arbeiten zurück. So geht Souvenir de Riva (Tf. 9) nicht nur motivisch auf Vue prise à Riva, Tyrol italien (Tf. 8) zurück, sondern auch hinsichtlich der Farbgebung. Wie oben erwähnt, hatte Corot die reduzierte Farbpalette, die er in immer neuen Versuchen als endloses farbliches Beziehungsgeflecht über die Bildfläche ausbreitete, nicht nur ästhetisch umgesetzt, sondern auch programmatisch damit begründet, dass all dies einem bestimmten »sentiment« unterworfen sein müsse.165 Zu den ästhetischen Gestaltungsmitteln, die zu dem Eindruck beitragen, dass die Werke einem »sentiment« unterworfen seien, dass sie also mit einem bestimmten Filter überzogen seien, gehören nicht nur die reduzierte Farbpalette und die Auffassung der Bildoberfläche als Struktur rhythmisierter Farb-rapports, sondern auch die spezifische Lichtgebung, die narrativ meist als Morgen- oder Abendsituation begründet ist und das Bild in ein einheitliches, die Form zusätzlich auflösendes Licht taucht. In den Werken der 70er Jahre, etwa in Ville-d’Avray (Tf. 11), werden diese Qualitäten weiterentwickelt, sodass die Reduktion der Bildtiefe, die Betonung der Fläche, die gedämpfte Farbpalette, die gleichmäßige Lichteinfärbung, der lockere Pinselstrich und die Auflösung der Formen in Farb-rapports die Werke dominieren.166 Es herrscht ein Changieren zwischen Gegenstandsbeschreibung und flirrender, bewegter Bildoberfläche, die sich aus den einzelnen Pinselstrichen zusammensetzt, welche wiederum ein Gewebe ergeben, das aus fein nuancierten Farbakkorden komponiert ist und durch die milchig einheitliche Lichtwirkung zusammengehalten wird. 163 Zit. nach Moreau-Nélaton 1924, Bd. 1, S. 31 f. 164 So schreibt Théophile Gautier in seinem Salon de 1857, in  : L’Artiste, 25, Oktober 1857, zit. nach Gautier 1996, S. 70. 165 Vgl. die grundlegenden Ausführungen hierzu von Thomas 2012, insbes.: S. 368 f.; aufgegriffen wird dies unter anderem von Eiling 2012, S. 412. 166 Vgl. zu den Gemälden, die Ville-d’Avray zeigen, Schäfer 2012.

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Abb. 15  Jean-Baptiste Camille Corot  : Souvenir de Ville-d’Avray, 1872, Öl auf Leinwand, 100 x 134 cm, Musée des Beaux-Arts Jules Chéret, Nizza

Es ist durch die carnets überliefert, dass Vuillard fast täglich den Louvre besuchte, wo sich zu dieser Zeit vier Werke von Corot, darunter Souvenir de Mortefontaine von 1864 (Tf. 10), befanden. Wir können jedoch davon ausgehen, dass Vuillard weitaus mehr Werke von Corot gesehen hatte, da die Werke des Älteren nach dessen Tod 1875 rege auf dem Pariser Kunstmarkt kursierten und Vuillard auch die entsprechenden Verkaufsausstellungen in Galerien und Auktionshäusern frequentierte.167 Darüber hinaus berichtet Roger-Marx, 167 Zu jener Zeit war der Louvre im Besitz von vier Werken Corots  : Une matinée, la danse des Nymphes, Öl auf Leinwand, 98 × 131 cm  ; Forum vu des jardins Farnèse, Öl auf Leinwand, 28 × 50 cm  ; Colisée vu des jardins Farnèse, Öl auf Leinwand, 30 × 49 cm  ; Souvenir de Mortefontaine, Öl auf Leinwand, 65 × 89 cm  ; vgl. Musée du Louvre 1890, S. 22. Nichtsdestotrotz ist davon auszugehen, dass Vuillard zahlreiche Werke Corots kannte. Corot war ein bereits zu Lebzeiten viel gesammelter Maler  ; insbesondere ab den späten 1860er Jahren erfährt sein Spätwerk immer größere Bewunderung. Als zentraler Multiplikator dieser Einschätzung kann Paul Durand-Ruel gelten, der Corot als Auftakt der modernen französischen Malerei sah und in seiner Funktion als Kunsthändler eine Vielzahl an Sammlern beriet. Werke Corots waren damit in den Pariser Sammlungen sehr verbreitet. Nach dem Tod des Malers 1875 und der Auflösung seines Ateliers kommen erneut große Konvolute seines Werkes auf den Markt und sind dadurch öffentlich zugänglich. Es ist bekannt, dass Vuillard zum Studium der Malerei nicht nur Museen, sondern auch Galerien und Auktionshäuser besuchte. Am

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Abb. 16  L’Atelier (La Visite du prétendant), 1893, Öl auf Karton, 31,7 x 36,4 cm, Smith College Museum of Art, Northampton (IV-132)

dass Vuillard Skizzen von Corot besaß, die er in seinem Atelier aufbewahrte.168 Jules Champfleury lässt überdies keine Zweifel daran, dass Corot in den 1890er Jahren von kaum zu übertreffender Bekanntheit war  : »Le nom de Corot est populaire aujourd’hui, chose d’autant plus bizarre, que Corot est le seul grand paysagiste français. Sa peinture ne fait pas psttt, psttt au public, elle ne joue pas de la grosse caisse pour l’oreille du bourgeois. Et cependant la nom de Corot est populaire aujourd’hui […].«169 Ein Vergleich zwischen Corots Ville-d’Avray (Tf. 11) mit Vuillards Misia dans la forêt de Saint-Germain von 1897–1899 (Tf. 12) macht Parallelen zwischen Corot und Vuillard erkennbar. Den Werken ist gemein, dass sie aus der Anordnung unzähliger Farbtupfer heraus entwickelt worden sind, die die Bildfläche überziehen und sich mit ruhigeren 2. Dezember 1888 vermerkt Vuillard den Besuch einer Verkaufsausstellung, bei der auch Werke Corots angeboten worden sind (Vuillard, Carnets, I.1., 20v [2. Dezember 1888]). So können wir von einem soliden Kenntnisstand, was die Werke Corots betrifft, ausgehen. Vgl. zur Entwicklung des Kunstmarktes in Bezug auf Corot Pantazzi 1996a. 168 Vgl. Roger-Marx 1945, S. 24. 169 Champfleury, Œuvres posthumes de Champfleury  : Salons, 1846–1851, mit einer Einleitung von Jules Troubat, Paris 1894  ; zit. nach  : Pantazzi 1996a, S. 397, Fn. 5.

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Abb. 17  Jean-Baptiste Camille Corot  : Jeune Algérienne couchée sur le gazon, 1871–1873, Öl auf Leinwand, 41 x 60 cm, Rijksmuseum, Amsterdam

Passagen und ordnenden Gliederungselementen, wie Baumstämmen oder Horizontlinien, abwechseln. Ebenso verhält es sich mit dem Souvenir de Ville-d’Avray von 1872 (Abb. 15) im Vergleich zu Vuillards L’Atelier von 1893 (Abb. 16). Die malerische Umsetzung hält die Balance zwischen Gegenstandsbeschreibung und ästhetischem Eigenwert der malerischen Mittel. Dadurch erhalten diese Werke ihre typische Vagheit, werden sowohl in der Detail- und Gegenstandsschilderung als auch in der Organisation des Bildraumes uneindeutig und verunklärend oder führen gar zu deren Negation. So lösen sich ganze Teile der Vegetation in Farbstrudel auf, und eine Bildtiefe ist kaum mehr hergestellt. Ebenso ähneln sich die Werke aufgrund der staffageartigen Anordnung der Bildelemente. Sie scheinen wie dünne Schichten über- und ineinandergeschoben zu sein. Gleichwohl ist die Negation von Tiefe bei Vuillard stärker als bei Corot. Ein weiteres ästhetisches Mittel, das beide teilen, ist die Darstellung von Materialien, Objekten oder Stoffen in einer so sehr reduzierten Art und Weise, dass ihre Gegenstandsbeschreibungen regelrecht zu luftigen Allusionen werden, die sich wie Gazestoffe über die restlichen Bildelemente legen und in diesem Changieren zwischen Material und Figuration den Status des gesamten Bildes als Zwitterwesen kommentierend begleiten. Idealtypisch findet sich dies bei Corots Bildnis Jeune Algérienne couchée sur le gazon von 1871–1873 (Abb. 17) im Vergleich mit Vuillards La Tasse de Café (Abb. 18). Bei Corot wie auch bei Vuillard fällt die Orientierung des Auges schwer. Dies vor allem in den Bildpassagen, in denen die malerischen Spuren kaum mehr Gegenständliches erkennbar machen, wie etwa

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Abb. 18  La Tasse de Café, ca. 1892, Öl auf Karton, 24 x 22 cm, Privatbesitz (IV-72)

beim Fell, auf dem die Algerierin liegt, oder dort, wo in Vuillards Bild Tapete und Kleid zu vermuten sind. All dies trägt aber zu einer intensiven Bildwahrnehmung bei und lässt das Dargestellte in stimmungshafter Verschmelzung der Elemente erscheinen. Führt man sich diese Vergleiche vor Augen, so wird evident, dass Vuillard von Corot zentrale Impulse erhalten hat. Denn schon bei Corot ist in nuce angelegt, was Vuillard später in einer charakteristischen Ästhetik umsetzen wird. Bei ihm steht die Bildkomposition unter dem Primat eines flächigen Farbteppichs, dessen perzeptuelle Erfassung hin und her oszilliert zwischen Farbharmonien, ornamentalen und arabesken Passagen auf der einen und der dargestellten Szenerie auf der anderen Seite. Beides existiert dabei nicht beliebig nebeneinander, das Sujet ist also nicht irrelevant, sondern die Wahl der formalen Mittel scheint aus der Anschauung ebendieser Szenen hervorgegangen zu sein, obwohl es sich dabei eben keinesfalls um realistische Wiedergaben handelt.

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Corot in der Kunstkritik – die Grundlagen der mémoire als ästhetische Strategie

Die oben ausgeführten Beobachtungen sind von den Zeitgenossen mit verschiedenen ästhetischen Konzepten und Deutungen in Verbindung gebracht worden. Lassen wir jene Stimmen außer Acht, die für Corot nichts übrighatten und ihm Einfallslosigkeit, eine Farbpalette von der Qualität einer »Erbsensuppe« sowie schändliche Ungenauigkeit vorwarfen, so lassen sich folgende Positionen erkennen.170 Ebenso lakonisch wie prägnant formulierte Maxime Du Camp  : »Ses [Corots  ; M.G.] paysages ne sont peut-être pas ceux que l’on voit, mais ce sont certainement ceux que l’on rêve.«171 Dies ist nur eine von zahlreichen Äußerungen, die Corots spätere Malerei als rêverie verstehen. Die rêverie bezeichnet einen kulturell konstruierten Bewusstseins- und in der Folge Wahrnehmungszustand, der, wie Kerstin Thomas gezeigt hat, paradigmatisch von Jean-Jacques Rousseau in seinen Rêveries du promeneur solitaire (1776–1778) formuliert worden ist.172 Im Kern beschreibt er darin einen bestimmten Modus der Erfahrung von Natur, der gleichermaßen rezeptiv wie kreativ, träumerisch wie perzeptiv, subjektiv wie objektiv und auch fühlend wie denkend angelegt ist  : Die rêverie sei ein »Zustand, in dem anlässlich einer sinnlichen Naturerfahrung nicht alleine Gedanken, sondern auch Gefühle, Vorstellungen und Erinnerungen ineinanderfließen […].«173 Lag bei Rousseau der Fokus auf einem kontemplativen und stimmungshaften Verfahren, so wird das Naturerlebnis durch Jacques-Henri Bernardin de Saint-Pierre und Chateaubriand an die subjektive Affektivität gebunden.174 Hierbei entsteht der Typus der Korrespondenzlandschaft, unter der eine »real angeschaute Landschaft zu verstehen [ist], in der das romantische Subjekt seine Gemütsverfassung gespiegelt zu sehen glaubt.«175 Chateaubriand ist es, der eine tendenziell kulturhistorische Reflexion dieses Projektionsverfahrens vorlegt. Sein »vague des passions« bezeichnet eine »spezifisch moderne Befindlichkeit«, der die »Diskrepanz zwischen dem überbordenden Inneren und dem leeren Außen« zugrunde liegt.176 Das immer reicher werdende Innenleben gerät zusehends in Kontrast mit der als zunehmend leer und banal empfundenen Außenwelt, sodass letztlich die äußere Leere mit dem imaginären Reichtum kompensiert werden müsse.177 Diese radikale Neuformulierung von ästhetischer Wahrnehmung war bis spät in das 19. Jahrhundert an die Natur gebunden, und so entwickelte sich auf dem Rousseau’schen 170 Zu den Vorwürfen der Kunstkritiker vgl. Eiling 2012, S. 409–411. 171 Du Camp 1855, S. 101. Vgl. zur rêverie Thomas 2012. 172 Grundlegend wurde die Bedeutung der rêverie für die Malerei der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (insbes. Corot und Puvis de Chavannes) von Thomas erarbeitet  ; vgl. Thomas 2010a und 2012. In Bezug auf die Literatur hat Baumann die Ästhetik der rêverie umfassend dargestellt  ; vgl. Baumann 2011. 173 Vgl. dazu Thomas 2012, vor allem S. 369–372, Zit.: S. 370. 174 Baumann 2011, S. 102. 175 Baumann 2011, S. 102. 176 Baumann 2011, S. 104. 177 Baumann 2011, S. 104.

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empfindsamen Erleben von Natur zunächst ein weit verbreitetes literarisches Verfahren und später ein bildkünstlerisches Thema. Auch im Bereich der Malerei war die Ästhetik der rêverie eingangs an das Sujet der Landschaft gebunden. Oder anders formuliert, die Ästhetik der rêverie fand zunächst Eingang in die traditionellen Bildformulare der arkadi­ schen oder heroischen Ideallandschaft, bis sie ab Mitte des 19. Jahrhunderts diese idealistischen Bildformulare zu überlagern vermochte und die Landschaft als solche als Sujet überhaupt erst ermöglichte. Seit jener Zeit galten die Werke Corots als paradigmatische Beispiele für dieses Verfahren, bei dem die Natur gleichermaßen Anschauungsobjekt und Projektionsfläche ist, was den Kunstkritiken zufolge seinen ästhetischen Niederschlag in jener Vagheit und entrückten Farbpalette fand.178 Dies war jedoch nicht der einzige Deutungsansatz, der für die Werke Corots in Anschlag gebracht wurde. Denn die Zeitgenossen sahen Analogien ebenfalls zur ästhetischen Strategie des souvenir oder der mémoire, die ebenfalls in der Romantik einen großen Aufschwung erlebt hatte und zudem eng mit der rêverie verwandt ist. Der beste, lange überhörte Stichwortgeber in diesem Kontext ist Corot selbst. Er hat, vor allem in seinem Spätwerk, wie kein anderer im 19. Jahrhundert das Thema des souvenir in seiner Malerei behandelt und gedanklich umkreist. Entsprechend ist eine Vielzahl seiner Werke im Titel als »souvenir« bezeichnet, zwischen 1855 und 1874 betrifft dies mindestens 30 Gemälde.179 Die Kritiker sind jedoch keineswegs nur den Titeln gefolgt, sondern fühlten sich durch die viel beschworene poetische Qualität der Werke Corots veranlasst, Parallelen zwischen den großen Vertretern der französischen Mémoire-Literatur Alfred de Musset, Gérard de Nerval und Alphonse de Lamartine und dem »Poeten der Landschaft«180, wie Corot von Théodore de Banville genannt wurde, zu ziehen.181 Analog zur rêverie geht, wie Jean-François Perrin für diese Zeit rekonstruiert hat, auch die mémoire als ästhetische Strategie auf Jean-Jacques Rousseau zurück.182 Vor allem vor der Vergleichsfolie der mémoire involontaire, wie sie in Prousts Recherche von zentraler Bedeutung ist, identifiziert Perrin analoge Strukturen bereits in Rousseaus Julie ou la Nouvelle Héloïse (1761) und darauf folgenden Positionen der Literatur des 19. Jahrhunderts – etwa in Baudelaires Peintre de la vie moderne (1863) –, sodass er gar von einem Topos bzw. einer »matrice formelle«183 spricht. Tatsächlich ist dieser von Perrin identifizierte Topos jedoch lange Zeit vornehmlich narrativ und motivisch als Autobiografie strukturiert und nicht ohne Weiteres mit der (Landschafts-)Malerei in Verbindung zu bringen. Rousseaus 178 Vgl. Thomas 2012, S. 369 f. 179 Zwischen 1855 und 1874 trugen etwa 30 Gemälde des Wort »souvenir« im Titel. Vgl. Eiling 2012, S. 409 und Tinterow 1996, S. 262. 180 »C’est le poët du paysage«, Banville 1861, S. 101. 181 Vgl. zum Zusammenhang von Corot und Nerval Denk 2007, S. 16–18  ; zum Zusammenhang mit den anderen genannten Autoren Eiling 2012, S. 412 und Clarke 1991, S. 77. Eine fundierte Diskussion der Corot-Forschung bezüglich einer präzisen Differenzierung zwischen rêverie und souvenir blieb bislang aus. 182 Vgl. Perrin 1993, 1995 und 1996. 183 Perrin 1995, S. 210.

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Confessions (1770) leiten den Wendepunkt ein, denn sie reflektieren in Grundzügen das Phänomen der Erinnerung in gattungsübergreifender Art und Weise. Insbesondere geht es um die zentrale Stellung der Erinnerung für die Subjektkonstitution, die nämlich im Mechanismus der affektiven Erinnerung gründet.184 Das Gefühl der Identität basiere auf »einem wahren Kern der Erinnerungen, den er [Rousseau  ; M.G.] in Empfindungen und Stimmungen eines vergangenen Lebensabschnitts garantiert sieht. Was vermittelt werden soll, sind affektive Erinnerungen […].«185 Die Autobiografie wird damit zum Medium der ästhetisierten Selbsterfahrung, zur »saga of emotional discovery«186 und ist so weit mehr als reine Literatur. Bei Baudelaire fließen die von Perrin entdeckte »matrice formelle« und das von Narration und Sujet unabhängige Prinzip der affektiven Erinnerung zusammen und leiten die Wende ein, durch die die mémoire vom literarischen Verfahren und Motiv zum medienübergreifenden ästhetischen Prinzip affektiver Aktualisierung werden konnte.187 Sowohl unter dem Banner der rêverie als auch unter jenem von mémoire/souvenir werden die Qualitäten der späten Werke Corots unter dem Kriterium starker poetischer Qualität gebündelt, was auf die besonders hohe, stimmungsvolle Dichte der Gemälde abzielte. Mit anderen Worten, ausgehend vom ästhetischen Befund der Werke (vage, unscharf, Wiederholung des immer Gleichen, gedämpfte Farbpalette) wird untrennbar davon sowohl eine produktionsästhetische Haltung (rêverie/souvenir) als auch eine wirkästhetische Qualität (poetisch, stimmungsvoll) abgeleitet. Die Deutungsansätze der rêverie und von souvenir/ mémoire sind keineswegs säuberlich getrennt und abgegrenzt voneinander anzutreffen, sondern oftmals in Kombination in Anschlag gebracht worden. Betrachtet man etwa die Rezensionen Maxime Du Camps aus den Jahren 1855 und 1864, so stellt man fest, dass er die ästhetische Qualität der Werke Corots dieser Zeit sowohl aus der rêverie als auch aus der mémoire heraus begründet. Zudem hat es den Anschein, dass sich das Verhältnis zwischen beiden Konzepten im Lauf der Zeit von der rêverie hin zur mémoire verschiebt.188 In beiden Rezensionen benennt Du Camp das Ergebnis der Malerei als poetische rêverie zur Natur. Gleichwohl unterfüttert er dies im Folgenden auf unterschiedliche Art und Weise. 1855 schildert er, anekdotisch und in der romantischen Tradition melancholischer Kreativität, die Situation, in welcher man am Abend alleine und müde (»quand on est 184 Vgl. Moser 2012. 185 Siegmund 2001, S. 618. Zu Rousseau vgl. auch Koch 1988, S. 29–44. 186 Hutton 1987, S. 384. 187 Vgl. Perrin 1995, S. 211 f. 188 Dass hier eine gewisse diskursive Verschiebung von rêverie zu mémoire vorliegen könnte, legt auch der Blick auf Puvis de Chavannes nahe  : Wurde sein Werk lange Zeit metaphorisch mit dem Traum und dem Tagtraum in Verbindung gebracht, so greift der Kritiker und Poet Sully Prudhomme 1899 zu Erinnerung als Metapher für das die Werke Puvis de Chavannes’  : »Il semble que ses compositions aient pour perspective aérienne la perspective mnémonique, le lointain mirage de la mémoire évoquant les ancien âges ou l’effacement des formes qui flottent légères dans l’aquarium trouble et transparent du rêve.« Sully Prudhomme, in  : Roger-Marx, Puvis de Chavannes, in  : Revue encyclopédique, 23. Dezember 1899, S. 1077–1086, hier S. 1085, zit. nach Thomas 2010b, S. 145  ; vgl. zu Puvis und dem Tagtraum Thomas 2010a.

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seul, triste et fatigué«) endlich zur Ruhe komme, in ruhige Kontemplation (»sereines contemplations«) eintauche und nach und nach »aperçoit alors à l’horizon de ses souvenirs de frais taillis […]  ; on se rappelle des ciels fins et brillants […].«189 Die rêverie schließlich lasse diese Landschaft zu einer chimärischen (»chimérique«) werden, indem sie sie ungenau und dunstig (»indécise et vaporeuse«) mache.190 Ihre Wirkqualität sei vergleichbar mit jenem Erlebnis, das man hat, wenn man entrückte Melodien (»mélodies éloignées«) höre. Die Bilder setzten sich über jegliche analytisch-begriffliche Dimension hinweg und kommunizierten auf eine Art und Weise, die sehr wohl etwas vermittle, das jedoch nicht erklärt oder versprachlicht werden könne (»mais qu’on ne peut expliquer«).191 Die spezifisch ästhetische Qualität (poetische Dichte, ungenau, dunstig/duftig) ist strukturell an einen ambivalenten Wirk- bzw. Rezeptionsmodus gebunden, der durch eine endlos scheinende Oszillation zwischen der Aufnahme sinnlicher Qualitäten und deren nie abschließbarer Bedeutungsfixierung geprägt ist. Der mémoire kommt hierbei vorerst nur die Funktion zu, in ihren entlegensten Winkeln jene (Natur-)Bilder aufblitzen zu lassen, die dann durch die rêverie poetisch anverwandelt werden. Überdies handelt es sich um einen rein nach innen gewandten Bewusstseinsvorgang, in dem Bewusstseinsinhalte (innere Bilder) aktiviert und ästhetisch entäußert werden. Im Jahr 1864, also kurz nachdem Baudelaire seine art mnémonique im Aufsatz Le Peintre de la vie moderne erörtert hatte, ruft Du Camp anlässlich seiner Rezension des Souvenir de Mortefontaine diesen Mechanismus erneut auf, diesmal gewichtet er ihn jedoch inhaltlich und stilistisch anders. Auch hier nennt er das Ergebnis eine den Märchen und Sagen verwandte rêverie. Corot musste sich nun aber nicht mehr in einen rein innerlichen melancholisch-kontemplativen Zustand begeben, sondern vermochte auch als banal gewertete Szenerien (»le scènes les plus vulgaires«192) durch die Art seiner Anschauung in den Rezipienten bewegende (»émouvoir«193) Werke zu verwandeln  : »Il les voit à travers je ne sais quel prisme lumineux dont il a le secret et dont il sait faire partager le charme au spectateur.«194 Die Metapher des Prismas deutet an, dass dies wenig mit einer reinen Nachahmung zu tun hat, sondern einen gestalterisch überformenden Eingriff darstellt. Dies erinnert an die Kaleidoskop-Metapher Baudelaires.195 Das Prisma und das Kaleidoskop sind beide technische Utensilien, die das Wahrnehmbare (die Lichtwellen) verändern und überformen. Bei Baudelaire ist die Wahrnehmung technisch überformendes Utensil. Ihm ging es um die durch die Erinnerung des Malers kaleidoskopartig, also assoziativ überformte Wahrnehmung von Welt. Du Camp evoziert mit dem Prisma ebenfalls das 189 Du Camp 1855, S. 101. 190 Du Camp 1855, S. 101 f. 191 Du Camp 1855, S. 102. In diesem Sinne schreibt auch Théophile Gautier 1863  : Die Gemälde Corots seien »impossibles à faire comprendre avec des mots«  ; Gautier, Salon de 1863, in  : Le Moniteur universel, 7. August 1863, zit. nach Gautier 1996, S. 78. 192 Du Camp 1864, S. 690. 193 Du Camp 1864, S. 690. 194 Du Camp 1864, S. 690. 195 Baudelaire 1976, Peintre, S. 692. Vgl. dazu die Ausführungen in Kap. 3.1.

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Bild einer Überformung  ; diese scheint indes eher auf eine Konzentration der Wahrnehmung abzuzielen. Beide Metaphern betonen gleichermaßen den Wirklichkeitsbezug wie auch die ästhetische Überformung des Wahrgenommenen. Und ebenso wie Baudelaire stellt auch Du Camp dieses Verfahren in den Zusammenhang mit der Erinnerung. In Bezug auf Corot führt er weiter unten aus  : M. Corot a une qualité remarquable qui échappe à la plupart des artistes de notre temps  ; il sait créer. Son point de départ est toujours dans la nature  ; mais lorsqu’il en arrive à l’interprétation, il ne copie plus, il se rappelle et atteint immédiatement à une altitude supérieure et tout à fait épurée. […] Un fait brutal, un site vulgaire doit faire germer dans le cerveau d’un artiste bien doué une conception élevée.196

Die rêverie ist demnach also vornehmlich das Ergebnis eines spezifischen Erinnerungsaktes, der es vermag, Gesehenes ästhetisch anzuverwandeln, und zwar derart, dass uns das Gemälde zu bewegen (»il sait nous émouvoir«197) vermag und getragen ist von einem tiefen Gefühl (»sentiment profond«198).199 Ähnlich vage wie die Werke, um die es geht, sind schließlich die Qualitäten, mit denen die Gemälde 1855 und 1864 beschrieben werden. Sie seien geprägt von einer Naivität (»naïveté«) und seien durch die Erinnerung geklärt (»épurée«), sie zeigen simple Motive und sind gestaltet im Primat der Farbe. Auch Théophile Gautier, der ansonsten überwiegend die rêverie in Anschlag bringt, wählt in seinen Salons von 1857 und 1868 die Erinnerung als Erklärung für die ästhetischen Qualitäten der Gemälde. 1857 schreibt er, die Gemälde »ont le charme particulier à l’artiste qui se rappelle la nature come on se rappelle un air aimé qu’on fredonne involontairement.«200 Du Camp formuliert in seiner Kunstkritik schließlich jene Erkenntnis, die Nerval bereits 1854 für die Literatur und Poesie festhielt und die Baudelaire kurz zuvor prominent vorgebacht hatte  : »inventer au fond s’est se ressouvenir«201.

196 Du Camp 1864, S. 691, Hervorhebung M.G. 197 Du Camp 1864, S. 690. 198 Du Camp 1864, S. 691. 199 Vgl. hierzu auch Pomarède 2009, S. 141  : »[…] la véritable thème d’un souvenir était alors devenu la description des réminiscences de l’expérience visuelle et émotionelle d’un paysage, à travers l’évocation des sentiments et grâce aux rythmes plastiques. Et, par définition, un souvenir ne pouvait donc être peint qu’a posteriori et en atelier.« 200 Gautier, Salon de 1857, in  : L’Artiste, 25, Oktober 1857, zit. nach Gautier 1996, S. 70 f. 1868 heißt es  : »Ils [die Gemälde  ; M.G.] vous apparaissent comme dans la mémoire le souvenir d’un lieu charmant. L’effet de fraîcheur, de mystère ou de mélancolie s’y trouve  ; les masses principales gardent à peu près leur contour, mais les détails se noient et se perdent dans un effacement vaporeuse  ; il semble qu’une gaze d’argent s’interpose entre les yeux du peintre et les horizons qu’il représente.« Salon de 1868, in  : Le Moniteur universel, 27. Juni 1868  ; zit. nach Gautier 1996, S. 91. 201 Nerval, Les Filles du feu, Paris 1854, zit. nach Denk 2007, S. 16. Vgl. zu Nerval Dickhaut 1999  ; vgl. zu Nerval und Corot Miller 2012.

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Corots Werk wurde mithin schon zu dessen Lebzeiten mit der ästhetischen Strategie der mémoire verknüpft. Der kreative Akt wird nicht mehr nur romantisch verklärt, im Topos melancholischer Kontemplation gedacht, sondern in Einsprengseln individualpsychologisch als komplexer Bewusstseinsvorgang verstanden. Teil der »memory crisis«202, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts rasant an Bedeutung gewinnt, ist neben der individualpsychologischen Dimension auch die kollektive. Auch hier wird Corot in Anschlag gebracht und dabei in eine Linie mit Nicolas Poussin und Pierre Puvis de Chavannes gestellt, die beide Vertreter einer nationalen Malerei seinen. In ihren Gemälden hat man idealtypische Visualisierungen von Sehnsuchtsorten gesehen, die wiederum als kollektive Erinnerungen zu deuten seien.203 Charles Blanc etwa ließ dies in einer Rezension von 1866 anklingen, als er Corots La Solitude (1866)204 als Erinnerung an antike Länder deutet.205 In ähnlicher Weise wurden die Werke Puvis de Chavannes’ in den Kritiken semantisiert.206 Insbesondere durch das Werk Puvis de Chavannes’ entwickelte sich so eine Traditionslinie, die die kollektive Erinnerung als Grundlage einer stimmungsvollen öffentlichen Dekorationsmalerei versteht, die bis ins fin de siècle wirken wird.207 Wie Kerstin Thomas gezeigt hat, verdanken sich diese stimmungsvollen Werke Puvis’ der ästhetischen Strategie der rêverie, die kollektive und individuelle Erinnerung zusammenfließen lässt.208 Was die individualpsychologische und produktionsästhetische Dimension betrifft, berühren sich die Debatten um Corot und Baudelaire. Denn auch in Bezug auf Corot geht die Kritik davon aus, dass das Malen nach der mémoire eine spezifische Produktionsästhetik sei, die den wahren Kern des kreativen Aktes ausmache und hierbei die Wahrnehmungen derart ästhetisch überforme, dass sie die vom Maler verspürten Gefühle in einer spezifischen Ästhetik einzufangen vermöge. Ebenso wie bei Baudelaire ist hier die naive Anschauung zentral, und zwar jene Anschauung, die nicht aus klassizistischer Perspektive auf die Welt sieht, sondern in begrifflich nicht vorstrukturierter Art und Weise, wie Baudelaire es im Peintre de la vie moderne erörtert hatte. Analog zu Baudelaire führt dies zu einer Vorstellung von Malerei, bei der die Naivität des Malers garantiert, dass die Affizierung durch das Objekt in vollster Intensität aufgenommen und in der mémoire so verdichtet wird, 202 Terdiman 1993. 203 Vgl. Werth 2002, S. 28. Corot wurde überdies auch als Vorläufer der Schule von Barbizon und damit als Vater des Impressionismus instrumentalisiert. Vgl. Werth 2002, S. 28. Diese verschiedenen Deutungsansätze sind bis heute in der Corot-Forschung vorhanden. 204 Öl auf Leinwand, 95 × 130 cm, Museo Thyssen-Bornemisza, Madrid. 205 Blanc 1866, S. 38. Am Rande sei erwähnt, dass Blanc sich zu dieser Wertschätzung nur deswegen hinreißen lassen kann, weil er Corot die ästhetischen Verfahren der Erinnerungspoesie zugesteht  : scheinbar banale Sujets in verkürzter, suggestiver und derart entrückender Manier darzustellen. Es wird hier erneut spürbar, ebenso wie bei Baudelaire, dass die Etablierung der mémoire von der Literatur ausgeht. 206 Vgl. Werth 2002, S. 28 und 39–44 sowie Thomas 2010a, S. 83–85. 207 Vgl. dazu grundlegend Thomas 2010a, S. 48–88. 208 Vgl. Thomas 2010a, S. 67–88.

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dass die Affizierung malerisch umsetzbar wird. Des Weiteren findet sich im Kontext zu Corot ebenso wie bei Baudelaire das rezeptionsästhetische Argument, wonach Bilder der mémoire beim Betrachter besonders tiefe Gefühle auslösen. Entsprechend lobt Baudelaire Corot auch in einzelnen Kritiken. So hebt auch er dessen Farbharmonie, Einfachheit und Naivität hervor. An zwei Stellen bindet er diese Qualitäten entschieden mit der mémoire zusammen. Der Kritiker betont im Salon von 1846 die Einfachheit, die fast allen Werken Corots zu eigen sei  : »Presque toutes ses œuvres ont le don particulier de l’unité, qui est un des besoins de la mémoire.«209 In seinem Essay Le Peintre de la vie moderne schließlich führt er Corot im Abschnitt zu L’Art mnémonique, bevor er sich Constantin Guys mit den oben referierten Gedanken widmet, als erstes Beispiel an. Vieles von dem, was Baudelaire in Bezug auf Corot schreibt, hatten vor ihm bereits andere geschrieben. Dabei nehmen seine Schriften die Funktion eines Brennspiegels ein, in dem sich Thesen und Ansichten seiner Zeit bündeln. Ihrerseits wirkten diese Schriften dann intensiv auf die Malergeneration des fin de siècle, für die Baudelaire ein zentraler Referenzpunkt war.210 Blick auf Corot Ende des 19. Jahrhunderts

Beredtes Zeugnis für die Sicht auf Corot zu Schaffenszeiten Vuillards Ende des 19. Jahrhunderts liefert die Arbeit von André Michel, die im Jahr 1896 in der Revue des Deux Mondes publiziert wurde.211 Zunächst verortet er Corot im Genre der Landschaftsmalerei und leitet entsprechende Kriterien ab. Sein Fokus richtet sich dann indes immer mehr auf die produktionsästhetischen und psychologischen Faktoren von Corots Kunstschaffen. Michel leitet Corots Werk von der Genretradition der Landschaftsmalerei her, da 209 Baudelaire 1976, Salon 1846, S. 482. 210 Noch 1930 betont Camille Mauclair die Rolle Baudelaires innerhalb der Corot-Rezeption  ; in der aktuellen Forschung weist ihm unter anderem Denk einen zentralen Platz zu. Vgl. Mauclair 1962, S. 227 und Denk 2007, S. 15. Thomas wiederum hat in ihrer Arbeit über das ästhetische Phänomen der Stimmung Baudelaires Korrespondenz-Ästhetik herangezogen  ; sie sieht darin eine kunsttheoretische Grundlage dafür, dass scheinbar subjektiven Kunstwerken gleichwohl eine kollektive Bedeutsamkeit beigemessen wurde. Vgl. Thomas 2010a, S. 69 f. 211 Vgl. Michel 1896, S. 913–930. Michel markiert keine singuläre Sicht, sondern vereint in gewisser Weise prägnant, was Ende des 19. Jahrhunderts in Bezug auf Corot auch andernorts zu lesen war  ; daher ist es für die Argumentation auch nicht problematisch, dass Vuillards Notate wenige Jahre vor Michels Buch entstanden. Denn dessen Gedanken lagen offenbar in der Luft. Dass Michel keine beliebige Position markiert, belegt zudem die Tatsache, dass Paul Souriau noch 1901 in seinem Werk über L’imagination de l’artiste den Aufsatz von Michel zitiert. Bezeichnenderweise greift Souriau hier Anfang des 20. Jahrhunderts Corot nicht nur als exemplarische Referenzfigur heraus, sondern gerade als paradigmatisches Beispiel für die Relevanz der mémoire im künstlerischen Schaffen. Entsprechend zitiert er jene Stelle, die darstellt, wie effektiv Corots Notationssystem dahingehend gewesen sei, Erinnerungen nicht nur zu konservieren, sondern anhand ihrer die mit ihnen verbundene affektive Bewegung – s’emouvir – zu aktualisieren. Vgl. Souriau 1901, S. 38.

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dies entscheidend dafür sei, um zu verstehen, warum Corot so viel Ruhm zukommt. Ausgangspunkt ist Michels Feststellung, dass die Malerei im Gegensatz zur Literatur, etwa nach Rousseau, noch lange an deiner »unselbständigen« Landschaft festhielt, die keinesfalls eigenes Sujet, sondern nur Werkzeug in der klassizistischen historischen Landschaft sein konnte. Ein Umbruch stellt sich dann mit Pierre-Henri Valenciennes ein, der zwar noch stark den klassizistischen Idealen verpflichtet war, gleichwohl bereits feststellte, dass die Landschaft als Sujet der Malerei den Zweck habe, die Imagination und emotionale Wirkung anzuregen.212 Michel resümiert, Valenciennes zitierend, wie folgt  : »Le devoir du peintre de paysage n’est pas de nous donner ›le froid portrait de la nature insignifiante et inanimée‹, mais de la faire parler à l’âme ›par une action sentimentale‹.«213 Was bei Valenciennes noch mehr Wunsch denn malerische Praxis war, finde nun seine Einlösung bei Corot. Bei ihm seien das eigentliche Sujet der Landschaften nicht die Personen oder Figuren, sondern »le chœur des choses inanimées, des harmonies aériennes, ou vient se condenser et se manifester, dans un état général de nature […] cette ›action sentimentale‹ que Valenciennes exigeait dans tout paysage«.214 Corot habe dies aber nicht nur erkannt, sondern gleichermaßen die zentralen Mittel dazu perfektioniert, wie auch die entsprechende Methode. Denn bereits in den frühen Werken habe Corot begriffen, dass »il comprit, il sentit, il vit que ce n’est pas seulement avec des lignes, mais encore et surtout par des valeurs, par le dosage et la distribution des quantités et des qualités de lumière que se construit et ›s’établit‹ un tableau«.215 Die stimmungshafte Dichte der Landschaft findet ihre ästhetische Umsetzung im Bild vornehmlich durch die sensible und subtile Arbeit mit Farbwerten, Farbharmonien und dem zentralen Mittel des Lichts. Ähnlich im Ziel, jedoch mit anderen Mitteln, strebt Corot damit in eine ähnliche Richtung wie der von Baudelaire verehrte Delacroix, nur geht es bei Corot in einem viel höheren Maß um feine Farbakkorde und dezente Farbwertintervalle. Der Effekt wird so weniger durch stark farbige Bildkompositionen erzielt als durch einen fein gewebten Farbwertteppich, der seine Veredelung, sein fini durch das Licht erhält. Dieses findet nicht als räumlich-plastisches Kompositionsmittel seinen Einsatz, sondern, gerade im Gegenteil, um das Bild als farblich durchkomponierten Klangteppich zu vollenden. Michel geht in seiner euphorischen und zugleich subtilen Analyse des schon zu Lebzeiten auch heftig kritisierten Malers sogar so weit, zu behaupten, dass bereits die frühen Werke der Italien-Phase jedwedem literarischen Versuch, eine stimmungshafte Landschaft einzufangen, kategorisch überlegen seien  ; ja, dass genau jener Inhalt nur in spezifischen Mitteln zur Geltung komme, und diese Mittel seien die genuin pikturalen der Farbe und damit die der Malerei  : »La littérature, à tenter de transcrire ou de ›transposer‹

212 Vgl. Valenciennes 1799  ; zu Valenciennes’ Traktat vgl. Busch 1997, S. 233–240. 213 Michel 1896, S. 916. 214 Michel 1896, S. 924. 215 Michel 1896, S. 920.

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ces relations subtiles, se perdrait en d’inutiles et confuses bouillies de mots et d’adjectifs. C’est ici le domaine propre de ›la peinture‹.«216 Corot sei mithin herausragendes Exempel einer Landschaftsmalerei, die, im Kern besehen, ihre Qualität darin habe, emotional bewegen (»s’émouvoir«) zu können. Das Werk und seine ästhetischen Qualitäten werden aber nicht nur als besondere Landschaftsmalerei exponiert, sondern als paradigmatische Malerei schlechthin, als Essenz dessen, was Malerei im Kern ausmacht, da in der Bearbeitung dieser Aufgabe – der emotionalen Bewegung – das Wesen und Potential der Malerei vollumfänglich zur Geltung komme. Neu bei Michel ist nun die Betrachtung dieser Qualitäten aus der psychologischen und physiologischen Perspektive. Er räsoniert  : »chez Corot, la sensibilité est plus agile  ; la rétine plus tendre, semble emmagasiner plus de vibrations  ; il entre plus de consonances, des jeux plus compliqués d’harmoniques et de complémentaires dans la constitution de ses grands accords  ; à analyser ses ciels admirables, qui sont moins de la couleur que de la lumière […].«217 Er fährt fort mit der Präzisierung dieses besonderen Sensoriums  : Ce vif sentiment, cette intuition si sûre et si subtile de la vie de l’atmosphère et de ses relations avec tout ce qu’elle enveloppe et fait vivre, cette attention portée sur les choses moins pour en surprendre l’intime structure et la physionomie individuelle que pour saisir et noter leurs rapports avec ce qui les environne, cette observation délicate des phénomènes les plus éphémères et des plus mobiles apparences qu’un souffle de brise l’angle changeant d’un rayon défont et modifient sans cesse, devaient le conduire graduellement à ce qu’on a appelé ›impressionnisme‹.218

Grundlegend, um von dieser Sensibilität profitieren zu können, sei die mémoire, denn diese transportiere weniger den konkreten Anblick, die Physiognomie einer Landschaft ins Atelier, sondern die »rapports avec ce qui les [choses  ; M.G.] environne« und damit verbunden den affektiven Gehalt der jeweiligen Ensembles. Corot bediene sich dazu »une mémoire pittoresque prodigieuse, une imagination prompte à s’émouvoir à l’appel de cette mémoire«.219 In all diesem komme die Essenz seiner Malerei zum Tragen  ; Corot »conserva un sentiment parfait des ressources et des possibilités de son art. Plus qu’aucun autre, il enrichit, il assouplit jusqu’aux limites extrêmes la langue pittoresque, il y fit passer des ›frissons nouveaux‹  ; mais il ne la faussa, ni ne la corrompit.«220 Wie prägend diese Sicht auf Corot ist, zeigt die Darstellung Germain Bazins, die er in den 1940er Jahren niederschrieb  :

216 Michel 1896, S. 921. 217 Michel 1896, S. 923. 218 Michel 1896, S. 928. 219 Michel 1896, S. 929. 220 Michel 1896, S. 929.

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Voir est pour lui [Corot  ; M.G.] synonyme de concevoir. Devant la multiplicité du monde, sa vision opère la décantation des éléments génériques, pour atteindre l’unité. Ce n’est pas qu’il ne perçoive l’univers dans sa complexité  ; il le faut bien, pour que, dans cette multitude d’objets qui se présente à ses yeux, il effectue cette sélection de l’élément de similitude que chacun d’eux contient en puissance. Cette simplicité atteinte suppose donc une opération d’analyse, préalable à celle de synthèse  ; tout cela dans le bref temps qui sépare le moment où il voit de celui où il peint. Toutes les parties assemblées qui composent un paysage, le ciel, la verdure, les champs, le mouvement du relief, les fabriques, sont pensées par lui comme des qualités ou des genres. Si synthétique est sa vision que d’après nature on diraut qu’il peint de souvenir. […] Devant un spectacle nouveau, la mémoire de Corot, riche d’images, lui propose aussitôt le facteur analogique, qui rassemble en un faisceau toutes singularités du spectacle. Ce monde de généralisation qui, dans le domaine de la pensée, produit un idée, exprimée par un mot, aboutit pour le peintre à une valeur, traduit par un ton.221

Sowohl die kreative Interaktion zwischen Sehen und erinnerten Bewusstseinsinhalten (»Voir est […] concevoir«) als auch die Überformung des Wahrgenommenen durch diese und damit die ästhetisierende Funktionsweise des Gedächtnisses werden von Bazin in Anschlag gebracht. Abstrahiert gesprochen, geht in dieser von der mémoire abgeleiteten Ästhetik in ambivalenter Weise die Synthetisierung der Form, also ihre Purifizierung und Konzentration, einher mit einem freien Farbauftrag, der jedoch gerade die Bündelung der Form wiederum in einen kleinteiligen Farbteppich aufbricht. So werden gleichermaßen Konzentration und Reduktion der Formen und affektive Reaktivierung mittels eines flirrenden, die Form geradezu verunklärenden Farbteppichs vereint. Diese paradoxe Verbindung zwischen Formauflösung und gleichzeitiger Konzentration leitet sich offenbar von einer Vorstellung von Kreation mittels der mémoire ab. Im Hinblick auf die Schriften Baudelaires und auf die kunstkritische Tradition, die jeweils das Malen nach der mémoire als zentral für die späten Werke Corots erachten, sowie auf die Fortsetzung und kontinuierliche Ausdifferenzierung dieser Tradition mag es nicht verwundern, dass Vuillard nicht der einzige Maler war, der sich an Corot und der mémoire orientierte.222 Denn auch von Gauguin, der ebenfalls das Malen nach der Erinnerung vertrat, weiß man, dass er die Werke Corots aufgrund von »le calme et le sentiment méditatif«223 und dessen Gespür für vereinfachte große Formen bewunderte.224 Ähnlich äußerte sich van Gogh, der in den Landschaften des Altmeisters eine hohe atmosphärische Dichte empfand. Van Gogh hatte die Werke Corots sogar so sehr verinnerlicht, dass er auf Reisen an den Bruder schrieb  :

221 Bazin 1951, S. 6 f., Hervorhebung M.G. 222 Vgl. dazu Pomarède 2009. 223 Pantazzi 2009, S. 38. 224 Vgl. Cachin 2003, S. 128.

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Tout, les maisonnettes isolées que nous dépassions, entourées de peupliers grêles dont on entendait tomber les feuilles jaunes, le vieux clocher camus dans un petit cimetière aux murs de terre et à la haie de hêtres, le paysage plat, la lande les champs de blé, tout, tout offrait au regard les motifs mêmes des plus beaux des Corot. Un silence, un mystère, une paix comme seul Corot les a peints […].225

Die Ästhetik war offenbar nicht nur zum Vorbild, sondern überdies zu einer Art visuellem Topos geworden, der nicht nur die Kunstproduktion inspirierte, sondern wiederum seinerseits auf die ästhetische Wahrnehmung von Welt zurückwirkte.226 Mag die Bewunderung Gauguins auch eher der kunstkritischen Tradition zuzuschlagen sein, die in Corot den Vertreter einer nationalen Dekorationsmalerei sah, so ist van Goghs und sicherlich Vuillards Bewunderung für Corot an dessen persönliche Erinnerungsmalerei gebunden. Die Erörterung der Position Baudelaires und jener Corots hat ergeben, dass in der Mitte des 19. Jahrhunderts eine sich rapide entwickelnde Konjunktur der ästhetischen und kunstkritischen Argumentation mit der mémoire festzustellen ist. War die Erinnerungskraft anfangs noch ein Werkzeug der Imagination und Kriterium zur Bewertung der Kunst, so wird durch Baudelaire aus der mémoire ein prominenter produktionsästhetischer Faktor. Grundsätzlich parallelisiert er mémoire und Imagination  ; in seiner introspektiv geleiteten Reflexion ahnt er, dass Effekte der Imagination de facto essentieller Teil der Erinnerung sind und kein losgelöstes geistiges Vermögen. Dabei handelt es sich nicht nur um eine begriffliche Umwidmung, sondern damit einhergehend um introspektive Überlegungen, die an die Stelle idealistischer und romantischer Parameter treten. Im Gegensatz zur Imagination, die vorwiegend nur als schöpferische Instanz gesehen wird, greift die mémoire mit Baudelaire – und ebenso hallt es in der Kunstkritik zu Corot nach – mehrfach. Erstens spielt sie eine Rolle bei der Wahrnehmung, im Kontext der naïveté, des Malers. Die sämtlich unverstellt aufgenommenen sinnlich-affektiven Reize werden unter diesem Aspekt durch die mémoire überformt und lagern sich so ab. Dem steht die Alltagswahrnehmung gegenüber, die begrifflich-utilitaristisch und detailreich wahrnimmt, sowie eine Erinnerung, die auf ebendieser Basis, jener der nicht sinnlich-affektiven Komponenten, Wahrgenommenes ordnet und aufnimmt. Zweitens wirkt die mémoire dann, wenn der Maler an die Staffelei tritt. Baudelaire schildert die art mnémonique hier als abbreviierend und abermals synthetisch und stellt fest, dass sie der Arabeske und der Silhouette, der großen Form und den großen Zusammenhängen zugeneigt sei. Baudelaires Ideal ist dabei der Kolorismus Delacroix’ bzw. die flüchtigen Skizzen städtischen Lebens von Guys. Wo Baudelaire als Impulsgeber für die kunsttheoretischen Überlegungen Vuillards gelten kann, lässt sich die ästhetische Umsetzung Vuillards hingegen aus dem Vorbild Corots Spätwerk ableiten. Dieses war ebenfalls diskursiv als Produkt der mémoire verstanden worden und 225 Brief an Theo van Gogh, Herbst 1883, zit. nach Pantazzi 2009, S. 37. Auch van Gogh experimentierte mit dem Format der Erinnerungsmalerei, etwa in dem Gemälde Erinnerung an Etten, 1888, Öl auf Leinwand, 73,5 × 92,5 cm, Eremitage, St. Petersburg. 226 Zur Rezeption Corots vgl. Pomarède 2009  ; Pantazzi 2009.

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zeichnet sich aus durch eine auf Vagheit und dezenten Farbakkorden basierende Malerei, die ihre stimmungsvolle Intensität durch die Wiederholung der Motive erreicht. Detailgenauigkeit und illusionistische Tiefenperspektive werden zugunsten einer flirrend belebten Bildfläche vernachlässigt. Corot und Baudelaire gemeinsam ist, dass sie das Malen nach der mémoire als paradigmatische Strategie dazu verstehen, Gefühle ästhetisch umzusetzen. Besonders am Beispiel Corot ist zudem deutlich geworden, dass der Diskurs zur mémoire nicht nur eng mit jenem zur Imagination, sondern insbesondere mit jenem zur rêverie verwoben ist. Da, wie im Folgenden erörtert wird, die Erinnerung im Diskurs ab den 1870er Jahren zum psychologisch zentralen Thema wird, ist das Dispositiv der rêverie und des Traumes notwendig zu ergänzen um jenes der mémoire. Die bis hierher erarbeiteten Parameter werden auch im psychologischen Diskurs erhalten bleiben, sie werden indes präzisiert, verfeinert und konkretisiert  : Welcher Art sind die Bewusstseinsinhalte der mémoire, wie genau arbeitet die mémoire, was lässt sich überdies im Hinblick auf ästhetische Kategorien beobachten, welche Auswirkung auf das subjektive Selbstverständnis und das Selbstverständnis der Maler haben die diskursiven Gewichtsverschiebungen, die durch die junge Psychologie ausgelöst werden, gibt es medienspezifische Aspekte  ? Exkurs  : Die mémoire in Malereitraktaten

Ausgehend von romantischen Naturerfahrungen in der Literatur bei Rousseau war die Erinnerung zum poetischen Mechanismus geworden. Dies lässt sich, wie im Falle Corots gesehen, auch in der Malerei nachvollziehen. Vornehmlich in der Landschaftsmalerei wurde die Erinnerung in der malerischen Praxis reflektiert. Denn insbesondere hier stellte sich das Problem der flüchtigen Phänomene, die selbst durch Skizzen nur behelfsmäßig festgehalten werden konnten, also immer schon die Erinnerung des Malers notwendig machten. In diesem Kontext wandelt sich die Bedeutung der Erinnerung vom bloßen Werkzeug zum Mittel eigenen Rechts. So erörtert Claude-Henri Watelet 1792 in seinem Dictionnaire des arts de peinture, sculpture et gravure die Landschaftsmalerei in Verbindung mit der mémoire. In der Tradition der französischen Akademie-Texte strukturiert er seine Abhandlung anhand einer dreistufigen Hierarchie, in der die niedrigste Stufe jene der bloßen Kopie sei. Die höchste Stufe bildeten Werke, die »représentations idéales de la nature champêtre« und »crées sans autre secours que les souvenirs et l’imagination« seien. Wenig später, um 1800, wird Pierre-Henri Valenciennes diesen Gedanken aufnehmen und ebenfalls die Erinnerung im Zusammenspiel mit der Imagination betonen.227 In Nuancen könnte man hier bereits den Ansatz dazu erahnen, in der mémoire eine nicht nur speichernde, sondern auch kreative Potenz zu sehen, denn offenbar vermag sie gemeinsam mit der Imagination mehr zu bieten als die bloße Kopie. Tatsächlich dominiert hier aber noch klar ein Verständnis der mémoire als Werkzeug, als bloßes Speichermedium. Letztlich trägt die Erörterung bei Watelet und Valenciennes auch formal noch die Spuren einer 227 Zit. nach und vgl. dazu Pomarède 1998, S. 428 sowie Denk 2007, S. 15.

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akademischen Kunstauffassung, da beide an die Hierarchisierung verschiedener Stufen der Landschaftsmalerei anknüpfen, wie sie von Roger de Piles 1708 im Cours de peinture par principes prominent formuliert worden war. Signifikant ist gleichwohl, dass hier bereits die Weichen dafür gestellt sind, das Malen nach der mémoire – analog zur rêverie – diskursiv mit der Landschaftsmalerei zu verkoppeln und damit dieses Genre als jenes auszuzeichnen, innerhalb dessen die Imagination und die mémoire schließlich im 19. Jahrhundert ihren Aufschwung erleben werden.228 Der Blick auf die weitere Entwicklung im 19. Jahrhundert zeigt indes auch, dass diese Verbindung zwischen dem Genre der Landschaft und der Imagination und mémoire sukzessive aufweicht. Das kreative Verfahren der Imagination und Erinnerung gewinnt offenbar ab einem gewissen Punkt so viel Eigenkraft, dass es als Vorbild dienen konnte, ohne weiterhin an das Genre der Landschaft gebunden zu sein. Ebendies trieb der Maler und Dozent Horace Lecoq de Boisbaudran (1802–1897) mit seinen Schriften voran. Vor allem Petra ten-Doesschate Chu hat hierauf hingewiesen.229 Boisbaudran lehrte an der École spéciale de dessin et de mathématiques (»petite Ecole«) und später am Lycée Saint-Louis sowie der École spéciale d’architecture  ; er publizierte zwischen 1848 und 1876 mehrfach über die Education de la mémoire pittoresque.230 Ganz grundsätzlich wendet er sich gegen die konventionelle Ausbildung mit dem Argument, sie brächte keine ausdrucksstarken Werke hervor. Dem stellt er eine traditionelle Bildungsvorstellung gegenüber, wonach ein Maler ebenso wie ein Literat davon profitiere, wenn er sein Gedächtnis systematisch schule. Gedichte werden selbstverständlich auswendig gelernt, dies mit Formen und Farben zu tun sei jedoch nicht Usus. In seinen Schriften zur mémoire pittoresque betonte er damit anschließend an Valenciennes die Notwendigkeit, das Bildgedächtnis systematisch zu schulen. Die mémoire bleibt damit bloßes Werkzeug. Innerhalb dieses unauffälligen Programms entwickelt Boisbaudran jedoch trotzdem innovative Impulse für die Künstlerausbildung  ;231 indem er die Erinnerung als eine Art visuelle Stenografie verstand, lockerte er zunächst die klassisch-akademische Orientierung der Künstlerausbildung am Studium der antiken Kunstwerke. Das Malen aus der Erinnerung machte die Maler vom sklavischen Kopieren eines physisch anwesenden Modells 228 In der jüngeren Forschung haben vor allem Denk und Pomarède diese Tradition für Corot aufgearbeitet  ; vgl. Denk 2007 und Pomarède 1998, 2005, 2010. 229 Vgl. Chu 1982. 230 Vgl. Chu 1982, S. 243 f. 231 Zu Boisbaudran vgl. Régamey 1903, Chu 1982, Sidlauskas 1989, Sidlauskas 2000, Thielemans 2000, Hermens et al. 2009a und Chu 2011. Chu 2011 skizziert einen möglichen Einfluss Boisbaudrans bis zu Manet, bricht dann aber ihre Rekonstruktion ab und erwähnt, unter Verweis auf Roger-Marx (1945), dass das Malen nach der mémoire auch für die Nabis relevant gewesen sei, führt dies jedoch nicht weiter aus. Hermens und MacDonald wiederum haben darauf hingewiesen, dass der Einfluss Boisbaudrans bis nach England zu James McNeill Whistler nachweisbar ist. Alle diese Arbeiten zeichnet jedoch aus, dass sie das Phänomen der Erinnerung nicht hinreichend im Diskurs kontextualisieren, weswegen ihnen entgeht, dass Boisbaudrans Lehren Teil eines umfassenden »Gedächtnisbooms« (Hülk 2007, S. 172) sind und daher die Gedanken und wechselseitigen Beeinflussungen ungleich komplexer und vor allem vielstimmiger rekonstruiert werden müssen. Einen kurzen Überblick über die Rolle der Erinnerung in der englischen Kunstlehre findet sich bei Swift 1977.

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unabhängig und befreite sie so von der Abhängigkeit von diesen und deren Zugänglichkeit im Museum oder in den spezifischen Zeichenklassen der Akademien. In letzter Konsequenz führte dies nicht nur zu pragmatischen Erleichterungen, sondern auf grundsätzlicher Ebene zu einer Erosion des Kanons, der als Vorbild bei der Künstlerausbildung diente. Denn mittels einer gut trainierten Erinnerung konnten und sollten die jungen Maler ihr Bildgedächtnis nun nicht mehr nur durch das Studium der Kunstwerke der Antike füllen, sondern ebenso mit Begebenheiten des Alltagslebens und Bildwerken ihrer Wahl. Dies wiederum führte zu einer Aufwertung der Subjektivität, denn in dem Moment, in dem theoretisch alles zum Objekt des Künstlers werden kann, ist die Auswahl des Studienobjektes mehr als zuvor an das Künstlersubjekt und dessen Gespür gekoppelt.232 Konkret ästhetische Implikationen hat Boisbaudrans Lehre vor allem, was die Konstruk­ tion von Bildräumlichkeit betrifft.233 Denn ein ganz besonderer Ort, an dem die Erinnerung ihre Wirkung entfalte, sei gerade dort, wo visuell betrachtet nichts ist, also in den Räumen der Absenz zwischen Objekten und Menschen.234 An die Stelle der alten Perspektivlehre, die traditionell den physischen Raum – das Absente – zweidimensional abbildbar machte, setzt Boisbaudran nun die mémoire, die den Bildraum nicht mehr mathematisch, sondern subjektiv konstruiert. Die Objekte und Figuren im Raum werden nicht mehr mittels einer geometrischen Konstruktion ins Bild gesetzt, sondern qua subjektiver Verkettung und Verbindung, sei es in Form von Farbflächen, abstrakten Füllstrukturen oder in Form von ornamentalen Vernetzungen. Daraus resultiert die Auflösung des Bildraumes in die Fläche. Störungen der klassischen Perspektive sind dabei willkommen, sind sie doch, aus der Lehre Boisbaudrans heraus verstanden, ein Träger der Subjektivität des Künstlers.235 Andererseits achtete er streng auf detailgenaue Wiedergabe der Objekte, die erst im letzten Stadium des Unterrichts, wenn die mémoire wieder und wieder trainiert worden war, aufgelockert werden durfte. Louis Edmond Duranty beschreibt Boisbaudran indes 1876 in seinem Essay über die Nouvelle Peinture als jenen Professor, der für die »éducation de la mémoire pittoresque« stehe, »mais dont le principal mérite aura été de laisser se développer l’originalité, le caractère personnel de ceux qui étudiaient auprès de lui«.236 Hier deutet sich an, dass sein Verdienst weniger in einer elaborierten ästhetischen Mnemotechnik gesehen wurde als darin, mit seiner Lehre der mémoire die persönliche Originalität gefördert zu haben. Mithin war seine Lehre wirksam gegen Antikenstudium, naive Mimesis und kanonische Akademieausbildung. Folglich ist vor allem die Ablösung der Perspektive durch die subjektiv geordnete und in der mémoire hervorgebrachte Bildfläche bemerkenswert und Teil jener Strömungen, die den Realismus und vor allem Impressionismus möglich gemacht haben.

232 Vgl. Chu 1982, S. 281, Sidlauskas 1989, S. 46 und Sidlauskas 2000, S. 15. 233 Vgl. Sidlauskas 2000, S. 12–16. 234 Vgl. Sidlauskas 1989, S. 61 und Sidlauskas 2000, S. 17. 235 Vgl. Sidlauskas 1989, S. 57 f. und Sidlauskas 2000, S. 14. 236 Duranty 1876, S. 24.

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Die konkreten ästhetischen Implikationen seiner Lehre sind indes so minimal bzw., anders gesprochen, die Betonung der Entwicklung individueller Stile so vehement, dass seine Lehre im Endeffekt seltsam konturlos bleibt.237 Ihr fehlt es auch deswegen an Pointierung, weil sie nicht beantwortet, worin der Effekt der Erinnerung genau liegt. Dies macht sie in gewisser Hinsicht allseitig angreifbar, und tatsächlich wurde sie historisch auch von allen Seiten angegriffen, wie Veerle Thielemans erörtert.238 Wenn Susan Sidlauskas in ihrer synchronen Lektüre seiner Texte die Subjektivierung als eine der genuinen Neuerungen Boisbaudrans herausstellt, so ist dies insofern irreführend, als die Schrift von 1846 noch sehr konventionell ist. Die Passagen zum Potential der Subjektivierung stammen aus den 1870er Jahren, also aus einer Zeit, zu der von Baudelaire bereits eine viel komplexere Vorstellung einer art mnémonique vorliegt und die psychologischen Theorien, die im Folgenden erörtert werden, bereits Bedeutung erlangt hatten. In den späteren Schriften nimmt Boisbaudran also allenfalls Reflexe des psychologischen Diskurses auf und verbaut sie in seine Lehre. Er ist mithin in der Ideengeschichte der mémoire am ehesten jener Stufe zuzurechnen, zu der auch Baudelaires Salon von 1846 gehört und die die mémoire effektvoll als Störung der alten Ordnung ins Spiel bringt, ohne jedoch bereits ihre positive Tragweite formulieren zu können.

3.3 Taine und Ribot – Von der mémoire zur mémoire affective Die Bedeutung der Psychologie

Baudelaire und Corot waren nicht die Einzigen, die die mémoire umkreisten, sondern vielmehr der pointierte Auftakt zu einer »semantische[n] Beschleunigung«239 im Diskurs über die mémoire, die ab 1870 spürbar ist und aus allen erdenklichen Fachrichtungen gespeist und angefeuert wird. Um 1900 ist die Erinnerung in so gut wie allen Diskursen präsent. Dabei kulminiert im Phänomen der Erinnerung eine komplexe Vielzahl an gesellschaftlichen Umwälzungen. Ein solches Phänomen bezeichnen Heinz Thoma und Kathrin van der Meer als Psychem, wenn es die »Transformation einer gesellschaftlichen Grundbefindlichkeit bzw. Grundproblematik in eine Begrifflichkeit psychischer Qualität erfasst.«240 Und um 1900 ist die mémoire zu einem Psychem avanciert, das als »ästhetische, anthropologische und historische Variable transdisziplinärer Dialoge und Konvergenzen, aber auch Konkurrenzen fungiert.«241

237 Vgl. Sidlauskas 1989, S. 41 f. 238 Vgl. Thielemans 2000, S. 72 f. 239 Hülk 2007, S. 172. 240 Vgl. Thoma et al. 2007, S. VII. 241 Hülk 2007, S. 169. Auch Tadié et al. 1999 widmen sich der kulturhistorischen Dimension der mémoire. Ein geistesgeschichtlicher Überblick findet sich bei Hutton 1987 und Siegmund 2001.

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Eine zentrale Rolle kommt hierbei der Psychologie zu, die wie kein anderes Fach den Diskurs radikal überformt und so auch vielfältig den Kunstdiskurs tangiert. Denn die Kunst hat »sich immer wieder neu gegenüber großen Schüben des naturwissenschaftlich geprägten physiologischen und psychologischen Subjekt- und Gattungswissens definiert.«242 Die junge Disziplin der Psychologie formiert sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Sie tut dies in einer komplexen Abgrenzungsbewegung von den traditionellen Disziplinen, allen voran der Philosophie, aber auch von Literaturtheorie, Ästhetik und Geschichte. Dies bringt es mit sich, dass die Psychologie nicht innerhalb einer hermetischen Fachgemeinschaft debattiert, sondern in Auseinandersetzung mit diversen Disziplinen und – im Kampf um gesellschaftliche Legitimation inmitten der öffentlichen Aufmerksamkeit – in populären Zeitschriften und Publikationen. Bei den Psychologen finden sich elaborierte Theoriegebäude und Thesen über die mémoire, die an vielen Stellen, jedoch ohne dies kenntlich zu machen, bereits in vorhergehenden Diskursen formulierte Thesen aufnehmen, um sie dann in einer signifikanten Überformung durch Metaphern in ihr spezifisches Theoriegebäude einzupassen. An grundsätzlich nicht zwingend neuen Positionen zur mémoire vollzieht sich so dennoch ein komplexer Paradigmenwechsel, dessen kulturhistorische Dimension in Bezug auf die bildenden Künste und insbesondere die Malerei beträchtlich ist.243 Die Psychologen besetzen schnell zentrale Themen der vormaligen Bewusstseinsphilosophie und legen radikal neue Konzepte von Subjekt, Erinnerung, Gefühl und Imagination vor. Grob skizziert wird es im Folgenden darum gehen zu klären, welche Relevanz die mémoire bei der Konstitution des Subjekts spielte bzw. welche Konsequenzen es wiederum für die mémoire hat, wenn der zeitgenössische Subjektbegriff einem radikalen Wandel unterzogen wird. Es mag verwundern, warum mit Blick auf die mémoire als Spielart der Imagination der Rückgriff auf ein so globales Thema wie die Theorie des Subjekts geboten ist. Wie Janßen indes dargestellt hat, betrifft das »Problem der Imagination nicht nur das Wie der inneren Repräsentation, sondern auch das Wo oder Wodurch, das heißt die Frage, in welcher Art von geistiger oder körperlicher Innenwelt eine solche ­Repräsentation überhaupt zustande kommen kann.« Kurz gefasst  : »Eine Theorie der Imagination impliziert eine Theorie des Subjekts.«244 Umgekehrt heißt dies, dass eine fundamentale Umwälzung des Subjektbegriffs, wie sie etwa mit Hippolyte Taines Denken einhergeht, zwangsläufig auch massiv Konzepte von kreativem Schaffen, also künstlerischer Strategie und ästhetischer Reflexion, beeinflusst. Wenn dann Imagination zudem enttarnt wird als Spielart der mémoire, verhandelt eine Erinnerungskunst, die sich auf ebendie mémoire bezieht, die »Verfügbarkeit, Abrufbarkeit und Mitteilbarkeit vergangener Subjektivität.«245 242 Thoma et al. 2007, S. VII. 243 Eine philosophisch inspirierte philologische Rekonstruktion des Diskurses um die mémoire affective kann in der gerade im Entstehen begriffenen Dissertation von Philipp Engel (im Erscheinen) nachgelesen werden. Er nähert sich diesem Thema mit dem dreifachen Schwerpunkt aus Psychologie, Philosophie und Literaturwissenschaft. 244 Janßen 2002, S. 193. 245 Wie Hülk analog in Bezug auf die Erinnerungsliteratur ausgeführt hat. Hülk 2007, S. 169.

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In diesem Zusammenhang wird sich zeigen, dass das Subjekt und damit selbstredend die mémoire im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts auf einmal als eminent bildlich bzw. sinnlich verfasst gedacht wird. Das ist insofern ein radikaler Wandel, als gerade in Frankreich die aufklärerische Tradition mit großer Beharrlichkeit am Primat des Begriffs, der Idee, der Sprache festhielt und entsprechend das Subjekt als zuallererst sprachlich verfasstes Wesen vorstellte, dem die sensations und sentiments untergeordnet waren. Sinnliches wurde aufgrund seiner ästhetischen oder rhetorischen Wirkung – aufgrund des Effekts – zwar geschätzt, jedoch keinesfalls als Grundbaustein des Bewusstseins verstanden. Hier werden Taine und die ihm folgenden Psychologen widersprechen und die sensation sowie das image im Sinne eines inneren Bildes als psychologische Kategorie starkmachen. Dies führt zu einem zweiten, mit der Ablösung der Sprachfixierung eng verknüpften Paradigmenwechsel, und zwar zur Aufwertung der Gefühle (sentiments). All dies mündet Ende des 19. Jahrhunderts in die Debatte um die memoire affective und findet dort einen Kulminationspunkt. Wie zu zeigen sein wird, avanciert die mémoire innerhalb der Versuche, das neue Subjekt und sein psychisches Innenleben zu definieren, immer wieder zu einem zentralen Scharnier  ; die Analyse der Beschaffenheit der mémoire wird so zu einer Art Schlüsselfrage, was die Vorstellung von der menschlichen Psyche angeht. Es ist evident, dass ein kulturhistorischer Paradigmenwechsel, der sich an der mémoire entzündet und der den bewusstseinstheoretischen Status des Bildlichen, des Imaginativen und des Kreativen sowie des Emotionalen betrifft, nicht folgenlos für die bildenden Künste war. Da die Literatur schon seit Rousseau sowie Baudelaire und die Malerei seit Corot mit ebenjener Erinnerung als ästhetischem Prinzip arbeitet, sind die Folgen für die Künste fundamental. Von einer peripheren romantischen Kategorie wird die mémoire zum Drehund Angelpunkt psychischer Prozesse und damit eine von ihr abgeleitete Ästhetik zum Versuch, den stets im Moment des Anblicks bereits in die Vergangenheit verlorenen Kern menschlicher Identität bildlich einzufangen. Wenn Maler sich also dezidiert an der Tradition und dem Konzept der mémoire abarbeiten, wie dies auch bei Vuillard der Fall ist, dann sollte diese kulturhistorische Dimension bei der Betrachtung der Kunstwerke nicht fehlen. Psychologie und Kunst im fin de siècle  : Opposition oder Austauschbeziehung  ?

Es ist vielfach zu lesen, dass die Nabis konkrete Vorbehalte gegen die zeitgenössische Psychologie, den Empirismus und alles Positivistische gehabt hätten. Indes müssen die Invektiven und Sympathiebekundungen zwischen Kunst und Wissenschaft nicht wörtlich genommen werden  ; eher sind dies diskursive Formationen, und die »wechselnden Abgrenzungs- und Aneignungsverfahren lassen [vielmehr  ; M.G.] ein komplexes Austauschverhältnis vermuten.«246 Für das Feld der Literatur etwa hat Marie Guthmüller präzise die Wechselwirkungen zwischen science und lettres herausgearbeitet. Diese gehen weit über ein einfaches wechselseitiges Rezipieren hinaus  ; vielmehr ist es so, dass die Psychologie den 246 Guthmüller 2008, S. 21.

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Künstler und sein Werk sowohl als Patienten und Untersuchungsgegenstand wie auch als Kollegen und authentisches Zeugnis heranzog.247 Umgekehrt wiederum orientierten sich Kunstkritiker und Künstler an den jungen wissenschaftlichen Modellen, sei es aus legitimatorischen Intentionen oder zur Inspiration mitunter folgenreicher poetologischer und produktionsästhetischer Überlegungen.248 Andererseits hat Patrizia Lombardo etwa in Bezug auf die koloristischen Beschreibungen Joris-Karl Huysmans’ und Hippolyte Taines betont, dass der vermeintlichen wechselseitigen Skepsis tatsächlich subkutan eine diskursive Verwandtschaft der beiden Autoren unterliegt.249 Vergleichbare Ergebnisse für die Kunstgeschichte liegen kaum vor, wären aber denkbar, denn nicht erst Théodule Ribot, sondern früher z.B. etwa auch schon Taine, ziehen in ihren Abhandlungen immer wieder die Malerei als Analogon oder Beleg ihrer Theorien heran.250 Hervorzuheben ist hier Jean-Paul Bouillon, der im Kontext der Nabis-Forschung explizit darauf hingewiesen hat, dass der Topos, die Nabis seien der (positivistischen) Wissenschaft gegenüber ablehnend eingestellt und hingegen dem Mystizismus zugewandt gewesen, ins Reich der Legenden verwiesen werden muss. Neben schriftlichen Belegen, die die Aufgeschlossenheit Maurice Denis’ den sogenannten positivistischen Wissenschaften, insbesondere Taine, gegenüber zeigen, ist zudem eine Rezeption dieser Wissenschaften rekonstruierbar.251 247 Zum Umgang mit Autoren und deren Werken gleichermaßen als Patient und Kollege vgl. Guthmüller 2006. Je nach Fall werden die Autoren und ihre Werke dabei als abnorm verstanden und entsprechend wie Patienten untersucht, oder sie werden wie Kollegen und psychologische Fallstudien bewertet. Im letzten Fall wird suggeriert, dass »sich wissenschaftliche Erkenntnisprozesse mittels der dichterischen Einbildungskraft ›abkürzen‹ ließen« (Zit.: Guthmüller 2006, S. 177). Hierin findet sich übrigens eine Denkfigur, die immer wieder, bis hin zu Sigmund Freud, nachweisbar ist  : Der Künstler wird von Fall zu Fall als Patient (Leonardo da Vinci) verstanden oder als Kollege, der, vergleichbar mit dem Analytiker, ein besonderes Sensorium für die archaischen Prozesse der menschlichen Seele habe (Beispiele sind der Moses des Michelangelo bzw. Wilhelm Jensens Novelle Gradiva, die Freud wie eine Fallstudie behandelt  ; auch die Heranziehung von Mythen als Urszenarien psychischer Komplexe gehört in dieses Schema). 248 Vgl. grundlegend dazu Guthmüller 2006, 2007 und 2008. Guthmüller rekonstruiert unter anderem ausführlich, dass der Künstler die junge Disziplin der experimentellen Psychologie vor größere Probleme stellt. Verfügt er doch über ungewöhnliche Begabungen und ist damit womöglich abnorm oder gar pathologisch  ? Kulturhistorisch äußerst aufschlussreich ist hierbei, dass der Zugriff auf den Künstler und das Werk keinesfalls einheitlich ist. Vielmehr stellt Guthmüller fest, dass es gleichermaßen Ansätze gibt, die den Künstler und dessen kreative Potenz als »gewöhnlich« und normal nivellieren wollen, und solche, die ihn als pathologisch (degeneriert) einordnen (Guthmüller 2008). Dies ist für die Kunstgeschichte vor allem deswegen interessant, weil hierin jeweils unterschiedliche Künstler-Selbstverständnisse deutlich werden, die ihrerseits wieder auf die Selbstinszenierung der Künstler und im weitesten Sinne auf ihr Werk gewirkt haben dürften. Auf diesen zuletzt genannten Aspekt verweist auch Rae  ; vgl. Rae 2007, S. 405. 249 Vgl. Lombardo 1987. 250 Angeregt von philosophischer Seite gibt es neuerdings erste wissenschaftsgeschichtliche Rekon­ struktionen des Zusammenspiels zwischen Literatur- und Kunstgeschichte und der experimentellen Psychologie von Taine und Ribot  ; vgl. die Beiträge in Lichtenstein et al. 2013. 251 Vgl. Bouillon 1989 und 2006a. Was die Bewertung der Rolle Taines für den hier im Fokus stehenden

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Allison Morehead wiederum hat die Rezeption von Hippolyte Taine und Théodule Ribot im Kreis der Revue blanche nachgewiesen. Damit ist auch bei Vuillard von der Lektüre, zumindest aber der Kenntnis der Theorien von Taine und Ribot auszugehen.252 Auch aus anderer Perspektive ist es fragwürdig, eine manifeste Rivalität oder Feindseligkeit zwischen Kunst und positivistischer Wissenschaft anzunehmen. Denn mittlerweile konnten zahlreiche Arbeiten zeigen, dass im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts von der Wissenschaft, in Abgrenzung etwa von dem Mystizismus bzw. Spiritismus nicht die Rede sein kann. Vielmehr erweist sich gerade die vermeintlich exakte experimentelle Forschung dieser Zeit als teilweise deckungsgleich mit Mesmerismus und anderen erst heute als spiritistisch und damit als unwissenschaftlich abgewerteten Experimenten.253 Die gesamte Debatte darüber, ob und inwiefern der Graben zwischen Künstlern und Wissenschaft überschritten worden sei, an dem sich die Kunstgeschichte lange Zeit orientiert hat, erweist sich damit als irreführend. Denn in besagter Zeit gab es die moderne (vermeintlich) klare Trennung der Sphären so nicht. Experimentelle Wissenschaft konnte in ihrer konkreten Umsetzung Hypnose oder eine spiritistische séance sein. Und die psychologischen Abhandlungen stützten sich gleichermaßen – nach heutigem Verständnis unkritisch – auf Künstlerselbstzeugnisse wie auf wissenschaftliche Erkenntnisse.254

Kontext angeht, weist Bouillon auf den Einfluss der positivistischen Theorie Taines auf Maurice Denis hin und hat diesen in den folgenden Jahren sorgfältig rekonstruiert. Er kommt unter anderem zu dem Ergebnis, dass sich Denis zwar gegen die historische Position des matérialisme stellte, nicht jedoch gegen jene des positivisme, für die stellvertretend Taine und Spencer genannt werden können. Denis stand dem jedoch nicht nur interessiert gegenüber, sondern rezipierte Positionen des positivisme intensiv und stellte sich damit, laut Bouillon, gegen den matérialisme und vor allem gegen den spiritualisme und hob sich so vom »point de vue mystico-litteraire« eines Aurier oder eines Morice ab. Mitnichten handele es sich also bei der Malerei Denis’ um eine metaphysische oder idealistische Kunst. Vielmehr ziele sie auf eine Form des Realismus ab, zu der – mit psychologisch aufgeklärtem Verständnis – die gesamte subjektive Bewusstseinstätigkeit gehört. 252 Vgl. Morehead 2007, S. 76–78 und Friesen 2008a, S. 15. 253 Vgl. dazu Burhan 1979  ; Carroy et al. 1996, S. 78–80  ; Parot 1994 und Parot 2012, S. 234. 254 Vgl. grundlegend zum Verhältnis zwischen Kunst und Wissenschaft im fin de siècle Burhan 1979  ; in der jüngeren Forschung hat diese Frage dann größeren Raum eingenommen, jedoch vornehmlich um vier Themen kreisend, und zwar Jean-Martin Charcot und die Hysterieforschung (etwa Didi-Huberman 1982  ; Silverman 1992  ; Schade 1993), zweitens um Guillaume Duchenne de Boulogne und dessen Experimente zur menschlichen Mimik im Zusammenhang mit Charles Darwins Ausdruckslehre und drittens die psychologische Wahrnehmungsforschung. Damit ist jedoch nur ein kleiner Teil des historischen Diskurses abgedeckt und entsprechend das sich ergebende Bild verzerrt. Taine und noch viel mehr Ribot haben diesbezüglich bislang nicht viel Aufmerksamkeit erhalten. Eine Auseinandersetzung mit Taines Subjektlehre hat immerhin stattgefunden bei Sidlauskas 1989 und 2000  ; Thielemans 2000.

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Das Subjekt als »série des événements«255

Hippolyte Taine kommt bei der psychologischen Überformung des Diskurses eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu.256 Aufgrund seiner Ausbildung und schriftstellerischen Tätigkeit bewegt er sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mindestens in einer »Doppelrolle«257. Denn er war, neben Théodule Ribot, Gründungsvater nicht nur der experimentellen Psychologie in Frankreich, sondern auch der critique scientifique, einer sich wissenschaftlich verstehenden Literaturkritik. Taines Profil ist jedoch noch viel schillernder, blickt man auf seinen akademischen Werdegang. Ursprünglich studierte er Philo­sophie, besuchte parallel regelmäßig medizinische und psychiatrische Veranstaltungen. »Taine erfährt so auf unterschiedlichen disziplinären Wegen etwas über die menschliche Seele und begreift die Psychologie als eine Wissenschaft, an der naturwissenschaftliches, medizinisches und philosophisches Wissen gleichermaßen Anteil haben.«258 Nachdem seine an der philosophischen Fakultät eingereichte Doktorarbeit Des sensations zurückgewiesen worden war, legte er ein zweites Werk vor. Dies behandelte ein literarisches Thema und wurde in der entsprechenden Fakultät angenommen. Das heißt, von Beginn an bewegt sich Taine in einer Trias aus Philosophie, Psychologie und Literatur/Kunst, wovon sein gesamtes Werk geprägt ist. Dies bedeutet jedoch nicht nur, dass er in seinen Schriften ein beträchtliches Feld an Themen abdeckt, sondern auch, dass er aus diesen Gebieten vielfältig Anregungen und Impulse aufnimmt. So verwundert es nicht, dass in seinen Werken Themen und Thesen auftauchen, die auneutungsweise bereits in der Literatur verhandelt worden waren.259 Seine Schriften treffen auf außerordentliches öffentliches Interesse, die Aufsätze erscheinen in der Revue des Deux Mondes und im Journal des débats und werden schon früh in Sammelbänden publiziert  ; auf immense Resonanz treffen die Werke zu 255 Taine 1892, Bd. I, S. 344 f. 256 Die psychologische Landschaft Ende des 19. Jahrhunderts war denkbar heterogen. Denn in diesen Jahren versuchten die Vertreter der experimentellen Psychologie, ihr junges Fach gegen Teile der Philosophie, die psychologische Themen verhandelten (Bewusstseinsphilosophie), gegen den Spiritualismus etc. zu etablieren. Da diese junge Disziplin unter großem Rechtfertigungsdruck stand, legte sie eine immense Publikationstätigkeit an den Tag, erstritt sich institutionelle Ränge und war besonders kreativ darin, die Landschaft der herkömmlichen Forschung derart umzudeuten, dass ihr Ansatz an Evidenz gewann. All dies mündete darin, dass die Vertreter der experimentellen bzw. positivistischen Schule in der Öffentlichkeit große Präsenz erlangten. Im Wesentlichen werde ich mich auf Autoren dieser Schule stützen. Vgl. zur Wissenschaftsgeschichte der Psychologie Ende des 19. Jahrhunderts in Frankreich grundlegend Carroy et al. 1996  ; Mucchielli 1998  ; an der Schnittstelle zur Philosophie vgl. Brooks 1998 und mit kritischer Fragestellung Guthmüller 2006 und 2007. 257 Dieser Absatz, die Skizze von Taines intellektuellem Profil und seiner Bedeutung, basiert auf Guthmüller 2006, S. 169–171. Zit.: Guthmüller 2006, S. 169. Vgl. zu Taine auch Perrin 1993  ; Guthmüller 2007  ; Hülk 2012. 258 Guthmüller 2006, S. 170. 259 Vgl. hierzu die Arbeiten von Guthmüller 2006, 2007 und 2008  ; auch Perrin 1993 verweist immer wieder darauf, dass Taine Denkfiguren und Verfahren der Literatur aufnimmt und für seine Zwecke anverwandelt.

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Literatur und Kunst,260 das psychologische Hauptwerk De l’Intelligence erscheint 1870 und wird alleine bis 1948 über zehn Mal neu aufgelegt. Das zweibändige De l’Intelligence stellt den Auftakt zur experimentellen oder positivistischen Psychologie Frankreichs dar. Im Kern bezog diese Opposition gegen alle metaphysisch argumentierenden Erklärungsmodelle  ; dem entgegengesetzt wurde der Anspruch, die gesamte menschliche Psyche aus beobachtbaren, zumindest aber phänomenal benennbaren Entitäten abzuleiten  ; im Kern richtete sich dieser Versuch auch gegen die cartesianischen Dualismen zwischen Körper und Geist bzw. gegen die Unterscheidbarkeit von objektiv und subjektiv.261 Taines zweibändiges Werk war also der erklärte Versuch, die Psyche und die Erkenntnisfähigkeit des Menschen nicht mehr metaphysisch herzuleiten, nicht mehr von fixierten Konzepten eines »Ichs«, »Geistes« oder »Selbst« auszugehen, sondern die psychologische Verfasstheit des Bewusstseinsapparates positivistisch, aus einer »science des faits«262 zu erhellen. Im Kern liefert Taine eine neue Konzeption des Subjekts, die hohe Wellen schlagen wird. Hieraus ergeben sich schwerwiegende Konsequenzen in Bezug auf die Vorstellung dessen, was das »Selbst« oder »Ich« sei und wie es funktioniere. Gleichwohl ist Taines Bestreben nicht einem trockenen Empirismus verpflichtet, sondern bewegt sich stets sprachlich und inhaltlich im Grenzgebiet zum Essayistischen und Literarischen. Taine überschreitet ständig, wie später auch Sigmund Freud, die Grenze des rein Sachlichen, indem er sich zu überspitzten Thesen mittels oftmals schillernder Metaphorik hinreißen lässt. So erscheint es fast schon bezeichnend, dass das Manuskript zu De l’Intelligence im Künstlerdorf Barbizon entstand, an jenem Ort, an dem zeitgleich eine Gruppe von Malern mit radikal neuen Formen der Wahrnehmung und Ästhetisierung von Landschaft experimentierte.263 Während er De l’Intelligence redigierte, entstand zudem seine Philosophie de l’art (1865).264 Taine beginnt seine Erörterungen mit einer grundlegenden Klarstellung. Da ein »Ich« physiologisch und auch sonst nicht lokalisierbar sei, sondern nur einzelne physiologische Impulse und Mechanismen, schließt er, das »Ich« existiere nur in unserer Vorstellung als von basalen Mechanismen abgeleitetes virtuelles Derivat und sei an und für sich keine in sich konstante Figuration, sondern nicht mehr als eine Reihe von Ereignissen. Er schreibt  : »on s’aperçoit qu’il n’y a rien de réel dans le moi, sauf la file de ses événements.«265 An 260 Vor allem die Histoire de la littérature anglaise, 5 Bde., Paris 1863, und die Philosophie de l’art, die zunächst 1864–1869 auf der Basis einer Vorlesung in separaten Publikationen und 1881 als Buch erscheint. 261 Vgl. Rae 2007, S. 405. 262 Taine 1892, Bd. I, S. 2  ; vgl. hierzu allgemein die Einleitung zu De l’Intelligence. Ich verzichte an dieser Stelle darauf, zu diskutieren, inwiefern Taine bei seinen Überlegungen auf Vorläufer, etwa Herbert Spencer und Alexander Bain, zurückgreift, da in vorliegendem Kontext nur relevant ist, dass er etwas und was er in den Diskurs einbringt. Die wissenschaftshistorische Fragestellung brächte hierbei keinen signifikanten Erkenntnisgewinn. 263 Vgl. Hülk 2012, S. 121. 264 Vgl. Jollet 2008, S. 284 und Hülk 2012, Kap. Taine. 265 Taine 1892, Bd. I, S. 7.

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anderer Stelle, in seiner Abhandlung Histoire de la littérature anglaise (1863) stellt er fest  : »L’homme ne connaît point les substances  ; il ne connaît ni l’esprit ni le corps  ; il n’aperçoit que ses états intérieurs tout passagers et isolés.«266 Diese »états intérieurs« entspringen, in Taines Vorstellung, der Ebene der nicht nur auf die Sinnesorgane beschränkten, sondern im gesamten Körper stattfindenden Empfindungen (sensations). Indem Taine diese basalen Daten zur Grundlage des Subjektvermögens macht, relativiert er in empfindlicher Weise die bis dahin den Subjektbegriff prägende Metaphysik des Willens.267 Denn mit der Hervorhebung von Empfindungen in Form von physiologischen Abläufen im Körper hebelt Taine sämtliche bisherigen psychologischen Ansätze aus, die mit »der Vorstellung geistiger Fakultäten und anderen ontologisierenden Zuschreibungen der Philosophietradition« arbeiteten.268 An deren Stelle setzt er die Vorstellung eines dynamischen und unfixierten Subjektkontinuums, das ausschließlich sequentiell durch eine Kette von Empfindungsereignissen und deren Spiegelung in unserem Bewusstsein als Gefühle oder Wahrnehmungen konstituiert wird. Taine schreibt  : »[…] le moi demeure un et continu, on ne peut pas dire qu’il soit la série de ses évènements ajoutés bout à bout, puisqu’il n’est divisé en évènements que pour l’observation  ; et cependant il équivaut à la série de ses évènements  ; eux ôtés, il ne serait plus rien  ; ils le constituent […] le moi n’est que la trame continue de ses évènements successifs.«269 Die Theorie Taines geht also dezidiert von einem sequentiell-performativen »moi« aus, einem »flowing course of interpenetrated states«270. Sie geht damit weit über den traditionellen Sensualismus hinaus, wie ihn etwa David Hume formuliert hatte, der das Subjekt als Summe einzelner abgeschlossener Vorgänge vorstellt. Die metaphorische Vorstellung wechselseitig verschliffener, mehrdimensionaler »sukzessiver Bewusstseinszustände«271, die Taine in De l’Intelligence entwickelt, wird rasch rezipiert und setzt sich unter anderem fort bis zu William James’ berühmtem Sprachbild des stream of consciousness.272 Insofern wandelt sich das Bild des Subjekts von einer statisch-additiven Organisation auf der Basis von Ideen, die sich als geordnet und sicher verfügbar qualifizieren lässt, hin zu einem auf sensations basierenden sequentiell-dynamischen Organismus, der fließend verfasst ist.273

266 Zit. nach Bouillon 2006a, S. 42, Fn. 43. 267 Vgl. Janßen 2002, S. 201. 268 Guthmüller 2006, S. 188  ; vgl. Taine 1892, Bd. II, Buch 3. 269 Taine 1892, Bd. I, S. 344 f. 270 Rae 2007, S. 406. 271 Janßen 2002, S. 205. 272 William James führt dies ein in Kap. IX in Band eins seiner Abhandlung The Principles of Psychology, die 1890 publiziert wurde. Vgl. dazu die Ausführungen von Rae 2007, die James ganz selbstverständlich nicht nur mit Ribot in Verbindung bringt, sondern auch mit Henri Bergson  ; zu James vgl. zudem Slaby 2012, der bei James lange übersehene Grundlagen der Phänomenologie feststellt. 273 In diesem Sinne vgl. auch Hülk 2007, S. 179 f. und Hülk 2012, S. 121 f.

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Die Aufwertung des image – die Psyche als »vertigineux cinématographe d’images, d’oublis, de velléités, de passivités«274

Taine vollzieht mit dieser, nach seinem Verständnis, strikt empirischen psychologischen Grundierung jedoch nicht nur eine Revision einer statischen, metaphysisch begründeten Vorstellung von Geist und Subjekt, sondern auch eine andere weitreichende Umdeutung. Denn wenn essentieller Bestandteil des »Ichs« die sensations sind, so kann in keiner Weise mehr in idealistischer Tradition von ideellen Ursprüngen, von Ideen und Gedanken als Urgrund des menschlichen Bewusstseins ausgegangen werden. Taine stellt fest  : »Il faut laisser de côté les mots de raison, d’intelligence, de volonté, de pouvoir personnel, et même de moi, […]  ; ce sont des métaphores littéraires«.275 Selbstverständlich haben Menschen Ideen und Gedanken, aber diese sind in Taines Modell der Psyche erst die zweite Ableitung der sensations. Wenn aber der Grundbaustein der menschlichen Psyche nicht Ideen und begriffliche Abstrakta sind, in welcher Form werden dann diese unbewussten Empfindungen zu Inhalten des Bewusstseins und damit des Selbst  ? Der traditionellen Auffassung setzt er ein Modell entgegen, wonach der Geist das Ergebnis des komplexen Zusammenspiels von Empfindungs-Bildern sei, wobei er hier dezidiert den Begriff des Bildes (image) wählt  : »De même que le corps vivant est un polypier de cellules mutuelle­ ment dépendantes, de même l’esprit agissant est un polypier d’images mutuellement dépendantes, et l’unité, dans l’un comme dans l’autre, n’est qu’une harmonie et un effet.«276 Der Geist sei ein Polypenstock277 eigenständiger und zugleich untereinander durch ständigen Austausch verbundener Bilder, dessen Einheit (unité/harmonie) nur eine evozierte Wirkung, nicht jedoch Wesensmerkmal des Geistes sei. Dies ruft erneut das oben erörterte Bild des prozessualen und nicht mehr statisch identitären »Ichs« auf. Zudem seien images die eigentlichen Hauptakteure.278 Genauer betrachtet erklärt sich Taine den Zusammenhang zwischen sensation, image und esprit als Dreischritt. Die auf Nervenebene empfundenen sensations spiegeln sich in der Psyche als images, worunter Taine alle Formen der inneren sinnlichen Bilder (des Denkens, des Vorstellens, der Erinnerung) versteht. Diese images sind also die erste Ableitung von physiologischen Empfindungen, die allem zugrunde liegen.279 Begriffe und Ideen wiederum sind geistig-abstrakte Ableitungen jenseits der images. 274 Mauclair 1919, S. 230. 275 Taine 1892, Bd. I, S. 123. 276 Taine 1892, Bd. I, S. 124, Hervorhebung M.G. 277 Die Metapher des Polypenstocks entstammt der Zoologie und bezeichnet eine bestimmte Art von Lebensform, die wie ein einziger Organismus erscheint, tatsächlich aber aus aneinander haftenden Kleinstorganismen besteht, welche ständig miteinander in Austausch sind. Vgl. Dictionnaire français illustré 1876, Bd. 2, S. 771. 278 Vgl. dazu Jollet 2008, S. 284 f. 279 Zur Rolle des Bildes in all seinen Dimensionen (Metapher, Bestandteil der Psyche, Element der Einbildungskraft/Imagination etc.) in der Bewusstseinspsychologie in der Zeit vor Taine vgl. Rigoli 2006, inbes. S. 64–85. In diesem umfassenden Überblick wird klar, dass das Bild immer schon eine

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Was den Unterschied zwischen images und Ideen betrifft, erklärt Taine, dass Begriffe und Ideen unser Wissen und Denken zu ordnen vermögen  ; allerdings gibt Taine zu bedenken, dass sie deswegen den images nicht per se überlegen seien, denn Begriffe und Idee büßten ihrerseits maßgeblich an sinnlicher Qualität ein  : Nous observons alors que cette idée ne ressemble en rien à cette image, sauf par son emploi  ; comme l’image, elle rend présente une chose absente, voilà tout  ; mais elle n’a pas d’autres propriétés  ; elle n’est pas, comme l’image, un écho, l’écho d’un son, d’une odeur, d’une couleur, d’une impression musculaire, bref, la résurrection intérieure d’une sensation quelconque  ; elle n’a rien de sensible et nous ne la définissons qu’en niant d’elle toutes les qualités sensibles.280

Die images sind damit als Repräsentation von sentiments zu verstehen, und in dieser Funktion eignet ihnen eine dezidiert gefühlsbasierte Qualität (qualités sensibles)  ; der Modus, in dem sie erlebt werden, ist das Gefühl. Was nun das Verhältnis zwischen Ideen und images angeht, ist Taine ebenfalls deutlich. […] nous remarquons le peuple intérieur qui roule incessamment en nous, nous n’y trouvons que des images, les unes saillantes et sur lesquelles l’attention s’étale, les autres effacées et en apparence réduites à l’état d›ombres, parce que l’attention s’est détournée d’elles pour s’appliquer à leur emploi. […] Puisque nos idées se ramènent à des images, leurs lois se ramènent aux lois des images.281

Die Begriffe gehen demnach nicht nur auf images zurück, sondern darüber hinaus ist auch die Logik der images diejenige, die die Psyche in all ihren Dimensionen prägt. Wenn man so will, stellt Taine damit das Subjekt »vom Kopf auf die Füße«, definiert es von unten Rolle gespielt hat, bislang aber dem Bereich des Pathologischen zugeordnet worden ist. Im Zusammenhang mit der Erforschung der Manie etwa spielt das Bildhafte eine zentrale Rolle. Ebenso in der Traum- und Hypnoseforschung (vgl. Janßen 2002, S. 200). Die Besonderheit ab den 1870er Jahren ist darin zu sehen, dass die vormals als pathologisch erachteten, zumindest aber nicht verstandesmäßig kontrollierten Elemente (Bild, Imagination) nun als Grundlage jedweder Psyche, egal ob krank oder gesund, erkannt werden. Sabine Haupt wiederum rekonstruiert, inwiefern Gedanken als visuell vorgestellt wurden und inwiefern dieses Dispositiv in Psychologie und Literatur gleichermaßen vorkommt. Taine erwähnt sie seltsamerweise nicht. Deutlich wird in ihrer eindrucksvollen Rekonstruktion aber, dass ab 1880 die Vorstellung, dass Gedanken und mentale Vorgänge keinesfalls sprachlich strukturiert sind, sondern bildlich, omnipräsent war. Interessanterweise hält dies nur kurz an, denn bei Freud findet sich wieder eine klare Aufwertung von Sprache und Narration, die als Therapeutikum privilegiert sind und die Bilder wieder gänzlich ins Unbewusste (Traum) verdrängen. Die bildende Kunst wird nur am Rande erwähnt, und auch hier wird nur verwiesen auf durch den Traum inspirierte Kunst bzw. Kunst des 20. Jahrhunderts, etwa den Futurismus oder Surrealismus. Vgl. Haupt 2006. 280 Taine 1892, Bd. I, S. 67 f. 281 Taine 1892, Bd. I, S. 70 f., Hervorhebung M.G.

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nach oben. Entsprechend schreibt Sandra Janßen  : »Taine kehrt die Relation von Bild und Idee, wie sie vorher gedacht worden war, rundheraus um  : Ideen schlagen sich nicht in Bildern nieder, sondern sind deren Derivate.«282 Die images wiederum meinen jedwede sinnliche Figuration  ; sowohl bei Taine wie auch bei Ribot ist die Logik des Visuellen und Bildlichen vorherrschend.283 Die Aufwertung des Bildlichen im Kontext einer psychologischen Reflexion von Psyche und mémoire, die bei bereits bei Baudelaire angelegt war, setzt sich hier mithin fort.284 Pointiert formuliert könnte man sagen, dass das genuine Erkenntnisinteresse Taines an der intelligence deren dynamische »Begreifungskraft«285 ist, die letztlich der Imagination und der schöpferischen Energie sehr nahekommt. Insofern ist die Psyche des Künstlers auch von besonderem Interesse für Taine  : »Tout peintre, poëte, romancier d’une lucidité exceptionnelle devrait être questionné et observé à fond par un ami psychologue. On apprendrait de lui la façon dont les figures se forment dans son esprit, sa manière de voir mentalement les objets imaginaires, l’ordre dans lequel ils lui apparaissent, si c’est par saccades involontaires ou grâce à un procédé constante etc.«286 Taine reizt die Erforschung des Prozessualen, des Werdens von Bewusstseinszuständen im Allgemeinen, das in kreativen und schöpferischen Kontexten in gesteigerter Form vorliegt. Er will davon eine präzise Vorstellung entwickeln. Bereits an dieser Stelle wird die große Rolle, die das Schöpferisch-Dynamische in De l’Intelligence spielt, und damit die Verbindung bzw. Analogie zu Diskursen des Imaginativen deutlich. Anschließend an die oben erörterte neue Vorstellung Taines vom Subjekt und die zentrale Rolle der images ist das sequentielle »Ich« damit zu denken als Strom von in Bildern (images) gespiegelten physiologischen Ereignissen (sensations), auf deren Basis überhaupt erst Ideen und Vorstellungen entstehen. Taine wurde mit diesem Modell so breit rezipiert, dass diese Thesen schnell in die Öffentlichkeit getragen wurden. Dass sich das Konzept der bildlichen und fließend-instabilen Verfasstheit des »Ichs« lange hält und keineswegs nur in wissenschaftlichen Kreisen erörtert worden ist, lässt sich vielerorts erkennen.287 282 Vgl. Janßen 2002, S. 202. 283 Zum Okularzentrismus bei Ribot vgl. Roth 1989, S. 54. 284 Vgl. Kap. 3.1. Sie wird sich über Taine auch fortsetzen hin zu Henri Bergson, in dessen Theorie das image eine zentrale Rolle spielt. Zwar definiert Bergson sein image als eine epistemische Einheit, die ungleich komplexer ist als bei Taine, weswegen man beide recht eigentlich nicht vergleichen kann. Dennoch geht das image bei Bergson insofern auf Taine zurück, als Bergson sich kritisch an Taine abarbeitet  ; wenn er also letztlich auch Taine verwirft, so behält er trotz aller eigenständigen Theoriefindung die zentrale Stelle des image bei. Dies geht in jedem Fall auch auf den Einfluss Taines zurück. Zu Bergsons Auffassung von mémoire und dem image vgl. Warren 2015, S. 243 f. 285 Hülk 2012, S. 117. 286 Taine 1892, Bd. I, S. 13 f., Hervorhebung M.G. 287 Auch Silverman hat im Rahmen ihrer Studie über den kulturhistorischen Kontext des Art Nouveau bereits darauf hingewiesen, dass die Psychologie im fin de siècle den Bildern und dem Visuellen ein Primat eingeräumt hatte. Sie legt detailliert dar, dass Experimente von Hippolyte Bernheim und Jean-Martin Charcot zur These führten, dass Bilder bzw. visuelle Artefakte über ein höheres Maß an Suggestivität als andere Medien verfügten. Überdies rekonstruiert sie die Struktur der Theoriebildung

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Exemplarisch sei auf Camille Mauclair verwiesen, der im Jahr 1893 gemeinsam mit Vuillard und dem Schauspieler-Regisseur Lugné-Poe das Théâtre de l’Œuvre gegründet hatte288 und bei dem sich noch nach der Jahrhundertwende, 1912, ein Widerhall dieser Auffassung von Subjekt findet. In La Magie de l’Amour, einer Publikation, die auf den Essai sur l’amour von 1912 zurückgeht, wirft er aufgebracht dem Leser entgegen, er solle endlich aufhören, angesichts der Liebe vom Herzen zu sprechen, dies sei doch nichts anderes als ein sentimentales Pseudonym für die »chimie souterraine«, den psychophysischen Unterbau, der unsere Persönlichkeit ausmache. Vielmehr, schmettert er dem Leser in einer Mischung aus Wut und Verzweiflung entgegen, sei die Wahrheit  : »Nous ne sommes qu’un vertigineux cinématographe d’images, d’oublis, de velléités, de passivités […].«289 Wir seien letztlich nichts anderes als ein schwindelerregender Cinematograph, der immerfort vergessene und unbewusste Bilder projiziere. Anschließend an das oben Gesagte kann das neue Subjekt vorgestellt werden als nicht stillstellbarer Fluss der images. Dieser Fluss ist weder begrifflich eingehegt noch in einem Kern greifbar, sondern bringt sich in seiner Performanz ständig selber hervor.290 Die Rolle der mémoire als Identitäts- und Formstifterin

In dem Moment, in dem das Subjekt keinen substantiellen Kern mehr aufweist, sondern als bildliche Emergenz einer nie stillstehenden sequentiellen Empfindungskette gedacht wird, findet eine existentielle Verzeitlichung des Subjekts statt. Das als eine Serie von Empfindungszuständen gedachte Subjekt verfügt also ebenso wenig zu irgendeinem Zeitpunkt über sich selbst, wie es eine gesicherte Vergangenheit hat. Dies umso mehr, als die Reihung der Bilder einem variablen und nur teilweise steuerbaren Mechanismus unterliegt.291 Charcots und belegt, dass diese maßgeblich durch die künstlerische Tätigkeit Charcots und dessen bildnerisches Denken geprägt war. Taine hatte das image jedoch bereits zehn Jahre vorher hervorgehoben und greift seinerseits auf frühere Impulse zurück, sodass Charcot und Bernheim nur eine Variante der Tendenz darstellen, dass Bildern im fin de siècle eine Sonderrolle zukam, jedoch nicht die einzige, wie die Rekonstruktion der Tradition über Ribot zeigen wird. Im Folgenden wird auch deutlich werden, dass die Aspekte des Bildlichen, wie sie von Charcot abgeleitet werden können, in ein anderes Axiom münden, wie jene, die von der Frage nach dem Subjekt, nach mémoire und Imagination, ausgehen. Vgl. Silverman 1992, S. 83–106. 288 Vgl. zum kunsthistorischen Aspekt des Theaters Akat. Theater, Paris 2005  ; dort auch weiterführende Literatur. 289 Mauclair 1919, S. 230  ; vgl. dazu Madelénat 1989, S. 21 f. Vgl. zur Transformation des Gefühls der Liebe unter anderem unter dem Vorzeichen der Psychologie um 1900 Karpenstein-Eßbach 2006, S.  111 f. 290 Taine selber war die Radikalität seiner Thesen oft nicht ganz geheuer. Guthmüller schließt entsprechend zu Recht, dass Taine gefangen ist im Wiederspruch zwischen der »Auflösung des Subjekts, und dem gleichzeitigen Bemühen, ein Erkenntnissubjekt zu bewahren«  ; vgl. Guthmüller 2007, S. 97. 291 Vgl. Taine 1892, Bd. I, S. 159.

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Das traditionelle Modell, wonach ein definiertes Subjekt in der Gegenwart auf eine fixierte Vergangenheit zurückblicken kann und mit dieser persönlichen Vergangenheit Teil einer größeren Geschichte ist, wird somit gänzlich dynamisiert. Das Subjekt ist nun nicht mehr nur Teil eines zeitlichen Kontinuums, der ihn umgebenden Geschichte und seiner Biografie, sondern es ist in sich selbst konstituiert als nicht greifbarer oder stillstellbarer zeitlicher Fluss.292 Das Subjekt hat keinen greifbaren Kern, sondern ist stets genau das, was momentan aus Wahrnehmung, Gedanken, Empfindungen und Erinnerungen in seinem Bewusstsein zusammengespült wird. Denn der Bilderfluss des Subjekts ist in sich pures Fließen und vermag in sich keinen Augenblick des Selbstbewusstseins zu generieren. Ihm eignet allein ein diffuses Selbstgefühl, aber nichts Greifbares, nichts wenigstens momenthaft als bewusstes Ich Erkennbares. Damit aber diese Momente von Selbst-Bewusstsein im Sinne von empfundener Ich-Identität möglich sind, wird die Erinnerung zum zentralen Mechanismus. Wenn man so will, ist sie es, die dem Empfindungsstrom die notwendigen biografischen Koordinaten zuspielt, anhand deren dieser Strom zu referentiellen Bildern, Gedanken, Ideen vom eigenen Ich werden kann. Erst wenn aktueller Bewusstseinsinhalt und erinnerte Elemente ineinanderwirken, formiert sich das »Ich« in seiner komplexen Identität. Die mémoire wird dadurch von einer Statthalterin des Gewesenen zum spiritus rector der notwendig mit der Vergangenheit im Abgleich stehenden gegenwärtigen Identität. Zwangsläufig rückt sie in den Fokus der Forschung und wird hier zum »zentralen P ­ roblem«.293 Denn wenn die mémoire für die Ausbildung eines kohärenten Ichs notwendig ist, so birgt sie auch das Potential zu dessen Störungen. Die mémoire wird so in gewisser Hinsicht zum Herzen des Subjekts. Und die Forschung drängt es umso mehr, ihre Funktionsweise zu ergründen und Zustände des Normalen und des Pathologischen zu definieren. Es entsteht eine Flut an Untersuchungen zum Erinnerungsvermögen und vor allem auch zu dessen Fehlfunktionen. Wie später auch bei der Psychoanalyse ist die Definition von »gesund« ab jetzt nur noch relativ zu verstehen. Das prekäre oder konstruktivistische Funktionsprinzip von mémoire und Bewusstsein ist, für sich genommen, normal. Es stellt sich nur noch die graduelle Frage, wann und mit welchen Folgen es inkohärent, also pathologisch wird. Eines der prominentesten Werke zu diesem Thema ist die frühe Schrift Les Maladies de la mémoire (1881) von Théodule Ribot. Ebenso wie in Taine ist in Ribot eine zentrale Persönlichkeit im Diskurs zu erkennen.294 Wenngleich er nicht im selben Maße wie 292 Taine spricht davon, dass die images, gleich ob sie Ergebnis einer Wahrnehmung oder einer inneren Spiegelung sind, hin und her rangiert werden, bis sie eine »Linie der Vergangenheit« ergäben. »Remarquez le voyage que vient de faire la figure intérieure, ses divers glissements en avant, en arrière, sur la ligne du passé  ; chacune des phrases prononcées mentalement a été un coup de bascule. Confrontée avec la sensation présente et avec la population latente d’images indistinctes qui répètent notre vie récente, la figure a reculé d’abord tout d’un coup à une distance indéterminée […].« Taine 1892, Bd. II, S. 55. Vgl. zum Aspekt der Zeitlichkeit des Subjekts auch Janßen 2002, S. 195. 293 Janßen 2002, S. 203  ; vgl. auch Roth 1989, S. 49 und Janßen 2007, S. 34 f. 294 Vgl. zu Ribot allgemein Mucchielli 1998  ; Nicolas et al. 2001 sowie Carroy 2016 und Carroy et al. 2016.

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Taine Grenzgänger zwischen Kunst und Psychologie war, so bewegte er sich doch im umkämpften Feld zwischen Philosophie und neu zu etablierender Psychologie, die zum Ziel hatte, jeglichen metaphysischen Ballast beim Denken über den Menschen abzuwerfen.295 Ribot war von Hause aus Philosoph und kam 1866 erstmals mit den psychologischen Schriften der Engländer John Stuart Mill und Herbert Spencer in Kontakt, was in die Übersetzung Spencers ins Französische und die Abhandlung La Psychologie anglaise contemporaine (1870) mündete. Erst jetzt schrieb Ribot sich an der medizinischen Fakultät ein, publizierte gleichwohl noch ein Werk über Schopenhauer und 1873 eine thèse über ein Thema der Vererbungslehre.296 Eine zweite Doktorarbeit verfasste er zu einem Thema der Philosophie. Ribot, dieser »docteur en médecine, républicain anticlérical et homme politique«297, hatte damit aber bei Weitem seine intellektuelle Kraft noch nicht entfaltet. Diese sollte sich erst ab 1876 mit der Gründung der Zeitschrift Revue philosophique de la France et de l’étranger auswirken.298 1885 wurde er schließlich der erste Lehrstuhlinhaber für experimentelle Psychologie an der Sorbonne, und ab 1888 lehrte er am Collège de France.299 Bis 1889 hatte er die neue Psychologie umfassend als Institution mit Lehrstühlen an den Hochschulen und regem Zeitschriftenwesen installiert. Unter anderem hielt er am Collège de France 1892/93 Vorlesungen über die Psychologie der Gefühle und über die Imagination sowie 1893/94 zum Sachverhalt der Psychologie emotionaler Zustände wie auch der mémoire affective.300 Zu Standardwerken seiner Zeit wurden die Arbeiten

295 Vgl. zur historischen Situation von Philosophie und Psychologie im 19. Jahrhundert ausführlich Brooks 1998, zu Ribot insbesondere das Kapitel Eclectic Buddhist  : Théodule Ribot. Brooks betont auch, wie wenig erarbeitet die Wechselwirkungen zwischen der französischen Philosophie und Psychologie sind. Vgl. Brooks 1998, S. 14. 296 Ribots Arbeit über die Vererbungslehre ist geprägt vom Darwinismus und leitet davon unter anderem nach heutigen Maßstäben rassistisch zu nennende Thesen, etwa über die Juden oder die Araber, ab. Darauf hat bereits Zimmermann aufmerksam gemacht. Vgl. Zimmermann 1991, S. 243. 297 Mucchielli 1998, S. 269. Kritisch schätzt Zimmermann die Rolle Ribots ein. In seiner Arbeit über Seurat betont er den Einfluss von Comtes Positivismus sowie La Mettries mechanistischem Menschenbild auf Ribot. Er begründet damit die Einschätzung Ribots in den 1880er Jahren als Vertreter einer Ideologie des »imperialistischen Weltherrschaftsanspruchs der technischen Zivilisation« und eines Diskurses »der rationalen Vorstellungsorientierung«. Die differenzierte Aufwertung der Emotionen durch Ribot in den Publikationen ab 1890 und der dezidierte Versuch, die Psyche eben nicht deterministisch zu sehen, machen diese Verurteilung jedoch fragwürdig. (Vgl. Zimmermann 1991, S. 242–244, Zit.: S. 244.) Wie eingangs erörtert, ist die Rede Ribots von der streng positivistischen Psychologie weniger wörtlich und im Sinne eines modernen Verständnisses zu verstehen denn als rhetorisches Wortgeklingel im Legitimationskampf der jungen Psychologie. Vgl. dazu Brooks 1998, S. 67. 298 Vgl. zur Gründung der Zeitschrift detailliert Mucchielli 1998, zur Rolle ästhetischer Themen in der Zeitschrift vgl. Maigné 2013. 299 Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass Ribot – ebenso wie Taine – nie wirklich selber experimentell tätig war (vgl. Brooks 1998, S. 67). Hier ist ebenfalls festzustellen, dass der Anspruch, jenseits metaphysischer Konzepte zu arbeiten, bei vielen Psychologen – und vor allem auch bei Ribot selbst – in letzter Konsequenz gar nicht eingelöst wurde. Vgl. Brooks 1998, S. 68 f. 300 Vgl. Nicolas et al. 2001, S. 161.

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über die Erinnerung und ihre Störungen, die Psychologie der Gefühle, die mémoire affective, die Aufmerksamkeit sowie die kreative Imagination, um nur einige zu nennen.301 Anschließend an Taines Vorstellung vom unfixierten Subjekt, das keine »forme permanente«302 habe, und an dessen Ausführungen zur Erinnerung widmet Ribot sich nun ganz prominent dem, wie eingangs erwähnt, für jegliche Form der Identität zentralen Mechanismus der mémoire. In seiner Abhandlung wird vor allem deutlich  : Auch die mémoire ist kein konstanter, topografisch verortbarer Container jedweden Inhalts, sondern, ebenso wie das Subjekt selbst, ein geschmeidiger und sich permanent anpassender Mechanismus. Im Anschluss an Taine betont Ribot, dass die mémoire keine definiert verortbare »faculté de l’âme« sei und die geläufigen Vergleiche der Erinnerung mit statischen Abbild-Verfahren verfehlt seien.303 Denn mitnichten funktioniere die Erinnerung so wie »l’action photographique du soleil«, die auf einer Oberfläche indexikalische Spuren konserviere.304 Das Gedächtnis nehme weder abbildhafte Spuren auf noch seien seine Inhalte unveränderlich, und zudem finde die Gedächtnisleistung nicht örtlich fixierbar statt. Vielmehr ereigne sich Gedächtnisleistung an jedem Ort im Körper, an dem Nervenprozesse ausgelöst würden  ; kurzum, es gebe nicht ein Gedächtnis, sondern eine ganze Vielzahl von Gedächtnisprozessen, die dem Organisationsprinzip kombinatorischer Mobilität folgen und dabei nicht abgeschlossene Vorstellungen oder Ideen kombinieren, sondern assoziativ verbundene Erregungsmuster (sensations, also neuronale Spuren, die noch nicht den Status von images haben) jeweils neu aktivieren.305 Der psychologisch gut informierte Philosoph Jean-Marie Guyau schrieb zeitgleich in der Revue philosophique  : »On prend en général le cerveau à l’état de repos  ; on y considère les images comme fixées, clichées  ; ce n’est pas exact. Il n’y a rien de tout fait dans le cerveau, pas d’images réelles, mais seulement des images virtuelles, potentielles, qui n’attendent qu’un signe pour passer à l’acte.«306 Als Ergebnis erschienen uns in unserem Bewusstsein die erinnerten Dinge als vermeintlich klar chronologisch-linear lokalisierbare Entitäten, tatsächlich kämen hier jedoch Dinge zum Erscheinen, die in ihrer Verfasstheit modular und dynamisch seien. Das Gedächtnis sei kein in zeitlicher Abfolge organisiertes Ablagesystem, sondern ein dynamischer 301 Vgl. zur Vita von Ribot und dessen Rolle in der Institutionengeschichte der französischen Psychologie Mucchielli 1998, Brooks 1998, Nicolas et al. 2001. 302 Vgl. Taine 1892, Bd. I, S. 161. 303 Zur Einordnung von Les Maladies de la mémoire in die historische Debatte über die Pathologisierung von Gedächtnisstörungen Roth 1989, zu Ribot vgl. S. 52–57. Zur Verbindung zwischen Taine und Ribot in Bezug auf die mémoire affective vgl. Perrin 1993, S. 73 und 78. 304 Ribot 1906, S. 3. Zur in dieser Zeit gängigen Metapher des Gedächtnisses als Fotoapparat resp. der Fotografie als objektives Gedächtnis vgl. Albers 2001, S. 346. Zur Geschichte der Gedächtnis-Metaphern vgl. Kap. 3.1. Guthmüller hat gezeigt, dass Taine zwar bisweilen Metaphern des Speichers für die Erinnerung einsetzt, seine Ausführungen aber nahelegen, dass die Erinnerung auch bei ihm letztlich »fiktional« geordnet sei. Vgl. Guthmüller 2007, S. 92 f. 305 Vgl. Ribot 1906, S. 10 f.; Zit.: Hülk 2007, S. 175. 306 Guyau 1880, S. 319.

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»Assoziationsspeicher«307, der aus komplexen sich permanent verändernden Netzwerkstrukturen besteht.308 Ribot bedient sich der bereits von Taine verwendeten Metapher einer Wasseroberfläche für das Bewusstsein des »Ichs«, welche plan erscheint, obgleich Objekte, also Erregungsmuster und unbewusst in der Erinnerung assoziierte Empfindungen, das darunterliegende Wasser beständig durchwirbeln.309 In Wirklichkeit finde unter der Oberfläche eine permanente Assoziation, im Sinne von Anziehungs- und Wechselwirkungsbewegungen, zwischen den Nerven statt, die dann je nach Anlass innere Bilder an die Oberfläche spüle.310 Das Gedächtnis sei also kein »enregistrement tout mécanique«, sondern  : »Une mémoire riche et bien fournie n’est pas une collection d’empreintes, mais un ensemble d’associations dynamiques très stables et très promptes à s’éveiller.«311 Ebenso wie bereits Baudelaire greift auch Taine zur der der Logik des Visuellen entnommenen Metapher des Kaleidoskops, um die signifikante Eigendynamik der Psyche zu beschreiben.312 Tony James resümiert  : »The ›thinking substance‹ which is the self of Cartesian philosophy, the foundation of the personal pronoun in the ›cogito‹, is in the process of becoming an epiphenomenon, something which it is no longer meaningful to distinguish from personality, a cluster of associations based on sensation and memory.«313 Damit erweist sich die mémoire, ebenso wie das Subjekt, als dynamischer Apparat, der funktional zwar das Ich ermöglicht, strukturell jedoch nicht konservierend, abbildend, fixierend und bewahrend arbeitet, sondern modular und momenthaft Inhalte auf der Basis von Erregungsmustern generiert. Wenn dies nach spezifischen Gesetzen, die Ribot fein säuberlich erarbeitet, geschieht, entsteht eine gesunde Psyche im Sinne eines kohärenten Ichs. Dieses ist damit gleichwohl nur ein sich selbst evozierender Effekt, eine gestalthafte Erscheinung. Der Mechanismus ist als Ablauf von Impuls – Aktivierung – Verschmelzung – Überformung zu denken. Den gegenwärtigen Empfindungen (Impuls) werden durch die mémoire unbewusst konstruktivistisch-assoziative images zugespielt. Dabei organisiert sie flexible Empfindungseinheiten, die, je nach momentaner Situation, assoziativ neu gebildet, aktiviert (Aktivierung) und dem Bewusstsein zugeführt werden (Verschmelzung). Und die derart im Zusammenspiel mit aktualen Wahrnehmungen gebildeten Ereignisse wiederum bilden die momenthaften Erlebnisbausteine der Sequenz, die dann letztlich als »Ich« erfahrbar 307 Wie Wolf Singer aus der Perspektive der neuen Hirnforschung das Gedächtnis im Jahr 2000 charakterisierte. Hier wie auch an vielen anderen Stellen ist eine Parallele zwischen heutiger Hirnforschung und den historischen Positionen zu erkennen. Zit. nach Hülk 2007, S. 177. Zu den Parallelen vgl. Hülk 2007, Assmann 1999, Schmidt 1991. 308 Vgl. dazu auch Thielemans 2000, S. 32 f. 309 Vgl. Taine 1892, Bd. I, S. 151. Auch Thielemans hebt diese Metapher hervor  ; vgl. Thielemans 2000, S.  32 f. 310 Ribot 1906, S. 13 f. 311 Ribot 1906, S. 20. 312 Vgl. zur Metapher des Kaleidoskops bei Taine Hülk 2012, S. 129. 313 James 1995, S. 214.

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wird. Ganz ähnlich wie Baudelaire die von naïveté geprägte erinnernde Wahrnehmung des Malers als Zusammenspiel von Wahrnehmung und mémoire geschildert hatte,314 entwirft die Psychologie nun das grundsätzliche Funktionsmuster von Subjekt und Erinnerung. Die so gewonnenen Bewusstseinsinhalte finden ihrerseits wieder überformend Eingang in die mémoire. So verstanden, ist der psychische Apparat eine einzige nie stillstehende kreative Maschine, wie auch der junge und damals noch wenig bekannte Philosoph Henri Bergson 1896 schreibt  : »Ainsi, nous créons ou reconstruisons sans cesse.«315 Bildlich kann man sich die Reihe der Ereignisse, den Fluss der images, als linearen Strom vorstellen, der punktuell immer dort, wo die mémoire verzeitlichend images zuführt, in ein dreidimensionales Geflecht aufspringt. Dieses Zusammenspiel von gegenwärtiger Bewusstseinstätigkeit und Assoziationen aus der Erinnerung führt zu neuen Gedanken, Empfindungen und Ideen. Und diese hinterlassen ihrerseits wieder Spuren in der Erinnerung, welche dann wiederum das gegenwärtige Erleben beeinflussen und überformen. Vor allem führt das Zusammenspiel zu Momenten der gefühlten Ich-Identität.316 Diese können verstanden werden als Momente von Form oder Bild. Die Zeitgenossen haben das Medium der Erinnerung vielfältig als bildhaft identifiziert. Oftmals ist die Rede von unscharfen Fotografien, was sich allerdings als paradoxe Metapher erweist, denn einerseits impliziert die Metapher der Fotografie etwas Indexikalisches, andererseits verändere sich die »lebende Substanz« der Erinnerungen, wie etwa der Schweizer August Forel um 1900 im Rahmen seiner Engramm-Theorie schrieb.317 Sabine Haupt hat zudem auf den kriminalistischen Science-Fiction-Roman Dr. Berkeley’s Discovery aus dem Jahr 1899 verwiesen, in dem der Protagonist Dr. Berkeley, seines Zeichens Neurologe, unter sensationellen Umständen beweist, dass sich in der Erinnerung im Gehirn tatsächlich konkrete Bilder befänden, die mittels seiner wissenschaftlichen Erfindung aus dem Zellgewebe heraus entwickelt werden könnten.318

314 Vgl. dazu Kap. 3.1. 315 Bergson 1990, S. 113. 316 In seiner Untersuchung zur Vorgeschichte der französischen Phänomenologie identifiziert auch Waldenfels einen prozessualen und zirkulären Mechanismus von Geistestätigkeit im Gegensatz zu vormals statischen Modellen  : »Die Vernunft ist nicht mehr ein Arsenal fertiger und unabänderlicher Formen, die sich der Mannigfaltigkeit des Gegebenen aufprägen, sondern ein geschichtlicher Prozess, der die Erfahrungswirklichkeit in bewegliche Relationen einfängt und dabei der Faktizität in Gestalt eines ›nicht-relationalen Bodens‹ (J. Wahl, Vers le concret, S. 6) Raum lässt. Vernunft und Erfahrung durchdringen sich in einem zirkulären Prozess, der in Etappen abläuft.« Waldenfels 1998, S. 19 f. 317 Vgl. Haupt 2006, S. 101 f. 318 Vgl. Haupt 2006, S. 106–108. Dieses Motiv hält sich über einige Jahre in der Literatur, so führt Haupt auch den Roman La machine à lire les pensées von André Maurois an, der allerdings weit nach der Jahrhundertwende, 1937, erscheint. Hierin geht es ebenfalls um die Fiktion der Sichtbarmachung von Gedanken. Hervorzuheben ist bei diesem Roman die synästhetische Dimension, denn zunächst gelingt es nur, Gedanken in hörbare Laute zu übersetzen. Dies ist allerdings nur die Vorstufe zum optischen Prozedere. Vgl. Haupt 2006, S. 115 f.

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Abb. 19  Sigmund Freud, Skizze zur Architektur der Hysterie, Anlage zu einem Brief an Wilhelm Fließ vom 25. Mai 1897

Die Psyche des »Ichs« lässt sich auf diese Weise bildlich als kinetisches Gewebe aus inneren Bildern vorstellen. In diesem Gewebe oszillieren und überformen sich beständig gegenwärtige und vergangene Inhalte und formen konstruktivistisch aus Wahrnehmungen innere Bilder. Als »Ich« erfahrbar wird dieses permanent bewegliche Gewebe nur durch einen künstlichen Eingriff des Bewusstseins, der das Ganze kurzzeitig stillstellt.319 Die Komponenten der mémoire kommen damit energetischen Erregungsmustern auf Nervenebene gleich, die je nach Impuls als image im Bewusstsein aktiviert und durch jede Aktivierung ihrerseits überformt werden. Dieser Mechanismus des Geschichteten, endlos sich Überformenden und Oszillierenden wird später von Sigmund Freud, der in den 1890er Jahren in Paris Psychologie studierte, in die Theorie der Erinnerung als Wunderblock überführt werden, die er 1925 publiziert.320 Aus dem Briefwechsel mit Wilhelm Fließ geht allerdings hervor, dass Freud bereits ab 1896 an diesem Modell arbeitete.321 Im Briefwechsel 319 Vgl. zu dieser Lesart der historischen Texte, wonach die Gedächtnisaktivität innerhalb des Subjekts als Dynamik innerer Bilder, als »unablässige Kinetik oder Prozessualität« zu denken ist  : Hülk 2007, S. 173 und Hülk 2012, S. 131. 320 Erstveröffentlichung  : Notiz über den »Wunderblock«, in  : Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, Bd. 11 (1), 1925, S. 1–5. Vgl. dazu Schuller 1993, S. 151 f. 321 Vgl. dazu Schuller 1993, S. 151.

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findet sich auch eine Skizze von Freud, die diesen Mechanismus der Erinnerung im Rahmen seiner Überlegungen zur Hysterie zu visualisieren versucht. Die Hysterie versteht er dabei als Ergebnis einer Form der gestörten Aktivierung und Umarbeitung von alten Erinnerungsinhalten (dem Verdrängten). Zur Veranschaulichung entwirft er ein Diagramm, welches ein ornamental-repetitives Muster zeigt, das sowohl das endlos Prozes­suale als auch die komplexe Oszillation zwischen Bewusstsein und Erinnerung veranschaulicht (Abb. 19).322 Der Akt der Erinnerung, der diese Gefüge punktuell stillstellt, bildet hierbei den zentralen Funktions-Mechanismus von Ich-Identität und mithin Form. Ribot vergleicht die Erinnerung an einer Stelle mit dem Sehen in der Zeit  : »la mémoire  : une vision dans le temps«.323 Die Arbeit der Erinnerung macht das Ich (als konstruierte Erscheinung) sichtbar. Mit dieser Metapher wird die Hervorbringung von etwas Sichtbarem analog gesetzt zur kohärenten Konstruktion von Erinnerung, was gleichbedeutend ist mit einer stabilen Identität. Die Metapher schließt also Identität und Form sowie Erinnern und Sehen miteinander zusammen. Das erinnert entfernt an Baudelaire, bei dem das Kriterium der guten art mnémonique war, dass sie etwas sichtbar mache  : »se fait voir«324. Auch Bergson betont 1902, dass das Erinnern und das Formsehen voneinander nicht trennbar seien. Abgeleitet aus seinen Erörterungen in Matière et mémoire schreibt er  : Ce serait se tromper étrangement ici sur le mécanisme de la reconnaissance que de croire que nous commençons par voir et par entendre, et qu’ensuit, la perception une fois constituée, nous la rapprochons d’un souvenir semblable pour reconnaitre. La vérité est que c’est le souvenir qui nous fait voir et entendre […] elle [la perception  ; M.G.] ne devient perception complète et n’acquiert une forme distincte que par le souvenir lui-même, lequel se coule en elle et lui fournit la plus grand partie de sa matière.325

Der Strom der Wahrnehmungsreize wird ebenso wie der Strom der inneren Bilder erst dann als Form oder Identität greifbar, wenn die Erinnerung ihn punktuell anreichert und so zur Form macht. Die Diskurse der Bewusstseinspsychologie und der Ästhetik treffen sich damit nicht nur hinsichtlich der Konzeptualisierung und Funktionsdefinition von mémoire als imaginativem Prinzip, sondern auch hinsichtlich der Kompetenz der mémoire, Identität und Form oder Bild überhaupt möglich zu machen. Vor allem Letzteres macht ihre Bedeutung als Strukturprinzip deutlich, als kreativ operierender Mechanismus jedweder identitärer, epis­ temischer und ästhetischer Formfindung, der überdies das Paradox zu leisten vermag, per

322 Vgl. Freud 1999, S. 263. 323 Ribot 1906, S. 34, Hervorhebung i.O. 324 Baudelaire 1976, Peintre, S. 699. Die Metaphorik des Sehens hält sich noch bis zu Freud, der die Seelentätigkeit im Allgemeinen vergleicht mit optischen Apparaturen. Vgl. Haupt 2006, S. 103. 325 Bergson 1902, S. 13, Hervorhebung M.G.

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se nicht stillgestellte Gefüge punktuell greifbar zu machen, ohne ihre Erregungsdynamik zu eliminieren. Die Thesen Taines und die Problematisierung der Erinnerung durch Ribot fließen rasch ineinander und haben innerhalb kurzer Zeit Eingang in das breitere gesellschaftliche Wissen gefunden. Klare Spuren finden sich in Magazinen und Tageszeitungen  ; so etwa in einem Artikel von Paschal Grousset. Der ehemalige communard und spätere dreyfusard, Freund von Jules Verne und selbst Autor von Science-Fiction-Romanen, publizierte 1885 unter dem Pseudonym Philippe Daryl in der damals populären Tageszeitung Le Temps einen Text über die Suggestion im Kontext der aktuellen Subjekt-Forschung.326 Bei der Frage danach, was die Persönlichkeit eines Menschen ausmache, gibt der Autor zu bedenken, dass es keinerlei ideelle oder transzendentale Basis für das »Ich« gebe  ; dieses sei alleine eine Kette von Zelltätigkeiten – mit denen Daryl Nervenprozesse und Empfindungstätigkeiten meint. Auch den Einwand, dass man sich doch immerhin auf der bewussten Ebene wie ein konstantes »Ich« fühle, lässt er zwar gelten, weist jedoch Schritt für Schritt nach, dass alles, auf dem das bewusste »Ich«-Gefühl beruhe – »volonté centrale, la mémoire continue et le caractère homogène« –, in sich weder stabil noch fixiert und damit nicht verlässlich konstant sei. Über die mémoire schreibt er »[…] c‹est un manuscrit palimpseste, où le texte le plus récent est assez lisible, mais qui peut laisser reparaître toute sorte d’écritures inconnues, si l’on applique les réactifs nécessaires.«327 Er kommt zu dem radikalen Schluss »Les expériences hypnotiques jettent donc un jour nouveau sur la nature intime de la volonté, de la mémoire et du caractère humain  ; elles montrent que la personnalité n’est véritablement ni définie, ni permanente, ni stationnaire  ; que le sentiment du libre arbitre est essentiellement flottante et illusoire, la mémoire multiple et intermittente.«328 Es ist evident, dass damit die Forschungsergebnisse von Taine und Ribot innerhalb weniger Jahre popularisiert worden sind und sich im allgemeinen Bewusstsein der Bevölkerung wiederfanden. Die Aufwertung der sentiments als grundlegender Funktionsmotor der menschlichen Psyche und die Kulmination des Diskurses in der mémoire affective

Die Aufwertung der sensations und deren Widerhall in den images und in der Folge die Erosion des metaphysisch begründeten Subjekts zugunsten eines flirrend-fragmentären Bilderautomaten ohne gesicherte Vergangenheit münden in eine grundsätzliche Aufwertung des emotionalen Apparates des Menschen. Hatte Taine die Gefühle noch eher allgemein behandelt, so gehen die Forscher um Ribot an eine differenziertere Betrachtung und heben die sentiments neben den images als grundlegende Elemente der Organisation der Psyche hervor. Damit zeichnet sich nach der Kräfteinversion von Bild und Idee mit der Etablierung der mémoire als Kern des Subjekts eine weitere radikale Umwälzung im französischen 326 Vgl. Daryl 1885  ; zu Paschal Grousset vgl. Laucou 2009. 327 Daryl 1885, o.S. 328 Daryl 1885, o.S.

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Diskurs ab. Dementsprechend ist es auch alles andere als zufällig, dass Ribot ausgehend von seinen Forschungen zur Erinnerung – 1894 erschien Recherches sur la mémoire affective – zwei Jahre später sein Grundlagenwerk zu den Emotionen, La Psychologie des sentiments, vorlegt, welches Serge Nicolas als Schlüsselwerk in Ribots Œuvre identifiziert.329 Ribot konstatiert in seiner Psychologie des sentiments zunächst, dass die »états affectifs« ebenso wie die »émotions et les passions« in der Forschung signifikant unterrepräsentiert seien.330 Nicht zuletzt liege dies daran, dass man sie nach der Herbart’schen Schule bislang bloß als Vorstellungserscheinungen, also als unselbständige, aus Vorstellungen hervorgehende Bewusstseinsinhalte bewertet habe.331 Mit Herbert Spencer, Alexander Bain und William James jedoch gelte es zu erkennen, dass »les sentiments ne sont plus une manifestation superficielle, une simple efflorescence  ; ils plongent au plus profond de l’individu«332. Bevor Ribot sich mit den verschiedenen Arten von sentiments und émotions und mit deren Klassifizierung und Charakterisierung, wie sie in der Forschung üblich war, beschäftigt, geht es ihm also darum, den grundsätzlichen Status der vie affective zu herauszuarbeiten. Im Kern bringt er hierzu drei Hauptthesen in Anschlag  : die Ursprünglichkeit, die Autonomie und die Omnipräsenz der Gefühle.333 Zum Beweis der Ursprünglichkeit legt er dar, dass die Gefühle ihren Ursprung in gerichteten physiologischen Prozessen haben, die als tendances vorstellbar sind und die ihre Spiegelung als sensations (basale Gefühle) und émotions (primitive und abstrakte Emotionen) haben.334 Die Gefühle, die als dynamische Phänomene zu verstehen sind, als Impulse, Bewegungen und Tendenzen, bilden damit eine grundlegende Einheit der Psyche. In einem zweiten Schritt geht er darüber hinaus und argumentiert, die sentiments seien nicht nur ursprünglicher als die Ideen, sondern in ihrer Veranlagung völlig unabhängig von den Ideen. Nicolas resümiert Ribots Grundanliegen  : »Elle [la vie affective  ; M.G.] précède en particulier la vie intellectuelle. L’intelligence et la sensibilité sont hétérogènes, irréductibles  ; elles ont chacun leur nature et leur propre fin.«335 Ribot fordert für die Psychologie der sentiments, die Letzteren als autonomen Apparat des Bewusstseins zu erkennen, der eigenständig neben jenem des Intellekts besteht. Entsprechend gilt es für Ribot zu untersuchen, von welcher besonderen Art die sentiments sind und welcher Eigengesetzlichkeit sie folgen. Trotz der Selbständigkeit der Gefühle geht Ribot aber nicht von einer radikalen Trennung zwischen Intellekt und Gefühl aus, sondern von einem konstitutiven Zusammenspiel der zwei Antagonisten. Dies ist nicht zuletzt darin begründet, dass die Gefühle kein örtlich oder inhaltlich fixiertes Vermögen seien, sondern gleichsam diffus an allen Stellen des Körpers stattfinden336 329 Vgl. Nicolas 2005, S. VI. 330 Ribot 1896, S. VII. 331 Vgl. Ribot 1896, S. VIII. 332 Ribot 1896, S. IX. Zuletzt hat Plas betont, dass auch Ribots Auseinandersetzung mit Schopenhauer zur Beschäftigung mit den Emotionen geführt habe. Vgl. Plas 2016. 333 Vgl. Ribot 1896, Kap. Introduction  ; vgl. dazu Nicolas 2005, S. V und Carroy 2016, S. 510 f. 334 Vgl. Nicolas 2005, S. VI. 335 Nicolas 2005, S. VII. 336 Vgl. Nicolas 2005, S. XIII.

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und von dort ins Bewusstsein gelangen können. Entsprechend betont Ribot den Anteil, den Gefühle bei nahezu allen psychischen Tätigkeiten haben, die traditionell als rational galten. So umfasst La Psychologie des sentiments Kapitel zu den sentiments moreaux (Kap. 2.VIII) oder auch den sentiments intellectuels (Kap. 2.XI). All diesen traditionell rational klassifizierten Prozessen ist laut Ribot stets auch eine affektive Dimension inhärent. Mit dieser gefühlten Dimension entstehen dann durch abstrahierende und kombinatorische Wechselwirkung mit Wahrnehmung und Intellekt Ideen und rationale Bewusstseinsinhalte.337 Damit ist jedem Bewusstseinsinhalt immer auch ein körperlich gefühlter Grundimpuls eingeschrieben – auch wenn dieser im Laufe des Abstraktionsprozesses, welcher in intellektuelle Ideen mündet, geschwächt wird.338 Im Umkehrschluss fragt Ribot zudem, ob es Gefühle gibt, die ohne geistige Zutat existieren, ob es also états affectifs purs gebe, Gefühlszustände, die völlig frei von konkreten Gedanken, Vorstellungen, jedweder geistigen Repräsentation seien. Er stellt sie sich offenbar als tendenziöse Gefühlsahnungen vor, die durchaus die Latenz zu Vorstellungen in sich tragen, diese jedoch nicht konkretisieren. Bezeichnenderweise verweist er zur Veranschaulichung dieses Phänomens auf die hauptsächlich suggestiv (also auch nur in der Latenz) verfahrende Kunst der Symbolisten.339

337 Vgl. die entsprechenden Kapitel bei Ribot. 338 Damit formuliert Ribot eine Theorie des Zusammenspiels von Gefühl und Ratio, welche lange nachwirken wird. Nicolas hat darauf hingewiesen, dass Ribot diese These auch in späteren Werken vertritt, etwa in der 1905 erschienenen Abhandlung La Logique des sentiments (vgl. Nicolas 2005, S. VIII). Ribot steht damit aber keineswegs alleine. Ein Niederschlag findet sich etwa bei dem Immunologen Ludwik Fleck, dem wir zentrale Gedanken zur historischen Epistemologie verdanken. Auch bei ihm findet sich die Auffassung, dass wissenschaftliche Erkenntnis in vielfältiger Weise immer auch emotional und stimmungshaft geprägt ist, wie er in seinem 1935 erschienenen Werk Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache ausführt. Mit dem Zweiten Weltkrieg jedoch und dem Missbrauch der Gefühle als manipulatives Werkzeug volksverhetzender Rhetorik und Propaganda durch die Nationalsozialisten waren die Gefühle erneut Ziel größten Misstrauens. In der Folge erlebten rationalistische Welt- und Erkenntnismodelle einen dauerhaften Aufschwung. Ähnliches ist aktuell angesichts von Populismus (pauschal verstanden als Inbegriff der Irrationalität und ergo der Emotionalität) zu beobachten. Die aktuellen Emotionsforschungen beschäftigen sich wieder mit dem Gefühl und kommen – wenn auch mit anderen Mitteln und ohne sich der historischen Vorläufer bewusst zu sein – zu ähnlichen Ergebnissen eines untrennbaren Ineinandergreifens von Ratio und Gefühl. Exemplarisch sei hier auf die kognitiven Emotionstheorien verwiesen, wie sie von Magda Arnold begründet worden sind. Weitere Literatur hierzu findet sich bei Hartmann 2010 und Plamper 2012. Im modernen Diskurs stehen sich indes neurobiologische Modelle und kognitive Emotionsmodelle tendenziell gegenüber, da die Bewertung (appraisal) einer Situation als Grundlage der Emotion stets kognitiv gedacht wird und ergo nicht neurobiologisch strukturiert sein kann. Aus der historischen Position Ribots lässt sich hierauf nicht präzise antworten, in den Theorien ist allerdings ein Konzept von Körper angelegt, das diesen als Träger eines großen Erfahrungswissens versteht. Der Körper wäre dann nicht biologisch standardisierter Reflex-Automat, sondern mit hohem Differenzierungsgrad lernfähig. Mit der Aufwertung des Körpers als Wissensträger weist Ribot auf die moderne Körperforschung voraus  ; vgl. dazu Vigarello 2016. 339 Zuletzt wurde dies von Carroy betont  ; vgl. Carroy 2016, S. 511 f.

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Binnen weniger Jahre wandeln sich Auffassung und Bewertung der sentiments also grundlegend. Was lange als Abwertung der Gefühle erschien, dass die Emotionen originär physiologischen Ursprungs seien, war in der Perspektive des historischen Diskurses nachgerade ein Befreiungsschlag, denn damit schien entgegen dem Intellektualismus bewiesen, dass die Gefühle eine genuin eigene psychische Kategorie sind, die in ihrer Verfasstheit unabhängig von der intellektuellen Sphäre zu verstehen ist und zudem an sämtlichen geistigen Aktivitäten ihren Anteil hat. Vom dämonischen und irrationalen Anhängsel der Ratio, als das die Gefühle lange gewertet wurden, werden sie auf diese Weise nach und nach zu eigenständigen Kategorien und erhalten spezifische Kompetenzen sowie Bewusstseinstätigkeiten zugeteilt.340 Entscheidend in vorliegendem Kontext sind, über ihre generelle Aufwertung hinaus, die Funktionen, die die vie affective in der menschlichen Psyche übernimmt, denn bei 340 Vgl. zu dieser Deutung Janßen 2007, S. 35 f. Eine konkrete Erklärung dieses Zusammenspiels, das zwar die Vorgängigkeit der Physis anerkennt, sie jedoch nicht zur Determinante werden lässt, kann Ribot allerdings nicht liefern. In den folgenden Jahren des Diskurses um die Gefühle wird – nicht widerspruchsfrei – dieses Problem zu lösen versucht. Wie Janßen gezeigt hat, wird eine befriedigende, im Sinne von hermeneutisch stimmige, Lösung erst nach der Jahrhundertwende, ausgehend von Freud, in der Psychoanalyse gefunden werden. Vgl. zu diesem Aushandlungsprozess Janßen 2007, S. 34–43. Grundsätzlich steht Ribot der James/Lange-Schule skeptisch gegenüber, mit der eine radikale Aufwertung des Physiologischen zuungunsten des Psychischen verbunden wird, also eine Umkehr der Deutungswege. Ribot plädiert dezidiert für eine »monistische« Haltung, die diese Pole als Teile eines Zusammenspiels versteht. Er erklärt  : »Il est évident que nos deux auteurs [William James und Carl Lange  ; M.G.], inconsciemment ou non, se placent au point de vue dualiste, tout comme l’opinion courante qu’ils combattent  ; la seule différence est dans l’interversion des effets et des causes l’émotion est une cause dont les manifestations physiques sont les effet, disent les uns  ; les manifestations physiques sont la cause dont l’émotion est effet, disent les autres. Selon moi, il y aurait un grand avantage à éliminer de la question toute notion de cause et d’effet, tout rapport de causalité et à substituer à la position dualiste une conception unitaire ou monistique. La formule aristotélicienne de la matière et de la forme me paraitrait mieux convenir, en entendant par matière les faits somatiques, par forme l’état psychique correspondant  ; les deux termes n’existant d’ailleurs que l’un par l’autre et n’étant séparables que par abstraction.« Ribot 1896, S. 112 f. Damit steht er in der Tradition von Herbert Spencer, der ebenfalls nicht von einer Körper-Geist-Trennung ausging. Zwar nimmt auch bei Spencer alles seinen Ausgang von der Physis. Das psychische System, das sich daraus entwickelt, verwandelt diese Impulse jedoch in komplexe psychische Mechanismen, die nicht physisch determiniert sind. Eine oft geäußerte Kritik an diesen Lehren hebt sogar darauf ab, dass sie nichts anderes vertreten würden als philosophische Modelle, mit dem einzigen Unterschied, dass sie durch die Physis die Metaphysik verdrängt hätten. Ob diese Kritik berechtigt ist, sei dahingestellt, sie belegt jedoch, dass die neue Psychologie zumindest, was das Potential der menschlichen Psyche betrifft, keine deterministischen Einschränkungen vornimmt. Vielmehr ergibt sich durch die Aufwertung der Physis eine Umstrukturierung der psychischen Funktionsabläufe (Imagination, Erinnerung etc.) sowie eine Neubewertung von bislang verworfenen Kategorien (Gefühle). Das Ergebnis ist weniger ein deterministisches Modell als vielmehr eines, das den tendenziell spekulativen Boden einer metaphysischen Ableitung verlässt und die menschliche Psyche in ihrem faktischen Zusammenspiel aus Körper und Geist, bewusst und unbewusst, Gefühl und Ratio, Wahrnehmung und Erinnerung zu greifen versucht. Vgl. Spencer 1881.

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einer Reihe von psychischen Abläufen identifiziert Ribot in den sentiments das steuernde An­triebs­prinzip.341 Die additive Darstellung des menschlichen Innenlebens wird so nach und nach erweitert zur Vorstellung eines komplexen Funktionsorganismus. Die Gefühle nehmen dabei eine prominente Rolle ein, denn sie werden durch Ribot unter anderem als Motor identifiziert, der vielschichtige Assoziationsprozesse, unter ihnen die Erinnerung und damit die Imagination, steuert. Daraus resultiert, dass die Vorstellungstätigkeit des Menschen, also die Verknüpfung innerer Bilder in der Erinnerung oder Imagination, als affektiv strukturiert gedacht wird.342 Ribot sieht in der Assoziation innerer Bilder sogar eine zentrale Funktion der Gefühle und leitet das entsprechende Kapitel in La Psychologie des sentiments ein mit den Worten  : »notre but actuel est de déterminer le rôle des états affectifs dans le rappel des souvenirs et l’association des idées. Leur importance comme facteur caché de la reviviscence a été reconnue par plusieurs auteurs contemporains«.343 Erinnerung ist mithin affektiv organisiert und die kreative Form der Erinnerung – die Imagination – folglich ebenso.344 Damit folgt Ribot der englischen sensualistischen Tradition und etabliert in Frankreich die Position, dass im Rahmen der Imagination stets ein emotionaler Faktor relevant sei.345 So geht Jean Philippe, der 1897 in einer experimentellen Studie zu ergründen suchte, wie sich die inneren Bilder in der Erinnerung konkret transformieren, ganz selbstverständlich von einer Steuerung durch zumeist unbewusste sentiments aus.346 Frédéric Paulhan geht sogar so weit, zu betonen, dass jeglicher Erfindung ein affektives Element innewohnt  : »C’est un caractère de l’invention, un caractère non pas absolument général, mais très fréquent, et, si l’on y regarde de près, presque essentiel, que d’être précédée,

341 Vgl. Nicolas 2005, S. VIII. 342 Vgl. Nicolas 2005, S. VIII. 343 Ribot 1896, S. 171. 344 In Frankreich war die Imagination lange für die irrationale Hervorbringung innerer Bilder zuständig. In ihrer paradigmatischen Setzung abseits des Rationalen kommt ihr seit jeher eine problematische Rolle zu, sei es, dass sie als bedrohlich empfunden wird, sei es, dass sie schlicht als nutzlos verhöhnt wird. (Vgl. Baumann 2011, Kap. »Französische Tradition der Imaginationswertung« und Janßen 2002.) In England herrschte traditionell hingegen eine weniger misstrauische Haltung der Imagination gegenüber vor – bereits Hobbes und Locke hatten sie als Pendant zur Erinnerung gedacht (vgl. Siegmund 2001) –, und so wundert es nicht, dass, den Franzosen voraus, in England schon in den 1860er Jahren völlig unaufgeregt die große Rolle der Gefühle als Motor der Imagination betont wurde. Gerade im Unternehmen, die genuine Eigenwertigkeit der Gefühle zu erörtern, wurde die Imagination so zu der Domäne der Gefühle schlechthin. Der Darstellung Perkys folgend, haben bereits ab den 1860er Jahren die Engländer Alexander Bain und J.M. Baldwin diesbezüglich die entscheidenden Impulse eingebracht. Die englische Psychologie vertrat die Ansicht, dass das Affektive nicht nur für die Qualifizierung einzelner images relevant ist, sondern vor allem auch für deren assoziative Verknüpfung, für deren imaginative Verkettung, also für die Grundlage jeglicher Kreation und Invention. So heißt es bei Bain, dass bei der Imagination notwendig ein »emotional element« (Bain 1868, S. 599) beteiligt sei und dass Imagination also zu definieren sei als »emotion-ruled combination« (Bain 1868, S. 602  ; vgl. Perky 1910, S. 424–427). 345 Vgl. Perky 1910, S. 426. 346 Vgl. Philippe 1897.

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préparée et accompagnée par des phénomènes affectifs«.347 Am Ende des Jahrhunderts waren Erinnerung, Imagination und Gefühl aufs Engste miteinander verklammert. So benennt Paul Souriau 1881 in seiner Théorie de l’invention die mémoire als eine der wichtigsten Bedingungen für die Invention und begründet dies damit, dass die Fähigkeit, etwas Neues schöpfen zu können, proportional mit dem Vermögen der Erinnerung verbunden sei. Denn diese halte keine fixierten Gedanken bereit, sondern »des idées vagues, fugitives, presque insaisissables, que nous avons à peine remarquées au moment où elles traversaient notre imagination«.348 Das heißt, die mémoire ist jenes Vermögen, das unfixiertes gedankliches Material verwahren kann und dafür überdies je nach Anlass oder Idee eine entsprechende Form finden und wieder aufrufen kann. Ähnlich argumentiert Lucien Arréat 1895 in seinem Buch Mémoire et imagination. Auch er lässt die Imagination substantiell in der mémoire gründen, wenn er schreibt, die Imagination verdanke sich »[…] à une constitution définie de sa mémoire, à son système d’images, d’origine affective et sensorielle, à son hérédité, à son tempérament […].«349 Auch Émile Peillaube betitelt 1910 ein ganzes Buch mit Les Images. Essai sur la mémoire et l’imagination und arbeitet deren Verwandtschaft und Analogie heraus.350 1901 greift Paul Souriau das Thema erneut in seinem Buch über die imagination de l’artiste auf und lässt seine Erörterungen, diesmal ganz analog zu Baudelaire, in der Behauptung gipfeln, die mémoire des Künstlers kopiere nie, sondern trage zum »effet esthétique« bei. Ja, überhaupt, »dans tout souvenir il y a de l’art.«351 Was auf den ersten Blick als bloße Umbenennung der Imagination in mémoire erscheinen könnte, erhält durch die oben geleistete Rekonstruktion seine angemessene diskursive Dimension. Die Funktionsweise und Verfasstheit der Imagination, die in aufklärerischer Tradition fein säuberlich in die dunkle Peripherie der menschlichen Psyche, nahe dem pathologischen Phantasma,352 platziert worden war, taucht nun unter der Bezeichnung mémoire und mit deren hervorgehobener Stellung als Herz der subjektiven Identität im Kern der Psyche auf. Eine derart radikale Translozierung, gleichsam von der wenig geschätzten Peripherie der Psyche hinein in das Herzstück menschlicher Bewusstseinstätigkeit, wertet diese Tätigkeit nicht nur auf, sondern wirkt wiederum auch massiv auf deren Verständnis zurück. Denn als zentraler Mechanismus der Psyche verhandelt die Erinnerung alle inneren Bilder, seien sie auch noch so alltäglich, und nicht mehr nur Bilder gezeichnet von Groteskem, Schönheit, Erhabenheit oder Abnormität, wie sie bisher Inhalt und Werkzeug der Imagination waren. Nachdem die aufklärerische Auffassung der sprachlich organisierten mémoire, die der Vernunft als gewissenhafter Speicher zuarbeitet und fern der unwägbaren Imagination zu 347 Paulhan 1911, S. 28  ; vgl. zu dieser Bilanz, dass Emotion und Vorstellungstätigkeit um die Jahrhundertwende essentiell miteinander verkoppelt werden, auch Janßen 2007, S. 37 f. und 42. 348 Souriau 1881, S. 119. 349 Arréat 1895, S. 168. 350 Peillaube 1910. 351 Souriau 1901, S. 47. 352 Vgl. Janßen 2002.

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verorten ist, nach allen Regeln der Kunst demontiert worden war, ist es nur folgerichtig, dass Ribot auch noch den letzten Schritt in dieser Richtung geht. Er widmet sich 1894 den Recherches sur la mémoire affective, in denen er die Frage stellt, ob die Erinnerung neben images und Gedanken und Ideen denn nicht auch Gefühle und affektive Zustände erinnern könne. Es ist eine Kuriosität des Diskurses, dass Ribot jetzt, anlässlich dieser Frage erstmals zu jenem Mittel greift, welches Taine bereits 1870 zur Erforschung der Psyche der Künstler ersonnen hatte  : »Tout peintre, poëte, romancier d’une lucidité exceptionnelle devrait être questionné et observé à fond par un ami psychologue.«353 Man solle Künstler systematisch zu ihrer schöpferischen Arbeit befragen. Tatsächlich versendet Ribot zur Erhellung seiner Frage nach der mémoire affective Fragebögen, und zwar vornehmlich an Künstler, um zu erfahren, ob diese jemals ein Gefühl wahrhaft erinnert hätten.354 Die besondere Verbindung dieses Vermögens mit den Künstlern ist so von vornherein angelegt. Die Frage nach der mémoire affective wird die wissenschaftlichen Zeitschriften, aber auch Autoren und Maler bis weit ins 20. Jahrhundert hinein beschäftigen.355 Prima vista muten diese Frage und die Diskussion, die sich an ihr entfacht, wenig nachvollziehbar an. Gerade sie hatte jedoch bereits innerhalb der aufklärerischen Tradition Beachtung erfahren, namentlich bei Maine de Biran, der ein solches Vermögen verneinte.356 In Maine de Birans Auffassung funktioniert die Erinnerung mittels abrufbarer Zeichen, da Gefühle aber nicht adäquat in Zeichen gefasst werden können, könnten sie auch nicht durch die Erinnerung wieder aufgerufen werden, sondern allenfalls durch die Imagination verhandelt werden. In Taines und Ribots Theorie gründen die Gefühlserinnerungen in physiologischen Abläufen  ; sie sind dem Körper per sensations und sentiments in Erregungsmustern eingeschrieben und können derart grundsätzlich wieder aktiviert werden. Die Frage der willentlichen und unwillentlichen Erinnerung beschäftigt zwar auch Ribot, eine Trennung zwischen mémoire und Imagination erkennt er jedoch, wie ausgeführt, nicht mehr an.357 Vor dem Hintergrund der aufklärerischen Diskussion dieser Frage wird klar, dass es bei Ribots Vorstoß nicht nur um die Möglichkeit der mémoire affective geht, sondern dass diese das entscheidende Phänomen ist für die grundlegende Umformulierung der menschlichen Psyche, in der Erinnerung und Imagination identisch zu denken sind. Denn wenn die Erinnerung grundsätzlich ein kreativer Mechanismus ist und die Imaginationstätigkeit nur eines seiner Facetten, dann wird der mémoire auch all jenes einverleibt, das zuvor fein säuberlich getrennt der Imagination zugesprochen worden war. Wie Perrin gezeigt hat, hatte bereits Taine dieses Thema, jedoch ohne es zu problematisieren, implizit gestreift. Sich selbst als Beispiel nehmend, schreibt Taine  : »La seule 353 Taine 1892, Bd. I, S. 13 f. 354 Vgl. dazu Carroy 2016, S. 514. 355 Vgl. dazu zuletzt Carroy 2016. 356 Vgl. dazu Dugas 1935. Den Hinweis auf Maine de Biran und wertvolle Gedanken zu dessen Position zur mémoire affective verdanke ich Philipp Engel. 357 Ein wesentlicher Aspekt der Debatte verhandelt die Frage, ob Gefühlserinnerungen willentlich angesteuert werden können oder, wenn überhaupt, nur unwillentlich möglich sind. Im Kontext mit Vuillard spielt diese Facette jedoch keine entscheidende Rolle. Vgl. dazu Thielemans 2000.

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chose qui en moi se reproduise intacte et entière, c’est la nuance précise d’émotion, âpre, tendre, étrange, douce ou triste, qui jadis a suivi ou accompagné la sensation extérieure et corporelle.«358 Perrin argumentiert, dass »chez lui [Taine  ; M.G.] en effet, la meilleure mémoire de Taine est moins celle des sensations que celle des sentiments.«359 Wo Taine noch anekdotisch-spekulativ schreiben konnte, steht Ribot 1894 vor der systematischen Frage, welcher Art affektive Phänomene sind, die aus der Vergangenheit im Bewusstsein wieder auftauchen. Sind die erinnerten Gefühle nur ein Abklatsch des ehemals Gefühlten, also eine abgeschwächte Form des Originals, verfügen sie noch über die volle affektive Kraft oder handelt es sich gar nicht um erinnerte Gefühle, sondern nur um jeweils neu evozierte Affekte, die durch erinnerte Rahmenumstände ausgelöst werden  ? Ribot nun vertritt vehement die Existenz einer Erinnerung, die mittels des assoziativen Prinzips vergangene Gefühle in ihrer vollen Kraft wieder ins Bewusstsein spülen könne. Das Thema etablierte sich binnen weniger Jahre und führte zu zahlreichen Publikationen.360 Vor allem stand die Frage im Raum, wie überhaupt unterschieden werden könne, ob eine Emotion wiederbelebt oder neu erlebt sei. Was bei Ribot also mehr oder minder als reines Desiderat in Angriff genommen worden war, führte über mehrere Stationen anderer Autoren 1904 dann zu der grundsätzlichen Untersuchung Paulhans über La Fonction de la mémoire et le souvenir affective (1904). Was bei Taine noch spekulativ und implizit angenommen worden war, entwickelt sich um 1900 zu einem wissenschaftlichen Thema. Zugleich wird es zu einem nur für eine kleine Gruppe von Menschen relevanten Phänomen. Denn, wie Ribot einräumt, sei das echte Gefühlsgedächtnis eine Gabe, über die nur die wenigsten Menschen verfügten. Es sei analog zum visuellen oder auditiven Gedächtnis, das unter den Menschen ebenfalls unterschiedlich ausgeprägt sei. Je sensibler jemand für sinnliche Phänomene sei, desto höher sei die Chance, über ein solches Gedächtnis zu verfügen. Ebenso wie vor ihm Taine meint er damit die Künstler. So ist es nicht verwunderlich, dass im fin de siècle das Phänomen der sinnlich-affektiven Erinnerung als Sonderfall der formstiftenden mémoire zum Inbegriff künstlerischen Schaffens geworden ist. Zwischen-Resümee  : Paradigmenwechsel. Die ästhetische Strategie der mémoire affecitve als Formfindungsproblem zwischen Bilderfluss und ­affektivem Erinnerungsgewebe

Halten wir das »wissenschaftsgeschichtlich flirrende Bild der anthropologisch und kulturell zentralen Variable mémoire«361, welches sich bis hierher ergeben hat, fest. Mit Baudelaire, Corot sowie den Schriften Taines und Ribots lassen sich rote Fäden im Diskurs erkennen, die wiederum adaptiert und überformt sowie um radikale Neuerungen erweitert wurden. 358 Taine 1892, Bd. I, S. 79. 359 Vgl. Perrin 1993, S. 78. 360 Ein Forschungsbericht zur mémoire affective findet sich bei Dugas 1904. 361 Hülk 2007, S. 173.

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Damit soll in Grundzügen eine Diskursentwicklung erkennbar werden, die ab der Mitte des Jahrhunderts eine deutlich bemerkbare Breitenwirkung entfaltet und in den Jahren zwischen 1890 und 1900 ihren Kulminationspunkt findet. Baudelaire hatte die aus romantischer Tradition stammenden Genie- und Schöpfungsgedanken zum Wesen und der Verfasstheit künstlerischer Schöpferkraft an sehr prominenter Stelle einer auf Introspektion basierenden Reflexion unterzogen, die protopsychologische Züge trägt. Dadurch gelangt er zur Betonung und Neuvermessung künstlerischer Imagination und darüber hinaus zur Erkenntnis, dass diese nichts anderes sei als eine bestimmte Form von mémoire. Der Erinnerung wird so die Imagination einverleibt und vornehmlich in Verbindung gebracht mit sinnlichen Gehalten. Die kreative Dimension der Erinnerung ist hierfür besonders sensibel, und entsprechend vermag sie auch insbesondere sinnlich-affektive Inhalte zu generieren. Eng damit verknüpft ist überdies die Doppelrolle der Erinnerung, denn sie steuert sowohl die Rezeption/Wahrnehmung als auch die schöpferische Produktion. Ausgehend von der Dictionnaire-Metapher, die im Peintre-Aufsatz voll entfaltet wird, ist die mémoire vorzustellen als Teil eines spezifischen Zusammenspiels von Wahrnehmung und Erinnerung, bei dem die Erinnerung Wahrgenommenes übersetzt und überformt. Dies führt zu ästhetischen Qualitäten der Synthese, der Konzentration, der Reduktion auf große Formen bzw. auf eine übergreifende Gesamtwirkung. An Corot wiederum wurde exemplarisch deutlich, dass Mitte des 19. Jahrhunderts auch im Bereich der Malerei eine starke Auseinandersetzung mit der Erinnerung als ästhetischem Prinzip stattfand. Parallel dazu verläuft die Entwicklung in den Malereitraktaten, die ihrerseits sukzessive aus dem Werkzeug mémoire ein zentrales schöpferisches Vermögen machen. Ebenso wie Baudelaire nimmt Corot seinen Ausgang von romantischen Traditionen. Hier ist insbesondere die rêverie zu nennen, die sich parallel zur mémoire als eine ästhetische Strategie erwiesen hat, die ein in die Moderne überleitendes Prinzip zu bilden vermag. Insbesondere diese Strukturverwandtschaft zwischen rêverie und mémoire ist auch als ein roter Faden des Diskurses zu erkennen und mündet in die Modelle der Psychoanalyse, die ihrerseits die Erinnerung und den (Tag-)Traum als eng verwobene Phänomene des Unbewussten deuten wird. Mehr noch als Baudelaire zielt Corot in seiner Auseinandersetzung mit der Erinnerung auf deren affektives und stimmungshaftes Potential. Corot kommt dadurch zu einer Stimmungs-Ästhetik, die unter anderem gekennzeichnet ist von dem Phänomen der Motivwiederholung sowie, auch hier anders gelagert als Baudelaire, einer Ästhetik der vagen Formfragilität, die den prekären Status von Form betont. Die Entwicklung des Bildes als flirrender Farbteppich birgt in dessen Fragilität etwas zeitlich Entrücktes, das der Erinnerung inhärent ist. Das Problem der Ungreifbarkeit von Erinnerung drückt sich überdies im unauflösbaren Changieren zwischen malerischer Eigenform und Gegenstand aus, das ebenso wie das Erinnern keine abschließende Vollendung kennt. Durch Corot ist damit der Grundstein zu einer sich in den folgenden Jahrzehnten entwickelnden paradigmatischen Ästhetik der Erinnerung gelegt. Taine und Ribot greifen nun auf all dies implizit zurück. Frappierend ist zunächst, dass sich die poetischen Strategien Corots und die introspektiven Thesen Baudelaires bei den Psychologen wiederfinden. An keiner Stelle ergibt sich ein Widerspruch. Das Spezifikum der

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psychologischen Debatten ist vielmehr eine Einverleibung und signifikante Überformung des bisherigen Diskurses. Ebenso wie Baudelaire und Corot gehen auch die Psychologen grundsätzlich von einer kreativen bzw. konstruktivistischen Tätigkeit der Erinnerung aus. Überformt wird diese Grundannahme durch die fundamentalen Umwälzungen, die die Vorstellungen von Subjekt, image, Gefühl und Erinnerung erleben. Durch die Aufwertung des Körpers und der neuronalen Prozesse geraten all diese Phänomene in eine absolute Verzeitlichung und Bewegung, werden dadurch zu nicht fixierten Entitäten, die keinen Identitäten-Kern haben.362 Dieser wird als Identitätsgefühl nur in kurzen Momenten durch einen künstlichen Eingriff der Psyche erzeugt. Dabei wird der Strom der images im Zusammenspiel mit der mémoire in einer amalgamierenden Überblendung stillgestellt und so als gestalthaft erscheinendes Ich sichtbar. Eine zentrale Rolle bei der Strukturierung und Funktionsweise dieses kinetischen Gefüges kommt nach der Logik der Psychologen dem Mechanismus der mémoire zu, der affektiven und sinnlichen Assoziationsgesetzen folgt. »Une mémoire riche et bien fournie n’est pas une collection d’empreintes, mais un ensemble d’associations dynamiques très stables et très promptes à s’éveiller.«363 An die Stelle statischer Denkmodelle tritt eine umfassende Emotionalisierung und Dynamisierung. Die mémoire affective als ein Gefühle erinnerndes Vermögen ist dabei bereits bei Baudelaire und Corot als poetisches Prinzip präsent, wenngleich sie erst Ende des 19. Jahrhunderts ihren Namen sowie die psychologische Theoretisierung erhalten wird. Jetzt tritt sie erneut in den Fokus als Bestandteil künstlerischer Kreativität und ästhetischer Wahrnehmung. Paulhan hat insbesondere Letzteres 1904 explizit thematisiert, nämlich dass zwischen mémoire affective und ästhetischer Erfahrung ein spezifischer Zusammen­ hang bestehe.364 Denn das ästhetische Wohlgefallen, seit Kant als interesselos und aus dem freien Spiel der Erkenntniskräfte bestehend gedacht, erscheint so auf Basis der psychologischen Erinnerungsforschung erklärbar. Derjenige Blick auf die Welt, welcher frei ist von Begrifflichem und Utilitaristischem (interesselose Kontemplation), nimmt die Reize und Eindrücke unverstellt auf, lässt sie in die Psyche strömen, wo diese dann mit den in der mémoire abgelagerten früheren sinnlich-affektiven Erregungsmustern abgeglichen werden und je nach affektiv-assoziativer Übereinstimmung mit dem aktuellen Wahrnehmen verschmelzen. Derart entstehen, gespeist aus der Erinnerung, besonders intensive images. In diesen tritt ihre sinnlich-affektive Dimension hervor, und sie tragen trotz ihrer flüchtigen Momenthaftigkeit die Prägung zeitlicher und atmosphärischer Verdichtung an sich. Insbesondere Bergson kreist mit seinen zwei Arten von mémoire um dieses Phänomen, denn im Gegensatz zur habituellen (handlungs- und nutzenorientierten) Erinnerung ermöglicht die kontemplative Aufmerksamkeit die »Versenkung in den Erlebnisstrom des reinen Gedächtnisses«, welches lebensabgewandt in einen traumartigen Zustand persönlicher Erinnerung führt.365 Unübersehbar schlägt sich dies im Werk von Proust nieder, 362 Aus kulturhistorischer Perspektive  ; vgl. zur Bewegung Hülk 2012. 363 Ribot 1906, S. 20. 364 Vgl. Paulhan 1904, S. 69 und Terdiman 1993, S. 188. 365 Vgl. dazu Koch 1988, S. 126. Im Unterschied zu Baudelaires »echter« und nicht habitueller Erinnerung

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vornehmlich in der Recherche (geschrieben 1908/09 bis 1922). Wie die Proust-Forschung rekonstruiert hat, hat Proust sich jedoch von Beginn seines Schaffens in den 1890er Jahren an, damit beschäftigt, aus der Erinnerung ein ästhetisches Verfahren abzuleiten.366 Der junge Proust publizierte in den frühen 1890er Jahren unter anderem in der Revue blanche, einer progressiv-intellektuellen Zeitschrift, zu deren engsten Zirkeln auch Vuillard gehörte.367 Neben der Funktionsweise der Psyche und der Qualität ihrer Inhalte ändert sich auch das zugrunde liegende Strukturprinzip. Denn die Ablösung einer statisch klar konturierten Vorstellung von Subjekt zugunsten eines dynamisch-kinetischen Subjekts, das in permanenter sinnlich gespeister und gesteuerter Performanz begriffen ist, bleibt nicht ohne Einfluss auf die grundlegenden Vorstellungen bildender Kunst. Das solcherart neu verstandene Subjekt wendet sich dem zu, was »aus der Innenperspektive nur mehr prozessual und aktional zu erfahren ist, nicht mehr Repräsentation, sondern […] wie Martin Seel mit Valéry sagt, performative ›besondere Präsentation von Präsenz‹«.368 Es geht um die ästhetische Urbarmachung der Vorstellung der »Prozessualität innerer Bilder, die nicht nachahmt, sondern augenblicklich konstruiert«369. Die revidierte Sicht des Subjekts als nicht mehr vermessbares und fixierbares Gefüge, das permanent in kreativ-kinetischer Bewegung begriffen ist, löst mithin statische kulturelle Systeme der Abbildung, Darstellung und Repräsentation ab und führt im Feld der bildenden Kunst zu dem Versuch, in ästhetischer Praxis diese dynamisch-affektiven Erinnerungsgewebe medial einzufangen. ist jene Bergsons detailgetreu. Im Unterschied zur mémoire affective der Psychologen wiederum spielt das Affektive bei Bergson keine hervorgehobene Rolle. 366 Vgl. zur diskursiven Verbindung zwischen Proust und der Psychologie Perrin 1993  ; Terdiman 1993  ; Bizub 2006  ; Engel et al. 2010 und Carroy 2016. 367 An dieser Stelle wird erkennbar, dass die Diskurse zur mémoire, die für Vuillard relevant waren, auch jene sind, die mit Prousts Recherche in Verbindung gebracht werden. Beide Männer wiederum verkehrten in ähnlichen Kreisen, sodass es durchaus lohnen würde, genauer nach Verbindungen zwischen Vuillard und Proust zu suchen. Eine Reihe von Indizien weist darauf hin, dass eine solche Untersuchung lohnend wäre. Heather McPherson hat 1991 erste Schritte unternommen, um Vuillard und Proust unter ästhetischen Gesichtspunkten in Beziehung zu setzen, ohne jedoch auf die mémoire zu sprechen zu kommen (McPherson 1991). Bekannt ist jedenfalls, dass Vuillard und Proust sich kannten, da beide im Kreis der Revue blanche und später im Kreis des Antoine, Prince Bibesco verkehrten. Zudem ist überliefert, dass Proust das Werk Vuillards sehr schätzte, und die Forschung diskutiert bisweilen, ob für den Maler Elstir in Prousts Recherche neben anderen Malern auch Vuillard Vorbild gewesen sein könnte. Neben dem Interesse für die mémoire hegten beide überdies ästhetische Vorlieben für Vermeer und Chardin, wie auch beide den Blick nach Venedig richteten. Roger-Marx weiß zudem zu berichten, dass es noch weit im 20. Jahrhundert den Plan gab, Vuillard für die Illustration eines Abdrucks von Du coté de chez Swan in der Nouvelle Revue Française zu gewinnen. Dieses Projekt kam jedoch, vermutlich aus publizistischen Gründen, nicht zustande. Vgl. zu Vuillard und Proust Painter 1980  ; McPherson 1991  ; Loyrette 1999  ; Michel-Thiriet 1999  ; Heilbrun 2002  ; Karpeles 2010  ; Yoshikawa 2010  ; Akat. Vuillard, New York 2012  ; Sundberg 2013. Proust selbst bezieht sich 1919 in einem Brief an Jacques Émile Blanche auf Vuillard  ; vgl. Proust 1977, S. 380. 368 Hülk 2007, S. 172. 369 Hülk 2007, S. 174.

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Es geht nun viel grundsätzlicher um die Frage, wie Form überhaupt möglich ist. Wie etwas »se fait voir«370, also gestalthaft sichtbar werde, wie Baudelaire bereits gefragt hatte. Analog zur philosophischen und psychologischen Frage danach, wie mit diesem neuen Verständnis menschliches Denken und Erkenntnis (verstanden als begriffliche Form) aus dem assoziativ ausufernden Bilderstrom möglich ist, fragt sich auch für die Kunst, wie aus diesem strudelnden Fluss und affektiver Endlosvernetzung eine gehaltvolle Gestalt zu gewinnen ist  ? Und ist dies überhaupt möglich oder bietet eine präzise Stillstellung, sei es durch Kunst oder gedanklich-sprachliche Fixierung, nur defizitäre, der Affektivität beraubte Fragmente einer medial nicht einzufangenden Bewusstseinswelt  ? Auch Bergson beschäftigte dieses Problem seit den späten 1880er Jahren wiederholt. Wie ist es möglich, von jener komplexen, per se unfixierbaren Bewusstseinsdynamik zu einer stillgestellten Form, einem Begriff, einer Idee, einer Erkenntnis zu kommen  ?371 Diese Paradigmenwechsel stellen nicht nur die Philosophie und die Psychologie vor große Fragen, sondern, wie Hülk im Hinblick auf die Malerei betont hat, auch die Sphäre des Ästhetischen, »weil sich mit ihnen das Problem der Re-Präsentation von Ereignissen stellt, die wenn überhaupt in Bildern, nur in Bewegungsbildern dargestellt werden können und grundsätzlich die Frage nach der Möglichkeit ihrer Formgebung aufwerfen.«372 Ein Gepräge, welches nicht stillgestellt ist, stellt automatisch eine Problematisierung des Formbegriffs in der Kunst dar. Die Form muss nun die gleichsam paradoxalen Anforderungen erfüllen, einerseits eben eine erkennbare Gestalt anzunehmen und andererseits werkimmanent und rezeptions­ ästhetisch das per se nicht formal stillgestellte dynamisch-kinetische Strukturprinzip des affektiven Erinnerungsgewebes erfahrbar zu machen. Das topische Telos der klassischen Moderne, die Frage nach der Form, ergibt sich so auf gänzlich anderem Weg. Sie stellt sich nicht auf der Basis eines selbstbezüglichen l’art pour l’art, sondern vielmehr aus der Notwendigkeit heraus als Erkenntnisprozess dar und ist als Problem der Formfindung zu verstehen. In dieser Weise geht es nicht um die Frage »Form oder Inhalt  ?«, sondern der Inhalt bzw. dessen Qualität korreliert signifikant mit der Form. Denn im psychischen Prozess ergibt sich Form als punktuelle Verschmelzung von Bewusstseinsinhalten, die affektiv strukturiert ist. Das Gepräge und der affektive 370 Baudelaire 1976, Peintre, S. 699. 371 1889 erschien Essai sur les données immédiates de la conscience, in dem Bergson eine ausführliche Diskussion der Position der psychologischen Forschung vornimmt und die Grundlagen für sein bewusstseinsphilosophisches Werk legt. Dieses arbeitet er bis weit ins 20. Jahrhundert aus  ; im Essay Introduction à la métaphysique, der 1903 in der Revue de métaphysique et de morale erschienen ist, heißt es über den Prozess der Intuition als notwendige Vorstufe jedweder Episteme etwa, hierzu sei das spezifische Zusammenspiel der images notwendig  : »Nulle image ne remplacera l’intuition de la durée, mais beaucoup d’images diverses, empruntées à des ordres de choses très différents, pourront, par la convergence de leur action, diriger la conscience sur le point précis où il y a une certaine intuition à saisir.« Bergson 1938, S. 185. 372 Hülk 2007, S. 181. Dass die Infragestellung der Form praktisch in allen Bereichen, von der Physik bis zur Architektur und Politik, zu Paradigmenwechseln führt, ist bei Kern in seiner kulturhistorischen Studie zu Zeit und Raum zwischen 1880 und 1918 nachzulesen  ; vgl. Kern 1983, S. 181–210.

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Gehalt der Inhalte (Wahrnehmungen, Vorstellungen, Erinnerungen etc.) prägt dabei den Verschmelzungsprozess und damit die Form. Auch im Gegensatz zum Narrativ der klassischen Moderne hat diese Hinwendung zur Form nichts mit einer gefühlskritischen Abstraktion zu tun, sondern ist durch und durch sowie konstitutiv von sinnlich-affektiven Momenten und Dynamiken geprägt. Es geht also um eine Art Form, die zugleich energetisch-affektiv aufgeladen ist. Sie wird ausbalanciert sein müssen zwischen Fixierung und kinetischer Bewegung, um einerseits den so beschaffenen Bewusstseinsinhalten gerecht zu werden, andererseits jedoch überhaupt fassbar zu sein. Damit wird sie auch ein maximales Potential sinnlich-affektiver Energie bergen. Was keiner der Psychologen zu beantworten wusste, ist die Frage danach, was genau die Erinnerung mit den inneren Bildern macht, was ganz konkret die »transformations de nos images mentales«373 sind, wie Jean Philippe 1897 fragte. Jahrzehnte vor der Erfindung moderner bildgebender Verfahren konnte die Wissenschaft hierzu kaum sinnvolle Antworten geben. Dieses Feld war ganz den Künstlern überlassen.

373 Philippe 1897. Auch die Forschung im 20. Jahrhundert beschäftigt dieses Frage erneut, vgl. etwa aus kunstpsychologischer Sicht Arnheim 1972, S. 86 f.

4 Édouard Vuillard und die Ästhetik der mémoire  : Ein vergessenes Kapitel der französischen Kunst 4.1 Das Textile als Reflexion von Gemälde und inneren Bildern (images) Das Motiv der versunkenen Handarbeit im Kontext der Bildtradition

Kehren wir zurück zur Tabula rasa, die Vuillard 1891 in Au lit bereitet hatte, und zu seinen Gedanken zum Malen nach der mémoire. Vuillard war hier auf die Frage gestoßen, welchen Anteil die Psyche bei der Hervorbringung und Rezeption von Gemälden hat. Wie das spezifische Verhältnis zwischen inneren Bildern aus der Erinnerung und Gemälden vorzustellen sei. Dabei richtete sich sein Augenmerk auf die zentrale Rolle der mémoire. Die Analyse des Diskurses hat gezeigt, dass eine strukturelle Umdeutung von Imagination als mémoire stattgefunden hat und die mémoire seitens der Psychologie als sinnlich-affektiver Bilderstrom vorgestellt wird, der in eine oszillierende Austauschbeziehung mit der Wahrnehmung tritt. Dies zieht bereits bei Corot eine neue Ästhetik nach sich und wird im psychologischen Kontext zum Teil einer grundlegenden Infragestellung von Identität, verstanden als Form. Zu rekonstruieren ist nun, wie Vuillard in seiner Auseinandersetzung mit der mémoire, der daraus resultierenden modernen Vorstellung von Innerlichkeit und der kunsthistorischen Darstellungstradition zu seinen Bildfindungen kommt. In diesem Kapitel wird Folgendes gezeigt werden  : In einem ersten Schritt reflektiert Vuillard am Motiv der versunkenen Kontemplation und in Auseinandersetzung mit dessen Bildtradition das Wesen von Kontemplation, verstanden als ästhetische Wahrnehmung. Durch die Wahl des Motivs der Handarbeit, für das Vuillard durch Jan Vermeers Spitzenklöpplerin (1669–1671) sensibilisiert wurde, verknüpft er die Medien Malerei und Textil. Diese Motivwahl ist für die Auseinandersetzung mit der mémoire bedeutsam. Denn die kulturhistorische Semantik des Textilen weist dieses als strukturanaloge Metapher für das Innerliche der Psyche und die mémoire aus. Aus der Auseinandersetzung mit dem Versunkensein wird so ein komplexes semantisches Feld, in dem sich Medienreflexion und die Visualisierung introspektiv reflektierter Innerlichkeit treffen. 1895 entsteht Marie Roussel brodant à contre-jour (Tf. 13). Man sieht die Schwester Vuillards, die den mit Vuillard eng befreundeten Maler Ker-Xavier Roussel geheiratet hatte, bei der Handarbeit. Ihre Aufmerksamkeit liegt gänzlich bei ihrer Tätigkeit, die Körperhaltung spiegelt die innere Fokussierung wider  ; alles wendet sich der Arbeit zu, und ihr Oberkörper bildet fast eine Art schützenden Raum. Dieser intensiv inszenierten Aufmerksamkeit steht spannungsvoll gegenüber, dass der Betrachter aus dem Bild nicht erfahren kann, woran Marie so versunken arbeitet. Im Gegenzug nimmt der weiße, ornamental durchwirkte Vorhang einen großen Teil des Bildes ein. Dieser Vorhang ist bezeichnenderweise ebenfalls das Ergebnis einer minutiösen und kleinteiligen Handarbeit wie der

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Stickerei. So stellt der Betrachter automatisch eine Verbindung her zwischen dem, was ihm das Bild zu sehen gibt – den Vorhang, die handarbeitende Marie –, und dem, was er nicht sehen kann, was Gegenstand der Handarbeit ist. So assoziiert er Maries Handarbeit mit einer Arbeit an Stoff wie dem Sticken. Der im Bild dargestellte Vorhang visualisiert also die imaginative Eigentätigkeit des Rezipienten in Bezug auf die nicht sichtbare Handarbeit Maries. Und zugleich visualisiert er die innere Vorstellungswelt Maries. Denn der Betrachter ergänzt imaginativ nicht nur die Tätigkeit Maries, sondern zudem auch das, was in ihr, vor ihrem inneren Auge, vor sich geht. Analoges wäre etwa auch bei Intérieur, couseuse von 1895 (Tf. 14) zu beobachten. Ein Blick auf Vuillards Malerei der Zeit zwischen 1890 und 1900 genügt, um festzustellen, dass er sich wiederholt dem Thema der versunkenen Kontemplation wie auch der Schneiderinnen gewidmet hat. Dies ist auch von der Forschung erkannt und zumeist damit erklärt worden, dass die Arbeit mit Stoffen für Vuillard omnipräsent war aufgrund des in der Wohnung der Vuillards untergebrachten Schneiderateliers der Mutter.1 Insofern habe Vuillard das malerisch aufgegriffen, was ihn täglich umgab. Diese biografische Evidenz führte dazu, dass das Motiv zu wenig in seiner Eigenwertigkeit befragt worden ist.2 Dies verwundert umso mehr, als Vuillard ganz offensichtlich anhand des Themas der Kontemplation in Verbindung mit Stoff, Schneidern und Handarbeit Grundzüge seiner dekorativ-ornamentalen Ästhetik entwickelt hat. Zudem hätte Vuillard aus dem, was ihn alltäglich umgab, auch zu anderen Motiven finden können. Die über biografische Erklärungen hinausgehende Frage nach der Korrelation zwischen Motiv und Ästhetik läge also nahe. Zur Rekonstruktion dieser Strategie ist der Blick auf die Auseinandersetzung mit der kunsthistorischen Tradition und auf die Entwicklung dieses Motivs bei Vuillard sinnvoll. Ein Großteil der Gemälde Vuillards zeigt in konzentrierte Arbeit versunkene weibliche Figuren. Während der Maler bisweilen hinter diesen steht, zeigt er sie ebenso oft von schräg vorne. Anzuführen wären hier etwa Intérieur, couseuse (Tf. 14), aber auch frühere Werke wie Marie penchée sur son ouvrage dans un intérieur (Tf. 3). All diesen Kompositionen ist gemein, dass sie – ähnlich wie in Au lit (Tf. 6) – einen unverstellten Blick auf ein Bildmotiv freigeben, dessen Fokus gleichzeitig ausdrücklich unzugänglich bleibt. So wird die Aufmerksamkeit der Bildbetrachtung zurückgeworfen, sie wird introspektiv gewendet auf die eigene Suchbewegung nach dem fokussierten, aber dem Blick entzogenen Phänomen. Bevor Vuillard sich auf die Schneiderinnen konzentriert, malt er zunächst in Tätigkeit versunkene Figuren ohne motivischen Bezug zum Textilen. 1891 etwa entsteht ein Porträt des befreundeten Regisseurs und Schaupielers Aurélien Lugné-Poe, mit dem zusammen der Maler in diesen Jahren an symbolistischen Theaterprojekten arbeitete (Tf. 15). Nicht nur motivisch, sondern auch stilistisch unterscheidet sich das Gemälde von den Werken, die um das Textile kreisen. Lugné-Poe kauert dicht an der Kante eines Tisches über einem Stück Papier, seine Hände, wie auch sein Gesicht, sind hingebungsvoll darauf bezogen. Ob er liest oder schreibt, ist nicht zu erkennen, wie auch der Fokus seiner Aufmerksamkeit 1 2

Easton 1989 hat zum Schneideratelier der Mutter umfassend Geschichte und Details rekonstruiert. Vgl. Easton 1989, S. 34 f.

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Abb. 20  Jean-Baptiste Camille Corot  : Lesendes Mädchen, um 1850/55, Öl auf Leinwand, 46 x 38,5 cm, Sammlung Oskar Reinhart »Am Römerholz«, Winterthur

unmöglich zu identifizieren ist. Die dicht gedrängte Komposition aus fast bildparallelem Tisch und kompaktem Körper des Regisseurs hat ihr Zentrum dort, wo Papier, Hände und Gesichtsfeld zusammenkommen. Nicht nur die weiche, ondulierende Linienführung läuft auf diesen Punkt zu  ; auch der effektvoll verschattete Tisch, die Faltung der Kleidung, vor allem aber die Hände inszenieren diesen Punkt. Auch der Lichtschimmer, welcher Hände, Papier und eine Partie des Gesichts einnimmt und sie in Nuancen der hellen Farbe eintaucht, entspringt hier. Gleichzeitig verweigert es das Bild, Lugné-Poes Tun zu konkretisieren. Es bleibt explizit unersichtlich. So tritt nicht sein konkretes Tun, sondern dessen Wesen in den Vordergrund  : ein Vertieftsein in vollster Konzentration, dabei jedoch nicht verkrampft, sondern gleichermaßen angespannt wie geschmeidig – fast mit dem Objekt der Wahrnehmung verschmelzend. In der Behandlung dieses Sujets kann Vuillard auf eine lange Bildtradition zurückblicken, in der das Motiv der Lesenden, unter anderem wiederum von Corot, hervorzuheben ist. Etwa Corots Lesendes Mädchen von 1850/55 (Abb. 20) kann hierfür als programmatisch gelten. Ebenso wie im Bildnis von Lugné-Poe wird die Lesende bei Corot in beruhigter Haltung und Bildkomposition gezeigt  ; klare Linien und die Faltung ihrer einfachen Kleidung münden in ihrem Schoß, dort, wo das Buch aufgeschlagen liegt und ihre Versunkenheit gründet. Ebenso wie Vuillard hat Corot eine Vielzahl solcher Motive gemalt, und

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er spüre dabei, so Vincent Pomarède, »[…] der flüchtigen Emotion nach, die sich beim Lesen eines Briefes oder beim Hören eines Musikstücks für den Bruchteil einer Sekunde einstellt.«3 Kerstin Thomas hat diese These anhand der Lesenden in der Natur untermauert und vor allem dahingehend erweitert, dass die Gemälde nicht bei der Vergegenwärtigung dieser emotionalen Zustände stehen bleiben, sondern mit einer »rezeptionsästhetischen Aufforderung« einhergehen, die dem Betrachter den Nachvollzug des im Bild verhandelten Modus der rêverie nahelegen.4 In Bezug auf die Motivgruppe der Lesenden wird dies ausgelöst durch die dezidiert beruhigte Bildanlage, in der oftmals aus leichter Untersicht die Lesende fast monumental und damit ostentativ in sich ruhend ins Bild gesetzt wird. Evokativ begleitet wird dies durch eine dezente Farbpalette, ruhige, aber nicht leblose Flächen, filigrane Details der jungen Frauen und in deren Kleidung und Haarschmuck, kleine Details in Haltung und Mimik,5 aber auch achtsam eingefügte Landschaftselemente, die den Blick in die sacht hügelige Ferne schweifen lassen. Corot ist Vuillard hier insofern verwandt, als es offenbar nicht um eine illusionistisch präzise Vision geht und auch nicht um ein ikonografisch lesbares Gemälde. Vielmehr war es auch Vuillard darum zu tun, in seiner ästhetischen Anverwandlung jene Versunkenheit des Freundes nachzuvollziehen und derart ins Bild zu setzen, dass sie auch den Rezipienten zur Nachahmung anregte. Mehr noch als bei Corot hat es bei Vuillard den Anschein, dass auch die Schaffensweise von diesem Modus geprägt war. Denn der Verzicht auf Details, auf eine weite Farbpalette und auf Präzision und stattdessen die Konzentration auf wenige Farben, auf weich ondulierende Formen und Flächen im Bild regt nicht nur eine sinnliche Versenkung an, sondern scheint auch aus einer solchen hervorgegangen zu sein. In der Nachempfindung des kontemplativen, im Gegenstand aufgehenden Zustandes von Lugné-Poe nimmt der Maler also eine analoge Stimmung, und er wählt diese als Ausgangspunkt für seine Bildfindung, die wiederum den Rezipienten anregt. Das Motiv der Versunkenheit als Reflexion von ästhetischer Wahrnehmung

Wie aber ist diese Versunkenheit zu Zeiten Vuillards gedacht worden  ?6 Welchen mentalen Zustand sollte der Betrachter bei der seinerseits versunkenen Bewunderung des Gemäldes in sich verspüren  ? Das Lesen, verstanden als Metapher, steht nach Hans Blumenberg für die Lesbarkeit von Welt. Das Motiv ist mithin gleichnishaftes Bild für den Zugang zu Welt.7 Dabei meint diese Metapher aber einen spezifischen Modus des Zugangs, nicht den der lexikalischen Begriffserschließung, sondern eine ganzheitliche Erfahrung von 3 4 5 6 7

Pomarède 2011a, S. 37. Vgl. Thomas 2012, S. 372 f. Vgl. dazu etwa Akat. Corot, Winterthur 2011, S. 122. Ich schließe mich Bernd Kleimann an und verstehe ästhetische Wahrnehmung synonym mit ästhetischer Erfahrung (Kleimann 2002, S. 93). Vgl. Söntgen 2005, S. 78–81.

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Welt. Insbesondere die Malerei des 19. Jahrhunderts hat dieses Thema aufgenommen und motivisch erweitert. Neben der Lektüre gibt es eine Vielzahl weiterer Tätigkeiten der Versunkenheit, in denen die Metapher des Zugangs zur Welt wirkt. Bereits bei Corot ist dies zu erkennen, wenn er neben Lesenden auch andere Motive eines solchen Versunkenseins malt.8 Das Spezifikum der Lesbarkeit wird damit aufgeweicht hin zu einer allgemeinen Versunkenheit als Metapher für den Zugang zu Welt  ; im Gegenzug tritt die Dimension der spezifischen Erfahrung von Versunkenheit, das, was diesen Zustand ausmacht, in den Vordergrund. Diese Erfahrung ist gekennzeichnet durch ein Innehalten vollster sinnlicher Aufmerksamkeit, die gänzlich auf die gefühlsmäßige Qualität einer bestimmten Wahrnehmungsweise fokussiert ist. Im Kontext seiner Ästhetik des Erscheinens versteht Martin Seel diese Wahrnehmungsweise als Inbegriff der ästhetischen Wahrnehmung. Deren Aufmerksamkeit ist auf das gerichtet, was […] hier und jetzt für unsere Sinne anwesend ist. Sie betrifft nicht in erster Linie das, was etwas ist, sondern wie es da ist  : wie es in der Fülle seiner Aspekte und Bezüge anwesend ist. Diese Aufmerksamkeit kann mit Phänomenen des Scheins und der Imagination vielfach verbunden sein. Ihr Grundbegriff jedoch hebt das synästhetische Vernehmen der Simultaneität und Momentaneität sinnlicher Erscheinungen hervor, das alle weiteren und alle komplexeren ästhetischen Vollzüge begleitet. Mit ihm geschieht eine Umpolung der sonstigen Wahrnehmung und zugleich eine Verwandlung der Gegenstände ihres Empfindens. […] Die ästhetische Anschauung […] eröffnet ihnen [den Individuen  ; M.G.] den Spielraum, etwas nicht in der Bestimmtheit seines Soseins, sondern in der Besonderheit seines Erscheinens zu vernehmen  : in der Art, wie es gerade hier und gerade jetzt […] in unserer leiblichen Umgebung gegenwärtig ist.9

Das Motiv des versunkenen Lesens als Zugang zu Welt kann so als Modus der ästhetischen Wahrnehmung verstanden werden. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts erlangte dieses Motiv der Versunkenheit gleichermaßen in der Literatur wie der Malerei große Prominenz. Parallel dazu werden im 19. Jahrhundert in aristotelischer und kantischer Tradition ebenjene ästhetische Wahrnehmung und die zugehörigen Gemütserregungen befragt. Die idealistischen Modelle der Kontemplation über Schönheit und Geschmack werden gegen Ende des 19. Jahrhunderts indes weitgehend abgelöst und durch die Reflexion des spezifischen Erlebens in Form von Gefühl und Stimmung ersetzt.10 Es war nicht zuletzt die um die Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzende Psychologie, die zum Versuch eines präziseren Verständnisses des Phänomens geführt hatte. Das Wohlgefallen bei der Rezeption von Kunstwerken zählte nun als Emotion, und zwar als Emotion eigener Art. Bereits Alexander Bain und nach ihm Herbert Spencer hatten sich in sensualistischer Tradition mit den   8 Vgl. dazu Akat. Corot, Winterthur 2011.   9 Seel 2004, S. 74, vgl. dazu grundlegend Seel 2003. 10 Vgl. Roloff 1984, S. 22.

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»Aesthetic Emotions« und ihrer Spezifik beschäftigt und wurden schnell in Frankreich rezipiert.11 Parallel zu den Übersetzungen ihrer Werke publizierte Ribot 1875 La Psychologie anglaise contemporaine (École experimentale). Die émotion esthétique wird sukzessive auch in der Ästhetik zur zentralen Kategorie.12 Entsprechend befragt Vuillard bereits 1890 dieses Phänomen in seinen carnets, wenn er festhält  : »Il y a un genre d’émotion qui est tout particulier à la peinture«13. Dabei geht es den Zeitgenossen weniger um eine Werk­ ästhetik als vielmehr um die phänomenale Qualität ästhetischen Erlebens, und Volker Roloff betont, dass Phänomene der Kunst nun vorwiegend »als Probleme der ästhetischen Wahrnehmung und Gemütsregung«14 verhandelt werden.15 Und ebenjenes Erleben, das bei Kant »interesseloses Wohlgefallen« hieß und bereits dort als Gefühl verstanden wurde, soll nun nicht mehr im Rahmen einer allgemeinen Erkenntnistheorie behandelt werden, sondern vor allem in seiner psychologischen Ausgestaltung als Emotion.16 Entsprechend forderten der Neokantianer Victor Basch und nach ihm auch Proust, »le côté émotionnel des sensations de la vue«17 als Teil einer umfassenden Ästhetik verstärkt zu beachten.18 Der Kunstkritiker Émile Hennequin geht so weit, das Hauptkriterium eines Kunstwerks – verstanden als Ensemble aus ästhetischen Effekten und Mitteln – in dessen emotionaler Wirkung zu sehen  : »[…] l’œuvre d›art est en résumé un ensemble de moyens et d’effets esthétiques tendant à susciter des émotions […].«19 Zwar kann sich auch die Psychologie nicht davon lösen, bestimmte formale, werkbasierte Kriterien zu suchen, die ein Objekt als Quelle der ästhetischen Emotion prädestinieren, zugleich wird jedoch klar, dass das ästhetische Gefühl hauptsächlich das Ergebnis der Rezeption, also einer bestimmten Weise von Wahrnehmung ist. Diese stiftet im Modus der ästhetischen Wahrnehmung einen Zugang zur Welt, welcher diese emotional konzentriert zugänglich macht und damit eine Art emotionalen Subtext zur Alltagswahrnehmung bildet.20 Ästhetiker wie Jean-Marie Guyau sehen in diesem Mechanismus, also dem Alltag bzw. der Alltagswahrnehmung stimulierend zu sekundieren, sogar den sozialen Zweck von Kunst.21 Der stets ­potentiell handlungsbereiten, zweckrational geleiteten Alltagswahrnehmung, wird der Zustand 11 Vgl. Bain 1865, Kap. XIV und Spencer 1881, § 533–540. Zur Rezeption vgl. Burhan 1979, S. 86 f.; Roth 1989, S. 50  ; Bouillon 2006a. 12 Vgl. zu dieser Historisierung von ästhetischer Wahrnehmung Roloff 1984, S. 18–33. 13 Vuillard, Carnets, I.2., 68 (loses Blatt), die Datierung dieses Blattes ist unklar. 14 Roloff 1984, S. 22. 15 Vgl. zur Verschiebung weg von der Werkästhetik und hin zur Reflexion der phänomenologischen Dimension von Kunst Bensch 1994 und Aissen-Crewett 1999. 16 Vgl. zur Bedeutung von Kant Ende des 19. Jahrhunderts Roloff 1984, S. 20 f. Vgl. zum interesselosen Wohlgefallen als Gefühl Weltzien 2006. Vgl. zum Zusammenhang zwischen dem kantischen interesselosen Wohlgefallen und der ästhetischen Wahrnehmung, verstanden als Versunkenheit, Kleimann 2002, S. 94. 17 Basch 1896, S. 255. Vgl. dazu Roloff 1984, S. 20. 18 Vgl. Roloff 1984, S. 20. 19 Hennequin 1888, S. 209. Vgl. Roloff 1984, S. 21. 20 Vgl. zu diesem für die Moderne konstitutiven Wandlungsprozess Bensch 1994. 21 Vgl. dazu Roloff 1984, S. 22.

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der ästhetischen Wahrnehmung als interesselose Aufmerksamkeit beiseitegestellt. Dieser Gefühlszustand ist ausgezeichnet durch das Merkmal »de n’être pas immédiatement suivies d’acte, d’être formées d’un maximum d’excitation et d’un minimum de peine et de plaisir, c’est-à-dire, en somme, d’être fin en soi et désintéressées.«22 Das Motiv der Versunkenheit in der Malerei Vuillards kann also verstanden werden als Reflexion der ästhetischen Wahrnehmung.23 Und die Art und Weise der Erlebnisqualität von ästhetischer Wahrnehmung wurde historisch als émotion esthétique gedacht. Inwiefern erklärt dies aber die ästhetische Entwicklung vom Porträt Lugné-Poes hin zu den gewebe­ artig stark belebten und durchwirkten Bildnissen der Schneiderinnen  ? Bereits das Porträt von Lugné-Poe weist eine Spannung auf, die zu der ostentativen Ruhe der Lesenden Corots in Kontrast steht. Die angespannte Hand des Regisseurs und die äußerste Konzentration von Körperhaltung, Händen und Gesicht auf dieses Stück Papier hin zeugen von einer mentalen Anspannung, die nicht passiv ist, sondern förmlich intensiv in das Geschriebene eindringt. Der Zustand Lugné-Poes wird so geschildert als ambivalenter angespannter Zustand, dessen Ergebnis, so erscheint es im Bild zwischen seinen Händen, auf das Papier ausfließt und von dort buchstäblich über die Tischkante herabrinnt. Die Versenkung in das Gefühl der ästhetischen Wahrnehmung birgt also etwas Produktives, das seinerseits in ein Artefakt zu münden vermag. Es gibt zwei weitere Gemälde Vuillards, die dies verhandeln. La Ravadeuse ovale von 1891 (Tf. 16) ist jenem Porträt Lugné-Poes insofern verwandt, als es ebenfalls die extrem fokussierte Absorption thematisiert und hier ebenfalls mit ruhiger Palette und ruhigen Formen verfährt. Auch hier ist die Komposition ausgesprochen harmonisch angelegt, weist ebenfalls zum Zentrum des Bildes, der Aufmerksamkeitssphäre der Frau hin jedoch zugleich eine gewisse Dynamik und spannungsvolle Verdichtung auf. So bilden quasi alle größeren Flächen im Bild Dreiecksformen, deren Spitzen auf das deuten, von dem die Frau absorbiert ist. Auch die Linienführung des Kragens und der Frisur leitet den Blick immer wieder hin zu ihren Händen, mithin ihrem eigenen Fokus. Im Gegensatz zum Porträt des Regisseurs jedoch ist der versunkene Zustand der Nähenden klar definiert als produktiver Zustand. Entsprechend ergießt sich als Produkt ihrer Arbeit eine breite Stoffbahn im unteren Bilddrittel, eine leere Stoffbahn, die mit der Leinwand des Malers als Urgrund von Projektionen zusammenfällt. Die Versunkenheit des Malers führt zu jenem Gemälde, das seinerseits Versunkenheit nicht nur als Rezeption, sondern auch als tätiges Hervorbringen zeigt, dessen Ergebnis wiederum eine leere Projektionsfläche ist, die vom Rezipienten seinerseits als Projektionsfläche im Zuge seiner versunkenen Rezeption angeeignet werden kann. Vuillard verfährt analog zu Au lit, spürt nun aber nicht mehr ausgehend vom Motiv des Schlafes den inneren Assoziationen nach. Vielmehr nimmt er nun seine Reflexion der ästhetischen Wahrnehmung als Anlass für die diesbezüglichen Überlegungen. Die Frage lautet jetzt  : Welche Rolle spielen innere Assoziationen während 22 Hennequin 1888, S. 209. 23 Vgl. zur Korrelation von kontemplativer Versunkenheit und ästhetischer Wahrnehmung Kleimann 2002, S. 94–101.

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der ästhetischen Wahrnehmung und wie sind sie strukturiert  ?24 Nach wie vor wird die psychische Tätigkeit nur indirekt in den ruhigen Formen angedeutet, recht eigentlich aber weiterhin mittels projektionsflächenartigen Leerstellen in den Gemälden evoziert, aber nicht visualisiert. Hinwendung zum Textilen als Betonung der produktiven Dimension von ­ästhetischer Wahrnehmung

Durch die Auseinandersetzung mit dem Medium des Stoffes gewinnt Vuillard immer mehr Inspiration für eine Entwicklung des Motivs der ästhetischen Wahrnehmung, verstanden als aktives und schöpferisches Element, und damit auch für die psychischen Prozesse, die Bilder zu Objekten ästhetischer Wahrnehmung machen. Parallel zu dem Porträt Lugné-Poes und dem Gemälde Ravadeuse ovale hatten sich für Vuillard bereits erste Überlegungen ergeben, in der textilen Handarbeit ein der Malerei strukturell verwandtes Motiv zu erkennen. Dies fiel zusammen mit der Auseinandersetzung mit Gauguin und dem cloisonnisme, der sich ebenfalls durch seine Kombination teils großer homogener Farbflächen auszeichnet. Denn hier erkennt Vuillard die Parallele zwischen der malerischen Arbeit mit diesen großen Bildflächen und der Arbeit der mit großen Stoffflächen hantierenden Schneiderinnen. Ganz in diesem Sinne sprechen Deepak Ananth und Henry-Claude Cousseau von der »couture-peinture«25 Vuillards und ziehen hier Les Couturières von 1890 (Tf. 17) heran.26 Mit einer kräftigen, von Gauguin inspirierten Palette malt Vuillard zwei Frauen, die in das Zuschneiden von Stoffbahnen versunken sind. Die geblockten Formen, weichen Kurvaturen und starken Farbkontraste haben Cogeval von einem »emblem of cloisonnism« sprechen lassen.27 Ebenso wie bei den beiden oben besprochenen Werken vollzieht der Maler den Modus der Versunkenheit in Stilistik und Komposition seines Gemäldes nach. Es dominieren weiche, aber klar voneinander abgegrenzte, kräftige Farbflächen. Im Gegensatz zum Bildnis Lugné-Poes und der Ravadeuse ovale wird nun aber die Aktivität der Dargestellten noch deutlicher im Bild inszeniert  : Die Frauen sind dabei, Stoffe zuzuschneiden. Vuillard stärkt damit nicht nur die aktive Dimension der Versenkung, sondern stellt darüber hinaus eine medienreflexive Ebene her. Denn das Zuschneiden der Stoffe, also das Aufbereiten flacher, stark farbiger Einheiten, ist nichts anderes als das farbflächige Kompositionsprinzip des cloisonnisme, in dessen Stil

24 In eher konventioneller Weise findet sich auch bei Corot die konkrete Verschränkung von Lesen und Kontemplation zum Gleichnis, wobei die Kontemplation nicht nur die Rezeption ausmacht, sondern ebenso die malerische Schöpfung. Bei Corot wird dies in verschiedenen Gemälden angezeigt durch die hinter der Lesenden befindliche Leinwand. 25 Ananth et al. 1990, S. 166. 26 Auch Cogeval legt anlässlich dieses Gemäldes die Deutung nahe, eine Analogie zwischen Schneiderei und Malerei zu sehen. Vgl. Akat. Vuillard, Washington/Montreal/Paris/London 2003, S. 66. 27 Akat. Vuillard, Washington/Montreal/Paris/London 2003, S. 66.

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Abb. 21  anonym, Karikatur, in  : Journal, 31. Dezember 1892

das Gemälde gemalt worden ist.28 Die Welt wird als Schnittmuster zerschnitten, um als Flächenkomposition im Gemälde zum Bild zu werden.29 Die assoziative Logik zwischen cloisonnistischer Flächenmalerei und dem Akt des Zerschneidens ist auch der Kunstkritik nicht entgangen  ; wurde Vuillard doch 1892 in einer Karikatur vorgeworfen, er würde in seinen Gemälden Figuren nicht darstellen oder kohärent erschaffen, sondern sie vielmehr mit klaren Schnitten zerstückeln. Die ironische Bildunterschrift zu einer Karikatur nach einem Gemälde, das eine Schlafende zeigt, lautet  : Femme couchée en morceaux (Abb. 21). Das Vorbild Vermeer – Strukturanalogie zwischen Textilem und (innerer) Bildschöpfung

Vuillard bleibt aber hier nicht stehen, weder wird jener flächig fragmentierte Stil die folgenden Jahre prägen noch die allgemeine Assoziation von Malen und der Schneiderei als Flächen organisierende Tätigkeit.30 Vielmehr folgen nun jene eingangs besprochenen 28 Vgl. dazu Ananth et al. 1990, S. 166. 29 Vgl. grundlegend zum Zusammenhang zwischen Malerei und Textilem Akat. Textil, Wolfsburg/ Stuttgart 2013  ; zur Rolle des Stofflichen in der Kultur vgl. Berger et al. 2015. 30 Vuillard befindet sich damit auf der Höhe der Zeit, denn, wie Mashek (1975) gezeigt hat, verlaufen die ästhetischen Debatten zur Malerei und etwa der Teppichkunst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in vielen Bereichen analog zum Stofflichen. Eine Orientierung der Malerei am Textilen ist bereits wenige Jahre zuvor zu beobachten  ; so hatten etwa die Pointillisten wegen der Analogie zwischen Malerei und Sticken die handarbeitende Frau als Motiv entdeckt und ihre Gemälde entsprechend gestaltet. Hierbei fallen die »Petit Points« der Handarbeit mit den Pinseltupfern der pointillistischen Maltechnik in eins. Widauer schreibt  : »Das Studium der Theorie, die Reflexion darüber [über die Technik des Stickens  ; M.G.] und die kleinteilige Arbeit sind Parallelen zum Schaffensprozess des pointillistischen Malers.« (Widauer 2016, S. 16) Eingebettet war dies in einen soziokulturellen Wandlungsprozess, der infolge der neuen technisch gestützten Produktionsweise und einer nationalen Identitätskrise auch die Bewertung der Arbeit von Frauen, ergo die Handarbeit, betraf (Silverman 1992).

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Werke, die die hingebungsvolle Versenkung der Frauen bei der textilen Handarbeit in einer deutlich gewandelten Ästhetik zeigen (Tf. 3, Tf. 13, Tf. 14). Dominant ist eine durch und durch bewegte Bildfläche, die von stofflich-dekorativen Strukturen überzogen ist, in die die arbeitenden Frauen mal mehr, mal weniger klar hervorgehoben eingefügt sind. Abgesehen vom Motiv der versunkenen Haltung hat sich nichts von den eben besprochenen Werken und ihrer weichen, mit ruhigen Flächen arbeitenden Formgebung erhalten. Vielmehr herrscht, so scheint es, das Prinzip des horror vacui. Der ruhigen Haltung der Frauen ist nachgerade das flirrende Bildgewebe kontrastierend gegenübergestellt. Statt beruhigte Klarheit auszustrahlen, sind die Gemälde nun schwer zu erfassen, und das Auge changiert zwischen figurativer Gegenstandserfassung und einer schwindelerregenden Flut an Farbformen, die kaum einer mimetischen Logik unterworfen werden können. Zu dieser Wandlung der Ästhetik und damit auch zur Umdeutung des Motivs bedient sich Vuillard eines weiteren kunsthistorischen Vorläufers. Seit 1870 ist der Louvre im Besitz eines Gemäldes, welches genau ebenjenes Motiv, eine in textile Handarbeit versunkene Frau, auf einzigartige Weise darstellt. Es handelt sich um Vermeers Spitzenklöpplerin (1669–1671)31, die Vuillard als regelmäßiger Besucher des Louvre selbstverständlich kannte und zu der sich bereits 1888 eine kleine Skizze in den carnets findet.32 Vermeer war in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Frankreich regelrecht neu entdeckt worden.33 Eingeleitet wurde dies vor allem durch Théophile Thoré-Burger, der Vermeer als stilles Rätsel der Malerei, als »Sphinx« inszenierte. Parallel dazu wurde Vermeers bildlich niedergelegte »Theorie der Farbe als Lichtempfindung« gefeiert, und er avancierte auf diese Weise zum Vorläufer des oder zum Vorbild für den Impressionismus.34 Und auch van Gogh bewunderte ihn Ende des 19. Jahrhunderts für seine Farbharmonien.35 In dieser Zeit liegt auch die diskursgenealogische Quelle für die Aura Vermeers, die zur intermedialen Rezeption durch Marcel Proust in der Recherche Anfang des 20. Jahrhunderts führt. Vermeers Ansicht von Delft (1660/61, Den Haag, Mauritshuis) und jenes sagenumwobene, bis heute unidentifiziert gebliebene gelbe Mauerstück werden in Prousts Roman bekanntlich als uneinholbarer Inbegriff der Kunst gefeiert.36 Der Autor Bergotte »attachait son regard, comme un enfant à un papillon jaune qu’il veut saisir, au précieux petit pan de mur. ›C’est ainsi que j’aurais dû écrire‹, disait-il.«37 Die Konfrontation mit diesem Vermeer mündet in die Verzweiflung angesichts der Erkenntnis seiner eigenen defizitären Kunstform, des Schreibens, und resultiert notwendig – im Tod des Autors. Bereits die Parallelen zwischen Vermeer und Vuillard im Allgemeinen sind vielfältig. Beide Maler haben sich Themen des Häuslichen verschrieben, ebenso wie bei Vuillard 31 Zur Provenienz vgl. Aillaud et al. 2004, S. 204. 32 Die Literatur sieht den Bezug von Vuillard auf Vermeer unter dem allgemeinen Aspekt der Poesie häuslicher Arbeit, vgl. etwa Friesen 2008b, S. 45. 33 Grundlegend zur Rezeption Vermeers vgl. Hertel 1991 und Hertel 1996  ; Berger 2014a. 34 Vgl. Schneider 2006, S. 87. 35 Vgl. Schneider 2006, S. 88. 36 Vgl. dazu exemplarisch Yoo 2010, S. 141–157. 37 Proust 1988a, S. 692.

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stehen bei Vermeer die Frauen im Mittelpunkt.38 Die räumliche Disposition und das kompositorische Motiv werden vielfältig variiert.39 Dies ist bei beiden umso eigenwilliger, als durch die Wiederholung keine Klärung eintritt, sondern die Werke zunehmend rätselhafter werden. Im Fall Vermeer wurde die Rätselhaftigkeit damit begründet, dass seine Gemälde stets stillgestellte Momente in unklarem narrativen Kontext zeigen.40 Dies kann ebenso für Vuillard gelten. Angesichts der intensiven Aufmerksamkeit und Präzision, mit der Vermeer seine Motive schildert, wirkt diese narrative Verunklärung umso befremdlicher. Auch die enigmatische Stille, in die die Vermeer’schen Werke getaucht sind, wird immer wieder als Charakteristikum angeführt. Vuillards Werke wiederum wurden von den Zeitgenossen ebenfalls mit der Stille in Verbindung gebracht.41 Durch die Schriften Thoré-Bürgers ist überliefert, dass es im 19. Jahrhundert alles andere als einfach war, dem Werk Vermeers nahezukommen, denn lange Zeit machte es größte Schwierigkeiten, zu einer überzeugenden Händescheidung zu gelangen und ein Opus überhaupt zu definieren. Umso höher muss gewichtet werden, dass Vermeer trotz dieser Ungreifbarkeit innerhalb kurzer Zeit eine schillernde Aura erlangt hatte. Das Interesse Vuillards an der Spitzenklöpplerin dürfte jedoch weit über das Studium im Louvre hinausgegangen sein. Vuillard kannte zudem die Ausführungen Eugène Fromentins, der in seinem Standardwerk über die holländische Kunst unter anderem über Vermeer geschrieben hatte.42 Allerdings beklagt der Kritiker lakonisch, dass Vermeer in Frankreich selbst noch immer schlecht zu verstehen sei, da dazu neben der Kenntnis seiner Werke eine Reise in das Heimatland Vermeers unabdingbar sei  : »Van der Meer [sic  !  ; M.G.] est presque inédit en France, et comme il a des côtés d’observateur assez étranges même en son pays, le voyage ne serait pas inutile si l’on tenait à se bien renseigner sur cette particularité de l’art hollandais.«43 Es ist also kein Zufall, dass Vuillard im November 1892 nach Holland und Belgien reiste. Wenngleich Details zu dieser Reise unbekannt sind, ist mit großer Sicherheit davon auszugehen, dass er dem Aufruf Fromentins gefolgt ist und dort auch auf den Spuren Vermeers wandelte.44 Vermutlich hat Vuillard das Interesse 38 39 40 41 42 43 44

Vgl. Friesen 2008b, S. 45. Vgl. Büttner 2010, S. 31. Vgl. Berger 2014a, S. 72. Vgl. Gide 1905, S. 480 und Roger-Marx 1948, S. 5–9. Vgl. Thomson 2000, S. 12. Fromentin 1876, S. 771. Die Reisen Vuillards sind von der Forschung noch gar nicht beachtet worden. Indes wäre es aufschlussreich, sie auszuwerten. Denn die Ziele seiner Reisen, wie Holland oder Venedig, sind nicht als beliebige Reiseziele zu verstehen, sondern sind Teil bestimmter kulturhistorischer Strukturen, in denen diese Orte als Sehnsuchtsorte konstruiert waren. Zu nicht unbeträchtlichem Anteil ging es dabei stets auch um ästhetische Ideale. Hertel hat deswegen zu Recht die Holland-Mode als Variation des Orientalismus (Edward Said) gedeutet, und auch für Venedig wäre Analoges zu konstatieren. Anders gelagert als der Orient, auf den Fantasien projiziert wurden, waren Venedig und Holland in ihrer kulturellen Konstruktion miteinander strukturell verwandt  ; mit beiden Orten wurden ähnliche Ideale verbunden, wie etwa die spezifische Farbigkeit vor Ort und in der Kunst, wie sie insbesondere bei den Venezianern, den Holländern und eben im Besonderen bei Vermeer

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an Vermeer bereits in diesen frühen Jahren mit Proust geteilt, denn es gab, wie bereits erwähnt, vielfältige Überschneidungen zwischen den Kreisen, in denen beide verkehrten. Und ebenso wie für Proust ist auch für Vuillard Vermeer ein bedeutendes Thema geblieben, denn noch 1921 erinnert sich Proust in einem Brief an den Kritiker Jean-Louis Vaudoyer, dass er vor ungefähr 15 Jahren, also am Beginn des 20. Jahrhunderts, Vuillard ein Empfehlungsschreiben gegeben habe, damit dieser sich eine damals unbekannte Kopie nach Vermeer in der Privatsammlung Paul Baignières’ ansehen könne.45 Es ist mithin legitim, zwischen Vuillard und Proust in Bezug auf Vermeer eine gewisse Verwandtschaft zu sehen, und beide haben wohl ebenso, wie es Clothilde Misme 1921 pathetisch schreiben wird, in der Malerei das intime Band zwischen der holländischen und der französischen Sensibilität verspürt.46 Wie die Zeitgenossen auch, war Vuillard offenbar tief beeindruckt von Vermeer  ; es mag ihm nach dem Studium des Holländers ähnlich gegangen sein, wie es der ebenfalls mit Proust bekannte Schriftsteller Jean-Louis Vaudoyer 1921 schildert  : »Mais, si l’on a une fois contemplé l’original, le souvenir qu’on en garde transfigure toute reproduction et, aussitôt, une fête de couleurs, de lumière et d’espace envahit votre mémoire.«47 In der Erinnerung entfalteten, so ist Vaudoyers Zitat zu verstehen, die Werke Vermeers eine intensive Wirkung, einem Strudel aus Farb-, Licht- und Bildraumphänomenen gleich. Neben der werkästhetischen Komponente hebt Vaudoyer ganz offensichtlich darauf ab, welche Wirkung Vermeer in der Erinnerung auslöst, also darauf, welchen produktiven Prozess dessen Gemälde im Gedächtnis des Rezipienten zu entfesseln vermögen. Wie bei allen Werken Vermeers ist es nicht einfach, die Spezifik der Spitzenklöpplerin (Tf. 18) knapp zu fassen. Im Wesentlichen sind es folgende Aspekte, die von der Forschung hervorgehoben werden. Ebenso wie die Magd mit Milchkrug wird die Spitzenklöpplerin aus leichter Untersicht gezeigt, was ihr eine Art statuarische Präsenz verleiht.48 Zugleich nimmt die arbeitende Frau das gesamte Bildfeld ein, der Betrachter ist also vergleichsweise nah an sie herangerückt, was eine vertraute Stimmung evoziert. Aus der Spannung von Sichtbarkeit und Nichtsichtbarkeit resultiert eine »intimité de la personne, présence visiblement invisible«49. Die Stofflichkeit, das Licht und die Details sind mit großer Natürlichkeit und Präzision wiedergegeben, dennoch ist auch in diesem Bild eine Tendenz zur Formauflösung zu erkennen, die zunächst vom Einsatz der Camera obscura herrührt. Denn Vermeer vertuscht die bei diesem optischen Verfahren notwendig auftretenden Randunschärfen und Pointillés nicht, sondern integriert sie absichtsvoll in das Werk.50 Wie in anderen Gemälden auch markiert die Integration der Unschärfen das Bildhafte

45 46 47 48 49 50

gesehen wurde. Vgl. Hertel 1996, S. 83, dort auch weitere Literatur zur Holland-Mode als Form des Orientalismus. Vgl. Salomon et al. 2003, Bd. III, Kat. X-234, S. 1293. Vgl. Clothilde Misme, L’Exposition hollandaise des Tuileries, in  : Gazette des beaux-arts, Mai 1921  ; zit. nach Hertel 1996, S. 104. Zit. nach Aillaud et al. 2004, S. 222. Vgl. Büttner 2010, S. 37. Arasse 1993, S. 154. Vgl. Schneider 2006, S. 62.

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und das Dargestellte im Gemälde dezidiert als etwas Gesehenes und negiert dies nicht zugunsten einer illusionistischen Evokation.51 Im Vergleich zu anderen Gemälden Vermeers sind diese Unschärfen in der Spitzenklöpplerin aber besonders auffallend. Die diesen Passagen eignende formauflösende Qualität weist die Malerei darüber hinaus in ihrer Materialität aus  : »Statt nur stummes Mittel zum Zweck zu sein, spricht das malerische Differenzierungsvermögen den zentralen Gehalt des Bildes aus.«52 Die Spitzenklöpplerin birgt mithin eine selbst- und medienreferentielle Dimension.53 André Malraux hat als einer der Ersten in diesem Sinne einen Vorreiter der Moderne in Vermeer erkannt und teilt damit die Haltung der Zeitgenossen um 1900. Bei Vermeer fehle die »Mythe der Handlung«, zum ersten Mal in der Geschichte der Kunst werde »der Vorwurf des Bildes zum Gegenstand der Vision.«54 Georges Didi-Huberman erörtert zudem, dass die metapikturale Dimension insbesondere im Motiv des Textilen und der Fäden inszeniert ist. In einer kleinen Passage des Bildes offenbare sich die malerische Verfasstheit der Spitzenklöpplerin. Diese Passage sei eine Art »Detonation«55 im ansonsten einer mimetischen und feinmalerischen Matrix unterworfenen Gemälde. Es handelt sich um jene Zone links vorne im Bild, in direkter Nachbarschaft zu den Fingern der Klöpplerin und dem dazwischen gespannten Faden. Links neben der Feinmalerei ergießt sich ein Strudel aus verschiedenfarbigen Farbschlieren, die keinesfalls mehr illusionistisch die aus dem Kissen überhängenden Fäden schildern, sondern allenfalls im Material der Farbe diese Fäden imitieren. Die Differenz zwischen Schilderung und Imitation wurde von Didi-Huberman zu Recht starkgemacht. Es handelt sich um die Differenz zwischen der Schilderung im Bild, die das ikonische Zeichen hinter der mimetischen Transparenz verschwinden lässt, und der gemalten Imitation, bei der die Opazität des Materials sichtbar bleibt.56 Die in Rede stehende Zone nun ist dezidiert nur eine Imitation von einem Faden. Sie ist als »zinnoberroter Eklat, aufgetragen, fast wie blind hingeworfen, der uns im Bild [tableau] entgegentritt und darauf besteht  : dies ist ein pan [Feld, Fläche  ; M.G.] Malerei.«57 Damit wird die mimetische Ökonomie 51 Vgl. Schneider 2006, S. 88. 52 Büttner 2010, S. 38  ; Schneider 2006, S. 88  ; Berger 2014a, S. 75–79. 53 Vgl. Berger 2014a S. 71. Siehe dort auch die einschlägigen Forschungspositionen zu dieser Deutung Vermeers. 54 Zit. nach Schneider 2006, S. 88. Die Deutung der Spitzenklöpplerin als Inbegriff der selbstreflexiven Malerei und damit als zentrales Referenzwerk der gesamten Moderne ist durch vielfache Rezeptionen belegt. Nur so wird erklärlich, warum etwa Victor Pasmore 1938/39 die Spitzenklöpplerin derart rezipiert, dass er das gesamte Gemälde mit einem Unschärfeschleier überzieht. 1955 wiederum zeigt Salvador Dalí eine regelrecht explodierende Spitzenklöpplerin. Beide nehmen die Spitzenklöpplerin als Ikone der Manifestation von malerischer Selbstreflexion und aktualisieren dies entsprechend ihren eigenen ästhetischen Auffassungen, Pasmore ex negativo, indem er Vermeers vermeintlichen Illusionismus torpediert, Dalí als paranoisch-kritische Wirklichkeitsaneignung. Vgl. Krüger 2007, S. 154–156. 55 Didi-Huberman 2007, S. 68  ; vgl. dazu Kapustka 2015, S. 14 f. 56 Vgl. Didi-Huberman 2007, S. 68 f. 57 Didi-Huberman 2007, S. 68.

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des Bildes gesprengt, und es erhält dadurch eine »dynamische Sichtbarkeit«58, die jenseits von statischen Ähnlichkeitsbeziehungen operiert.59 Die roten Fäden sind mithin medienreflexiver Verweis auf die materielle Gemachtheit des Bildes. Das Motiv der Handarbeit birgt überdies auch eine produktionsästhetische und rezeptionsästhetische Dimension, die für die Rezeption durch Vuillard insbesondere von Relevanz war. Daniel Arasse betont  : »Vermeer nous invite à partager le regard que la dentellière porte à son travail, à participer de sa concentration intérieur, mais il nous exclut de toute vision de ce travail, de tout partage de ce regard.«60 Ganz der Motivtradition der Versunkenheit entsprechend ist die Versunkenheit der Spitzenklöpplerin auf den Rezipienten zu übertragen, was dadurch imaginativ angeregt wird, dass auch hier der Fokus der Protagonistin für den Rezipienten nicht zu sehen ist. Krüger präzisiert in diesem Kontext, dass das Gemälde Vermeers bekanntlich planvoll mit unterschiedlichen Schärfegraden der Darstellung [operiert]. Es lenkt und reguliert damit den externen Blick und bündelt ihn zu einer Konzentration, die sich in der internen Blickkonzentration der Frau gleichsam gespiegelt und darin thematisiert findet. Der Darstellungsgegenstand konvergiert hier also tendenziell mit seiner externen Wahrnehmung durch den Betrachter.61

Krüger richtet damit, über die allgemeine Verbindung zwischen Versunkenheit im Bild und beim Betrachter hinaus, den Fokus auf die Präzisierung dieses Verhältnisses durch Vermeer. Die Passagen der Unschärfe demonstrierten die Prozessualität und die Oszillationsbewegung, die die Bildrezeption prägten. Motivisch verdoppelt findet sich die Betonung der Oszillation und der Prozessualität im Sujet des Klöppelns. Denn diese technisch aufwändige Handarbeit ist grundsätzlich prozessual verfasst. Das geklöppelte Werk entwickelt sich auf einer Fläche, dem sogenannten »Klöppelbrief«, und entsteht hierauf im oszillierenden Schöpfungsprozess  : »Die textile Komposition wird dadurch im Laufe ihres Entstehens nach und nach ähnlich stabilisiert, ähnlich wie das trainierte Auge des Betrachters die gesamte Oberfläche des Bildes auf der synthetischen Suche nach der Kohärenz und Evidenz der mimetischen Figuration durchquert und den störenden Zufall eines Flecks – die losen Fäden – entfernen möchte.«62 Das textile Medium wird dadurch zum Brennpunkt, in dem am Verhältnis zwischen erkennbarem Motiv und pikturaler Auflösung operiert wird.63 Die strukturale Dimension des Textilen ist damit nicht nur auf die Verfasstheit des Gemäldes zu beziehen, sondern auch auf den produktionsästhetischen Prozess sowie auf den Akt der Rezeption. 58 59 60 61 62 63

Kapustka 2015, S. 14. Kapustka 2015, S. 14. Arasse 1993, S. 153. Krüger 2007, S. 154. Kapustka 2015, S. 14 f. Vgl. Kapustka 2015, S. 14 f. Vgl. grundlegend zur Medialität des Textilen Weddigen 2014.

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Führen wir die Fäden vorläufig zusammen  : Die Integration der optischen Spuren der Camera obscura weist das Gemälde aus als Bild und zudem als Reflex auf etwas Gesehenes. Passagenweise offenbart sich eine metapikturale Dimension. In Verbindung mit dem Motiv der Versunkenheit wird die Reflexion über das Gemälde wiederum rezeptionsästhetisch geöffnet. Mit Didi-Huberman und Kapustka schließlich wurde in allen angesprochenen Aspekten – Bild, Produktion und Rezeption – erstmals die Bedeutung des Textilen angemessen gewichtet. Das Bild, das Gemachtsein, die Rezeption wird dadurch als prozessual oszillierende Bewegung betont. Wo die Versunkenheit, reflektiert als ästhetische Wahrnehmung des Rezipienten, bei Corot und bei Vuillards Porträt von Lugné-Poe im Bild eine Ästhetik sich fließend ergebender Figurationen nach sich zog, schlägt sie sich bei Vermeer in einem prozessualen Gewebe zwischen opaker Unschärfe und gegenständlicher Form nieder. Letzteres taucht bei Vermeer allerdings nur stellenweise im Bild auf. Didi-Huberman spricht von einem subtilen »Symptom« an der Oberfläche des Gemäldes, welches als Eindringling an der ansonsten überwiegend der mimetischen Ökonomie unterworfenen Bildoberfläche subkutan seine Wirkung entfaltet.64 In der Rezeption durch Vuillard wird sich hier eine fundamentale Gewichtsverlagerung zeigen, das Symptom wird zum dominanten Bildprinzip. Die Differenzen zwischen Vuillard und Vermeer sind leicht zu erkennen. Bei dem Bildnis Marie Roussel brodant à contre-jour (Tf. 13) pflegt Vuillard ganz und gar keine präzise, klare Malweise, die Oberflächen und Gegenstände in ihrer Haptik konkret aufscheinen ließe. Vermeer nutzte dazu bei der Spitzenklöpplerin nicht nur eine subtile Lichtführung, sondern den nuancierten Dreischritt von dezentem Hintergrund, plastisch erscheinender Frau und verdichteter malerisch-materieller Malspur in der vordersten Bildschicht. Vuillard hingegen legt ein gleichförmiges Licht über das Bild, wodurch Plastizität und Haptik völlig nivelliert werden. Die Formen und Figuren sind kaum klar umrissen und dadurch kaum von den sie umgebenden Farbspuren zu unterscheiden. Gibt es einmal doch klare Konturen, so sind diese umzingelt von undurchschaubaren malerischen Elementen, die in ihrer räumlichen Disposition und gegenständlichen Konkretion kaum zweifelsfrei erfassbar sind. Auf den Gemälden gibt es keine Oasen visueller Ruhe, überall züngeln und entrollen sich Stoffbahnen und parataktische Formstrukturen. Die jeweils dargestellten Handarbeiten, Sticken, Nähen oder Stopfen, bleiben ebenfalls ununterscheidbar. Die Parallelen zu Vermeer sind ebenso leicht erkennbar. Alle Aufmerksamkeit ist der Inszenierung der Handarbeitenden gewidmet, keine anekdotischen Rahmungen, lebensweltlichen Verflechtungen oder ikonografisch aufgeladenen Elemente lenken von den ins Bild gesetzten Frauen ab. Auch scheint sich Vuillard dem Objekt ähnlich intensiv und aus leichter Untersicht zugewandt zu haben. Jedoch rückt Vuillard näher an Marie heran und platziert ihr Gesicht in der linken unteren Bildecke, sodass dem Hintergrund auffällig viel Raum gegeben wird. Nebenbei bemerkt sei, dass das Vorbild Vermeer selbst noch in die dekorativen Arbeiten Vuillards eingewirkt hat. So lässt sich etwa jenes farbfließende Fadenknäuel, welches bei Vermeer links vorne die Pointe gesetzt hatte, auch auf der Tafel La Tapisserie aus dem Album-Zyklus von 1895 (Tf. 23) entdecken  : Aus der rechten Hand der 64 Vgl. Didi-Huberman 2007, S. 74–82 und 68.

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Stickenden rinnen an Fäden gemahnende rote Farbspuren, obwohl die Stickerei keinerlei rote Elemente erhält  ; eine motivische Erklärung für das Fadenrinnsal besteht also nicht. Ähnlich wie bei den Lesenden von Corot und der Spitzenklöpplerin ist das Motiv in Marie Roussel brodant à contre-jour als konvergent mit der ästhetischen Wahrnehmung des Betrachters, aber auch des Malers zu verstehen. Ebenso wie Marie sich in ihre Stickerei vertieft, wendete sich zuvor der Maler dem zu schaffenden Objekt zu und ebenso hernach der betrachtende Rezipient dem Gemälde. Im Gegensatz zu Vermeer gibt es nun keine Spannung mehr zwischen feinmalerischer Präzision und optischer Unschärfe, denn das Gemälde Vuillards ist an keiner Stelle eine illusionistische Repräsentation von Marie, sondern eine malerische Transposition des Anblicks. Die Spannung zwischen feinmalerischer Präzision und »Detonation« der Farbfäden, die mit Didi-Huberman als untrennbar korrelierende Pole der Malerei zu verstehen waren, findet also kein Pendant bei Vuillard. Vielmehr wird die Spannung bei Vuillard in das Verhältnis zwischen der Figur und der sie umgebenden Bildfläche übertragen. Nicht nur nimmt die umgebende Bildfläche irritierend viel Raum ein, zudem ist sie derart belebt, dass sie, im Gegensatz zur Spitzenklöpplerin, von der arbeitenden Frau ablenkt. Wenn der Blick bei Vermeer in der Spitzenklöpplerin sukzessive von der konzentriert arbeitenden Dame weg und hin zum Vordergrund gleitet, was zur gedanklichen In-Bezug-Setzung beider bildlicher Sphären führt, so gleitet der Blick bei Vuillard von Marie und der Assoziation der versunkenen Arbeit weg in die sie umgebenden visuellen Strukturen. Wie ist diese Akzentverlagerung zu verstehen und in welchem Verhältnis steht sie zum Motiv der Versunkenheit als reflexiver Verweis auf die ästhetische Wahrnehmung  ? Zuallererst ist auch diese Umdeutung als metapikturale Reflexion zu begreifen. Das wird deutlich, wenn man das bereits erwähnte Gemälde Intérieur, couseuse (Tf. 14) hinzuzieht. Auch hier ist das Motiv die in Handarbeit versunkene Schwester, auch sie ist in den linken unteren Bildquadranten gerückt, wodurch das Hauptbildfeld den Spiegelungen im geöffneten Fenster und dem durch ein Fenstergitter gewebeartig durchwirkten Blick auf Bäume gewidmet ist. Dass das Hauptblickfeld bei beiden Gemälden den Fenstern – einmal durch einen fein gewirkten Vorhang verhängt und einmal von den Fenstergittern durchzogen – gilt, muss mit Verweis auf die Malereitradition seit Alberti, in der das illusionistische Gemälde als Blick metaphorisch als Blick aus einem geöffneten Fenster definiert war, als weiterer Beleg für eine metapikturale Dimension (die dieses Verständnis von Malerei selbstverständlich zurückweist) verstanden werden. In anderen Werken wiederum, etwa Marie penchée sur son ouvrage dans un intérieur (1892/93) oder Marie penechée sur son ouvrage (1891) löst Vuillard sich stärker vom Vorbild Vermeer, ohne jedoch die hier in Rede stehende Bildlogik zu verändern. Analog zu den oben besprochenen Werken gehen die Damen auch hier im Bildgefüge fast unter, sodass die aufwändig komponierten Gewebeflächen aus Tapete, Stoff und Vorhängen abermals die Struktur der Malerei sichtbar machen. In ähnlicher Weise formulieren Ananth und Cousseau  : »la peinture assimilé à la couture (et vice versa)«.65 65 Ananth et al. 1990, S. 162–170, Zit.: S. 166.

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Des Weiteren spielt Vuillard hier mit dem der Bildtradition inhärenten Mechanismus, der den Betrachter motivisch auf das Sehen hinweist, das Objekt, welches die Frauen im Bild fokussieren, aber verbirgt. Einerseits greift Vuillard dieses Muster auf, andererseits inszeniert er um die Frauen in der Bildfläche Ornamentstrukturen, welche ganz genau dem entsprechen, was dem Rezipienten entzogen ist  : Die Klöppelei, an der Marie arbeitet, könnte sehr wohl so aussehen wie die Vorhänge hinter ihr. Der Stoff, über den Marie im Werk von 1892/93 gebeugt ist, könnte ohne Weiteres jenem im Raum verteilten ähneln. Vuillard bietet im Bild also spielerisch Imaginationsanreize an. Vor allem aber betonen die stoffartigen Flächen, analog zu den entgegenständlichten Fäden bei Vermeer, das Bild, dessen Produktion und dessen Rezeption als prozessual oszillierende Bewegung. Es ist ein der ästhetischen Wahrnehmung entspringendes Gewebe, welches, der textilen Handarbeit gleich, prozessual voranschreitet, im Wechselspiel zwischen Fokussierung und Gesamtschau Form annimmt und sich als potentiell unendliches Formwerden entfaltet. Offenbar passte das Textile und Stoffliche besser zu dem zu veranschaulichenden Phänomen als die beruhigte, fließende Ästhetik im Porträt Lugné-Poes. Das Textile als Materialisation der psychischen images

Um dies abschließend in seiner vollen Tragweite zu erhellen, ist der Blick auf den kulturhistorischen Kontext notwendig, in dem dem Textilen verschiedene auf das Engste mit der Psyche des Menschen verbundene Assoziationen zukamen. Zunächst wurde in der klinischen Psychiatrie die Handarbeit, die Herstellung von Textilien aufgrund ihrer Rhythmik als therapeutisches Mittel eingesetzt. Tranceartige Zustände konnten die Patienten aus ihren pathologischen Entgleisungen zurück in einen Zustand bringen, in dem die Psyche zu einem stabilen Identitätskern finden konnte. Alternativ galten die handwerklichen Erzeugnisse als Symptom, das Rückschlüsse auf den Geisteszustand der Patientinnen ermöglichen sollte.66 Textiles hängt demnach auf das Engste mit dem Innersten, also der Psyche, zusammen. Zugleich kommt dem Textilen um die Jahrhundertwende nicht nur vermittelt oder metaphorisch, sondern ganz buchstäblich die Rolle zu, als Materialisierung psychischer Innerlichkeit zu fungieren. Joseph Imorde hat sich diesem Phänomen gewidmet und ist in diesem Kontext auf eine ganze Reihe von okkultistischen Sitzungen gestoßen, die ihre gedanklichen Wurzeln im 19. Jahrhundert haben und für den Beginn des 20. Jahrhunderts belegbar sind. Sie machen besonders eindrücklich, in welchem Verhältnis das Stoffliche mit dem Psychischen stand. Imorde rekonstruiert Séancen, während derer demonstriert wurde, wie ein in hypnotischer Trance befindliches Materialisationsmedium Massen an Stoff ausstieß. Die davon existierenden Bilder machen glauben, das Medium hätte den Stoff gleichsam physisch hervorgebracht (Abb. 22–24). Die Anhänger dieser Séancen verstanden die Geschehnisse, wie Imorde ausführt, als »unbekannte, intelligente Kräfte, die sich in den 66 Vgl. dazu Ankele 2015 und und Röske 2010.

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Abb. 22  Fritz Grunewald, Teleplasmaschleier aus der Sitzung vom 4. September 1921, Fotografie Abb. 23  Albert Freiherr von Schrenck-Notzing, Materialisierter Gewebeschleier aus der Sitzung vom 1. Juli 1913, Fotografie. Das Medium Stanislawa Popielska ist in eine Tüllhaube gehüllt, durch die der Schleier des Teleplasmas scheinbar hindurchdringt

Materialisationen äußerten, Kräfte, die auf die außerordentlichen Fähigkeiten des Unterbewusstseins zurückzuführen seien und aus diesem auch gespeist würden.«67 Die Metapher des Stoffs als Inbegriff der Psyche ist bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geläufig.68 Wie am Beispiel der Séancen aber offenbar wird, ist die Metapher zunehmend weniger abstrakt und gleichnishaft verstanden worden, sondern ganz konkret und buchstäblich. Es handelt sich bei den materialisierten Stoffmassen also um eine materielle Konkretion von Seelen-Essenz.69 Das »psychische Fluid« – man erinnere sich an Taines 67 Imorde 2005, S. 364. 68 Vgl. etwa die beiläufige Bemerkung bei Gabriel Séailles, der sich wiederum auf den Cours de psychologie, à l’Ecole normale supérieure, en première année (gehalten 1865/66) von Jules Lachelier bezieht. Vgl. Séailles 1897, S. 17. 69 Vgl. Imorde 2005, S. 364.

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Abb. 24  Albert Freiherr von Schrenck-Notzing, Materialisierter Gewebeschleier aus der Sitzung vom 23. Juni 1913, Fotografie. Das Medium Stanislawa Popielska trägt Schleierhandschuhe und Schleierhaube Abb. 25  Albert Freiherr von Schrenck-Notzing, Ideoplastische Ausformung eines Frauenkopfes aus der Sitzung vom 8. Mai 1912, Fotografie

Bild des inneren Stroms aus images – emaniert als ein Stoff. Dieser konnte verschiedenste Gestalten annehmen, mal »kam dieser Stoff als dehnbarer Teig, als proto-, ekto- oder auch teleplastische Masse daher, mal zeigte er sich in Form von dünnen Fäden oder Schnüren von dunkel-felliger oder auch hell-baumwolliger Materialität.«70 Vor allem aber konnten die Stoffe verschiedene Grade der Gestalthaftigkeit aufweisen. Denn – so die Theorie – je stärker die psychische Energie des Mediums in die Materialisation überführt werden konnte, umso konkretere Formen waren den Stoffen eingeschrieben. Zunächst war es möglich, in den Stoffknäueln assoziativ etwa Gliedmaßen oder Körperteile zu erkennen, in seltenen Fällen aber sogar bildartige Strukturen, ja sogar Anklänge an Kunstwerke der alten Meister (Abb. 25). Das untersuchte Phänomen bestand also nicht nur in der wundersamen Umwandlung von psychischer Energie in ein beliebig erscheinendes physisches Objekt, sondern diese Umwandlung barg mitunter ästhetische bzw. künstlerische Qualitäten, die man auf den durch das Unterbewusste geleisteten Transformationsprozess zurückführte. 70 Imorde 2005, S. 372.

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Abb. 26  Mme Vuillard cousant, 1893, Öl auf Karton, 19,5 x 24 cm, Privatsammlung, New York (IV-138) Abb. 27  La Grande Serviette, ca. 1891/92, Öl auf Karton, 28 x 23 cm, William Kelly Simpson, New York (II-128)

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Die »Ideoplastie« wurde erklärt als mnemotechnische Manifestation, als unterbewusster Erinnerungsvorgang, der auf der Basis der inneren images und deren Gesetzen folgend in Stoff materialisierte Bilder hervorbringt.71 Dem Textilen eignet in der Schaffenszeit Vuillards mithin eine dezidiert psychische und mnemotechnische Semantik, die es als Ausfluss des Innersten verständlich macht. Da der Maler es im Schaffensprozess hervorbringt und es in der Bildbetrachtung als stofflicher Gegenstand nachvollzogen werden muss, lässt sich dies sowohl auf die Rezeption als auch auf den Schaffensprozess beziehen. Denn der Maler bringt sein Innerstes als Stoff auf die Leinwand  ; der Betrachter (und dies kann selbstverständlich auch der Künstler selbst ein) schreitet das Gemälde Schritt für Schritt ab und versucht, wie ein voranschreitendes Gewebe, im Zusammenspiel mit seinen inneren Assoziationen aus der Bildfläche Formen und Gegenstände herauszubilden. Auch dies ist eine Form des Hervorbringens, und sie ist geprägt durch die prozessuale Struktur des Textilen. Damit erscheint das Textile in den Werken Vuillards nicht nur als abstrakte Referenz, sondern ganz anschaulich und konkret als Ausfluss, als Niederschlag des Innersten, der inneren Bilder, die im psychischen Apparat unablässig kursieren. Hierzu passen Werke Vuillards, auf denen die Stoffmassen geradezu als Ausfluss der nähenden Frauen erscheinen. In Ansätzen ist dies im Bild Mme Vuillard cousant von 1893 (Abb. 26) der Fall, wo der Stoff so dicht unter das Gesicht und auf Höhe des Herzens gehalten wird, dass er fast als Ausfluss der konzentrierten Arbeit wirkt. Ganz besonders frappierende Ähnlichkeit mit den materialisierten Stoffen indes hat La Grande Serviette von ca. 1891/92 (Abb. 27)  ; der weiße Stoff scheint förmlich aus der Frau hervorzuquellen. Die Art und Weise, wie dies dargestellt ist, ähnelt stark den überlieferten Fotografien von Materialisierungen der psychischen Essenz in Gazestoffen. Obgleich die Fotos später entstanden sind als die Gemälde und damit nicht konkretes Vorbild gewesen sein können, bezeugen sie die Tatsache, dass ein bestimmtes bildhaft-konkretes Denken über die psychische Essenz vorherrschte. Und zwar die Idee, dass diese Essenz nicht nur metaphorisch, sondern ganz buchstäblich ein Gewebe sei. In diesen Gemälden Vuillards ist das Textil mithin Gegenstand gleichermaßen der Handarbeit wie des Malens und überdies auch direkter Niederschlag jenes dem materiellen Gepräge notwendig vorgängigen Flusses der inneren Vorstellungsbilder. Damit wird der malerisch-imaginative Prozess im Textilen zweifach verdoppelt. Einmal sind – ähnlich wie bei Vermeer – Malerei und textile Handarbeit ganz konkret strukturverwandt  : als Handarbeit, die Schritt für Schritt zusammensetzt, die visuell funktioniert, die ästhetischen und ornamentalen Mustern folgt. Aus der Tradition der Lesenden entnimmt Vuillard den Impuls, seine Gemälde als Versinnbildlichung und Reflexion von ästhetischer Wahrnehmung zu konzipieren. Über Corot und die eigenen, noch an Gauguin erinnernden Versuche hinausgehend, kommt die Inspiration durch Vermeer hinzu, nämlich ins Gemälde eine spannungsvolle Dialektik einzubauen, die nicht nur gleichnishaft die Konvergenz von Motiv und Rezeption veranschaulicht, sondern zudem das Wesen der Malerei und der inneren Bilder reflektiert. 71 Vgl. Imorde 2005, S. 373 f.

Ästhetik des Flirrens  |  175

Metapiktorale Reflexion und Reflexion der ästhetischen Wahrnehmung als konkrete Intro­ spektion greifen ineinander und fallen in den stofflichen Flächen in eins. In der Tradition der Lesenden und konkret ausgehend von Vermeer ist die »couture-peinture« Vuillards also nicht nur als »méditation sur la poétique picturale«72 zu verstehen, sondern als ganz buchstäbliche Umsetzung der kulturhistorischen Metaphorik. Vuillard reflektiert, seinen introspektiven Einlassungen in den carnets entsprechend, den produktionsästhetischen Vorgang der Bildschöpfung im Gemälde. Dabei spürt er dem Zustandekommen der inneren Bilder nach und deutet sie als textiles Gewebe, das zwischen Materialität und Gegenständlichkeit changiert. Neben den Beobachtungen im Schneideratelier und der Reflexion der Bildtradition Corots und Vermeers sowie seinen eigenen Reflexionen waren seine Überlegungen zudem eingebettet in die kulturhistorische Assoziation des Textilen als rhythmisch-hypnotische Arbeit und vor allem als Materialisierungsäquivalent von Innerlichkeit, einer Innerlichkeit, die im Zuge der psychologischen Debatten als Essenz der abgelagerten Erfahrungen, ergo als mémoire zu verstehen ist. Im Folgenden wird unter Einbezug der Metaphorologie zur mémoire zu zeigen sein, in welchen anderen ästhetischen Facetten Vuillard seine Gemälde immer subtiler im Zusammenspiel mit dem psychologischen Diskurs entwickelt.

4.2 Ästhetik des Flirrens – »[…] cette émotion seule doit me servir et je ne dois pas chercher à me souvenir du nez ou de l’oreille […]«73 Die Ästhetik des Flirrens »Oui, je ne peux m’en empêcher  : chaque fois que je revois au Petit Palais les ›Bibliothèques‹ [den Vaquez-Zyklus (1896)  ; M.G.] de Vuillard, je pense à Proust, frappé que je suis, que j’ai toujours été, de l’écart minimum de densité et de relief qui sépare les personnages de son livre de la masse foisonnante, vivante dont le livre est fait, et dont ils émergent tout juste. Ils sont comme des bas-reliefs de faible saillie, pris dans l’épaisseur, et qui se détacheraient à peine […].« Julien Gracq  : En lisant en écrivant, Paris 198074

Der 2007 verstorbene Schriftsteller Julien Gracq beschreibt in obigem Zitat die Faszination, die von Vuillards Vaquez-Zyklus von 1896 (Tf. 19–22) ausgeht. Unter Rekurs auf 72 Ananth et al. 1990, S. 162–170, Zit.: S. 166. 73 Vuillard, Carnets, I.2., 20v (6. September 1890). 74 Zit. nach Akat. Vuillard, Winterthur 2014, S. 41, Fn. 10.

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Proust verweist er auf das spannungsvolle Phänomen der aus der überfluteten Bildfläche mit nur minimaler Distinktion hervorscheinenden Figuren.75 Er geht dabei aus von der Beobachtung, dass in diesem üppig-quirligen (»foisonnante«) Farbteppich trotz aller Unruhe und flirrender Überfülle beim Betrachten nach und nach Figuren und Gestalten erscheinen. Im Akt der Betrachtung, so möchte man hinzufügen, findet dies jedoch keinen Abschluss, sondern bleibt als spannungsvolles Zusammenspiel zwischen den Figuren und dem sie umgebenden Farbenmeer dauerhaft in der Schwebe. Der Vaquez-Zyklus ist 1896 für den Mediziner Dr. Louis-Henri Vaquez angefertigt worden.76 Er besteht aus vier Leinwänden, zwei nahezu quadratischen und zwei hochrechteckigen. Der Zyklus war für die Bibliothek des Arztes bestimmt. Die Titel der einzelnen Leinwände stammen nicht von Vuillard, sondern von der Forschung und sind im weitesten Sinne abgeleitet von den jeweiligen dargestellten Szenerien. Im Einzelnen sind dies Le travail (Tf. 19), Le choix des livres (Tf. 20), L’intimité (Tf. 21) und schließlich La musique (Tf. 22).77 Zu sehen ist die panoramaartige Darstellung eines Interieurs, welches in Teilen als Bibliothek eingerichtet ist. Hinzu kommen Raumausschnitte, die mit Klavier und Fauteuil eher an einen Salon erinnern. Die Motivik des Zyklus entspricht, wie in den Beispielen des vorherigen Kapitels, dem Motivkreis des Versunkenseins. Mit Ausnahme der suchend am Büchertisch stehenden Frau auf Le choix des livres sind alle Personen in kontemplative Tätigkeiten versunken dargestellt  : Lesen, Sticken und Musizieren. Auch hier wird durch dieses Motiv wieder auf die Innenwelt der Figuren und die Verfasstheit des Gemäldes verwiesen. Vor allem aber wird mit dieser introspektiven Wendung auf die Frage verwiesen, welchen Anblick Vuillard hier ins Bild setzt. Eine reale Abschilderung ist es ebenso wenig wie eine impressionistische Momentaufnahme  ; welcher Reflexion und imaginativen Strategie entspringt die Ästhetik dieser Bilder  ? Gloria Groom hat in ihrer kleinteiligen Rekonstruktion, den Auftraggeber Vaquez betreffend, betont, dass der unter anderem auf Koronarerkrankungen spezialisierte Arzt versuchte, diese somatischen Probleme in Verbindung mit psychisch-nervlichen Beschwerden zu verstehen, und sich in diesem Kontext auch mit der Neurasthenie beschäftigte.78 Zudem war Vaquez auch einer der ersten Kardiologen, die den jungen Marcel Proust betreuten.79 Er interessierte sich ebenso wie Proust für psychische Prozesse. Beide verkehrten in gesellschaftlichen Zirkeln, in denen die moderne Psychologie mit Interesse verfolgt wurde, und Vaquez war intensiv in die künstlerischen Kreise, zu denen auch Vuillard gehörte, involviert. Neben Werken von Vuillard umfasste seine Sammlung Werke von Henri Toulouse-Lautrec, Auguste Rodin, Eugène Carrière, Auguste Renoir, Egdar Degas 75 Exemplarisch in Bezug auf Proust hat etwa Mieke Bal die Ästhetik der Erinnerung als changierend, nicht identifizierend, oszillierend beschrieben. Vgl. Bal 2015. In diesem Sinne auch Ryan, die viele der folgenden Beobachtungen bereits für den Bereich der Literatur gemacht hat  ; vgl. Ryan 1991. 76 Vgl. grundlegend zum Zyklus Segard 1914, Bd. II, S. 266  ; Groom 1993, S. 90–96. 77 Vgl. Groom 1993, S. 90. 78 Vgl. Groom 1993, S. 90 f. 79 Vgl. Groom 1993, S. 91  ; vgl. zur Beeinflussung Prousts durch die Psychologen Perrin 1993  ; Terdiman 1993  ; Bizub 2006  ; Engel et al. 2010 und Carroy 2016.

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und Odilon Redon.80 Vuillard und Vaquez waren indes durch mehr verbunden als eine bloße Auftragsvergabe. Denn tatsächlich wird Vuillard bis ins 20. Jahrhundert hinein ein enger Freund des Arztes sein. Bemerkenswerterweise ist der Arzt auch Anlass zu einer der ganz wenigen Ausnahmen, in denen Vuillard eine männliche Figur in sein Kunstwerk integriert. Ausgerechnet auf der Tafel mit der Nähenden, Le travail (Tf. 19), die von allen Tafeln am wenigsten zu einer der Bibliothek passt, sieht man vermutlich den 36-jährigen Vaquez am Tisch sitzen, gedankenverloren gebeugt über Bücher. Die Integration des jungen Vaquez, also eines männlichen Motivs, ist insofern verwunderlich, als männliche Figuren in anderen Werken kaum vorkommen und Vuillard selbst einmal – in seinen carnets – darauf hingewiesen hat, er vermöge es nicht, männliche Figuren in seine Ästhetik zu integrieren, da sie in ihm lediglich das Gefühl des Lächerlichen evozierten.81 Bei dem jungen Vaquez machte er offenbar eine Ausnahme, die Freundschaft, die die Männer verband, könnte eine mögliche Erklärung sein. Ansonsten gestaltete Vuillard den Zyklus aber ausschließlich aus seiner Bildwelt heraus. Katherine M. Kuenzli hat herausgearbeitet, wie ungewöhnlich diese Anlage ist. Gerade die Bibliothek als Hort des Intellektuellen war im bürgerlichen Milieu eine klassische Männerdomäne, und Vuillard bietet in seinem Zyklus nicht nur keine Spiegelung der realen Wohnverhältnisse, sondern revidiert mit seiner Ausdeutung des Raumes die gängige Gender-Semantik.82 So dominieren in der Bibliothek Frauen, Blumen, Stoffe, das Musikalische, Muster und Ornamente sowie fein inneinander verwobene Farbakkorde. Ebenso wie bei dem ähnlich gestalteten Zyklus L’Album (1895) tritt hervor, dass Vuillard ganz dezidiert nur mit und in seinem ureigenen inneren Bilderschatz arbeitete. In Bezug auf L’Album betont der enge Freund Thadée Natanson im Jahre der Entstehung des Vaquez-Zyklus, Vuillards Dekoration sei einzig komponiert nach dem, was die Empfindsamkeit (»tendresse«) des Malers ergriffen hatte.83 Ganz in diesem Sinne rezensiert auch André Gide den Vaquez-Zyklus 1905. Er versucht das Enigma der Tafeln, dieser »paysage avec figures«, zu ergründen und schreibt  : C’est peut-être M. Vuillard lui-même. Il se raconte intimement. Je connais peu d’œuvres où la conversation avec l’auteur soit plus directe. Cela vient, je crois, de ce que son pinceau ne s’affranchit jamais de l’émotion qui le guide, et que le monde extérieur, pour lui, reste toujours prétexte et disponible moyen d’expression. Cela vient surtout de ce qu’il parle à voix presque basse, comme il sied pour la confidence, et qu’on se penche pour l’écouter. […] Il n’avance point une couleur qu’il ne l’excuse par un subtil et précieux rappel.84

80 Vgl. zum sozialen Umfeld von Vaquez auch Kuenzli 2010a, S. 188. 81 Vuillard, Carnets, I.2., 46r (27. Juli 1894)  : »[…] je n’introduis jamais de personnages hommes, je constate. D’autre part quand mon attention se porte sur les hommes, je vois toujours d’infâmes charges, je n’ai qu’un sentiment d’objets ridicules.« 82 Vgl. Kuenzli 2010a, S. 189–193. 83 Vgl. Natanson 1896, S. 518. 84 Gide 1905, S. 480.

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Bereits die Bezeichnung der Dekoration als »paysage« ist signifikant und lässt an die stimmungshafte Qualität denken, für die das Genre der Landschaft im Laufe des 19. Jahrhunderts paradigmatisch geworden war.85 Mit der Rede von »Vuillard lui-même« spricht Gide, analog zu Natanson, die zutiefst persönliche und intime Note des Gemäldes an. In fast einzigartiger Weise sei die Emotion des Malers das leitende Prinzip. Im Kern trifft Gide damit jene Intention, die Vuillard signifikanterweise bereits 1891 in seinem carnet niedergelegt hatte  : »Le travail ne doit pas dépendre d’une impression passagère  ; on se borne à comprendre ceci  : une émotion fera une œuvre, une autre en fera une autre.«86 Es geht hierbei um die Bildfindung gemäß einem Gefühl. Und diese sei vornehmlich über die Erinnerung zu gewinnen  : »[…] une tête de femme vient de me donner certaine émotion, cette émotion seule doit me servir et je ne dois pas chercher à me souvenir du nez ou de l’oreille, cela n’importe en rien  ; regardons ce que je fais, le nez et l’oreille que je fais mais ne cherchons pas à nous rappeler autre chose que l’émotion chose fort complexe dans ses causes.«87 Das Entscheidende, die Emotion, kommt nicht durch die unmittelbare Wahrnehmung ins Bild und erzeugt kein präzises Abbild. Vielmehr entsteht über den Umweg der Erinnerung eine Transformation, die eben nicht formal präzise, sondern emotional dicht sei, wie Vuillard, wiederum in den carnets, formuliert  : »Ainsi est-il faux de vouloir se rappeler un œil, une oreille  : un souvenir quelconque, non pas un objet, suffit comme sujet d’une œuvre d’art, mais ce souvenir est la condition nécessaire. Maintenant de quelle nature peut-il être  ? ce souvenir n’a rien de précis dans les objets, ce n’est pas une copie.«88 Die Frage stellt sich, welcher Transformationsprozess mit der mémoire verbunden wird und zu welcher Ästhetik er führt. Wo haben diese Vorstellungen ihren Ursprung  ? Wie bereits der Blick auf Baudelaire und Corot gezeigt hat, konnte die mémoire als schöpferische Quelle besonders emotionaler Bilder gelten. Die Debatte der Psychologen hat dies bewusstseinstheoretisch facettenreich untermauert, sodass in den 1890er Jahren das Malen aus der Erinnerung nicht mehr romantisch spekulativ als emotional zu sehen, sondern auf der Grundlage eines komplexen neuen Subjekt-Entwurfs begründet worden war. Im Zuge dessen entstanden über die Qualität der Erinnerungsbilder hinaus auch weitreichende Aussagen über die Struktur des Zustandekommens dieser Bilder. Zu fragen ist also nach einem möglichen Zusammenhang zwischen Vuillards Ästhetik und der damaligen psychologischen Vorstellung von der Verfasstheit der ästhetisch und emotional verdichteten Bilder aus der mémoire.89 85 Vgl. auch das Kapitel zu Corot in dieser Arbeit (Kap. 3.2). Vgl. zur stimmungsvollen »paysage intime« Streisand 2001b, S. 116–119. Vgl. dazu, dass das Stimmungshafte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht mehr nur Teil des Genres der Landschaftsmalerei war, Thomas 2004, 2010a und 2010b. 86 Vuillard, Carnets, I.2., 30r (März 1891). 87 Vuillard, Carnets, I.2., 20v (6. September 1890). Auch van Tilburg betont die Stimmungshaftigkeit der Dekorationen Vuillards  ; vgl. van Tilburg 2010. 88 Vuillard, Carnets, I.2., 89 (loses Blatt  ; September 1891). 89 Was den Zusammenhang zwischen Vuillard und der Psychologie betrifft, sind folgende Arbeiten

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Gide hatte 1905 auf zweifache Weise versucht, die Qualität des Vaquez-Zyklus zu ergründen. Einmal indem er die Metapher des Flüsterns als Modus der vertrauten Kommunikation einsetzt. Hierbei ist nicht nur entscheidend, dass die Mitteilung des emotional Innersten ein intimer Akt ist, sondern vor allem der kommunikative Modus des Flüsterns, der an eine dezente und unaufdringliche Ästhetik denken lässt, untrennbar damit verbunden ist aber auch das Vage und nur Annäherungshafte. Weiterhin betont Gide die subtile Komposition und Farbharmonie des Zyklus  : die fast zaghaft gesetzten Farbakkorde, die elaborierte und zugleich zurückhaltende Farbpalette, die subtile Korrespondenz zwischen den dicht an dicht gesetzten Farbtupfern.90 Roger-Marx greift dies gedanklich auf, lenkt seine Beschreibung zudem auf das Diaphane der Darstellung, auf die Dominanz des Vibrierenden, die den Zyklus überzieht.91 Der eingangs zitierte Julien Gracq hat unter Rekurs auf Proust einen zentralen Aspekt angesprochen, der an diese Beobachtungen anschließt. Er führt die Faszination des Zyklus auf die unlösbare Spannung zu nennen. Grundlegendes zum fin de siècle und Einflüssen durch die experimentelle Psychologie hat bereits Filiz Burhan in ihrer Arbeit dargelegt (Burhan 1979). Ebenso stellen Richard Shiff und Jean-Paul Bouillon die Verflechtung der Sphären heraus (Shiff 1978 und 1984  ; Bouillon 2006a). Deborah Silverman wiederum hat die Psychologie Ende des 19. Jahrhunderts fruchtbar für ein erweitertes Verständnis des Art Nouveau gemacht (Silverman 1992). Allison Morehead kommt das Verdienst zu, in ihrer unpublizierten Arbeit, die ein weit gespanntes Panorama an symbolistischen Positionen verhandelt, die Verflechtungen zwischen den Nabis und der experimentellen Psychologie in einem vertiefenden Schritt untersucht zu haben (Morehead 2007). Minutiös trägt sie Aspekte und Verweise zusammen, die über die Befunde der anderen Autoren hinausgehen. Insbesondere hat sie zweifelsfrei belegt, dass in den Zirkeln der Revue blanche und der Nabis Hippolyte Taine und Théodule Ribot große Präsenz genossen (vgl. Morehead 2007, S. 76–78). In Bezug auf Vuillard betont sie vor allem die Parallele zwischen den ergebnisoffenen Experimentalanordnungen der Psychologen und Vuillards ebenfalls offenem Malprozess. Des Weiteren betont sie zu Recht die Neigung Vuillards zur Introspektion. Die mémoire streift sie dabei jedoch nur. Zu guter Letzt sind die Arbeiten von Susan Sidlauskas hervorzuheben, sie bringt Malerei und Psychologie in einen fruchtbaren Austausch, wenn sie innerhalb der Interieurmalerei Fragen der Subjektivität verhandelt sieht (Sidlauskas 2000, und auch die früheren Arbeiten von 1989 und 1996). Dabei versteht sie das Interieur als Teil des Dispositivs von Innerlichkeit, welches die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts prägt. Das Interieur ist also nicht nur architektonisches Element, Bildsujet, wohnkulturelle Bühne, sondern das Konzept der Innerlichkeit wird von Sidlauskas mit Bezug auf Foucault auch als neues, genuin modernes Subjekt-Paradigma verstanden. Die Idee vom Selbst wird von den Zeitgenossen in und mit der Sphäre der Innerlichkeit theoretisiert. Des Weiteren legt Sidlauskas die Arbeitshypothese zugrunde, dass das Interieur nicht nur räumliches »Innen«, sondern auch psychische, die Konstitution des Selbst betreffende Innerlichkeit verhandelt. Dies geschieht wiederum der bildlichen Logik folgend durch die Analyse von Bildpersonal im Raum bzw., abstrakter, des Körpers im Raum. Wenn man so will, gelingt es ihr damit, eine klassische kunsthistorische Analysekategorie diskursarchäologisch aufzuladen. Überdies streift sie, ohne direkten Bezug auf Vuillard, das Thema der mémoire (vgl. Sidlauskas 2000, S. 16). Wo es ihr um das Interieur, den Körper und den Raum als Dispositiv geht, wird es hier um die Erinnerung, die Emotion und das Zusammenspiel von Imagination und ästhetischer Form als Fluchtpunkte der Argumentation gehen. 90 Vgl. Gide 1905, S. 480 f. 91 Roger-Marx 1945, S. 126.

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zurück, die entsteht zwischen der zurückgenommenen, minimal reliefartigen Plastizität der Figuren und der wimmelnden, lebendigen Masse der gesamten Bildfläche. Die Bildfläche ist übersät mit Farbtupfern, Formfetzen, Strichen, amorphen Minimalgebilden, schwebenden, in sich unruhigen Flächen, verschwimmenden, bald sich auflösenden, bald Gestalt annehmenden Farbeinheiten. Die Figuren sind großteils nur als Farbflächen auf den Hintergrund gesetzt und entwickeln nur passagenweise eine Plastizität. Ähnlich wie auf einem Flachrelief ergibt sich die Ordnung der Dinge weniger durch deren körperliche Volumina als vielmehr durch die Reihenfolge, in der sie übereinandergeschichtet sind. Vuillard kombiniert nun die minimale Plastizität eines solchen Reliefs mit dem Übereinanderschieben von Objekten. Zugleich unterläuft er dies, indem er absichtsvoll die Konturen und Volumina verwischt und auflöst. Auf La musique (Tf. 22) verschmelzen die drei Frauen zu einem nicht mehr klar unterscheidbaren Formkomplex, die Passage links von der Lesenden (Tf. 21) ist gegenständlich überhaupt nicht mehr zu identifizieren, sondern bildet ein dichtes Farb- und Formgewebe. Wenn Gide die bei der Rezeption anscheinend spürbare sensible Verzagtheit des Malers beim Aneinandersetzen der Farbtupfer beschwört, wird klar, dass es sich keinesfalls um ein chaotisches Wirrwarr und auch nicht um das Ergebnis impressionistischer Experimente handelt.92 Vielmehr entsteht ein höchst elabo­ riertes Gewebe, welches trotz seines materiellen Niederschlags in einem Gemälde seltsam ungreifbar bleibt. Es erscheint als flirrende Oberfläche93 lebendiger Kleinstelemente, die beständig pulsieren und keinerlei Ruhe, im Sinne greifbarer Formen, einkehren lassen. Gracq hat zu Recht betont, dass es sich hierbei um eine der entscheidenden Qualitäten von Vuillards Malerei handelt, einer Malerei, die Objekte und Gegenstände nicht zeigt, sondern sie allenfalls erscheinen (»émergent«) lässt.94 Dieses Erscheinen ist eine grundsätzliche Qualität der Werke Vuillards. Weder die einzelnen Formen noch das Bild als Ganzes sind einzufangen. Die Pinselstriche sind so aufeinander bezogen, dass sie einmal als Gestalt oder gestaltbildend ins Auge springen, dann aber wieder der Malgrund hervortritt oder die angrenzenden Farbfelder und die eben gesehenen Formen wieder in den Hintergrund geraten. Sind die Blumen Teil des Straußes oder schon Teil der Tapete  ? Was ist Tischdecke und was sind die Kleider der am Tisch sitzenden Frau  ? Sind die in opulente Stoffe gekleideten Frauen im Hintergrund überhaupt figürlich zu trennen oder verschmelzen sie zu einem einzigen Rausch gemeinschaftlicher Sinnlichkeit  ?95 Was ist mit den Frauen im Türsturz auf L’intimité  ? Auch sie scheinen mehr auseinander hervorzugehen, als zwei distinkte Figuren zu sein. Gänzlich unklar ist die violette Fläche links vorne, ebenfalls auf L’intimité, in einer Zone, die derart ungegliedert ansonsten nirgends im Zyklus auftaucht. Die Lesende selbst wiederum grenzt sich in der unteren Körperhälfte blockartig vom Sofa ab, ihr Oberkörper jedoch verschwimmt, weich wogend mit der Sofalehne hinter ihr. 92 93 94 95

Vgl. Gide 1905, S. 480. Schweicher spricht von »Figuren im Geflimmer«, Schweicher 1949, S. 107. Auf dieses Phänomen hat bereits Segard hingewiesen  ; vgl. Segard 1914, Bd. I, S. 272. Ähnliches hat auch Groom beobachtet  ; vgl. Groom 1993, S. 92 f.

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Bei der Rezeption des Zyklus konkurriert, was bei Gracq ebenfalls mitschwingt, wie oben beschrieben die visuelle Identifikation von Gestalten, Gegenständen, Raumsituationen mit jener, die den Farbenteppich in seiner verwickelten Komplexität nicht analysiert, sondern wirken lässt.96 Ein Bild verdrängt das andere, ein Farbakzent verdrängt den anderen. Es geht offenbar nicht darum, sich auf das eine oder das andere zu fokussieren, vielmehr dominiert ein spannungsvolles Changieren, indem das Oszillieren zwischen dargestellten Formen, Objekten und Farben unendlich anhält. Erkennbares und abstrakte Form befruchten sich wechselseitig assoziativ. Die Frauen, Stoffe und Räume sind weniger lesbare Zeichen, sie entfalten ihren ästhetischen Gehalt vielmehr erst in der oszillierenden Assoziationsbewegung, die die Transparenz und Opazität der Bildzeichen unauflösbar in der Schwebe hält. Wenn man so will, handelt es sich um eine unendliche performative Ästhetik. Eine Ästhetik, die ihre Einlösung im Vorgang des endlos oszillierenden Sehens findet und nicht in einer abschließenden kognitiven Gewichtung dieser oder jener Form. Je länger man in das Gemälde präzisierend einzudringen versucht, desto mehr versperrt sich das Bildgewebe, wird opak und gibt sich nur noch als seine materielle Substanz – dicht gesetzte Farbtupfer und hier und da durchscheinende Leinwand – zu erkennen. In der Rezeption muss die Wahrnehmung des Betrachters permanent changieren zwischen den verschiedenen Wahrnehmungsmöglichkeiten. Vuillard nimmt hier seinen Gedanken der imaginativen Unendlichkeit im Gemälde wieder auf, den er spielerisch in Au lit entwickelt hatte.97 War es dort eine Logik der Tabula rasa und der Leerstelle, die auf das unendliche Reservoir der Imagination hinwies, so versucht Vuillard im Vaquez-Zyklus und den vielen anderen ähnlich gestalteten Gemälden das Phänomen der unendlichen und unstillbaren Imagination ins Bild zu setzen, die ausgehend von opaken Bildelementen zu Formen und Gestalten kommt, um sogleich wieder auf der Suche nach weiteren Formen aufgegeben und transformiert zu werden. Diese komplexe mentale Bewegung soll nicht abgebildet oder dargestellt, sondern in Vuillards fragilen Formgeweben erfahrbar gemacht werden. Werkimmanent dominiert mithin eine Ästhetik der Ambivalenz zwischen formauflösender Vibration und gleichzeitig hoher assoziativer Anschlussfähigkeit  : Blumen sind Kleider, Kleider sind Tapeten, Menschen sind Objekte, Objekte sind Flächen, Bücher sind Streifen, Streifen sind Stoffe – und alles ist Gewebe, Stoff, Bild. Ein Bild, das, so legt das Sujet nahe, im Zustand der Absorption entsteht. Dabei werden frei fließende innere Bilder und Assoziationen aus der mémoire hochgespült. Denn die dargestellten Tätigkeiten und Zustände, das Musizieren, das Lesen, das Nähen respektive Sticken – all dies sind Zustände der Versunkenheit, die nicht nur passiv rezipieren, sondern in aktive Zustände einer inneren Assoziationsflut umschlagen.98 Diese Assoziationsflut hat, wie in

96 Diese Beobachtung findet sich auch im Akat. Vuillard, Washington/Montreal/Paris/London 2003, S. 197. 97 Vgl. dazu die Ausführungen zu Au lit (1890) in dieser Arbeit (Kap. 2). 98 Vgl. dazu in dieser Arbeit die Ausführungen zu Vermeer (Kap. 4.1).

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der Forschung zu Recht betont wurde, das Gepräge eines Stoffes, eines Teppichs, eines Gewebes.99 Das ist Thema dieses Zyklus, die spezifische flirrend-vibrierende Ästhetik innerer, jenseits von Alltagswahrnehmung frei fließender Assoziationsbilder, gespeist aus der mémoire. Inwiefern können die Gemälde Vuillards tatsächlich als ästhetische Reflexionen über die innere, frei fließende Bilderflut aus der mémoire gelten  ? Lässt sich diese Ästhetik kulturhistorisch rückbinden, um eine solche Deutung zu unterstützen  ? Einen ersten Hinweis erhalten wir ebenfalls von Natanson, der, in anderem Zusammenhang, diese »rapports jamais vus« einerseits erklärt durch die Empfindsamkeit (»tendresse«) des Malers, andererseits aber hinzufügt  : »et que son souvenir ému a retenues.«100 Wieder wird zur Erklärung der Kunstwerke Vuillards die Erinnerung herangezogen als Partner, neben der »tendresse«, bei der Schöpfung der Gemälde. Der befreundete Natanson wusste bestimmt von den Erwägungen des Malers, mit dem Malen nach der Erinnerung zu experimentieren  ; zudem zeugt der selbstverständliche, en passant im Nebensatz gereichte Verweis auf die mémoire bzw. souvenir auf eine Art visuelle Kultur des Erinnerungsbildes, zu der Vuillard mit seinem Werk maßgeblich beiträgt. Die Metapher des vibrierenden Bildes in der Psychologie der mémoire

Ohne zu übertreiben, kann man in der psychologischen Literatur, insbesondere in jener zu Fragen des Gefühls und der Erinnerung, von einer Leitmetapher des Flirrens, des Vibrierens und der kinetischen Gewebe sprechen. Taine und Ribot hatten an verschiedenen Stellen unmissverständlich betont, dass die gesamte Psyche mit all ihren geistigen, sinnlichen und affektiven Dimensionen sowie ihrem physiologischen Unterbau ein einziges fragiles Gebilde ist, das in permanenten, sich wechselseitig überformenden Prozessen organisiert ist  ; das nur in einem künstlichen Akt des Geistes als stillgestellt erscheint, sich tatsächlich aber in ewigem Fließprozess befindet. Ribot schreibt 1896  : »Ce qu’on appelle l’état normal est une pure conception de l’esprit, une forme typique idéale entièrement dégagée des mille divergences entre lesquelles flotte incessamment l’organisme, au milieu de ses fonctions alternantes et intermittentes.«101 Auch die Sinne und die Vorstellung sind – metaphorisch gedacht – strukturiert als Vibrationen der Hirnzellen. Taine formuliert bereits 1870  : »Pour les sens et l’imagination, la sensation, la perception, bref la pensée n’est qu’une vibration des cellules céré­brales […]  ; mais la pensée n’est telle que pour les sens et l’imagination«102. Ursprünglich geht  99 Vgl. dazu etwa Groom 1993, S. 93. Die Forschung ist jedoch über diese ästhetische Analogie hinaus nicht zu einer Erklärung resp. Deutung gekommen. 100 Natanson 1896, S. 518. 101 Ribot 1896, S. 63, Hervorhebung M.G. Ribot bezieht sich hier direkt auf den Mediziner Claude Bernard. Ähnlich hat Taine über die permanente Gefährdung des ausbalancierten psychophysischen Systems geschrieben, vgl. dazu Guthmüller 2007, S. 88. 102 Taine 1892, Bd. I, S. 331, Hervorhebung M.G.

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das Bild vibrierender Nervenelemente auf Descartes zurück, bei dem diese jedoch in einen starren Reaktionsablauf integriert waren.103 Bei Taine hingegen gewinnen die vibrierenden Elemente ein Eigenleben, sodass sie »unendlich nachvibrieren« und den Empfindungsapparat des Menschen stets in Bewegung halten.104 Ribot wiederum hatte die metaphorische Idee des fragilen Netzes zudem auf die Erinnerung angewandt, die er als Bündel heterogener Einheiten beschrieb, die modulare Bindungen eingingen und so als einheitlich verbunden erscheinen könnten, tatsächlich aber weiterhin eine lebendige Vielheit seien.105 Im Kern sei die Erinnerung eine Summe leicht zu erregender Assoziationselemente.106 Das affektive Leben wiederum ist per se als mobil und rastlos definiert und oszilliere permanent hin und her zwischen physiologischer Basis und psychischer Ausformulierung. Ribot erklärt  : »parce que la vie affective, la plus mobile, entre toutes les formes de la vie psychique, oscille sans cesse autour d’un point d’équilibre, toujours prête à descendre trop bas ou à monter trop haut.«107 Die Gemälde Vuillards weisen eine frappante Analogie mit der metaphorischen Ästhetik auf, welcher sich die Psychologen zuhauf bei ihrer Vermessung der menschlichen Psyche bedienten. Allerdings ist noch nicht leicht einzusehen, inwiefern die Metaphorik zur Beschreibung abstrakter psychischer Systeme – Psyche, Erinnerung etc. – Anregung zu Gemälden Vuillards gewesen sein können. Dies wird klarer, wenn man berücksichtigt, dass die Leitmetapher der permanenten fließend-kinetischen Neumodulation aller Zustände insbesondere auch für die images der mémoire galt. Blickt man auf Metaphern dazu, wird zudem das oben anhand des Vaquez-Zyklus beschriebene permanente Changieren zwischen Figuren und Gegenständen deutlich. So ruft Taine diese Metaphorik auf, bei seiner Abhandlung über die Erinnerung von images und hier im Zusammenhang mit den Erinnerungen aus der Kindheit, die auftauchen, wenn sie durch entsprechende Wahrnehmung wieder geweckt werden. Si, après plusieurs années d’absence, on rentre dans la maison paternelle ou dans le village natal, une multitude d’objets et d’événements oubliés reparaissent à l’improviste. L’esprit, subitement peuplé de leur foule remuante, ressemble à une boîte de rotifères desséchés, inertes depuis dix ans, et qui, tout d’un coup, saupoudrés d’eau, recommencent à vivre et à fourmiller.108

Es wird metaphorisch ein Bild entworfen, in dem die Erinnerungen kleinen Organismen gleichen, die durch Wasser – gemeint ist die aktuale Wahrnehmung, die mit den eingelagerten Erinnerungen assoziativ verkoppelt ist – belebt werden. Sie verwandeln sich in 103 Vgl. dazu Guthmüller 2007, S. 85 f. 104 Vgl. dazu Guthmüller 2007, S. 85 f. 105 Vgl. Ribot 1906, S. 11. 106 Vgl. Ribot 1906, S. 16. 107 Ribot 1896, S. 63, Hervorhebung M.G. 108 Taine 1892, Bd. I, S. 131, Hervorhebung M.G.

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ein belebtes, unstillbares Gewimmel und unterfüttern so die konkrete Wahrnehmung mit affektiv-sinnlichem Leben. Der flirrende Unterbau, so könnte man sagen, verleiht dem Gesehenen überhaupt erst seinen emotionalen und sinnlichen Gehalt. Ganz in diesem Sinne bezieht sich auch Ribot in seiner Psychologie des sentiments auf diesen Sachverhalt, wenn er aus ihm einen Totaleffekt ableitet  : »Chaque sensation ou perception possède en effet, à côté de sa qualité objective ou de son contenu intellectuel, une sorte de coefficient subjectif, provenant des racines qu’elle plonge dans notre être et de la façon toute particulière dont elle nous impressionne, nous plait ou nous déplaît, nous excite ou nous apaise, en un mot nous fait vibrer tout entier.«109 Die Metaphorik der Psychologen gibt jedoch nicht nur Aufschluss über das systematische Gefüge der Psyche und einzelne images. Sondern die dahinterliegende Logik findet sich auch wieder in der Vorstellung davon, wie die Pluralität der inneren images strukturiert ist, wie sie entstehen und wie ihr Verhältnis untereinander ist. Denn sie sind keinesfalls klar voneinander geschieden, sondern überlagern sich, lösen sich gegenseitig ab, treten in den Hintergrund oder drängen sich hervor, mal jenes Detail hervorhebend, mal ein anderes. Taine beschreibt, dass ein inneres image immer eine Gruppe von anderen Bildern an die Oberfläche ziehe. »En effet, quand l’image de la forme aperçue tend à renaître, elle entraîne avec elle les images de ses différents accompagnements.«110 Es könnten aber nicht alle gleichermaßen im Bewusstsein präsent sein. Vielmehr bleiben die im Widerstreit befindlichen images gehemmt, und es entsteht, was man in der gewöhnlichen Sprache einen Eindruck (»impression«) nennt. »Cette impression peut être forte sans cesser d’être vague  ; sous l’image incomplète règne une sourde agitation, et comme un fourmillement de velléités […]. Tel est notre état ordinaire vis-à-vis des choses que nous avons plusieurs fois expérimentées  ; une image vague, qui correspond à la portion commune de nos diverses expériences […].«111 Gerade also von Wahrnehmungen, die wir immer und immer wieder gemacht haben, erhalten wir zwar einen tiefen Eindruck, jedoch lässt er sich im inneren Bild nur unbestimmt und unvollständig visualisieren, ja wird ständig modifiziert und unterlaufen durch jenes Gewimmel von angesammelten Sinnesdaten. Die Idee der sich verdrängenden und nie eindeutig greifbaren Sinnes- und Gefühlsfetzen beeinflusste Vuillard, denn mit ähnlichen Phänomenen war er 1890 beschäftigt, als er in seinen carnets beschreibt, wie schwer es ist, eine Empfindung oder eine Erinnerung präzise erfahrbar zu machen, was ihm fast als unmögliches Unterfangen erscheint  : On a du plaisir devant une forme, devant un ensemble de couleurs, parce qu’on les voit uniquement, alors le plaisir c’est l’état dans lequel on voit on est occupé par une sensation  ; […] Mais il y a des sensations plus fortes les unes que les autres  ? on est plus ou moins occupé et le plaisir est-ce l’instant même  ; mais tout de suite après le souvenir est encore

109 Ribot, 1896, S. 180, Hervorhebung M.G. 110 Taine 1892, Bd. I, S. 148. 111 Taine 1892, Bd. I, S. 149, Hervorhebung M.G.

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agréable (l’ensemble revécu que l’on confond avec le premier instant et qu’on recherche seul à tort sans résultat quand le premier n’a pas existé).112

Vuillard umkreist immer wieder das Spannungsverhältnis zwischen der Eigendynamik innerer Bilder und dem Versuch, ihrer mit dem Willen im kreativen Prozess habhaft zu werden. Keineswegs sieht er darin nur theoretische Gedankenspiele, er arbeitet sich in seiner malerischen Praxis vielmehr konkret daran ab. Diese Auseinandersetzung bildet offenbar einen Kern seines kreativen Schaffens. Im Juli 1894 schreibt er entsprechend  : »En peinture n’est-ce pas de même l’évocation de ces images intérieurs par des moyens très généraux aussi couleurs et formes, l’art consiste à introduire un ordre dans ces suggestifs de ces images.«113 Ribot wird sich in seiner späten, erst 1900 erscheinenden Schrift Essai sur l’imagination créatrice konkret auf die schöpferische Kreation der Künstler in ihrer Arbeit mit den inneren Bildern beziehen, wenn er schreibt  : L’image est donc soumise à un travail incessant de métamorphose, de suppressions et d’additions, de dissociation et de corrosion. C’est qu’elle n’est pas une chose morte  ; elle ne ressemble pas à un cliché photographique dont on peut indéfiniment reproduire des copies. Dépendante de l’état du cerveau, elle change comme tout ce qui est vivant, elle est sujette à des gains et à des pertes […].114

Das Wesen der inneren Bilder, so wie sie als Elemente der Erinnerung dem Bewusstsein zugespielt werden – sei es anlässlich einer konkreten Wahrnehmung oder ausgelöst durch andere Mechanismen –, scheint mithin nichts Fixiertes, nichts Stabiles, nichts Präzises zu sein, und die spezifische Qualität der Bilder ist genau darin begründet. Taine erläutert darüber hinaus, dass es sich bei den inneren Bildern nicht nur um eine instabile Entität handelt, sondern zudem um eine Dynamik, bei der die inneren Sinnesbilder nachgerade um Vorherrschaft ringen, bald das eine, bald das andere überwiegt, in den Vordergrund tritt, plötzlich auftaucht und wieder verschwindet. Er schreibt  : Lorsque nous voyons ou touchons un objet, lorsque nous entendons un son, lorsque nous éprouvons une sensation de saveur, d’odeur, de froid, de douleur, bref, une sensation quelconque, nous en gardons l’image ordinairement pendant une seconde ou deux, à moins que quelque autre sensation, image ou idée, se jetant à la traverse, ne supprime à l’instant cette prolongation et cet écho. Mais dans beaucoup de cas, surtout si la sensation a été saillante et importante, l’image, après une suppression plus ou moins longue, ressuscite d’elle-même.115

112 Vuillard, Carnets, I.1., 72r (loses Blatt  ; 31. August 1890), Unterstreichung i.O. 113 Vuillard, Carnets, 1.2., 43v (15. Juli 1894). 114 Ribot 1900, S. 16. 115 Taine 1892, Bd. I, S. 130, Hervorhebung M.G.

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Dieser Kampf der images um Präsenz, Unterdrückung und Wiedergeburt mithin fester Teil der nicht willentlich gesteuerten Bewusstseinstätigkeit und findet seinen ästhetischen Niederschlag bei Vuillard. In seinen Kunstwerken tauchen bald die einen Formen, bald die anderen Gestalten als distinkt aus der Menge der Bild- und Farbpunkte auf. Dies ist beobachtbar in Passagen des Vaquez-Zyklus, etwa rund um die Lesende (Tf. 21), wo sich die Gestalten der Dinge gegenseitig durchdringen und wechselseitig eine klare Gestalthaftigkeit verhindern. Analoges ist auf Le travail (Tf. 19) zu finden, rechts neben der Stickenden, wo die Formen ebenfalls wechselseitig ihre Gestaltprägnanz behindern. Auch in der Zeichnung schlägt sich die Auseinandersetzung mit widerstreitenden Formprozessen im Bild nieder. In einer Skizze von 1892/93 (Abb. 28) sind zwei Figuren angedeutet, der Rest des Blattes zeigt einen diffusen Nebel, der changierend verschiedene Objekte zu erkennen gibt. Mal setzt sich die Kontur einer Vase mit Blumenbouquet durch, davor zeichnet sich ein Gefäß mit dampfendem Inhalt ab, dann wiederum blitzt ein Türrahmen im Hintergrund auf. Die Person vorne scheint, wieder einmal, in Handarbeit vertieft zu sein, und ebenso, wie sich ihr Werk sukzessive fortsetzt, schreitet das Sehen und Identifizieren der Formen auf dem Blatt fort. In gesteigerter Form findet es sich im Zyklus L’Album von 1895 (Tf. 23–27). Hier wuchern die Formen nachgerade durcheinander und verdrängen sich gegenseitig bei gleichzeitiger Verschmelzung. Konturen sind unklar, lösen sich auf und verwandeln die Formgrenzen in offene Grenzen, die die Gestalten in überformende Austauschprozesse treten lassen. Man ist erinnert an die Werke des Malers Elstir in P ­ rousts Recherche, die ebenfalls die Auflösung der Konturen ausloten. Boris Roman Gibhardt deutet diese Auflösung als »Aufbrechen der vom Verstand diktierten Wahrnehmung der Grenzlinie«, welche »osmotische, vermittelnde Grenzlinien zur Folge [hat  ; M.G.], in denen das Eine den Anschein des Anderen besitzt, und in denen die von der ›habitude‹ [alltagsmäßig gewohnte Wahrnehmung  ; M.G.] gesetzten Oppositionsverhältnisse neue Verbindungen eingehen, jenseits des Vorwissens […], und neue Perspektiven […] eröffnen, – so wie es im Erinnern geschieht.«116 Das Faszinierende an den Gemälden ist, dass sie nicht nur um den Prozess innerer Bilder kreisen, sondern eine ähnliche Dynamik im Rezeptionsprozess erfahrbar machen. Es ist unmöglich, das ganze Werk in einem abschließenden Blick festzuhalten, es dominiert die Erfahrung, dass sich verschiedene Ansichten ein und desselben Werkes dadurch ergeben, dass stets andere Figuren und Passagen im Bild in den Vordergrund streben, andere wieder zurücktreten und dadurch beständig zu Bildmodulationen führen.117 Was die Psychologen nur metaphorisch und annäherungsweise in ihrer Theorie umkreisen konnten, 116 Gibhardt 2011, S. 75. 117 Die gleiche Metapher bemüht Ribot bei seiner Beschreibung des »Ich«, welches letztlich auf der Zusammensetzung des Gedächtnisses beruhe  : »Le moi, tel qu’il s’apparait à lui-même, consiste en une somme d’états de conscience. Il y en a un principal autour duquel se groupent des états secondaires qui tendent à le supplanter et qui sont eux-mêmes poussés par d’autres états à peine conscients. L’état qui tient le premier rôle, après une lutte plus ou moins longue, fléchit, est remplacé par un autre autour duquel un groupement analogue se constitue. […] Notre moi de chaque moment, ce présent perpétuellement renouvelé, est en grande partie alimenté par la mémoire, c’est-à-dire qu’à

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Abb. 28  Skizze mit mehreren sitzenden Personen in einem Salon, 1892/93, Bleistift, Pinsel in Schwarz, 329 x 252 mm, Staatliche Graphische Sammlung, München

nämlich die Frage, wie psychische Abläufe vorzustellen seien und hier insbesondere »la façon dont les figures se forment dans son [des Künstlers  ; M.G.] esprit, sa manière de voir mentalement les objets imaginaires, l’ordre dans lequel ils lui apparaissent«118, verhandelt Vuillard offenbar in seinem malerischen Werk und bildet damit einen ästhetischen Gegenpol im Diskurs zu den sprachlich-theoretischen Ausführungen der Psychologen. Der kreative Prozess, die Werkimmanenz und die Rezeption der Gemälde Vuillards entsprechen mithin der metaphorischen Vorstellung davon, wie innere Bilder aus der Erinnerung in der Psyche des Malers zusammenfließen. In der Logik der Psychologen ist dieser Prozess teils unbewusst, nicht stillzustellen. Und das bewusst wahrnehmbare Ergebnis, die fixiert begreiflich gemachte Vorstellung, entbehrt der sinnlich-affektiven Komplexität der tatsächlichen Assoziationsprozesse zwischen images und Erregungsmustern. Vuillard spürt offenbar jenem Zustand der images nach, bevor sie zu einer begreiflichen Vorstellung geronnen sind. Werkimmanente Ästhetik und Rezeptionsästhetik wären damit ein Ergebnis der ästhetischen Auseinandersetzung mit dem Paradoxon, diese flüchtige Passage l’état présent s’associent d’autres états qui, rejetés et localisés dans le passé, constituent notre personne telle qu’elle s’apparait à chaque instant.« Ribot 1906, S. 83. 118 Taine 1892, Bd. I, S. 14, Hervorhebung M.G.

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nicht im Gemälde zu fixieren, sondern erfahrbar zu machen. Diese Überlegung wird später erneut aufgegriffen. Tatsächlich ist überliefert, dass er das Erleben einer Gefühlserinnerung und deren phänomenale Dimension reflektierte. In einem Brief vom November 1894 an Louis-Alfred Natanson, einen Bruder Thadée Natansons und Mitbegründer der Revue blanche, kommt Vuillard auf dieses Phänomen zu sprechen, allerdings nicht im ästhetischen Kontext, sondern anlässlich der Leiden, die Louis-Alfred Natanson angesichts seines Wehrdienstes beklagt hatte. Vuillard betont, wie erstaunt er war, bei den emotionalen Schilderungen seines Briefpartners erneut förmlich jene Gefühle in sich hochsteigen zu fühlen, die er damals in vergleichbarer Situation gefühlt hatte.119 Ebenfalls 1894 schreibt Vuillard während einer belastenden Schaffenskrise in seinen carnets von einer Begegnung, die ihm geholfen hat, ebenjene Krise zu überwinden. Er notiert, ganz offensichtlich erleichtert  : »Hier désespoir devant les toiles à en pleurer. L’après-midi enfin distrait par cette crise […] je vais aux Tuileries et retrouve par enchantement le jour où je suis le plus désespéré les émotions qui au début de mon travail me guidaient.«120 Das Wiedererinnern der vergessenen Gefühle, die am Anfang seiner Arbeit standen, war offenbar von Bedeutung, um mit jener Malerei weiterzukommen, die ihn bewegte. Ganz analog findet sich dies in Ribots Psychologie des sentiments, in der Ribot eine Passage des Schriftstellers Sully Prudhomme (1839–1907) anführt, die den Schaffensprozess des Autors schildert  : J’ai l’habitude de me séparer des vers que je viens de faire avant de les achever, de les laisser quelque temps dans mes tiroirs. Je les y oublie même parfois quand la pièce m’a paru manquée et il m’arrive de les retrouver plusieurs années après. Je les recompose alors et j’ai la faculté d’évoquer avec une grande netteté le sentiment qui les avait suggérés. Ce sentiment, je le fais poser pour ainsi dire dans mon for intérieur, comme un modèle que je copie avec la palette et le pinceau du langage. C’est exactement le contraire de l’improvisation. Il me semble que je travaille alors sur le souvenir d’un état affectif.121

Die wahrgenommene Empfindungsqualität, das Gefühl, wird durch das Vergessen und die folgende Erinnerung offenbar in einer Weise transformiert, die das Erlebte ästhetisch umsetzbar macht.122 Im Essai sur l’imagination créatrice hat Ribot diesen Sachverhalt erneut im Kontext seiner Theorie des kreativen Schaffens betont. Erinnerung sei kein Reproduktionsmechanismus, sondern ein sich stets veränderndes lebendiges Konstrukt.123 Aufschlussreich im Kontext dieser Arbeit ist, dass das Zitat von Sully Prudhomme nicht nur das Phänomen vorstellt, dass die Erinnerung den kreativen Prozess maßgeblich trage, sondern dass das Zitat den Anschein gibt, der Weg über die Erinnerung sei der prädestinierte, 119 Vgl. Akat. Vuillard, Winterthur 2014, S. 43, dort ist der Brief in deutscher Übersetzung abgedruckt. 120 Vuillard, Carnets, I.2., 48v (30. August 1894). 121 Ribot 1896, S. 153, Hervorhebung M.G. 122 Vgl. den Essay von Jean Clair, der für Pierre Bonnard, jedoch ohne historische Kontextualisierung, Ähnliches überliefert  ; Clair 1984, S. 12. 123 Ribot 1900, S. 16.

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vielleicht der einzig mögliche, überhaupt den »état affectif« erfahrbar zu machen  : »Il me semble que je travaille alors sur le souvenir d’un état affectif.«124 Um Gefühle ästhetisch im Kunstwerk verhandeln zu können, erschien die Erinnerungstätigkeit mitsamt ihrer Eigendynamik als paradigmatisches Vorbild einer ästhetischen Strategie. Medienspezifischer Bezug zwischen Metaphern der Erinnerungspsychologie und Malerei

Dass die metaphorische Sprache der Psychologen nicht gering zu bewerten ist, zeigt nicht nur Vuillard, der die Psychologie in seinem künstlerischen Schaffen und seinen Bildern reflektiert. Auch andere Stimmen belegen die Plausibilität dieser interpretativen Verknüpfung zwischen image, mémoire und bildender Kunst. Denn es gibt weitere deutliche Hinweise, die nahelegen, dass dieser Diskurs von den Zeitgenossen auch bzw. insbesondere auf Malerei bezogen worden ist, dass diese allzu naheliegende Analogie zwischen visueller Metapher und bildender Kunst tatsächlich Teil einer größeren visuellen Kultur der mémoire war. Bereits bei Baudelaire und Corot ist dies angelegt, wenn Baudelaire die mémoire, wie oben erörtert, als l’art mnémonique im Zusammenhang mit der Malerei behandelt. Corot wiederum hatte vermutlich als einer der Ersten das ursprünglich literarische Verfahren der Erinnerungspoesie als Vorbild für seine Souvenir-Gemälde genommen und damit den Grundstein dafür gelegt, dass das Medium der mémoire zusehends das Visuelle und die bildende Kunst werden sollte. Deutlich hervorzuheben ist indes, dass die Psychologen selbst diese Transferleistung nicht erbringen  ; bei ihnen herrscht eine eher naive Auffassung von Malerei vor, wonach große Maler eigentlich über ein nahezu exaktes Gedächtnis verfügten. Die Psychologen operieren also im Zusammenhang mit bildender Kunst just mit jenem Gedächtnis, das Baudelaire pejorativ als unkünstlerisch abgetan hatte, weil es eben detailgetreu und nicht überformend ist.125 Die Psychologen selbst bleiben insofern hinter der latenten Radikalität ihrer Thesen zurück.126 Nicht so die Künstler  ! Ungefähr zeitgleich mit Vuillard beschäftigte sich bereits Marcel Proust, auf den auch Gracq verwiesen hatte, mit dem Phänomen der Erinnerung und deren ästhetischer Qualität. In den Études, die 1893 in der Revue blanche erschienen sind, erprobt Proust seine schriftstellerischen Ansätze in kleinen literarischen Fingerübungen. In einer dieser Etüden geht es um einen Hauptmann, der aus gesundheitlichen Gründen aus dem Dienst ausscheiden musste und nun seinen Alterssitz in einem kleinen Häuschen einrichtet. Auf die Anfrage des Dieners, ob es den Herrn zur Zerstreuung wohl nach Lektüre verlange, verneint dieser barsch, mit der Begründung, Bücher könnten ihm nichts sagen, nichts, was nicht in viel reicherer Art aus der Ergründung seiner eigenen Erinnerung an sein Leben zu gewinnen wäre. So nimmt er sich Kistchen mit Briefen und 124 Ribot 1896, S. 153. 125 Vgl. Kap. 3.1. 126 Vgl. dazu etwa Ribot 1900, S. 14 f.

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anderen Souvenirs seines Lebens vor und gleitet hinein in diese vergangene Welt. Entscheidend ist die Passage, in der Proust versucht, die phänomenale Erfahrung, die der Protagonist angesichts all dieser an und für sich banalen Gegenstände macht, literarisch fruchtbar zu machen. Bemerkt sei auch, dass er zur Veranschaulichung für diese Erlebnisqualität ebenfalls metaphorisch den Vergleich zieht mit dem Genesen nach langer Krankheit (convalescence), während dessen man sich längst vergessener (meist sinnlich-affektiver) Begebenheiten erinnert, wie es auch Baudelaire im Peintre de la vie moderne getan ­hatte.127 Proust beschreibt das Erleben des Hauptmanns  : »Il y avait dans tout cela des petites choses précises de sensualité ou de tendresse sur presque rien des circonstances de sa vie, et c’était comme une fresque très vaste qui dépeignait sa vie sans la raconter, dans sa couleur passionnée seulement, d’une manière très vague et très particulière en même temps, avec une grande puissance touchante.«128 In Prousts sprachlicher Verdichtung kommen die Aspekte, die ebenfalls Ribot und Taine systematisiert hatten, in ästhetischer Reflexion zum Tragen. Ausgangspunkt sind Objekte von scheinbarer Banalität, die dennoch sinnlich-affektiv aufgeladen sind und »im Ablauf seines Lebens sich sozusagen auf ein Nichts bezogen, und doch war es ein breitangelegtes Fresko, das sein Leben darstellte«.129 Entscheidend ist hier nicht nur das enorme Affizierungspotential, das die Erinnerung den an und für sich unbedeutenden Gegenständen beschert, sondern auch der Effekt, der das Erinnerte als Fresko ohne Narration erscheinen lässt, als Fresko aus der »Farbe seiner Leidenschaft«, das gleichermaßen formal vage wie gefühlsmäßig dicht sei. Die Erinnerung vermag also, ausgehend von diesen affektiven Inhalten, zu einer immensen Bildhaftigkeit zu führen, die sich jedoch nicht in logischen Strukturen (Narration) begründet, sondern deren sinnlich-affektives Potential im Medium der Farbe vage und zugleich bestimmt sichtbar ist und so diese Summe an Erinnerungsschnipseln als additive Vagheit erfahrbar macht.130 Die eigendynamische Wirkung der Erinnerung wird hier positiv als ästhetischer Mechanismus gewertet, der entgegen einer präzisen, begrifflich fassbaren Narration zu einem ästhetischen Ganzen zu kommen vermag auf der Basis von sinnlich-affektiven Erfahrungsqualitäten.131 Zwar schlägt sich dieser 127 Vgl. Kap. 3.1  ; im Peintre de la vie moderne hatte Baudelaire seine Beschreibung der naïveté des Malers eingeleitet mit dem Vergleich eines nach langer Krankheit Genesenen, der sich an all die vergessenen Dinge erinnert. 128 Proust 1893, S. 49, Hervorhebung M.G. Die Études sind wenig später in Marcel Prousts erste Buchpublikation Les plaisirs et les jours eingegangen, die 1896 als großformatige Luxusausgabe erschien. Vgl. dazu die editorischen Angaben in Proust 1988b, S. 277. 129 Die deutsche Übersetzung stammt aus  : Proust 1988b, S. 155. 130 Vgl. zu dieser Stelle bei Proust auch Engel et al. 2010, S. 211 f. 131 Das Bild des vagen Erinnerungsbildes, zusammengesetzt aus Farb- oder Lichtpunkten, wird sich bis weit in die Moderne als Metapher für die Grundlage ästhetischer Schöpfungen aus der Erinnerung halten. Bei Henri Bergson in Materie und Gedächtnis ist die Rede von »souvenirs dominants« als »véritable points brillants autour desquels les autres formen tune nébulosité vague«. Vladimir Nabokov formuliert in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts  : »Auch die Vergangenheit ist Teil des Gewebes, Teil der Gegenwart, allerdings macht sie einen etwas verwischten Eindruck. Die Vergangenheit ist ein fortwährendes Anhäufen von Bildern, aber unser Gehirn ist kein ideales Organ für eine

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Mechanismus nieder in abstrakter Farblogik, es wäre jedoch falsch, daraus zu schließen, dass die Sujets derart beliebig geworden seien. Vielmehr sind die Gegenstände, Motive, Sujets der essentielle Ursprung der Gefühlserinnerungen und finden ihre Umsetzung in affektiven Farbteppichen. Sie bleiben diesen aber notwendig als vage Reliefs figuraler Erscheinung eingeschrieben. Proust hatte damit seine Reflexion der Erinnerung als ästhetisches Prinzip, wie sie maßgeblich auch durch die anschaulichen Metaphern der Psychologen angeregt worden war, weitergeführt und naheliegenderweise mit der Sphäre der bildenden Kunst in Verbindung gebracht.132 Es verwundert also nicht, wenn Vuillard, der diese Texte kannte und ganz offenbar ähnliche Diskurse verfolgte, zu Umsetzungsideen kam, die denen Prousts analog waren. Er versuchte, die durch Introspektion beobachteten Prozesse des Erinnerns nicht in narrative, sondern in visuell vage und zugleich emotional wirkmächtige Farbtönungen in Bildwerken zu übersetzen. Der konkrete Austausch zwischen Proust und Vuillard ist nach wie vor nicht geklärt  ; dennoch lassen sich die oben paraphrasierten Études aufgrund ihrer ästhetischen Anspielungen ohne Weiteres mit Vuillards Werken in Verbindung bringen, etwa mit dem eingangs besprochenen Vaquez-Zyklus. Ist es nur eine Pointe des Zufalls  ? Auch auf motivischer Ebene gibt es Berührungspunkte. Denn in Prousts Études wie auch im Vaquez-Zyklus (Tf. 19–22) spielen Bücher eine ambivalente Rolle, und zwar derart, dass sie eigenartig in den Hintergrund gedrängt zu sein scheinen. Die Bücher in der Bibliothek von Dr. Vaquez sind geronnen zu einem Element unter vielen innerhalb der Tapetenornamentik. Vaquez selbst ist der Einzige, der sich noch mit den Büchern beschäftigt, alle andern Personen haben sich Tätigkeiten zugewandt, die sich dadurch auszeichnen, dass ihre Assoziationsdynamik durch nichtsprachliche Eindrücke ausgelöst wird (Musik, visuelle Muster der Stickerei etc.) und zudem weit weniger gelenkt ist, als das beim Lesen der Fall ist. Bücher – als Inbegriff von begrifflicher/ zeichenhafter Sprache – sind inszeniert als vormals verheißende Erinnerungsmedien, die nun jedoch überlagert und verdrängt sind von der kulturellen Praxis des In-sich-Hineinhörens, -Hineinsehens und -Hineinspürens. Die Bücher sind überlagert von der schillernden Visualisierung der unstillbaren Ströme des Erinnerungs- und Bewusstseinsflusses, die eine

fortwährende Rückschau, und wir können bestenfalls durch die Erinnerung huschende irisierende Lichtflecke ausmachen und zu behalten versuchen. Der Akt des Behaltens ist der künstlerische Akt, der Akt der künstlerischen Auswahl, künstlerischen Mischung, künstlerischen Neukombination tatsächlicher Ereignisse. Der schlechte Memoirenschreiber retuschiert seine Vergangenheit, und das Ergebnis ist eine blaustichige oder rosa getönte Photographie, von einem Fremden zu dem Zweck aufgenommen, die Empfindung über einen Verlust hinwegzutrösten. Der gute Memoirenschreiber hingegen tut sein Bestes, um in höchstmöglichem Grad die Wahrheit des Details zu wahren. Eines der Mittel, mit denen er sein Ziel erreicht besteht darin, auf seiner Leinwand jeweils die richtige Stelle für den richtigen Erinnerungsfarbtupfer zu finden.« Zit.: Bergson 1990, S. 190 und Nabokov 1993, S. 290, Hervorhebung M.G. 132 Zu Prousts Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Psychologie vgl. Perrin 1993  ; Terdiman 1993  ; Bizub 2006  ; Engel et al. 2010 und Carroy 2016.

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so viel reichere Erfahrung erlauben und im Vaquez-Zyklus, ebenso wie in der Erzählung Prousts, die Bücher durch ihren Bilderschatz in den Hintergrund drängen. Die erörterte Metaphorik ist ein Schlüssel zum Vaquez-Zyklus wie auch zu zahlreichen weiteren Werken von Vuillard aus den 1890er Jahren. Denn auch die kleinen Interieurs, die bisweilen nur eine Figur zeigen, sind stets geprägt nicht nur von einer flirrend vibrierenden Farbfläche, sondern zugleich von einander durchscheinenden Elementen, Formen und Figuren, die den Anblick stets im Unbestimmten lassen.133 Wie etwa in den Bildnissen von Marie (Tf. 3)  : Man kann sich unschwer vorstellen, wie sich Vuillard, vor der Leinwand sitzend, an die nähende Marie erinnerte, an ihr versunkenes Handarbeiten, umgeben von all den Stoffen, die ihm so vertraut waren, und dabei vor seinem inneren Auge sich überlagernde Assoziationen von Farben und Formen, Stoffen und Gegenständen, Falten und Mustern, Oberflächen und Rhythmen aufziehen sah – eine Erfahrung, für die er die geeignete Übersetzung in Gemälde suchte. Die ersten Anregungen zu dieser Ästhetik hat Vuillard der Malerei Seurats und Signacs entnommen, die ihrerseits bereits die stimmungshafte Dimension farbkomponierter Bilder erprobt hatten, dabei aber mehr kulturelle Stimmungssemantiken ins Bild setzten und weniger die eigene subjektive Imaginations- und Erinnerungsleistung als ästhetische Strategie befragten.134 Zu Beginn der 1890er Jahre findet man bei Vuillard noch Bilder, die von diesem pointillistischen all over geprägt sind, buchstäblich in Form eines Netzes aus Punkten eine Färbung über die Objekte legen, etwa La Porte entrebâillée aus dem Jahr 1891 (Abb. 29). Schnell wurde diese Flutung der Bildoberfläche mit Farbtupfern abgelöst von einer ungemein vielseitigen Kombinatorik aus Farbelementen, durchblitzendem Malgrund, ornamentalen Formeinheiten, Farbflächen, Formanmutungen minimalster Gegenstandsbeschreibung. Damit rückt Vuillard näher an das Vorbild Corot, der seinerseits eine Auflösung der Bildfläche durch Tupfen und Formfetzen erzielt hatte, diese jedoch aus einer Bezugslogik entwickelte, die verunklärender und atmosphärischer war als die der Pointillisten. 1891 entstand Marie penchée sur son ouvrage (Tf. 32), eines der frühesten Werke Vuillards mit dieser sich klar vom Pointillismus absetzenden Ästhetik. Marie sitzt an einem Tisch, gebeugt über ihre Arbeit, ihr Blick ist darin versunken. Das kleine Gemälde ist mit seiner abwechslungsreichen Ornamentik ausgesprochen fein komponiert. Alle Muster und Farbtöne sind mehrfach und wechselseitig aufeinander bezogen, sodass sich jenseits der figürlichen Logik visuelle Verschleifungen ergeben. Tapete und Tisch sind ornamental aufeinander bezogen, ebenso die schwarz-rote Lehne und Maries Kleid. Zugleich geht das an wuselnde Einzeller erinnernde Ornament des Oberkörpers gleichsam aus dem des Tischs hervor und ergießt sich über die Lehne. Durch die farbliche Verwandtschaft von Lehne und Oberkörper jedoch scheint dieser sich nachgerade aus der Lehne herauszukristallisieren. Diese Logik der sich durchdringenden und fließend ineinander übergehenden Partien wird noch ins Extrem dadurch gesteigert, dass Vuillard ganze 133 Die grundsätzliche Vergleichbarkeit wird auch hier bestätigt  : Akat. Vuillard, Washington/Montreal/ Paris/London 2003, S. 188. 134 Vgl. hierzu in Bezug auf Seurat Thomas 2010a, S. 139–149.

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Abb. 29  La Porte entrebâillée, 1891, Öl auf Karton, 27,5 x 22,5 cm, Fondation Angladon-Dubrujeaud, Avignon (IV-15)

Bildpartien aus unbearbeitetem Malgrund ableitet. Die Zone der Haare sind auf Karton gesetzte Licht- und Schattenstriche, beide Bildränder laufen im unbemalten Karton aus. Zwischen Oberkörper und Tisch tut sich ein großes, unbemaltes Loch auf, das effektvoll unterstrichen wird durch das auf dem Tisch lagernde rot-weiße Objekt. Es handelt sich dabei um weit mehr als »to play tricks with traditional perspective and depictions of space.«135 Der Maler führt so effektvoll vor, wie Formen und Figuren gleichsam auf der Leinwand und aus der Farbe heraus erscheinen und darüber hinaus in ein lebhaftes Wechselspiel sich beeinflussender Flächen und Formationen treten. Er erkundet damit ästhetisch jenes von den Psychologen metaphorisch evozierte Aufblitzen der inneren phantomhaften Bilder, die bald stärker, bald schwächer und beständig in einer sich durchdringenden Bewegung verbleiben, zu einem Spektakel der effektvollen und zugleich vagen Erscheinungen werden. Einen weiteren Höhepunkt bei der Auslotung dieser Bildpraxis erzielte Vuillard mit Marie penchée sur son ouvrage dans un intérieur (Tf. 3). Auch die Literatur hat die Schlüsselstellung dieses Werks erkannt und die Objektqualität der »fluid, shifting texture«136 betont, in der alle Gegenstände in einer Flut aus Ornamenten ineinander übergehen. Die 135 Easton 1989, S. 32. 136 Salomon et al. 2003, Kat. IV-48.

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Prinzipien des vorherigen Beispiels finden sich hier gleichsam weiterentwickelt und radikalisiert. Die Vielzahl der Ornament- und Farbflächen, in denen das Auge des Betrachters nun kaum mehr eine Orientierung findet, ganz zu schweigen von einem Gesamtanblick. Verstärkt wird dies durch einen schweren und deckenden Farbauftrag, der, wie von einem horror vacui genährt, die Bildfläche überzieht und aufgrund des matten Farbmaterials haptisch-stoffliche Qualitäten birgt.137 Marie ist erkennbar und zudem geometrisch zentral im Bild platziert, all die umgeschlagenen und zu faltigen Bergen gehäuften Stoffe scheinen sie aber fast zu überdecken, sodass der Blick sich mit zunehmender Bildbetrachtung in den Verästelungen der Falten verliert und ihm der formale Fokus immer wieder abhandenkommt. Es dominiert die atmosphärische Anmutung dieser Szenerie, wie sie sich in Vuillards Gedächtnis niedergeschlagen hatte und wie er sie aus diesem malerisch umzusetzen versuchte. Wie vielschichtig Vuillard mit Formqualitäten experimentiert, ist eindrucksvoll auf Intérieur von 1893 (Tf. 28) und in einer Lithografie des gleichen Motivs (Tf. 29) zu erkennen. Ganz offenbar lotet Vuillard aus, wie wenig Kontur ausreicht, um eine Form zu erzeugen, oder wie groß die Spannung zwischen sich durchdringenden Formen sein darf, ohne dass das Bild in Fragmente zerfällt. Evident wird aus all dem, dass die Metaphorik der Texte der Psychologen eine gewichtige neue Dimension zur Klärung der Ästhetik der Werke Vuillards beizutragen vermag. Nicht nur die formauflösende, nicht stillstellbare Ästhetik des Flirrens und Vibrierens findet sich hier an zentraler Stelle, sondern ebenso der Effekt des Kampfes der Bilder untereinander, der Effekt, dass in Vuillards Werken permanent andere Formen und Figuren vor die eben erblickten treten, sie ihrerseits überlagern, nur um im nächsten Moment wieder von anderen Figuren und Formen abgelöst zu werden.138 Bei der Arbeit mit den inneren Bildern lässt sich aber auch das Phänomen der Variation beobachten, in der Vuillard die Erinnerung an ein bestimmtes räumliches Setting mit verschiedenen Stimmungen assoziiert. Dies wird deutlich durch den Vergleich von La Ravaudeuse aux chiffons aus dem Jahr 1893 (Tf. 30) und Les Oreillons (Tf. 31), welche in unmittelbarem Zusammenhang miteinander entstanden sein müssen. La Ravaudeuse aux chiffons zeigt wieder eine nähende Frau. Wieder sieht man sie von schräg hinten. Bemerkenswert hier sind die vertikalen Bahnen, die dem Gemälde eine klarere Struktur verleihen als den bisher besprochenen. Gleichwohl trägt aber auch diese Ordnung wenig bei zu einer besseren Orientierung im Bild, weder räumliche Disposition noch andere bildräumliche Gegebenheiten werden dadurch präziser. Handelt es sich um die Tapete auf der Wand eines Türdurchgangs oder um einen Vorhang, der den Blick freigibt auf die 137 Vgl. dazu Akat. Vuillard, Washington/Montreal/Paris/London 2003, S. 139. 138 Ähnliches hat Gamboni beobachtet. Er bringt diese Phänomene indes in Verbindung mit der Theorie des unschuldigen Auges von Ruskin und der zeitgenössischen Wahrnehmungspsychologie, die ihren populären Niederschlag in Such- und Vexierbildern fanden. Damit bezieht er jedoch nur den Wahrnehmungsdiskurs in seine Überlegungen ein und globale Diskurse über innere Bilder  ; die Schlüsselrolle der mémoire findet bei ihm keine Beachtung. Vgl. Gamboni 2000.

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arbeitende Frau  ?139 Was weiterhin auffällt, ist die luftig-leichte Atmosphäre, die in fast keinem anderen Werk so stark auftritt und die sich in der Malweise niederschlägt. Die Farbe ist nur leicht aufgetragen, an vielen Stellen blitzt der Malgrund durch, das Gemälde macht fast den Eindruck, noch im Entstehen, im Erscheinen zu sein. Nicht nur die Pinselstriche sind leicht und schwungvoll gesetzt, etwa die Beinpartie der Frau, sondern auch die florale Ornamentik und die helle Farbpalette aus leichten Grün- und sanften Rosétönen, in Kombination mit einem cremigen Weiß und dem Einsatz von dunklen Tönen nur in minimalen Passagen, um das Gemälde an wenigen Punkten zu stabilisieren. Aufschlussreich ist der Vergleich mit Les Oreillons.140 Es zeigt nahezu die gleiche Bildanlage mit den Ornamentbahnen  ; auch hier blickt man von rechts in den Bildraum und sieht eine Frauenfigur von schräg hinten, indes befindet sie sich in Bewegung, scheint den Raum gerade zu betreten. Auffällig ist die Binde, die sie um den Kopf trägt. Obwohl es sich um eine nahezu identische Ansicht handelt, erzielt Vuillard hier, vornehmlich aufgrund der geänderten Farbpalette, eine völlig andere Stimmung.141 Es dominieren Grau, Schwarz und Weiß, die eingestreuten roten Tupfer scheinen weniger Gegengewicht zu sein, als vielmehr zu illustrieren, wie alles verschlingend der triste Farbakkord ist – an keiner Stelle kann sich das Rot durchsetzen, überall geht es in der gräulich farblosen Tristesse unter. Salomon und Cogeval haben vorgeschlagen, in der Frauenfigur mit der Kopfbinde die damals an Mumps erkrankte Marie zu erkennen.142 Skizzen Vuillards von der mit Kopfbinde schlafenden Marie machen dies plausibel. Plausibel würde dadurch auch die gänzlich geänderte stimmungshafte Einfärbung des Gemäldes. Stand es in La Ravaudeuse aux chiffons im Zeichen einer lichten und leichten Atmosphäre, strahlt es nun anscheinend die drückende Belastung der Erkrankung von Marie aus. Das Malen nach der Erinnerung vermag offenbar, je nach Gemütsverfassung stimmungsmäßig unterschiedlich eingefärbte Bilder ein und derselben Situation hervorzubringen. Ein ähnliches Verfahren war bei Corot zu beobachten, der ebenfalls aus der Erinnerung Varianten ein und derselben Ansicht mit unterschiedlichen Atmosphären ins Bild gesetzt hatte. Aus der Analyse der Kunstwerke erhellt, dass es Vuillard mit dem Ziel, Gefühl im Bild erfahrbar zu machen, weniger um eine konkret benennbare Emotion geht. Der mögliche kognitive Anteil von Gefühlen oder ihre Intentionalität ist nicht im Fokus. Vielmehr arbeitet sich Vuillard an der als phänomenologisch zu bezeichnenden Dimension von Gefühlen ab  ; diese versteht sich als »die Art und Weise, wie sich Gefühle anfühlen, also die Art und Weise wie es ist ein Gefühl zu haben oder zu spüren.«143 Diese kann, muss aber nicht mit Gedanken und Wahrnehmungen einhergehen. Die Bildfindungen sind, so verstanden, Visualisierungen 139 Vgl. dazu auch Akat. Akat. Vuillard, Washington/Montreal/Paris/London 2003, S. 138. 140 Auch Cogeval sieht eine Verwandtschaft zwischen beiden Werken  ; vgl. Salomon et al. 2003, Kat. IV-51. 141 Vuillard experimentiert auch in seinem grafischen Werk mit verschiedenen Farbakkorden für ein und dieselbe Komposition. Vgl. die Abbildungen im Akat. Vuillard, München 2015, S. 84 f. 142 Vgl. Salomon et al. 2003, Kat. IV-51. 143 Hartmann 2010, S. 84.

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von Empfindungsqualitäten. Verstärkt wird diese Wirkung dadurch, dass die verschiedenen Gefühlsmodi folgenden Gemälde als Produkt der schöpferischen Erinnerung nicht einer zeitlich linearen Chronologie unterliegen. Vielmehr bilden sie in diskontinuierlicher Weise alternative Perspektiven, die zeitlich nebeneinanderstehen.144 Mit den Worten von Hans Robert Jauß, die dieser im Kontext seiner Proust-Forschung schrieb  : Ein und derselbe Zeitraum wird damit mehrfach durch Erinnertes gefüllt, durch eine Vielzahl von Perspektiven. Der linear gedachte Zeitfluss wird so gebrochen und angefüllt durch die verschiedenen Bilder, die alle zusammen ebenfalls Ergebnis der Zeit und Erinnerung sind, indes nicht von einer linear-chronologischen, sondern von einer aufgefächerten. Chronologie und Erinnerungsbild treten damit in ein spannungsvolles Verhältnis, aus welchem die Pointierung der Erscheinung der Dauer in den Gemälden resultiert. Sie sind mehr als chronologische Erinnerungspunkte und zwar ein affektiv verdichtetes Erinnerungsbild von besonderer zeitlicher Qualität.145

Weitere ästhetische Dimensionen der Gefühlserinnerung

Wie im Teil über die Psychologen erörtert, nahmen die Gefühle innerhalb der Theoretisierung von Erinnerung eine besondere Rolle ein. Gerade am Ende des 19. Jahrhunderts entbrannte eine teils heftig geführte Debatte darüber, ob Gefühle tatsächlich erinnert werden könnten oder ob nur Rahmenbedingungen erinnert würden, die dann zu einer nachträglichen, schwächeren Neuentfachung der Emotionen führten. Diese Debatte erklärt, warum insbesondere bei Ribot, der an vorderster Front die Erinnerbarkeit von Gefühlen verfocht, die Gefühle im Zusammenhang mit der Erinnerung stark an Bedeutung gewannen. Wo Taine ganz selbstverständlich über dieses Phänomen handelte, erhielt es bei Ribot und in den 1890er Jahren eine zentrale Rolle in dem Versuch, die Psyche auch aus physiologischen Mechanismen heraus zu verstehen und nicht mehr aus der Perspektive eines philosophisch gesetzten »Geistes«. Seine These war ja, dass es nicht die geistig-begrifflichen Gedanken sind, die im Kern die Psyche strukturieren, sondern die teilweise sinnlich erfahrbaren physiologischen Abläufe. Da eine Emotion neben der begrifflichen Dimension auch eine körperlich-nervliche hat und diese Erfahrungen der ursprüngliche Erinnerungsinhalt seien, stellen diese Erfahrungen zweifelsohne einen Teil dessen dar, was erinnert wird, wenn die Psyche den Erinnerungsinhalt wieder aktiviert.146 Was in unserem Kontext aufschlussreich ist, sind die Beispiele, die beide Autoren heranziehen. An ihnen wird anschaulich, welche besondere ästhetische Eigenart mit den Gefühlserinnerungen verbunden war.

144 Vgl. dazu die analogen Überlegungen bei Jauß 1986, S. 114 f. 145 Jauß 1986, S. 114 f. 146 Vgl. dazu Kap. 3.3 in dieser Arbeit.

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Im Kapitel über die Erinnerung von sentiments in seiner Psychologie des sentiments zieht Ribot die Berichte von Probanden zur Unterstützung seiner Theorie der mémoire affective heran. Es werden allerlei Beispiele aufgeführt, die naheliegend sind und Gefühle in Bezug auf ein bestimmtes Ereignis, also in einem ereignishaften Kontext, schildern. Die Berichte verhandeln aber zunehmend subtile Erinnerungen an Gefühle, unter anderem auch jene einer Frau, die sich intensiv an die spezifische phänomenale Qualität erinnern konnte, die sie an einem bestimmten Ort erfahren hatte. Sie betonte, es sei nicht schwer, diese Erinnerung zu wecken, man lasse sie in einem Fauteuil sitzen und die Augen schließen, um in jene Disposition zurückzufinden, und es werde keine halbe Minute vergehen, bis sie die Erinnerung wieder erführe  : C’est d’abord les tapis que je sens sous mes pieds, puis que je vois avec son semis de roses rouges et havane, puis la table devant moi avec les livres qui sont dessus, leur cartonnage et leur couleur  ; puis, les fenêtres, avec les branches d’arbre derrière dont j’entends le frémissement contre les vitres  ; puis enfin l’atmosphère particulière de la pièce, son odeur à laquelle je ne me tromperais pas.147

Ähnliches schilderte Taine. Hier finden wir jedoch ein Beispiel für das Aufkommen einer Erinnerung in Verbindung mit einer konkreten Wahrnehmung. Denn anders als bei der Probandin Ribots, die ohne äußeren Anlass obige Erinnerung hervorrufen konnte, kehrt der Berichtende bei Taine nach vielen Jahren zu seinem Elternhaus zurück und erfährt angesichts der ihm aus der Kindheit vertrauten Umgebung das Phänomen der mémoire affective, jenen Moment also, in dem Wahrnehmung und erinnerte images ineinanderfließen und zu Augenblicken besonders intensiver und dichter Erfahrung führen. On monte l’escalier obscur, on sait où mettre la main pour trouver le bouton de la serrure, on s’imagine soi-même à table, a la place accoutumée, on revoit à droite la carafe et à gauche la salière, on savoure intérieurement le goût d’un certain plat du dimanche, on s’étonne, en levant les yeux, de ne pas voir, au même endroit du mur, une vieille gravure que, tout enfant, on a regardée. On revoit le geste et la courbure du dos d’un ancien hôte, le corsage carré, les longs plis d’une robe amarante  ; on entend presque des timbres de voix qui, depuis si longtemps, sont muettes  ; on approche du puits, et l’on retrouve le sentiment de terreur vague que, tout petit, on éprouvait, lorsque, se haussant sur la pointe du pied, on apercevait la profondeur obscure, et le reflet de l’eau froide, tremblotante, à une distance qui semblait infinie.148

Auffallend in beiden Berichten ist die summarische, parataktische Art und Weise, wie die erinnerten Erscheinungen geschildert werden. Der Modus der Erinnerung gleicht einem schrittweisen Abtasten, in dem die Objekte rein phänomenal (naiv entrückt) 147 Ribot 1896, S. 155, Hervorhebung M.G. 148 Taine 1892, Bd. I, S. 131, Hervorhebung M.G.

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Abb. 30  Soirée familiale, 1895, Öl auf Leinwand, 48 x 65 cm, Privatsammlung (IV-211)

beschrieben werden und zugleich begleitet sind von zutiefst subjektiven Empfindungsqualitäten und Atmosphären. Im Unterschied zur Alltagswahrnehmung ist das Gepräge der Erinnerung einerseits durch die sich förmlich langsam vortastende sinnliche Erschließung des Raumes verlangsamt und verfremdet, andererseits scheinen alle erinnerten Elemente konstitutiv mit der atmosphärischen Färbung assoziativ verkoppelt zu sein, wodurch diese intensiv und stark spürbar erscheint. Im Gegensatz zur Alltagswahrnehmung erhält die mémoire affective ihre Kraft und Intensität gerade aus einer parataktischen Ordnung, die Fokussierung stark verweigert und dieser ein Gepräge entgegensetzt, das der begrifflich-konkreten, greifbaren Alltagwahrnehmung diametral entgegensteht. Natürlich liegt aber keine parataktische Beliebigkeit vor, sondern das Gedächtnis hat offenbar eine strukturelle Umwandlung vorgenommen, die eben den ihm eigenen sinnlich-affektiven Assozia­tionsgesetzen folgt und nicht jenen der bewussten Situationsschilderung. Ganz offenbar handelt es sich um diese Dynamik der mémoire, der Vuillard in seinen Versuchsanordnungen nachgespürt hat. Auf diese Weise kommt man dem Enigma der Werke Vuillards einen weiteren Schritt näher. Betrachten wir fraglos stimmungsgeladene Gemälde wie etwa L’Atelier (La Visite du prétendant) (1893  ; Abb. 16), Soirée familiale von 1895 (Abb. 30) und La Dame bleu à l’enfant von 1899 (Abb. 31), so erklärt sich angesichts der Beschreibungen der Probanden die seltsame Unfokussiertheit der Werke sowie die Schilderung der Objekte und Muster, die, ganz genauso wie in den

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Abb. 31  La Dame bleu à l’enfant, 1899, Öl auf Karton, 48,6 x 56,5 cm, Art Gallery and Museum, Glasgow (VI-53)

Erinnerungen, allesamt visuell nachgebildet werden  ; jedes Muster, jedes Objekt, jede Falte und jeder Stoff wird in seiner sinnlichen Empfindungsqualität geschildert und damit zum Stimmungsträger, denn diese Qualität ist ja, psychologisch gedacht, die assoziative Anschlussstelle für die Gefühle und Atmosphären. So verwundert es auch nicht, dass die farbliche Anlage der Gemälde, die Ornamente sowie die Licht- und Schattenverteilung nicht den objektiven Gegebenheiten entsprechen, sondern offenbar subjektive Einfärbungen darstellen, wie oben am Beispiel von La Ravaudeuse aux chiffons und Les Oreillons (Tf. 30, Tf. 31) veranschaulicht. Vuillard hatte nicht nur die Emotionen ins Zentrum seines Kunstschaffens gestellt, dies wurde ihm auch von den Zeitgenossen attestiert. So schreibt Maurice Cremnitz 1893 anlässlich einer Ausstellung in der Pariser Galerie Le Barc de Boutteville, bei der ungewöhnlich viele Gemälde Vuillards, der ansonsten eher zurückhaltend mit der öffentlichen Präsentation seiner Werke war, zu sehen waren  : »Ce sont toujours les femmes en effet dont la tiède haleine embue ces douze tableautins, dont les contours gracieux indiqués en lignes tremblées et comme émues et comme caressantes peuplent ces intérieurs aux

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Abb. 32  La Manche bleue, 1893, Öl auf Karton, 26,6 x 23,3 cm, Collection Malcom Wiener, New York (IV-147)

tentures mouchetées«149. An anderer Stelle der Rezension heißt es »c’est qu’ils [Vuillard und Bonnard  ; M.G.] savent fixer ce bonheur très calme et très doux, insaisissable papillon qui semble voltiger dans l’atmosphère d’une chambre amicale, c’est le chuchotement qui rôde dans le coins de pénombre […].«150 Cremnitz betont die hohe atmosphärische Dichte der Gemälde, ausgestellt waren unter anderem L’Atelier (La Visite du prétendant) (Abb. 16) und La Manche bleue von 1893 (Abb. 32). Ausgehend von der Metapher des Flüsterns (»chuchotement«) lässt sich zeigen, dass eine weitere spezifische Qualität der Gefühlserinnerung das Vage und Undeutliche war. Auch bei Gides Besprechung des Vaquez-Zyklus spielte sie eine zentrale Rolle – er deutete den Zyklus als eine intime, geflüsterte Mitteilung des Malers –, und vor dem Hintergrund der psychologischen Diskurse ergibt sich die erklärende Logik dafür, dass die in ihrer Präzision reduzierte Form ganz besonders gefühlsintensiv sei. Als er beschreibt, wie innere Bilder wieder auftauchen, also erinnert werden können, führt Taine aus, dass es innere Bilder gebe, die hinsichtlich ihrer Formalästhetik verschwommen und unklar sind, zugleich jedoch ein ganz distinktes Gefühl zu transportieren vermögen. Er schreibt, die verschwommenen Bilder könnten 149 Cremnitz 1893, S. 232  ; vgl. dazu auch Berry 2011, S. 67. 150 Cremnitz 1893, S. 231  ; vgl. dazu auch Berry 2011, S. 67.

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metaphorisch verglichen werden mit dem analog vagen Sprachmodus des Geflüsters.151 Dass damit jedoch seine Gefühle »avec une exactitude extrême«152 transportiert werden können, führt Taine zu einer paradoxen metaphorischen Wendung, die auch die Verwendung der Metapher des Flüsterns in den Rezensionen zu Vuillards Gemälden erhellt  : »[…] à cet égard, le chuchotement incomplet et défaillant a presque le même effet que la voix.«153 Obwohl das Vage den formalästhetisch und inhaltlich prekären Gehalt mit dem Flüstern teilt, vermag es in Taines Augen affektiv so intensiv zu sein wie das unmittelbare Erfahren ebenjener Emotion. Positiv gewendet, wird damit gerade das Flüstern zum ästhetischen Modus emotional intensiver Bilder, und dieser Modus ist wiederum Ergebnis der Überformung durch die mémoire. Denn gefühlsgeladene Erfahrungen können nicht unmittelbar ins Bild gesetzt werden, sondern erfahren über den Umweg der Erinnerung eine ästhetische Überformung, die notwendige Grundlage zur Bildfindung ist. Mit der Analyse dieser Metapher ergibt sich der Rückschluss auf den zeitgenössischen Diskurs über Bilder. Darin wird deutlich, dass es speziell die vagen images aus der Erinnerung waren, die den Zeitgenossen nicht trotz, sondern gerade wegen ihres Status als »visuelles Flüstern« als besonders gefühlsintensiv galten. Das Prinzip der Wiederholung  : »La seconde cause des réviviscences longues et complètes [des images  ; M.G.] est la répétition elle-même.«154

Neben dem Flirrenden, Formverunklärenden, der Spannung zwischen Farbteppich und Figur, der parataktischen Ordnung, den subtilen Farbakkorden sowie der dem Flüstern verwandten Vagheit prägt Vuillards Werk der 1890er Jahre die Wiederholung der immer gleichen Motive. Kleine Gruppen von Motiven greift er immer und immer wieder auf, schafft mit der schier endlosen Wiederholung der Motive rund um seine Mutter und deren Schneideratelier eine Flut an Variationen zu diesem Thema. Die Motive, das Personal, das Setting wiederholen sich viele Male, teilweise über mehrere Jahre hinweg. Ein Großteil der Werke zeigt das Interieur der mütterlichen Wohnung, in der ihr Schneideratelier untergebracht war und in der auch Vuillard lebte. Wieder und wieder malt Vuillard seine Mutter, seine Schwester, die angestellten Schneiderinnen, die Stoffe, die konzentrierte Arbeit der Handarbeiterinnen, Szenen der häuslichen Arbeit, aber auch Szenen familiären Beisammenseins und Lebens. Auch der zeitgenössischen Kunstkritik ist dies aufgefallen, wenngleich, ebenso wie bei Corot, nicht unbedingt positiv. Anlässlich von Ausstellungen 151 Vgl. Taine 1892, Bd. I, S. 79. »[…] le fragment le plus visible et le plus coloré surgit en moi sans éblouissement ni explosion comparé à la sensation, c’est un chuchotement où plusieurs paroles manquent à côté d’une voix articulée et vibrante. La seule chose qui en moi se reproduise intacte et entière, c’est la nuance précise d’émotion […].« Hervorhebung M.G. 152 Taine 1892, Bd. I, S. 79. 153 Taine 1892, Bd. I, S. 79. 154 Taine 1892, Bd. I, S. 138.

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in Le Barc de Boutteville 1894 und 1898 wird die Wiederholung bzw. mangelnde Invention moniert.155 Gleichwohl hielt Vuillard daran fest, sein Repertoire nur wenig zu öffnen und stattdessen die Bildfindungen am bekannten Material auszubauen. Zum Prinzip der Wiederholung hat sich Vuillard nicht geäußert, wohl aber zu dem offenbar von ihm empfundenen Dilemma des Anspruchs, Abwechslungsreiches und stets Neues zu schaffen. In seinen carnets findet sich im März 1891 ein Notat, das einen Gedankengang nachvollzieht, welcher sich um die Auflösung ebenjenes Dilemmas bemüht  : […] càd. à chaque œuvre il faudra une méthode, une composition particulière  ; il semble qu’il ne doit rien y avoir de commun entre deux ouvrages. Considérons les mots qui nous aident œuvre, ouvrage. […] Autrefois la vie d’un homme se passait en ouvrages et le résultat formait une œuvre. Qu’est-ce donc que cette différence  ; l’ouvrage est la partie, l’œuvre, le tout. L’œuvre n’a qu’une seul méthode, l’ensemble de toutes les actions. Cette méthode dépend de l’esprit de l’harmonieux développement des facultés donc tous les ouvrages auront la même méthode.156

Die als normativ empfundene Forderung, jedes Werk solle einer singulären Methode folgen, stellte Vuillard offenbar vor größte Probleme. Und er ringt mit einer Begründung dafür, dass es legitim sei, dass alle Werke demselben Prinzip entsprängen. Anders ist es nicht zu erklären, dass er einen letztlich simplen sprachreflektorischen Gedanken zu Hilfe holt, um dieser Forderung zu entgehen. Er führt aus, wenn man einmal von einzelnem Werk – ouvrage – spreche und daneben von Gesamtwerk – œuvre –, so lasse sich das Dilemma geschmeidig dahingehend lösen, dass nur das Gesamtwerk von singulärer Prägung durch »l’esprit de l’harmonieux développement des facultés« sein müsse, seine einzelnen Bestandteile, die einzelnen ouvrages hingegen der »même méthode« entspringen dürften. Damit war er offenbar zufrieden, entsprach es doch seiner Arbeitsweise der 1890er Jahre. Einen Fokus, ein Thema, eine methodische Ausrichtung wiederholt ausführen und erproben, wodurch in der Gesamtschau ein spezifisches Werk entstehe, welches im Einzelnen jedoch auf Variationen beruhe. Doch geht es nur um eine Rechtfertigung des jungen Malers für das wiederholte Umkreisen häuslicher Sujets  ? Wie bereits bei Corot zu beobachten war, ist die Motivwiederholung Teil einer Gedächtnismalerei und führte bereits bei diesem zu Gemälden, die ihre Prägnanz nicht in der Einzigartigkeit ihrer Motive hatten, sondern in ihrer stimmungsvollen Qualität. Die abermalige Bearbeitung von auf früheren Reisen als souvenirs behaltenen Ansichten und Panoramen ermöglichte es Corot einerseits, von diesen Urszenerien vielfältige Variationen abzuleiten, andererseits dienten die Wiederholungen der erneuten Aktualisierung und dadurch Intensivierung. Auf dem Gebiet der Psychologie wiederum ist die Wiederholung grundsätzlich eine mögliche Voraussetzung dafür, dass bestimmte Begebenheiten, Bilder, Wahrnehmungen, Gefühle überhaupt Eingang finden in das Repertoire der 155 Vgl. Jarry 1894, S. 42 und Fontainas 1898, S. 599  ; vgl. dazu auch Berry 2011, S. 68 f. 156 Vuillard, Carnets, I.2., 30r (März 1891)  ; vgl. dazu auch Cogeval 2003a, S. 115.

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Psyche. Handelt es sich nicht um per se intensive Wahrnehmungen oder Erlebnisse, die auch nach nur einmaliger Wahrnehmung Eingang finden, so ist es hier, wie auch auf der Ebene der Physis, der Mechanismus der Wiederholung, der bewirkt, dass sentiments und images erhalten werden und dadurch überhaupt erst Re-Aktivierungen möglich sind.157 Denn wie bereits Taine betont hatte, steigert sich die Intensität der images mit jeder Wiederholung derjenigen Wahrnehmungen, die diese begründeten  : »La seconde cause des réviviscences longues et complètes est la répétition elle-même.«158 Vergegenwärtigen wir uns an dieser Stelle, dass die Psychologen keine naive Idee von Wiederholung hatten, sondern aufgrund ihres komplexen Modells der Psyche davon ausgehen mussten, dass keine »Wiederholung« nur eine Reproduktion ist, sondern jeder Wiederholung immer ein Moment der Abwandlung innewohnt. Da die Psyche ein beständig interagierendes Gewebe ist, führt ein wiederholter Reiz nie zu einer identischen Einlagerung, sondern überformt bereits Vorhandenes. Dergestalt birgt bereits das Verständnis der Erinnerung als Wiederholung stets ein rudimentäres schöpferisches Prinzip, das nicht nur wiederholt, sondern mit jedem neuen Aufruf eines image und dessen Amalgamierung mit der aktuellen Erinnerungssituation ein neues Erregungsmuster und image bildet. Hierbei gibt es aber keinen Anfang und kein Ende – die images verändern sich, und dies wirkt wiederum auf die Wahrnehmung zurück  ; diese überformt wiederum die images der Erinnerung und so fort. Überdies ziehen images stets mit ihnen assoziierte images nach sich, sodass ein permanenter Fluss an ineinander verwobenen Bildern entsteht. Ebenso wie in der Philosophie (etwa Kierkegaard/Nietzsche) stellt die Wiederholung auch im Fall der jungen Psychologie eine komplexe Kategorie zwischen Reproduktion und Kreation dar. Anstatt Taine und Ribot ist es vor allem Bergson, der in diese Richtung denkt, wie die pointierte Rezeption durch Gilles Deleuze in dessen von der Wiederholung abgeleiteter Differenzphilosophie belegt.159 In dieser erscheint die Wiederholung »unter dem Gesichtspunkt der Differenz« und meint damit nicht ein zweites Mal dasselbe, »sondern das Unendliche, das von einem einzigen Male ausgesagt wird, die Ewigkeit, die von einem Augenblick, das Unbewußte, das vom Bewußtsein ausgesagt wird, die n-te Potenz.«160 Die Wiederholung dient also nicht der Intensivierung des immergleichen Bewusstseinsinhaltes, sondern es bildet sich so eine ständige Überformung des Wiederholten. So entsteht eine Art sich sukzessive weiterentwickelndes Cluster, das durch Wiederholungen gleichermaßen intensiviert wie überformt wird. In einer später zur Psychologie des sentiments ergänzten Passage widmet sich Ribot, ausgehend von seiner These zur Wiederholung und Erinnerung von Gefühlen bzw. sentiments – der mémoire affective –, der Frage, was die Wiederholung von ähnlichen, aber nicht identischen Reizen für einen Effekt auf den emotionalen Gehalt haben könne. Angeregt 157 Vgl. dazu Ribot 1906, S. 7. 158 Taine 1892, Bd. I, S. 138. Ähnliches über den Effekt der Wiederholung hatten vor Taine bereits Étienne Bonnot de Condillac und Émile Littré formuliert  ; vgl. Shiff 1986, S. 443. 159 Vgl. Deleuze 1992. 160 Deleuze 1992, S. 22 f.

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wird er dadurch, dass auf dem Gebiet der intellektuellen Entfaltung der Mechanismus der Wiederholung ähnlicher Phänomene zur Verdichtung und schließlich zur Abstraktion in Form eines Begriffes führe.161 Der Begriff »Hund« ist bekanntlich in seinem abstrakten Gehalt präzise, dies jedoch auf Kosten der sinnlichen Qualitäten. Da mit »Hund« alle Arten von Hunden gemeint sind, tritt das Abstraktum in den Vordergrund, nicht jedoch diese oder jene sinnlich starke Vorstellung eines konkreten Hundes. Ribot fragt sich in seinem Kapitel über die Abstraktion der Gemütsbewegung also, ob es ein ähnliches Phänomen auf dem Gebiet der Gefühle gebe. Gibt es eine Art von Gefühlsabstrakta  ?162 Eines seiner Beispiele ist die Beobachtung, dass manche Menschen mit bestimmten Bauwerken, z.B. Klöstern, grundsätzlich einen bestimmten »allgemeinen Gefühlscharakter«163 verbinden. Wie kommt dies zustande  ? Eine Vielzahl von images in der mémoire, die vielfachen Klosterbesuchen entstammen, ist durch Assoziation verbunden. Weisen nun einige dieser images vergleichbare Aspekte auf, bilden diese in der mémoire Verdichtungen, eine Art emotionales Cluster, das das gefühlsmäßige Substrat aller Klosterbesuche darstellt und künftig mit einem Kloster in Verbindung gebracht wird. Dadurch, dass eine Vielzahl von Klöstern in diesem Vorgang zusammenschmilzt, liegt es in der Natur der Sache, dass das Gefühl zwar distinkt ist, das Bild des Klosters jedoch vage und zusammengesetzt aus ebenjener zugrunde liegenden Vielzahl von Gebäuden.164 Analog dazu lässt sich das wiederholte Sehen bestimmter Anblicke für den Maler Vuillard vorstellen, der bestimmte Szenerien immer und immer wieder beobachtete und hierbei mit der Zeit zu einem emotionalen Substrat dieser Situationen und Anblicke kommt. Die Wiederholung dient, entgegen der klassischen Auffassung, nicht zu einer Präzision der Form, sondern führt, wie oben erörtert, gerade zu einer Diffundierung der klaren Form bei gleichzeitiger Verdichtung des affektiven Gehalts. Dieses Prinzip der Wiederholung als kreativer Strategie und damit als Inspiration für die Malerei nach der Erinnerung hatte, wie oben gezeigt, bereits Corot praktiziert und erahnt, bevor die Psychologen dann versuchten, es wissenschaftlich zu theoretisieren. Vuillard wiederum war bereits durch die Bilder Corots für dieses Verfahren sensibilisiert worden, erhielt aber erst durch den zeitgenössischen Diskurs entscheidende metaphorische Impulse für seine ästhetische Strategie. Vuillards psychische Bearbeitung der immer gleichen Bilder, das Betrachten der immer gleichen Szenerien und die wiederholte Evokation dieser Szenerien aus der Erinnerung vor der Leinwand können also einerseits verstanden werden als Strategie der Intensivierung der

161 Vgl. Ribot 1903, S. 230. Das Kapitel I.13. in Ribots Psychologie des sentiments ist erst später hinzugekommen, denn in der dieser Arbeit zugrunde liegenden französischen Ausgabe von 1896 ist es noch nicht enthalten. Ich beziehe mich daher auf die deutsche Ausgabe von 1903, die das entsprechende Kapitel über die »Abstraktion der Gemütsbewegung« enthält. 162 Vgl. Ribot 1903, Kap. I.13. 163 Ribot 1903, S. 233. 164 Was die Rezeptionsseite betrifft, führt Ribot 1900 im Essai sur l’imagination créatrice aus, dass ebendiese vagen Formen wiederum auf den Betrachter wirken, da die Auslassungen und Vagheiten eine Art emotionaler Leerstelle für den Betrachter seien. Vgl. Ribot 1900, S. 142.

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»énergie de l’image«165. Sie können andererseits verstanden werden als Praxis des Malers, die ihm wichtigen Szenerien durch wiederholte Beobachtung anzusammeln und dadurch nach und nach ihr sinnlich-emotionales Substrat zu verdichten. Das paradigmatische Sujet  : Die Familie und die Welt der Frauen

Entgegen der Ansicht, dass das Sujet der Werke im Vergleich zur Farbharmonie und rein formalästhetischen Aspekten unwesentlich sei, sehe ich in den Sujets einen Teil des Versuchs von Vuillard, künstlerische Kreation ästhetisch auszuloten und erfahrbar zu machen.166 Die Sujets sind hierbei nicht vornehmlich ikonografisch oder aus anderen Symbol- und Zeichensystemen zu begründen, sondern Teil des kulturhistorischen Psychems der mémoire. Denn die mémoire präferiert spezifische Themen und Objekte, was sich einerseits systematisch aus der argumentativen Logik der Erinnerungsdiskurse begründet, andererseits durch die darin verwendeten Strukturmetaphern, die ihrerseits einen bildlichen Assozia­ tionsraum als Fundus für Sujets eröffnen. Es ergibt sich, dass Sujet und Ästhetik, Form und Inhalt, wenn sie aus der Perspektive des Mémoire-Diskurses heraus gedacht werden, strukturell untrennbar sind. Vuillard ahnte, gleichermaßen wie die Psychologen, dass es besondere Anblicke und Motive gebe, die besonders dazu angetan seien, eine Gefühlsverdichtung in der Erinnerung zu erreichen. In einem nicht zweifelsfrei zu datierenden Eintrag in den carnets stellt sich Vuillard selbst die Frage, warum es stets der familiäre und vertraute Kontext sei, in dem ihm die wirklichen ästhetischen Innovationen gelängen.167 Den Eindruck durch Neues tut er ab als subjektiv und spirituell, denn der reine Wahrnehmungseindruck dominiere das Erleben. Angesichts vertrauter Dinge jedoch seien nicht mehr die Wahrnehmungseindrücke das Dominierende, sondern die Seele sei Quelle der Invention  : »l’âme invente un nouvel aspect, une idée nouvelle, non gênée par les modifications extérieurs que présentent les formes […].«168 Die in der Psyche mit Vertrautem assoziierten und sich permanent neu verbindenden images sind also Grundlage der Innovation. Und diese durch die wiederholten Eindrücke verdichteten images sind die Quelle für die Entdeckung von etwas Neuem in etwas Bekanntem. Nur diese psychische Erfahrung erscheint ihm mithin, entgegen der spontanen und noch nicht mit images fundierten Wahrnehmung, als substantiell und innovativ auf der Suche nach gefühlsintensiven Bildern. In gewisser Hinsicht wird dies

165 Taine 1892, Bd. I, S. 408. 166 Eine Tendenz hin zu dieser Haltung ist zu erkennen bei van Tilburg 2010, S. 187 und 189. Ausgelöst wurde die Fokussierung auf die formalästhetische Dimension und in der Folge die Abwertung des Sujets unter anderem durch die Kritiken Thadée Natansons  ; dies wurde auch von Gamboni beobachtet, und auch Gamboni misst dem entgegen dem Sujet Bedeutung bei. Vgl. Gamboni 2000, S. 59. 167 Vuillard, Carnets, I.2., 75r (loses Blatt  ; o. Dat.)  ; vgl. Alexandre 1998, S. 327. 168 Vuillard, Carnets, I.2., 75r (loses Blatt  ; o. Dat.)  ; vgl. Alexandre 1998, S. 327.

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auch durch die Psychologen nahegelegt, denn wie erörtert entstammten die paradigmatischen Beispiele für die mémoire affective der häuslichen Umgebung aus der Kindheit.169 Das Thema des Häuslichen in der Kunst entsteht in den 1890er Jahren freilich nicht ex nihilo, sondern kann auf eine lange kunsthistorische Tradition zurückblicken. Man denke nur an die Impressionisten und Realisten, die in der Momenthaftigkeit des häuslichen Alltags eine überzeitliche Ästhetik entdeckten. Ebenfalls topisch in Bezug auf die Bevorzugung des häuslichen Interieurs als kreativer Aktionsraum im fin de siècle ist die Position Walter Benjamins. Nach seiner Auffassung ist diese Epoche in all ihren Hervorbringungen von einer Flucht ins Private geprägt gewesen und damit eine Ausweichbewegung angesichts der entfesselten Effekte der Moderne.170 Ebenfalls nicht zu unterschätzen ist die (Neu-)Entdeckung der holländischen Malerei ab den 1860er Jahren in Frankreich, deren Bildfindungen als Inkunabeln dieses Genres gelten dürfen.171 Berry und Sidlauskas wiederum haben die Fixierung Vuillards auf seine Mutter (und Schwester) aus Gender-historischer Perspektive betrachtet und dies als Symptom der Zeit gedeutet.172 Vuillards Arbeit sei nicht isoliert zu betrachten, sondern im Kontext der Diskursivierung des Weiblichen und Mütterlichen am Ende des 19. Jahrhunderts. Das Werk des Malers sei eine Parallelerscheinung zur psychoanalytischen Semantisierung des Weiblichen als Inbegriff des Häuslichen und als zentrale Kategorie dieser libidinös strukturierten Objektbeziehungen.173 Der Boden für die Arbeit Berrys wurde kulturhistorisch bereits in den 1990er Jahren durch die grundlegendere Arbeit von Silverman bereitet, die ebenfalls die Rolle des Weiblichen im fin de siècle untersuchte.174 Berry vermag zwar zu erklären, warum das Thema der Frau, der Mutter und des Häuslichen grundsätzlich ein verbreitetes Sujet in der Malerei war. Dabei wird jedoch die spezifische Ästhetik von Vuillards Gemälden von beiden Forscherinnen zu wenig erörtert. Den bisherigen Ansätzen der Vuillard-Forschung ist mithin folgender Aspekt hinzuzufügen. Wenn die Erinnerung Motor und Quelle kreativen Schaffens ist und sie wiederum ihre wirkmächtigsten images jenen Bildern verdankt, die am häufigsten und am intensivsten erlebt worden sind, dann kann es nicht verwundern, dass dabei Bilder zentral sind, die in der Kindheit entstanden sind. Denn sie sind zweifelsohne gekennzeichnet durch eine häufige, mehrere Jahre des Lebens permanent umwebende Wiederholung, die überdies im Höchstmaß von emotionaler Dichte ist. Und ebendiese Bilder sind es, die eine besondere Rolle im kreativen Akt einnehmen. Ihren Höhepunkt hat diese Auffassung bei Freud, der in den Erlebnissen der Kindheit die psychodynamische Quelle für jegliches Kunstschaffen sah.175 Ihren Ursprung wiederum hat diese Auffassung in der Romantik, die die Kindheit, 169 Vgl. etwa Taine 1892, Bd. I, S. 131. 170 Vgl. das Teilstück »Louis-Philippe oder das Interieur« im Passagen-Werk von Walter Benjamin  ; vgl. Benjamin 1982, S. 52 f. Vgl. dazu Kuenzli 2010a, S. 11–13. 171 Vgl. dazu Hertel 1991 und 1996. 172 Vgl. Sidlauskas 1997 und Berry 2011. 173 Vgl. Berry 2011, S. 76. 174 Vgl. Silverman 1992. 175 Vgl. zu der Perspektivierung, dass der Erinnerungsdiskurs ausgehend von Baudelaire, und darin

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einer transzendentalen Logik folgend, als die mit dem Göttlichen am engsten verbundene Lebensphase verstand und daher stets versuchte, sie als Quelle für das ästhetische Schaffen des Erwachsenen zu erschließen.176 Rousseaus Confessions sind für die Romantik in Frankreich zu nennen, ebenso wie Alphonse Lamartine oder Victor Hugo.177 In unserem Kontext relevant ist, dass neben Freud und der Romantik auch Baudelaire und Taine die Kindheit, das Familiäre und vor allem das Mütterliche als auf besondere Weise durch die Erinnerung besorgten Urgrund alles Kreativen erkannten. Bei Baudelaire heißt es – und dies ist insbesondere interessant, da es die Privilegierung der Straßenszenen als Sujet der mnemotechnischen Kunst, wie sie im Essay Le Peintre de la vie moderne formuliert ist, relativiert  : »C’est dans les notes relatives à l’enfance que nous trouvons le germe des étranges rêveries de l’homme adulte, et, disons mieux, de son génie.«178 An anderer Stelle führt er dies genauer aus, wenn er den dem künstlerischen Schaffen analog gedachten, durch Opiumgenuss evozierten Zustand schildert  : »Il revit tout cela, mais il revit avec variations, fioritures, couleurs plus intenses ou plus vaporeuses  ; il revit tout l’univers de son enfance, mais avec la richesse poétique qu’y ajoutait maintenant un esprit cultivé, déjà subtil, et habitué à tirer ses plus grandes jouissances de la solitude et du souvenir.«179 Das kindliche Erleben ist also prädestiniert dafür, durch den schöpferischen Apparat der Erinnerung aufgerufen und von diesem poetisch überformt wiedergegeben zu werden. Hinzu kommt der kindliche Wahrnehmungsmodus, mit welchem Hans Robert Jauß Baudelaires Geniebegriff ausdeutet  : »le génie n’est que l’enfance retrouvée à volonté …« Die produktive Erinnerung wird, laut Jauß’ Baudelaire-Lektüre, erst dann »kunstschaffend, wenn sie willentlich leistet, was die Wahrnehmung des Kindes unbewusst und mühelos vollbringt.«180 Jean-François Perrin wiederum hat gezeigt, dass diese Auffassung nicht nur in der französischen Literatur und Literaturtheorie implizit wirkte, sondern auch von Taine aufgegriffen und in den psychologischen Diskurs der mémoire eingeführt wurde. Aus psychologischer Perspektive erhält das poetische, noch stark romantisch gefärbte Thema der Familie so eine systematische Einbettung in breitere Diskurse über Subjekt, Psyche und Erinnerung. Entscheidend ist dabei, dass die romantische Tradition eine vornehmlich narrative Behandlung von Kindheit und Familie vorsah. Vor der Folie der Psychologen und insbesondere von Taines Gedankengebäude von De l’Intelligence werden die Kindheitserinnerungen jetzt aber nicht mehr einer narrativen Logik unterworfen. An deren Stelle tritt die Logik der Psyche, der images, der sentiments und der Assoziationen und damit eine Logik, nach der die Kindheitserinnerungen assoziativ verbunden, sinnlich-affektiv, gerade die Verknüpfung des Kunstschaffens mit der Kindheit, in Freuds psychoanalytische Theorie der künstlerischen Kreativität mündet, Jauß 1993a, S. 495. 176 Vgl. dazu Ewers 1989  ; Simonis 1993  ; Alefeld 1996. 177 Vgl. Perrin 1993. 178 Baudelaire 1975, Mangeur d’opium, S. 497. 179 Baudelaire 1975, Mangeur d’opium, S. 505. 180 Vgl. Jauß 1993a, S. 459. Jauß bezieht sich damit wörtlich auf Baudelaires Essay Le Peintre de la vie moderne.

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bildhaft und punktuell vor dem inneren Auge aufblitzen und nicht sprachlich narrativ entwickelt werden müssen. In De l’Intelligence finden sich mehrere Stellen, an denen Taine die Rolle der Kindheitserinnerungen verhandelt. Grundsätzlich aufschlussreich ist eine Passage innerhalb einer Analyse von pathologischen Störungen. Sie ist doppelt hilfreich, einmal weil sie die immense affektive Macht der psychischen Einlagerungen der Kindheit betont, zum anderen weil Taine dies unter Bezug auf de Quinceys Confessions of an English Opium-­ Eater herleitet, auf den sich bereits Baudelaire in oben zitiertem Text bezogen hatte. Taine schreibt  : »les circonstances les plus effacées de nos premières années, les incidents les moins remarqués et les plus insignifiants de notre vie ressuscitent parfois avec cette hypertrophie monstrueuse.«181 Für Vuillard, der Baudelaire ebenso kannte wie ihm auch die zeitgenössischen psychologischen Debatten geläufig waren und der sich mit der mémoire als ästhetischer Strategie beschäftigte, war die Welt der Kindheit und damit das Familiäre also naheliegendes Sujet einer Malerei nach der mémoire. Ebenfalls idealtypisch passt zu Vuillard ein Topos, den Baudelaire in diesem Kontext betont. Danach prädestiniere eine von Frauen dominierte Kindheit zum Genie, denn dadurch werde ganz besonders reiches sinnlich-affektives Erinnerungsmaterial bereitgestellt  : »En effet, les hommes qui ont été élevés par les femmes et parmi les femmes ne ressemblent pas tout à fait aux autres hommes, en supposant même l’égalité dans le tempérament ou dans les facultés spirituelles. […] Enfin, je veux dire que le goût précoce du monde féminin, mundi muliebris, de tout cet appareil ondoyant, scintillant et parfumé, fait les génies supérieurs«.182 Bietet die Kindheit an sich also immer schon das Material und die psychische Ausstattung für künstlerisches Schaffen, so sei dies in ganz besonderen Maße der Fall bei einer Kindheit in der Welt der Frauen, wie sie zweifelsohne bei Vuillard stattgefunden hat. Denn sein Vater starb früh, sodass er umgeben war von Mutter und Schwester. Der Bruder verließ früh das Elternhaus, Vuillard aber tauchte in die Welt der Frauen ein, was umso leichter war, als seine Mutter durch ihre häusliche Schneiderwerkstatt das von Baudelaire beschworene ganze wogende, funkelnde und durchduftete Beiwerk183 komplett in die Familiensphäre integriert hatte. Kindheit, Familie und weibliche Arbeit werden so von reinen Sozialisationsfaktoren zum topischen Urgrund und erlesenstem Erinnerungsmaterial des besonders sensiblen Genies.

181 Taine 1892, Bd. II, S. 29. 182 Baudelaire 1975, Mangeur d’opium, S. 499. 183 Zur deutschen Paraphrase vgl. Baudelaire 1991, S. 167.

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4.3 Die Ästhetik des Rhythmischen – Affektiver Bilderfluss und Tanz der Nerven Eine weitere zentrale ästhetische Spielart Vuillards ist das Strukturprinzip des rhythmisch Fließenden. Schon früh experimentiert Vuillard mit einer Rhythmisierung der Bilder, die in noch stärkerem Maße als die eben besprochenen Werke ein ornamentales Gepräge tragen. Schweicher stellt fest  : Auf verschiedenen Wegen hat das Ornamentale Zugang zur Malerei Vuillards gefunden  : einmal verdankt es seine Präsenz einer künstlerischen Vision, bei der vorwiegend Motive, die objektiv bereits Ornamentträger sind, zu Bildvorwürfen werden. Andererseits werden, wenn die Welt der sichtbaren Erscheinungen weniger Ornamentales enthält, alle Möglichkeiten zur Transposition ins Ornamentale ausgenützt. Dabei wird alles, was irgendwie ornamentalen Charakter besitzt, in dieser Eigenschaft hervorgehoben.184

Ganz gezielt kommt dies in den dekorativen Arbeiten zum Tragen, aber auch in Interieurgemälden. Ein frühes Beispiel sind etwa die Tafeln des Atelier de Couture von 1892 (Tf. 35) aus dem Desmarais-Zyklus (oberstes Register) aus dem Jahr 1892.185 Zu sehen ist ein Schneideratelier, in dem eine Reihe von Schneiderinnen und vermutlich Kundinnen Stoffe in Augenschein nehmen, abtasten und teils fertig geschneiderte Kleider anprobieren. Dem Sujet entsprechend dominieren die Stoffe und Ornamente, welche sich geschmeidig um die Frauenkörper hüllen. Aber auch die Tapete und der Teppich sind bedeckt mit Musterungen aller Art. Im Atelier herrscht lebendiges Treiben, kein Fleck auf der Leinwand lässt das Auge ruhen, überall ist eine belebte Dynamik sichtbar, Formen entwickeln sich aus Farbpunkten, Figuren aus Möbeln, Körper gehen in Körper über und werden so wieder zu Farbflächen und von dort aufgelöst in Ornamentik, freilich eine freie und nicht streng geometrische oder symmetrische Ornamentik. Dominierend ist der rhythmische Fluss, in den die Figuren eingebunden sind. Es ist bis heute nicht eindeutig geklärt, wie beide Tafeln zueinander gehängt waren, ob sie nebeneinander oder gegenüber geplant waren  ; wahrscheinlicher ist eine Anbringung nebeneinander.186 So ergibt sich eine symmetrische Rahmung der Tafeln durch die weißen Türen, welche beide Male anekdotisch umspielt werden von dem in rot gekleideten Mädchen und einer Dame in schwarzem Oberteil. Zwischen ihnen umschmeicheln Stoffe Frauen und Frauen Stoffe, Körper sind geneigt, Gesten ausgreifend und bilden so eine Rhythmik aus Farben, Formen, und Gestalten. Das Auge verliert sich zusehends, taucht ein in Details, die dabei in gegenstandslose Farbtupfer zerfallen, gleitet weiter zur nächsten Figur, folgt ihrer Körperbewegung oder Geste und verliert sich abermals in Formationen, die ostentativ ununterscheidbar zwischen Ornament

184 Schweicher 1949, S. 88. 185 Vgl. dazu Groom 1993, S. 25–30  ; Salomon et al. 2003, Kat. V-28. 186 Vgl. die Abbildung der Tafeln bei Groom 1993, S. 22 f.

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und gegenständlichem Detail changieren.187 Bei allen Unterschieden tritt hier deutlich stärker ein Gestaltungsprinzip in den Vordergrund, das die Werke mit einer ornamentalen Ordnung und vor allem dynamischer Gerichtetheit und Rhythmik überzieht.188 Durch diese spezifisch dynamisierte Ornamentik erscheinen die Bildwerke weniger als in sich nicht stillgestellte, flirrende Tableaus, wie jene oben im Kapitel zur Ästhetik des Flirrens beschriebenen Werke, sondern ihr Bildstatus wird in Richtung des Fluiden, Sequentiellen überformt. Handelte es sich bei der Ästhetik des Flirrens um eine zwar unfokussierte, aber dennoch auf einen Anblick gerichtete Bildstruktur, die die Formwerdung dieses Anblicks unendlich hinauszögert, so stehen nun Bildstrukturen im Vordergrund, die aufgrund ihres dynamischen Bewegungsmoments den Charakter von Bilderströmen haben. Vuillard setzt diese Ästhetik auch in seiner Staffeleimalerei ein, wie etwa bei Deux ouvrières dans l’atelier de couture von 1893 (Tf. 33), das zwei Schneiderinnen mit Stoffen hantierend zeigt. In besonderer Weise bildet Vuillard das Werk aus einem Kontrast aus Orange und Blau im rechten oberen Drittel des Gemäldes. Dieser wird von dort ins Bild hinein vermittelt durch einige Abstufungen des Blaus in hellere Nuancen, welche wiederum verwoben sind mit abgetönten Nuancen des Orange. Auch hier ist die Aufmerksamkeit der Schneiderinnen auf etwas dem Betrachter nicht Sichtbares bezogen. Bei der Erkundung dieses Umstandes wird der Blick des Betrachters automatisch nach links hinten gezogen, dorthin, wo auch die Frauen hinblicken. Dort aber ist nichts für den Betrachter Identifizierbares, stattdessen setzt dort eine weich wogende Farbwelle quer durch das Gemälde ein, die links in einem hautfarbenen kleinen Farbberg beginnt, sich dann über die Hand der einen Schneiderin fortsetzt, in den rot-hellblauen Stoff übergeht, in einer hellblauen Passage nach unten gleitet und von dort wieder aufsteigt, um in den blau gefleckten Ärmel der Schneiderin und weitere Verzweigungen im Bild auszulaufen. Mithin entsteht die oben geschilderte Rhythmik aus Figur und Stoffen, Details und Konturlinien, die einander weich umschmeicheln, sich bald überlagern, bald im anderen untergehen.189 Die zwischen Transparenz und Opazität oszillierende Bildwahrnehmung wird hier nicht in erster Linie durch die form- und fokusauflösende Komposition des Flirrens und Vibrierens bewirkt, sondern vor allem auch durch die ornamentale Ästhetik, die die Figuren, wie beschrieben, zu Teilen einer geschmeidig fließenden ornamentalen Kurvatur macht. Die Vibration der Oberflächen, Figuren, Farbformationen wird hier erweitert um das Element des Rhythmischen, Ornamentalen oder Tänzerischen. Die sanft wogenden Ornamentstrukturen prägen die zuletzt genannten Werke und lassen die Gemälde und ihre Szenerie nicht als distinktes Motiv, sondern vielmehr als Wellen eines unendlichen Bildermeers erscheinen. Beide Ästhetiken sind auf ihre Weise Infragestellungen von Form im klassischen Sinn  : Wo in den vorherigen Beispielen eine vornehmlich subtil komponierte Figur-Grund-Verwirrung und damit Form-Verwirrung in einem parataktisch unfokussierten Bildkontinuum vorlag, wird die distinkte, abschließbare und eindeutige Formwahrnehmung hier durch das 187 Vgl. zum Ornamentalen und zur Rhythmik des Desmarais-Zyklus auch Söntgen 2011, S. 95. 188 Zum Zyklus L’Album vgl. Groom 1993, S. 67–90 und Salomon et al. 2003, Kat. V-96. 189 Vgl. zum Gemälde Salomon et al. 2003, Kat. IV-146.

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ästhetische Spannungsmoment des Rhythmischen verunmöglicht. Mit Niklas Luhmann und Hans Ulrich Gumbrecht lässt sich das Problem wie folgt darstellen. Form ist unausgesprochene Selbstreferenz. »Dadurch, dass sie Selbstreferenz gewissermaßen stillstellt, kann sie zeigen, dass ein Problem gelöst ist.«190 Form ist zugleich Selbstreferenz und Fremdreferenz – durch ihre Grenzen definiert sie sich und ihre Umwelt.191 Und genau dem steht das Phänomen des Rhythmus spannungsvoll gegenüber, denn als sich zeitlich entfaltendes und Form verschleifendes Gepräge unterminiert es die stillgestellte referentielle Form.192 Rhythmus verunmöglicht Form und mithin die Wahrnehmung von Form.193 Dennoch macht Rhythmik das Zustandekommen von Form nicht unmöglich, allein dies geschieht nicht mehr in der Logik stillgestellter Referentialität, die nach Bedeutung oder Sinn fragt.194 Vielmehr stellt Rhythmus eine Art der Form dar, die jenseits semantischer Prinzipien funktioniert, auf einer nicht zeichenhaften Ebene.195 Die Antwort liege, so Gumbrecht, »in der Einsicht, dass allein in rhythmisch arrangierten Bild-Sequenzen Bewegung und Form konvergieren – mit anderen Worten  : ›Rhythmus‹ ist unser Begriff für die ›Zeitobjekten im Speziellen Sinn‹ eigene Formqualität.«196 Vuillard experimentiert mit ebenjenem Spannungsmoment. Dabei ist weniger die Frage nach den ästhetischen Vorbildern interessant – denn das Ornament war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kulturhistorisch virulent –, sondern vielmehr die nach denjenigen Diskursen, in deren Kontext die Gemälde Vuillards stehen. Grand Intérieur aux six personnages (1897) – Rhythmus und Form

Für das Ornamentale und Rhythmische in der Malerei Vuillards ist in der Forschung wiederholt das Gemälde Grand Intérieur aux six personnages, oder kurz Grand Intérieur, aus dem Jahr 1897 sowie der Zyklus L’Album (1895) herangezogen worden.197 Da L’Album 190 Luhmann 1986, S. 629. 191 Vgl. Gumbrecht 1988, S. 718. 192 Vgl. Gumbrecht 1988, S. 718. 193 Vgl. Gumbrecht 2012, S. 254. 194 Vgl. Gumbrecht 1988, S. 716. 195 Vgl. Gumbrecht 1988, S. 727. 196 Gumbrecht 2012, S. 254. Gumbrecht bezieht sich mit »Zeitobjekte im speziellen Sinn« auf Edmund Husserl. Dieser hat, nach Elisabeth Laner, in seinen Vorlesungen über die Zeit ausgeführt, dass Zeitobjekte eine eigene Phänomenalität haben, »die von der herkömmlicher Objekte unterschieden werden muss. […] Die Weise der Erscheinung von ›Zeitobjekten im speziellen Sinn‹ respektive immanenten Zeitobjekten ist dadurch gekennzeichnet, dass sie nur in steter Veränderung – im Ablauf – gegeben sind. Es handelt sich hierbei um keine einfachen Erscheinungen oder Phänomene, die dem Bewusstsein punktuell gegeben sind  : Während die Wahrnehmung eines herkömmlichen Gegenstandes zwar immer perspektivisch und damit zwangsweise unvollständig, dennoch aber diskret abläuft, ist die Wahrnehmung eines immanent-zeitlichen Gegenstandes durch einen ständigen Übergang gekennzeichnet. […] Es ist das, was es ist, insofern es ständig wird.« Laner 2016, S. 101 f. 197 Vgl. dazu Schweicher 1949, S. 84 f., 103–105  ; Thomson 1988, S. 44  ; Easton 1989, S. 79 und 82  ; Groom 1993, S. 96 f. und Salomon et al. 2003, Kat. IV-215, Söntgen 2011 und Sundberg 2015.

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in seiner Ästhetik in gewisser Weise einzigartig ist, soll das Werk von 1895 erst abschließend, nach Grand Intérieur besprochen werden. Die Rätselhaftigkeit der Szenerie in Grand Intérieur (Tf. 34) ist immer wieder betont worden, denn weder die Interaktion der sechs Personen noch die räumliche Situation bietet einen Anhaltspunkt für die Erklärung der Bildfindung. Jacques Salomon und Guy Cogeval haben vorgeschlagen, das friesartige Gemälde Grand Intérieur im biografisch-familiären Kontext zu verstehen. Ker-Xavier Roussel, der mit Vuillards Schwester Marie verheiratet war, ging mehrere Male außereheliche Verhältnisse ein. Unter anderem 1895 mit der Schwester des den Nabis nahestehenden Malers Paul Ranson. Es folgten belastende Zeiten für die involvierten Familien.198 Dies wäre als Kontext für das Gemälde insofern denkbar, als es laut Salomon und Cogeval einen Raum des Appartements der Ransons zeigt.199 Die Atmosphäre und die Komposition seien daher ein Reflex auf die durch den anscheinend allen bekannten Seitensprung angespannte familiäre Situation.200 Zur Klärung der Ästhetik sind diese biografischen Spekulationen jedoch kaum hilfreich. Es wäre zwar verlockend, im Kontext dieser Arbeit mit Salomon und Cogeval das Ereignis von 1895 als erinnerte Grundlage für das Grand Intérier von 1897 zu deklarieren. Doch im Gemälde gibt es keine Hinweise darauf. Es gibt keine Elemente im Bild, die für den Rezipienten das Familiendrama als Inhalt des Gemäldes ausweisen würden. Wie in vielen anderen Werken Vuillards existiert die ästhetische Beschaffenheit jenseits möglicher biografischer Umstände.201 Das fertige Gemälde wurde 1897 bei Ambroise Vollard ausgestellt und danach von Vuillard dem befreundeten Maler Félix Vallotton geschenkt.202 Dies legt bereits nahe, dass Vuillard dem Gemälde eine besondere Bedeutung beigemessen hat, wenngleich die Öffentlichkeit verhalten reagierte.203 Für die Vertrauten von Vuillard hingegen muss dieses Gemälde ebenso bedeutend erschienen sein wie für den Maler selbst. Dies geht etwa daraus hervor, dass Vallotton Grand Intérieur gleich zwei Mal in wiederum zentralen eigenen Werken zitiert.204 Es sind laut Salomon und Cogeval zwei Skizzen zum Grand Intéri198 Vgl. Salomon et al. 2003, S. 348. 199 Vgl. Salomon et al. 2003, S. 346. 200 Vgl. Salomon et al. 2003, S. 347. 201 Vgl. zur Einschätzung, dass die Biografie nur begrenzt hilfreich ist bei der ästhetischen Analyse des Gemäldes, auch Söntgen 2011. 202 Vgl. Salomon et al. 2003, S. 346. 203 Vgl. Groom 1993, S. 97. 204 Vgl. Salomon et al. 2003, S. 347 und Ducrey et al. 2005, Bd. II, S. 147–149. Vallotton integriert das querrechteckige Gemälde Vuillards in Femme en robe violette sous la lampe (1898, Tempera auf Karton, 29,5 × 36 cm, Privatsammlung) und in La chambre rouge (1898, Tempera auf Karton, 50 × 68,5 cm, Musée cantonal des beaux-arts, Lausanne). Dort ist das Gemälde Vuillards im Spiegel über dem Kamin durch Vorhänge, Lampen und Blumen regelrecht inszeniert. Ob es sich dabei nur um freundschaftliche Referenzen an Vuillard handelt oder ob Grand Intérieur eine inhaltliche, die Werke Vallottons kommentierende Funktion zukommt, ist bislang nicht geklärt. Evident ist allerdings, dass die Konstruktion des Bilds im Bilde Assoziationsräume eröffnet. Die Tradition des Bilds im Bilde, wie sie aus holländischen Interieurs bekannt ist, hat eigentlich eine kommentierende

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Abb. 33  Ölskizze zu Le Grand Intérieur aux six personnages, Öl auf Karton, 13,4 x 31 cm, Verbleib unbekannt (IV-214)

eur bekannt.205 Zum einen eine undatierte Bleistiftskizze, die allerdings nur entfernt auf das Gemälde vorausweist. Zum anderen gibt es eine Skizze in Öl, ebenfalls aus dem Jahr 1897 (Abb. 33)206, die eine verschwommene Anordnung von Farbfeldern zeigt, welche die Bildfläche als Rhythmik aus homogenen Farbzonen und ornamental durchwirkten Zonen gestaltet. Ergänzt wird dies durch eine Abfolge von Farb- und Hell-dunkel-Kontrasten. Vor allem die Personen sind nur als verwischte Schatten in das Bild eingetragen und Mimik oder Gestik fehlt. Es geht im Entwurfsstadium kaum um die Entfaltung einer narrativen Szenerie anhand des Bildpersonals, sondern um ein Bildgefüge, das rein visuell und sinnlich, ohne semantische Elemente funktioniert. Das ausgeführte Gemälde zeigt ein Interieur, in dem sich sechs Personen befinden. Es ist vielfach beobachtet worden, dass das Gemälde geprägt ist von einer an ein Panorama gemahnenden Erscheinung.207 Die bildräumliche Entfaltung zeigt weit mehr, als ein norFunktion und liefert den Schlüssel zu rätselhaften Szenerien (Hammer-Tugendhat 2002, S. 236–239 und Hammer-Tugendhat 2009, S. 225–234). Dieser Tradition entsprechend würde man Ähnliches bei Vallotton erwarten. Dies wird indes nicht eingelöst, denn entgegen der Erwartung liefert das Zitat von Grand Intérieur eben, neben den zahlreichen Fährten, die Vallotton ansonsten im Bild gelegt hat, keinen Schlüssel zur Hauptszenerie, sondern ist nur ein weiteres Rätsel im Bild. Diese inhaltliche Unklarheit steht im spannungsvollen Gegensatz zur formalästhetischen Klarheit des Gemäldes. Bei Vallotton darf also von einer Ironie ausgegangen werden, die Klarheit und Einfachheit der formalen Bildästhetik absichtsvoll kontrastiert mit inhaltlicher Enigmatik. Er macht damit auf seine höchst eigene Weise aufmerksam auf die in der Malerei nie wirklich gegebene, sondern stets vom Rezipienten gestiftete Bildevidenz. Vgl. zu den beiden Werken von Vallotton Ducrey et al. 2005, Bd. II, S. 147–149. 205 Vgl. Salomon et al. 2003, Kat. IV-214. und S. 347. 206 Vgl. Salomon et al. 2003, Kat. IV-214. 207 Vgl. Salomon et al. 2003, S. 348 und Söntgen 2011, S. 91.

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maler Blickwinkel einzufangen im Stande wäre.208 Das Gemälde scheint so nicht nur in der Rezeption eine Kopfbewegung notwendig zu machen, sondern wirkt wie die visuelle Repräsentation einer nahezu 180° umfassenden Szenerie.209 Zugleich wird der Eindruck des Panoramas, welches im Kern eigentlich durch eine Form des Hyperrealismus geprägt ist, dadurch gemindert, dass das Bildraumkontinuum gerade nicht illusionistisch ist, sondern höchst artifiziell anmutet. Statt eines flüssigen Panoramas erscheinen hier zudem eher einzelne Bildraumsegmente spannungsvoll aneinander und miteinander verschliffen worden zu sein. So ergibt sich ein panoramaartiger Bildstreifen, der zwar ein Bildkontinuum formt, dessen einzelne Bilder jedoch weiterhin erkennbar sind.210 Guy Cogeval spricht von einer »répartition panoramique du souvenir«211. Die einzelnen Bilder sind durch eine komplexe und vielschichtige Dynamik verbunden, die das gesamte Bild mit einer Rhythmusstruktur überzieht. Diese Struktur ergibt sich aus verschiedenen subtil miteinander kombinierten Elementen. Zunächst fällt ins Auge, dass Vuillard kleinteilig ornamentierte Flächen im Wechsel mit nahezu homogenen Farbzonen setzt. Vorhänge, Teppiche, Bilder, Pflanzen, Dekora­ tionsgegenstände und Möbel sind fast durchweg gemustert und bilden – etwa die Vielzahl von Teppichen am Boden, durch die der Boden vollständig bedeckt ist212 – eine ästhetisch begründete und jeglicher Repräsentation enthobene visuelle Struktur, die allein durch ihre ornamentale Rhythmik geprägt ist.213 Dabei nehmen der Boden und die Wandfläche in etwa jeweils eine Bildhälfte ein und sind in Abhebung voneinander geprägt  : der Boden durch eine Vielzahl zuwiderlaufender Teppichornamente, die Wand hingegen in überwiegend vertikaler Gliederung.214 Diese Zonen und Elemente sind durchwebt mit Figuren, die fast alle wiederum in einfarbige Kleidung gewandet sind. Hierin ist ein weiterer Unterschied zur Ästhetik des Flirrens, wie sie oben erörtert worden ist, zu sehen, denn auf den entsprechenden Bildern sind oftmals auch die Kleider kleinteilig ornamental gestaltet.215 In Grand Intérieur hat Vuillard die Kleidung ganz offenbar zugunsten einer klaren Rhythmisierung des Bildraumes monochrom gestaltet. Kompositionell ergibt sich so ein rhythmischer Wechsel aus kleinteiligen und großflächigeren Farbzonen. Weiterhin arbeitet Vuillard mit einem Wechselspiel von hellen und dunklen Bildpassagen. Die gestreiften Vorhänge bilden mit dem von hellen Papieren übersäten Tisch und

208 Vgl. dazu auch Söntgen 2011, S. 94. 209 Vgl. dazu auch Sundberg 2015, S. 108. 210 Am Rande sei darauf hingewiesen, dass Vuillard mit seinem Experiment des Panoramatischen ein Thema aufgreift, das Jean Clair im Œuvre Pierre Bonnards erst weit im 20. Jahrhundert identifiziert, etwa in Bonnards Paysage du Cannet (1928, Öl auf Leinwand, 123 × 275 cm, Privatsammlung)  ; vgl. Clair 1984, S. 24 f. 211 Cogeval 2003a, S. 61. 212 Vgl. Sundberg 2015, S. 109. 213 Vgl. dazu auch Sundberg 2015, S. 108. 214 Vg. Sundberg 2015, S. 111. 215 Vgl. dazu Sundberg 2015, S. 110.

Die Ästhetik des Rhythmischen  |  215

dem darunter liegenden Objekt (möglicherweise ein Kissen) hellere Passagen, wohingegen das Bildpersonal und verschattete Bildraumelemente wiederum dunkle Zonen bilden216. Auf einer dritten Ebene wird die Rhythmik des Gemäldes erzeugt durch den von Vuillard konzipierten Farbakkord, der aus Schwarz, Braun-Beige, Dunkelgrün, Rot, Ocker-Gelb mit singulären Einsprengseln von Blau besteht und das gesamte Bild prägt. Es dominiert mithin eine dunkel- und warmtonige Palette, deren Töne in wohldosierten Abständen zueinander wiederholt auftauchen. Ebenso ausgewogen platziert sind die Figuren im Bild. In vorderster Bildebene befinden sich zwei dem Betrachter mit dem Rücken zugewandte Frauen, wobei die links stehende zusammen mit der Tischkante, welche die Bildfläche fast aufzubrechen vermag, dem Betrachter am nächsten erscheint. Mit Verweis darauf, dass die Figur die gesamte Bildhöhe durchmisst und derart besonders markant wirkt, betont Schweicher dass diese Rückenfigur den Impuls zur rhythmischen Wirkung des Bildes setze, denn denkt »man sich den Fries verlängert, so rechnet man mit der Wiederkehr dieser Figur«.217 Die sich bückende Figur rechts im Bild wiederum setzt aufgrund ihrer Körperbewegung ein ornamentales Moment, denn die Haltung ist durch nichts narrativierbar und erscheint so allein als ästhetische Arabeske begründet.218 Dahinter befinden sich zwei sitzende Personen. Die ältere Dame entspricht der Darstellung von Sitzenden als blockhafte Masse, wie sie auch in anderen Werken Vuillards zu finden ist, und stellt einen besonders markanten Gegenakzent zu den fein durchwirkten Bildelementen dar.219 Die zweite sitzende Figur ist ein Mann, der in die Betrachtung eines Zettels oder Bildes vertieft ist. In der Bildschicht dahinter befinden sich wiederum zwei stehende Frauen. Die rot gewandete steht schräg hinter dem Lesenden, und es ist nicht klar erkennbar, ob sie diesem über die Schulter sieht oder in eine zwischen ihren Händen befindliche Tätigkeit in Gedanken verloren ist. In der Bildtiefe ist das Gemälde abgeschlossen durch eine Frau an der Tür. Diese ist wiederholt und mit einiger Plausibilität mit der analogen Figur im Bildhintergrund auf Diego Velázquez’ Las Meninas (1656)220 in Verbindung gebracht worden  ; indes darf nicht unterschlagen werden, dass es sich einmal um eine geschlossene, einmal um eine geöffnete Tür handelt und sich die männliche Figur bei Velázquez zudem in Schrittposition befindet, die Dame in Vuillards Interieur hingegen eine gänzlich statische Pose einnimmt. Die Assoziation zu Velázquez sollte also nicht überbewertet werden. Die einzelnen Figuren bei Vuillard sind wiederum teilweise zu Gruppen zusammengezogen, sodass die beiden Frauen links in Interaktion zu stehen scheinen, ebenso wie der am Tisch sitzende Mann nebst Frau im roten Kleid. Die Dame an der Tür wiederum und jene ganz rechts am Bildrand stehende hingegen 216 Vgl. dazu auch Sundberg 2015, S. 113. 217 Schweicher 1949, S. 103. Schweicher zieht hierzu ebenfalls die Tafel Atelier de couture aus dem Desmarais-Zyklus von 1892 heran, in diesem Zusammenhang betont er auch das Typische dieses Verfahrens in Vuillards Werk  ; vgl. ebd. 218 Vgl. dazu Schweicher 1949, S. 104. Auch diese Figur ist keine Einzelheit, sondern Schweicher findet sie ebenfalls bereits im Desmarais-Zyklus wieder, vgl. ebd. 219 Vgl. Schweicher 1949, S. 105. 220 Öl auf Leinwand, 318 × 276 cm, Museo del Prado, Madrid.

216  |  Édouard Vuillard und die Ästhetik der mémoire

erscheinen vereinzelt.221 All dies macht auch die Figuren zu Trägern des Bildrhythmus, und sie dienen gleichermaßen als Dekoration, Protagonist und Strukturelement.222 Jeder dieser vier Personen/Personengruppen scheint ein eigener Teppich und mithin eine Bildzone zugeordnet zu sein.223 Wir können also festhalten, dass die ornamentale Rhythmik zustande kommt aus einem Wechsel von Ornament–Farbfläche, hell–dunkel, Farbabfolgen, Raum–Figur. Hinzu kommt, dass Vuillard die Rhythmik nicht nur an der Bildoberfläche konstruiert, sondern auch mit der Bildräumlichkeit arbeitet. Denn die Bildfläche gibt nach hinten immer wieder leicht perspektivisch fluchtende Bildräume frei, die dem Interieur den Anschein verleihen, es springe räumlich, »wave-like«224, vor und zurück. Die beiden Bildzonen bei den gestreiften Vorhängen scheinen den Raum nach hinten zu öffnen, bei der fast schon aggressiv aus dem Bild hervorstehenden Tischkante wiederum greift der Bildraum fast aus der Bildfläche heraus. Vuillard rhythmisiert also selbst auf der Ebene der Bildräumlichkeit das Grand Intérieur, sodass das Auge des Betrachters sich nicht nur in den Verwicklungen auf der Bildfläche orientieren, sondern zudem im Bildraum vor und zurück springen muss.225 Die jüngsten Forschungen von Beate Söntgen und Martin Sundberg haben diese Beobachtungen wieder in den Vordergrund gerückt und entgegen der biografischen Erörterung Salomon/Cogevals zu Recht gefordert, das Ornamentale und Rhythmische als »vital element«226, also im Sinne Gumbrechts als in sich Gehalt tragendes Form- und Strukturprinzip von Grand Intérieur zu verstehen, das ohne semantische Referentialität auskommt.227 Insbesondere Beate Söntgen richtet ihr Augenmerk genau auf diesen Aspekt. Ihre These ist, dass die ornamentale Komposition die visuell ästhetische Ursache der spannungsvollen Stimmung im Gemälde ist, diese also jenseits semantischer, narrativer oder ikonografischer Bildsysteme durch das Ornamentale hervorgebracht wird.228 Vor dem Hintergrund der hier rekonstruierten komplexen Ornamentstruktur des Gemäldes leuchtet dies ein. Darauf, dass es Vuillard tatsächlich um eine ganz distinkte Erkundung des Rhythmisch-Ornamentalen als Basis der Bildfindung ging, deutet auch der Blick auf den seltsam mit Zetteln bedeckten Tisch im Grand Intérieur hin (Tf. 34). Ganz im Gegensatz zur dunkel-warmtonigen Farbpalette und zu den floral gebildeten Ornamenten im Rest des Gemäldes hat Vuillard in dessen Zentrum eine Fläche aus pastosfarbigen querrechteckigen Farbtupfern nachgerade ordentlich arrangiert. Die Zettel sind in Reihen geschichtet. Im Gegensatz zu dem textilen Gewebe seiner Bilder ist hier eine rasterartige Anordnung präsentiert, die, nicht zuletzt auch aufgrund ihrer Pastellfarbigkeit, an die pointillistischen 221 Vgl. dazu auch Sundberg 2015, S. 108. 222 Vgl. Sundberg 2015, S. 113. 223 Vgl. Söntgen 2011, S. 94. 224 Salomon et al. 2003, S. 348. 225 Vgl. Salomon et al. 2003, S. 348. 226 Sundberg 2015, S. 108. 227 Vgl. Söntgen 2011 und Sundberg 2015. Vgl. die obigen an Gumbrecht angelehnten Ausführungen zu Rhythmus und Form. 228 Vgl. Söntgen 2011, S. 104.

Die Ästhetik des Rhythmischen  |  217

Werke Paul Signacs denken lässt. Auch dieser hatte zeitgleich versucht, eine Malerei jenseits des Impressionismus und auf der Basis seiner sensations und émotions zu entwickeln, und auch er war dabei auf die Erinnerung als notwendige Strategie gekommen.229 Vuillards Wahl des Ornamentalen und Rhythmischen, entgegen der Tektonik von Signacs Werken, die im Arrangement des Tisches angedeutet ist, erscheint dadurch umso pointierter. Auch die von Beate Söntgen vorgeschlagene Verknüpfung des Ornamentalen als Stimmungsträger mit den deutschsprachigen Diskursen über das Ornamentale und Stimmungshafte, namentlich mit Wilhelm Worringer und Alois Riegl, ist schlüssig.230 Insbesondere Worringer hatte das Ornamentale ins Zentrum seiner kulturgeschichtlichen Stilpsychologie gestellt.231 Im Ergebnis heißt dies, dass die Gemälde Vuillards Teil einer historischen visuellen Kultur sind, in der sich »Psychisches eine sichtbare Bahn« bricht, und zwar mittels der Ausdrucksbewegung des Ornaments.232 Der Fragestellung vorliegender Arbeit folgend soll der Fokus in historischer Rekonstruktion auf das gerichtet werden, woraus Vuillards Malerei ihre Anregungen erhält. Wie kommt Vuillard dazu, das Rhythmische und Ornamentale als affektives Strukturprinzip aufzufassen  ? Nach der Betrachtung eines weiteren zentralen Gemäldes ornamentaler Prägung wird auf diese Frage zurückzukommen sein. L’Album (1895) – Ornament und Tanz

Wie eingangs erwähnt, ist es vor allem der fünfteilige Zyklus L’Album (1895), der als paradigmatisch für die rhythmisch-ornamentale Bildstruktur gelten kann. Insbesondere die friesartigen Gemälde Le Pot de grès, La Table de toilette (Tf. 26, Tf. 27) und L’Album (Tf. 25) sind in ihrer Ästhetik bis heute einzigartig. Vuillard hatte den Zyklus im Auftrag von Thadée und Misia Natanson für deren elegante Pariser Wohnung gemalt. Vuillard ist für den Zyklus zur Ölmalerei zurückgekehrt, dennoch eignet auch diesem Werk eine vergleichsweise matte Farboberfläche.233 Die Auftraggeber waren eng mit Vuillard befreundet 229 Vgl. Signac 1953, S. 55 f. 230 Auf soziologischer Ebene hätte man auch auf die Metaphorik Simmels verweisen können, die suggestiv in seinen soziologischen Analysen ebenfalls alle psychischen (»seelischen«) Prozesse als organische Ornament-Struktur vorstellt. In Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung schreibt er  : »Welches äußerliche Geschehen auch immer wir als gesellschaftliches bezeichnen, es wäre ein Marionettenspiel, nicht begreiflicher und nicht bedeutungsvoller als das Ineinanderrinnen der Wolken oder das Durcheinanderwachsen der Baumzweige, wenn wir nicht ganz selbstverständlich seelische Motivierungen, Gefühle, Gedanken, Bedürfnisse, nicht nur als Träger jener Äußerlichkeiten, sondern als ihr Wesentliches und uns eigentlich allein Interessierendes erkennen.« Verworrene Strukturen werden demnach erklärlich, sobald man seelische Prozesse als ihr »Wesentliches« erkennt. Zit. nach Plamper 2012, S. 60. 231 Vgl. Söntgen 2011, S. 102. 232 Vgl. Söntgen 2011, S. 103–104, Zit.: S. 103. 233 Vgl. Groom 1993, S. 69. Seit seiner Zusammenarbeit mit dem Theater hatte Vuillard in den 1890er Jahren oft und insbesondere bei seinen Dekorationen zur leimbasierten Malerei à la colle gegriffen. Vgl. dazu Roger-Marx 1945, S. 186 f.

218  |  Édouard Vuillard und die Ästhetik der mémoire

und wichtige Mäzene des Malers. Als Herausgeber der Revue blanche verkehrten Natanson und seine Frau Misia in den gleichen intellektuellen Kreisen wie Vuillard, in denen man Stéphane Mallarmé, aber auch die postimpressionistischen Maler und Musiker treffen konnte.234 Wie die Hängung von L’Album bei den Natansons genau aussah, ist unbekannt  ; es wird davon ausgegangen, dass die großen Tafeln nicht alle gleichzeitig hingen.235 Gloria Gromm zufolge waren sie nicht gerahmt, sie konnten in ihrer Ästhetik also in den Raum ausgreifend wirken.236 Der Zyklus L’Album wurde zudem 1895 in der Eröffnungsausstellung von Siegfried Bings Maison de l’Art Nouveau ausgestellt.237 Im Gegensatz zu Maurice Denis und Paul Ranson schuf Vuillard hierfür keine neuen Werke, sondern reichte L’Album ein. Es ist ungeklärt, ob die Tafeln im Hinblick auf einen der Orte entstanden sind oder gänzlich unabhängig davon. Für Letzteres spräche, dass sie an so unterschiedlichen Orten und in unterschiedlicher Kombination gehängt worden sind.238 Auf der großen namengebenden Tafel des Zyklus, L’Album, sind Frauen und Blumen zu sehen. Mit Ausnahme jener Tafel, die sich heute im Metropolitan Museum befindet und die eine stickende Frau darstellt, zeigen auch die anderen Teile des Zyklus dieses Motiv. In einem selbst für das Werk Vuillards außerordentlichen Maße verschwimmt auch in L’Album alles miteinander, und keine Form oder Gestalt ist klar erkennbar. Dieser Effekt ist in L’Album zunächst verstärkt dadurch, dass alle Elemente, die auf einen Raum verweisen könnten, fehlen. Keine Decke, keine Wand, keine Ecke, kein Boden oder Ähnliches ist zu erkennen. Noch radikaler als sonst ist die illusionistische Bildräumlichkeit suspendiert.239 Auch die bereits bekannten verunklärten Formen, wie z.B. das verwirrende Spiel mit dem Form-Grund-Verhältnis, finden sich hier wieder. Hinzu kommt jedoch die flut- und wellenhafte Rhythmik, die Frauen, Blumen und Oberflächen zu Strudeln zusammenzieht, umeinander tänzeln lässt, wieder in gleitende Bögen auslaufen lässt, um wenig später erneut eine malerische Pirouette zu bilden. Zu Recht betont Martin Sundberg, dass eine visuelle Orientierung kaum mehr möglich ist.240 Was die Motivik betrifft, sind die Frauen und Blumen kulturhistorisch als natürliche Objekte der Schönheit und des Ornamentalen angesehen worden.241 Indes geht es Vuillard kaum in erster Linie um eine Wiederaufnahme dieser Bildtradition. Anschließend an das oben Ausgeführte bedient sich Vuillard dieser etablierten Motivik und im Art Nouveau nachgerade zum Topos geronnenen motivischen Verknüpfung von Frau und Pflanze, um sie mit seinem persönlichen Motivschatz, dem mundus mulieribus, in Zusammenhang zu 234 Zur Revue blanche vgl. Barrot et al. 1988  ; Hermann 1993 und Bourrelier 2007. 235 Groom 1993, S. 85 f. 236 Vgl. Groom 1993, S. 86. 237 Vgl. Groom 1993, S. 76. Aufgrund der schlechten Lichtsituation im entsprechenden Raum fand der Zyklus jedoch kaum Beachtung in den Rezensionen. Eine detaillierte Rekonstruktion der Ausstellung von L’Album bei Bing findet sich bei Leduc Beaulieu 2002. 238 Vgl. Akat. Vuillard, Washington/Montreal/Paris/London 2003, S. 188. 239 Vgl. zu dieser Beobachtung auch Sundberg 2013, S. 152. 240 Vgl. Sundberg 2013, S. 151. 241 Vgl. Groom 1993, S. 71–80.

Die Ästhetik des Rhythmischen  |  219

bringen. Die Motivgruppe des Familiären und Häuslichen stellt im ausgehenden 19. Jahrhundert keineswegs eine neue Motivgruppe dar. Mit den psychologischen Theorien erhält sie aber eine andere Legitimation, und zwar als affektiver Urgrund aller schöpferischer Tätigkeiten. Das Motiv wird so zum notwendigen Abstoßungsmoment für eine Bildfindung, die den sinnlich-affektiven Gehalt dieser Erinnerungsbilder erfahrbar macht. In diesem Zuge tritt das Motiv zugunsten einer abstrakt verdichtenden Malweise zurück, es wird aber keineswegs überflüssig. Eher wird es durch ästhetische Umformungen in der Erinnerung in eine archetypische Form überführt, die, wie unten deutlich werden wird, intersubjektiv geteilt werden kann. Im Werkprozess zu den Tafeln von L’Album findet Vuillard zu einer sich von der Gegenstandsbeschreibung loslösenden, ornamentalen Formation. Das Gemälde ist eine Summe aus kleinen wogenden Strömen, die bald als Strudel, bald als plätschernde Farbspuren einander umspielen und mitziehen, sich wechselseitig begegnen und mal von diesem, mal von jenem Farbimpuls fortgeführt werden. Die rhythmisch gestellten Figuren, Stoffe und andere ornamentale Oberflächen, Blumen und Kleider fließen bei den Gemälden aus dem L’Album-Zyklus zu einem regelrechten mäandrierend-tänzerischen Strudel aus farbigen Kleinstflocken ineinander. Zwar sind die Blumen und Figuren an sich statisch dargestellt, durch die Einbindung in die ornamentale Bildstruktur werden sie aber gleichsam dynamisiert und wogen tänzerisch über die Bildoberfläche. Wo im Grand Intérieur die Substruktur der Rhythmik auf der Oberfläche durch Figuren, Farben und Hell-dunkel-Kontrast entsteht und der dynamische Effekt sich aus der räumlich vor- und zurückspringenden Wellenbewegung ergibt, ist es bei L’Album die auf der Bildfläche verschlungen ausgeführte Farb- und Formenbewegung, die ein tänzerisches all over ergibt. Martin Sundberg hat die Oberflächenauffassung von L’Album zu Recht als »surface saturée« bezeichnet und das ästhetische Gepräge als »flottement ornemental« im Sinne eines eigenwertigen Strukturprinzips zu fassen versucht.242 Auch in Bezug auf das Grand Intérieur ist für ihn hierbei unter anderem die These erkenntnisleitend, dass das Ornamentale, ausgehend von der Teppichtheorie Gottfried Sempers und Alois Riegls, das formbildende Narrativ der Moderne darstellt. In Bezug auf das Grand Intérieur und L’Album mit ihrer bildräumlichen Wellenbewegung, ihren stark dynamischen und vor allem wenig symmetrischen Bildstrukturen erscheint die Analogie zum Teppich indes nicht zwingend. Vor allem die geschmeidige Überfülle (»profusion«, wie Natanson es in einer Rezension nennen wird) von L’Album birgt nicht minder, wie bereits einige Male angeklungen ist, eine Analogie mit dem Rhythmischen des Tanzes.243 Dies ist alles andere als 242 Vgl. Sundberg 2013. 243 Vgl. grundsätzlich zur diskursiven Verbindung von Ornament und Tanz Ferec 1996. Anhand der Geschichte des Balletts zwischen Barock und Anfang des 20. Jahrhunderts wird deutlich, dass das Ornament stets eine strukturelle Kategorie des Tanzes war, wenngleich sich auch das Verhältnis im Lauf der Geschichte vielfach und kontrovers wandelt. Hervorzuheben ist in diesem Kontext insbesondere auch, dass laut Ferec gerade das getanzte Ornament der Masse Ende des 18. Jahrhunderts

220  |  Édouard Vuillard und die Ästhetik der mémoire

Abb. 34  anonym, Loïe Fuller, Tanzaufnahmen, o. Dat.

abwegig, wenn man an die Bedeutung und die Innovationen des Tanzes am Ende des 19. Jahrhunderts denkt. Am berühmtesten und stellvertretend für die Bewegung des modernen Tanzes sind etwa die Aufführungen Loïe Fullers, die 1892 nach Paris gekommen war und mit großer Begeisterung als »lebendig gewordenes Jugendstil-Ornament« gefeiert wurde.244 Fuller setzte in ihren Tänzen schleierartige Gewänder ein, die mittels Stäben an den Handgelen­ken weit über den Arm hinaus verlängert wurden. Ihre Bewegungen sind groß und fließend, und die Stoffbahnen erzeugen Wellen und Spiralen. Es entsteht ein ständiger Wechsel von Form, Farbe und Licht. Ihre anfangs von Biologismen abgeleitete Kunst der Metamorphose (zentrale Motive waren die Blume und der Schmetterling) wird so zu einer visualisierten Reflexion von Bewegung, Form und Körper. Bereits früh fand sie zahlreiche

als Element der Steigerung und dann in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts als tänzerische Reproduktion pantomimisch artikulierter Affekte diente. Ornament, Tanz und Affekt bilden mithin ein diskursives Cluster. Vgl. Ferec 1996, S. 144 und 147. 244 Vgl. Balme 2004, S. 188.

Die Ästhetik des Rhythmischen  |  221

Abb. 35  anonym, Loïe Fuller, Tanzaufnahmen, o. Dat.

Nachahmerinnen.245 Stéphane Mallarmé sah in ihr ein »reines Zeichen«, und der gut mit Vuillard bekannte Maler Henri de Toulouse-Lautrec widmete ihr bereits 1893 eine Serie von Lithografien, die hoch abstrakt den »Wirkungs- und Wahrnehmungsgehalt« der Tanz­ aufführungen thematisiert.246 Ganz offenkundig geht es darin nicht um ein abbildhaftes Festhalten des Tanzes, als vielmehr um das Strukturmerkmal der dynamisierten Form. Zahlreiche andere Künstler folgten. Vuillard kannte, auch wenn es keine konkreten Zeugnisse dafür gibt, bestimmt Fullers Tanz und teilte mit den Zeitgenossen die Begeisterung für die ästhetischen Innovationen der Tänzerin.247 Hierfür spricht einiges, etwa dass er mit dem Bühnengeschehen vertraut und durch Misia Natanson zudem eng mit der Musik verbunden war. Auch der den Nabis nahestehende Kunstkritiker Roger Marx hob nicht

245 Vgl. Brandstetter et al. 1989, S. 128–136. 246 Vgl. Balme 2004, S. 188, Zit. ebendort  ; zu Toulouse-Lautrec S. 195–197 und Andrew 2012, S. 66  ; zu Mallarmé und Fuller vgl. Brandstetter 2005, S. 34–37. 247 Zum Vergleich zwischen Fullers Tanz und der Malerei Ende des 19. Jahrhunderts siehe Andrew 2012. Auch Andrew hat die ästhetischen Parallelen zwischen Fuller und Vuillard gesehen  ; vgl. Andrew 2012, S. 64 f. Seitens der Kunstgeschichte wurde dies jedoch noch nicht rezipiert.

222  |  Édouard Vuillard und die Ästhetik der mémoire

Abb. 36  L’Album (Zyklus L’Album), 1895, Öl auf Leinwand, 67,9 x 204,5 cm, The Metropolitan Museum of Art, New York (V-96.2)

nur die besondere rhythmische und dynamische Qualität der Gemälde Vuillards hervor, sondern begeisterte sich ebenso für den Raum und Zeit neu definierenden Tanz Fullers.248 Eine Reihe von Fotografien (Abb. 34, 35) vermittelt eine eindrucksvolle Idee von den Tanzaufführungen, wenngleich sie gewiss keine adäquate Repräsentation zu geben vermögen. Mit Blick auf die Gemälde Vuillards, etwa L’Album (Abb. 36), sind sie jedoch aufschlussreich, denn auch sie zeugen vom Operieren an den Grenzen des Bildmediums angesichts einer sich dynamisierenden Formfindung. Die Konzeption von Fullers Tanz wie auch diese Bilddokumente weisen eine frappierende Ähnlichkeit mit L’Album auf. Hier wie dort gehen Frauenfiguren eine geschmeidige Bewegungssymbiose mit gewaltigen, weichen Stoffmassen ein, die die Frauen selbst fast verschwinden lassen. Fotos, die anscheinend mit längeren Belichtungszeiten erstellt worden sind, lassen hinter der Tänzerin in rhythmischen Stoffwogen die bereits vollzogenen Tanzbewegungen erscheinungshaft erahnen. Christopher Balme erklärt  : »Als eine der ersten Performerinnen setzte sie [Fuller  ; M.G.] Raum und Bewegung nicht mehr in illusionistischer Art und Weise in Szene, sondern ihre Darstellungsweise arbeitete mit der Entfaltung und Formung von Stoffflächen im Raum. Sie selbst – als tanzendes Subjekt – verschwand in den Stoffmetamorphosen […].«249 Gemünzt auf die Gemälde Vuillards könnte man paraphrasieren  : In L’Album setzt der Maler Fläche und Figur nicht mehr statisch illusionistisch (tiefenräumlich mit klar zueinander gestellten, positionierten Figuren) um, sondern er arbeitet mit der dynamischen Entwicklungsbewegung von Formen und Flächen im Bild. Entscheidend ist bei dem Vergleich mit dem Tanz nicht das Maß der Abstraktion, sondern die Fokussierung auf die Dynamisierung, die Bewegung, die einen neuen Formbegriff notwendig macht.250 248 Vgl. Andrew 2012, S. 60. 249 Balme 2004, S. 188. 250 Auch Andrew betont die Verbindung zwischen Tanz und Vuillard, indem sie bei der Malerei nicht auf das Narrativ der Abstraktion fokussiert, sondern auf die Thematik der Bewegung und Dynamik und der damit verbundenen Wahrnehmungsformen. Vgl. Andrew 2012, S. 60 f. Zur Rolle der Bewegung um 1900 vgl. Hülk 2012.

Die Ästhetik des Rhythmischen  |  223

Der Vergleich der Tafeln Vuillards mit Fotografien von Fullers Tanzaufführungen zeigt die Verwandtschaft zwischen den Bildern. Ergänzend zum formauflösend Fließenden und Ornamentalen birgt L’Album mithin vor allem Assoziationen an das Tänzerische von Fuller, die ebenso wie Vuillard jenseits der fixierbaren Einzelpose und am Phänomen des bewegten Bilderstroms arbeitete.251 Untrennbar damit verbunden ist, wie Nell Andrew betont, auch der Modus der Rezeption  : »We are denied the perception of a whole.« Die Erfassung des gesamten Gemäldes ist unmöglich  : »It is not traversable space fixed in time, but instead seems to mimic the phenomenological effects of movement through space and time.«252 Die Unmöglichkeit der vollständigen und abschließenden Rezeption, als Folge der Verzeitlichung der Rezeption und deren phänomenaler Qualität, trifft auch auf L’Album zu. In seiner Rezension spielt Natanson darauf an  : »symphonie sourde où s’harmonisent des rapports jamais vus et qui vibrent plus profondément à mesure qu’on les contemple, éclats mélodieux, attitudes liées savamment et qui se composent d’après celles que sa tendresse a saisies et que son souvenir ému a retenues. C’est une profusion magistrale des splendeurs colorées harmonieuses où de drape une âme tendre.«253 Der allgemeinen Topik der Zeit entsprechend stellt Natanson zunächst in Bezug auf die Harmonie eine Analogie zwischen Musik (symphonie) und Malerei her. Insbesondere geht es ihm hierbei jedoch neben der Analogie von abstrakten Harmoniegesetzen zwischen Musik und Malerei um die Betonung der Malerei Vuillards unter dem Aspekt der Zeitkunst. Denn Natanson hebt hervor, dass die Rezeptionswirkung sich in Form eines Prozesses einstellt. In einer Art Introspektion beschreibt er, nach längerer Kontemplation werde ein tiefgehendes Vibrieren immer stärker spürbar. Und dieses kontemplativ erfahrbare Vibrieren der malerischen Überfülle (»profusion«) vermag sukzessive den sensiblen Rezipienten wohlig einzuhüllen. Nicht nur das Gemälde arbeitet an der zeitlichen Entfaltung von Form, sondern auch die Rezeption ist hiervon geprägt. Die Bilder Vuillards als Erfahrungsanalogon zu den inneren Bildern der mémoire, welche nie stillstehen, ziehen, um auf Gumbrecht zurückzukommen, als Formqualität mithin notwendig das Rhythmische nach sich. Auf die Introspektion bei der Rezeption bezieht sich 1914 auch Achille Segard, der ebenso wie Claude Roger-Marx den Maler noch persönlich kannte. Mit Blick auf die Wirkung des Zyklus betont er, dass dessen besondere Ästhetik eine geheime Macht habe. Die Wellen, die von ihm ausgingen, hätten eine starke Wirkung auf die »organismes nerveux«254 und übten trotz ihrer Subtilität einen Einfluss auf die Nervenapparate der Rezipienten aus.255 Vor dem Hintergrund der zahlreichen nervösen Krankheiten maß man 251 Vgl. Balme 2004, S. 191. 252 Andrew 2012, S. 65. 253 Natanson 1896, S. 518. 254 Segard 1914, Bd. II, S. 278. 255 Auch Kuenzli betont in anderem Kontext die unterschwellige Wirkung der dekorativen Werke Vuillards ähnlich. Die Werke »seep into their [der Bewohner  ; M.G.] subconscious as they went about their daily business […].« Kuenzli 2010a, S. 77 und 207.

224  |  Édouard Vuillard und die Ästhetik der mémoire

den Werken mithin eine mildernde Wirkung zu  ;256 zudem attestierte Segard ihnen – mit dem oben erwähnten psychologisch aktualisierten kunsttheoretischen Topos, der über Baudelaire bis zu Diderot zurückreicht – die Macht, sich in den Nervenapparaten der Menschen, also deren Gedächtnis einzuschreiben.257 Das wellenartig Rhythmische präge die Gemälde Vuillards, zudem rege es die Rezipienten dazu an, eine über die Gemälde hinausgehende, in den Raum strahlende Wellenwirkung zu imaginieren, die nicht nur in Wohlgefallen münde, sondern sich überdies im Nervenapparat einschreibe. Der Maler vermag dadurch, dass er seine Gemälde als Erfahrungsanalogon zu inneren Bildern gestaltet, die reine Subjektivität hin zu einer überpersonellen Erfahrbarkeit zu überschreiten. Dies basiert darauf, dass auch die Erfahrensqualität kultureller Konstruktion unterliegt und dass Gemälde, die als inneren Bildern analog semantisiert sind, entsprechend wahrgenommen zu werden vermögen. Die Metaphorik der inneren Erregungsmuster, auf der diese kollektive Teilbarkeit basiert, wird im Folgenden besprochen. Die Prozessualität der Rezeption als potentiell endlose Kontemplation, die zunehmend in tiefes Vibrieren münde, entspricht damit der ästhetischen Ornamentstruktur der Gemälde. Das dominierende Moment der weichen Verhüllung und Vernebelung des Bildpersonals in Farb- und Harmoniepassagen wiederum gleicht der Rezeptionserfahrung des sich sachte eingehüllt fühlenden Rezipienten, auf die alludiert wird. Und die phänomenale Qualität der ästhetischen Erfahrung (»vibrent plus profondément«) schließlich scheint verwandt zu sein mit jenem weiter oben erörterten Gefühl, das bei den Psychologen angesichts einer mémoire affective beschrieben worden war.258 Was die Produktionsästhetik betrifft, betont Natanson die Empfindsamkeit (»tendresse«) des Malers als Quelle und die »rapports jamais vus« als Ergebnis und verweist damit darauf, dass es sich um eine in der Empfindungswelt des Malers gründende Innovation handelt, also um das Gefühlsmäßige als Ursprung von ästhetischen Schöpfungen. Als Strategie des Malers, um seine Gefühlswelt umsetzen zu können, führt er, wie oben bereits erwähnt, die Erinnerung an (»et que son souvenir ému a retenues«259). Roger-Marx und auch Schweicher greifen diese Erklärung auf. Bei der ornamentalen Malweise Vuillards wird alles, was irgendwie ornamentalen Charakter besitzt, in dieser Eigenschaft hervorgehoben. Zustatten kommt das ausgeprägte visuelle Gedächtnis von Vuillard. Dieses Gedächtnis veranlasst ihn, unabhängig vom »Modell« und aus der Erinnerung schöpfend zu malen. Die Freiheit, mit der er den realen Bildvorwurf »rekonstruiert«, verleiht die Möglichkeit, Ornamentales einzuführen, zu unterstreichen oder zu vermehren.260

256 Vgl. dazu Groom 1993, S. 81. 257 Vgl. Kap. 3.1 in dieser Arbeit. 258 Vgl. die Ausführungen über das Vibrieren im Empfindungsapparat, wenn alte Gefühlserinnerungen wieder auftreten. In dieser Arbeit Kap. 3.3. 259 Natanson 1896, S. 518. 260 Schweicher 1949, S. 88. Schweicher bezieht sich hier auf die Ausführungen in Roger-Marx 1945.

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Weder Schweicher noch Natanson erläutern indes, warum die Psyche, die inneren Bilder, die images, kurz  : die Erinnerung, zu einer ornamentalen Formfindung führen.261 Die Metapher des Tanzes der Nervenzellen in der Psychologie

Auch hier bieten die Psychologen und insbesondere die metaphorische Beweisführung in De l’Intelligence von Taine aufschlussreiches gedankliches Bildmaterial. Die Metaphern finden insbesondere dort zur Erklärung von psychologischen Mechanismen Einsatz, wo zu dieser Zeit noch kein gesichertes Wissen existierte. Um die entsprechende Argumentation mit Evidenz anzureichern, griffen die Psychologen zum Mittel der Metaphorik. Es scheint, als werde diese umso schillernder, je spekulativer das Ausgeführte wird. Sind die Metaphern zur Dynamik und Entstehung von inneren Bilder noch durch Introspektion zumindest erahnbar, wird Taine zur Erklärung von Prozessen auf neuronaler Ebene, die sich zu dieser Zeit noch jeglicher Anschauung entzieht, zu immer kreativeren Metaphern greifen. Grundlegend ist für ihn die Vorstellung des Flusses innerer Bilder, die gleichermaßen aus der Erinnerung oder der Wahrnehmung stammen können und untrennbar miteinander verbunden sind. Entscheidend bei all dem ist, dass die Psyche nicht mehr als passgenaues Referenzsystem vorgestellt wird, sondern als von Dynamik und Bewegung dominiert. Entsprechend folgt die Psyche nicht mehr semantisch-begrifflichen, sondern prozessualen Gesetzen der Ähnlichkeit und Assoziation, die auf allen ihren Ebenen – images, Wahrnehmung, Nervenzellen – zu einem bewegten, rhythmischen Formenfluss führen. Ebenso erscheinen die ornamental-rhythmischen Bildfindungen Vuillards, die das Ikonische durch das endlos Verschliffene ersetzen, und ebenso die tänzerischen Experimente Fullers, bei denen es im Gegensatz zum klassischen Tanz keine distinkten Posen mehr gibt, sondern nur noch »Übergänge und Verschmelzungen«262. Auf der Ebene der inneren Bilder heißt es bei Taine  : Ce qui suscite à tel moment telle image plutôt que telle autre, c’est un commencement de résurrection, et cette résurrection a commencé tantôt par similitude, parce que l’image ou la sensation antérieure contenait une portion de l’image ressuscitante, tantôt par contiguïté, parce que la terminaison de l’image antérieure se confondait avec le commencement de l’image ressuscitante. Etant donnée une image quelconque à un moment quelconque, on pourra toujours expliquer sa présence actuelle par le commencement de renaissance qu’elle avait dans l’image ou sensation précédente, et sa netteté, son énergie, sa facilité à renaître, 261 Zuletzt hat Sundberg einen Vergleich zwischen L’Album und der Recherche Prousts hinsichtlich der ästhetischen Behandlung der Blumenmotivik vorgeschlagen. Was die mögliche diskursive Begründung für diese Verwandtschaft sein könnte, lässt Sundberg vorerst offen. Im Anschluss an vorliegende Arbeit wäre es zumindest nicht unwahrscheinlich, dass beide Künstler vergleichbare Impulse aus dem Mémoire-Diskurs ästhetisch fruchtbar gemacht haben. Vgl. Sundberg 2013. 262 Balme 2004, S. 191.

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toutes ses qualités intrinsèques par le degré d’attention et par le nombre de répétitions qu’auparavant, soit en elle-même, soit dans la sensation correspondante, elle aura subies.263

Taine beschreibt hier die Dynamik, die jeglicher Wahrnehmung oder Präsenz eines inneren Bildes innewohnt.264 Dass nämlich jegliches innere image schon beim Auftauchen eine Reihe weitere, es überlagernde oder unterfütternde nach sich zieht. Dabei ist die Struktur der Abfolge der Bilder weniger chronologisch zu denken, sondern die Bilder, die aus der Erinnerung aufsteigen, sind dezidiert einer assoziativen Logik der Ähnlichkeit verhaftet. Das heißt, im Bilderfluss folgt nicht temporal, in der Folge der Ereignisse, geordnet ein Bild nach dem anderen im Moment des Erinnerns, sondern die Bilderfolge ergibt sich aus diesen verbindenden Ähnlichkeiten, womit Taine assoziative Verknüpfungen meint. Diese sind, wie oben ausgeführt worden ist, wiederum durch sinnlich-affektive Verwandtschaften begründet. Vor allem aber gibt es keine stillgestellten, isolierten images, da sie stets aus einer vorhergehenden Latenz entspringen und derart auch stets weitere images nach sich ziehen. Taine stellt fest  : »C’est qu’à vrai dire il n’y a pas de sensation isolée et séparée  ; une sensation est un état qui commence en continuant les précédents et finit en se perdant dans les suivants  ; c’est par une coupure arbitraire et pour la commodité du langage que nous la mettons ainsi à part.«265 Die Erinnerung, als Quelle der inneren Bilder, bildet so automatisch einen Fluss an sinnlich-affektiv sich berührenden Bildern, der angeregt sein kann durch die Wahrnehmung, und deren Unterteilung in einzelne dem Flus enthobene Bilder ein künstlicher Eingriff des sprachlich verfassten Denkens sei.266 Für die rhythmisch-ornamentalen Gemälde Vuillards ist dies zentral, denn es betont die Analogie zwischen seinen Gemälden und der Vorstellung der fließenden Dynamik der noch nicht künstlich durch Sprache getrennten images. Diese Ausführungen Taines lassen insbesondere an das Grand Intérieur von Vuillard denken. Denn auch dieses hat, wie oben ausgeführt, die Qualität von miteinander verschliffenen Bildern, die zu einem panoramaartigen Strom zusammengefügt sind. Die wellenartige Bildtiefe ahmt die Tiefe der Erinnerung nach, aus der die assoziativ verketteten Bilder in den Vordergrund drängen, um sogleich von weiteren abgelöst zu werden. All diese kleinen Episoden im Bild reihen sich aneinander als Abfolge von familiären Settings, die allesamt durch ihre Stimmungshaftigkeit assoziativ verkettet und verschliffen ins Bild gebracht werden. Das Bild, das sie gemeinsam ergeben, folgt damit den Merkmalen der inneren Bilder der Psyche und damit neuen und neuartig kombinierten Strukturmerkmalen.267

263 Taine 1892, Bd. I, S. 144, Hervorhebung kursiv i.O., fett M.G. 264 Taine unterscheidet nicht zwischen dem inneren Bild einer Einbildung oder dem inneren Bild einer Wahrnehmung. Psychophysisch betrachtet liegen laut Taine in beiden Vorgängen dieselben Abläufe vor. Einzig der Realitätssinn führt zu einer Unterscheidung zwischen beiden Vorgängen. 265 Taine 1892, Bd. I, S. 142. 266 Vgl. dazu auch James 1995, S. 235. 267 Bereits 1966 hat Rasch die Kunst der Jahrhundertwende mit Subjekttheorien in Verbindung gebracht und damit analog zu den Ausführungen hier das Formauflösende des Ornaments und der Rhythmik

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Die Bildanalyse und der Blick auf den Tanz Fullers haben jedoch ergeben, dass Vuillards Gemälde auch noch andere Formqualitäten bergen als nur die Idee eines Bilder verschleifenden Stroms. Im Zentrum stand vielmehr auch die subtile Rhythmik und das ornamentale Mäandrieren. Damit ist eine Metaphorik angesprochen, die Taine für die Ebene der Nerventätigkeit bereithält. Ganz bildlich stellt er sich vor, dass es im Körper eine Dynamik geben müsse, die den verzweigten, dezentralen affektiven Erregungsmustern entspricht, durch welche die images assoziativ verkoppelt werden. Er entwirft hierzu die Metapher der tanzenden Nervenzellen, die diese komplex mehrdimensionalen, jedoch nicht chaotischen Erregungsmuster aktivieren und dadurch entsprechende images auslösen. Neben dem Flirren der übereinandergeblendeten Erinnerungsbilder und dem rhythmischen Fließen der Bewusstseinszustände bemüht Taine also zudem die Metapher des Tanzes für die der Psyche zugrunde liegenden psychophysischen Nervenvorgänge.268 Als ganz grundlegendes Nervenverhalten schildert er  : »À ce point de vue historique et graphique, l’ébranlement de la cellule est certainement un mouvement intérieur de ses molécules, et ce mouvement peut être comparé très-exactement à une figure de danse […].«269 Das zelluläre Treiben, welches der Unterbau der Psyche sei, sei als Tanzfigur vorzustellen. Die Aufgaben der Zellen werden nicht technokratisch als direkte Signalvermittlung gedacht, sondern als rhythmisch und ästhetisch strukturierte Impulswellen, die scheinbar endlos die Psyche des Menschen unterfüttern und deren Tanztruppe beständig mit neuen Tanzzellen versorgt wird, sobald andere der Erschöpfung wegen ausfallen. Die Tanzbewegung wird erweitert um zuströmende Massen kleiner Zellen, vorzustellen als amöbenhafte, wuselnde Kleinstelemente. Ergänzt werden diese Tanzfiguren der Zellen durch die in Fasern verlaufenden Ströme, sodass Taine abschließend resümiert  : »car, quelle que soit l’opération cérébrale, elle n’a pour éléments que les courants qui cheminent dans les fibres et les danses qui s’exécutent dans les cellules. Combinez, comme il vous plaira, ces courants et ces danses  ; vous n’aurez jamais que des combinaisons de danses et de courants.«270 Es herrscht ein unendliches und unentwirrbares Treiben aus Strömen und Tänzen. Dass diese Metapher durchaus ungewöhnlich und auffallend war, macht etwa der Vergleich mit Charles Scott Sherringtons in den 1890er Jahren zu verortenden Forschungen deutlich. Um die Nervenverläufe zu veranschaulichen, greift er zum Bild der Telefonzentrale, die unter Umständen Verbindungen überbrücken müsse.271 Beiden ist gemein, dass sie es als Normalfall erachten, dass die Systeme aufgrund der Reizflut stets Überbrückungen und Reorganisationen vornehmen müssen, alleine Taine jedoch malt diese Vorstellung mit dezidiert ästhetischer erarbeitet. Indes ergibt sein Essay eher eine Art Überblickspanoptikum, ohne die einzelnen Phänomene und künstlerischen Positionen tiefergehend zu erörtern. Vgl. Rasch 1966. 268 Vgl. zur Metapher der »figure de danse« bei Taine  : Perrin 1993, S. 74  ; Guthmüller 2007, S. 77  ; Hülk 2007, S. 176 f. 269 Taine 1892, Bd. I, S. 307, Hervorhebung kursiv i.O., fett M.G. 270 Taine 1892, Bd. I, S. 314 f., Hervorhebung M.G. 271 Vgl. dazu Crary 2002, S. 276.

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Qualität, die assoziativ weit über das bloße Bild einer linearen Informationsvermittlung hinausgeht, als Tanzformation aus. Die assoziative Nähe zu Vuillards Werken, und hier zu den rhythmisch geschmeidig komponierten, wird insbesondere bei dem Zyklus L’Album deutlich. Die Bildoberfläche scheint mit einer Vielzahl an kleinsten Formeinheiten geflutet zu sein, die sich allesamt in weichen Wellen über das Bild erstrecken, in Substrukturen aber kleine Wirbel und Verdichtungen bilden, einem fließenden Gewässer gleich oder eben Tanzfiguren und -formationen. Die darin verwobenen Frauen wiederum verdoppeln diese Ästhetik, denn auch sie sind in einen geschmeidigen Reigen tänzerischer Bildraumerschließung ineinander verflochten. Aber auch die spannungsvollen Partien der Gemälde, in denen die strudelartigen Formationen kollidieren und sich tumultartig verdichten, lassen sich mit Taines Tanz-Metapher erhellen, denn er stellt sich keineswegs nur wohlgeordnete Tanzformationen vor. Vielmehr finden in seiner Assoziationslogik diverse Tänze verschiedener Geschwindigkeit, Rhythmik, Ausdauer und Intensität statt, die durchaus auch in Kollision miteinander geraten können. In einer längeren Passage entfaltet er dieses Bild eindrücklich  : Une très-petite différence introduite dans la composition chimique ou dans la structure organique d’une cellule suffit pour changer du tout au tout le groupement et les pas de ses danseurs, par suite la vitesse de leur évolution, la forme, la longueur et les combinaisons des lignes qu’ils décrivent  : ce sera par exemple le menuet au lieu de la valse. […] ils lui [dem Auge  ; M.G.] apparaissent comme des arabesques irréductibles.272

Die Bewegungen in verschiedenen Tanzstilen können folglich nacheinander oder auch gleichzeitig stattfinden und entfalten so ein durchaus spannungsvolles und wechselseitig konfligierendes Treiben. Spannungsvoll und schier unüberschaubar wird das Treiben der tanzenden Zellen auch deswegen, weil sich Sinneseindrücke der verschiedenen Sinne allesamt in Nerven-Tänzen niederschlagen  : »Aux éléments de la sensation correspondent les éléments de la danse  ; […] Dès lors, nous comprenons la diversité de nos sensations totales, leur composition infiniment complexe, leur division en familles ou espèces qui nous semblent irréductibles l’une à l’autre.«273 Mit der Totalwahrnehmung meint Taine die gleichzeitige Wahrnehmung verschiedener Sinne und deren gleichzeitige zelluläre Verarbeitung in Form der rhythmischen Tanzbewegungen. Das heißt zunächst, dass die innere Verarbeitungsstruktur des Sehens als von tanzenden Zellen getragen vorzustellen ist. Wenn wir sehen und gleichzeitig riechen, fühlen und mit anderen Sinnen eine Situation wahrnehmen, findet in uns eine komplexe, kaum zu überblickendende Flut an Zelltänzen statt. Auch diese Dimension entspricht L’Album deutlich, denn dem Gemälde wohnt, wie unter anderem in Natansons Rezension angeklungen ist, etwas Synästhetisches inne, das das Visuelle mit dem Haptischen, das Olfaktorische mit dem Auditiven verbindet. Hinzu kommt, dass 272 Taine 1892, Bd. I, S. 308 f., Hervorhebung M.G. 273 Taine 1892, Bd. I, S. 308, Hervorhebung M.G.

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Taine Wahrnehmungserlebnis und nervliche Verarbeitung in Tanzformationen in Korrespondenz miteinander setzt. Man könnte suggestiv verkürzt sagen, eine synästhetisch intensive Wahrnehmung ist wie ein gefühlter Reigen aus tänzerisch arrangierten Nervenreizen. Wird eine Erinnerung an eine solche Situation wach, so hebt der Reigen, abgestimmt auf die aktualen Reize, aufs Neue an  : »chacune des cellules hibernantes recommencera sa danse dans l’ordre préétabli, et cet ordre de danses, propagé de groupe en groupe à travers l’écorce, repassera du dernier au premier plan.«274 Nicht zu übersehen ist dennoch, dass Taine trotz aller Synästhesie dem Sehen einen übergeordneten Status zubilligt.275 Denn um sich diese Dynamik zu vergegenwärtigen, schlägt Taine explizit vor, eine Zeichnung zu entwerfen, um, wenngleich nur ansatzweise, anhand eines Bildes die bereits oben erwähnte, schier unübersichtliche Formation aus sich überlagernden Tanzarabesken und ihre zugrunde liegende Substruktur zu erkennen  : Dessinez sur deux carrés de papier égaux les mouvements d’un même nombre de couples pendant le même temps, d’abord dans la valse, puis dans le menuet  ; les deux tracés sont très réguliers et pourtant si compliqués que l’œil n’y discerne rien de commun  ; ils lui apparaissent comme des arabesques irréductibles l’une à l’autre  ; chacune d’elles semble un type à part.276

Das Malen nach der mémoire bedeutet also für Vuillard bei seiner Suche nach einer ästhetischen Strategie, die es ermöglicht, Gefühle und Empfindungsqualitäten sichtbar zu machen, zunächst die wiederholte Bearbeitung vertrauter Szenen, mit dem Ergebnis immer gefühlsdichter werdender images. Diese kreisten vornehmlich um den familiären und mütterlichen Motivraum und damit verwandte Assoziationen – und damit um ein Thema, das aufgrund seiner Ursprünglichkeit mit den intensivsten Emotionen behaftet ist. Zunächst erkannte Vuillard in der ästhetischen Wahrnehmung, welche für die Poiesis wie auch für die Rezeption fundamental ist, den großen Anteil des Gefühls, der émotion esthétique. Und der dazugehörende Wahrnehmungsvorgang wiederum erwies sich als Prozess, der sich gewebeartig entfaltet. Daran anschließend ergab sich die Frage, wie all dies nun bildmäßig so umzusetzen sei, dass die von Vuillard empfundenen Gefühle und Empfindungsqualitäten im Gemälde visualisiert werden. Weder Darstellung und Repräsentation noch Ausdruck ist das angemessene Mittel, sondern ein analoges Nachvollziehen, dass denselben Strukturprinzipien folgt wie die Empfindungsqualitäten selbst. Und diese Strukturprinzipien sind vor allem durch die Metaphern kulturell niedergelegt. Davon konnte Vuillard seine Ästhetik des Flirrens und des rhythmisch-ornamentalen Tanzes ableiten. 274 Taine 1892, Bd. I, S. 313, Hervorhebung M.G. 275 Ebenso wie später Ribot ist auch Taine einem Okularzentrismus verhaftet. Zu Ribot vgl. Roth 1989, S. 54. 276 Taine 1892, Bd. I, S. 308 f. Wenn man so will, ist dies ein Vorläufer moderner bildgebender Verfahren und diesen insofern verwandt, als der bildlichen Visualisierung offenbar eine genuine Erkenntnisdimension beigemessen wird.

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Der Diskurs der mémoire, der sich bis zu Baudelaire zurückverfolgen ließ, stellt die Erinnerung als ästhetisch-dynamische Verarbeitungsinstanz der Psyche vor, welche ebendieses Ziel, die Visualisierung der Empfindungsqualitäten und Gefühle, erreichbar macht. Denn der unmittelbare Anblick birgt zwar dieses oder jenes Gefühl, ist aber nicht direkt ins Bild umzusetzen. Damit er ästhetisch umsetzbar wird, bedarf es der Verdichtung und Umformung durch die Erinnerung. Diese verdichtet einerseits den emotionalen Gehalt und überformt andererseits die sinnlichen Qualitäten der Wahrnehmung, indem sie pointierend in sie eingreift und sie zudem überlagert mit assoziativ verwandten inneren Bildern. Jene Frage, die Taine als Ausgangspunkt gesetzt hatte, wie das Zustandekommen der inneren Bilder aus Wahrnehmung und mémoire ganz konkret vorzustellen sei,277 konnten die Psychologen selbst allenfalls metaphorisch umkreisen. Eine visuelle Befragung dieses Phänomens und Versuche, hier zu einer anschaulichen Evidenz zu kommen, leisteten vornehmlich die bildenden Künstler, die sich ebenfalls damit beschäftigten. Wie gezeigt wurde, spürt auch Vuillard diesem Phänomen nach und versucht, es bildlich umzusetzen. Dabei sind die Metaphern der Psychologen nicht nur vereinzelte Impulse, sondern sie sind Teil eines diskursiven Systems, das bildnerisches Werden ganz neu zu denken ermöglichte. Damit konnte Vuillard jene Phänomene ästhetisch umsetzen, die er in der eigenen Introspektion unter Anregung der psychologischen Schriften bei sich wahrgenommen hatte  : das unendliche Aufsteigen von inneren Bildern aus der Erinnerung angesichts eines Gedankens, einer Wahrnehmung oder eines Gefühls. Vuillard konnte vor allem aber das ästhetische Gepräge dieser Bilder einfangen, die als vibrierend, changierend, intensiv und zugleich vage, sich unendlich transformierend, zu einem Strom werdend und mit komplexen tänzerischen Nervenbewegungen unterfüttert beschrieben worden sind. Dies gelang ihm als Teil des Diskurses und ausgehend von den semantischen Feldern der darin präsenten Metaphern. Die formauflösende Ästhetik des Flirrens wird kombiniert mit der Bewegung, der »neue[n] Mythologie« der Moderne278, die einen endlosen Lauf von Formauflösung und Formfindung einleitet. »Nicht das Werk, sondern der Prozess der Metamorphose im poetischen Spiel der Gestaltfindung und Gestaltlöschung rückt in das Zentrum ästhetischer Produktion und Reflexion.«279 Und dieser gleichermaßen psychologische wie ästhetische Diskurs ist es, der unter anderem dazu führt, dass das Ornamentale, Rhythmische, Tänzerische zum Inbegriff des Gefühlsmäßigen wird. Die subjektiv geschöpften Bilder Vuillards sind mithin dialektisch verkoppelt mit der kollektiven Dimension dieses Diskurses. Indem sie auf kollektiv hervorgebrachte Metaphern, Dispositive und Strukturprinzipien zurückgehen, sind sie auch kollektiv teilbar.280

277 Taine 1892, Bd. I, S. 13 f. 278 Vgl. Hülk 2012. 279 Brandstetter 1995, S. 38. 280 Vgl. zur dialektischen Verkoppelung der Erforschung der individualpsychischen Erinnerung mit der Dimension kollektiver Erinnerung die Ausführungen von Gagnebin 2006, S. 291.

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Status der Erinnerungsbilder hinsichtlich Form und Zeit  : Zwischenresümee

Abschließend soll nochmals präzisierend nach dem Status der Gemälde hinsichtlich Form und Zeit gefragt werden. In diesem Spannungsfeld breitet Maurice Cremnitz in seiner bereits oben erwähnten Rezension von 1893 anlässlich einer Ausstellung von Werken Vuillards in Le Barc de Boutteville ein elaboriertes Netz metaphorischer Spannungsfelder aus, die teils widersprüchlich zu sein scheinen. Zur Erinnerung, er schrieb  : »[…] c’est qu’ils [Vuillard und Bonnard  ; M.G.] savent fixer ce bonheur très calme et très doux, insaisissable papillon qui semble voltiger dans l’atmosphère d’une chambre amicale, c’est le chuchotement qui rôde dans le coins de pénombre […].«281 Weiter heißt es  : »Ce sont toujours les femmes en effet dont la tiède haleine embue ces douze tableautins, dont les contours gracieux indiqués en lignes tremblées et comme émues et comme caressantes peuplent ces intérieurs aux tentures mouchetées«282. Cremnitz schreibt von wie durch warmen Atem mit einem Schleier überzogenen Gemälden, die komponiert seien aus grazilen Konturen und zitternden emotionalen Linien. Es taucht mithin auch hier wieder die milchglasartige Verunklärung auf sowie eine fragile Formgebung. Damit ist jenes Vage, Flirrende beschrieben, das oben als Qualität der Werke Vuillards sowie als Ästhetik der psychologischen Leitmetaphern erarbeitet worden ist. Cremnitz umschreibt die Ästhetik darüber hinaus mit Hilfe von Metaphern des nicht nur formal, sondern auch zeitlich Flüchtigen und Ungreifbaren  : der Atem (»haleine«), das Flüstern (»chuchotement«) und das Halbdunkel (»pénombre«). Dies sind sämtlich Metaphern, die neben der Spannung zwischen Form und Formverunklärung insbesondere auf die Untrennbarkeit der Form von der Dimension des Zeitlichen verweisen  : Der Atem ist ein Element, das sich durch die im Moment des Ausatmens kurzzeitige Konzentration an Geruchspartikeln und Wassertröpfchen auszeichnet, welche nach Austritt aus den Atemwegen in sofortige Auflösung mit der umgebenden Luft übergeht  ; das Flüstern meint eine nicht durch Intonation und Lautstärke klare, aber dennoch verständliche Form des Sprechens, die sich vor allem zeitlich entfaltet  ; das Halbdunkel meint eine Lichtsituation, die gleichermaßen entbirgt wie verhüllt, was sich vor allem in der Dauer des Sehens entfaltet. Damit wird der Fokus auf die Frage nach dem temporalen und formalen Status der Bilder Vuillards gelenkt. Die Metapher des ungreifbaren Schmetterlings (»insaisissable papillon«) ist damit nicht nur in formaler Hinsicht als Metapher des Ungreifbaren zu verstehen, sondern des Ungreifbaren, das um die Dimension der Zeit dessen erweitert ist, was Vuillard ins Bild setzt und was in der Rezeption erfahrbar wird. Cremnitz’ Rezension bezieht sich nicht eindeutig auf ein Gemälde der 1893 in der Galerie ausgestellten, sondern verbleibt im Ungenauen, da sie die allgemeine Ästhetik Vuillards in den Blick nimmt. Die Anspielungen sind dennoch mit den ausgestellten Werken in Verbindung zu bringen. Es spricht einiges dafür, dass Cremnitz sich mit der Rede von »bonheur« auf das oben bereits angesprochene L’Atelier (La Visite du prétendant) (Abb. 16) 281 Cremnitz 1893, S. 231  ; vgl. dazu auch Berry 2011, S. 67. 282 Cremnitz 1893, S. 232  ; zit. nach Berry 2011, S. 67.

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Abb. 37  Intérieur, effet de soir, 1893, Öl auf Leinwand, 46 x 38 cm, Kunstmuseum, Winterthur (IV-90)

bezieht. Hierzu passt ebenfalls die Rede von der hellen und warmen Farbpalette. Auch finden sich auf L’Atelier die grazilen Frauen, gemalt in feinen Silhouetten, die elegant das Interieur bevölkern. Das Flüstern und das Schattenhafte wiederum prägen insbesondere Intérieur, effet de soir, Fenêtre, effet de soir und La Manche bleue, alle aus dem Jahr 1893.283 In Intérieur, effet de soir (Abb. 37) ist das Halbdunkel der bestimmende Modus, die links vorne sitzende Marie ist kaum auszumachen, und auch die Mutter Vuillards ist nur in ihren Umrissen markiert  ; der Befund ändert sich jedoch desto öfter, je länger man das Gemälde ansieht. Bei Fenêtre, effet de soir (Abb. 38) wiederum meint man, bei ebenfalls gedämpften Licht, das im Moment des Verlautens bereits wieder erloschene, leise Rascheln der Stick- und Näharbeiten zu hören, das, verwoben mit den gedämpften Stimmen der Frauen, den Raum des Bildes füllt. La Manche bleue (Abb. 32) erstrahlt im Gegensatz zum Halbdunkel der anderen Gemälde eher wie eine überbelichtete Fotografie. Das stark belichtete Gesicht, das jäh, in der dem Licht abgewandten Gesichtshälfte, in einen Schlagschatten umkippt, blickt ausdruckslos aus dem Bild. Es wirkt wie das Aufblitzen eines Bildes ferner Zeiten, das, noch bevor es ergründet werden kann, wieder in seine sinnlichen Einzelteile zerfallen wird. 283 Vgl. dazu Salomon et al. 2003, Kat. IV-90  ; IV-144  ; IV-147.

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Abb. 38  Fenêtre, effet de soir, 1893, Öl auf Karton, 20,9 x 26 cm, The Museum of Modern Art, New York (IV144)

Diese paradoxe formale und zeitliche Spannung zwischen Ungreifbarkeit und Fixierung im Gemälde prägt auch die Stimmen zum Vaquez-Zyklus. Roger-Marx, der den Zyklus mit einiger Gewissheit noch an seinem ursprünglichen Anbringungsort gesehen hat, bedient sich ähnlicher Metaphern wie in seinem Kommentar zu den Arbeiten für Dr. Vaquez. Die ästhetische Wirkung der Panele sei  : »Ces habitants légers, transparent comme des fantômes, cette société de meubles, d’étoffes, de fleurs tissées et de fleurs vivantes, de tapis et de livres désincarnés, semblent s’être détachés des contingences pour entrer dans un univers à la fois plus pâle et plus durable, dans une immobilité qui les pare d’un sens hiératique, d’une pureté qui n’a plus rien de terrestre.«284 Die Figuren sind in RogerMarx’ Beschreibung wie ungreifbare Phantome, gleichwohl bergen sie in ihrer dem Alltag entrückten Welt (»détachés des contingences«) eine Art von Dauer (»plus durable«) und Unbeweglichkeit (»immobilité«) im Sinne einer überzeitlichen Stabilität. Der zeitliche Status der Formen, der Gemälde, des Dargestellten und der Rezeption scheint bei all dem von zentraler Bedeutung zu sein. 284 Roger-Marx 1945, S. 124, Hervorhebung M.G.

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Wie ist dieser zeitliche Status zu verstehen  ? Eine Antwort findet sich bei einem erneuten Blick auf Prousts Études und die Erzählung über die Lebenserinnerungen des Hauptmanns. Proust führt das Erleben der Erinnerungen durch den Hauptmann weiter aus, und es ist klar, dass ihm das diffizile Einfangen von gefühlsgesättigten Erinnerungen als Allegorie auf den Prozess ästhetischen Schaffens dient und er damit gleichsam nicht nur den Prozess, sondern auch das Ergebnis – das Erinnerungsbild – beschreibt. Der Hauptmann schwelgt in Erinnerungen an vergangene Liebschaften und sinnliche Erlebnisse, an »le bonheur de se sentir« und […] il [der Hauptmann  ; M.G.] se crispait pour le [all dies  ; M.G.] revivre, le ressusciter et le clouer devant lui comme une collection de papillons. Et chaque fois c’était plus difficile. Et il n’avait toujours attrapé aucun des papillons, mais chaque fois il leur avait un peu ôté avec ses doigts, du mirage de leurs ailes  ; ou plutôt il les voyait dans le miroir, se heurtait vainement au miroir pour les toucher, mais le ternissait un peu chaque fois et ne les voyait plus qu’indistincts et moins charmants.285

Die Auseinandersetzung mit den Erinnerungen, jenen konzentrierten Substraten sinnlich-affektiver Erfahrung, ist per se von unauflösbarer Paradoxie. Denn es ist ein Ding der Unmöglichkeit, sie einzufangen, was die Metapher des Schmetterlings deutlich macht.286 Dass Cremnitz ebenfalls diese Metapher bemühte, um das Ungreifbare von Stimmungen zu versinnbildlichen, weist auf die diskursive Analogie zwischen Erinnerung und Gefühl hin. Beide gelten ihm als essentielle Bestandteile der Psyche, und beider wird das bewusste Subjekt kaum je habhaft. Die emotional aufgeladenen Erinnerungen des Hauptmanns sind so in gleich doppelter Weise wie nicht greifbare Schmetterlinge. Es ist evident, dass Proust über das Festhalten von emotional aufgeladenen Erinnerungen nicht nur als lebensweltliche Problematik schrieb, sondern darin gleichsam das eminent fragile ästhetische Einfangen dieser verdichteten images thematisiert, und vor allem, dass gerade die Reflexion dieser Greifbarmachung des Ungreifbaren der Inbegriff ästhetischen Schaffens ist. Denn Proust betont nicht nur die Flüchtigkeit der sinnlich-affektiven Erinnerungsfetzen, sondern auch die Problematik, ihrer allzu vehement habhaft werden zu wollen. Der Protagonist seiner tableauhaften Narration macht den Fehler, sie verkrampft festhalten zu wollen, sie verbissen heraufzubeschwören. Letztlich aber erreicht er damit das Gegenteil, die Erinnerungen werden trüb und am Ende ihres Zaubers beraubt. In dem Gleichnis des Schmetterlingssammlers, der die flüchtigen Schätze stillgestellt, auf ein Brett genagelt 285 Proust 1893, S. 50. 286 Die Metapher der fliegenden, nicht greifbaren Wesen, wie sie in der Kunstkritik und bei Proust aufgerufen wurde, ist nun an sich noch nicht zwingend auf die Erinnerung zu beziehen, denn auch die Wesen des Traumes werden klassischerweise metaphorisch so beschworen. Den Unterschied macht jedoch grundsätzlich die Tatsache, dass es sich in beiden Zitaten zweifelsohne um Tagschmetterlinge handelt. Die literarische Bearbeitung durch Proust ist noch in einem weiteren Punkt aufschlussreich  : In seiner Skizze sind die Schmetterlinge nur vermittels eines Spiegels zu sehen. Es handelt sich also um ein Sehen bei Tageslicht und kein nächtliches Traumsehen.

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bewundern möchte, wird klar, dass genau die haptische, also ergreifende, Stillstellung die Kraft der Erinnerungen für immer verschwinden lässt.287 Proust entlarvt aber nicht grundsätzlich den Wunsch, sich der Erinnerungen zu erfreuen, als verhängnisvoll. Er differenziert sehr fein, indem er die zerstörerische Dimension jenes Ansinnens mit dem »toucher« verbindet. Die Bewunderung der Schmetterlinge im Spiegel wäre für diese nicht bedrohlich, erst das Greifen führt zur Trübung ihrer Erscheinung. Das sehende Bewundern der (natürlich nicht stillstehenden) Schmetterlinge im Spiegel, welches dem Impuls zur Fixierung widersteht, böte, so scheint es, größeren Genuss der frei flottierenden Wesen als deren Festhalten.288 Fixierung, Einfangen, bildmäßige Rahmung, Punktuell-greifbar-Machen – all dies zerstört den sinnlich-affektiven Schein der Erinnerungs-Schmetterlinge. Das heißt im übertragenen Sinne, dass die sinnlich-affektive Potenz der Erinnerungen nur dann erhalten bleibt, wenn man sie nicht dem präzisen Studium unterwirft, wenn man sie nicht begrifflich oder formal fixiert und erfasst. Vielmehr ist es konstitutiv für diese Bilder der mémoire, dass sie flüchtig und vage bleiben, dass sie nur vage Spuren hinterlassen, nur in flatterhaften Anmutungen sichtbar sind, dass ihre Figur schillernd und vielgestaltig bleibt, dass ihre Kontur unklar, ihre Proportionen nicht 287 Die Metapher der Schmetterlinge für wertvolle emotionale Erinnerungen hält sich in der Literatur bis in das 20. Jahrhundert hinein. Nabokov verwendet sie ebenfalls, und auch bei ihm können diese fragilen Schätze nur auf eine bestimmte Art bewundert werden, ohne Schaden zu nehmen. Im Gegensatz zu Prousts indirekt-vermittelter Betrachtung durch den Spiegel wählt Nabokov aber das Halbdunkel als schützende Atmosphäre. Beiden gemein ist die Betonung des Fragilen, das durch direkten Zugriff oder Licht zwangsläufig zerstört wird. Nabokov schreibt  : »Die Elemente der Lebenserinnerung haben die Neigung, durch Zurschaustellung zu verblassen. Sie gleichen jenen reich pigmentierten Schmetterlingen und Nachtfaltern, die der ahnungslose Amateursammler in Schaukästen an den Wänden seines Sonnenzimmers aufhängt und die dann nach einigen Jahren zu einem tristen Gelbbraun ausgebleicht sind. Das metallische Blau als sogenannte Strukturfarbe der Flügelschuppen ist widerstandsfähiger, gleichwohl handelt der Sammler klug, der seine Stücke im trockenen und dunklen Inneren seines Schrankes verwahrt.« Nabokov 1993, S. 227 (Nabokov in einem Interview für die BBC-2-Sendereihe Review, 4. Oktober 1969). 288 Die Metapher des Spiegels für das vermittelte Sehen der Erinnerung in fantomhaften Bildern findet ihren Wiederhall in der frühen Vuillard-Forschung bei Salomon und vor allem Roger-Marx. In Bezug auf den Vaquez-Zyklus schreibt Salomon suggestiv  : »Ces sujets lui seront inspirés cette fois par le propre appartement de l’amateur [Dr. Vaquez  ; M.G.], reflétant, comme de mystérieux miroirs, ses motifs transposés.« (Salomon 1945, S. 40) Salomon geht ohne präzisere Begründung davon aus, dass die Dekoration das Lebensumfeld Dr. Vaquez’ reflektiert, allerdings nicht in einer rein reproduzierenden Weise, sondern in Form der »mysteriösen« Transformation, die das Alltägliche zum Ästhetischen macht. Roger-Marx verwendet, ebenfalls 1945, die Spiegel-Metapher in allerdings avancierterer Form, wenn er schreibt »Dison-le tout de suit, qu’une décoration, jouant le rôle d’un miroir, mêle aux vivants des simulacres de vivants […] rêveries.« (Roger-Marx 1945, S. 124) Er deutet an, dass die Arbeit des Spiegels weniger darin liege, Lebenswelt zu reflektieren, als vielmehr eine eigene Scheinwelt dagegen zu stellen, die traumartige Züge trägt. Gleichwohl macht die Metapher des Spiegels klar, dass es sich nicht um völlig eigenständige Traumwelten handelt, sondern eine spezifische Verbindung zwischen Realität und ästhetischer Welt besteht. Eine Beziehung der reinen Abbildlichkeit ist es offenbar nicht, sonst würde die Spiegel-Metapher ungebrochen eingesetzt werden.

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greifbar, dass ihre Form nur in ihrer unablässigen Bewegung in der und durch die Luft erahnbar ist. Sie sind nur sichtbar durch die Vermittlung der Oberfläche des Spiegels, durch die Wiedergabe mittels einer Projektionsfläche. Nur der Kontakt mit dieser Fläche macht die flatterhaften Wesen überhaupt sichtbar, sie bedürfen der sinnlichen Resonanz über die Spiegeloberfläche. Die notwendige Projektionsfläche ist die Malerei. Ganz offenbar hat die Kritik von Cremnitz und Roger-Marx zu den Gemälden Vuillards ebendieses Phänomen im Sinn. Vuillards Gemälde lassen sich damit verstehen als Versuche, diesem Paradox gerecht zu werden. Als Bilder, die das nicht Stillstellbare in stillgestellter Form erfahrbar zu machen versuchen. Sie bilden nicht ab und stellen nicht dar, sondern ermöglichen in einer Analogform zu psychischen Erinnerungsprozessen Erfahrungsmodi. Es geht um Erfahrungsmodi, die an den sinnlich-affektiven inneren Bildamalgamen jenseits einer begrifflichen Zurichtung festhalten sowie Erinnertes und Aktuelles in einer Synthese zusammenführen, die einmalig konstruiert ist, derart aber im Moment des Erscheinens bereits wieder verloschen sein wird. »Die Zeit der Erinnerung wird so konzentriert auf die zeiträumliche Präsenz […] eines Impulses, einer sinnlichen Mobilisierung, einer energetischen Symbiose, und es ist gleichermaßen das Problem der Schrift und des Bildes, diese Spur, diese Passage zu inszenieren.«289 Blicken wir mit all dem hier Erörterten erneut auf die Werke Vuillards, erhält ihre Ästhetik eine völlig neue Dimension, und zwar jene des inneren Bildes, welches sich einstellt angesichts einer zutiefst in die Erinnerung des Menschen eingeschriebenen Szenerie, die im Moment des Anblicks eine Flut an sinnlich-affektiven Erinnerungsfetzen belebt und auslöst, welche als unstillbares Gewimmel vorzustellen sind und derart den gesamten Menschen ins Vibrieren versetzen. Diese ästhetische Gestaltung bringt Menschen und Objekte zur Anschauung, zugleich sind es aber jene Bedingungen ihrer Darstellung, die sie auch zum Verschwinden, zur Konturauflösung im sie umgebenden Farbumfeld bringen. Darstellen und zugleich Sich-Auflösen gehen untrennbar miteinander einher. Das Dargestellte hat so immer etwas Epiphanisches oder, weniger religiös gesprochen, etwas Erscheinungshaftes.290 Die Figuren emanieren aus der Bildfläche ebenso wie sich räumliche Verhältnisse vexierbildartig verschieben und sich in der changierenden Wahrnehmung erschließen, zugleich aber verunklärt werden. Mit dem meist ebenfalls regungslos versunkenen Bildpersonal gleitet man in den Stoff des Bildes, in dessen farbliche Textur, in die Verzahnung der Objekte mit- und untereinander. So sind die Motive einerseits stillgestellt und ihre Haltung enigmatisch verrätselt, was der momenthaften Anschauung entspricht. Zugleich ist andererseits die Bildoberfläche in ihrer Verfasstheit ein lebendiges Vibrieren an sich, das in ostentativem Widerspruch zur versunkenen Absorption der Dargestellten steht. Obgleich die Werke stets eine Art von Sujet oder zentralem Objekt zeigen, ist die Komposition nie wirklich darauf zugeschnitten. Sie folgt eher der summarischen Aneinanderreihung, wie sie in den Zitaten von Probanden der Psychologen zur Geltung kam. Einzelne Objekte werden im Bild ihrer Alltagsfunktion enthoben, als sinnliche Gebilde 289 Hülk 2006, S. 36. 290 Vgl. dazu Seel 2003.

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geschildert und nebeneinander gesetzt oder, einer nicht durchschaubaren Logik folgend, ineinander verwoben. Die Werke scheinen so stets Teil eines größeren Ganzen zu sein, eines größeren Bildes eines größeren Flusses, dem sie, anlässlich einer vorübergehenden Fokussierung auf ein Element des großen Gewebes, in einem willkürlichen Akt entnommen zu sein scheinen. Das Bildpersonal ist eine Art unbewegter Beweger, der die sinnlich-affektiven Erinnerungsassoziationen anstößt, die sich dann zu einem »unendlichen Nachvibrieren«291 verselbständigen, die beginnen zu wimmeln und eine alles umfassende Vibration auslösen, die nicht nur alle Umgebung, sondern schließlich auch sie selbst umfasst, sie dergestalt zum Teil des vibrierenden Kontinuums macht, sie untrennbar darin einwebt. Im Gegensatz zum eher statischen Pointillismus eignet der in Farbtupfer aufgelösten Malerei Vuillards etwas verworren Dynamisches, das den Rezipienten in das vibrierende Netz der Bildoberfläche hineinzieht und ihn in ein endloses Changieren und Oszillieren verwickelt. Und all dies hat im fin de siècle ganz offenbar zu einer Art visueller Kultur des Erinnerungsbildes beigetragen, dessen in seiner Ungreifbarkeit vornehmlich die Künstler Herr werden konnten mit ihrer Ästhetik der Inszenierung des Unstillstellbaren. Das bildförmige Schaffen aus der bildlich strukturierten Erinnerung des Malers ist motiviert durch den Versuch, die emotional konzentrierten images ins Bild zu setzen und ästhetisch erfahrbar zu machen. Die Metaphern und Theorien der Psychologen sind hierbei nicht Vorbild oder werden abgebildet, dargestellt oder repräsentiert. Vielmehr sind die Gemälde analog gebildet und machen so die dem Diskurs zugrunde liegenden Strukturprinzipien erfahrbar. Die prozessuale Bearbeitung der images bezeugt zugleich die genuine Verfasstheit der Psyche als sich stets fortsetzendes Kontinuum, zusammengesetzt aus sich in der Wiederholung überformenden Bildern, die scheinbar für sich stehen, letztlich aber nur im Verbund existieren. Der Formfindungsprozess, der für die Psychologen zum neuen Strukturmerkmal der menschlichen Psyche geworden war – das ewige Fließen, welches nur im künstlichen Eingriff durch Sprache oder Abstraktion punktuell zu einer gedanklichen oder das Bewusstsein darstellenden Form gemacht werden konnte –, findet damit analog seinen Niederschlag in der Malerei Vuillards, der den Moment des Flusses und damit das einzige wirklich Konstante in seinen Bildern reflektiert als jene psychische Substanz, die, bevor sie punktuell zu Form gerinnt, noch gespeist ist mit sinnlich-affektivem Gehalt.292 291 Guthmüller 2007, S. 86. 292 Damit stellen die französischen Psychologen, wie es scheint, nicht nur eine Vorstufe dar zur deutschen Ornament-Psychologie Wilhelm Worringers und Aby Warburgs, sondern sind zudem im Zusammenhang zu sehen mit dem, was Karl Clausberg als Theorie der Aktualgenese erforscht hat und historisch die Vorstufe zur Gestalttheorie darstellt. Stellvertretend für diese Position sei Friedrich Sander aus einer Publikation von 1926 zitiert  : »Unter Vorgestalterlebnis sei die oft scharf charakterisierte Erlebnisperiode verstanden, die der aktuellen Durchformung eines Komplexes, der Gestaltbildung, vorangeht. Diese Vorperiode ist ausgesprochen ganzheitlich und gefühlsstark. Die Bedeutung des Vorgestalterlebnisses wächst mit dem Gewicht der Gestalten, die sich in ihm zur Form drängen. Künstler, Dichter und Denker schildern den Gefühlsdrang und das ganzheitliche Ergriffensein in diesem schöpferischen Zustand. Unter gewissen Bedingungen ist es möglich,

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Die durch die mémoire gewonnenen Werke veranschaulichen nicht nur in sinnlich dichter Weise die verlebendigten und vergegenwärtigten Empfindungen und bieten so einen spezifisch ästhetisch und emotional überformten Blick, sondern sie tragen stets in sich geschrieben, dass sie Vergangenes und Welt nicht repräsentieren, sondern sie nur vermittelt zum Erscheinen bringen. Aus der Einsicht, dass das Bewahren des Vergangenen eine Illusion ist und weder von der Historie noch vom menschlichen Bewusstsein geleistet werden kann, resultierte bereits bei Baudelaire die Idee, Ungreifbares greifbar machen zu wollen. »Paradoxerweise bezieht sich das Erinnern also auf einen Wahrnehmungsverlust. Der souvenir ist das Medium, das Zeitverlust und Vergessen zur Anschauung bringt.«293 In Baudelaires Peintre-Essay dient die mémoire der Bewerkstelligung der Verlebendigung und [der] Vergegenwärtigung der Empfindung. Die evokative Potenz des Gedächtnisses (mémoire résurectionniste) befiehlt den Dingen, wie es Baudelaire in Anspielung auf die Lazarus-Parabel fasst, sich zu erheben. Aber die biblische Auferstehung, die Lazarus wieder als Mensch unter Menschen führt, ist der künstlerischen nicht äquivalent. Denn Letztere besteht darin, das Phantomhafte, also die Gespenster, die keine lebendigen wiederauferstandenen Menschen sind, festzuhalten.294

Zusätzlich zu den affektiven Gehalten der inneren Bilder sind die Gemälde aus der mémoire auf diese Weise immer auch, trotz visueller Präsenz, gezeichnet von der Stimmung des Entrückten. In dieser doppelten Gefühlshaftigkeit liegt auch ihre Uneindeutigkeit begründet. Ganz wie Didi-Huberman es aus der Perspektive Prousts für die Werke Vermeers feststellte, gilt dies auch für Vuillard. Die Gemälde sind dezidiert nicht als »Stillstand der Zeit« im Sichtbaren zu verstehen, sondern vielmehr (paradoxal) mit Proust als bebende Dauer, »Ektase der Zeit«.295

insbesondere im Optischen, der Genese der Gestalten in dem Vorgestalterlebnis in einzelnen Stufen, in Vorgestalten, nachzugehen. Diese Vorgestalten sind ungegliederter, ganzheitlicher wie die durchformten Endgestalten ohne deren Endgültigkeit, mit einem starken ›Drang zur Gestalt‹« (Friedrich Sander, Räumliche Rhythmik, in  : Felix Krueger (Hg.), Komplexqualitäten. Gestalten und Gefühle, München 1926, zit. nach Clausberg 2011, S. 3). Pointiert könnte man die diskursgeschichtliche These entwerfen, dass erst mit der Einführung der Gestaltpsychologie die Form wieder zum starken Strukturmerkmal wird. Zuvor – die These hier ist ab der Mitte des 19. Jahrhunderts virulent bzw. überliefert – herrscht ein Dispositiv, das den Fokus auf den Formwerdungsprozess als sowohl epistemisch wie auch ästhetisch und affektiv ins Zentrum stellt. 293 Westerwelle 2001, S. 359. 294 Westerwelle 2001, S. 360. 295 Vgl. Didi-Huberman 2007, S. 60.

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4.4 Erinnerung und Bild als Palimpsest  : Interpikturale Praxis In einem letzten Schritt stellt sie die Frage nach der Rolle, die Erinnerungen an Werke anderer Künstler, den kunstgeschichtlichen Kanon, aber auch Bezüge im Werk Vuillards spielen. Gab es eine der Logik der mémoire entsprechende interpikturale Auseinandersetzung  ? Welcher Art war die aus der mémoire resultierende ästhetische Rezeption oder Aneignung  ? Dies zu fragen wird gleichermaßen durch das Werk Vuillards wie auch durch den historischen Erinnerungsdiskurs nahegelegt. Bereits Diderot hatte erklärt, dass gerade das Medium der Malerei intensive Erinnerungen hinterließe, ja, dass dies ein Qualitätskriterium von Malerei sei.296 Baudelaire ist ihm zunächst darin gefolgt297 und radikalisiert diesen Gedanken in nachgerade moderner Weise, indem er ihn auf das kollektive Gedächtnis ausweitet. Baudelaire konstatiert halb tröstlich (»consolant«), halb erschreckt (»infiniment terrible«) am Beispiel eines Autors, der sein gesamtes Werk zerstörte, dass Kunstwerke von Qualität in jedem Fall ihren Platz im kollektiven Gedächtnis behielten, ganz gleich ob sie realiter noch existierten, verschollen oder zerstört worden sind.298 Denn alle Taten, alle Handlungen bleiben erhalten. »Le palimpseste de la mémoire est indestructible.«299 Damit ist auch die Grundidee der Pathosformel, als affektiv besonders energetisch-distinkte Formation im kollektiven Gedächtnis, vorweggenommen, und Baudelaire wirft die Frage nach der kollektiven Dimension von Erinnerung auf, die auf den Umgang mit der Tradition bzw. im weiteren Sinne interpikturale Referenzen verweist. Offen zu Tage liegende Spuren der Auseinandersetzung mit der Tradition finden sich bei Vuillard erst in Werken des 20. Jahrhunderts. Eindrucksvolles Zeugnis davon legt ein Selbstbildnis aus dem Jahre 1923/24 (Abb. 39) ab, auf dem sich Vuillard im Spiegel, beim Waschen der Hände zeigt.300 Der Spiegel ist dabei umgeben von Skizzen und Kopien nach Werken anderer Maler. Aber nicht nur der Spiegel ist gerahmt von anderen Werken, auch die Wand, die sich hinter Vuillard im Spiegel zeigt, ist nahtlos befüllt mit Bildwerken. Wenngleich es ein spätes Bildnis ist, setzt dieses Gemälde doch den Status anderer Werke ins Bild  : als omnipräsente Inspirationen, die vom Maler selbst nicht zu trennen sind. Beim Blick in den Spiegel und im bildlich inszenierten Spiel mit den Realitätsebenen geht der in weiß gekleidete Maler fast unter im Reigen seiner Inspirationen  ; der ihn umgebende Raum wird zur Veräußerlichung des Innenlebens des Malers. Laurence des Cars deutet die kurz zuvor entstandenen Dekorationen für Camille Bauer (Abb. 40, 41), die Innenansichten des Louvres und des Musée des Arts décoratifs zeigen, folgerichtig als persönliche Meditation über die kunsthistorische Tradition, die Vuillard 296 Diderot 1980, S. 258  ; Fried bezieht sich ebenfalls auf diese Passage, missachtet jedoch, dass es sich bei Diderot hier um zwei getrennte Vermögen (Imagination/Bild vs. mémoire/Sprache) handelt, die eben nicht dem modernen Verständnis von Gedächtnis entsprechen. Vgl. Fried 1984, S. 517. 297 Vgl. Kap. 3.1. 298 Baudelaire 1975, Mangeur d’opium, S. 506. 299 Baudelaire 1975, Mangeur d’opium, S. 507. 300 Vgl. dazu Salomon et al. 2003, Bd. III, Kat. XI-167.

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Abb. 39  Autoportrait dans le miroir du cabinet de toilette, 1923/24, Öl auf Karton, 81 x 67 cm, Dian Woodner and Andrea Woodner, New York (XI-167)

notwendig nicht als kühle und sachliche Auseinandersetzung ins Bild setzte, sondern nur in Verbindung mit einer persönlichen, emotionalen Dimension.301 Davon zeugen die anekdotische Anlage der Werke und das Bildpersonal, das dem Vuillard nahestehenden Kreis entstammt. Die friesartigen Tafeln wiederum zeigen die liebevolle Ansammlung kleiner Kunstgegenstände auf Vuillards Kaminsims und sind damit, wie das Selbstporträt, Ausweis des persönlichen Bilderschatzes von Vuillard. In den Ansichten der Ausstellungshäuser wiederum dient die Integration der vertrauten Personen einerseits der persönlichen Semantisierung dieses ansonsten öffentlichen Raumes, andererseits regen die Personen keinen sachlichen Zugang zur Malerei an, sondern ebenjenen persönlich-emotionalen. Ein Kommentar zur Auseinandersetzung mit der Tradition ist dies zudem in doppelter Hinsicht, denn die Gemälde thematisieren nicht nur durch ihr Sujet den personalisierten Zugriff auf Kunst, sondern beziehen sich überdies auf das Vorbild Edgar Degas, der seinerseits 1879 den Besuch zweier Damen im Louvre zeigt (Abb. 42).302 Dieser Bezug kam, wie des Cars rekonstruiert, zustande aufgrund einer spontanen Erinnerungsassoziation an Degas, die Vuillard während eines Louvre-Besuchs mit den Freunden hatte. Aus dem persönlichen Erleben und assoziativen Erinnerungen anderer Kunstwerke ging 301 Vgl. des Cars, in  : Akat. Vuillard, Washington/Montreal/Paris/London 2003, S. 339. 302 Vgl. Akat. Vuillard, Washington/Montreal/Paris/London 2003, S. 338 f.

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Abb. 40  La Salle larac au Louvre, Dekorationen für Camille Bauer, 1922, Leimfarbe auf Leinwand, 97 x115 cm, Privatsammlung (XI-179.3)

Abb. 41  La Salle du Moyen Âge au Musée des Arts décoratifs, 1922, Leimfarbe auf Leinwand, 97 x 115 cm, Privatsammlung (XI-179.4)

offenbar der Zyklus hervor. Der Auseinandersetzung mit Tradition und Vorbildern liegt, so scheint es, keine elaborierte Konzeption zugrunde, sondern vielmehr die programmatische Umsetzung solch spontaner Erinnerungsassoziationen. Für den Zeitraum 1890–1900 gibt es keine Werke, die so explizit den Kanon thematisieren. Dass eine Auseinandersetzung mit der Tradition stattgefunden hat, belegen die obigen Ausführungen zu Corot und Vermeer. Es stellt sich aber die Frage, ob die

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Abb. 42  Edgar Degas  : Mary Cassatt und ihre Schwester Lydia, 1879/80, Radierung, 26,8 x 23,2 cm, The Metropolitan Museum of Art, New York

Auseinandersetzung mit der kunsthistorischen Tradition auch im Kontext des Mémoire-­ Diskurses zu verstehen ist. Denn wie Fried betont hat, markiert die Position Baudelaires, wie sie oben entwickelt worden ist, die das Gedächtnis als gleichermaßen bewahrende wie auch radikal (imaginativ) überformende Instanz sieht, auch den Auftakt zu einer anderen Auseinandersetzung mit der kunsthistorischen Tradition.303 Wenn die Stärke der Erinnerung von Bildern im Gedächtnis ein Qualitätskriterium geworden ist und Erinnern wiederum nicht mehr nur kopierendes Abspeichern bedeutet, sondern imaginative Kon­ struktion, so resultiert daraus möglicherweise ein neuer Umgang mit den alten Meistern.304 Eine Bildfindung, die den affektiv-assoziativ gesteuerten Referenzen folgt und diese dabei sichtbar erhält, sie zugleich, den inneren Adaptionen folgend, überformt. Bereits in der 303 Vgl. Fried 1984, S. 515 und 521. Der Fokus von Frieds Aufsatz ist der Frage nach dem Wandel im Umgang mit kunsthistorischer Tradition gewidmet. Mit der Kunstkritik Charles Baudelaires und den Gemälden Édouard Manets markiert er in den 1850er Jahren die entscheidende Zäsur. Auch Fried misst dabei dem Diskurs zur Erinnerung große Bedeutung bei. 304 Vgl. Fried 1984. Shiff und Godfrey haben zu Recht kritisiert, dass Fried das Prinzip der mémoire unzulänglicherweise nur auf Künstler und die Auseinandersetzung mit der kunsthistorischen Tradition bezieht. Wie auch These dieser Arbeit ist, birgt der Diskurs zu mémoire eine viel grundlegendere Bedeutung für die Künste. Vgl. Shiff 1986 und Godfrey 2001, S. 59.

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Mitte des 19. Jahrhunderts hat Baudelaire für dieses paradoxe Verfahren von Referentialität eine Metapher vorgeschlagen  ; nicht nur auf die Rezeption von Kunstwerke bezogen, aber hier besonders passend, schildert er das menschliche Gedächtnis mit all seinen abgelagerten Bildern im Moment schöpferischen Rauschs als Palimpsest, dem eine spezifische Logik inhärent sei.305 Aufgegriffen wurde dies unter anderem in der metaphorischen Annäherung an die Logik der mémoire von dem bereits oben erwähnten Daryl  : die mémoire, »[…] c’est un manuscrit palimpseste, où le texte le plus récent est assez lisible, mais qui peut laisser reparaître toute sorte d’écritures inconnues, si l’on applique les réactifs nécessaires. […] le sentiment du libre arbitre est essentiellement flottante et illusoire, la mémoire multiple et intermittente.«306 Eine umfassende Analyse des Verhältnisses von Vuillard zu älteren Meistern, auf die zurückgegriffen werden könnte, liegt nicht vor. Im Zusammenhang mit den carnets lässt sich zunächst ein Eindruck davon gewinnen, wie Vuillard zu möglichen Vorbildern kommt. An dem dekorativen Desmarais-Zyklus (1892) und dem Interieur-Gemälde Intérieur, Mère et Sœur de l’Artiste (1893) werden sodann die interpikturalen Bezüge auf Vorbilder rekonstruiert und auf ihre Struktur und Funktion hin befragt und abschließend auf die Palimpsest-Metapher rückbezogen. Spontane Erinnerungsassoziation  : Eine Skizze nach Antoine Watteaus Pierrot (ca. 1719)

Im carnet finden sich zahlreiche Skizzen und Notizen, die auf Gemälde anderer Künstler Bezug nehmen. In Skizzen erkennbar oder in Anmerkungen genannt ist eine breite Palette von Studienobjekten, die von Paolo Veronese und Eugène Delacroix bis hin zu Jean-Auguste-Dominique Ingres und Jacques-Louis David sowie von Pieter de Hooch und Adriaen van Ostade bis zu Hans Memling reichen.307 Für die wenigsten dieser Verweise 305 Baudelaire 1975, Mangeur d’opium, S. 505. Vgl. zur Metapher des Palimpsests Assmann 1991, S.  19 f. 306 Daryl 1885, o.S. 307 Den Skizzen nach älteren Meistern in den carnets ist gemein, dass es sich nur selten um Kopien handelt, sondern vielmehr um eine Art assoziativer Reflexe zwischen den älteren Gemälden und den Sujets, die Vuillard seinerseits im Sinn hatte. Daher kommt es, dass die Anverwandlungen älterer Meister oftmals sehr frei erscheinen. In seinen carnets befindet sich etwa eine Skizze nach Ingres’ Le Pape Pie VII tenant chapelle von 1820 (Öl auf Leinwand, 70 × 55 cm, Musée du Louvre, Paris). Auf dem Gemälde Ingres’ ist in Schrägansicht eine päpstliche Audienz in der Sixtinischen Kapelle zu sehen. Vuillard wiederum hält in den carnets eine Skizze nach diesem Gemälde fest, die das Vorbild allerdings förmlich hin zum Betrachter dreht und die päpstliche Audienz so in bildparalleler Frontalität erscheinen lässt. (Vgl. Alexandre 1998, S. 8.) Anscheinend, wie man vorsichtig von der Skizze ableiten kann, ging es Vuillard hier nicht um das Nachahmen des Meisters, sondern um die Adaption einzelner Aspekte in ansonsten sehr freier Aneignung. Es findet sich allerdings keine Umsetzung der Skizze in ein Gemälde, weswegen die konkrete Motivation Vuillards für die Umdeutung letztlich unklar bleiben muss. Weiterhin sieht Alexandre eine Parallele zwischen Leonardo da Vincis Mona Lisa (1503, Öl auf Leinwand, 77 × 53 cm, Musée du Louvre, Paris) und einem Porträt

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können ausgeführte Gemälde identifiziert werden, oft blieb es bei einer schnell hingeworfenen Skizze, die offenbar eher zweckfreie Bildnotiz als technische Vorstudie sein sollte. Zum Zyklus für Camille Bauer, bei dem wohl Degas spontane Erinnerungsassoziation war, die von Vuillard sogleich als Anstoß und Ausgangspunkt seiner Bildfindung genommen wurde, gibt es auch in den 1890er Jahren ein analoges Beispiel. 1894 findet sich eine kleine flüchtige Skizze eines stehenden Mannes mit Hut in klar gezogener Umrahmung in den carnets. Françoise Alexandre hat Antoine Watteaus Pierrot (Gilles) von ca. 1719 (Abb. 43) als Inspiration für die spontan angelegte Porträtskizze, die den befreundeten Miquau zeigt, vorgeschlagen.308 Auch wenn die Skizze im carnet für dieses Porträt sehr vage ist und die Vorlage Watteaus nicht zweifelsfrei bezeugt, sprechen immerhin einige Indizien für die Rezeption des Pierrot. Nicht nur hing er im Louvre und war Vuillard also bestens bekannt, vielmehr stand der Pierrot als Kunstfigur im Zentrum einer breiten Rezeption durch die französische Literatur und Poesie und das französische Theater.309 Das Pantomimetheater war zu einem wichtigen Experimentierfeld der fortschrittlich gesinnten Theaterszene geworden.310 Eines der maßgeblichen Vorbilder hierfür war die commedia dell’arte, in der wiederum der Pierrot zentraler Protagonist ist. In den 1840ern löste sich die französische Auffassung des Pierrot weitgehend von den Facetten der »working-class violence, his threatening but exciting vulgarity and vigor«311, die den Pierrot der commedia gekennzeichnet hatten, und jene Vorstellung eines Pierrot, wie sie Watteau vorgelegt hatte, wird zum Inbegriff der Figur.312 Der zotige dumpfe Pierrot wird damit zum feinfühlig melancholischen Antihelden, im bourgeoisen Sinne von sentimental. Zum fin de siècle hin wird er wiederum tragisches Gegenstück zur dann als femme fatale konnotierten Colombina.313 Am Ende des 19. Jahrhunderts kursierten alle Typen parallel, vom fröhlich-arkadischen über den schöpferisch-melancholischen bis hin zum morbid-dämonischen, von Marie Vuillard (Salomon et al. 2003, Bd. I, Kat. II-4). Mag man auch hierüber diskutieren, so ist es wiederum überzeugend, wenn Zettel (2014) bei manchen späteren Akten Vuillards einen Einfluss durch die Odalisken von Delacroix und insbesondere der Femme caressant un perroquet (1827, Öl auf Leinwand, 24,5 × 32,5 cm, Musée des Beaux Arts, Lyon) vorschlägt. Dies erscheint plausibel, denn bei beiden Malern spielt die raffinierte Einbettung der Frauenfiguren in reiche Stoffe und Muster eine zentrale Rolle. Für spätere Frauenporträts mag auch Jacques-Louis David Pate gestanden haben, zumindest schickt Vuillard 1905 an den Freund Bonnard eine Postkarte mit einem Abbild von Davids Madame Charles-Louis Trudaine (vormals  : Portrait de Madame Chalgrin, 1791, Öl auf Leinwand, 130 × 98 cm, Musée du Louvre, Paris) mit der Erklärung  : »Ci-dessus ce qui me passionne actuellement« (Zit. und Abb. in  : Terrasse 2001, S. 46). Tatsächlich entsteht 1905 eine Reihe von Porträts von Lucy Hessel in einem Sessel sitzend, die indes nur als sehr freie Rezeption gesehen werden können. Auch des Cars hat auf diesen Bezug zu David hingewiesen  ; vgl. des Cars 2003, S. 65. 308 Vgl. Alexandre 1998, S. 363 f. 309 Vgl. dazu Jones 1987. 310 Vgl. Jones 1987, S. 315 f. 311 Jones 1987, S. 316. 312 Vgl. Jones 1987, S. 316. 313 Vgl. Jones 1987, S. 316–319.

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Abb. 43  Jean-Antoine Watteau  : Pierrot (Gilles), ca. 1718/19, Öl auf Leinwand, 185,5 x 149 cm, Musée du Louvre, Paris

und alle wurden mit Watteau in Verbindung gebracht.314 Das Gemälde Watteaus war also weniger die Veranschaulichung eines bestimmten Pierrots als vielmehr enigmatische Projektionsfläche vielfältiger gefühlsbasierter Archetypen. Im selben Zuge bot es sich der Rezeption als visueller Typus dar, an den sich als affektive Konnotationen neue Kunstwerke knüpfen konnten. Wenn Vuillard also an diesen »polyvalenten« Pierrot anknüpft, legt dies sein Interesse an solchen Bildwerken nahe, die semantisch schwer greifbar sind und damit vor allem auf den performativen Akt der jeweiligen Semantisierung im Moment der Rezeption verweisen. Dass dies als assoziativer Gefühlsreflex, der aus dem Prägewerk der mémoire resultiert, vorzustellen ist, legt sein eigener Umgang mit Watteaus Pierrot nahe. Aus den knappen Notizen im carnet geht hervor, was die Umstände der Rezeption waren. »3 août – Hier visite au Louvre. Watteau. Figures, expressions sérieuses. Rencontré Miquau en sortant allons au café.«315 Im Verlassen des Louvres, die Betrachtung von Watteau noch im Hinterkopf, begegnet er einem Freund, den er sogleich in einer Skizze festhält. Diese Skizze ist mit ihrer unbeholfenen Hieratik und dem verzagten Schrittmotiv zweifelsohne eng verwandt mit der Körperhaltung des Pierrot im Gemälde von Watteau. 314 Vgl. Jones 1987, S. 319. 315 Vuillard, Carnets, I.2., 47v (3. August 1894).

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Die Rezeption Watteaus blitzte also beim Zusammentreffen mit dem Freund auf, der Anblick des Freundes und die damit verbundenen gefühlsmäßigen Assoziationen rufen das eben gesehene Gemälde auf, welches wiederum den Blick auf den Freund überformt, um dann ästhetisch in der Skizze zusammenzufließen. Das rezipierte Gemälde ist offenbar nicht als objektives Bildstudium im Gedächtnis niedergelegt, sondern mit gefühlsmäßigen Qualitäten ausgestattet, die anlässlich einer entsprechenden Wahrnehmung wieder aktiviert werden und das Erinnerungsbild mit dem Wahrgenommenen amalgamieren.316 Das Vorbild Watteaus ist dem Entwurf Vuillards eingeschrieben und damit auch dessen multisemantische Ambiguität. Stimmungspalimpsest als in sich widerstreitende Harmonie  : Der Desmarais-­ Zyklus (1892) und die Rezeption von Watteau, Puvis de Chavannes, Corot

In größerem Umfang noch lässt sich die Arbeit mit Gemälden anderer Maler bei dem Zyklus nachvollziehen, den Vuillard 1892 für das Ehepaar Desmarais (1892  ; Tf. 35) schuf. Vuillard verkehrte zu dieser Zeit im intellektuellen Kreis um die Revue blanche. Im Zirkel dieser 1889 gegründeten, ambitionierten literarisch-künstlerischen Zeitschrift erfuhr Vuillard große Wertschätzung, was unter anderem dazu führte, dass ihm 1892, als 24-Jährigem, durch den Cousin der Brüder Natanson der Auftrag zu einem dekorativen Zyklus für das Ehepaar Desmarais vermittelt wurde.317 Es ist nicht restlos geklärt, was der für den Zyklus intendierte Ort gewesen ist. Gloria Groom rekonstruiert drei mögliche Anbringungsorte. Unmittelbar nach Fertigstellung der sechs Tafeln kommt das Appartement der Desmarais in der Rue de Lisbonne 43 oder ihr Landhaus in der Nähe von Chantilly in Frage. Später sind die Tafeln in das Hôtel privé der Desmarais in der Avenue Malakoff 98 verbracht worden. Es ist zu wenig überliefert, um Näheres zu diesem Auftrag rekonstruieren zu können.318 So lässt sich für keinen der Orte rekonstruieren, wo genau der Zyklus angebracht war  ; Groom schlägt abschließend das bureau/cabinet de toilette oder einen vergleichbaren Raum vor.319 Die sechs Tafeln haben alle die Maße 48 × 117 cm, weisen also ein typisches Format für einen Fries auf. Aufgrund der Erwähnung des Zyklus in einem Brief von Paul Ranson ist man lange Zeit davon ausgegangen, dass sie als Supraporten angebracht gewesen seien.320 Eine Pastellzeichnung zum Zyklus legt jedoch nahe, dass die Tafeln in zwei Blöcken, die jeweils drei Tafeln übereinander umfassten, konzipiert worden waren. Eine Installation als Supraporten erscheint daher unwahrscheinlich, und es ist naheliegender, an die dekorative

316 Vgl. dazu Alexandre 1998, S. 364. 317 Vgl. dazu Groom 1993, S. 19 und Salomon et al. 2003, Bd. I, S. 378. 318 Vgl. Groom 1993, S. 24. 319 Vgl. Groom 1993, S. 36–41. 320 Groom 1993, S. 36.

Erinnerung und Bild als Palimpsest  |  247

Abb. 44  Entwürfe zum Desmarais-Zyklus, 1892, Öl auf Karton, li.o.: 10,5 x 26 cm, re.o.: 15,5 x 32 cm, li.u.: 10,5 x 26 cm, re.u.: 47 x 115 cm, Privatsammlungen (V-19–V-22)

Abb. 45  Entwürfe zum Desmarais-Zyklus, 1892, Öl auf Karton, oben jew.: 10,5 x 26 cm, u.li.: 11,5 x 26 cm, u.re.: 10,8 x 25,3 cm, Privatsammlungen (V-23–V-26)

Füllung einer Wandfläche, gegliedert in drei Register, zu denken.321 Das obere Register zeigt das bereits oben angesprochene Schneideratelier, im mittleren Register finden sich die Gartenszenen und im unteren jene im Park. Durch wenige Vorstudien lässt sich der ästhetische Entwicklungsprozess nachvollziehen (Abb. 44, 45). In einem frühen Entwurf in Öl eignet allen Tafeln etwas Theaterhaftes.322 321 Vgl. Salomon et al. 2003, Bd. I, Kat. V-27 und V-28. 322 Salomon et al. 2003, Bd. I, Kat. V-19 bis V-26.

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Die Gemälde geben eine Art Bühne wieder, die frontal vor dem Betrachter leicht nach hinten fluchtet. Geblockte Farbflächen erinnern an einen Bühnenvorhang oder Staffagewände. Vor allem springt ins Auge, dass die frühen Entwürfe zum Schneideratelier und zu den Szenen auf der Terrasse ostentativ eines zentralen Geschehens beraubt sind. Bildfiguren sind nur an den Bildrändern zu sehen, im Zentrum dominiert die leere Fläche. Die klassische Tradition, welche Wandgemälde als »Fenster« versteht, wird hier nachgerade mit der Betonung der Wand und des flächigen Malgrundes ad absurdum geführt, indem Vuillard überwiegend Flächen blockartig gegeneinandersetzt und ergo keinerlei »Ausblick« oder »Panorama« kreiert. Die ostentative Nichtbesetzung des Zentrums ist als bewusste Abkehr von der klassischen Maltradition und Albertis historia zu deuten323 und die Besetzung der zentralen Felder mit Ornament als Gegenprogrammatik dazu. Das untere Register ist indes durch getupfte Flächen und einen sich schräg ins Bild schwingenden gelben Weg belebt. Zum Schneideratelier gibt es zwei Entwürfe, von denen der erste noch sehr von der genannten Bildnegation geprägt ist. Der zweite weist schon auf das spätere Werk voraus und zeigt ein lebhaftes und kleinteiliges Körperornament. Auffallend ist der aufmerksame Umgang mit den Ornamentflächen, die sich in der endgültigen Fassung teils erheblich von den frühen Ölskizzen unterscheiden, also von einer intensiven Beschäftigung des Malers zeugen. Die theatrale Anmutung dieser Entwürfe ließ Vuillard hinter sich und erarbeitete in der Folge einen Entwurf in Pastell (Abb. 46), der mehr um eine ornamentale Rhythmik kreist und von der Auseinandersetzung mit der dekorativen Malerei Frankreichs, allen voran Puvis de Chavannes, zeugt.324 Jede der Tafeln ist nun komponiert aus einem mindestens dreiteiligen Farb- und Formenakkord, aus welchem in jedem Register ein unterschiedlicher Bildmodus entwickelt wurde. Oben reihen sich Rot, Gelb, Schwarz und Grün aneinander und bilden in der Mitte eine Reihe von Senkrechten, die von den Seiten her weich eingerahmt werden. Das mittlere Register weist nur wenige schwarze, blaue, gelbe und grüne Markierungen auf  ; das untere wiederum ist vom satten Rasengrün geprägt, in das sich beiderseits ein gelber Weg hineinschwingt, der durch Schwarz akzentuiert wird. Die Personen flankieren diesen Weg als Rahmung. Vom Einfluss der szenischen Arbeit im Theater bewegte sich Vuillard folglich weg und hin zu dem Versuch, seine Tafeln verstärkt aus dekorativen Farb- und Formprinzipien heraus zu entwickeln. Das fertige Werk nun ist abermals anders gelagert. Oben dominieren, wie bereits ausgeführt, die verflochtenen Körperarabesken der Damen im Schneideratelier. Das mittlere Register zeigt eng geschnittene Szenen auf einer Terrasse im kontrastiven Zusammenspiel mit einem kleinen Ausblick in den Garten. Der gelbe geschwungene Weg auf den unteren Paneelen ist ersetzt worden durch eine bildparallele in weich schwingenden Schichten aufgebaute Parklandschaft, die locker bevölkert ist. Im Hinblick auf Einflüsse durch kunsthistorische Vorbilder kann man mit einiger Vorsicht die Tafeln des Ankleidestudios (Abb. 47), welche das obere Register des 323 Vgl. zur historia bei Alberti Patz 1986. 324 Vgl. zu den Pastellzeichnungen Salomon et al. 2003, Bd. I, Kat. V-27.1 und V-27.2. Zu Puvis de Chavannes vgl. Akat. Puvis, Paris/Ottawa 1976, Germer 1988 und Akat. Puvis, Venedig 2002.

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Abb. 46  Entwürfe zum Desmarais-Zyklus, 1892, Pastell und Kohle auf Papier, li.: 55,5 x 42 cm, re.: 47 x 40,5 cm, Privatsammlung (V-27.1, V.27.2)

Desmarais-Zyklus bilden, aufgrund der üppigen Stoffe und ornamentalen Überfülle mit Eugène Delacroix in Verbindung bringen. Auch er hatte in seinen Orient-Gemälden und seinen Akten reiche Gewänder und Stoffstaffagen eingesetzt, um einen eindrucksvollen Kolorismus zu entfalten. Allerdings wählt Vuillard dezidiert nicht die farbliche Brillanz der Ölmalerei, sondern die leimbasierte Malerei à la colle, die eine matte Farbwirkung nach sich zieht, was mehr dem zeitgenössischen Ideal der dekorativen Freskomalerei entspricht. Über beide Tafeln ergießt sich ein arabesk gewundenes, verflochtenes Band aus Frauenfiguren, Stoffen, Mustern, Gesten, Haltungen und Handlungen. Ein Reigen aus sich drehenden und sich wendenden Figuren, Stofffalten rauschender Kostümierung überziehen die Bildoberfläche. Mellerio schreibt 1896, Vuillard »aime les étoffes parsemées de points, ou zébrées de rayures, particulières à notre actuel féminin.«325 Angesichts des stark querrechteckigen Formats und der geschmeidigen, stets ganz leicht ins Artifizielle neigenden Verflechtung von Figuren ergibt sich zudem ein bisher noch nicht gesehener Vergleich mit Antoine Watteau. Denn es besteht eine deutliche Parallele zwischen dem Schneideratelier Vuillards und 325 Mellerio 1896, S. 48.

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Abb. 47  Un atelier du couture I + II (Desmarais-Zyklus), Öl auf Leinwand, jew. 48 x 117 cm, Privatsammlung (V-28.1, V-28.2)

Abb. 48  Jean-Antoine Watteau  : L’Enseigne de Gersaint, 1720, Öl auf Leinwand, 166,5 x 305,9 cm, Schloss Charlottenburg, Berlin

einem der großen Werke Watteaus, L’Enseigne de Gersaint von 1720 (Abb. 48)326. Das Werk Watteaus war bekannt, nicht zuletzt aus Reproduktionsgrafiken. Vuillards Tafeln teilen mit Watteaus Gemälde die Betriebsamkeit und sinnlich-heitere Gelassenheit, die Feier der Stoffe und Falten, der verwobenen Figuren, die einem lockeren Tanzreigen anzugehören scheinen. 326 Vgl. zu dieser Einschätzung um 1900 Laban 1900, S. 55. Zwar ist das Originalgemälde Watteaus Ende des 19. Jahrhunderts bereits im Besitz des preußischen Königs und mithin nicht in Paris zugänglich, wie von allen Gemälden Watteaus gibt es jedoch auch von diesem Werk Reproduktionsgrafiken, die der Öffentlichkeit bekannt waren. L’Enseigne de Gersaint wurde 1732 durch Pierre-Alexandre Aveline als Kupferstich umgesetzt. Ebenfalls existierte eine Kopie nach Watteau aus der Hand von Pater, die kurz nach Watteaus Tod angefertigt worden war. Diese Kopie wurde 1889 in Paris bei der sich größter Aufmerksamkeit erfreuenden Auktion Secrétan versteigert und erlangte spätestens dadurch Bekanntheit in der Öffentlichkeit, also zu einer Zeit, während deren sich Vuillard intensiv mit den alten Meistern beschäftigte. Vgl. zu den Kopien nach Watteaus Original Laban 1900  ; zur eminenten Aufmerksamkeit, die die Auktion erfuhr, vgl. anonym 1889.

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Abb. 49  Nourices et enfants dans un jardin public (Desmarais-Zyklus), Öl auf Leinwand, 48 x 117 cm, Privatsammlung (V.28.5)

Abb. 50  Pierre Puvis de Chavannes  : Skizze zu Les Bienfaits de la Paix (Inter Artes et Naturam), 1890, Öl auf Leinwand, 64,3 x 170,1 cm, National Gallery of Canada, Ottawa

Selbst die grundlegende Kompositionsstruktur ist vergleichbar. In beiden Werken findet sich in der Mitte eine Tür mit einem geschlossenen und einem geöffneten Flügel, von der aus sich nach links und rechts die heiteren Tändeleien entfalten. Außer für den oben bereits erwähnten Pierrot war Watteau insbesondere für seine fêtes galantes und deren entrückte und sinnliche Heiterkeit bekannt. In diesem Sinne hatte auch Baudelaire in seiner Poesie die spezifische Atmosphäre der Gemälde des Rokokomalers gefeiert. In Les Phares (1857) rühmt er die Werke voll schwirrender Lichter und karnevaleskem Wirbeln  : »Watteau, ce carnaval où bien des cœurs illustres / Comme des papillons, errent en flamboyant / Décors frais et légers éclairés par des lustres / Qui versent la folie à ce bal tournoyant.«327 Offenbar war es diese Konnotation Watteaus, die Vuillard aufgriff.

327 Zit. nach Edwards 1959, S. 295.

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Auch die auf den ersten Blick divergenten Sujets des Gemäldehandels und des Schneider­ ateliers sind vergleichbar. Denn wie oben erörtert näherte Vuillard seine Malerei bereits früh immer wieder spielerisch strukturell wie auch motivisch dem Textilen an. Wenn die Malerei und das Textile aber als verwandte Medien galten, zeugt die Ableitung seines Schneiderateliers aus Watteaus Kunsthandel einmal mehr von der Gewitztheit des Malers. Was das untere Register betrifft, ist erneut eine Rezeption von Watteau und zudem von Puvis de Chavannes anzunehmen. Die panoramaartige Anlage der Tafeln sowie die Gliederung des unteren Registers durch bisweilen hieratisch anmutendes Bildpersonal im Wechsel mit Bäumen und anderen vertikalen Gliederungselementen im Bild (Abb. 49) ist von Gloria Groom in Zusammenhang mit Les Bienfaits de la Paix (Inter Arts et Naturam) von Puvis de Chavannes gebracht worden, von dem in Paris eine Skizze ausgestellt worden war (Abb. 50).328 Mag dies auf den ersten Blick verwundern, so wurde bereits 2002 von Jean-Paul Bouillon betont, dass gerade bei den dekorativen Arbeiten der Nabis weniger der ansonsten von der Forschung stets vorgeschlagene Paul Gauguin als Vorbild gelten dürfe als vielmehr die Werke Puvis de Chavannes’.329 In Bezug auf Vuillard sieht Bouillon Parallelen hinsichtlich von Unbewegtheit und markanter Hieratik der Figuren, der Ruhe und einer Art der Zeitenthobenheit trotz zeitgenössischer Umgebung und Kleidung.330 Kontext dieser Rezeption ist die Suche nach einer neuen dekorativen Malerei, die sich pointiert niederschlug in Albert Auriers 1891 vorgebrachter Forderung nach einer Erneuerung des Dekorativen in Form einer symbolistischen Malerei als grundlegender Neuerfindung von Malerei schlechthin.331 Hatte dieser jedoch vornehmlich Gauguin im Sinne, so trifft diese Suche im Kreis der Nabis auf Maurice Denis’ Streben nach einer neuen dekorativen Malerei, die er seinerseits an Tradition und Klassizität gebunden wissen wollte. Dabei verweist er zwar auch auf Gauguin, im eigenen ästhetischen Schaffen indes sind die Bezüge zu Puvis nicht minder klar zu Tage liegend.332 Mithin stellt Puvis de Chavannes auch für die Nabis einen wichtigen Bezugspunkt dar.333 Was Vuillard betrifft, spricht allerdings wenig für die Suche nach einer Traditionsanbindung im Dienste einer neuen Klassizität im Sinne Denis’. Im Gegenteil – genau dies wird Ende der 1890er Jahre zum Zerwürfnis zwischen Vuillard und Denis führen, in einem Briefwechsel zwischen den Malern im Februar 1898 wird die unüberbrückbare Differenz ihrer ästhetischen Ziele klar. Wo Denis das Klassizistische als einzig wahre Legitimation von Kunst beschwört, beharrt Vuillard auf einer sensualistischen Auffassung, in der das Kunstwerk im Empfindungsschatz des Malers 328 Vgl. Groom 1993, S. 24 f. 329 Vgl. Bouillon 2002. Zur großen Rolle, die Puvis für die gesamte Moderne spielt, Akat. Puvis, Venedig 2002  ; Shaw 2002 und Thomas 2010a. 330 Bouillon 2002, S. 108 f. 331 Vgl. Aurier 1891. 332 Zudem nimmt Denis bereits in seinen frühen Schriften auch Bezug auf Puvis, 1924 widmet er ihm dann einen eigenen Essay. Vgl. Denis 1924. 333 Vgl. die beiden bis heute berühmten Aufsätze Définition du néo-traditionnisme (1890) von Maurice Denis und Le Symbolisme en Peinture  : Paul Gauguin (1891) von Albert Aurier  ; Denis 1913a und Aurier 1891.

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Abb. 51  Une partie de volant (Desmarais-Zyklus), Öl auf Leinwand, 48 x 117 cm, Privatsammlung (V-28.6)

Abb. 52  Jean-Antoine Watteau  : Assemblée dans un parc, 1716/17, Öl auf Holz, 32 x 46 cm, Musée du Louvre, Paris

gründet.334 Wenn Vuillard auf Puvis zurückgreift, so ist dies vielmehr vor dem Aspekt der Stimmung zu sehen, welche auch die Zeitgenossen sehr stark mit Puvis’ Werk in Verbindung brachten.335 In besonders subtiler Weise hatte Puvis in seinen Werken einen Weg gefunden, gesellschaftliche Stimmungen einzufangen, ohne jedoch einer schematischen 334 Vgl. dazu Gamboni 2000, S. 53 f. und Bouillon 2003. 335 Vgl. dazu grundlegend Thomas 2010a.

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Topik zu verfallen. Vielmehr gelang es ihm, die zeitgenössische Sehnsucht des Menschen nach einer »Einheit mit Natur, Gesellschaft und Universum«336 ästhetisch umzusetzen und so spürbar zu machen.337 Nicht minder lässt sich der Einfluss durch Watteau erkennen, dessen Assemblée dans un parc von 1716/17 (Abb. 52)338 auf der unteren Tafel des Desmarais-Zyklus, Une partie de volant (Abb. 51), anklingt. Übernimmt Vuillard in Bezug auf Puvis die Stimmung eines Arkadien gewidmeten Tagtraums, so rekurriert er bei Watteau auf dessen leichte und spielerische Füllung des Bildfeldes, die dem Dargestellten gleichfalls etwa Entrücktes, Traumartiges verleiht, dabei aber ungleich weicher und sinnlicher mit den Objekten verfährt als Puvis de Chavannes.339 Ebenso wie die Rezeption von Puvis’ Stimmungshaftigkeit durch Vuillard Ende des 19. Jahrhunderts kein isolierter Einzelfall war, war dies auch die Rezeption Watteaus nicht. Vielmehr ist Letztere als Teil der Wiederentdeckung des Malers im 19. Jahrhundert zu sehen, die weit über das oben Erwähnte hinausgeht. Dichter wie Théophile Gautier, Charles Baudelaire, Paul Verlaine und die Brüder Goncourt feierten Watteau aufgrund seiner filigranen Pinselführung und der Eleganz seiner Figuren.340 War der Stil Watteaus im ersten Drittel des Jahrhunderts zum Inbegriff des französischen Rokoko und damit zur Ikone einer sich aristokratisch wähnenden Klasse geworden, setzt mit den Romantikern eine literarische und damit tiefsinnigere Rezeption ein, die von Watteaus Paradox aus Leichtigkeit und Melancholie fasziniert war. Baudelaire ging dann bei der Suche nach einer die fêtes galantes ergründenden Poesie einen Schritt weiter und entdeckte unter der ostentativen Leichtigkeit eine tiefe Abgründigkeit, ja sogar Morbidität und Katastrophe.341 Mag diese extreme Akzentsetzung für Vuillard auch nicht leitend gewesen sein, so trifft Baudelaire mit seiner oben zitierten Beschreibung der Ästhetik Watteaus durchaus den common sense. Er hebt die schillernde und rhythmische, vom Motiv unabhängige Ästhetik hervor. Spätestens mit den Brüdern Goncourt wird Watteau dann zum Maler der sensibilité.342 Im Zentrum stehen dabei – wie auch hier bei Vuillard – vor allem von den fêtes galantes abgeleitete, landschaftliche Szenen, die als künstliche Paradiese, als »un monde de grâce […] éternellement fixe dans son éclat fugitif«343, als Sehnsuchtsorte einer nur flüchtig stillgestellten Ewigkeit inszeniert sind.

336 Thomas 2010a, S. 88. 337 Vgl. Thomas 2010a, S. 67–88. 338 Dieser Vergleich findet sich bei Groom 1993, S. 24 f. 339 Zur stimmungshaften Qualität der Werke Puvis de Chavannes’ und dessen diesbezüglicher Vorbildfunktion vgl. Thomas 2010a  ; zur Rezeption der stimmungshaften fêtes galantes von Watteau vgl. Jones 1987, S. 317. 340 Vgl. zur Rezeption Watteaus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Jones 1987, Ireland 2006 und Plax 2006. 341 Vgl. dazu Jones 1987, S. 319 f. und Plax 2006, S. 34–36. 342 Vgl. Whedon 2008, S. 8  ; Sheriff 2006 und Simon 1987. 343 Théophile Gautier, Histoire de l’art dramatique en France depuis vingt-cinq ans, Bd. 6, Brüssel 1859, S. 316  ; zit. nach Jones 1987, S. 317.

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Abb. 53  Le Jardinage (Desmarais-Zyklus), Öl auf Leinwand, 48 x 117 cm, Privatsammlung (V-28.3)

Die arkadischen und mythischen Sehnsuchtsorte, die geistiger Ort des Rückzugs als Reaktion auf die Desillusionierung über die ausbleibende Einlösung aufklärerischer Zivilisationsversprechen waren, überblendet Vuillard in seinen Tafeln mit zeitgenössischen Pariser Parkszenerien.344 Diese waren in gewisser Weise Welt gewordene und damit konkret greifbare Sehnsuchtsorte, insofern sie Ende des 19. Jahrhunderts als erweiterte Orte des Privaten mit einer ähnlichen Intimität assoziiert wurden wie das Interieur.345 Im Gegenzug wird das Interieur zur Stimmungslandschaft, weswegen Gide 1905, wie oben erwähnt, den Vaquez-Zyklus als »paysage avec figures«346 bezeichnen kann. Vuillard selbst widmet sich dieser Wechselwirkung 1899 explizit mit einer Reihe von Farblithografien, die den übergreifenden Titel Paysages et intérieurs trägt und deren verbindendes Element die hohe Stimmungshaftigkeit ist.347 Ebenso wie Seurat die Ästhetik von Puvis ins lebensweltliche Paris übersetzt,348 tut dies auch Vuillard. Allerdings unter dem Einfluss durch Watteau in weit luftigerer und informellerer Art. In analoger Weise verhält es sich auch im mittleren Register, das zwei Szenerien zeigt, die im häuslichen Idyll einer Terrasse angelegt sind. Beide Tafeln thematisieren trotz ihrer nebensächlich-beiläufigen Wirkung die domestizierte Natur  : der zum Haustier abgerichtete Hund und die in ihrem Wuchs an die Wohnumgebung angepassten Pflanzen. Ebenso wie im unteren Register muss der sehnsüchtige Blick nicht in die Landschaft schweifen, um kontemplative Erfüllung in der Spiegelung und Verschmelzung des Subjekts mit der 344 Für den Zyklus Jardins publics weiß man, dass Vuillard Erinnerungen an diverse Pariser Parks zusammenfließen ließ. (Vgl. Roger-Marx 1945, S. 121 f. und Akat. Nabis, Winterthur 2001, S. 50.) Ob das auch für den Desmarais-Zyklus der Fall war, ist nicht gesichert. 345 Vgl. dazu Akat. Nabis, Winterthur 2001, S. 49–58. 346 Gide 1905, S. 480. 347 Vgl. zu Paysages et intérieurs (1899) Akat. Vuillard, München 2015, S. 72–97. 348 Vgl. Thomas 2010a, S. 105–115.

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Natur zu erfahren.349 Der Bereich des Privaten und Häuslichen hat die Landschaft abgelöst. Mehr noch als bei den Szenen im Park leitet sich die Terrasse deutlich »vom Inneren des Hauses her, das sich in Gestalt dieser bewohnbaren Zone nach außen fortsetzt.«350 Als dieser Hybridort markiert die Terrasse in besonderer Weise die Transformation des Sehnsuchtsortes Natur in die Sphäre des Privaten. In verblichener, kaum mehr wahrnehmbarer Erinnerung schwingt das Versprechen der Landschaft in der Darstellung der Terrasse mit. So mag es nicht verwundern, dass Le Jardinage (Abb. 53) sein Vorbild in einem seinerseits als erinnerter Sehnsuchtsort inszenierten Gemälde hat, in Corots Souvenir de Mortefontaine aus dem Jahr 1864 (Abb. 54).351 Dieses Werk erlangte schon früh Bekanntheit und Ruhm, denn direkt nach seiner Präsentation im Salon von 1864 wurde es durch Napoleon  III. angekauft und ab 1889 im Louvre präsentiert.352 Es ist nicht nur wegen dieses Ankaufs und der frühen Präsentation im Louvre ein hervorgehobenes Werk Corots, sondern ihm kommt auch innerhalb des Œuvres eine bedeutende Rolle zu. Bereits weiter oben wurde dies erörtert, und zuletzt hat Vincent Pomarède die Bedeutung von Souvenir de Mortefontaine als eine Art Schlüsselwerk für Corots Malerei nach der mémoire herausgearbeitet.353 Insbesondere auch als Vorlage für eine dekorative Malerei eignete sich Corot hervorragend. Hatte doch 1894 Champfleury an ihm gelobt, dass seine Landschaften endlose Rezeptionsfreuden bereiten  : »[…] un paysage de Corot peut être accroché dans un chambre et regardé toujours.«354 Damit die Verwandtschaft der Werke deutlich wird, muss die Leinwand Corots seitenverkehrt vorgestellt werden, sodass die Wuchsrichtung der Bäume zum rechten Bildrand strebt. Auf den ersten Blick mag dies abwegig erscheinen, doch auch die Karikatur von Gill, die auf das Gemälde reagierte, gibt die Anlage des Bildes spiegelverkehrt wieder (Abb. 14)  ; zudem wurden Gemälde in Reproduktionsgrafiken oftmals seitenverkehrt abgedruckt. So betrachtet, fällt auch hier die ähnliche Kompositionsweise auf  : Auf fahlem, wenig tiefem Hintergrund sind in einer Ebene Menschen und Natur in Form von filigranen, organischen Strukturen aufgelegt, die nahezu manieristisch über die Bildfläche ausgreifen. Der Vordergrund besteht in beiden Werken aus einem weich-beigen, mit Lichtpunkten gefleckten Teppich, der mit einer deutlichen Zäsur in den fahlen, die Leinwand gleichsam verdoppelnden Hintergrund übergeht. Beide Werke weisen ähnliche Formen und Formanordnungen auf. Der einsam-magere Baum und die sich wohl nach Misteln reckende Frau in Corots Souvenir de Mortefontaine werden bei Vuillard zu der sich mit einer Kletterpflanze reckenden Figur in fließender Gewandung. Ähnlich wie die Figur 349 Vgl. Söntgen 2006, S. 165. 350 Söntgen 2006, S. 165. 351 Es zeichnet sich eine intensive Auseinandersetzung Vuillards mit Corot und Watteau ab, die so überhaupt nicht in der Forschung reflektiert wird. Dabei wären hier durchaus Ansätze zu einer Traditionslinie zu erkennen, denn Corot hatte sich seinerseits unter anderem mit Souvenir de Mortefontaine auf Watteaus Einschiffung nach Kythera bezogen (vgl. Denk 2007, S. 18). 352 Vgl. zur Provenienz Akat. Corot, Paris/Ottawa/New York 1996, S. 301 und 303. 353 Pomarède 2010. 354 Champfleury, Salon von 1852, in  : Champfleury 1894, S. 158–162, Hervorhebung i.O.

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Abb. 54  Jean-Baptiste Camille Corot  : Souvenir de Mortefontaine (spiegelverkehrt), 1864, Öl auf Leinwand, 65 x 89 cm, Musée du Louvre, Paris

bei Corot gewissermaßen in den Baum übergeht und dessen Wuchsrichtung verdoppelt, ist dies auch bei Vuillard der Fall, wo die Haltung der ebenfalls in fließenden Stoff gekleideten Frau dem Wuchs der Kletterpflanze angenähert ist. Dass Figur und Pflanze ineinander übergehen können oder Pflanzen etwas Anthropomorphes haben, lässt sich bei Corot auch in anderen Werken beobachten, etwa in Coup de vente (Abb. 55).355 Diese Verlebendigung der Natur verleiht den Objekten im Bild eine emotionale Ausdruckshaftigkeit. Coup de vente und Souvenir de Mortefontaine, die gemeinsam ausgestellt worden waren, sind daher als stimmungshafte Pendants – »grandeur tragique« und »charme et la grâce« – zu verstehen.356 Das ebenso mächtige wie zarte Baumvolumen wiederum, welches bei Corot ohne Menschen auskommt, wird bei Vuillard zu einem Volumen, gebildet aus Mensch und Pflanze, umformuliert, in dem sich zwei Damen in grün- und erdtönigen Kleidern pflegend um ein Margeritenbäumchen ranken. Die Entwürfe in Pastell (Abb. 46), welche Vuillard zur Vorarbeit angelegt hatte, belegen diese Art der Bildlogik. Denn die Zeichnungen weisen einzig künstlerische Überlegungen zur Anlage und Anordnung von Farbflächen und 355 Vgl. Thomas 2012, S. 363. 356 Vgl. Thomas 2012, S. 365.

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Abb. 55  Jean-Baptiste Camille Corot, Coup de vente, 1865–1870, Öl auf Leinwand, 47,4 x 58,9 cm, Musée des Beaux-Arts, Reims

Formverläufen auf und könnten in der malerischen Ausführung ebenso gut in Pflanzen und Natur übersetzt werden. Auch was die Farbgestaltung angeht, liegen die Werke Corots und Vuillards sehr nahe beieinander. Beide Maler haben ihre Bilder aus einem blassen Grün-Gelb-Beige-Akkord heraus entwickelt  ; wenn auch Vuillard, wie schon beim vorigen Beispiel, hier und da Farbeinsprengsel einsetzt und den Akkord malerisch von der luftig-leichten Manier Corots ins Matte und Schwere übersetzt. Es bleibt aber nicht bei ästhetischen Parallelen. Wo Corot die Natur durch seine Erinnerungsmalerei in ein verklärtes Arkadien verwandelt und im romantischen Sinne ein durch das ästhetische Zusammenspiel von Mensch und Natur emotional aufgeladenes Landschaftsbild schafft,357 da übersetzt Vuillard diese Konstellation in den alltäglichen häuslichen Kontext. Aus der freien Natur wird ein Garten, aus den kleinen, sich nach der Natur reckenden Figuren bei Corot werden gezähmte, Pflanzen pflegende Figuren. Mit ironischem Augenzwinkern macht Vuillard aus dem kräftigen, jahrhundertealten Baum bei Corot ein intensiv gehegtes und gepflegtes Margeritenbäumchen. Der häusliche Kontext erreicht bei Vuillard zwar formal ein Analogon zu Corots Naturvision, das Zusammen- und 357 Vgl. Pomarède 2010.

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Kräftespiel zwischen Mensch und Natur erweist sich nun jedoch im Vergleich als geradezu dürftig. Dies ist Ergebnis und Ausdruck einer malerischen Reflexion, der gemäß das Thema der Natur zunehmend abgelöst wird von lebensweltlichen Themen, von Themen, die den Menschen und seine Umgebung umkreisen. Dies ist nicht zuletzt der zunehmenden Psychologisierung aller Diskurse geschuldet, die dazu führt, dass die Projektion von menschlichen Gefühlswelten auf die Natur durch Reflexion und Introspektion erhellt und präzisiert wird. Das Subjekt wandelt nicht mehr als Subjekt in einer es umgebenden Objektwelt und tritt in Austausch mit ihr, sondern die introspektive Innenwendung bietet nun ebenso viel Resonanzraum wie die projektive Außenwendung. Das Haus und die Terrasse als Teil dieses Inneren treten an die Stelle des Landschafts-Projektionsraums. Und an die Stelle kollektiv präfigurierter Projektionen treten die Introspektionen des Subjekts, Außenschau und Innenschau fließen in eins. Zudem bergen die Tafeln bei Vuillard eine metapikturale Reflexion. Denn er reduziert in seiner Rezeption nicht nur erhebliche Teile der Stilmerkmale der Vorbilder und damit auch den Grad der illusionistischen Bildwirkung, sondern stattet seine eigene Bildfindung zudem mit großen innerbildlichen Zonen aus, die in ihrer Flächigkeit nichts weiter sind als eine Verdoppelung – oder ein Stehenlassen – der Leinwand selbst. Ähnlich wie in Au lit verweist auch etwa die beige Fläche im unteren Register mit ihrer Anmutung einer unbemalten Leinwand auf die Gemachtheit des Bildes.358 Ganz analog ist auch der Ausblick in den Garten im mittleren Register zu verstehen, der einem Bild im Bild gleicht und seinerseits auf die regelrecht zur Seite gedrängte Landschaftsmalerei verweist, die im Verhältnis zum restlichen Bild nurmehr kommentierende Funktion hat. Neben der Gegenüberstellung von freier Naturdarstellung und häuslichem Kontext birgt diese gewitzte Konstruktion auch die Gegenüberstellung zweier gänzlich unterschiedlicher Kompositionsmuster. Rechts ist der freie Gartenausblick nahezu klassisch in Vorder-, Mittel- und Hintergrund eingeteilt, mit einer das Bild zentrierenden Begebenheit. Die Allusion auf Corot links im Bild hingegen ist entwickelt als dezentrales Geflecht, mit flächig-ornamentaler Rhythmisierung und ohne räumliche Staffelung oder anderweitige Perspektivierung der Bildfläche. Vuillard greift also auf Positionen zurück, die Ende des 19. Jahrhunderts dezidiert als stimmungshaft galten. Wie skizziert offenbaren Watteau, Corot und Puvis auf ihre je eigene Art diese Qualität. Dieses Verfahren ist insofern unkonventionell und ästhetisch avanciert, als Vuillard damit stilistisch gegensätzliche Positionen zusammenzuführen versucht  : die weichen, evaporierenden Formen Watteaus mit der Hieratik und arkadischen Entrücktheit Puvis’ und mit der formauflösenden und farblich dezent nuancierten Poesie der Werke Corots. Auch kombiniert Vuillard in seiner Rezeption die besondere Zeitlichkeit der Bildwerke. Die kollektiven Erinnerungen, welche durch Puvis, Watteau und Corot verhandelt worden waren, trugen jenes von Gautier beschworene Gepräge flüchtig aufblitzender Bilder einer zeitenthobenen Ewigkeit. Damit schreibt Vuillard seinen alltäglichen Anblicken die Aura dieser Sehnsuchtsorte ein. Im Gegensatz etwa zu Georges Seurat, der 358 Vgl. Kap. 2.

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dies so tat, dass die Pariser Alltagsszenen tatsächlich zu Nachfolgern der arkadischen Orte wurden, bildet Vuillard in seiner Rezeption keinen stimmigen neuen Topos, sondern entwirft eine durchaus in sich widerstreitende Szenerie. Diese tritt mit den Vorbildern eher in eine kommentierende Beziehung denn in eine sie kohärent vereinnahmende. Wie beobachtet bleibt Vuillard mit seiner Rezeption unterschiedlich nah an den Vorlagen, mal behandelt er ein ähnliches Motiv wie die Vorläufer, mal geschieht eine umfangreichere Umdeutung. Es hat nicht den Anschein, dass ein systematisches Verfahren vorliegt. Vielmehr muss man sich den Produktionsprozess als fruchtbares Oszillieren vorstellen zwischen den Wahrnehmungen, die den Maler emotional zum Bildschaffen angeregt haben, und erinnerten Bildern. Dabei handelt es sich nicht um ein gesteuertes Vorgehen. Im Oktober 1890 schrieb Vuillard in sein carnet  : »Il faut donc avoir une méthode pour la production dont on ne peut connaitre par avance le résultat«359. In Kenntnis der Erinnerungstätigkeit jedoch darf das Werk auch nicht als beliebiges Zufallserzeugnis gelten, sondern soll Ergebnis des durch die Wirkmechanismen der mémoire gesteuerten Prozesses sein. Dieser ist, wie oben ausgeführt worden ist, vornehmlich als sinnlich-affektives Assoziationsverfahren vorzustellen, welches nach seinen eigenen Gesetzmäßigkeiten wirkt. Dass dabei also ein harmonisches, ästhetisches Gefüge zustande kommt, liegt in diesen gefühlsmäßig geleiteten Gesetzmäßigkeiten der Erinnerung begründet. Genau das hatte Baudelaire im Mangeur d’opium bereits metaphorisch formuliert. Der Dichter zitiert zunächst Thomas de Quincey  : »Qu’est-ce que le cerveau humain, sinon un palimpseste immense et naturel  ? Mon cerveau est un palimpseste et le vôtre aussi, lecteur. Des couches innombrables d’idées, d’images, de sentiments sont tombées successivement sur votre cerveau, aussi doucement que la lumière. Il semblé que chacune ensevelissait le précédente. Mais aucune en réalité n’a péri.«

Baudelaire fügt aber hinzu, zwischen dem historischen Schriftenpalimpsest und jenem des menschlichen Gehirns, qui est notre incommensurable mémoire, se présente cette différence, que dans le premier il y a comme un chaos fantastique, grotesque, un collision entre des éléments hétérogènes  ; tandis que dans le seconde la fatalité de tempérament met forcément une harmonie parmi les éléments le plus disparates. […] Tout les échos de la mémoire, si on pouvait les réveiller simultanément, formeraient un concert, agréable ou douloureux, mais logique et sans dissonances.360

Das Gedächtnis des Menschen sei ein Palimpsest, und würde man alle Schichten simultan erwecken, ergäbe es eine palimpsestartige Struktur, die jedoch, begründet im gefühlsmäßigen Temperament des Künstlers, nicht chaotisch, sondern harmonisch im Sinne einer 359 Vuillard, Carnets, I.2., 22v (24. Oktober 1890). 360 Baudelaire 1975, Mangeur d’opium, S. 505 f., Hervorhebung M.G.

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Abb. 56  Probedruck zum Titelblatt von Paysages et intérieurs, um 1899, Lithografie, 587 x 463 mm (Blattmaß), Staatliche Graphische Sammlung München

ästhetischen Kohärenz sei. Es sind mithin, mit den Psychologen gedacht, die subkutanen affektiv gesteuerten Assoziationsmechanismen der mémoire des Malers, die für stimmige, entsprechend emotional eingetönte Bildreminiszenzen sorgen, welche im Schaffensprozess in die ästhetische Neuschöpfung einfließen. Ähnliche Gedanken finden sich auch in den grüblerischen Notaten in den carnets von Vuillard  ; ja, sie werden dort zu einer Art rettender Idee des um die Kohärenz seiner Werke bangenden Malers.361 Immer wieder tröstet er sich mit der sensualistischen Überlegung, dass seine Werke seinem Innersten entsprängen und mithin automatisch einer Kohärenz folgten, auch ohne eine explizit formulierte Kunsttheorie, wie sie etwa der Freund Denis für sich beanspruchen konnte.362 Die Idee der Erinnerung als unbewusst für harmonische Bildpalimpseste bürgende Instanz ermöglicht es Vuillard, ganz und gar auf seine persönliche Intuition zu vertrauen. Der dezidierte Bezug auf die eigene Subjektivität, die in der mémoire gründet, und die schöpferische Begründung aus ebenjener bilden das neue Legitimitätsgerüst für Vuillard. Baudelaire hatte die Metapher des Palimpsestes zudem sehr konkret in den Salon de 1859 integriert, wo er beschreibt, dass jedes gelungene Gemälde aus »une série de tableaux 361 Vgl. Vuillard, Carnets, I.2., 22v, 23r (24. Oktober 1890). 362 Vgl. Boullion 2003 und Bouillon 2006b.

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Abb. 57  Skizzenblatt, Vorder- und Rückseite, ca. 1890, Kohle und Pastell auf Papier, 63 x 47,5 cm, Privatsammlung (II-63)

superposés, chaque nouvelle couche donnant au rêve plus de réalité […]«363 bestehe. Vuillard hatte auch damit experimentiert. Viele Werke, exemplarisch sei hier auf eine Zeichnung und eine Druckgrafik verwiesen (Abb. 56), sind komponiert aus übereinandergeschobenen Schichten, die sich gegenseitig verstellen, aber auch teils durchlässig sind und so wechselseitig ineinander eingreifen. Die Bildoberfläche wird gespiegelt in Gestalt- und Farbschichten, die in ihrem spannungsvollen Zusammenspiel teils verdecken und verunklären. Für seine Farblithografien ist das mehrstufige Übereinanderschichten verschiedener Gestaltungsebenen, Figuren und vor allem Farben nicht nur in technischer Hinsicht konstitutiv, sondern auch hinsichtlich von Kompositions- und Atmosphärenexperimenten. Das palimpsestartige Skizzenblatt von 1890 (Abb. 57) wiederum zeigt unterschiedlich geformte und abgegrenzte Bildfelder, welche sich überlagernd miteinander kombiniert und dem Anschein nach übereinandergeschoben worden sind. Diese grafischen Palimpseste tragen in einem höheren Maße als die Gemälde ein heterogenes und spannungsvolles Gepräge, in dem sich der deutende Nachvollzug endlos im Bild verlieren kann. Diese Dimension schwingt auch bei Baudelaire mit, denn er betont, dass im harmonischen Ganzen die alten Schichten sichtbar bleiben. Die Vorbilder werden also nicht rückstandslos in die neue Bildfindung verschliffen, sondern bleiben weiterhin identifizierbar. Die Harmonie resultiert aus der durch das Gefühl gestifteten Kohärenz, die jedoch auf der Zusammenführung von Bildschichten basiert, die in ihrer Differenz weiterhin sichtbar 363 Baudelaire 1976, Salon 1859, S. 626.

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sind. Neu ist dies insofern, als eine metaphorisch durchwirkte, in der Tendenz psychologisch argumentierende Vorstellung der Psyche und der mémoire nicht nur bestimmte Verfahren legitimiert – das assoziative Verbinden von Vorbildern etwa –, sondern zudem die ästhetische Struktur der Gemälde und des Gesamtwerks als Palimpsest prägt, als Verweigerung einer allzu stimmigen Verschleifung, als in sich widerstreitende Harmonie. Stimmungspalimpsest als unabschließbare Gefühlssemantik  : Intérieur, Mère et Sœur de l’Artiste (1893) und interpikturale Verweise

Bei den Interieurs Vuillards lassen sich, was die Rezeption der Tradition sowie die interpikturalen Bezüge im eigenen Werk angeht, anders gelagerte Phänomene beobachten. Wo es im obigen Beispiel um eine gleichermaßen harmonische wie spannungsvolle Kombination von Stimmungskompositionen ging, experimentiert Vuillard in Intérieur, Mère et Sœur de l’Artiste (1893) mit der Überlagerung von Semantiken von Mimik, Gestik, Pose sowie mit der Wechselwirkung von Körper und Raum. Derart entsteht ein Bild voller komplexer Gefühlssemantiken, die jedoch in ihrer Unlesbarkeit betont werden. Intérieur, Mère et Sœur de l’Artiste aus dem Jahr 1893 (Tf. 36) ist eines der ambivalentesten Gemälde Vuillards.364 Es zeigt eine Interieurszene mit der Mutter und der Schwester des Malers. Vuillard hat ihnen zahlreiche Werke gewidmet. Dieses zeichnet sich jedoch aus durch den ihm eingeschriebenen besonders hohen Grad der Verstörung.365 Die Szenerie ist hermetisch, keine narrative oder anekdotische Fährte wird gelegt. Die Figuren sind nicht aufeinander bezogen. Ganz im Gegenteil, sie scheinen sich ostentativ zu ignorieren. Dass die Szenerie die beiden Personen dennoch in dichter atmosphärischer Verstrickung miteinander erscheinen lässt, liegt an der bildräumlichen Anlage sowie am Verhältnis zwischen den Figuren, zum Raum und untereinander, das Wolfdietrich Rasch poetisch als »Formverflechtung«366 bezeichnet. Der Betrachter ist nahe an die Figuren herangerückt und befindet sich frontal vor der sitzenden Madame Vuillard. Der Raum, der sich ihm eröffnet, setzt sich zusammen aus drei Flächen, die schräg ineinandergesteckt sind und keiner kohärenten perspektivischen Logik folgen. Die Raumfluchten klappen in die Bildfläche, vor allem Marie scheint von der hinter ihr verlaufenden Wand förmlich gegen die Bildfläche geschoben zu werden. Man blickt in einen nicht näher präzisierbaren Raum, der Blickwinkel ist extrem schräg, von links nach rechts verlaufend, angeschnitten. Der Bildraum hat dadurch etwas Verzerrtes, was zudem daher kommen mag, dass die von links nach rechts verlaufende Schräge im

364 Vgl. dazu Salomon et al. 2003, Bd. I, Kat. IV-112 und zu einer grundlegenden Verortung im Werk Vuillards Easton 1989, S. 83–85. 365 Diese stimmungshafte Qualität wird dem Gemälde fast durchgängig von der Forschung attestiert, exemplarisch bei Mauner 1971, Sidlauskas 1989, Krämer 2007. 366 Rasch 1966, S. 148.

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Sinne der westlichen Schreibrichtung einen stärkeren Tiefenzug entfaltet.367 Das Bildfeld beschneidet das Blickfeld des Betrachters absichtsvoll derart, dass eine Orientierung unmöglich wird, ist doch die Einsicht in die rechte Raumhälfte abgeschnitten. Es geht nur um die beiden Figuren, die umgeben sind von schrägen Wänden und zu kippen drohenden schweren Möbeln. Marie, die Schwester Vuillards, steht an die Wand gepresst, sie scheint sich fast dort hineinzudrücken. Ihr Körper ist hoch aufschießend, sodass sie sich unter dem Fensterrahmen duckt und gleichzeitig auf den Zehenspitzen zu stehen scheint.368 Ganz im Gegenteil dazu ruht Madame Vuillard in bequemer Sitzhaltung, einen Arm entspannt auf das Knie gelegt, den anderen burschikos aufgestützt. Sie konfrontiert den Betrachter mit ihrem Blick aus einem ansonsten kaum definierten Gesichtsoval. Marie ist an den Rand gedrückt, die Pose der Mutter ostentativ raumgreifend. Während Madame Vuillard in ihrem schwarzen Kleid eine monolithische Form ohne Binnengliederung bildet und sich als klar definierte Umrissform vom Hintergrund abhebt, weist der Stoff von Maries Kleid eine der Tapete verwandte Ornamentik auf, sodass stellenweise gar keine Kontur zwischen ihr und der Tapete zu erkennen ist. Die beiden Ornamentstrukturen gehen fast nahtlos ineinander über. Marie scheint in der Wand aufzugehen, ihr Körper ist in keiner festen Form definiert, vielmehr scheint er sich aufzulösen in das sie umgebende unangenehm unruhige Fleckenmeer der Tapete. Sidlauskas hat zu Recht betont, dass auch die Malweise und die Farbskalen rund um die Figuren unterschiedlich sind.369 Wo Marie in kleinteilig getupftes Gelb, ins Grüne changierendes Schwarz und Beige eingebettet ist, findet sich die ruhige Haltung Madame Vuillards verdoppelt im dunklen, aber warmen Akkord aus Braun, Ocker und Schwarz, welcher mit ruhigeren Pinselstrichen aufgetragen ist. Bereits Anfang der 1970er Jahre hat George Mauner das Gemälde in den Kontext von Vuillards Zusammenarbeit mit dem Intimen Theater gestellt, welches Anfang der 1890er Jahre in den Häusern Théâtre-Libre, Théâtre d’Art und Théâtre de l’Œuvre vielfältig inszeniert worden war.370 Mauner führt das Gemälde zurück auf Vuillards Arbeit für den Einakter L’Intruse von Maurice Maeterlinck, der im Jahr 1891 im Théâtre d’Art als Teil eines sechs Programmpunkte umfassenden symbolistischen Theaterabends aufgeführt worden war und für den Vuillard das Bühnensetting gestaltet hatte.371 Thema des Stücks ist das War367 Wölfflin 1941, S. 83 f. 368 Vgl. dazu Sidlauskas 1989, S. 237. 369 Sidlauskas 1989, S. 238. 370 Vgl. Mauner 1971  ; in dieser grundsätzlichen Einschätzung sind ihm zahlreiche ForscherInnen gefolgt  : Sidlauskas 1989, Kap. 4  ; Ciaffa 1985, S. 205 f.; Kimberly Jones im Akat. Vuillard, Washington/Montreal/Paris/London 2003, S. 142 f.; Salomon et al. 2003, Bd. I, Kat. IV-112  ; Krämer 2007, S. 114–118. Forgione hat versucht, den Einfluss des Intimen Theaters zu relativieren. Diese Sicht konnte sich indes in der Forschung nicht durchsetzen. Vgl. Forgione 1992, S. 132–215. Kuenzli wiederum will in ihren Arbeiten zeigen, dass das durch die französische Rezeption eigenständig überformte Gesamtkunstwerk-Konzept Wagner’schen Ursprungs für die Nabis ausschlaggebend gewesen sei. Vgl. Kuenzli 2010a und Kuenzli 2010b. Thomson hat in ihrer Rezension dazu Vorbehalte formuliert  ; vgl. Thomson 2011. 371 Vgl. Mauner 1971, S. 125.

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Abb. 58  Skizze zu L’Intruse, 1891, Öl auf Karton, 28 x 60,5 cm, Privatsammlung (III-33)

ten in unheilvoller Atmosphäre. Auf der Bühne sieht man eine Familie, aus den kargen Äußerungen entnimmt der Zuschauer, dass im Nebenzimmer die Tochter ein Kind zur Welt bringt  ; offenbar handelt es sich um eine längere Geburt. Sorgenvoll verharrt die Familie, auf die frohe Botschaft der glücklichen Geburt hoffend. Einzig der blinde Großvater erspürt die dramatische Wendung, den Tod von Mutter und Kind, mit dessen Offenbarung das Stück brüsk sein Ende findet. Zum Bühnenbild gibt es jedoch keine genauen Überlieferungen, lediglich der dramatische Einsatz einer Kerze bzw. deren Verlöschen als symbolische Evokation des Sterbens ist bekannt.372 Mit Annette Delius kann man den Gehalt des Stückes als diffuses Grundgefühl fassen, welches das zumeist unheilvolle Unerwartbare erahnt. In L’Intruse ist es bezeichnenderweise ausgerechnet der blinde Alte, der als Einziger über eine für diese Stimmungen notwendige Sensibilität verfügt.373 Wie Patricia Ciaffa 1985 erstmals ausgeführt hat, ist eine auf das Stück bezogene Ölskizze Vuillards überliefert (Abb. 58).374 Sie zeigen die Familienmitglieder geduckt sitzend, dicht um einen kleinen Tisch mit Lampe gedrängt. Die Tatsache, dass sie bangend und fiebernd auf etwas ihrer und unserer Kenntnis Entzogenes warten, setzt Vuillard – auch von der zeitgenössischen Kritik so empfunden375 – grandios um in dem ostentativ leer bleibenden rechten Bilddrittel. Diese Leere ist es, die die Familie zwingt, sich um den Tisch zusammenzuschließen. Das Unbekannte, nicht Sichtbare, in absentia Dräuende ist es, das die Szenerie buchstäblich prägt und gerade durch Abwesenheit eine drückende Bildmacht erlangt. Auf Mère et Sœur ist jedoch wenig davon zu sehen. Auf der Ebene des Sujets ist zumindest keine Verbindung zu L’Intruse erkennbar, auch nicht auf der Ebene der die Bildwerke 372 Vgl. anonym 1891  ; Mauner 1971, S. 125. 373 Vgl. Delius 1976, S. 67 f. 374 Vgl. Ciaffa 1985, S. 142–145. 375 Vgl. Mauner 1978, S. 64. Vgl. zur Inszenierung auch Robichez 1957, S. 492 f.

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Abb. 59  Entwurf für ein Programmheft des Théâtre d’art, 1891, Tusche, 19,2 x 26,3 cm, Bibliothèque nationale, Paris

prägenden Ästhetik. Vergleichbar ist alleine die spannungsvolle Stimmung. Für die kompositorische Anlage des Gemäldes von 1893 war indes vielmehr eine Grafik Vorbild, die Vuillard für das Programmheft gestaltet hatte (Abb. 59). In der Grafik kombiniert Vuillard ebenfalls eine sitzende mit einer stehende Figur in einem extrem schräg angeschnittenen Bildraum. Auch hier ist die Beziehung zwischen den Figuren unklar, die als Vorhang angedeutete Wand indes lässt das Ensemble als Bühnenszenerie erkennen. Der Bezug zum Gemälde von 1893 ist mithin deutlich, kann dieses aber keineswegs restlos erklären. Immerhin liegen auch zwei Jahre zwischen der Grafik und dem Gemälde, die eminente Ereignisse in Vuillards Vita umfassen. Die Arbeit am Théâtre d’Art war nur der Auftakt zu einer intensiven Zusammenarbeit Vuillards mit dem zeitgenössischen Theater.376 1893 brachte er gemeinsam mit dem befreundeten Lugné-Poe ein weiteres Stück von Maeterlinck, das zwischen Märchenhaftigkeit und Protoexistentialismus angesiedelte Pelléas et Mélisande, auf die Bühne. Berauscht von den neuartigen Dramen gründeten die beiden 376 Zum Verhältnis von Vuillard und den Nabis zum Theater vgl. Cogeval 1990  ; Akat. Theater, Mannheim 1992  ; Aitken 1993  ; Akat. Theater, Washington/New York 1998  ; Cogeval 2005  ; Kuenzli 2010a, Cogeval 2010.

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Freunde zusammen mit dem Kritiker und Autor Camille Mauclair im gleichen Jahr das Théâtre de l’Œuvre. Dieses sollte für die kommenden Jahre ein Zentrum des modernen Theaters werden, was 1896 in die durch Alfred Jarry verantwortete Inszenierung seines selbst geschriebenen Ubu roi mündete, einer fulminanten Groteske, die Elemente von der Zusammenarbeit von Pablo Picasso mit Serge de Diaghilev in den Ballets russes, der Dada-Bewegung und dem Surrealismus vorwegnahm und mit einem beispiellosen Skandal den Niedergang des Théâtre de l’Œuvre einleitete.377 Um zu verstehen, wie es zur Bildfindung von 1893 kam, ist mithin der weit über L’Intruse hinausgehende Blick auf die Programmatik der Theaterkreise um Vuillard notwendig. In Absetzung von klassischem Theater und populäreren Formen, die auf Zerstreuung und Amüsement abzielten, ging es dem Zirkel um das Théâtre-Libre, das Théâtre d’Art und das Théâtre de l’Œuvre um die Inszenierung von neuartigen Stücken, das Aufführen von Dramen, die das Private bzw. Intime, das individuell Innerliche, das Unaussprechliche zum Thema haben und geleitet sind von einem »Interesse für die Probleme und Themen des individuellen Erlebens, für die Nuancen und Disparatheiten gedanklicher und emotionaler Prozesse«378. Diese Sujets sollten bezeichnenderweise nicht in magistralen Handlungen, sondern in alltäglichen, banalen Szenen zur anschaulichen Präsenz gebracht werden. Weiterhin ging es um die Inszenierung von Stücken, deren Dramaturgie und Betrachteransprache sich emanzipiert hatte von Theaterpraxen, die letztlich noch immer von Rhetorik geprägt waren und auf äußerlicher Handlung aufbauten. Dem entgegen ging es den Machern eines neuen Theaters um Formen des Dramas, die den neuen innerlichen Themen angemessen sein und damit verbunden eine im Gegensatz zum pejorativ so genannten »Illusionstheater« »authentischere« Betrachteransprache entfalten sollten. Vuillard war auf das Engste eingebunden in diese Kreise und entwarf zahlreiche Programme und Bühnenbilder, unter anderem für das Théâtre de l’Œuvre.379 Eine große Rolle spielten die Werke des bereits genannten Maurice Maeterlinck sowie Henrik Ibsen und auch August Strindberg.380 Sie hatten das einfache, private Familienleben als geeigneten dramatischen Ort ihrer Stücke entdeckt. Spürte Ibsen im engen Kreis der Familie – einem Brennspiegel gleich – allgemeine zwischenmenschliche und gesellschaftliche Spannungen auf und entlarvte damit das Heim als Austragungsort subkutan brodelnder Konflikte, so hatte Maeterlinck im Alltäglichen und Bescheidenen den Ort tatsächlicher Transzendenzerfahrung im Sinne eines Protoexistentialismus ausgemacht.381 Erreicht wird 377 Vgl. zur Inszenierung von Ubu roi Cathé 2005. 378 Streisand 2001b, S. 136. Vgl. zum modernen bzw. Intimen Theater Delius 1976  ; Deák 1977  ; Kafitz 1987  ; Akat. Theater, Mannheim 1992  ; Deák 1993  ; Akat. Theater, Washington/New York 1998  ; Streisand 2001b und 2001a  ; Brockett et al. 2007, S. 379–381  ; Keshavjee 2009  ; Akat. Theater, Marseille/Rovereto/Toronto 2010  ; Losco-Lena 2010. 379 Vgl. zum Théâtre de l’Œuvre Deák 1984  ; Akat. Theater, Mannheim 1992, S. 59–96  ; Akat. Theater, Washington/New York 1998, S. 101–161  ; Akat. Theater, Paris 2005. 380 Vgl. zu Ibsen Deák 1984  ; zu Strindberg und Maeterlinck in diesem Kontext vgl. Kesting 1965, Delius 1976, Streisand 2001b, Laoureux 2008. 381 Vgl. dazu Sidlauskas 1989, S. 271.

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diese Erfahrung in seinen Dramen über die Doppelung der Ärmlichkeit  ; nicht nur ist das Alltägliche Inbegriff der Einfachheit, auch die Szenerien zeichnen sich derart aus als ereignis-, handlungs- und sprachlose Zustände. Den theoretischen Kontext hierzu erhielten die Theatermacher teilweise von Maeterlinck, der ein eindringliches Plädoyer für die tiefe poetische Tragik des Alltags verfasste. Darin heißt es gegen die Dramentradition der »großen Abenteuer«  : Il y a un tragique quotidien qui est bien plus réel, bien plus profond et bien plus conforme à notre être véritable que le tragique des grandes aventures. Il est facile de le sentir, mais il n’est pas aisé de le montrer, parce que ce tragique essentiel n’est pas simplement matériel ou psychologique. Il ne s’agit plus ici de la lutte déterminée d’un être contre un être […]. Il s’agirait plutôt de faire voire ce qu’il y a d’étonnant dans le fait seul de vivre. Il s’agirait plutôt de faire voir l’existence d’une âme en elle-même, au milieu d’une immensité qui n’est jamais inactive.382

Einige Seiten später und nicht direkt im Anschluss, wie von der Forschung oft suggeriert,383 nähert er sich metaphorisch der Zuständlichkeit, um die es sowohl motivisch als auch produktionsästhetisch zur Sichtbarmachung dieser »tragique quotidien« geht  : Il m’est arrivé de croire qu’un vieillard assis dans son fauteuil, attendant simplement sous la lampe, écoutant sans le savoir toutes les lois éternelles qui règnent autour de sa maison, interprétant sans le comprendre ce qu’il y a dans le silence des portes et des fenêtres et dans la petite voix de la lumière, subissant la présence de son âme et de sa destinée, inclinant un peu la tête, sans se douter que toutes les puissances de ce monde interviennent et veillent dans la chambre comme des servantes attentives, ignorant que le soleil lui-même soutient au-dessus de l’abîme la petite table sur laquelle il s’accoude, et qu’il n’y a pas un astre du ciel ni une force de l’âme qui soient indifférents au mouvement d’une paupière qui retombe ou d’une pensée qui s’élève, – il m’est arrivé de croire que ce vieillard immobile vivait, en réalité, d’un vie plus profonde, plus humaine et plus générale que l’amant qui étrangle sa maîtresse, le capitaine qui remporte une victoire ou »l’époux qui venge son honneur«.384

Für die Malerei folgt daraus, dass der gute Maler keine äußerlichen und leicht greifbaren Heldentaten mehr ins Bild setzen solle, vielmehr »une maison perdue dans la campagne, une porte ouverte au bout d’un corridor, un visage ou des mains repos«.385 Maeterlinck plädiert damit nicht nur für eine thematische Neuausrichtung des Theaters, sondern verweist unmittelbar auf das damit einhergehende Darstellungsproblem. Die Gedanken über das Wesen des Tragischen sind also untrennbar verbunden mit Fragen der ästhetischen 382 Maeterlinck 1908, S. 161 f., Hervorhebung M.G. 383 Etwa bei Sidlauskas 1989, S. 229. 384 Maeterlinck 1908, S. 168 f., Hervorhebung M.G. 385 Maeterlinck 1908, S. 165.

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Umsetzung. Die Gefühle, um die es ihm geht, sind nicht nur realiter schwer wahrzunehmen, sondern in der Folge umso schwerer künstlerisch erfahrbar zu machen. Dem diffusen Unheil wohnt stets inne, dass es kaum erfahrbar und mithin kaum darstellbar ist. Der Weg dorthin geht über eine kontemplative Innenwendung, wie das Bild des alten Mannes suggeriert.386 George Mauner, der ebenfalls diese Ausführungen Maeterlincks im Kopf hatte, deutet damit das Interieurgemälde Vuillards als »an attempt to extract the mysterious sense of the spiritual basis of everyday life.«387 Insbesondere Susan Sidlauskas zeigte, über George Mauner hinausgehend, dass Vuillard mit Maeterlinck zwar das Interesse für das nur scheinbar belanglos Alltägliche teilt, vor allem aber auch die ästhetischen Mittel, mit denen die jeweiligen Theater inszenatorisch arbeiteten.388 Schließlich hatte Vuillard selbst Bühnenbilder geschaffen, er war also mit den dramaturgischen Experimenten, die vor dem Hintergrund des Darstellungsproblems nach neuen Wegen der Visualisierung suchten, bestens vertraut. Allgemein gesprochen waren dies Strategien der Verfremdung, die konventionalisierte Zeichen ablösen und zu authentischeren Ausdrucksformen führen sollten.389 Die Verfremdung war hier gleichermaßen Strategie der Entwöhnung des Publikums von konventionellen Formen wie auch experimentelle Suche nach neuen Wegen. Wenn etwa Marionetten Schauspieler ersetzen sollten, so sorgte dies einmal für eine Irritation der Betrachtergewohnheiten  ; gerade diese Irritation machte zugleich den Weg frei für neue Strategien von Ausdruck und (metaphysischer) Sinnevokation.390 Weitere Strategien waren, falls doch mit echten Schauspielern gespielt wurde, eine reduzierte Gestik und Mimik, grundsätzlich reduzierte Aktion und Interaktion, reduzierte monologische Sprechakte anstatt von Dialogen und in der Folge die Eliminierung von Narration zugunsten hieratischer Bühnentableaus, die archetypische Zustände und Seinsweisen evokativ verkoppelten.391 Dies stand bereits den Zeitgenossen durchaus in dieser Klarheit vor Augen. Der ebenso kritische wie geniale Beobachter seiner Zeit, Hermann Bahr, schrieb etwa 1891 über Maeterlincks Streben  : Nervöses soll geäußert und geweckt werden. Die alte Sprache, welche logische und allenfalls sentimentale Reihen vermittelte, kann dafür nicht genügen. Nicht um das Verstandesmäßige und das klare Gefühl, die in sichere und helle Worte faßlich sind, sondern um das j e n s e i t s des Verstandes und v o r dem Gefühle, um die trüben und verworrenen Anfänge der Empfindung, um alle Seltsamkeit, die u n t e r der Schwelle des Bewußstseins kauert und nur wie ein dumpfes Stöhnen aus dem letzten Schlunde der Natur, wohin der Geist nicht dringt, empfunden wird, darum handelt es sich  : um eine neue Sprache, welche 386 Vgl. dazu Losco-Lena 2010, S. 20 f. 387 Vgl. Mauner 1971, S. 125. 388 Vgl. Sidlauskas 1997. 389 Zu den ästhetischen Strategien der Inszenierungen vgl. die frühe Arbeit von Delius (1976) sowie die umfassende Studie von Marianne Streisand (2001b), zudem Kuenzli 2010b, S. 69–71. 390 Vgl. dazu Sidlauskas 1997, S. 102 f. 391 Vgl. dazu Sidlauskas 1989, S. 274. Zum intimen Drama vgl. Delius 1976  ; Streisand 2001b. Zur Bedeutung des Bildlichen in der Dramaturgie Maeterlincks vgl. Laoureux 2008.

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Nervenstände ausdrücken und mitteilen soll, indem sie die an ihnen charakteristischen Farben und Klänge gibt, welche von ihnen unzertrennlich sind. Das ist das große Suchen der Goncourts. Das ist der große Fund Maurice Maeterlincks.392

Bahr erklärt das Theater Maeterlincks einerseits mit einer globalen Sprachkritik, die 1902 im Chandos-Brief von Hugo von Hofmannsthal konzentriert formuliert werden sollte (»die Worte zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze«).393 Bahr bringt damit das Ziel des Intimen Theaters, vor allem dessen kulturhistorische Rückbindung an die psychologischen Diskurse der Zeit und die ästhetischen Konsequenzen, auf den Punkt. Das Theater will innerste, diffuse Empfindungen verhandeln. Worte und Sprache vermögen dies nicht auszudrücken. Denn ganz analog zu den in dieser Arbeit vorgestellten psychologischen Forschungen zielt Bahr nicht auf die Darstellung im Bewusstsein begrifflich stillgestellter Gefühle ab, sondern auf die »trüben und verworrenen Anfänge der Empfindung« unter dem Bewusstsein, also auf die basalen sensations.394 Es geht um deren Erfahrbarmachung, zu der keine Wortsprache dienlich sei, sondern ein neuartiges System aus Farben und Klängen, denn diese seien, strukturanalog zu den diffusen Empfindungen, direkt verbunden mit den Nervenständen. Diese tiefen Gefühlsschichten konnten nicht mehr mittels eines referentiellen Zeichensystems dargestellt werden, sondern sollten über eine mit sinnlichen Mitteln verfasste Kunst direkt das Empfindungssensorium der Zuschauer ansprechen. An anderer Stelle schreibt er entsprechend  : »Darum wird die neue Psychologie, welche die Wahrheit des Gefühls will, das Gefühl auf den Nerven aufsuchen, gerade wie die neue Malerei, welche Wahrheit der Farbe will, die Farbe in den Augen aufsucht […].«395 Die sprachkritischen Ziele des Intimen Theaters ziehen, vor der Diskursfolie der Psychologen betrachtet, also unmittelbar auf die Sinne abzielende, ästhetische Konsequenzen nach sich. Sowohl bei Maeterlinck als auch bei Bahr steht neben der Definition der neuen Thematik stets auch das Problem der geeigneten ästhetischen Mittel im Zentrum. Es hieße den Diskurs verkürzen, wenn man daraus schlösse, dass diese Argumentation darauf angelegt gewesen sei, dereinst geeignete Mittel zu finden, anhand derer eine Darstellbarkeit der diffusen Empfindungen dann eindeutig möglich wäre. Es ist im Gegenteil vielmehr so, 392 Bahr 2004b, S. 161 f., gesperrt i.O., fett M.G. 393 Vgl. zum Zusammenhang zwischen Sprachkrise und modernem Theater Kafitz 1987, S. 325 und Streisand 2001b, S. 193 f. 394 Dazu, dass das kulturhistorische Phänomen der Sprachkrise erst in seiner vollen Tragweite erfasst werden kann, wenn es an den zeitgenössischen Empirismus und Positivismus rückgebunden wird, vgl. Kimmich et al. 2006, S. 75. Dort heißt es analog zu Bahr  : »Auch in den verschiedenen Formen literarischer und philosophischer Sprachkritik, wie sie die Jahrhundertwende prägen, kommen mithin Konsequenzen des naturwissenschaftlichen Erkenntnisparadigmas zum Tragen. Es ist sehr wichtig, diese oft übersehene Anbindung der vieldiskutierten ›Sprachkrise‹ an den Empirismus und Positivismus zu beachten, weil erst sie die besondere Vehemenz erklärt, mit der um 1900 den Worten das Vermögen bestritten wird, die – subjektive oder objektive – Wirklichkeit adäquat und exakt zu repräsentieren.« 395 Bahr 2004c, S. 94.

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dass konstitutiver Teil dieser Empfindungen ist, dass sie per se nicht in zeichenhaften Strukturen niedergelegt werden, sondern stets nur annäherungsweise und enigmatisch verunklärt ästhetisiert werden können. Denn das Erklingen der diffusen Empfindungen bedarf der Innenwendung des Rezipienten, und diese scheint vornehmlich durch Verunklärung und Verunsicherung erreichbar. Die Werke, die dem Maeterlinck’schen Denken verpflichtet sind, werden also vornehmlich auf suggestive Rätselhaftigkeit in der Aura des Unheimlichen abzielen anstatt auf die konkrete Benennung dieses oder jenes Gefühls. Der Sinn der Ästhetik ist mithin weniger die Darstellung bestimmter Gefühle als vielmehr die Visualisierung einer diffusen Ahnung. Tatsächlich leuchten die gestalterischen Aspekte, mit denen im Theater experimentiert worden war, im Gemälde Vuillards auf. Die bühnenartige Anlage des Bildraumes ist eng und trägt eine klaustrophobe Stimmung  ; der Betrachter wird konfrontiert, ohne irgendwelche Anhaltspunkte zu haben. Maries Haltung ist verstörend und marionettenhaft, oder aber zumindest alles andere als nachvollziehbar natürlich im Sinne einer Lesbarkeit. Vielmehr befremdet ihre bizarre, gebückte, den räumlichen Proportionen zuwiderlaufende Streckung. Die Gesichter wiederum wirken maskenhaft und sind ebenso wie die Hände gekennzeichnet von Ausdrucksnegation.396 Des Weiteren sind keine dialogischen oder narrativen Strukturen zu erkennen. Die Farben wiederum strahlen in ihrer Warmtonigkeit eine gewisse Heimeligkeit aus, die jedoch durch die gelb-grünen und dumpf-braunen Einsprengsel ins Krankhafte und Lethargische gezogen wird. Vor dem Hintergrund des Intimen Theaters und allen voran der Stücke Maurice Maeterlincks ist es dennoch George Mauners Ziel, einen konkreten Inhalt zu benennen, und er schlägt als Thema des Gemäldes die archetypische Polarisierung des menschlichen Lebens, die »notion of opposition«397 vor. Damit werde analog zu Maeterlincks Transzendenzstreben eine »expression of the dual nature of life«398 inszeniert. Im Hinblick auf das oben im Anschluss an Maeterlinck und Bahr Erörterte wird es dem Gemälde indes nicht gerecht, es auf eine sprachgerechte Formel zu bringen. Eingelassen in den größeren Kontext der Sprachkritik war ja die Erfahrbarmachung der grundsätzlichen Unmöglichkeit, dieser Empfindungen habhaft zu werden, das Ziel. Wie im Folgenden gezeigt wird, liegt dieser Gedanke auch den anderen Referenzen zugrunde, die Vuillard seinem Werk einschreibt. Wie Susan Sidlauskas gezeigt hat, ist das Intime Theater aber nicht der einzige Inspirationskontext Vuillards gewesen. In ihrem Aufsatz von 1997 führt sie eine weitere Bildquelle ein, und zwar die Fotografien von vermeintlich hysterischen und/oder anderweitig psychisch stigmatisierten Frauen, wie sie Ende des 19. Jahrhunderts in Paris, im Umkreis von Jean-Martin Charcot und der Salpêtrière angefertigt worden sind.399 Sidlauskas kann eine Reihe von visuellen Parallelen aufzeigen, in denen sich Gesten oder Körperhaltungen der zu Forschungszwecken abgelichteten Patientinnen in frappierender Weise in Werken Vuillards, 396 Vgl. Sidlauskas 1989, S. 231 f. 397 Mauner 1971, S. 125. 398 Mauner 1971, S. 125. 399 Vgl. zur Diskursgeschichte Didi-Huberman 1982.

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die im Zusammenhang mit Intérieur, Mère et Sœur de l’Artiste stehen, wiederfinden.400 Für Sidlauskas ist dies ein Baustein im Kontext der Kulturgeschichte des Weiblichen und zudem Symptom für die Arbeit mit dem weiblichen Körper als verstörende Chiffre und Teil einer neuen Gestik, die zugunsten des Verstörten und Verstörenden von Konventionellem abweicht.401 Untermauert wird dies durch die Quellen, die Didi-Huberman in Bezug auf diese Fotos erarbeitet hat.402 Er weist darauf hin, dass die fotografierten Gesten und Posen in der Deutung von Charcot und dessen Umfeld als sämtlicher kommunikativer Codes beraubt galten. Die »unlogischen Haltungen« böten keinerlei Botschaft, und es könne keinerlei Mitteilung von einem solchen Körper ausgehen.403 Die Posen seien in ihrem pathologischen Furor gezeichnet von einem »sinnentleerten Charakter«.404 Die kranke Psyche vermag, wie Ribot in Les Maladies de la mémoire (1881) erarbeitet hatte, nicht mehr zu einer kohärenten Identität zu finden, woraus vielfältige Krankheiten resultieren, die sich dann wiederum unter anderem in den von Charcot eben nicht lesbaren ikonisierten Posen niederschlägt.405 Das mangelnde Vermögen der Psyche, zu einer Form im Sinne einer referentiellen Kohärenz zu kommen, überträgt sich so strukturlogisch auf die Deutung der Posen und Gesten. Auch sie bergen keine lesbare Kohärenz mehr, wie sie mit Charles Darwins und Duchennes de Boulogne Ausdruckslehren in aller Munde war.406 Die Posen verkörpern damit ganz buchstäblich das seelische Leiden einer sich nicht mehr mit sich selbst kohärent zur Deckung bringenden Psyche. Wenn Vuillard diese Posen in seine Gemälde integriert, die grundsätzlich, dem Intimen Theater folgend, Sprache und etablierte Zeichensysteme unterlaufen und ersetzen wollen, so erscheint dies nur logisch.407 Vuillard integriert damit die Hysterie-Ikonen der Formlosigkeit, verstanden als semantische Verneinung, in seine Gemälde. Sie werden so zu einem weiteren Element, das ein Zustandekommen von klassischer Bildkohärenz verhindert. Dies kann allerdings nur als größerer Kontext herangezogen werden, denn konkret für Intérieur, Mère et Sœur de l’Artiste sind keine Fotografien von Patientinnen überliefert, wiewohl natürlich gerade die Pose Maries gut in diesem Kontext vorstellbar ist. Grundsätzlich wurde bislang zu wenig beachtet, welche Rolle die Arbeit mit seinen eigenen Gemälden und jenen anderer Meister im Zusammenhang mit Intérieur, Mère et Sœur de l’Artiste spielt. In den Jahren 1892 und 1893 behandelt Vuillard das Motiv von Mutter und Schwester viele Male. Die einzelnen Werke erscheinen nicht als jeweils 400 Vgl. Sidlauskas 1997, S. 104–107. 401 Sidlauskas 1997, S. 107. 402 Vgl. dazu Didi-Huberman 1982. 403 Vgl. Didi-Huberman 2007, S. 74. 404 Didi-Huberman 2007, S. 74. 405 Vgl. dazu Kap. 3.3. 406 Vgl. dazu Rigoli, der in ähnlicher Weise betont hat, dass psychologische Pathologien bereits Ende des 18. Jahrhunderts diskursiv mit der Metapher des inkohärenten Bildes in Verbindung gebracht worden sind  ; ein manischer Patient könne gar nicht anders, als ein Bild des Chaos abzugeben. Vgl. Rigoli 2006, S. 67–68. 407 Vgl. dazu auch Perucchi-Petri, die zu ähnlichen Ergebnissen kommt  ; Perucchi-Petri 2008, S. 64 f.

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Abb. 60  L’Atelier de couture de madame Vuillard, 1892, Öl auf Leinwand, 24 x 34 cm, Privatsammlung (IV-26)

autarke Kompositionen, sondern gehen auseinander hervor, kleine Nuancen unterscheiden sich oder bestimmte visuelle Phänomene tauchen wiederholt in unterschiedlichen Einbettungen auf. Eine der frühen Arbeiten, L’Atelier de couture de madame Vuillard von 1892 (Abb. 60), zeigt beide Frauenfiguren noch stehend, wobei die Posen der Figuren, insbesondere die Maries, bereits eigenwillig spannungsvoll sind. Beide Figuren heben sich jedoch klar vom Hintergrund ab. Auffallend ist hier vor allem das absolut leere Gesicht Maries im Gegensatz zu jenem hart ausgeleuchteten von Madame Vuillard. In der Folge experimentiert der Maler mit verschiedenen Kombinationen aus Sitzen und Stehen, verschiedenen räumlichen Arrangements, Lichtsituationen und Blickrichtungen des Bildpersonals etc. Dabei zitiert sich der Maler immer wieder selbst, die Arbeit an den Gemälden gleicht einem bildlich gedachten Entstehungsprozess, bei dem es keinen eindeutig erkennbaren fixen Endpunkt gibt. Es ergibt sich eine Gruppe von drei Bildern, die alle 1893 datieren und offenbar wechselseitig aufeinander eingewirkt haben  : Intérieur, effet de soir (Abb. 37), Intérieur (Tf. 28) und eben Intérieur, Mère et Sœur de l’Artiste (Tf. 36). Der Œuvrekatalog legt nahe, dass Intérieur, Mère et Sœur de l’Artiste chronologisch zuletzt entstanden ist. Diese Datierung ist jedoch nicht eindeutig zu belegen. Im Vergleich der drei Werke wird deutlich, dass Intérieur, Mère et Sœur de l’Artiste die räumliche Disposition mit Intérieur, effet de soir teilt. Beide Male ist der Raum in die Tiefe der rechten Bildhälfte gefluchtet, in der linken Bildhälfte erstreckt sich schräg durch das

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Bild die Wand zur linken vorderen Bildkante. Ebenfalls ähnlich ist die räumliche Zuordnung der Personen. Madame Vuillard sitzt rechts, Marie befindet sich links. Die große Kommode, die in Intérieur, Mère et Sœur de l’Artiste jedoch hinter Madame Vuillard das Bild abschließt, steht bei Intérieur, effet de soir an der Wand links im Bild. Die beiden Frauen sitzen dadurch schräg versetzt. In Intérieur, effet de soir geht es vornehmlich um die überwiegend in Dunkelheit gehüllten Figuren, die in durchaus nicht unbehaglicher Atmosphäre beieinandersitzen und aus dem Bild sehen, als seien sie gerade gestört worden. Latent bedrohlich wirken die tiefschwarze Raumöffnung rechts hinten, die absolut keinen Einblick gewährt, sowie die mangelnde Belichtung von Marie, durch die auch sie praktisch nicht zu sehen ist. Hiervon finden sich zentrale kompositorische Elemente in Intérieur, Mère et Sœur de l’Artiste wieder. Der Bildausschnitt ist nun jedoch kleiner gewählt, wodurch die Szenerie beengter wirkt. Beengter wird sie auch durch die Umpositionierung der Kommode, da nicht einmal mehr eine dunkle räumliche Öffnung sichtbar ist. Bei Intérieur, effet de soir wiederum hatte Vuillard zudem in ähnlicher Pose wie auf Intérieur den Effekt der Sitzenden erprobt. Bei Letzterem lag der Fokus aber offenbar auf der Wechselwirkung mit der Tapete, denn die sitzende Frauenfigur ist in denselben Farbtönen gewandet, in denen die Tapete gestaltet ist. Zwar unterscheiden sich die Muster, dennoch hebt sich die Figur kaum von der Tapete ab. Sichtbar und dennoch nicht sichtbar ist hier zudem der Blick in einen angrenzenden Raum. Wie oben im Zusammenhang mit der Ästhetik des Flirrens erörtert, setzt Vuillard die Differenz zwischen Sichtbarkeit und Erkennbarkeit effektvoll ins Bild  ; hier bestimmt sie das gesamte Werk  : Weder die Frau ist präzise erkennbar noch der Nebenraum, beides trotzdem sichtbar. In Intérieur, Mère et Sœur de l’Artiste wird dieses Verfahren nun aber nicht bei der sitzenden Figur in Anschlag gebracht, sondern bei der stehenden. Noch ohne interpretative Deutung kann so bereits festgehalten werden, dass die Bildgenese bei Vuillard aus einem ständigen Aufgreifen bereits erprobter Bildformeln hervorgeht. Die Werke verweisen oftmals nicht nur auf sich, sondern sind Teil eines dicht gewebten Œuvres, in dem jedes Werk für sich, aber auch in unmittelbarer Nachbarschaft mit anderen besteht. Dieser Befund entspricht ganz den bereits oben erwähnten Überlegungen, die Vuillard in seinen carnets angestellt hat, in denen er sich wünscht, das Werk eines Malers in der komplexen Summe der Einzelwerke zu erkennen, aus der nicht einzelne Werke (ouvrages) hervorstechen, sondern die eine in sich verwobene und derart vielfach auf ihre Teile verweisende Ganzheit (œuvre) sei.408 In seinem Werkbegriff verdoppelt Vuillard mithin die paradoxe Struktur, die auch seinen Bildern als vermeintlichen Momentaufnahmen innewohnt, und zwar gleichermaßen stillgestelltes Einzelwerk zu sein, aber auch Teil eines diesen Anblick hervorbringenden und damit untrennbar verbundenen Zeitflusses. Vuillard versteht sein Werk als prozessuales, interpikturales Gewebe, das aus eigenständigen Werken besteht, die zugleich jedoch in ihrem bildlichen Potential nicht zu trennen sind von dem sie erst hervorbringenden Bilderfluss des restlichen Œuvres. »On croit à l’existence d’un symbole spécial, partiel  ; mais il n’est symbole que par rapport à l’ensemble de 408 Vgl. Vuillard, Carnets, I.2., 30r (März 1891).

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vos opérations spirituelles  ! Il faut de toute nécessité pour vivre (cette œuvre), il faut un ensemble rythmique«.409 In seine Bildpraxis verwebt er überdies andere Maler. Im Falle von Intérieur, Mère et Sœur de l’Artiste hat Patricia Ciaffa 1985 gezeigt, dass die Pose von Madame Vuillard mit großer Wahrscheinlichkeit auf jene zurückgeht, die Jean-Auguste-Dominique Ingres im Porträt des Louis-François Bertin von 1832 (Abb. 61) ins Bild gesetzt hatte.410 In beiden Gemälden ist die Sitzfigur als dunkles, unerschütterliches Massiv gegeben, welches bullig das Bild dominiert. In resoluter und überzeugter Pose ist der Vorderkörper leicht nach vorne aufgerichtet, die Hände sind massiv stabilisierend auf die Knie gestützt. Es ist ein Sitzen, welches seine stoische Unerschütterlichkeit aus dem selbstbewusst breit Raumgreifenden bezieht, das durch die aufgestützten Hände jedoch zugleich signalisiert, jederzeit zur Tat schreiten zu können. Vor allem die breit aufgestellten Füße Madame Vuillards zeigen in Kombination mit dem nach vorne geneigten Oberkörper eine leicht dynamische Note, und sie wirkt dadurch aktiver als Bertin. Der Blick der Figuren geht beide Male, sich zu keiner Regung bemüßigt fühlend, frontal aus dem Bild hinaus. Susan Sidlauskas und Francesca Berry haben die Rezeption durch Vuillard im Hinblick auf ihre Gender-Fragestellung als Indiz für die Eliminierung der Weiblichkeit gewertet.411 Tatsache ist, dass 409 Vgl. Vuillard, Carnets, I.2., 30r (März 1891). 410 Vgl. Ciaffa 1985, S. 204  ; die Forschung ist ihr hierin gefolgt, vgl. exemplarisch Sidlauskas 1997, S. 91  ; Salomon et al. 2003, Bd. I, S. 288 f.; Akat. Vuillard, Washington/Montreal/Paris/London 2003, S. 142 f.; Berry 2011, S. 72. 411 Vgl. Sidlauskas 1997, S. 91 und 97  ; Berry 2011, S. 72, hier taucht auch das psychoanalytische Schlüsselmotiv derartiger Deutungen auf  : »[…] the maternal body in this painting appears to be suprisingly authorative  ; one maight say, phallic.« Der Gender-Ansatz Sidlauskas’ führte zu einer entsprechenden Deutung des Werks von Vuillard. Ausgehend von den biografischen Überlieferungen zu Vuillard geht diese in den 1990er Jahren der Frage nach Vuillards Verhältnis zu den Frauen, genauer den Frauen seiner Familie nach. Vuillard lebte als Junggeselle bis zu deren Tod 1928 mit seiner Mutter zusammen, bis 1895 war auch die Schwester Marie Teil des Haushaltes, und Vuillards lebten gemeinsam in einer Wohnung, die zugleich das Schneider-/Korsettatelier der Mutter war. Aus einer psychoanalytischen Warte ergäbe sich das Bild eines Künstlers, der anscheinend in der emotionalen Individuation von der Mutter gescheitert und in der Folge ohne ernsthafte eigene Beziehung zu einer anderen Frau lebte und seine derart gestaute libidinöse Energie in ausgerechnet um die Welt der Mutter kreisenden Kunstwerken sublimierte. 1997 deutet Sidlauskas das Gemälde als Zeugnis über Vuillards Beziehung zu Mutter und Schwester, Frauen respektive der Sphäre des Weiblichen im Allgemeinen. Die kompositorische Bildanlage wird ähnlich wie von Mauner als spannungsvolle polare Setzung gedeutet. Allerdings geht es Sidlauskas gar nicht so sehr um die Beziehung zwischen den beiden Frauen als vielmehr um die jeweilige Beziehung des Malers zu Schwester und Mutter. Mit der Mutter verbinde ihn eine – vermutlich ödipal geprägte – Spannung, mit der Schwester, wird spekulativ in den Raum gestellt, womöglich inzestuöse Neigungen  ; das Verhältnis unter den Frauen sei aufgrund der massiven Dominanz der Mutter zwangsläufig repressiver Natur. Im Ergebnis heißt dies, »Mme Vuillard was masculinized and de-faced into objecthood by her son, her daughter was not so much feminized as both dehumanized and desexualized.« (Sidlauskas 1997, S. 97) Die ästhetischen Mittel habe Vuillard vom Intimen Theater. Weiterhin heißt es  : » The painter’s suppressions of the feminine were likely less programmatic and more unconscious  :

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Abb. 61  Jean-Auguste-Dominique Ingres, Louis-François Bertin, 1832, Öl auf Leinwand, 116 x 95 cm, Musée du Louvre, Paris

Vuillard offenbar nicht davor zurückgeschreckt ist, eine solche weitreichende Transformation – als Vorbild für die Darstellung seiner Mutter ein einschlägiges Männerporträt zu wählen – in seiner Bildrezeption vorzunehmen. In ihrer Besprechung hat Sidlauskas zudem auf detailbezogene Parallelen zwischen Vuillards Intérieur, Mère et Sœur de l’Artiste (Tf. 36) und Intérieur (Le Viol) von 1868/69 (Abb. 62) von Edgar Degas hingewiesen. Sie sieht eine Analogie bei der Konstruktion ästhetischer Bildgrenzen, und zwar zwischen der mit dem Rahmen des Spiegels verschmelzenden Lampe bei Degas und der mit dem Türrahmen verschmelzenden Flasche bei an activation of widely held anxieties about female sexuality as experienced through the complex intimacies of a female-dominated family.« (Sidlauskas 1997, S. 109) Richtig ist mit Sicherheit, dass die Werke Vuillards eine kulturhistorische Prägung der jeweiligen zeithistorischen Konstruktion von Weiblichkeit tragen. Kuenzli hat allerdings vehement dafür argumentiert, in Vuillard nachgerade einen Vorkämpfer weiblicher Emanzipation zu sehen. (Vgl. Kuenzli 2010a.) Berry wiederum hat, ähnliche poststrukturalistische Positionen heranziehend wie Sidlauskas, die Figur der Mutter aufgrund ihrer männlichen Sitzhaltung als phallisch nahegelegt  ; dadurch, dass sie aus dem Bild auf den Maler sehe, erhalte dieser »the longed-for object of desire  : the lost maternal gaze« (Berry 2011, S. 73). Alleine dieses Panoptikum an widerstreitenden Deutungen mag nachvollziehbar machen, dass ich die psychoanalytisch-poststrukturalistische Deutung an dieser Stelle für wenig hilfreich erachte.

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Abb. 62  Edgar Degas  : Intérieur (Le Viol), ca. 1868/69, Öl auf Leinwand, 81,3 x 114,3 cm, Museum of Art, Philadelphia

Abb. 63  Marie Looking under her Bed, ca. 1893, Öl auf Papier, auf Leinwand aufgezogen, 26 x 35,9 cm, Privatsammlung (IV-135)

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Vuillard. Zudem streift sie den Vergleich der beiden Raumkonzeptionen  ;412 eine verwandte Raumsituation wiederum sehen Salomon und Cogeval zwischen Degas’ Interieur und dem ebenfalls 1893 entstandenen Marie Looking under her Bed (Abb. 63) von Vuillard.413 Taucht doch hier die Raumanlage samt Bett, ebenso wie sie Degas’ Gemälde zeigt, auf. Der Kontrast zwischen einer zusammengesunkenen Figur, die sich offenbar am liebsten dem Anblick entziehen würde, und einer weiteren, ostentativ und unbeirrt stehenden Figur, bei Degas im Vordergrund, bei Vuillard im Hintergrund.414 Entgangen ist der Forschung bislang die über das von Sidlauskas Erwähnte hinausgehende Parallele zwischen Degas’ Intérieur und Intérieur, Mère et Sœur de l’Artiste.415 Stellt man sich das Gemälde von Degas achsengespiegelt vor, wird diese deutlich. In beiden Kompositionen dominiert ein schräger Raumausschnitt, der sich aus einer Rückwand ohne Öffnung und einer schräg in die Bildtiefe fluchtenden Wand ergibt. Die Wände des Raums sind mit einer kleinteilig gemusterten Tapete verkleidet. Beide Werke zeigen die Kombination einer stehenden Figur, die die gesamte Bildhöhe durchmisst, mit einer sitzenden, wobei beide in klaustrophobischer Raumsituation aneinandergekettet und dabei jedoch maximal in sich gekehrt und nicht aufeinander bezogen zu sein scheinen. Selbst das achtlos hingeworfene weiße Tuch findet sich bei Vuillard wieder. Der Vergleich beider Bilder ist, ebenso wie die Rezeption von Ingres’ Porträts, zunächst kontraintuitiv. Denn in Intérieur, Mère et Sœur de l’Artiste haben sich die Kräfteverhältnisse gänzlich verschoben. Einen männlichen Akteur gibt es nicht mehr, überhaupt ist die (sexuelle) Liebesthematik völlig getilgt  ; die dominant-aggressive Pose des Mannes bei Degas wird bei Vuillard überdies zur geduckt-passiven Haltung Maries umformuliert. Ja, hier kommt Ingres ins Spiel, nicht nur wird der stehenden Figur die Dominanz entzogen, sie wird im Gegenzug der sitzenden zugeschlagen und hier wiederum konstituiert durch eine Bildreferenz auf jenes Porträt von Bertin. Erhalten bleibt von Degas so die drückende und klaustrophobische Stimmung, allerdings unter vollständig geändertem Vorzeichen. Familiäre Bande ersetzen die Thematik des Paares, ebenfalls sind die Machtzentren ausgetauscht. Damit erscheint Intérieur, Mère et Sœur de l’Artiste jetzt als grundsätzlich inspiriert vom Intimen Theater. Dieses hatte angeregt zu intensiven Bildprozessen, in denen Vuillard 412 Vgl. Sidlauskas 1989, S. 236. 413 Vgl. Salomon et al. 2003, Bd. I, S. 304 f. Zu diesem Gemälde ist nur der englische Titel bekannt. 414 Salomon et al. deuten die stehende Figur als Ker-Xavier Roussel, den Ehemann Maries, und ziehen auch unter diesem Aspekt den Vergleich mit Degas’ Intérieur. Die stehende Figur ist allerdings ebenso wie die kauernde überhaupt nicht zu identifizieren. Salomon et al. sind zu dieser Deutung motiviert, da Brieffunde ergeben haben, dass das Ehepaar offenbar lange Zeit mit partnerschaftlichen Problemen zu tun hatte. Gänzlich biografisch argumentierend, deuten die Autoren daher die unheilvolle Stimmung der Werke Vuillards als Ausweis dieser Probleme. Sowohl im Ertrag als auch methodisch erscheint mir dieses Verfahren allerdings problematisch. 415 Easton nennt eine Verwandtschaft zwischen Degas und Vuillard, ohne sie jedoch auszuführen  ; vgl. Easton, 2003, S. 427. Sie hebt vor allem darauf ab, dass beide Maler intensiv mit der Fotografie experimentierten.

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vielfältig mit seinem eigenen Werk in Austausch tritt. Zudem integriert er andere Bildquellen – die Posen der Patientinnen, Ingres und Degas – in sehr freier und assoziativer Art. Das Ergebnis ist eine Reihe von bildmotivischen Rochaden und Chiasmen, bei denen jeweils Teile der atmosphärischen Anmutung der Vorbilder erhalten und neu verbaut werden, wohingegen andere Teile getilgt oder ins Gegenteil verkehrt werden. Einerseits erzielt er so eine verdichtete Stimmung des Verstörtseins, andererseits kombiniert er die Einflüsse derart komplex, dass sie nicht zu einem eindeutigen Gehalt kommen. Ganz entscheidend bei dieser Operation ist, dass Vuillard die theatralische Abgeschlossenheit, die bei Degas den Betrachter zum heimlichen Beobachter einer intimen Szene macht, aufbricht, indem der Blick der Mutter nun aus dem Bild unverhohlen auf den Maler respektive den Betrachter geht. Francesca Berry deutet diesen Blick – im Rahmen Lacan’scher Psychoanalyse – als Ausdruck der emotionalen Zuwendung der Mutter zum Sohn. Mag man dem auch nicht unbedingt folgen, so ist unbestreitbar, dass das maskenhafte Antlitz Madame Vuillards offen aus dem Bild sieht. Das hermetische Kräfteverhältnis im Interieurgemälde Degas’ wird durch die Aneignung also nicht nur auf der Ebene der Beziehung und der Geschlechter verschoben, sondern überdies geöffnet. Denn während im Bild zwischen Marie und ihrer Mutter, aufgrund der kompositorischen Zuspitzung im Bild, jenes von Mauner und Sidlauskas thematisierte Unheilvolle herrscht, besteht zudem eine weitere Achse aus dem Bild hinaus. Entgegen der ödipalen Ausdeutung dieses Dreiecksverhältnisses, wie sie Berry vorgeschlagen hat, geht es beim Blick aus dem Bild jedoch vielmehr um eine Wendung an den Betrachter und auf einer Metaebene um die Befragung des Sehens. Der ostentative Blick aus dem Bild heraus kommt einer Herausforderung gleich, die dem Betrachter demonstriert, wie prekär der Grad zwischen Sehen und verstehendem Erkennen ist. Madame Vuillards Blick aus dem Bild in Intérieur, Mère et Sœur de l’Artiste dient also weniger einer ödipalen Narration als vielmehr der Betonung der Schwierigkeit, dass das Sehen dieses Bildes weder Eindeutiges erkennen noch Narration erfassen kann, sondern einzig visuell konstruierte und vermittelte Atmosphären und Stimmungsfetzen. Das Nachleben der Werke anderer Maler in Vuillards Palimpsestwerk orientiert sich an deren affektivem Potential. Vuillards Intérieur, Mère et Sœur de l’Artiste wird dadurch in seiner beklemmenden Wirkmacht abermals untermauert, bzw. es ist gerade die Aneignung bestehender Bildformulare und die Entziehung einer abschließenden Bedeutung, die diese Wirkung hervorbringt. Analog zur Metapher eignet auch dem Interieurgemälde eine komplexe assoziative und widerstreitende Struktur, die die Unmöglichkeit einer vollständigen begrifflichen Auflösung birgt. Zur Rezeption kunsthistorischer Vorbilder und der Arbeit mit anderen interpikturalen Referenzen lässt sich abschließend Folgendes feststellen. Sowohl bei den dekorativen Arbeiten wie auch bei den Interieurszenen ist eine intensive Rezeption anderer Gemälde zu verzeichnen. Zuallererst dient dies offenbar der Verdichtung und Potenzierung der von Vuillard in seinen Werken anvisierten emotionalen Valenz. So ging es bei den Dekorationen für die Desmarais um einen Dreiklang aus heiterer Betriebsamkeit (oberes Register), dem modernen Sehnsuchtsort des Gartens (mittleres Register) und einer ehemals arkadischen Landschaft, die ihr Pendant im großstädtischen Park findet (unteres Register). Allerdings

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vereint Vuillard Positionen, die einander so sehr widerstreiten, dass keine verschliffene, sondern die widerständige Harmonie eines Stimmungspalimpsests entsteht. Im Intérieur, Mère et Sœur de l’Artiste wiederum stand die verstörende Atmosphäre menschlicher Existenz und die Tragik des Alltäglichen im Fokus. Vuillard erzielt auch hier kein semantisch kohärentes Gemälde. Vielmehr integriert er die emotionalen Werte der anderen Werke in seine Arbeit, lässt zugleich aber den Verweis auf ihre Herkunft dezidiert unverborgen und unterlässt eine restlose Verschleifung der einzelnen Bildelemente. In anderem Zusammenhang erfasst Klaus Krüger dies als Ergebnis einer Bildpraxis, in der »Traditionsanleihen nicht mehr in hergebrachter Weise zum System einer mimetisch plausiblen und in der Kohärenz auch psychologischer Bezüge glaubhaften Repräsentation«416 zusammengefügt werden. Es war Vuillard nicht darum zu tun, einen möglichst immersiven Effekt zu erreichen, als vielmehr den Rezipienten mittels Brechungen und teils konträrer Verwendungen von Vorbildern zu einer Reflexion über seine Wahrnehmungserfahrung zu zwingen. Wenn eingangs die Frage gestellt worden ist, ob eine interpikturale Auseinandersetzung mit der Tradition bei Vuillard erkennbar ist, so ist dies klar zu bejahen. Des Weiteren stellt sich die Frage, inwiefern die Rezeptionsstrukturen mit dem Diskurs der mémoire in Verbindung stehen. Baudelaire hatte hierfür die Metapher des Palimpsestes als Modus und Ergebnis der Aneignung vorgeschlagen. Identitätspsychologisch markiert diese Metapher einen diskursiven Moment, in dem – bereits bevor die Psychologen dies tun werden – »Wirklichkeit als transitorisch konstituierte, prozesshafte Ordnung von Seinsschichten bzw. als Schichtung von Erfahrungswelten und semiotischen Formationen zu beschreiben«417 ist. Baudelaire ist es nun, der dieses psychologische Prinzip als grundlegendes ästhetisches Verfahren der Moderne etabliert.418 Indes bietet sich die Palimpsest-Metapher vor allem an als »operatives Denkmodell«419, anhand dessen die strukturellen Bildcharakteristika in Vuillards Gemälden erhellt werden.420 Entscheidend ist, dass Baudelaire nicht einfach bei der Metapher des Palimpsests stehen 416 Krüger 2005, S. 84. Krüger bezieht sich auf Manets Le Déjeuner sur l’herbe (1863). Vgl. in ähnlicher Weise auch Fried 1984. 417 Krüger 2005, S. 92  ; vgl. dazu auch Uhlig 1982, S. 88 f. 418 Vgl. zu Baudelaire etwa Stierle 1997, S. 230 f. und Jauß 1993a, S. 459. Krüger hat dieses Verfahren als paradigmatisches Bildprinzip der Moderne vorgeschlagen  : »[…] der Gedanke vom Bild als einem Palimpsest – im Sinne einer in der Darstellung konkretisierten Schichtung, Verflechtung und Durchdringung sei es zeitlich divergenter oder auch synchroner und nicht nur technisch, sondern auch und gerade kategorial unterschiedlich definierter Bilder.« Krüger 2005, S. 99. 419 Krüger 2005, S. 91. 420 Vgl. Krüger 2005 und 2007. Krüger legte erste grundlegende Ansätze dazu vor, das Palimpsest als Strukturbegriff für die Bildkünste zu etablieren. Dabei schwebt ihm mit Roland Barthes eine Vorstellung von Schichtung des Bildes vor, »die in einem kategorialen Sinn nicht auf dessen materielle, sondern auf seine mediale Struktur [bezogen ist], die inhärente Diskontinuität also nicht in der materiellen Konsistenz und Werkbeschaffenheit, sondern in der im Werk vermittelten Koexistenz heterogener Vorstellungen und Referenzen, Sinnbezüge und Imaginarien verortet.« (S. 94) Vor allem in der Literaturtheorie ist der an und für sich paläografische terminus technicus bereits vielfach theoretisiert worden, etwa bei Uhlig 1982.

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bleibt, sondern sie poetisch weiterführt, indem er sie bildlich aufbricht.421 Das per se nicht kohärent sein könnende Palimpsest weist Baudelaire nämlich zurück bzw. beschränkt es auf das historische chaotische Schriftenpalimpsest. Das eigentliche Gedächtnispalimpsest hingegen folge, wie Karlheinz Stierle schreibt, einer »unwillkürlichen Korrespondenz«422 und sei ein stimmiges, im weitesten Sinne Harmonie erzielendes Gedächtnisbild. Er spricht gar von der »poetischen Evidenz der Palimpseststruktur des Gedächtnisses«423. Mit dieser Neufassung der Palimpsest-Metapher impliziert Baudelaire Folgendes. Das Gedächtnis bewahrt einerseits sinnlich-affektive Gehalte  ; in ihrer geschichteten Zusammenschau werden sie jedoch derart überformt und gewichtet, dass es zu keiner Kakophonie kommt, sondern zu einer stimmigen Formation – und gleichwohl bleibt das Gedächtnisbild in seiner Widerständigkeit als Palimpsest erkennbar. Deutlich tritt hervor, dass die mémoire des Malers, der sich ganz im Sinne von Baudelaires Salon de 1846 gute Kunstwerke unmittelbar eingeschrieben hatten, eine gestaltende Funktion hat. Sie arbeitet imaginativ-assoziativ.424 Jauß hat entsprechend festgestellt, dass Baudelaire das Gehirn und die Erinnerung hier stark – Jauß schreibt »gewaltsam« – aus der Perspektive der »produktiven Kraft der Erinnerung« betrachtet.425 Weiterhin handelt es sich bei diesem Verfahren um ein ästhetisches, denn es führt laut Baudelaire zu einer wie auch immer gearteten Harmonie. Drittens impliziert die Metapher Baudelaires, dass in den so entstandenen Bildern ihr Palimpsestcharakter sichtbar bleibt. Die harmonische Synthese, das emotional verdichtete Gemälde, überdeckt mithin nicht die Disparatheit der Einzelelemente. Wie oben erörtert, kennzeichnet all dies auch die Werke Vuillards. Auch in seinen Gemälden existiert ein »Spannungsbezug von Aneignung und Auslöschung, von Rettung und Verlust, von Identität und Differenz.«426 Die figurative Bildkomposition, das Zitat anderer Kunstwerke und Bildformulare und deren spannungsreiche und brüchige Zusammensetzung zu einem Bild zielen auf eine Bildlogik, deren Rezeption im imaginativen Nachvollzug zu einer sich eindeutiger Hermeneutik und identitärer Bedeutung entziehender Erfahrung wird.427 Diese poetische Evidenz, die zugleich eine Disparatheit der Elemente birgt, erzeugt eine unauflösbare Spannung, die den Gemälden innewohnt und über ihre singuläre Präsenz hinaus eine medienreflexive Bildlogik begründet, wie sie für die Moderne prägend sein sollte. Denn wie Krüger schreibt, hat die Moderne ihr Spezifikum darin, dass sich das imaginäre Potential der Bilder nicht aus ihrer Relation 421 Vgl. Stierle 1997, S. 228. Bei Stierle findet sich auch der anregende Gedanke, dass die Metapher des Gedächtnispalimpsests und deren poetologische Umsetzung bei Baudelaire recht eigentlich eine paradigmatische Umsetzung des allgemeinen Prinzips der poetischen Metaphernbildung sei. Vgl. Stierle 1997, S. 230. 422 Stierle 1997, S. 231. 423 Stierle 1997, S. 232. Vgl. dazu auch Mehnert 1978, S. 21. 424 Im Zusammenhang mit Manet hat Fried bereits auf diese Deutungsdimension von Baudelaires Salon de 1846 hingewiesen  ; vgl. Fried 1998, S. 164 f. 425 Jauß 1993a, S. 459. 426 Krüger 2005, S. 83. 427 Vgl. zu Rezeption Krüger 2005, S. 89 f.

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zur wie auch immer zu definierenden Wirklichkeit ergebe, sondern »vielmehr aus jenen Bezügen, die sich zwischen ihnen selbst entfalten.«428 Mit Stierle ist hinzuzufügen, dass diese »Bezugsetzung verschiedener Schichten des Gedächtnisses [den Rezipienten  ; M.G.] mit einem System unendlicher Referenzen [konfrontiert  ; M.G.], wo jeder Augenblick in der Zeitkette alle anderen Augenblicke, die das Gedächtnis bewahrt hat, wecken kann.«429 Dadurch aber ergeben sich keine semantisch fixierten und in sich geschlossenen Sinneinheiten, sondern interpiktural aufgeladene Gefüge, die durch Überlagerung und Durchdringung stets nur zu einem relational zu formulierenden Gehalt kommen können.430 Fried hat zudem im Zusammenhang mit Manet und ebenfalls ausgehend von Baudelaire erörtert, dass es bei diesem oszillierenden Vorgang notwendig sei, dass die interpikturalen Referenzen zwar assoziativ aufblitzen, jedoch nicht die Wahrnehmung des Gemäldes überlagern  ; im weitesten Sinne müssten sie unbewusst bleiben, um nach dem Verständnis Baudelaires gelungen zu sein.431 Auch dies trifft auf Vuillard zu, denn die Verweise sind in ebenjener Art und Weise subkutan und keinesfalls als distinkte Zitate oder Anspielungen im Gemälde hervorstechend. Unterrepräsentiert ist bei all dem die Rolle der Empfindung und der Gefühle, die Dimension des phänomenalen Kunsterlebens, denn wie sich zeigt basiert diese Strategie des Palimpsestes nicht zuletzt auf der historischen Reflexion über die affektiv gesteuerte Erinnerungsassoziation, die gleichermaßen Poiesis, Werk und Rezeption prägt. Die Werke Vuillards zielen neben der Reflexion über das Wesen des Zustandekommens innerer Bilder aus der mémoire mithin auch auf die ästhetische Reflexion über das Zustandekommen und Gepräge emotionaler Bilder ab. Die Interieurszenen können deswegen nicht nur als Versuche eines Ins-Bild-Setzens dieser oder jener Emotion gelten, sondern vor allem auch als grundsätzliche Experimente über das ästhetische Zustandekommen von emotionalen Bildwerken per se. Hierzu lotet Vuillard das Zusammenspiel zwischen Wahrnehmung und den inneren Bildern der mémoire sowie deren assoziativ-affektive Funktionsweise aus.

428 Krüger 2005, S. 81. 429 Stierle 1997, S. 233. 430 Vgl. Krüger 2005, S. 81. 431 Vgl. Fried 1998, S. 165 f.

5 Coda  : »La mémoire  : une vision dans le temps«1

Bedeutet das Malen nach der mémoire also eine Wende Ende des 19. Jahrhunderts, die weg von der Wahrnehmung und hin zu subjektiven Innenwelten führt, wie sie oft mit der Kunst des Symbolismus verbunden werden  ? Heißt dies, dass die Kunst der Wahrnehmung gescheitert ist und dass all jene, die nach der mémoire malen, weil sie danach trachten, über diesen Weg nicht nur Wahrnehmung, sondern zudem verdichtete Gefühle ästhetisch umsetzen zu können, eine retrograde Wende vollziehen  ? Schließen sich Sehen und Erinnern gegenseitig aus, wie es die kunsttheoretische Polemik im Vorfeld des Impressionismus nahegelegt hatte  ? Und gibt es aus der mémoire heraus gedacht einen Weg in das wahrnehmungs- und bildreflexive Narrativ der Moderne  ? Erinnern wir uns  : 1876 hatten zuerst Edmond Duranty und wenig später nach ihm Stéphane Mallarmé in seinem Essay über Manet kategorisch gefordert, das Auge müsse alles vergessen, was es jemals gesehen habe. Es solle sich gänzlich von der Erinnerung frei machen.2 Das reine Sehen nimmt in dieser Logik nur die aktuellen Sinnesreize auf, ohne sie jedoch mit den in der Erinnerung abgelagerten Inhalten zu verknüpfen. Verhindert werden sollte so eine Überformung des Sehens durch Konventionen. Ist die Konjunktur der Erinnerung am fin de siècle also ein Rückschritt  ? Es mag so scheinen, denn die Kunstgeschichte hat die mémoire bislang kaum eines Blickes gewürdigt  ; als könne im Diskurs keine Rolle spielen, was im Narrativ der Moderne keine Rolle spielen darf.3 Auch in vorliegender Arbeit sind verschiedenen Arten des Verhältnisses von Erinnern und Wahrnehmen angeklungen. Es war die Rede von der Erinnerung, die sich im Atelier ergießt, sowie von der Erinnerung, die der aktualen Wahrnehmung eine sie sinnlich-affektiv anreichernde ästhetische Überformung hinzufügt. Dass Sehen und Erinnern im Diskurs de facto nicht scharf getrennt gedacht worden waren, wurde bei der Besprechung von Baudelaires Position deutlich. Und dass dies auch nach der Verdammung der mémoire in den 1870er Jahren weiterhin der Fall war, legen 1 2

3

Ribot 1906, S. 34. Vgl. Duranty, der John Constable wie folgt zitiert  : »Lorsque je m’assois, le crayon ou le pinceau à la main, devant une scène de la nature, mon premier soin est d’oublier que j’aie jamais vu aucune peinture.« Duranty 1876, S. 46. Mallarmé schrieb  : »Each work should be a new creation of the mind. The hand, it is true, will conserve some of its acquired secrets of manipulation, but the eye should forget all else it has seen, and learn anew from the lesson before it. It should abstract itself from memory, seeing only that which it looks upon, and that as for the first time  ; and the hand should become an impersonal abstraction guided only by the will, oblivious of all previous cunning.« Mallarmé 1876, S. 29. Nach wie vor befinden sich kunsthistorische Narrative, die die Entstehung der modernen Kunst unter geänderten Gesichtspunkten rekonstruieren und dabei etwa Kategorien des Gefühls, der Körperlichkeit oder der medialen Bedeutung von Textilem in den Vordergrund rücken, bedauerlicherweise in der Minderheit.

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bereits Prousts Metaphern der Schmetterlinge und des Spiegels in seinen Études nahe. Stehen die Schmetterlinge für die nicht greifbaren, gefühlsgesättigten Erinnerungen, so verweist der Spiegel auf die visuelle Wahrnehmung, wenngleich es ein vermitteltes Sehen ist. Vermittelt ist es, weil nicht die direkte visuelle Perzeption gemeint ist, sondern deren Erweiterung durch die Dimension des Fühlens, die die Wahrnehmung über den Weg der Erinnerungsassoziation anreichert. Das Sehen, das Proust im Sinn hat, ist offenbar kein erkennendes, sondern ein erfahrendes. Es ist kein Akt des Ergreifens oder des Begreifens, sondern des ganzheitlichen Fühlens. Dieses kommt durch einen doppelten konstruktivistischen Akt (das Gesehene und das Erinnerte sind stets nur Ketten von punktuellen Konstruktionen) zustande und formt im Ergebnis eine doppelt nicht greifbare Erfahrung.4 Doppelt, weil weder die Erinnerung noch das Gefühl fixierbar sind. Was überwiegt aber nun  ? Das Sehen oder das Erinnern  ? Ist es ein sehendes Erinnern oder ein erinnerndes Sehen  ? Auch hier hilft der Blick auf die Metaphern der Psychologen. Denn wiederholt betonen Taine und Ribot die mehr als metaphorische Verbindung zwischen Sehen und Erinnern. Ganz allgemein in Bezug auf unser geistiges Bewusstsein und abstrakt formuliert schreibt Taine  : Wenn wir mit Aufmerksamkeit auf etwas fokussiert sind, blendeten wir andere Reize aus. »En d’autres termes, nous nous constituons pour un temps dans une forme déterminée et fixe  ; les sollicitations en sens contraire, les diverses tendances qui aboutiraient à un autre état, les autres images, idées et sensations qui aspirent à se produire, demeurent à l’état naissant. La forme donnée leur est incompatible et enraye leur développement.«5 Das bewusste Ergreifen ist mithin ein künstlicher Eingriff, der zur Formfindung der Identität verhilft, jedoch die Reichhaltigkeit der psychischen Tätigkeit zugunsten der Formdistinktion unterdrückt. Diese abstrakte Erörterung wird von den Psychologen stets durch Metaphern des Visuellen und des Sehens flankiert. In Bezug auf das Selbst etwa findet Taine die eindrucksvolle Metapher einer künstlich isolierten Lichtgarbe  : A côté de la gerbe lumineuse qui est nous-mêmes, il en est d’autres analogues […] dont les jets étagés remplissent, avec la nôtre, l’immensité de l’espace et du temps. Une inimité de fusées, toutes de même espèce, qui, a divers degrés de complication et de hauteur, s’élancent et redescendent […]  ; comme une grande aurore boréale. Un écoulement universel, une succession intarissable de météores qui ne flamboient que pour s’éteindre et se rallumer […].6

Das Selbst sei nur eine Lichtgarbe, die durch die Bewusstseinstätigkeit als isoliertes konturiertes Phänomen erscheint, tatsächlich aber Teil eines feuerwerkartigen Nordlichtermeeres der psychischen Tätigkeiten sei. Sprache und Intellekt sorgen für »des formes

4 5 6

Für die Erinnerung habe ich dies in vorliegender Arbeit ausgeführt  ; für das kulturhistorische Konzept der Wahrnehmung hat Crary unter Rekurs auf Charles Scott Sherrington auf die konstruktivistische Dimension des Sehens verwiesen  ; vgl. Crary 2002, S. 272. Taine 1892, Bd. I, S. 137 f. Taine 1892, Bd. I, S. 9.

Coda  : »La mémoire  : une vision dans le temps«  |  285

persistentes«7, dahinter aber herrscht ein wahres Feuerwerk an psychischen Energien. Wenn es aber doch in der Natur der Sache liegt, dass die Aktivität der Psyche dieses Feuerwerk künstlich reduziert und »nicht sieht«, gibt es dann eine Art des Sehens, die die Gesamtheit in den Blick nimmt  ? An die argumentative Logik Taines anknüpfend, definiert Ribot in Les Maladies de la mémoire die funktionierende Erinnerung wie folgt  : »la mémoire  : une vision dans le temps«8. Da eine der Hauptthesen ist, dass die funktionierende Erinnerung die Basis einer gesunden Bewusstseinstätigkeit sei, schreibt Ribot an späterer Stelle  : »Le mécanisme de la conscience est comparable, sans métaphore, à celui de la vision. Dans celle-ci, il y a un point visuel qui seul donne une perception nette et précise  : autour de lui, il y a un champ visuel qui décroît en netteté et en précision à mesure qu’il s’éloigne de centre et se rapproche de la circonférence.«9 Er verweist damit, analog zu Taines obiger Metapher für das Selbst, auf den Umstand, dass die normale, auf einen greifbaren Bewusstseinsinhalt abzielende Erinnerung sämtliche inneren Bilder im Bewusstsein in eine formale Kohärenz bringen muss. Einerseits bedeutet dies eine Auswahl von inneren Daten,10 andererseits vor allem aber auch eine Anordnung der images in eine zeitliche Abfolge, die man sich, laut Ribot, vorstellen könne als analog zum räumlichen Sehen. Ebenso wie der Mensch im Akt des Sehens aus den Sinnesdaten eine räumliche illusionistische Ordnung konstruiert, konstruiert die normale Erinnerung eine zeitliche illusionistische (»relativement illusoire«11) Ordnung.12 Diese kann entweder eine kohärent erscheinende relativ detaillierte zeitliche Abfolge ergeben, oder aber diese Ordnung manifestiert sich in einzelnen starken images, die aus dem Strom der Bilder herausstechen, dabei aber von Randerinnerungen umgeben sind.13 In der Logik der Metapher des Sehens gedacht, ergibt die mémoire als »Sehen in der Zeit« illusionistisch konstruierte Bilder, die komponiert sind aus erkennbaren Einzelphänomenen. So verstanden, ergäbe das Malen nach der Erinnerung konventionelle Gemälde von illusionistischer Logik  : »[…] c’est que la connaissance du passé ressemble à un tableau aux perspectives lointaines, à la fois trompeur et exact et qui tire son exactitude de l’illusion même.«14. Wenn es aber darum geht, den Reichtum an sinnlich-affektiven images in den Blick zu bekommen, der jenseits der konventionellen Erinnerungstätigkeit liegt, also jenseits einer dem abendländischen Logozentrismus verpflichteten illusionistischen Sehweise und Bildfindung, was ist die Alternative  ? Ribot hatte zur Erklärung der mémoire als Sehen in der Zeit zu George Berkeleys Modell des angeborenen und erworbenen Sehens gegriffen, wonach das Sehen aus einem angeborenen Vermögen bestehe und einem erworbenen.   7   8   9 10 11 12 13 14

Taine 1892, Bd. I, S. 10. Ribot 1906, S. 34. Ribot 1906, S. 83, Hervorhebung kursiv i.O., fett M.G. Ribot 1906, S. 45. Ribot 1906, S. 43. Vgl. zum Vergleich zwischen räumlichem Sehen und zeitlichem Erinnern Ribot 1906, S. 27–30. Vgl. Ribot 1906, S. 36–42. Ribot 1906, S. 46, Hervorhebung M.G.

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In Ribots Verständnis ist der entscheidende Unterschied zwischen den beiden Modi das Ordnungsvermögen. In Bezug auf die mémoire  : Erst das erworbene Erinnern vermag die images in Richtung, Entfernung und Korrelation zu ordnen.15 Auf den sinnlich-affektiven Bilderschatz zugreifen zu können heißt also, den Akt der illusionistischen Ordnungsfunktion von Erinnerung zu suspendieren. In Analogie zum von den Impressionisten geforderten unschuldigen Auge16 könnte man von einer unschuldigen, nicht dem Begrifflichen verpflichteten Erinnerung sprechen. Diese ist es, die jenes feuerwerkartige Nordlichtmeer sinnlich-affektiven Reichtums zum Gegenstand ästhetischer Reflexion machen kann. Es fällt nicht schwer, die sinnlich überreichen Werke Vuillards in ihrer ästhetischen Verdichtung als einen solchen Versuch zu identifizieren. Wie kam es zu dieser Verschiebung der Metaphern  ? Einerseits hatten Malerei und Psychologie erkannt, dass es das unschuldige Sehen gar nicht gibt, da Wahrnehmung immer schon mental überformt wird. Andererseits, und dies zu zeigen war eines der Ziele dieser Arbeit, hatte sich vor allem die Vorstellung von Erinnerung derart differenziert, dass sich die Suche nach dem Ort in der Psyche, an dem jene Eindrücke entstehen, die ästhetisch fruchtbar sind, von der Wahrnehmung in den Bereich der mémoire verschob. Damit wird jene von Mallarmé mit angestoßene Opposition zwischen »Malen vor der Natur« und »Malen nach der Erinnerung« hinfällig. Kein Geringerer als Henri Matisse erinnerte sich rückblickend an diese Ablösung des Wahrnehmungsparadigmas, des unschuldigen Auges. Er berichtet  : I’m from a generation where everything had to come from sensations, experienced in nature and rendered immediately, thus without relying on memory. Everything that was added, after the sitting, was called »painting from memory« [de chic17], which was bad. […] In my youth, then, when you left your easel, you took with you a feeling of happiness or unhappiness depending on whether it had gone well or not so well, but you lost all contact with the painting under way. For that matter, painters would change paintings from one hour to the next, according to the modifications in the light cast on objects as a result of the sun’s movement (Manet, Marquet). You didn’t set foot in the Louvre, since you didn’t want the experience to throw you off. […] In a word, you developed by shrinking your brain, instead of the reverse.18

Der Topos des unschuldigen Auges hatte sich als haltlos erwiesen und wurde ersetzt durch die Suche nach einer Anreicherung durch eine jenseits des Alltagsgebrauchs liegende 15 Vgl. Ribot 1906, S. 33 f. 16 Die Forschung zum Konzept des »unschuldigen Auges«, welches auf John Ruskin zurückgeht und diskursives Hauptmovens für die Herausbildung des Impressionismus war, findet sich bei Autret 1965, S. 77 f.; Gamboni 2000, S. 54  ; Junod 1976, S. 157–163  ; Lamer 2009. 17 Matisse bezieht sich hier auf Baudelaires Begriff des chic, mit dem dieser im Salon von 1846 das stumpfsinnige, schöpferisch unfähige, rein kopierende Erinnerungsvermögen disqualifiziert hatte  ; vgl. die Ausführungen in Kap. 3.1. 18 Zit. nach Bois 1994, S. 69, Fett-Hervorhebung M.G., Kursiv-Hervorhebung i.O.

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Erinnerung.19 Ziel war nun nicht mehr, das Sehen von der Erinnerung zu trennen, sondern das Wahrgenommene in seiner komplexen Verschmelzung mit Empfindungen und sinnlich-affektiven Assoziationen, aus der mémoire automatisch zugespielt, als Vorwurf der Bildfindung zu gewinnen. Und Vuillard war einer jener Maler, die bereits in den 1890er Jahren an dieser Schnittstelle operiert haben. Ähnlich bewegte sich, wie Wittmann gezeigt hat, Claude Monet auf der »Suche nach bereits gesehenen und erlebten Augenblicken und deren ins Bild gesetzte[r] Epiphanie«20. Monet begründete diese Rückkehr ins Atelier und das Wiederfinden des Gesehenen in der Erinnerung ganz analog zu Vuillard mit dem Wunsch nach einem emotional angereicherten Bild  : »se retrouver face à face avec la émotion, avec la même émotion, avec la même volonté de l’inscrire sur sa toile.«21 Wie gezeigt wurde, ging es Vuillard um jene Erinnerung, die begrifflich und abstrakt noch nicht von ihrer sinnlich-affektiven Substanz bereinigt worden war. Und wie Ribot betont hatte, ist dieser Vorgang »sans métaphore« als Sehen vorzustellen. Entsprechend der Herleitung über Berkeley handelt es sich damit um ein mentales »Sehen«, das gleichermaßen nach außen wie nach innen gerichtet ist und dabei dem Modus des Unschuldigen entspricht, also nicht ordnet, nicht fokussiert, nicht begreift, nicht Räume und Dinge in zeitlicher Distanz zueinander sieht.22 Vielmehr blendet die unschuldige Erinnerung alles – innere und äußere Bilder – in einer Ebene zusammen und lässt es in ein unfokussiertes Amalgam sinnlich-affektiver Verdichtung zusammenfließen.

19 Vgl. dazu auch Boehm 1985, S. 48. Vgl. zur Rolle der Erinnerung bei Henri Matisse und den späten Werken von Pierre Bonnard Elderfield 1998, S. 47, zu Matisse alleine vgl. Dittmann 2008. 20 Wittmann 2004, S. 225. Auch Wittmann greift zur Erhellung des Begriffs Epiphanie, verstanden als auratische Erscheinung, zurück auf die Ästhetik des Erscheinens von Martin Seel (2003). 21 Zit. nach Wittmann 2004, S. 222. Bereits 1985 hatte Gottfried Boehm hierfür thesenhaft skizziert  : »Monet beginnt Konsequenzen aus dem Impressionismus zu ziehen, ohne die Grundsätze seiner Motivzuwendung zu ändern. […] Monet male aus der ›Erinnerungssicht‹. So werde die ›Natur selbst‹ zu einer ›seelischen‹ Materie […], einer solchen, die dem Fluktuieren und Vagieren der eigenen Erinnerung gleicht. Ist es nicht der gleiche Strom  ? Die Erinnerungsarbeit des Auges versucht jetzt nicht länger, unterscheidbare Zeitphasen auf ihre fruchtbare Gegenwart hin zu integrieren. Wir haben es eher damit zu tun, dass ein Bilderstrom unendlich vielschichtiger zeitlicher Beschaffenheit aufsteigt, dass wir am Strömen des erinnernden Bewusstseins selbst anschaulich teilhaben. Dieses Strömen gibt dem Bild auch seine Struktur.« Boehm trifft damit in Grundzügen, was de facto dem historischen Erinnerungsdiskurs inhärent war und in vorliegender Arbeit strukturell und metaphorologisch rekonstruiert worden ist. Zit.: Boehm 1985, S. 48. 22 Hier sei erneut verwiesen auf den Roman Dr. Berkeley’s Discovery (1899), auf den Sabine Haupt in ihrer Forschung aufmerksam gemacht hat. Die Entdeckung Dr. Berkeleys im Roman war, dass sich im Gehirn, also in der Erinnerung, tatsächlich ganz konkrete Bilder befänden, die mittels Neurologie präpariert werden könnten und so unmittelbaren Zugang zur mentalen Tätigkeit der Erinnerung gäben. Wie gezeigt wurde, ging die Verbindung von Erinnerung mit dem Sehen und hier mit der historischen Theorie George Berkeleys auf Ribot zurück. Wenn es in dem Roman also 1899 um einen Dr. Berkeley geht, der als Neurologe die Bildhaftigkeit der Erinnerung entdeckt habe, dann ist darin sehr wahrscheinlich ein Widerhall der Forschung Ribots zu erkennen. Zum Roman vgl. Haupt 2006, S. 106–108.

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Entscheidend ist jedoch, dass dies keine überraschende Abkehr weg von der Wahrnehmung und hin zu einer Art Neoklassizismus darstellt, wie es aus der Logik der obigen Opposition zwischen plein air und mémoire erscheinen könnte und wie sie die Kunstgeschichte allzu oft konstatiert, wenn sie feststellt, dass Maler dezidiert nicht mehr plein air arbeiten.23 Auch handelt es sich nicht um eine primitivistische Denkbewegung, wie jene des unschuldigen Auges, denn das Phänomen, auf das Vuillard und die anderen Künstler abzielten, stellt weniger einen ursprünglicheren Zustand dar als vielmehr einen alternativen erinnerungsgetragenen Bewusstseinszustand, wie ihn auch – in entfernter Analogie gedacht – Henri Bergson in seinen Schriften über Bewusstsein, Erinnerung und durée reflektierte. Nimmt man die mémoire in ihrer Historizität so in den Blick wie in dieser Arbeit vorgeschlagen, erweist sich die Opposition Sehen versus Erinnern als überholt. Angesichts der ästhetischen Ziele der Maler – eine mediale Umsetzung von Gefühlen ins Bild zu finden – war es nur logisch, sich über die reine Wahrnehmung hinaus an der mémoire zu orientieren. Denn gerade das Zusammenspiel von Wahrnehmung und einer spezifischen Form von Erinnerung bildet den Mechanismus, in dem bloße Wahrnehmung mit sinnlich-affektiver Substanz verdichtet und ästhetisch konzentriert wird. In diesem Zusammenspiel gelang eine ganzheitliche Erfahrung von Welt. Die Verdichtung von Wahrnehmung, inneren Bildern und Emotionen der mémoire wird zum verdichteten Erlebnismoment. An diesem Punkt trifft sich die vorliegende Untersuchung mit Jonathan Crarys kulturhistorischer Arbeit über die Aufmerksamkeit im 19. Jahrhundert, die zur Jahrhundertwende hin in das Telos der ästhetischen Erfahrung mündet.24 Crary nähert sich diesem Phänomen über die Kulturgeschichte des Sehens und der Erkundung eines zunehmend differenzierten Systems von Aufmerksamkeitsmodi. Bei jenem für die Kunst interessanten Modus dominiert ein Wahrnehmen ohne gerichtete Aufmerksamkeit. In Bezug auf Cézanne schreibt Crary, bei ihm handele es »sich vielmehr um die Apprehension einer Vielheit, in der Punkte und Relationen bei jeder Kopfbewegung qualitativ transformiert werden, wobei sich die Welt wie bei der Drehung eines Kaleidoskops (ein Bild, das sowohl Sherrington wie Bergson gebrauchen) auflöst und reorganisiert.«25 Und dieses multiple, prozessual überformende, kaleidoskopartige Sehen, wie es Crary beschreibt, entspricht, so der abschließende Ausblick dieser Arbeit, dem erinnernd angereicherten Sehen, wie es hier aus der Perspektive des Mémoire-Diskurses rekonstruiert worden ist. Mit der Psychologie der mémoire gedacht, entspricht Crarys Beschreibung dem psychologischen Vorgang der frei fließenden inneren Bilder, der einzig im Moment der unfokussierten Wahrnehmung als ästhetische Erfahrung erlebbar wird. Wie bei den Werken Vuillards besprochen, zeichnet 23 Zuletzt war dies der Fall in der Corot-Forschung, wo Vincent Pomarède nach seiner Entdeckung der Bedeutung der Erinnerung für Corot postwendend schloss, dass dies das Verständnis Corots als Vorreiter der Schule von Barbizon und also der Moderne relativiere. Denn recht eigentlich rette sich mit dem Malen nach der Erinnerung ein Stück idealistische Kunstauffassung in die Moderne. Vgl. Pomarède 1998, S. 426 f. 24 Vgl. Crary 2002. 25 Crary 2002, S. 280.

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sich diese Erfahrung aus durch die stetige Oszillation zwischen Sinneswahrnehmung und begrifflicher Objekterfassung. Es geht im Kern um dieses Spiel des Bewusstseins, das in einen endlosen Prozess aus hin und her kippenden Wahrnehmungen eintritt, die jeweils neue flackernde »gerbe limineuse« (Taine), also sinnlich-affektive Bilder aus der Erinnerung assoziativ aufrufen. Diese wiederum beeinflussen die Wahrnehmung, und so entstehen stets neue Ansichten vom und Einsichten in das Objekt und dessen Verfasstheit. Die Debatte über die Erinnerung hatte die reine Wahrnehmung der Impressionisten zu einer verdichteten Erfahrung angereichert. – Um auf das eingangs erwähnte Narrativ der Moderne zurückzukommen  : Da dies allesamt im historischen Diskurs metaphorisch bildlich gedachte Prozesse sind, ist damit auch immer eine Selbstreflexion des Bildes verknüpft. Damit wäre der zweite thesenhafte Ausblick, dass es den Anschein hat, als müsse das Malen nach der mémoire als eines der Scharniere verstanden werden, das in eine phänomenologisch inspirierte Moderne überleitet.

6 Resümee und Ausblick

»Il faudrait, pour qu’une théorie scientifique fût définitive, que l’esprit pût embrasser en bloc la totalité des choses et les situer exactement les unes par rapport aux autres  ; mais, en réalité, nous sommes obligés de poser les problèmes un à un, en termes qui sont par là même des termes provisoires, de sorte que la solution de chaque problème devra être indéfiniment corrigée par la solution qu’on donnera des problèmes suivants […].« Henri Bergson  : L’Évolution créatrice, 19071

Ausgangspunkt dieser Arbeit war die Frage nach den Ursprüngen für die Ästhetik der Werke Édouard Vuillards, welche zwischen 1890 und 1900 geschaffen worden sind. Insbesondere das von Vuillard in seinen carnets formulierte Ziel, Empfindungen und Gefühle ins Bild zu setzen, ist noch nicht in seiner Historizität und seiner Korrelation zur Ästhetik untersucht worden. Die Konsultation der Tagebücher des Malers ergab, dass Vuillard sich seinem Ziel über den Weg der Introspektion näherte und hierbei insbesondere die Rolle der mémoire im malerischen Prozess befragte. Damit formuliert er einen Ansatz, der dem zeithistorischen Diskurs entstammt und bislang noch nicht hinreichend erforscht ist. In diesem Sinne musste die implizite ästhetische Evidenz der Werke Vuillards durch die Rekonstruktion des Diskurses unter Zuhilfenahme der Metaphorologie nachvollziehbar gemacht werden. Daraus resultierte zudem das Ziel, die generelle Relevanz der Rolle der mémoire in der Kunst der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Erinnerung zu rufen. Ist sie bereits in der Antike und der rhetorischen Tradition in Bezug auf die Künste von Bedeutung gewesen, so erfährt sie im 19. Jahrhundert eine auf die Moderne vorausweisende Theoretisierung. Daraus ergab sich für die vorliegende Arbeit ein zweigleisiger Zuschnitt. Einerseits sollte der Diskurs rekonstruiert werden, andererseits eine Interpretation der Kunstwerke erfolgen. Da die Kunstwerke nicht als simpler Niederschlag des Diskurses verstanden werden, sondern als Artefakte, die ihrerseits einer dem Medium und dem Werk inhärenten Logik folgen, überlagert sich in vorliegender Arbeit die Rekonstruktion des Diskurses mit der Erörterung der Werkentwicklung  ; dabei ergeben sich Schnittmengen, Querverweise und Befruchtungen, keinesfalls jedoch eine nahtlose Deckungsgleichheit beider Teile. Die historischen Debatten mitsamt ihrer Metaphorologie wurde ausgehend von Charles Baudelaire, Jean-Baptiste Camille Corot sowie den psychologischen Positionen Hippolyte Taines und Théodule Ribots rekonstruiert. In den kunstkritischen Schriften Baudelaires ließ sich das Fundament für die Diskursentwicklung der folgenden Jahrzehnte identifizieren. Er setzt mémoire und Imagination in eins und verbindet dabei bereits in den frühen Schriften die Erinnerung mit seinen ästhetischen Idealen. Die bei ihm bereits spürbare 1

Bergson 1981, S. 207 f.

Resümee und Ausblick  |  291

aus der Introspektion abgeleitete Theorie führte zudem zu einer neuartigen Konzeption des Zusammenspiels von Wahrnehmung und Erinnerung  ; dieses zielt vornehmlich auf die Verarbeitung von sinnlich-affektiven Bewusstseinsgehalten ab. Ebenfalls deutet sich die diskursive Verbindung von mémoire und Bild an, die später durch die Psychologie vertieft werden wird. Insbesondere schafft Baudelaire eine produktionsästhetische Vorstellung davon, wie das Malen nach der mémoire vorzustellen sei. Daraus resultierte eine Reihe von ästhetischen wie auch gefühlsmäßigen Charakteristika einer solchen Malerei. Corot wiederum bezieht mit seinem späten Werk eine einflussreiche künstlerische Position des Malens nach der mémoire. Da diese Strategie auch bei Corot dem Ziel dient, Gefühle in seinen Kunstwerken zu verhandeln, ist er insbesondere durch diese Motivation mit Vuillard verbunden. Corot liefert mithin weniger theoretische Aspekte, sondern ein ganz konkretes Werk, das denselben Zielen folgt wie Vuillard und hierbei ebenfalls zur Erinnerung als Strategie greift. Dabei bildet Corot eine ästhetische Charakteristik aus, die stärker als die von Baudelaire entwickelte auf Vuillard vorausweist  : Mit der Erinnerung als Medium des Gefühlvollen verbindet sich eine Ästhetik des Vagen, die an den Grenzen von Formauflösung und Gegenstandsdarstellung operiert. Diese Sicht auf Corot ist in Kritiken auch um 1900 noch virulent. Grundlegend bei Corot wie Baudelaire ist, dass die Erinnerung keinesfalls simples mimetisches Werkzeug ist, sondern eigenständigen und konstitutiven Anteil an der Ästhetisierung von Welt hat. Speist sich von Baudelaire her der Diskurs mit systematischen Weichenstellungen, fügt Corot ihm seine ästhetische Position hinzu. Das ursprünglich romantische Konzept der Erinnerungslyrik und -literatur erfährt damit durch Baudelaire und Corot eine Transformation, die den Diskurs der Moderne einleitet. Diese grundlegenden Positionen erleben ab den 1870er Jahren eine Weiterentwicklung in einem Diskurs, der maßgeblich von den Psychologen Taine und Ribot geprägt ist. Diese integrieren die älteren Positionen in ihre Theorien, betten sie damit aber ein in eine völlig neue Konzeption von Psyche und Subjekt. Dies überformt wiederum die von Baudelaire proklamierte Ineinssetzung von Imagination und Erinnerung. In zweierlei Hinsicht brachte Taine gravierende Neuerungen ein. Zunächst wertet er das image innerhalb der Psyche radikal auf. Dann verzeitlicht er das Selbst, indem er metaphysische Einheiten von Seele und Geist zurückweist und stattdessen ein sich prozessual und performativ hervorbringendes Selbst vorschlägt. Ribot wiederum erklärt zum Dreh- und Angelpunkt dieses fragilen Konstrukts die mémoire, die zwar ihrerseits konstruktivistisch verfasst ist, dabei jedoch abhängig von psychologischen Theorien der Kohärenz entweder als Garant einer stabilen Identität, verstanden als Form, dient oder Quelle pathologischer Störungen ist. Innerhalb dieser Beschäftigung erkennt Ribot die immense Rolle der Gefühle im psychischen Apparat. Er identifiziert in ihnen den Auslöser für Assoziationen, die gleichermaßen der Erinnerung, der Kreativität, der Wahrnehmung etc. unterliegen. Insofern kulminiert der Diskurs in der Frage nach einer rein gefühlsmäßigen Erinnerung, der mémoire affective, die in jedweder Hinsicht vom Verstandesmäßigen, Bewussten und Sprachlichen abgeschnitten ist. Weder vermag sie durch das Bewusstsein gesteuert zu werden noch enthält sie zeichenhaft strukturierte Inhalte. Sie folgt affektiven Gesetzen und birgt sinnlich-affektive Inhalte.

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In einem kleinen Exkurs sei hinzugefügt, dass die Rekonstruktion der Konzepte der mémoire ganz ähnliche Strukturen und Fragestellungen hervorgebracht hat, wie sie auch in der modernen Psychologie und heutigen Neurowissenschaft verhandelt werden.2 Allerdings sind Arbeiten, die die Neurowissenschaft in ihrer fachhistorischen Dimension beleuchten, noch rar.3 Bekannt ist aber, dass in den 1960er Jahren Wilder Penfield die Epilepsie und die Rolle der Erinnerung in diesem Zusammenhang untersuchte.4 Eine These war, dass Störungen des Erinnerungsvermögens, also eine nicht kohärente Anordnung der Erinnerung und deren mangelnde kognitive Kennzeichnung als Erinnerung – im Gegensatz zu realen Ereignissen in der Jetztzeit –, die Ursache für Epilepsie sein könnten. Damit erforschte er nahezu präzise die Thesen Ribots. In den Studien Penfields, die methodisch natürlich avancierter waren als Ribots rein spekulatives Vorgehen, wurde das Phänomen untersucht, dass es Menschen gibt, die Begebenheiten und Gefühle so erinnern können, als seien sie absolut real. Eine mögliche Erklärung Panfields war laut Andrew Wickens, dass »these memories flowed in what he [Penfield  ; M.G.] called the stream of consciousness – analogous to a film in the inner mind where sensory images and thoughts are projected› on the screen of man’s awareness.«5 Das hörte sich um 1900 bereits ganz ähnlich an. Penfield nahm allerdings eine alle Details absolut speichernde Erinnerung an, worin ihm weite Teile der folgenden Forschung widersprechen. Man geht aktuell hingegen – auch hier sind die Psychologen des 19. Jahrhunderts bestätigt – von einer konstruktivistischen Tätigkeit der Erinnerung aus. Noch heute gelangen immer wieder Ergebnisse an die interessierte Öffentlichkeit, die das konstruktivistische bzw. schöpferische Prinzip der Erinnerung als erschütterndes »Sensationsergebnis« vermitteln. Bahnbrechend waren die Arbeiten der US-amerikanischen Psychologin Elizabeth Loftus in den 1970er Jahren, die, ausgehend von der Frage nach der Glaubwürdigkeit von Augenzeugenberichten, die Funktionsweise der Erinnerung kritisch in den Fokus nahm. Seit den 2000er Jahren entfalten diese Themen ihre volle Tragweite  ; zu nennen sind die Forschungen von Daniela Schiller (Icahn School of Medicine at Mount Sinai, New York) und jüngst Das trügerische Gedächtnis von Julia Shaw.6 Ähnliches verhandelt Douwe Draaisma in Halbe Wahrheiten. Vom seltsamen Eigenleben unserer Erinnerung.7 Die These der assoziativen Konstruktionsleistung der Erinnerung aufgrund von sinnlich-affektiven Assoziationen ist heute state of the art.8 Auch die besondere Verbindung von Gedächtnis und Emotion, wie sie Ribot bereits

2 3 4 5 6 7 8

Vgl. dazu exemplarisch Schmidt 1991  ; Assmann 1999  ; Tadié et al. 1999. Ein Beispiel für die wissenschaftshistorische Aufarbeitung der Neurowissenschaften ist Hagner 1999. Vgl. Wickens 2015, S. 329 und zu weiteren Erörterungen von Penfields Erinnerungsforschung Winter 2012, S. 75–102. Wickens 2015, S. 329. Shaw 2016a. Shaw führt darin für die Tätigkeit der Erinnerung das bezeichnende Wort »confabulieren« ein. Draaisma 2016. Vgl. die Ausführungen Shaws in einem Interview mit dem Tagesspiegel vom 10. Oktober 2016. Vgl. Shaw 2016b.

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annahm, ist heute vielerorts erforscht worden.9 Die Reaktion heute wie vor über hundert Jahren ist Verunsicherung. Anders betrachtet  : Obwohl dies seit über hundert Jahren von der Forschung angenommen wird, will es offenbar nicht in den common sense eingehen.10 Der Widerstand gegen eine nicht verlässliche Erinnerung ist nach wie vor virulent, und damit ist die Jetztzeit Teil der von Terdiman als memory crisis identifizierten Kulturkrise.11 Hervorzuheben ist, dass die Forschungen nicht nur fachintern erneut vormals gestellte Fragen verhandeln, sondern dass die heutige Debatte Spuren des gesamten historischen Diskurses trägt. Ebenso unterscheidet man bis heute, ganz im Sinne Baudelaires, zwei Arten von Erinnerung, eine faktische und eine episodische.12 Die faktische erinnert konkrete Dinge und Fakten (das, was Baudelaire abwertend als Almanach bezeichnete), die episodische hingegen beinhaltet Geschehnisse mit temporaler Dimension. Diese Erinnerung ist überwiegend visuell, narrativ, sinnlich, perzeptuell und affektiv und entspricht damit jener, die den Maler in seiner naïveté vorantreibt und der art mnémonique zugrunde liegt.13 Zurück zum Resümee. Wenn zutrifft, dass die mémoire das umfasst, was bisher als von ihr getrennte Imagination gedacht wurde, dann wurden im 19. Jahrhundert nicht nur die Bezeichnungen oberflächlich vertauscht, sondern es hat ein Paradigmenwechsel stattgefunden. Denn im Gegensatz zur Imagination, die im Kern für ein gesundes Subjekt nicht notwendig ist, zählt die Erinnerung zu den für das Subjekt konstitutiven Elementen. Wenn die Erinnerung nun auf einmal die Funktionsweise und Beschaffenheit der Imagination annimmt (sinnlich-affektive Inhalte, kreativ-konstruktivistisch, bildhaft), ändert sich die Problemlage der bildenden Kunst fundamental. Einerseits entfällt das Problem der Übersetzung von sprachlich-begrifflichen Bewusstseinsinhalten in die bildende Kunst, das notwendig zu Modellen der Repräsentation führte. Andererseits muss das Bild nicht mehr die Qualitäten von Begrifflichkeit (Klarheit der Form, Präzision, Aussage etc.) nachahmen. Vielmehr sind das Bild und dessen sinnliche Veranlagung auf einmal zum ursprünglichen Material des Subjekts geworden. Das Bild muss damit nicht mehr etwas ursprünglich sprachlich Verfasstes darstellen, sondern bewegt sich mit seiner   9 Vgl. hierzu auch die Hinweise in Hartmann 2010, S. 138. 10 Auch in der Forschung zur Wissenschaftsgeschichte der Psychologie und der Neurowissenschaft fehlt stellenweise das Bewusstsein für die historischen Vorläufer. So erwähnt Wickens an keiner Stelle, dass Penfields »Stream of consciousness«-These auf William James und dass die Frage nach der phänomenologischen Qualität von Erinnerungen auf Ribot und die Psychologie Ende des 19. Jahrhunderts zurückgeht. 11 Terdiman 1993. 12 Vgl. Lombardo 2014, S. 4. 13 Dieses Phänomen hat Daniel Schacter in bildgebenden Verfahren untersucht und gezeigt, dass bei den verschiedenen Erinnerungstätigkeiten unterschiedliche Hirnareale aktiv sind, die offenbar unterschiedliche Arten von Erinnerungen bereithalten resp. unterschiedlich damit umgehen. So gibt es eine assoziativ und eine strategisch strukturierte Erinnerung. Schacter war es auch, der erneut – wie bereits Ribot – »entdeckt« hat, dass die Erinnerung der Sitz der Identität sei. Dies ist meist gar nicht präsent in der Debatte, denn die Historisierung ihrer eigenen Herangehensweise wurde von der Hirnforschung noch vergleichsweise wenig betrieben. Vgl. dazu Schacter 2015 und Schacter 2001.

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medialen Verfasstheit bereits in der gleichen Sphäre wie das Innerste des Menschen. Die neue – moderne – Problemlage, die sich hieraus ergibt, ist eine der Formfindung. Wie ist der sinnlich-affektive Bilderstrom des Subjekts in eine Form zu bündeln, die ebenjener fließenden, flirrenden, kinetischen Verfasstheit gerecht wird  ? Bilder müssen nicht mehr darstellen, aussagen oder wiedergeben, sondern sie stellen sich in spezifischen Momenten ein, müssen als solche erkannt und ästhetisch fixiert werden. In der praktischen Umsetzung wird jetzt die Frage leitend, wann solche Bilder auftauchen und wie sie ästhetisch fixiert werden können. Wie erörtert ist der Diskurs über die mémoire immens geprägt von der Verwendung von Metaphern. Im Thema der Erinnerung treffen sich derart viele unterschiedliche Diskurse, dass das Denken über sie nie rein sprachlich-abstrakt (als logisch sich sukzessiv erstreckende Ausformulierung) erfolgt. Vielmehr bedarf es stets der Metapher, im Blumenberg’schen Sinn verstanden als bildhaft verdichtendes, epistemisches Element. Die Rekonstruktion dieser Metaphorologie in vorliegender Arbeit fügte der strukturellen Rekonstruktion des Diskurses jene Aspekte hinzu, die ihn unmittelbar anschlussfähig für ästhetische Fragen im Bereich der bildenden Kunst machen. Es zeigt sich auch hier, dass neben dem Prozessualen, Fließenden und Kinetischen insbesondere eben das Thema der Formfindung respektive deren Unmöglichkeit im Zentrum der Diskurse um die mémoire steht. Gewonnene Form (Stillgestelltes, Begriff, Identität) im herkömmlichen Sinne wird gedeutet als künstlicher Eingriff in das Werden der Bilder, der zwar zu einer klaren Anschauung führt, diese jedoch ihrer sinnlich-affektiven Wurzeln beraubt. Ist die bildende Kunst aber gerade hieran interessiert, so stellt sich die Frage nach der ästhetischen Umsetzung von Prozessen der Formbildung, die aufgrund der unabschließbaren Prozessualität per se keine Stillstellung finden können. Das psychische Formwerden entsteht in der mémoire, metaphorisch gedacht, als Sehen in der Zeit, womit eine bestimmte Art der Erzeugung von Bildkohärenz gemeint ist. Diese Kohärenz, die zu einem paradoxalen Festhalten von nicht stillstellbaren Bildern führt, ist als sinnlich-affektiv gesteuert erkannt worden. Die metaphorische Vorstellung der mémoire kann so zum Impuls für die Malerei werden. Die große Frage, um die der Diskurs der mémoire, der gleichermaßen Psychologie, Literatur, Kunst und Philosophie umfasst, kreist, ist mithin jene nach dem Strukturprinzip bildlichen Formwerdens mitsamt der zugehörigen temporalen und affektiven Dimension. Es konnte so das Werk Vuillards neu in den Blick genommen werden. Aus der Perspektive der Werkentwicklung Vuillards wurde zuallererst nachgezeichnet, wie sich der Maler der introspektiven Frage innerhalb seiner künstlerischen Arbeit näherte. Der Bezug auf Corots Bildnis der Marietta bot hierbei Anlass zur Befragung der Rolle von inneren Bildern. Vuillard wandte sich in seinem Werk vom Sehen der Impressionisten nicht ab. Er erweiterte es jedoch um die phänomenologische Empfindungsdimension des Sehens und vor allem die introspektive Reflexion dessen, was im Inneren anhand der inneren Bilder und Assoziationen geschieht. Die Auseinandersetzung mit dem Sujet der versunkenen Tätigkeit, als bildliche Reflexion über das Wesen von ästhetischer Wahrnehmung, sowie die damit verbundene Auseinandersetzung mit Vermeers Spitzenklöpplerin führten Vuillard

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dabei zu einer Analogisierung von Bild und Textil. Sowohl hinsichtlich des Produktionsprozesses als auch hinsichtlich der Medialität und der Rezeption versteht Vuillard seine Bildfindungen als dem Stofflichen analog. Überdies ist das Textile, anfangs metaphorisch gedacht, im Verlauf der Debatten zum ganz buchstäblichen und materiellen Inbegriff der psychischen Essenz geworden. Das Bild, verstanden als Stoff bzw. Gewebe, wird so ganz konkret zum Ausfluss ebendieses Innersten. Wo Corot die Formauflösung denkt wie eine Art silbernen Schleier, der sich über das Bild legt, reflektiert Vuillard nun seinerseits das Bild selbst als prozessuales Gewebe. Er kommt so zu einer Ästhetik, die nicht mehr nur traditionelle Gattungsformulare aufweicht, sondern eine Bildfindung sucht, die neuen, reflexiv gewonnenen Strukturprinzipien folgt. Erst jetzt findet die Reflexion dieses Innersten, mit Ribot verstanden als mémoire, statt. Die bildende Kunst verhandelt aufgrund ihrer medialen Qualität des Visuellen jene Fragen im Diskurs, die von den Psychologen nur abstrakt als Formfindung umkreist und allenfalls durch metaphorische Annäherung erörtert werden konnten. Aufgrund der Affinität der Diskurse über Psyche, Erinnerung und Bild ist die bildende Kunst nicht nur Anwendungsfeld von psychologischen Ableitungen, sondern das bildnerische Schaffen ist die paradigmatische mediale Sphäre zur Verhandlung dieser Phänomene. In der Sphäre des Bildlichen werden, analog zu den psychologischen Modellen, nicht mehr statische und referentielle Systeme (Zeichen, Abbild, Darstellung etc.) zugrunde legt. Vielmehr entsteht ein dynamisches, prozessuales System von rhythmischen und ornamentalen Formationen, das das innere Erleben sichtbar und erfahrbar macht. Dies geschieht aufgrund der unauflösbaren Oszillation zwischen Transparenz und Opazität, des spannungsvollen Zusammenspiels von Zeitlichkeit im Bild und Zeitlichkeit der Rezeption sowie unablässiger assoziativer Verweise und Überformungen. Anhand des ästhetischen Strukturprinzips der mémoire gelang es Vuillard, seine Bildfindungen zu entwickeln. Dabei inspirieren ihn einerseits die Metaphern im semantischen Feld der flirrenden Bilder, die in permanenter Mutation und wechselseitiger Durchdringung begriffen sind, und andererseits die anschauliche Vorstellung des Rhythmisch-Ornamentalen, das, mit Gumbrecht, als eine neue Art der Form verstanden werden kann  ; als eine bewegliche, nicht referentiell stillgestellte Form. Darüber hinaus ist den Werken eine spezifische Zeitlichkeit eingeschrieben. Die Gemälde bieten mithin keine Repräsentation von Perzeption  ; vielmehr sind sie ästhetische Annäherungen an die phänomenologische Dimension von Empfindungen, sie sind Anlass einer Äquivalenzerfahrung. Diese konnte nicht in einer konventionellen Form dargestellt, sondern nur in einer dynamisierten Form ins Bild gesetzt werden. Vuillard entwickelt damit die impressionistische Bildsprache der physiologisch reflektierten Momentwahrnehmung weiter. Er geht nicht hinter die formauflösende Malweise der Impressionisten zurück, praktiziert diese jedoch ohne die Aura des Momenthaften, sondern schreibt ihr deutlich eine darüber hinausgehende Dimension ein. Der als momenthaft authentisch legitimierte Impressionismus wird so seiner spezifischen Zeitlichkeit entkleidet und durch eine sinnlich-affektive Verdichtung von Zeit ersetzt.

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Vuillard gelingt damit das Paradox, die Bilder in der Schwebe zu halten und dennoch nicht zerfließen zu lassen, wie es den Impressionisten oft vorgeworfen worden ist. Obwohl Vuillard sich von der Plein-air-Malerei abwendet, die unumgänglich war, um traditionelle Seh- und Bildgewohnheiten zu überwinden, und sich wieder der Malerei im Atelier und nach der mémoire zuwendet, fällt er damit gerade nicht zurück in eine idealistische Malerei. Er schafft es hingegen, eingebettet in die psychologischen und philosophischen Diskurse, die Errungenschaften der Impressionisten beizubehalten und über sie hinauszugehen. Tatsächlich ist der radikale Akt der Impressionisten der Endpunkt einer jahrhundertelangen akademischen Malerei. Danach folgt nicht die Rückkehr zu Altem, sondern die konstruktive Neufindung dessen, was dann später ein Teil der sogenannten Moderne werden wird  : die Findung der ästhetischen Form im komplexen Zusammenspiel äußerer und innerer Bilder, begleitet und motiviert durch eine Färbung der Gefühle und Stimmungen. Über den individualpsychologischen Kontext hinausgehend, war abschließend nach dem Zusammenspiel mit der kunsthistorischen Tradition und anderen interpikturalen Verweisen im Werk Vuillards zu fragen. Auch dies war durch die Palimpsest-Metapher Baudelaires eine historisch gegebene Dimension des Diskurses. Das Verfahren Vuillards erweist sich hier als affektive Erinnerungsassoziation, die zu zwei Arten von Stimmungspalimpsesten führt. Für den Desmarais-Zyklus war die bildliche Vorstellung des Palimpsests maßgeblich. Baudelaire hatte es erörtert als sich überlagernde Schichten, welche einander durchdringen und dabei eine gleichermaßen widersprüchliche wie harmonische Durchmischung ergeben. Analog rezipiert Vuillard Vorbilder von Antoine Watteau, Puvis de Chavannes und Camille Corot und amalgamiert sie zu einem gleichermaßen widerständigen wie stimmigen Palimpsest. In Bezug auf Intérieur, Mère et Sœur de l’Artiste ergab sich, dass Vuillard hier nicht mit Stimmungsschichten arbeitet, sondern mit einzelnen Formelementen, die zu einem ebenfalls gleichermaßen widerständigen wie stimmigen Bild werden. Wo es bei der dekorativen Malerei eher um den komplexen Impuls zu einer Raumatmosphäre geht, betont Intérieur, Mère et Sœur de l’Artiste stärker – im Sinne des Wesens der Blumenberg’schen Metapher – die Unmöglichkeit einer vollständigen begrifflichen Auflösung des Gemäldes. Dem Sprachbild gleich, birgt es Elemente, die zu komplex sind und einander zu sehr widerstreiten, als dass sie restlos in sprachlich-logischer Struktur erfasst werden könnten. Was in gewisser Weise für jedes Bild gilt, wird bei Vuillard, unter Einfluss des Intimen Theaters, zum Grundthema der Kunst. Die Coda hat abschließend ein Streiflicht auf den Zusammenhang zwischen Erinnern und Wahrnehmen geworfen, der in der Arbeit zugunsten einer prägnanten Kontur des Mémoire-Diskurses ausgeblendet worden war. Erinnern und Wahrnehmen sind keine getrennten Sphären, sondern greifen in einer differenzierten Auffassung von Wahrnehmung als ästhetische Wahrnehmung notwendig ineinander. Damit weist die Debatte um die mémoire voraus auf die Phänomenologie der Moderne. Für die Ausgangsfrage Vuillards, wie es möglich sei, Gefühle in seinen Gemälden zu visualisieren, ergibt sich so eine notwendig komplexe Antwort der Historisierung. Die Frage nach den Gefühlen ließ sich weniger von einer ahistorischen Fokussierung auf die Art der Gefühle oder von deren Charakterisierung her beantworten, sondern aus den zeitgenössischen Debatten,

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in denen Gefühle ganz grundlegend in engster Verkoppelung mit der Frage nach inneren Bildern, der Erinnerung, ihrer Rolle in der Psyche und der Kreativität behandelt worden waren. Indem Vuillard an diese Themen anschließt, umkreist er nicht ein bestimmtes Gefühl, sondern vollzieht bildlich jene mentalen Prozesse nach, die als genuin sinnlich-affektiv strukturiert gegolten haben. Das Gefühl ist den Gemälden nicht als Thema oder Sujet eingeschrieben, sondern untrennbar mit den Bildstrukturen der Gemälde, mit ihrer Form verbunden. Bilder der mémoire weisen sich als verdichtete Bilder sinnlich-affektiver Empfindungsqualität aus. Die in dieser Arbeit vorgelegten Ergebnisse können Grundlage und Anstoß zu weiterführenden Fragestellungen sein. In zukünftigen Arbeiten wäre eine noch weitere Kontextualisierung wünschenswert. Auf zeitgenössischer Ebene wäre sie das insofern, als auch von vielen anderen Malern das Malen nach der mémoire im Zusammenhang mit Gefühlen und stimmungshaften Momenten überliefert ist.14 Im Hinblick auf das 20. Jahrhundert wäre dies deswegen interessant, weil dort der aus phänomenologischer Perspektive geführte Diskurs über das kreative Schaffen und damit verbunden die Erinnerung eine Hochphase hat (etwa Jean-Paul Sartres L’Imagination, 1940). Dies beginnt früh, etwa anhand des späteren Werks von Pierre Bonnard oder, intensiver erforscht, bei Henri Matisse15, und erstreckt sich gattungsübergreifend über alle Künste. Letzteres verdeutlicht das Diktum Vladimir Nabokovs aus dem Jahre 1967, in dem er auf die strikte Trennung von Gedächtnis und Fantasie in platonischer Tradition anspielt  : Ich würde sagen, dass die Phantasie eine Form des Gedächtnisses ist. Sitz, Plato, sitz braver Hund. Ein Bild hängt von der Assoziationskraft ab, und Assoziationen werden vom Gedächtnis zur Verfügung gestellt und geweckt. Wenn wir von einer lebhaften persönlichen Erinnerung sprechen, machen wir nicht unserer Merkfähigkeit ein Kompliment, sondern Mnemosynes geheimnisvoller Voraussicht, mit der sie das ein oder andere Element auf Lager gelegt hat, das die schöpferische Phantasie möglicherweise benutzen möchte, wenn sie es später mit anderen Erinnerungen oder Empfindungen kombiniert. In diesem Sinne heben beide die Zeit auf, das Gedächtnis und die Phantasie.16

Insofern wäre nicht nur in der Zeitschicht Vuillards eine großräumigere Untersuchung wünschenswert, in der sich möglicherweise gar eine Art von visueller Kultur des Erinnerungsbildes ergäbe, sondern auch hinein in die Moderne. 14 Vgl. die Hinweise in Kap. 1. In seiner Arbeit über Paul Gauguin aus dem Jahr 2014 schlägt Gamboni eine Richtung ein, die in stärkerem Maße eine Art von bildnerischem Denken Gauguins zu rekonstruieren versucht. Hierbei gerät das Zusammenspiel von Wahrnehmen und inneren psychischen Prozessen in den Fokus, also eine Perspektive, die mit jener der vorliegenden Arbeit vergleichbar ist. Indes schenkt Gamboni weder der Erinnerung noch den Gefühlen eine eingehendere Beachtung, was angesichts des Diskurskontextes erstaunlich ist. 15 Vgl. Dittmann 2008 und Elderfield 1998. 16 Nabokov 1993, S. 127  ; Interview, publ. in  : Wisconsin Studies in Contemporary Literature, Bd. VIII, Nr. 2, Frühling 1967, S. 127–152.

298  |  Resümee und Ausblick

Was die Bildung einer Theorie über den Zusammenhang von mémoire und Kunst anbelangt, wäre weiterhin eine internationale Betrachtung aufschlussreich. Denn in vielen Ländern Europas lässt sich eine Konjunktur der Erinnerung im Kontext ästhetischer Debatten beobachten. So hob Sigmund Exner in einem 1882 in Wien gehaltenen Vortrag auf die besondere Rolle ab, die Erinnerungsbilder im ästhetischen Schaffensprozess von an sich irrealen Bildern (z.B. Engeln) spielten.17 Exner ging es dabei weniger um bestimmte formale Elemente der Erinnerung als vielmehr um die assoziative Kombinatorik, die, wie man seine Position resümieren könnte, zum Verständnis kulturell geprägter symbolischer Formen notwendig sei. Wir empfinden das Motiv des fliegenden Engels als plausibel, weil unser Gedächtnis kulturell so vorstrukturiert ist, dass wir diese an und für sich kontraintuitive Darstellung ohne Widerstände visuell verstehen. Weitere prominente Denker, die das Gedächtnis als zentrales psychisches, aber auch kulturelles Phänomen verstanden haben, waren – beliebig versammelt – Paul Valéry, Henri Bergson, William James, Charles Scott Sherrington, Richard Semon und natürlich Aby Warburg. In Bezug auf die Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts wäre insbesondere das interdependente Verhältnis von imagination – rêverie – rêve – mémoire im 19. Jahrhundert eingehender zu kartografieren. Im Zusammenhang mit Corot ist evident geworden, dass es sich etwa bei rêverie und mémoire um eng verschränkte Felder handelt, deren spezifisches Zusammenspiel sich zudem im Verlauf des 19. Jahrhunderts permanent verändert. Neuerungen an einem Punkt ziehen automatisch eine Positionsverschiebung des restlichen diskursiven Netzes nach sich. Kerstin Thomas hat mit ihren Arbeiten zur rêverie den Grundstein gelegt und die Tür zu weiteren Forschungen geöffnet. Auch die von der Kunstgeschichte bis dato hervorgehobenen Diskurse der Imagination und des Traums würden derart eine bereichernde Differenzierung erfahren. Ausgangspol einer solchen Arbeit müsste die Romantik sein, von der ein Bogen bis zur etablierten Psychoanalyse am Vorabend des Ersten Weltkriegs gespannt werden müsste. Zu fragen wären hierbei nach reflexiven Ordnungskriterien, die den bisweilen allzu eng auf die Kunsttheorie gerichteten Blick erweitern. Sandra Janßen hat in ihrer Rekonstruktion von Imaginationskonzepten zur Durchmessung des langen 19. Jahrhunderts einen prägnanten Dreischritt vorgeschlagen. Philosophisch lautet dieser  : idealistisch – materialistisch – funktionalistisch. Medial gewendet lautet er  : Idee – Bild – Szenarium. Und funktionslogisch gewendet schließlich  : inventio – mémoire – Imagination.18 Die Position Vuillards ist dabei dem diskurstheoretischen Mittelschritt »materialistisch – Bild – mémoire« zuzuordnen, was aus vorliegender Arbeit deutlich geworden sein sollte. Wie der Dreischritt von Janßen impliziert, korrelieren die jeweiligen Konzepte von Imagination kulturhistorisch mit je verschiedenen Medien bzw. medialen Feldern. Man möchte hinzufügen, dass damit auch eine je unterschiedliche Konzeptualisierung von Gefühl einhergeht. So wäre mithin auch nach einer Präzisierung 17 Es besteht also der berechtigte Anlass zur Annahme, dass die Themen der Erinnerung und des Erinnerungsbildes zu Unrecht bislang von der Kunstgeschichte »vergessen« worden sind. Vgl. zu Exner und dem hier angesprochenen Vortrag Weigel 2007, S. 261. 18 Vgl. Janßen 2002, S. 209 f.

Resümee und Ausblick  |  299

des Verhältnisses zu bzw. von Medium und Gefühl zu fragen. Für den in vorliegender Arbeit in Rede stehenden Zeitraum etwa wurden durch die Neubewertung des Bildes, nicht zuletzt im Kontext der Psychologie19, die Psyche und damit auch die Gefühle als bildlich strukturiert gedacht. In einer entsprechenden Untersuchung könnte dies insofern hervorzuheben sein, als gerade die Gefühle herkömmlich als narrativ strukturiert gedacht werden und damit traditionell der Literatur nahestehen. Mit der Neubewertung der Bilder ergibt sich eine neuartige Allianz zwischen Bild und Gefühl. Es wäre zu klären, wie genau in den verschiedenen Bereichen von Psychologie, Philosophie und Kunst die Aufwertung des Bildes verläuft, die es rehabilitiert und von einem dem Pathologischen zugeschlagenen Medium zu einem der Psyche zugrunde liegenden Element werden lässt. Geht damit die Aufwertung der Imagination als mémoire einher und begründet dies in der Folge nicht nur die Sprachkrise, sondern auch eine Aufwertung des Bildes als unmittelbareres Medium für Psyche und Gefühl  ? Für die kunsthistorische Emotionsforschung wiederum ließen sich vor allem im Zusammenspiel mit einer medienreflexiven Betrachtung zentrale Aspekte zur Rekonstruktion des Verhältnisses von Gefühl und Kunst gewinnen.

19 Vgl. Rigoli 2006.

Tafeln

Tf. 1  Le Déjeuner en famille, 1899, Öl auf Karton, 58 x 91 cm, Privatsammlung (VII-36)

Tf. 2  Richard Artschwager: Recollection (Vuillard), 2004, Acryl auf Hartfaserplatte, 129,5 x 188 cm, Collection of Allison and Warren Kanders, USA

302  |  Tafeln

Tf. 3  Marie penchée sur son ouvrage dans un intérieur, 1892/93, Öl auf Karton, 23,2 x 34,3 cm, Yale University Art Gallery, New Haven (IV-48) Tf. 4  Eugène Delacroix: Saint Barnabé guérissant les malades (Studie nach Veronese), 1834, Aquarell, 25,4 x 19,2 cm, Musée des Beaux-Arts, Rouen Tf. 5  Saint Barnabé guérissant les malades (Studie nach Veronese), 1889, Öl auf Karton, 37 x 30 cm, Privatsammlung (I-56)

Tafeln | 303

Tf. 6  Au lit, 1891, Öl auf Leinwand, 74 x 92 cm, Musée d’Orsay, Paris (II-123)

Tf. 7  Jean-Baptiste Camille Corot: L’Odaliske romaine (Marietta à Rome), 1843, Öl auf Papier auf Leinwand, 29,3 x 44,2 cm, Musée du Petit Palais, Paris

304  |  Tafeln

Tf. 8  Jean-Baptiste Camille Corot: Vue prise à Riva, Tyrol italien, 1834, Öl auf Leinwand, 29 x 41 cm, Kunstmuseum, Sturzeneggersche Gemäldesammlung, St. Gallen Tf. 9  Jean-Baptiste Camille Corot: Souvenir de Riva, ca. 1865–1870, Öl auf Leinwand, 64,1 x 92,2 cm, The Taft Museum, Cincinnati Tf. 10  Jean-Baptiste Camille Corot: Souvenir de Mortefontaine, 1864, Öl auf Leinwand, 65 x 89 cm, Musée du Louvre, Paris

Tafeln | 305

Tf. 11  Jean-Baptiste Camille Corot: Ville-d’Avray, 1870, Öl auf Leinwand, 54,9 x 80 cm, The Metropolitan Museum of Art, New York

Tf. 12  Misia dans la forêt de Saint-Germain, 1897–1899, Öl auf Karton, 42,1 x 56 cm, Kunstmarkt (VI-96)

306  |  Tafeln Tf. 13  Marie Roussel brodant à contre-jour, ca. 1895, Öl auf Karton, 37 x 29 cm, Privatsammlung (IV-209)

Tf. 14  Intérieur, couseuse, 1895, Öl auf Karton, 32,1 x 36,5 cm, Museum of Fine Arts, Boston (IV-208)

Tafeln | 307

Tf. 15  Portrait de Lugné-Poe, 1891, Öl auf Papier auf Holz, 22,2 x 26,5 cm, Memorial Art Gallery, University of Rochester (III-25) Tf. 16  La Ravadeuse ovale, 1891/92, Öl auf Karton, 28,5 x 24 cm, Privatsammlung (IV-11) Tf. 17  Les Couturières, 1890, Öl auf Leinwand, 47,5 x 57,5 cm, Privatsammlung (II-104) Tf. 18  Jan Vermeer, Die Spitzenklöpplerin, 1669/70, Öl auf Leinwand, 24 x 21 cm, Musée du Louvre, Paris

308  |  Tafeln Tf. 19  Personnages dans un intérieur. Le travail (Zyklus für Dr. Vaquez), 1896, Leimfarbe auf Leinwand, 212 x 77,3 cm, Musée du Petit Palais, Paris (V-97.1) Tf. 20  Personnages dans un intérieur. Le choix des livres (Zyklus für Dr. Vaquez), 1896, Leimfarbe auf Leinwand, 212 x 77 cm, Musée du Petit Palais, Paris (V-97.2) Tf. 21  Personnages dans un intérieur. L’intimité (Zyklus für Dr. Vaquez), 1896, Leimfarbe auf Leinwand, 212,5 x 154,5 cm, Musée du Petit Palais, Paris (V-97.3) Tf. 22  Personnages dans un intérieur. La musique (Zyklus für Dr. Vaquez), 1896, Leimfarbe auf Leinwand, 212,5 x 154 cm, Musée du Petit Palais, Paris (V-97.4)

Tafeln | 309

Tf. 23  La Tapisserie (Zyklus L’Album), 1895, Öl auf Leinwand, 177,7 x 65,6 cm, Museum of Modern Art, New York (V-96.3) Tf. 24  Le Corsage rayé (Zyklus L’Album), 1895, Öl auf Leinwand, 65,7 x 58,7 cm, National Gallery of Art, Washington D.C. (V-96.1)

Tf. 25  L’Album (Zyklus L’Album), 1895, Öl auf Leinwand, 67,9 x 204,5 cm, The Metropolitan Museum of Art, New York (V-96.2)

310  |  Tafeln

Tafeln | 311

Tf. 26  La Table de toilette (Zyklus L’Album), 1895, Öl auf Leinwand, 65 x 116 cm, Privatsammlung (V-96.4)

Tf. 27  Le Pot de grès (Zyklus L’Album), 1895, Öl auf Leinwand, 65,5 x 114,5 cm, Privatsammlung (V-96.5)

312  |  Tafeln

Tf. 28  Intérieur, 1893, Öl auf Karton, 35,5 x 29,1 cm, Fitzwilliam Museum, University of Cambridge (IV-94) Tf.. 29  Intérieur, 1893, Lithografie, 225 x 138 mm, Staatliche Graphische Sammlung, München Tf. 30  La Ravaudeuse aux chiffons, 1893, Öl auf Karton, 27,9 x 25,4 cm, Museum of Art, Indianapolis (IV-51)

Tf. 31  Les Oreillons, ca. 1892, Öl auf Karton, 24 x 20 cm, Privatsammlung (IV-52)

Tafeln | 313 Tf. 32  Marie penechée sur son ouvrage, ca. 1891, Öl auf Karton, 18,1 x 23,2 cm, Verbleib unbekannt (IV-17) Tf. 33  Deux Ouvrières dans l’atelier de couture, 1893, Öl auf Karton, 13,3 x 19,4 cm, Scottish National Gallery of Modern Art, Edinburg (IV-146)

Tf. 34  Le Grand Intérieur aux six personnages, 1897, Öl auf Leinwand, 90 x 194,5 cm, Kunsthaus Zürich (IV-215)

314  |  Tafeln

Tf. 35  Zyklus für Monsieur und Madame Desmarais, 1892, Öl auf Leinwand, jew. 48 x 117 cm, Privatsammlung (V-28.1–6)

Tafeln | 315

316  |  Tafeln

Tf. 36  Intérieur, Mère et Sœur de l’Artiste, 1893, Öl auf Leinwand, 46,3 x 56,5 cm, The Museum of Modern Art, New York (IV-112)

7 Literaturverzeichnis

Archivmaterial Vuillard, Carnets

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Abbildungsverzeichnis | 351

Kat.  IV-53  ; Abb.  33  : Kat.  IV-214  ; Abb.  37  : Kat.  IV-90  ; Abb.  38  : Kat.  IV-144  ; Abb.  44  : Kat.  V-19–22  ; Abb.  45  : Kat.  V-23–26  ; Abb.  46  : Kat.  V-27  ; Abb.  47  : Kat.  Kat.  V-28  ; Abb.  49  : Kat.  Kat.  V-28  ; Abb.  51  : Kat.  V-28  ; Abb.  53  : Kat.  V-28  ; Abb.  57  : Kat.  II-63  ; Abb.  58  : Kat.  III-33  ; Abb.  60  : Kat.  IV-26  ; Abb.  63  : Kat.  IV-135  ; Tf.  5  : Kat.  I-56  ; Tf.  13  : Kat.  IV-209  ; Tf.  14  : Kat.  IV-208  ; Tf.  15  : Kat.  III-25  ; Tf.  16  : Kat.  IV-11  ; Tf.  23  : Kat.  V-96  ; Tf.  24  : Kat.  V-96  ; Tf.  26  : Kat.  V-96  ; Tf.  27  : Kat.  V-96  ; Tf.  28  : Kat.  V-94  ; Tf.  32  : Kat.  IV-17  ; Tf.  34  : Kat.  V-215  ; Tf.  35  : Kat.  V-28. Salomon, Antoine und Cogeval, Guy (Hg.), Vuillard. Le regard innombrable. Catalogue critique des peintures et pastels, Mailand 2003, Bd. II  : Tf. 1  : Kat. VII-36. Salomon, Antoine und Cogeval, Guy (Hg.), Vuillard. Le regard innombrable. C ­ atalogue critique des peintures et pastels, Mailand 2003, Bd. III  : Abb. 40  : Kat. XI-179.3. Sammlung Oskar Reinhart »Am Römerholz«, Winterthur  : Abb. 20. Smith College Museum of Art, Northampton, Massachusetts  : Abb. 16 (Purchased with the Drayton Hillyer Fund). Staatliche Kunsthalle Karlsruhe und Margret Stuffmann (Hg.), Camille Corot. Natur und Traum. Akat. Karlsruhe, Staatliche Kunsthalle, Heidelberg 2012  : Abb. 12  : S. 77  ; Abb.  13  : S.  410  ; Abb.  14  : S.  409  ; Abb.  15  : S.  235  ; Abb.  54  : S.  215  ; Abb.  55  : S.  347  ; Tf.  8  : S.  179  ; Tf.  10  : S.  215. Strobl, Andreas, Édouard Vuillard. Einblicke in die Lithowerkstatt. Akat. München, Pinakothek der Moderne, Staatliche Graphische Sammlung, Berlin, München 2015  : Abb.  28  : Abb.  2  ; Abb.  56  : Abb.  35  ; Tf.  29  : Abb.  25. The Yorck Project (2002), 10.000 Meisterwerke der Malerei (DVD-ROM), distributed by DIRECTMEDIA Publishing GmbH  : Abb. 43. Tinterow, Gary (Hg.), Corot. Akat. Paris, Grand Palais  ; Ottawa, National Gallery of Ottawa  ; New York, The Metropolitan Museum of Art, New York 1996  : Abb. 17  : Kat.  154  ; Tf.  9  : Kat.  131  ; Tf.  11  : Kat.  148. Vigne, Georges, Jean-August-Dominique Ingres, München 1994  : Abb. 61  : S. 187. Vogtherr, Christoph Martin, Französische Gemälde. Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg, Berlin 2011  : Abb. 48  : S. 184. Yale University Art Gallery  : Tf. 3.